Lernen in der Begegnung: Ein Leben auf dem Weg zur Interreligiosität [1 ed.] 9783666702426, 9783525702420

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Lernen in der Begegnung: Ein Leben auf dem Weg zur Interreligiosität [1 ed.]
 9783666702426, 9783525702420

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Johannes Lähnemann

Lernen in der Begegnung Ein Leben auf dem Weg zur Interreligiosität

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Johannes Lähnemann

Lernen in der Begegnung Ein Leben auf dem Weg zur Interreligiosität

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Henrike, Charlotte und Luise, für Sabine und im Gedenken an Susanne

Mit 53 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-70242-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Vorstellung der Ergebnisse der Peace Education Standing Commission (PESC) bei der 9. Weltversammlung von Religions for Peace (RfP) am 22. November 2013 in Wien © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8   1 Die religiöse Heimat: das evangelische Pfarrhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . 11   2 Studienjahre im beginnenden ökumenischen Aufbruch . . . . . . . . . . . 28   3 Doktorand, Assistent und junger Familienvater in Münster im 68er-Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40   4 Allround-Theologie in Lüneburg und die Frage nach den Weltreligionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59   5 Die Weltreligionen als Schwerpunktthema in Theorie und Praxis . 65   6 Der Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Universität ­Erlangen-Nürnberg und die Nürnberger Foren zur Religionsund ­Kulturbegegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70   7 Weltreligionen im Unterricht: das Doppelwerk einer theologischen Didaktik der Weltreligionen … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84   8 Kein Weltfriede ohne Religionsfriede: Hans Küng 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92   9 Religiöses Lernen in der Pluralität, das Projekt Weltethos und ­Friedenserziehung in den 90er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 10 Der 11. September 2001 und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 11 Der Runde Tisch der Religionen in Deutschland, die Schulbuch­forschung und der Aufbau der Ausbildung islamischer Religionslehrkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 12 Wege in der Familie und ein schwerer Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

13 Die Wahrnehmung der politischen Relevanz interreligiöser ­Verständigung und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 14 Pensionierung und ein persönlicher Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 15 Medien und Menschenrechte als Herausforderung für interreligiöse Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 16 Im Gespräch mit aktuellen theologischen und religionspädagogischen Entwürfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 17 Interreligiöse Koalitionen: Gemeinsam wirken im Gegenüber zu Extremismus und Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 18 Ausblick: Ein Text und eine Vision zum Weiterdenken . . . . . . . . . . . . 288 Auswahlbibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Fotos auf den Seiten 38–39 | 82–83 | 158–159 | 208–209 | 252–253 | 286–287

Vorwort

»Interreligiöse Lernwege – eine Entdeckungsreise«: So habe ich die Entwicklung in den vergangenen 50 Jahren empfunden, seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, dem ersten Dialogprogramm des Ökumenischen Rates der Kirchen, dem wachsenden Gespräch zwischen den Religionen und in der Bewegung Religions for Peace, aber auch in den Feldern von Religion und Politik, Wissenschaft und Bildung. Wie ich selbst auf diesen Lernweg gekommen bin und an der Entdeckungsreise teilgenommen habe, erstaunt mich immer wieder. Es brachte mich auf die Idee, dem Weg erzählend noch einmal nachzugehen, einem Weg, der mit vielen Erlebnissen, Erfahrungen, Überraschungen und Entgrenzungen verknüpft ist. Der Verlag Vanden­hoeck & Ruprecht regte mich an, das in einer Autobiografie zu schildern. Frau Elisabeth Schreiber-Quanz und Frau Dr. Ulrike Gießmann-Bindewald waren die Gesprächspartnerinnen bei der Entwicklung des Konzepts, mein »Lernen in der Begegnung« in seiner ganzen Vielfalt sichtbar zu machen. So habe ich mich auf den Weg gemacht, zurück bis in mein Geburtsjahr 1941, mitten im Krieg, und habe von dort aus jedem der folgenden Jahrzehnte ins Gesicht geschaut, persönlich geprägt, aber gleichzeitig offen für das, was sich ereignet und entfaltet hat: den Zusammenbruch 1945, die Nachkriegsjahre, der eher restaurative Wiederaufbau in Deutschland, der ökumenische Aufbruch, die 1968er-Umbrüche, der Kalte Krieg und der 1989er-Wandel, das Neu-Aufleben von national-ethnischen und religiösen Spannungen und schließlich das Entstehen neuer interreligiöser Koalitionen gegen Fanatismus und Populismus. Ich danke dem Verlag, der schon 1986 mein Doppelwerk Weltreligionen im Unterricht und 1998 meine Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive herausgebracht hat, dass er mich zu diesem Rückblick und Ausblick ermutigt hat, vor allem Frau Schreiber-Quanz für ihre intensive Begleitung und Beratung bei der Entstehung des Manuskripts. Ganz besonders danke ich sodann meiner Familie, meinen Töchtern Henrike, Charlotte und Luise, meiner Frau Sabine und im Gedenken meiner ersten, leider verstorbenen Frau Susanne, für alle Begleitung und Unterstützung. Ihnen ist diese Schilderung des »Lernens in der Begegnung« gewidmet. Goslar, im Juli 2017

Johannes Lähnemann

Einführung

Manchmal werde ich gefragt, ob ich in Kürze Ereignisse nennen könne, mit denen sich mein Weg in die Interreligiosität hinein umreißen ließe. Dann schildere ich gerne zwei Erfahrungen aus den 50er und den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts: Als ich 1951 zum Freiherr vom Stein-Gymnasium in Lünen (Ruhrgebiet) kam, wohin ich vom benachbarten Zechenort Brambauer per Bus fahren musste, folgte ich einem Schulkameraden zum Schuleröffnungsgottesdienst in die Kirche. Dort kam es mir allerdings schnell seltsam vor: Es roch anders, als ich es gewohnt war, die Fußstützen vor mir waren so hoch, es hing eine Bilderserie an der Wand, wie ich sie nicht kannte. Als dann ein Geistlicher in buntem Ornat in die Kirche einzog, gefolgt von weiß gewandeten Knaben, merkte ich: Ich war in eine katholische Kirche geraten! Ich rannte aus dem Kirchenraum, weinend, und suchte die »richtige«, die evangelische Kirche, bis ich sie endlich fand und in der vertrauten gottesdienstlichen Umgebung allmählich zur Ruhe kommen konnte. In unserer Straße in Brambauer, der Königsheide, wussten wir, welches Geschäft »evangelisch« und welches »katholisch« war – und wo man deshalb besser kaufte. Im Jahr 1993 bestand unsere Gruppe der Religionen für den Frieden in Nürnberg schon fünf Jahre. Monatlich einmal trafen wir uns zu gegenseitigen Besuchen, zum Dialog und zum praktischen Austausch in den verschiedenen Religionsgemeinschaften: der Synagoge, bei evangelischen, katholischen, reformierten, orthodoxen Christen, in muslimischen Gemeinden, im buddhistischen Zentrum, im Hindu-Tempel, in der Baha’i-Gemeinde. Aus einem ersten, noch sehr vorsichtigen Kennenlernen war eine Gemeinschaft geworden, mit religionsübergreifenden Freundschaften. Da wurde ich von einem evangelischen Ehepaar, das sich in unserer Gruppe engagiert hatte, gefragt, ob ich mir für das Baby, das ihre mit einem afrikanischen Muslim verheiratete Tochter erwartete, eine christlich-muslimische Feier vorstellen könne – eine Segenshandlung, da ja eine christlich-muslimische Taufe wohl nicht denkbar sei. Zu unserer Gruppe gehörte damals der aus Bosnien stammende Hauptimam Ahmed D. Ibrahimovic´, der die »geistliche Verwaltung der Muslimflüchtlinge« leitete. Es handelte sich um inzwischen meist alte

Muslime – displaced persons –, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ins sozialistische Jugoslawien zurückkehren wollten und sich in Deutschland zu einer kleinen Gemeinschaft zusammengefunden hatten. Ibrahimovic ´ stammte aus der längst europäisierten bosnischen Islam-Tradition mit sehr offenen, toleranten Vorstellungen. Er zeigte sich bereit zu diesem besonderen Vorhaben. Mit ihm und dem jungen Paar überlegten wir, wie wir dem Kind etwas zusagen könnten, was den hilfreichsten und aufbauendsten Segensvorstellungen in Christentum und Islam entspräche. Die Traditionen sollten nicht vermischt werden, sondern jeweils authentisch zu Wort kommen, wobei sich allerdings auch Verbindendes und Konvergierendes entdecken ließ. Die evangelische Gemeinde St. Jobst in Nürnberg erklärte sich bereit, uns für die Feier ihren Gemeinderaum zur Verfügung zu stellen. Dort versammelte sich ein international und multireligiös gemischter Kreis von Menschen zusammen mit der Familie, den jungen Eltern und ihrem kleinen Kind. Aus der biblischchristlichen Tradition wählten wir den Vers aus Psalm 36,10: »Bei dir, Gott, ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht«, aus der islamischen Sufi-Tradition das Mohammed zugeschriebene Licht-Gebet: »O Gott, setze Licht in mein Herz und Licht in meine Seele, Licht auf meine Zunge, Licht in meine Augen und Licht in meine Ohren …« – Dem ›Kinderevangelium‹ (Markus 10,13–16) und dem Lied »Komm, Herr, segne uns« korrespondierte der Ezan (Gesang des Muezzin) und ein Bittgebet. Gemeinsam wollten wir den Eltern, Großeltern und allen, die die kleine Mariama begleiteten, Mut machen, dem Kind das Beste und Schönste des christlichen und des muslimischen Glaubens zu zeigen und vorzuleben – in der Hoffnung, dass Gott ihm dann selbst das Herz öffnet und ihm den richtigen Weg zeigt – einen Weg, der die Achtung vor dem jeweils anderen Glauben einschließt. Die Großmutter erzählte mir später mehrfach mit einem Lächeln im Gesicht, sie spüre immer wieder, dass dieses Kind ein doppelt gesegnetes sei. Was alles liegt zwischen der ersten und der zweiten Erfahrung!? Wie kommt ein evangelisch sozialisierter Theologe dazu, eine religionsgemischte Familie geistlich auf dem Weg zu begleiten, den sie in aller Verschiedenheit des Herkommens und der prägenden Lebenskontexte mit dem Neugeborenen gehen wollen? Wenn ich davon erzählen will, dann kommt mir das Bild einer Entdeckungsreise in den Sinn, auf der sich zunehmend meine Horizonte erweitert haben – eine Reise, auf der es immer wieder auch Hemmnisse und Stolpersteine gegeben hat, Rückschritte nach Fortschritten, die aber zu immer neuen Ausblicken und Aufgaben geführt hat. Ein großer Reichtum und eine tragende Kraft waren dabei die Menschen, die diesen Weg mit mir gegangen sind – von den Großeltern an, die ihrem

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ältesten Enkel ihre ganze Liebe und Zuneigung widmeten (27 Jahre lang hatte ich alle vier Großeltern!), bis hin zu den Freundinnen und Freunden in Deutschland, im übrigen Europa, der Türkei, dem Heiligen Land, Indien, Japan und Amerika, die mit mir aktiv sind in der Bewegung Religions for Peace. Im Zentrum aber war es immer die Familie – meine Eltern, meine vier jüngeren Geschwister, meine Schwiegereltern, meine unvergessene Frau Susanne und meine jetzige Frau Sabine, unsere drei Töchter, die zwei Schwiegersöhne und fünf Enkelkinder. Dazu hatte ich das Glück eines immer großen Freundeskreises, engagierter Lehrerinnen und Lehrer, Professorinnen und Professoren, die mich förderten, später Kolleginnen und Kollegen, Schülerinnen und Schüler, die mich inspirierten. Entscheidend war aber auch die lernende und oft auch persönliche Begegnung mit prominenten Denkern und Persönlichkeiten, die vor mir oder auch mit mir Entdeckungsreisende im Feld des religions- und kulturübergreifenden Lernens waren oder noch sind. Darum ist Lernen in der Begegnung bewusst als Motto für diesen Band gewählt worden: Schalom Ben Chorin im Judentum und Paul Tillich im Christentum sind dafür Beispiele, Beyza Bilgin und Nasr Hamid Abu Zaid im Islam, Mahatma Gandhi und die Ärztin Vinu Aram im Hinduismus, Sulak Sivaraksa und A. T. Ariyaratne im Buddhismus. Dass es zu persönlichem Austausch und streckenweise auch zur Zusammenarbeit mit diesen Vertretern eines ›engagierten Buddhismus‹, ebenso aber auch mit Prinz Hassan bin Talal von Jordanien, Hans Küng und Carl Friedrich von Weizsäcker gekommen ist, habe ich als besondere Bereicherung erfahren. Theologisch-existentiell hat mich freilich Dietrich Bonhoeffer am stärksten geprägt, seit ich als junger Student Widerstand und Ergebung, seine Briefe aus der Haft, gelesen habe. Für den Beginn meines eigenen Studiums wurde er der stärkste Motivator. Auch wenn ihm – trotz seiner intensiven Erfahrungen in der ökumenischen Bewegung – durch sein besonderes Schicksal die Reise zu anderen Religionswelten, die er durchaus im Sinn hatte, verwehrt blieb, repräsentierte er für mich eine in einzigartiger Weise überzeugende geistliche Existenz. Die Tiefe seiner Spiritualität, die ihn auch im Gefängnis trug, die Öffnung für eine säkular geprägte Welt, die Verbindung von »Beten und Tun des Gerechten« wiesen mir den Weg, mich theologischer Vertiefung meines Christseins zu widmen und den geistlichen Beruf eines evangelischen Pastors anzustreben. In meinen Gedanken und Vorstellungen sind alle genannten Persönlichkeiten präsent, wenn ich aus meinem Leben erzähle, und ich bin ihnen dankbar für ihre Begleitung.

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 Die religiöse Heimat: das evangelische Pfarrhaus

Schellerten mitten im Krieg · Asthmakind im Zechenort · Musik als Lebenselixier · Jugend in der Betheler Anstalt Freistatt · Jugendarbeit und Tramptouren · Der Entschluss zum Theologiestudium

Was für ein Hauswesen war das, in dem der Großvater, Johannes Kirchberg, als Pastor und Superintendent eines ländlichen Kirchenkreises den Mittelpunkt bildete! Fast ein kleiner Bauernhof mit vier Gärten – dem Vordergarten mit zwei großen Kirschbäumen und einem rosengesäumten Weg zum Haus, dem Hintergarten mit Blumen und Gemüse, dem Obstgarten (er galt als ›Pfarrwitwengarten‹), dem Feldgarten –, Hühnerhof, Schweinestall, Ziegen, dazu mit ständiger Haushaltshilfe, besonderen Einsatzkräften fürs Nähen, für die Ernte, geleitet von der Großmutter Magdalene, geb. Schreiber. Das Ganze war umfriedet von einer großen Mauer und einem Eingangstor mit einem Kreuz oben drauf. Da wir auch nach unserem Wegzug aus Schellerten als Geschwister fast alle Sommerferien bis weit in die 50er-Jahre hinein dort verbrachten, ist mir die ganze Atmosphäre des Hauses bleibend präsent: die mit Sternmuster geflieste Diele, das Wohnzimmer mit dem Klavier und den alten Möbeln, in der Ecke ein großes Bild von Feuerbachs Iphigenie, das Kinderzimmer, in dem meist auch gegessen wurde, der große Konfirmandensaal daneben, die Küche, in der die treue Frieda, unsere ›Atta‹, wirkte und immer eine kleine Verwöhnung für die Kinder hatte, im ersten Stock das Schlafzimmer der Großeltern, neben den Ehebetten an den Wänden Betten für Kinder und später Enkel, das Arbeitszimmer des Großvaters mit Kachelofen und den vielen Büchern, in dem es gut nach Tabak roch, Bad, Gästezimmer – und dann die Stiege hinauf zum großen Dachboden, auf dem es für uns viele Geheimnisse gab: einen ehemaligen Taubenschlag, alte Möbel, vergessenes Spielzeug. Zur Atmosphäre gehörte auch die enge Beziehung zu den Bauernhöfen in der Nachbarschaft, auf denen wir später in der Erntezeit manchmal mithelfen und bei der abendlichen Rückkehr mit den vollgeladenen Getreidewagen auf den Ackergäulen, die sie zogen, reiten durften. Über den Vorplatz hin und über den alten Friedhof führte der Weg zur nahen Kirche. Sie wird auch heute noch nicht zu Unrecht als schönste Rokoko-Dorfkirche Niedersachsens

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bezeichnet, nach einem Brand im 18. Jahrhundert angebaut an den 600 Jahre alten Kirchturm: ein lichter Raum mit großer geschnitzter Altarwand – die Kanzel in protestantischer Tradition über dem Altar, links und rechts Moses mit den Gesetzestafeln und Johannes der Täufer mit dem Lamm, der Abendmahlsdarstellung in der Predella, gekrönt vom auferstandenen Christus mit Siegesfahne. Gegenüber auf der geschwungenen Empore die alte Orgel, ein wunderbares Instrument unter Denkmalschutz, geschmückt mit Trompete blasenden Engeln und zwei Zimbelsternen – schon als Junge durfte ich auf ihr spielen –, an der Decke drei bedeutende Gemälde mit Christi Geburt, der Kreuzigung und der Auferstehung. Hier lebte die evangelische Tradition. »Mütterlicherseits sind wir Pfarrer seit vor der Reformation«, sagte mein jüngerer Bruder Martin manchmal lächelnd, etwas übertreibend und leicht spöttisch. Immerhin waren die Urgroßväter Kirchberg und Schreiber auch schon Pastoren. Väterlicherseits waren die Lähnemanns über mehrere Generationen Lehrer und Küster in Asseln bei Dortmund. Die tägliche Bibellese, der Morgenchoral, das Singen des Wochenschlusslieds, der Sonntag mit Hauptgottesdienst, Christenlehre und Kindergottesdienst, die wöchent­lichen Konfirmandenstunden im Gemeindesaal, nicht zuletzt das Kirchenjahr mit seinen ganz verschiedenen Feststimmungen waren selbstverständliche Elemente unseres Kinderlebens, gaben Halt und Geborgenheit auch in den brüchigen Jahren des Zweiten Weltkrieges. Mein Geburtstag – Sonntag, 15. Juni 1941 – wurde zu einem ganz besonderen Tag für die Familie, ja zu einem Markstein der Familiengeschichte: Hans-Georg, nächstjüngerer Bruder meiner Mutter, direkt vor Beginn eines Theologiestudiums eingezogen in den Krieg, Flugzeugführer, war nach Abschluss des Feldzugs im Südosten Europas mit der Eroberung Kretas für ein paar Tage auf Urlaub gekommen. Dadurch war überraschend der ganze Kreis der sieben Geschwister, von meiner Mutter (Jahrgang 1916) bis zur 20 Jahre jüngeren Jutta, zugegen – es sollte das letzte Mal sein. Alle Einzelheiten dieses Tages, der Wochen davor und der Monate danach sind uns präsent, da meine Mutter und mein Vater (als Reserveleutnant bei einer Flak-Batterie in Polen stationiert, in banger Vorahnung des bevorstehenden Russlandfeldzugs) intensive Briefschreiber waren und alles Erleben detailliert beschrieben haben. Dem Großvater wurde die Nachricht meiner Geburt von Hans-Georg in der Sakristei überbracht, direkt nach dem Gottes­ dienst, in dem nun diesmal nicht meine Mutter, sondern ihre erst 14-jährige jüngere Schwester Renata die Orgel spielte. Die ersten Fotos von Mutter und Kind machte ebenfalls Onkel HansGeorg, ein vorzüglicher Fotograf – ein letztes Bilddokument von ihm: Wenige

Wochen später, am 12. Juli 1941, kehrte er von einem Aufklärungsflug in Russland nicht mehr zurück. Der jähe Verlust des geliebten Bruders prägt die Korrespondenz meiner Eltern ebenso wie die genauen Berichte über meine Entwicklung, fast Tag für Tag. Diese Korrespondenz ist ein bewegendes Zeitdokument, sowohl was die Persönlichkeit meiner Eltern als auch, was das Empfinden und Erleben im Kriegsjahr 1941 angeht. Wie meinen Vater das Telegramm mit der Nachricht von meiner Geburt beglückte und wie schmerzlich es gleichzeitig war, seiner jungen Frau nicht zur Seite stehen zu können, zeigt ein Brief, den er gleich schrieb – voller Sehnsucht: Wie gern würde er jetzt am Bett meiner Mutter sein! Ich war schon ein halbes Jahr alt – und bereits vom Großvater Kirchberg getauft –, als er mich zum ersten Mal auf dem Arm hielt. Mein Vater, Karl-Heinz Lähnemann, hatte einen sehr bewegten Lebensweg hinter sich: geboren am 27. Juni 1913 in Bochum, dort aufgewachsen als Sohn des Drogisten Ferdinand Lähnemann, der ein großes Farbengeschäft leitete, und seiner Frau Luise, geb. Reinecke, die gelernte Hutmacherin war. Die Großeltern mütterlicherseits lebten in Celle, der niedersächsischen Residenzstadt mit ihren Fachwerkhäusern und dem gelben Schloss, wo er immer wieder die Ferien verbrachte; sie blieb für ihn die schönste Stadt der Welt. Kirchlich war er früh sozialisiert und engagiert: konfirmiert von dem (jüdischen) Pastor und Professor Hans Ehrenberg, aktiv als Kindergottesdiensthelfer (Spitzname: ›Fliege‹, weil er eine solche gern trug) und im CVJM – und dann doch auch von der Idee des Nationalsozialismus fasziniert: »Wir wollten national sein, und wir wollten sozial sein.« Er wurde Mitglied der SA und auch der Partei. Schnell war er aber ernüchtert und trat der Bekennenden Kirche bei, veranstaltete für sie auch Jugendlager. Er studierte Theologie in Bethel, Marburg, Tübingen und Berlin. Zu Professor Rudolf Bultmann ging er ins Seminar nicht wegen dessen historisch-kritischen Arbeitens am Neuen Testament, sondern weil dieser zur Bekennenden Kirche gehörte. Zwischendurch machte er ein Jahr freiwilligen Militärdienst (1934–35 in Arolsen), was zur Folge hatte, dass er zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bereits Leutnant der Reserve war. Im gleichen Jahr 1939 trat er aus der Partei aus, ein mutiger Schritt damals, nachdem er 1937 schon aus der SA ausgetreten war. Ein erschütterndes Erlebnis war die Reichskristallnacht 1938, nach der er mit unserer Mutter Professor Ehrenberg in dessen verwüsteter Wohnung besuchte: »Da schämten wir uns, Deutsche zu sein«, sagte Mutter später. Das erste theologische Examen legte er (offiziell illegal) 1938 beim Bruderrat der Ev. Kirche von Westfalen ab, war dann Vikar bei Wilhelm Niemöller, dem Bruder von Martin Niemöller, in Bielefeld. Noch im Februar 1940 konnte

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er das zweite theologische Examen ablegen, wurde im April ordiniert und galt von da an auch als Hilfsprediger in der Gemeinde Bochum Altstadt. Im Krieg war er bei einer Flak-Kompanie, zu Beginn als Leutnant, zum Ende als Hauptmann, schließlich noch in der Ausbildung zum Bataillonsführer. Er tat Dienst an der Westfront in Frankreich, in Russland und in Kroatien. Erzählt hat er nur wenig; da ist sicher manches verdrängt, und die Schreckensbilder des Krieges haben ihn noch bis kurz vor seinem Tod verfolgt. Die Treffen der Kriegskameraden aus seiner Kompanie in unserem Pfarrhaus in Brambauer, an die ich mich erinnere, waren von großer Anerkennung für seine kompetente Führerschaft geprägt. Als eine der schwersten Pflichten in seinem Leben schilderte er, dass er wiederholt als Pastor und Offizier Angehörigen die Nachricht vom Tod eines jungen, hoffnungsvollen Sohnes übermitteln musste. Wie viele kirchlich geprägte Soldaten und Offiziere sah er es als seine Pflicht an, für das Vaterland zu kämpfen, besonders – dafür sorgte die NS-Propaganda erfolgreich – als ›Überlebenskampf‹ gegen den Bolschewismus. Gleichzeitig spricht aus seinen Briefen Skeptizismus, wenn ihn Nachrichten erreichten, wie in der Heimat das Wirken der Kirchen zunehmend eingeschränkt wurde. Meine Mutter hat nicht nur in den Kriegsjahren meinem Vater mit Briefen zur Seite gestanden. Sie hat ihr Leben lang eine ausgedehnte Korrespondenz im Familien- und Freundeskreis geführt: immer dem Gegenüber zugewandt, sehr konkret, lebendig und abwechslungsreich. Viel wissen wir durch sie über unsere Familiengeschichte seit dem 18. Jahrhundert, die sie in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts auf Kassetten gesprochen hat und die wir im Familienkreis transkribiert haben. Oft hat sie uns auch ihre eigene Geschichte erzählt: Geboren wurde sie am 26. Juni 1916 in Vienenburg bei Goslar und nach ihrer Mutter Magdalene benannt. In Vienenburg war ihr Vater Pastor Collaborator (›Hilfsgeistlicher‹), bevor er bald die Pfarrstelle in der Harzer Bergstadt Wildemann übernahm. Von dort war es nicht weit nach Altenau, wo die Großeltern mütterlicherseits lebten. Der Großvater Georg Schreiber war dort über 40 Jahre lang Pastor und ein bekanntes Harzer Original, ein echter Vater seiner Gemeinde. Immer wieder wurden die drei ältesten Kinder meiner Großmutter dorthin zu Besuchen und in die Ferien geschickt. Die Grundschulzeit verbrachte meine Mutter in Wildemann bei dem jungen Lehrer Alfred Heinemann. Es folgten drei Jahre in Hildesheim, wo mein Großvater eine erstmals eingerichtete Funktions-Pfarrstelle im Sozialbereich wahrnahm, bevor er Superintendent im 12 km entfernten Schellerten wurde. Meine Mutter – als älteste der sieben Geschwister im Pfarrhaus – war Schülerin auf der Goetheschule in Hildesheim mit einem sehr guten Abitur, dem aber kein Studium folgen

konnte, sondern der sehr anstrengende Arbeitsdienst im Emsland und die Ausbildung zur Gemeindehelferin im Burckardthaus. Ein großer Einschnitt war der Unfalltod ihres Verlobten Rudi Mönnich, bei dessen Beerdigung in Langelsheim sie zum ersten Mal unseren Vater traf. Es folgte eine romantische, abenteuerliche Verlobungsgeschichte und dann die Kriegshochzeit am 27. September 1940. Unsere Mutter blieb während des Krieges mit mir und meinem Bruder Martin, der anderthalb Jahre nach mir geboren wurde, im elterlichen Pfarrhaus, wo wir im Großfamilienverband liebevoll aufgenommen waren, während sie sich ins kirchliche Leben mit einbrachte, mit regelmäßigem Orgeldienst bei den Gottesdiensten und in der Christenlehre. Ihre junge, schlanke, anmutige Gestalt ist mir eine frühe Erinnerung. In der Korrespondenz meiner Eltern in meinem Geburtsjahr kommt die ganze Bandbreite der Kriegszeit – die ständige Spannung zwischen Hoffen und Bangen – intensiv zum Ausdruck: Einerseits wurden die anfänglich großen militärischen Erfolge positiv registriert und auch bewundert, andererseits war da große Skepsis angesichts der Unendlichkeit Russlands, der sich mehrenden Nachrichten von Gefallenen auch im engeren Freundes- und Familienkreis, der Ungewissheit, wenn lange keine Nachricht aus dem ›Felde‹ oder umgekehrt aus der Heimat kam. Meine Mutter schrieb ungeschützt auch von den antikirchlichen Maßnahmen des Regimes: von Schreib- und Redeverboten, Verhaftungen, der verordneten Einstellung von kirchlichen Zeitschriften. Sie fragte, wie das mit der behaupteten Verteidigung der tradierten deutschen, abendländischen Werte vereinbar sei. Erstaunlich deutlich benennt sie Belege für die fortschreitende Euthanasie an vermeintlich lebensunwertem Leben: dass etwa von den mehr als 200 Kranken in den Rotenburger Anstalten keiner mehr da sei – und nun »ist Bethel dran«, wo der Leiter und zwischenzeitliche Reichsbischof Fritz von Bodelschwingh schließlich die Abtransporte verhindern konnte. Mein Vater vermerkt demgegenüber bitter, dass man sich etwa mit der Wiederherstellung einer Kirche in Russland, die von den Sowjets zum Kino umfunktioniert war, brüste – und dann in der Heimat das kirchliche Leben so einschränke und vielfach bekämpfe. Die Diskriminierung und Verfolgung der Juden im Vorfeld des Ausrottungsprogramms, das streng geheim gehalten wurde, taucht in der Wahrnehmung demgegenüber kaum auf. Als Hinweis auf die propagandistische Vorbereitung des Genozids kann vielleicht die kritische Aussage meiner Mutter vom 12. November 1941 gesehen werden: »… hier in der Heimat werden an dem schon auf Sonntag verlegten Bußtag, wo Jugendabendmahl ist, überall Pflichtversammlungen um 10 Uhr für die 14–18-Jährigen gemacht: ›Der Jude in der dtsch. Geschichte‹ …« Mir und meinem jüngeren Bruder Martin konnte in all diesen Belastungen ein weitgehend behütetes Zuhause geboten werden. Meine Taufe am

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28. September 1941, von der sie lange gehofft hatte, mein Vater könne sie selbst halten, schildert meine Mutter im Brief an meinen Vater quasi aus meiner Sicht. Sie hatte als Taufspruch den Konfirmationsspruch ihres vermissten Bruders Hans-Georg ausgesucht: »Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.« (Psalm 103,2) – ein Gegenwort gegen die bedrückende Realität rundum. Mit meiner Heiterkeit hätte ich alle trüben Gedanken weggelächelt! Paten wurden der einzige Bruder meines Vaters, Rolf, der freilich im Krieg war und mich im Herbst 1942 zum ersten Mal sah, die nächstältere Schwester meiner Mutter, Gertraude, die als Hebamme meiner Mutter bei den späteren Geburten zur Seite stand, und mein Großvater Johannes Kirchberg, nach dem ich benannt wurde. Er blieb mir mit seiner väterlich-geistlichen Ausstrahlung, seinem großen geschichtlichen Interesse und seinem kommunalpolitischen Engagement im Nachkriegsdeutschland ein Vorbild. Es war für ihn eine unerwartet positive Erfahrung, dass nach dem Zweiten Weltkrieg katholische und evangelische Christen sich in der Christlich Demokratischen Union (CDU) zusammenfanden, und er wurde eines ihrer ersten Mitglieder in Niedersachsen. Bis zu seinem 70. Lebensjahr nahm er die Pfarrstelle in Schellerten wahr. Meinen Weg begleitete er mit großem Interesse. In Heidelberg hat er mit mir gemeinsam Vorlesungen besucht, und bei meiner Promotionsvorlesung am 2. Juli 1968 konnte er mir auch noch zuhören. Zu Weihnachten 1941 konnte mein Vater mich dann endlich selbst auf den Arm nehmen. Meine eigenen frühesten Erinnerungen beziehen sich auf die Bombenalarme, bei denen wir schnell aus unseren Betten geholt wurden, die Treppe oft mehr hinunterpurzelten als liefen und dann im Keller warteten, dass die Angriffe vorübergingen. Einmal führte mich meine Tante Irmela, vierte in der Geschwisterreihe meiner Mutter, nachts vor die Laube hinterm Haus und zeigte mir die von einer Flak angeleuchteten Bombenflugzeuge, die in großer Zahl über uns herzogen. Unauslöschlich ist der Eindruck, wie mein Bruder und ich auf den in die Frühjahrssonne hinausgestellten Polstermöbeln hopsen durften, dann aber auf einmal Asche vom Himmel kam: der Luftangriff, bei dem die nahe Hildesheimer Innenstadt komplett zerstört wurde. Die Eltern meines Vaters wurden in Bochum ausgebombt. Von der Einrichtung ihrer schönen Wohnung war ihnen nichts geblieben. Sie wurden nach Schellerten evakuiert und bekamen eine Zwei-Zimmer-Wohnung auf der ›kleinen Seite‹ des Dorfes, wo die Kleinbauern ihre Höfe hatten. Täglich halfen sie im großen Pfarrhaus mit – die Oma im Haushalt, der Opa mit großem handwerklichem Geschick bei allen Reparaturen. Die beiden Großeltern-

paare waren wechselseitig von großer Freundschaft und Hochachtung füreinander geprägt, so verschieden auch Herkommen und Lebenswege waren. Aus den letzten Kriegsmonaten ist mir in Erinnerung, wie ich eine Gruppe deutscher Soldaten müde die Dorfstraße entlangziehen sah. Und dann kamen die Amerikaner. Irmela, damals 23-jährig, zog ihnen im Auftrag des Dorfes mit einem weißen Tuch an die Klunkau, den Grenzbach zum Nachbardorf Kemme, entgegen. Es kam zum Glück zu keinen Kämpfen mehr. Als die Panzer über den Platz vor dem Pfarrhaus rollten, warfen die amerikanischen Soldaten uns Kindern Gummistücke herunter, mit denen wir spielen konnten. Das Dorf füllte sich mit immer mehr Flüchtlingen. Im Pfarrhaus wurden zusätzlich zwei Familien aufgenommen. Meine Mutter verzichtete auf ihre eigenen Räume und erzählte uns später, wie erschüttert sie war, als sie das völlig wunde Baby Annette Lange sah, für das es auf der Flucht keine Windeln zum Wechseln gegeben hatte. Ganz überraschend traf mein Vater ein. Er war nach einem Lazarettauf­ enthalt im Winter 1944/45 noch als leitender Offizier eines Kontingents von 200 ›geheilten‹ Verwundeten an die Ostfront geschickt worden. Die befand sich aber bereits in Auflösung, so dass sofort der Rückzug angetreten werden musste. Dabei geriet die Gruppe in einen Hinterhalt, und mein Vater gehörte zu den wenigen Überlebenden. Es gelang ihm, sich mit einem Kameraden über die zugefrorene Oder nach Westen durchzuschlagen und auch über die Elbe zu gelangen. Schließlich fand er sich bei einem Transport auf einem LKW vor. Als er mitbekam, dass dieser nach Munsterlager fahren sollte und damit die Gefangenschaft in Aussicht stand, sprang er bei einem Wendemanöver in einem Dorf ab und entkam. In drei Tagen und Nächten wanderte er nach Schellerten, klopfte unterwegs in den Pfarrhäusern an – er hatte in seinem Ausweis auch Pastor als Beruf stehen – und gelangte so zu uns. Als er in den Hof trat und die 18-jährige Renata, fünfte in der Geschwisterreihe meiner Mutter, laut »Karl-Heinz« rief, zischte er sie an: »Sei bloß still!« Er wurde zunächst versteckt. Mein Bruder Martin und ich sollen freilich im Dorf gesagt haben: »Unser Vater ist nach Hause gekommen. Wir sollen aber nicht sagen, dass er da ist!« Glücklicherweise brauchte er nur einmal zu einer Registrierung und musste keine Gefangenschaft antreten, so dass er bereits Ende 1945 seine erste Pfarrstelle in Brambauer bei Lünen im Ruhrgebiet – in seiner westfälischen Heimatkirche – antreten konnte. Der Umzug dorthin am 13. Dezember 1945, dem dritten Geburtstag meines Bruders Martin, war ein Abenteuer. Ein Lastwagen mit Anhänger – ein ›Holzvergaser‹ – war dazu organisiert worden. Wir saßen auf einem Sofa im Hänger vor der hinteren Tür, die halb offen war, um etwas Licht herein zu

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lassen. Eine schnelle Fahrt war wegen des immer wieder nötigen Nachladens für den Vergaser nicht möglich, so dass die 200 km nicht an einem Tag bewältigt werden konnten. Nachts um 10 Uhr begann die Sperrstunde, und wir landeten auf einem Parkplatz bei Hamm. Dort gab es dann eine unerwartete Überraschung für uns Kinder. Kurz vor Mitternacht kam unser Opa Lähnemann mit etwas Schwarzem zu uns, das er von Amerikanern ergattert hatte: Schokolade. So etwas hatten wir noch nie gesehen und geschmeckt! Einquartiert wurden wir in Brambauer im Pfarrhaus des ersten Pfarrbezirks, da das eigentlich vorgesehene Pfarrhaus noch nicht frei war. Die andere Pfarrfamilie musste sich im Parterre einschränken, was ihr nicht leicht fiel, während wir mehr als drei Jahre im ersten Stockwerk sehr beengt wohnten: ein Schlafzimmer, eine Küche, in der auch gegessen wurde und ein winziges Wohnzimmer, in dem immerhin auch ein Klavier Platz fand. Meine Mutter erzählte später, ihre ständige Mahnung an uns sei gewesen: »Seid leise! Räumt auf!« Sie war hochschwanger bei unserem Umzug, und schon am 3. Februar 1946 kam unsere Schwester Dorothea zur Welt – als drittes Sonntagskind. Es ist die erste Geburt, an die ich mich bewusst erinnere, zu der die Hebammen-Schwester meiner Mutter, Gertraude (›Traute‹), meine Patentante, gekommen war. Als wir vom Kindergottesdienst aus der gegenüberliegenden Kirche nach Hause kamen, wurde uns die große Neuigkeit mitgeteilt, und wir durften einen Blick auf das winzige Wesen im alten Familien-Kinderbettchen werfen. »Warum hat denn Tante Traute dem Engelchen die Flügel abgeschnitten?«, war meine erste Frage: Ich hatte in religiösen Kinderbilderbüchern Engel mit Flügeln gesehen und war überzeugt, das seien Kinder vor der Geburt! – Für die kleine Dorothea waren die ersten Lebensjahre nicht leicht. Die Versorgungslage im Ruhrgebiet war noch nicht gut, und es musste ständig am Essen gespart werden. Manche Aversionen gegen bestimmte Gerichte, die es in der Kindergartenspeisung gab – etwa Milch- und Fischsuppen – sind mir von dieser Zeit an geblieben. Das Klima in dem von vier Kohleschächten geprägten Zechenort war für meine Gesundheit nicht gut. Die Häuserwände in den Straßenzügen waren grau vom Kohlenstaub. Ich hatte Asthma, das sich in oft nur wenige Wochen auseinanderliegenden Anfällen von Luftnot äußerte, mit Angstzuständen verbunden war und verhinderte, dass ich als Kind ein guter Sportler wurde. Ein Gegenpol war die frühe Freude an Musik. Schon als Vierjährigem stellten mir die Eltern Blätter mit großen, bunt gemalten Noten auf das Klavier: Kuckuck und Hänschen klein waren die ersten Liedchen, die ich übte. Spielerisch erweiterte sich der Liedschatz, ich erprobte zweite Stimmen dazu, und als ich mit knapp acht Jahren richtigen Klavierunterricht bekam, konnte ich der Lehrerin schon mehrstimmig verschiedene Lieder vorspielen.

Mein Vater kam – als Bochumer Junge – mit den Menschen im Ruhrgebiet in ihrer offenen, kameradschaftlichen Art gut zurecht. Seine Predigten waren immer textnah, verständlich und klar aufgebaut – fast immer in drei Teilen. »Der Lähnemann, der Lähnemann, der predigt das Drei-Punkt-Programm« hieß es später halb spöttisch, halb anerkennend. Ebenso gut strukturiert war der Unterricht mit den damals sehr großen Gruppen von Konfirmandinnen und Konfirmanden. Die Jugendarbeit lag ihm sehr am Herzen, und er gewann aus ihr ehrenamtliche Mitarbeiter. Die Zeltlager am nahen Baggersee durften mein Bruder und ich schon manchmal besuchen. Meine Mutter wurde eine echte ›Frau Pastor‹, engagiert vor allem in der Frauenhilfsarbeit mit ›Bezirksfrauen‹, die jeweils für bestimmte Straßenzüge verantwortlich waren. Eine besondere Entscheidung trafen die Eltern 1947: Sie schickten mich für das erste Schuljahr aufs Land zu den Großeltern nach Schellerten. Dort war die Luft gesünder, und es gab mehr zu essen. Außerdem war in Niedersachsen der Stichtag für das Einschulungsalter auf den 1. Juli verlegt worden, während er in Nordrhein-Westfalen noch beim 1. April lag. So kam ich als noch Fünfjähriger – und dazu noch als sehr kleiner Junge – zur Schule. Aber ich liebte es, bei den Großeltern sein zu dürfen und – je nach Wahl – im Schlafzimmer der Großeltern im Pfarrhaus oder in der kleinen Wohnung der aus Bochum evakuierten anderen Großeltern »auf dem Rinnele« schlafen zu dürfen. Durch die vielen Flüchtlingskinder bestand unser erstes Schuljahr aus 60 (!) Kindern, in einem Klassenraum. Unsere Lehrerin, Fräulein Rübe, war – das war im traditionell evangelischen Schellerten noch aufregend – katholisch! Folgenschwerer freilich wog die schulische Neuerung, dass – pädagogisch modern! – zum Lesen-Lernen die Ganzheitsmethode frisch eingeführt wurde, und zwar nicht als Ganz-Wort-, sondern als Ganz-Satz-Methode. Am zweiten Schultag wurde ein Haus an die Tafel gemalt. Darunter stand: »Das ist ein Haus.« Und nun wussten wir: Das ist ein Haus! Als meine Eltern mich nach einem halben Jahr besuchten und mein Lesen testen wollten, riet ich ziemlich in der Fibel herum – und sie waren über meine scheinbare Minderbegabung sehr entgeistert. Nach dem ersten Schuljahr wurde ich nach Brambauer umgeschult. Dort hatten die Mitschüler das Lesen nach der Buchstaben-Methode gelernt – und dieser Wechsel ließ mich zusätzlich in der Orthografie für lange Zeit schwächeln. Sonst aber kam ich in der Schule ganz ordentlich zurecht. 1948 konnten wir endlich in das Pfarrhaus in der Königsheide einziehen – Platz für die Familie, in einer Zeit, als die Wohnungsnot allgemein noch sehr groß war. Es war ein sehr offenes Haus. Meine Mutter stöhnte

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manchmal, dass es nahezu alle fünf Minuten an der Haustür klingelte. Und umgekehrt sah sie bei Besuchen in den Baracken, besonders den aus Wellblech gebauten Nissenhütten, in denen viele Familien untergebracht waren, großes Nachkriegselend. Dass ich schon einen guten Einblick in die Tätigkeiten meines Vaters hatte, belegt eine kleine Szene: Mein sehr netter Volksschullehrer neckte mich damit, dass er sagte: »Den Beruf deines Vaters möchte ich haben: nur am Sonntag arbeiten!« – Darauf zählte ich ihm auf, was mein Vater die ganze Woche über tat: Predigtvorbereitung, Besuche, Sprechstunde, Konfirmanden- und Jugendarbeit, Kirchenvorstand, Bibelstunde … und schloss mit den Worten: »So sehen Sie, Herr Gohl, dass ein Pastor mehr zu arbeiten hat als ein Lehrer!« Besonders liebte ich den Samstagabend. Dann konnte ich beim Einschlafen den Posaunenchor im benachbarten Gemeindehaus blasen hören. Ich bewunderte die goldglänzenden Trompeten und Posaunen. Und dann hatte ich das Glück, dass mein Vater, selbst Bläser, unterstützte, dass ich bereits als Achtjähriger – zusammen mit Bruder Martin, dem dann allerdings die Vorderzähne ausfielen, was ihn zunächst am Weiterlernen hinderte – bei unserem Jugenddiakon Minhöfer auf dem Flügelhorn zu blasen lernte, beginnend im August 1949. Ich erfasste Blastechnik, Griffe und Noten schnell, und an Heiligabend konnte ich erstmals im Posaunenchor auf der Empore unserer Kirche die zweite Stimme mitspielen; nach dem O du Fröhliche bildete sich beim Nachspiel eine ganze Traube von Gottesdienstbesuchern um den kleinen Mitbläser. Seither haben die Hörner mich durch mein ganzes Leben begleitet. Auch in der interreligiösen Begegnung bin ich vielen Menschen aus verschiedenen Religionen und Kontinenten sicher ebenso ein Begriff mit meinem kleinen Reise-Horn, mit dem sich gut Versammlungen eröffnen und Gebete der Religionen begleiten lassen, wie mit meiner theologisch-religionspädagogischen Arbeit. Wir hatten anfangs einen Arzt befragt, wie sich das Blasen mit meinem Asthma vertragen würde. Er bestätigte, dass es meine Lunge eher stärken als schwächen könne, und das hat sich sehr bewährt. Tiefgreifend war 1949 das Erlebnis des ersten Aufenthaltes an der Nordsee auf der Insel Baltrum, dem ›Dornröschen‹ der ostfriesischen Inseln – zusammen mit meiner Patentante Traute und der nur knapp fünf Jahre älteren ›Tante‹ Jutta, die immer wie meine große Schwester gewesen ist. Der Blick vom Norddeich auf die bei Flut unendlich wirkende blaue Fläche des Wattenmeers überwältigte mich, das Baden in den Wellen, der Eindruck einer Springflut, die Fahrt zu den Seehundsbänken, die Gemeinschaft in der christlich geführten Sonnenhütte – und drei Wochen ganz frei von Asthma: ein großer Kontrast zu dem meist grau wirkenden Brambauer!

Auch wenn ich sportlich keine Kanone werden konnte, um körperliche Bewegung und Stärkung bemühte ich mich: Schwimmen lernte ich als Neunjähriger im Schellerter Nachbarort Garmissen; und mein Opa Lähnemann machte zum Geburtstag ein altes Kinderfahrrad, damals noch etwas ganz Außergewöhnliches, zurecht, so dass ich bald auch bei größeren Fahrradausflügen mitradelte – etwa zum Schloss Kappenberg bei Lünen, Wohnsitz des Freiherrn vom Stein, und zum Schloss Nordkirchen im Münsterland. In Haus und Garten legte meine Mutter großen Wert darauf, dass Martin und ich auch als Jungen bei allen Arbeiten mithalfen, einschließlich Knöpfe annähen, Strümpfe stopfen, häkeln und stricken (!) – und unsere Ehefrauen haben es später ihrer Schwiegermutter sehr gedankt. Die Aufnahmeprüfung am Freiherr vom Stein-Gymnasium in Lünen 1951 klappte gut, und dann kam es zu der Gottesdienstepisode, die ich in der Einführung geschildert habe. Meine Eltern haben zu Recht betont, dass sie keine ausgesprochene Polemik gegen die katholische Kirche gepflegt haben. Aber das identitätsbildend Evangelische stand immer im Vordergrund und wurde von uns bewusst als solches wahrgenommen: mit der Bibel und den morgendlichen Herrnhuter Losungen, den Chorälen, den Gottesdiensten ohne Weihrauch und Heiligenverehrung, früh auch schon mit den Oratorien von Johann Sebastian Bach. Als ich 1952 eine vierwöchige Asthma-Kur in der Kluterthöhle bei Ennepetal im Sauerland mitmachte und bei einer katholischen Bäckerfamilie wohnte, war ich unglücklich, dass dort der Karfreitag, unser eigentlich höchster Feiertag, wie ein normaler Tag verbracht wurde und ich keine Choräle aus der Matthäus-Passion hören konnte. Bibelwochen und Evangelisationsveranstaltungen – u. a. mit den charismatischen Pastorenbrüdern Johannes und Wilhelm Busch – prägten unser kirchliches Leben ebenso wie die Jungschar, die mein Onkel Rolf, Bruder meines Vaters und Lehrer, leitete. Er konnte wunderbar Biblisches und Erbauliches erzählen. Mit meinem Flügelhorn durfte ich – eben gerade zehnjährig – beim Schulfest auftreten, was mir erstmals eine Erwähnung in der Zeitung einbrachte: »Viel beklatscht wurde auch ein ›Dreikäsehoch‹, der gar fein und unerschütterlich auf dem Horn zu blasen wußte« – so stand es am 2. Juli 1951 im Lüner Stadtanzeiger. Mit dem Üben hielt ich mich in diesen Jahren noch sehr zurück, und ich danke meinen Eltern und meiner Klavierlehrerin, dass sie dabei mit mir als Acht- bis Zehnjährigem viel Geduld hatten. Es änderte sich, als ich 1952 an einem Klavierwettbewerb teilnehmen konnte und von über 100 Bewerbern zu den 27 Jungen und Mädchen gehörte, die für die eigentliche Preisvergabe ausgewählt wurden. Es war kein großer Preis – ein Gutschein für Noten –, aber von da an begann ich, systematisch gründli-

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cher zu üben: Bach-Präludien, Clementi-Sonatinen, erste ›moderne‹ Stücke von Max Reger. Das Jahr 1952 eröffnete auch einen weiteren Erlebnishorizont: die ersten Ferien in den bayerischen Alpen. Die Eltern reisten mit uns über Nürnberg und München an den Walchensee. Als wir für einen Besuch bei Freunden in Nürnberg ausstiegen, gab es für uns einen erschütternden Anblick: Vom Bahnhof aus konnte man bis zur Kaiserburg durchsehen – so viel lag dort noch in Trümmern. Als Nürnberg später der Hauptort meines Wirkens wurde, war ich sehr dankbar, dass beim Wiederaufbau die alte Struktur dieser Stadt, die der Arbeiterdichter Karl Bröger »einen steinernen Lobgesang« genannt hatte, beachtet wurde, dass kein Hochhaus in den Innenstadtbereich gesetzt wurde und von der Freiung auf der Kaiserburg die alte Dächerlandschaft wieder das Blickfeld bestimmte. – In München besuchten die Eltern mit uns das Deutsche Museum, auch ein unauslöschlicher Eindruck mit dem künstlichen Bergwerk, den Lokomotiven, Schiffen und Flugzeugen. Als wir auf dem Turm standen, wunderte ich mich über scheinbar seltsame Wolken am Horizont: Es waren die Umrisse der Alpenkette, die dann bei der Bahnfahrt immer gewaltiger vor uns in die Höhe wuchsen. Wir wohnten am Walchensee unter einer Dachschräge in einem kleinen Holzhaus, zusammen mit kirchlich engagierten Jugendlichen, die mit uns auf den Herzogstand, den Jochberg, den Simmetsberg stiegen und jeden Abend Lieder sangen; das damals moderne Abendlied Noch hinter Bergesrande steht braun der Abendschein von Rudolf Alexander Schröder mit der schönen Melodie von Christian Lahusen ist mir seitdem vertraut. Zusätzlich zum Schwimmen in dem immer kühlen See brachte unser Vater meinem Bruder und mir das Rudern bei. Im Kontrast zum grauen Brambauer empfanden wir das Naturerlebnis dieser Ferien besonders stark. 1953 kam ich in den Katechumenen- (=Vorkonfirmanden-)Unterricht bei meinem Vater. Er war traditionell gestaltet: Bibeltexte, Katechismus, Gesangbuchlieder bestimmten den Arbeits- und Lernplan, ergänzt um Themen der Lebensführung. Mein Vater wusste ihn durch klare Strukturen und praktische Beispiele abwechslungsreich zu gestalten. Viel haben wir auswendig gelernt – Psalmen, die Hauptteile von Martin Luthers Kleinem Katechismus, Lieder (z. B. alle zwölf Strophen von Befiehl du deine Wege); sie sind für mein weiteres Leben ›spirituelles Handgepäck‹ geblieben, abrufbar in den verschiedensten Lebenssituationen. Ich habe später Studierenden oft den Tipp gegeben, etwa auf Luthers Erklärungen der Zehn Gebote mit ihrer Umkehrung der Verbote in positive Handlungshinweise als Ausgangspunkt für die Erörterung ethischer Themen zurückzugreifen. Das Jahr 1954 brachte einen entscheidenden Wechsel und für die ganze Familie eine neue Lebenserfahrung: Mein Vater, der sich durch seine aus-

gezeichnete Jugendarbeit einen Namen gemacht hatte, wurde zum Leiter der Betheler Zweiganstalt Freistatt im norddeutschen Wietingsmoor im Landkreis Diepholz berufen. Freistatt hatte bei der Gründung 1900 seinen Namen von Friedrich von Bodelschwingh nach dem Vorbild der alttestamentlichen Asyl-Städte erhalten. Menschen in schwierigen Lebenssituationen sollten dort eine Zuflucht finden: zunächst Wander-Arbeitslose, von Bodelschwingh »Brüder von der Landstraße« genannt. Sein Motto war: Nicht Almosen, sondern Arbeit! Später kamen dazu Jugendliche mit großen Erziehungsdefiziten, Fürsorgezöglinge, schließlich auch Alkoholkranke. Aus der öden Moorlandschaft war im Laufe der Jahrzehnte durch harte Arbeit ein etwa 1.250 ha großes Gebiet mit blühender Landwirtschaft, Moorwirtschaft, Forstwirtschaft und mehreren Handwerksbetrieben entstanden. Dass die Fürsorgeerziehung in den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts große Probleme aufwies, dass sie nicht nur förderte, sondern durch rigorose Erziehungsmethoden, harte Arbeit im Moor, strenge Zucht in großen Gruppen auch Schädigungen hinterließ, ist in den vergangenen Jahren zu Recht aufgedeckt worden. Bethel selbst hat dazu gründliche Untersuchungen angestellt. Ich selbst habe aber auch erlebt, wie die Hausväter – die Leitung der Häuser hatten Hauseltern-Ehepaare inne – und die oft bis an den Rand ihrer Kräfte geforderten jungen Diakone sich väterlich um die Jungen bemühten, mit ihnen zu Gerichtsterminen fuhren, um sie vor einer Jugendstrafe zu bewahren, Sport, Freizeit und Musik förderten und sich um Ausbildungs­ möglichkeiten in den Freistätter Betrieben oder im Anschluss an den Freistatt-Aufenthalt kümmerten. Mein Vater hat in einem Grundsatzschreiben an die Leitung der v. Bodelschwinghschen Anstalten 1961 die Überforderungssituation für die Erzieher detailliert geschildert und konkrete Vorschläge zu ihrer Entlastung, besonders auch durch eine Erhöhung des Personals, gemacht. Diese konnten freilich nur schleppend und unzureichend realisiert werden, weil zusätzliches qualifiziertes Personal nicht leicht zu gewinnen war. Er selbst hielt nicht nur regelmäßig Andachten in den Jungenhäusern, sondern hatte dort auch Sprechzeiten, in denen die Jungen sich mit ihren Sorgen und Fragen direkt an ihn wenden konnten. In vielen Briefen von Ehemaligen wird ihm für sein seelsorgerliches Bemühen gedankt. Von mir und meinen Geschwistern wurde der Wechsel lebhaft begrüßt. In Brambauer war als Vierte 1953 Magdalene geboren, 1957 kam als jüngste Schwester Christiane hinzu, deren Pate ich werden durfte. – Wir zogen in ein originelles, in mehreren Etappen gebautes holzverkleidetes Pfarrhaus mit einem großen Garten. Meine Mutter hatte den zunächst ganz braunen Kasten dreifarbig – unten braun, darüber grün, das Turmzimmer oben gelb – streichen lassen: eine richtige Villa Kunterbunt. Vom Turmzimmer, das wir

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als Gäste- und Bastelzimmer benutzten, konnte man nach allen vier Himmelsrichtungen schauen – im Westen ging der Blick über das flache Land bis weit zum Horizont – und auch auf das Dach steigen. Geheizt wurde mit Torf: Ess- und Kinderzimmer und die Räume der oberen Etage von einem großen Ofen in der Küche aus. In großen Körben mussten die Torf-Scheite aus dem bis unter das Dach damit gefüllten Schuppen geholt werden – eine schwere, staubige Angelegenheit. Nah war die kleine Moorkirche – eine hübsche Holzkirche, die aus Norwegen stammte. Über dem Altar stand als Motto ein Wort, das von einem Seemannsfriedhof stammte: »Es ist das Kreuz von Golgatha, Heimat für Heimatlose«. An den Seitenemporen fanden sich die zwei entscheidenden Worte aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn: »Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.« und »Da er noch fern von dannen war, sah ihn sein Vater.« Worte, die mehrfach in den Briefen an meinen Vater von Ehemaligen zitiert wurden. Dort wurde ich Palmarum 1955 konfirmiert, nicht von meinem Vater, sondern von seinem Kollegen Pastor Alfred Franzkeit, der für die Mitarbeitergemeinde zuständig war. Als Konfirmationsspruch hatte ich mir schon lange vorher, in bangen Asthma-Nächten, Psalm 23 Vers 4 ausgesucht: »Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.« Der Klimawechsel aus dem Ruhrgebiet und das Heranwachsen und auch die durch das regelmäßige Blasen gestärkte Lunge waren wohl Gründe, die dazu führten, dass sich bald keine Asthmaanfälle mehr einstellten, eine Lebenserleichterung, für die ich ungeheuer dankbar war. Wir mochten die Moorlandschaft: Alle Birken grünen in Moor und Heid sangen wir nach dem Löns-Lied im Frühjahr. Die weiten Wollgrasflächen nannten wir ›weißes Meer‹. In den Kiefernwald spazierten wir am Sonntag, sammelten im Herbst dort Pilze. Auf den überschwemmten Wiesen und den Moorstichen konnten wir im Winter oft kilometerweit Schlittschuh laufen. Von der kleinen Feldbahn durften wir uns Loren nehmen und sie auf die Moorwege hinausschieben. Um die nicht umsonst berühmten malerischen Sonnenuntergänge im Moor zu erleben, bin ich manches Mal auf mein Fahrrad gestiegen. Für mich und meinen Bruder begann das Fahrschüler-Dasein zur 20 km entfernten Oberschule in Diepholz. In den ersten Jahren fuhren wir mit einem Zug – eine Dampflok und drei Anhänger –, später mit Schienen- und mit Autobus. Da gab es bei der Hinfahrt noch Zeit, sich Hausaufgaben zu widmen, die oft erst während der Fahrt nach Diepholz fertig wurden. Kirchlich und kulturell war Freistatt ein Ausnahmedorf: Die oft von pietistischer Frömmigkeit geprägten Diakon-Familien, die hochmusikalische

Lehrersfamilie Farke und unsere ebenfalls sehr musikalische Familie entfalteten ein reiches geistliches wie weltliches musisches Leben: Singekreis, Kirchenchor, Posaunenchor – wir waren durchgängig dabei. Nach der Konfirmation erhielt ich sehr qualifizierten Geigenunterricht, erreichte freilich nicht die gleiche Könnerschaft wie auf Horn und Klavier, auf dem ich mich vom 16. Lebensjahr an autodidaktisch weiterbildete. Mit 14 Jahren bekam ich ein altes Waldhorn geliehen, dieses Instrument mit seinem großen Trichter und seinem weichen Klang, das ich schon immer bewundert hatte. Als mir dann eine Schallplatte mit zwei von vier Hornkonzerten Mozarts geschenkt wurde, war ich so hingerissen von der Schönheit der Musik, dass ich anfing zu üben, zu üben und zu üben. Ich baute mir ein Übungsprogramm mit Tonleitern und Dreiklängen analog zu dem meines Geigenunterrichts auf und war glücklich, als sich die Gelegenheit bot, in einem anspruchsvollen Laienorchester, dem Kreisorchester Diepholz-Vechta, mitzuspielen. Es bestand aus musizierenden Persönlichkeiten der verschiedensten Berufe und wurde von Felix Oberborbeck, Musikprofessor an der Pädagogischen Hochschule Vechta, geleitet. Als Pionier der Singebewegung war er auch großartig mit seinem Dirigieren und seiner Ermutigung, uns an die klassische sinfonische Musik heranzuwagen und sie durchaus konzertreif aufzuführen. Mein Freund und schulischer Sitznachbar Uwe Farke und ich bildeten bis zu unserem Abitur das Horn-Duo in diesem Orchester und wurden gleich beim zweiten Konzert für unseren nicht einfachen Horn-Part in Beethovens Violinkonzert in der Zeitung gelobt. Haydns Londoner Sinfonien, Mozarts Fünftes Violinkonzert, Beethovens Egmont-Ouvertüre, Schuberts Unvollendete, Webers Konzertstück für Klavier, Mendelssohns Musik zum Sommernachtstraum … – ein breites Spektrum an musikalischen Meisterwerken klingt seither in mir nach. In der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach spielte ich bei den Geigen mit. Mozarts Drittes – wohl sein schönstes – Hornkonzert Es-Dur KV 447 lernte ich auswendig. Es war ein Höhepunkt, als ich es an einem Sommerabend als 18-Jähriger im Schlosshof in Diepholz, aber auch in Sulingen und Vechta, mit dem Orchester aufführen durfte. Schweigt des Menschen laute Lust stand sehr poetisch in der Zeitung über diese besondere Serenade. In Freistatt leiteten mein Bruder Martin und ich eine Gruppe der ›Jungenschaft‹ im Rahmen des Evangelischen Jungmännerwerks Deutschland (CVJM), mit wöchentlichen Gruppenstunden, Fahrradtouren und landesweiten Treffen. Ernst waren uns die Grundsätze, auf die wir uns bei der Aufnahme verpflichteten: »Als Junge, der die Botschaft Christi gehört hat, will ich lernen, in Wahrhaftigkeit, in Reinheit, in Treue, in Zucht und Ordnung zu leben« stand in unserem Ausweis, und natürlich wurde die aktive Betei-

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ligung am Gemeindeleben und der Lebensgemeinschaft der Jungenschaft erwartet. In der Praxis der Gruppenarbeit mussten freilich manche Kompromisse mit dem ›realen Leben‹ und pubertierenden Altersgenossen eingegangen werden. Bald nach der Konfirmation wurde ich auch Kindergottesdiensthelfer. Das freie Erzählen der biblischen Geschichte fiel mir anfangs nicht leicht; samstags übte ich es, laut sprechend, in meinem Zimmer. Oft war ich sonntags mit meiner Darbietung schneller fertig als die anderen Helfer, da ich mich scheute, die Geschichten zu sehr auszumalen. Im Laufe der Zeit gelang es mir besser, und es wurde letztlich zu einem großen Gewinn für die Fähigkeit, frei aufzutreten und vorzutragen. Das Jahr 1958 brachte uns eine große Horizonterweiterung: Über eine Ferienbegegnung der Eltern konnten wir Verbindungen zu einer Familie in Glasgow in Schottland knüpfen und einen privaten Schüleraustausch initiieren. Ian und Norman Macdougall kamen per Schiff nach Bremen und von dort nach Freistatt, und mit ihnen zusammen erkundeten wir die norddeutsche Landschaft und ihre historischen Städte. Danach reisten Martin und ich per Anhalter über Belgien, mit einer Nachtfähre von Ostende nach Dover, durch London und dann weiter durch England bis nach Glasgow. Ich erinnere mich noch an fast jeden der lifts, die wir erhielten: z. B. hinten auf der Ladefläche eines LKWs sitzend und dabei nach der Nacht auf der Fähre einschlafend – oder wie wir auf der Rückreise in einem Auto die 600 km von Glasgow nach London mitgenommen wurden. In der Vorbereitungskorrespondenz hatte sich schon herausgestellt, dass Norman Macdougall die gleiche Hornleidenschaft pflegte wie ich, und der musikalische Austausch darüber erfüllte uns während der gemeinsamen Wochen und unseren Briefwechsel über Jahre hinweg. Mit Partituren vor uns und der Musik von Schallplatten dirigierten wir imaginär ganze Orchester und gaben vor allem den Bläsern genaue Einsätze. Die Familie Macdougall wusste durch Autoausflüge und Raddampferfahrten auf dem Firth of Clyde die Liebe zu Schottland, besonders zum Hochland und zu seiner nationalen Geschichte, zu wecken. In der Schule hatte ich meine Stärken und meine Schwächen. Zu den Schwächen gehörte lange Zeit das Englische, bis zu unserer Schottlandreise, während der uns viele höfliche Komplimente zu unserer Sprache gemacht wurden, zu den Stärken Latein, das ich quasi zweimal lernte, da es in Diepholz erst im 8. Schuljahr begonnen wurde und ich es vorher in Lünen schon drei Jahre hatte. Mit Nachhilfeunterricht in diesem Fach verdiente ich mein erstes Geld. Der Religionsunterricht hatte ein doppeltes Gesicht: In der Mittelstufe unterrichtete uns als junge Referendarin Christine Kawehl, später mit dem bekannten amerikanischen Theologen Frederick Herzog verheiratet, und bot dazu eine Arbeitsgemeinschaft an, in der diskutiert (!) wurde:

über ›Gott und die Welt‹ und besonders über Lebensfragen und ethische Probleme. In der Oberstufe bekamen wir einen älteren Pastor, der den kritischen Fragen der jungen Leute nicht gewachsen war. »Woher nahm Kain seine Frau?«, wurde er gefragt und antwortete ausweichend: »So einfach ist das nicht.« Ich versuchte, so gut es ging, mit meinen Bibelkenntnissen zu argumentieren und hatte erste philosophische Auseinandersetzungen mit Klassenkameraden. Aber konnte Theologie nicht mehr bieten? Dieser Unterricht wurde quasi der negative Motor zu meinem Studium. Der positive waren für mich meine Eltern, in ihrer Lebensführung, in ihrem Engagement, in ihrem auch durch viele schwere Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit bewährten, vertrauenden und dabei nicht triumphalen, reflektierten Glauben. Interesse weckten die Betheler Pastoren, die an jedem dritten Sonntag in Freistatt Gottesdienst zu halten hatten, darunter auch die Professoren der Theologischen Hochschule. Mit dem von Karl Barth geprägten Christian Maurer und dem von Rudolf Bultmann geprägten Willi Marxsen kamen zwei ganz unterschiedliche Neutestamentler – systematisch-existentiell in der Auslegung der eine, geschichtlich-aktuell der andere – zu uns und nahmen den jungen Theologie-Aspiranten im nachgottesdienstlichen Gespräch durchaus ernst. Es hätte sich für mich auch ein Musikstudium nahegelegt, aber ich kam zu der Überzeugung, dass sich Musik eher nebenbei betreiben ließ als Theologie, und diese Entscheidung hat sich letztlich auch bewährt. In der Schule wurde in der Oberstufe eine Arbeitsgemeinschaft für Altgriechisch angeboten – nur zweistündig über drei Jahre – und etwas mühsam brachte uns unser Lehrer Voskamp bis zur Lektüre von Xenophon- und einzelnen Platon-Texten. Aber da die Schule das Recht hatte, im Anschluss an das Abitur das Graecum abzunehmen, schaffte ich diese Hürde schon vor dem Studium. Für das Abitur hatte ich mir im Übrigen einen klugen Schachzug überlegt: Ich komponierte eine Fantasie für Klavier und bot an, sie als Prüfungsleistung für das Fach Musik einzubringen. Es war ein in C-Moll geschriebenes Stück mit zwei schnellen Sätzen und einer kurzen Adagio-Einleitung, klassisch-romantisch inspiriert und mit Anklängen an Dvorˇák’sche Wendungen. Mein Angebot wurde akzeptiert, und so bestand meine Musikprüfung aus der Uraufführung dieses Werkes. Manchmal haben sich später meine Töchter noch gewünscht, dass ich es ihnen vorspiele, und daran Gefallen gefunden. Natürlich war das Abitur des Ältesten ein Anlass, ausgiebig zu feiern, besonders mit unserem jungen Klassenlehrer Hasso Apitz, der später noch das Goldene Abitur mit uns begehen konnte, und von einer insgesamt harmonischen Klassengemeinschaft Abschied zu nehmen, aus der sich freilich keine länger andauernden intensiven Freundschaften ergaben.

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 Studienjahre im beginnenden ökumenischen Aufbruch

Das Aha-Erlebnis historisch-kritischer Exegese in Bethel · Klassische evangelische Theologie in Heidelberg · Kultur in Wien · Lebensentscheidungen in Münster: Promotion und Verlobung

Im Mai 1960 begann mein Studium an der Theologischen Hochschule in Bethel bei Bielefeld. Ich bezog ein Dachzimmer im Haus des Alttestamentlers Johannes Fichtner und teilte es mit dem Studienkollegen Harald Hahne, Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Einfach war es eingerichtet, das nächste Waschbecken und die Toilette zwei Treppen tiefer. Aber wir zahlten jeder nur 25,00 DM im Monat und hatten aus dem Mansardenfenster einen Blick über das ganze Betheltal. Bei warmem Sonnenschein setzten wir uns manchmal da hinein, die Füße auf den Dachziegeln, und fragten uns hebräische Vokabeln ab. Denn das Hebraicum war das große Ziel des ersten Semesters. Von Hans Joachim Stoebe, später Alttestamentler in Basel, wurden wir in schnellen Schritten in diese frühe Schriftsprache eingeführt, um wichtigste Texte der hebräischen Bibel mit Hilfe des Gesenius-Lexikons übersetzen zu können. Beide legten wir die Prüfung Ende Juli 1960 erfolgreich ab. Das eigentliche Aha-Erlebnis dieses Semesters aber war für mich die Vorlesung von Willi Marxsen über die Thessalonicherbriefe im Neuen Testament. Erstmals begegnete mir eine Auslegung, die die Texte als lebendige Zeugnisse ihrer Zeit wahr- und ernstnahm: »Exegese ist das Nachsprechen dessen, was ein Schreiber seinen Lesern sagen wollte, in meiner Sprache«, war Marxsens Definition. Die Bibel wurde also nicht als Rezeptbuch verstanden, aus dem man Einzelnes herausgreifen und vielleicht sogar Vers gegen Vers ausspielen kann. Vielmehr lernte ich Paulus als Theologen und Seelsorger der jungen Gemeinde in Thessalonich kennen, die er trösten musste, weil sie angesichts von Todesfällen verunsichert war, die eingetreten waren, obwohl doch die Wiederkunft Christi in allernächster Nähe erwartet wurde. Und dass der zweite Thessalonicherbrief eine sachgemäße Weiterführung durch einen Paulusschüler war, der problematische Auslegungen des ersten Briefes in Thessalonich korrigieren musste, konnten wir im Zusammenhang mit dem antiken Autorenrecht gut verstehen. Das war natürlich ein anderes »Echtheits«-Verständnis als das von Fundamentalisten, aber eines, das das Neue

Testament als »ältesten Predigtband der Kirche« – so Willi Marxsen – neu schätzen lehrte. Wie wichtig es ist, Kontext und Situation bei der Auslegung der Texte in den Religionen in den Blick zu nehmen, ist mir als grundlegende Erkenntnis auch für den späteren interreligiösen Dialog besonders wichtig geworden. Die ganz von Karl Barth inspirierte Textauslegung von Marxsens Kollegen Christian Maurer, der mir ein väterlicher Freund und Berater wurde, stand in fruchtbarer Spannung dazu. Was wir in den Vorlesungen hörten, diskutierten wir intensiv in einem Freundeskreis unter jungen TheologieStudierenden, der sich schnell gebildet hatte, nicht selten bis spät in die Nacht. Die kirchliche Hochschule war mit damals etwa 200 Studierenden insgesamt ein kleiner lebendiger Organismus, mit gemeinsamen Mahlzeiten im Rempter, Andachts- und Gottesdienstleben und einem sehr persönlichen Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden – für den Studienanfang in vieler Hinsicht ideal. Etwa vierzehntägig fuhr ich zum Wochenende nach Freistatt, nahm dabei häufig Kommilitonen und Kommilitoninnen mit – besonders ausländische Gaststudierende z. B. aus Finnland und den USA, aber auch Professor Kikuyi Ito aus Japan –, und das musikalisch-gesellige Leben im Moor-Pfarrhaus war für viele ein bleibender Eindruck. Das zweite Semester verbrachte ich sprachfrei in Bethel (Graecum und Hebraicum waren absolviert), besuchte das neutestamentliche und das kirchengeschichtliche Proseminar und schrieb in beiden Fächern meine ersten Seminararbeiten. Wie man aus Fehlern lernen kann, erfuhr ich bei der neutestamentlichen Arbeit über das Gleichnis vom verlorenen Schaf bei Matthäus und Lukas. Ich fand zwar heraus, dass bei Matthäus das Motiv des Suchens des Verlorenen zentral war, bei Lukas dagegen die Freude über das wiedergefundene Schaf, aber ich verwechselte die Arbeitsmethoden von Form- und Redaktionsgeschichte. Die Arbeit wurde dadurch nur ein Noch gut; aber das gab mir den Impuls, bei meinen eigenen neutestamentlichen Proseminaren den Studierenden später genaue Definitionen und Beispiele für die verschiedenen Arbeitsformen zu bieten. Die kirchengeschichtliche Arbeit entstand unter besonderen Bedingungen: Die Evangelische Kirche von Westfalen erwartete von ihren künftigen Pfarrern, dass sie während des Studiums ein halbes Jahr diakonische oder industrielle Arbeit nachwiesen, was aber in Abschnitten während der vorlesungsfreien Zeit geleistet werden konnte. Deswegen meldete ich mich für ein vierwöchiges Praktikum in dem Betheler Krankenhaus Morija – einem Heim für psychisch belastete Menschen – und wurde dort in der Nacht­wache eingesetzt. Ich ließ mich anleiten zur nächtlichen medizinischen Versorgung der Patienten, lernte, subkutan und intramuskulär zu spritzen, und merkte, dass ich mir auch ein Medizinstudium gut hätte vorstellen können. In jeder

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Nacht aber blieben mehrere Stunden ohne Versorgungspflichten, und in dieser Zeit schrieb ich meine Arbeit über Martin Luthers reformatorische Entdeckung, deren Zeitpunkt und genauer Inhalt immer umstritten war, eine spannende wissenschaftliche Auseinandersetzung. Musikalisch war das Semester besonders fruchtbar gewesen: Ich organisierte ein Konzert, bei dem ich im ersten Satz von Schuberts Forellenquintett den Klavierpart spielte, die Bläsergruppe leitete und mich sogar an das extrem schwere Concertino für Horn und Orchester von Carl Maria von Weber heranwagte, mit Klavierauszug begleitet von Annekäthi Maurer, der Tochter des Neutestamentlers Wilhelm Maurer. Ich hatte vorher geträumt, dass ich bei der Triller-Serie am Schluss stecken bleiben würde, was glücklicherweise nicht geschah; aber es blieb dann doch meine einzige Aufführung dieses Stücks. Die folgenden vier Semester verbrachte ich in einer theologischen Hochburg, an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Von Heidelberg hatte ich seit jeher eine romantische Vorstellung. Mein Onkel Gerhard Kirchberg, Zweitjüngster in der Geschwisterreihe meiner Mutter, führte in meinem Geburtsort Schellerten mit dem Dorfchor Operetten auf, darunter Alt-Heidelberg. Mein Bruder Martin und ich durften dabei mit unseren Hörnern als Herolde auftreten. Die sehnsuchtsvolle Arie des Prinzen Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren ging mir nicht aus dem Kopf: Die Stadt mit der riesigen Schlossruine, dem Neckarfluss, dem Philosophenweg musste doch etwas Besonderes sein! Und dann das theologische Angebot: Gerhard von Rad und Claus Westermann im Alten Testament, Günther Bornkamm im Neuen Testament, Heinrich Bornkamm und Hans von Campenhausen in der Kirchengeschichte, Edmund Schlink und Peter Brunner in der Systematischen Theologie, Wilhelm Hahn – später Baden-Württembergischer Kultusminister – in der Praktischen Theologie. Wie Gerhard von Rad uns das Weinberglied aus Jesaja 5 gleichsam szenisch darbot, in dem der Prophet in die Rolle eines Minnesängers schlüpft, wie Hans von Campenhausen die Lebensbilder der lateinischen Kirchenväter erstehen ließ, wie Edmund Schlink von seiner Teilnahme am Zweiten Vatikanischen Konzil als offizieller Konzilsbeobachter erzählte – da blieben Theologie und Kirche kein trockener Stoff. Freilich kam ich mir unter den 600 Theologie-Studierenden und in den großen Hörsälen anfangs etwas verloren vor. Aber nach dem ersten Semester in einem gemieteten Einzelzimmer wurde ich zum Winter 1961/62 in das Theologische Studienhaus aufgenommen, wo in Arbeitsgemeinschaften unter dem jungen Kirchengeschichtler Gerhard Ruhbach als Studieninspektor die Themen der Lehrveranstaltungen vertieft wurden. In meinem zweiten Semester dort konnte ich mit Bernhard Weicker, Sohn

der engsten Freunde meiner Eltern und großartiger Pianist, in ein Zimmer ziehen, das hoch über dem Neckar lag, mit Blick hinüber zur Altstadt, zur Heilig-Geist-Kirche und zum Schloss. Es war unruhig wegen der Uferstraßen und des Schiffsverkehrs auf dem Neckar – oft vibrierten die Mauern des alten Hauses davon –, aber einzigartig mit seiner Aussicht, besonders, wenn die Sonne sich den Weg durch den Morgendunst bahnte. Im bitterkalten Winter 1962/63 fror der Neckar für sechs Wochen zu, und ich konnte mit meinem Fahrrad über den Fluss zu den Vorlesungen fahren. Schön war, dass nicht nur meine Eltern, sondern auch mein Großvater Kirchberg mich noch in Heidelberg besuchten und neugierig wie junge Studenten mit mir zu den Lehrveranstaltungen kamen. Das Studienprogramm wurde ergänzt durch die lebendige Arbeit der Studentengemeinde mit Pastor Martin Schröter und seiner Frau Thusnelde, in der schon ein wenig der demokratische Aufbruch der 1968er-Jahre vorweggenommen wurde. Ich leitete auch dort die Bläsergruppe, und als Hornist musizierte ich im Collegium Musicum unter Jan Hermelinck. Als Übungsraum hatten wir die wunderschöne alte Aula. Bei einer Probe trat ein junger englischer assistent teacher, auch Hornist, in den Raum: Martin Prowse. Ihm ist unvergesslich geblieben, wie ich, quasi zu seiner Begrüßung, das Anfangs-Horn-Solo aus der sinfonischen Dichtung Till Eulenspiegel von Richard Strauß blies. Im Winter 1962/63 bildeten wir das Horn-Duo bei einer Konzertreise nach Montpellier in Südfrankreich – Beginn einer Lebensfreundschaft. Im gleichen Semester hatte ich die Begegnung, die mein Musizieren mit dem Horn für das weitere Leben am stärksten inspirierte. Vermittelt durch meine jüngste Tante Jutta erhielt ich von Hermann Baumann, dem jungen Solo-Hornisten des Stuttgarter Rundfunk-Sinfonieorchesters, eine Wochenendeinladung. Unkompliziert wurde ich von ihm, seiner Frau Hella und ihren damals drei Kindern aufgenommen. Wir bliesen uns gegenseitig unsere Lieblings-Solopartien vor. Er schätzte meine natürliche Begabung, und ich hörte erstmals seinen singenden Hornton, mit dem er später – nach Gewinn des ARD-Musikwettbewerbs 1964 – weltberühmt wurde. Er übte damals das anspruchsvolle Hornkonzert von Paul Hindemith, und als die Familie mich zum Bahnhof brachte, tanzten die Kinder auf dem Bahnsteig zu den Melodien des Konzerts, die sie sangen. Eine lebenslange Musik- und Familienfreundschaft war entstanden. In Heidelberg gelang es mir, bis zum sechsten Semester alle Pflichtscheine, einschließlich homiletischem Seminar und erster Predigt, zu erwerben. Ein ganz besonderes Seminar bot der Missionstheologe Werner Kohler an, der längere Zeit in Japan gelehrt hatte. Zusammen mit einem Zen-Professor arbeiteten wir über das Ostasiatische Nichts, eine vollkommen faszinierende, uns damals noch absolut fremde und ferne religiöse Denk- und Lebens-

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form. Es wurde meine erste Begegnung mit der Welt der Religionen, die meinen Weg später so sehr bestimmen sollte. Im kleinen Kreis diskutierte kein Geringerer als der Philosoph Karl Löwith mit, aber auch die junge Ethnologin Ilse Tödt, Frau von Heinz Eduard Tödt, dem ersten Heidelberger Professor für Sozialethik. Zuvor wagte ich mich im fünften Semester in ein Seminar über die altkirchlichen Konzilien bei Edmund Schlink, in dem der Professor umgeben war von schon sehr gereiften Doktoranden. Er gab mir für eine Seminararbeit das Thema Gerhard Gloeges Kritik an Karl Barths Christologie – für einen 21-Jährigen eine nicht geringe Zumutung! Ich konzentrierte mich auf Zentralaussagen bei diesen beiden bedeutenden Theologen, würdigte die Argumentation beider und fand hinsichtlich des historischen, irdischen Jesus ein (vermeidbares!) Defizit bei Karl Barth. Die Arbeit fiel so gut aus, dass ich mir sagte: Du musst noch einmal gründlich Exegese betreiben, bevor du in der systematischen Theologie landest! Dazu bot das 7. Semester in Wien Gelegenheit. Wien lockte, nicht nur, weil es deutschsprachiges Ausland war und eine kleine evangelisch-theologische Fakultät besaß, sondern auch als bleibende eigentliche Kulturhauptstadt Europas. Ihrem Charme bin ich schnell erlegen, obwohl bei der Ankunft – das Semester begann schon im März – die Straßen noch mit großen Schneehaufen übersät waren nach dem harten Winter. Ich wurde, zusammen mit meinem Studienfreund Burkhard Avenarius, im Evangelischen Studienheim der Österreichischen Kirche Augsburger Bekenntnisses in der Blumengasse (8. Bezirk) aufgenommen; dort durften wir unentgeltlich wohnen! Mit dem Fahrrad erreichte ich schnell den Ring mit den Prachtgebäuden aus der Habsburger Zeit und die Innenstadt mit dem Stephansdom in der Mitte. Hauptattraktionen wurden für mich das Burgtheater und vor allem die Staatsoper. Es gab preiswerte Stehplätze, und wir hatten schnell heraus, wie man geschickt zu den Plätzen mit der besten Sicht gelangen konnte. Wir fühlten uns sehr geehrt, weil wir merkten, dass die Künstler beim Applaus zuerst zu den Stehplätzen hinaufschauten, wo ihre Leistung anerkannt wurde. Der ASTA (Allgemeiner Studentenausschuss) hatte immer ein Kontingent von Karten, und wenn man sich am Samstag um 6 Uhr früh anstellte, konnte man diese für nur einen Schilling, damals 15 Pfennig, ergattern. Auf diese Weise habe ich Herbert von Karajan als Dirigenten mehrfach erlebt. Es war eine Hoch-Zeit: mit Walter Berry, Hans Otter, Christa Ludwig, Irmgard Seefried. Dietrich Fischer-Dieskau hörte ich in dem akustisch einzigartigen Musikvereinssaal mit Benjamin Brittens War Requiem. Insgesamt 57 Mal besuchte ich in diesem Semester Theater, Oper und Konzerte! In der evangelisch-theologischen Fakultät ging es sehr familiär zu. 80 Studierende waren wir, die Hälfte davon keine Österreicher. Im Kolleg der älteren

reformierten Professorin Grete Meccenseffy saß ich mehrere Wochen lang als einziger Hörer. Da ich von Heidelberg kam und es um den Heidelberger Katechismus ging, wurde daraus ein intensives Zwiegespräch, bei dem mich diese kleine, unendlich belesene Frau mit ihrem Wissen beeindruckte. Sie war zudem die beste Kennerin aller Winkel der Wiener Innenstadt, besonders auch der künstlerischen Treppenhäuser, zu denen sie mich und Mitstudierende einer anderen Lehrveranstaltung führen konnte. Der systematische Theologe Wilhelm Dantine bot ein Seminar über Ökumene an. Das war für die kleine österreichische evangelische Kirche, die Jahrhunderte unter dem absolut dominanten Katholizismus gelitten hatte, ein Novum. Aber mit Dantine waren wir Studierenden fasziniert von dem Aufbruch, der sich beim Zweiten Vatikanischen Konzil anbahnte. Als ich einmal mit dem Fahrrad durch die Wiener Innenstadt fuhr, ertönten plötzlich von allen Seiten her die Glocken der Kirchen; selbst die größte Glocke im Stephansdom, die Pummerin, schlug an: Es war die Stunde, in der Papst Johannes XXIII. gestorben war. Auch wir Evangelischen waren erschüttert und warteten mit Bangen, ob der Reformprozess in der katholischen Kirche wohl weitergehen würde. Außerdem widmete ich mich noch einmal ausführlich der Exegese. Im Seminar des Neutestamentlers Gottfried Fitzer über den Kolosserbrief hatte ich mir als Seminararbeitsthema die Grundlegung der Ermahnungskapitel (Paränese) im Römer- und im Kolosserbrief ausgesucht. Nach der Morgen­ andacht im Theologenheim um 6.30 Uhr und dem anschließenden Frühstück setzte ich mich in die Bibliothek – meist war ich allein dort – und baute das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament vor mir auf. Ich erschloss mir die beiden Texte mit ihren vielen inhaltlich gewichtigen Begriffen – Erbarmen, Opfer, Gottesdienst … –, zog Ernst Käsemanns berühmten Aufsatz Gottesdienst im Alltag der Welt zu Römer 12 heran und fand, wie in beiden Texten sehr spezifisch und zentral die grundlegende Belehrung situationsbezogen in die Lebensanleitung für die Gemeinden überführt wurde. Ich konnte noch nicht ahnen, dass dies der erste Mosaikstein zu meiner Doktorarbeit werden würde. Die folgenden, diesmal viermonatigen Semesterferien nutzte ich, um die von der Landeskirche erwarteten sechs Monate an praktischer Tätigkeit in Industrie oder Diakonie zu vervollständigen. Nachdem ich früher schon ein Industriepraktikum in der großen Bielefelder Weberei Delius absolviert hatte, entschied ich mich noch einmal für vier Wochen Nachtwache im Fichtenhof in der Betheler Zweiganstalt Eckardtsheim in der Senne, in dem Männer mit langfristiger psychischer Belastung wohnten. Die tiefe menschliche Hochachtung, die Hausvater Klotz im Fichtenhof seinen ›Herren‹ entgegenbrachte und ebenfalls von uns erwartete, hat mich besonders beeindruckt.

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Da die Nächte meist sehr ruhig verliefen, fand ich Zeit, mich gründlich auf die Bibelkundeprüfung vorzubereiten, die eigentlich Teil des ersten Theologischen Examens war, aber – ebenso wie die Philosophieprüfung – vorgezogen werden konnte. Mein Vater hatte mir eingeschärft: »Lerne Bibelkunde und Kirchengeschichte. Damit kannst du alle theologischen Prüfungen bestehen.« Im Blick auf das klassische Studium Evangelischer Theologie, wie ich es erlebte, hatte er recht: Auch für Dogmatik und Ethik musste immer wieder von den biblischen Grundlagen aus und im Blick auf die Lehrentscheidungen in der Kirchengeschichte argumentiert werden. Ich exzerpierte mir also die ganze Bibelkunde von Claus Westermann. Für das Neue Testament legte ich mir außerdem Kärtchen an (›Idiotenskat‹ nannten wir sie leicht spöttisch), jeweils mit Kurzangabe eines Kapitels aus den neutestamentlichen Schriften: 250 Kapitel insgesamt – das kann man sich doch im Wesentlichen merken, wenngleich manche Evangelienkapitel zehn oder mehr Einzelabschnitte mit abgegrenzten Texten enthalten. Geprüft wurde ich von dem alten Münsteraner Ordinarius Wilhelm Rudolph – einmal quer durch die Bibel: beginnend mit dem Wort »und führen, wohin du nicht willst« aus Johannes 21, in Anknüpfung an Helmut Gollwitzers bekanntes Buch über seine Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion, und endend mit der Frage, ob und wo Selbstmord im Alten Testament vorkommt. Da auch die Prüfung in Philosophie ein halbes Jahr später – bei dem Betheler Philosophieprofessor Wilhelm Anz, über Augustins Confessiones – sehr gut ausfiel, hatte ich schon eine erfreuliche Grundlage für mein späteres Examen. Mein achtes Semester sollte ein Übergangssemester sein – in Münster als der Haus-Universität der Evangelischen Kirche in Westfalen, in deren Theologenliste ich inzwischen eingeschrieben war. Münster war damals immer noch von dem Odium umgeben »Schwarz – Münster – Paderborn«. Aber längst war ein Drittel der Bevölkerung Münsters evangelisch; der ökumenische Aufbruch, befördert durch das Zweite Vatikanische Konzil, machte sich dort besonders bemerkbar, bevor der 68er-Reformschub noch ganz andere gesellschaftliche Dimensionen annahm. Ich wohnte zunächst mit meinem Bruder Martin zusammen, der auch in Bethel mit dem Theologiestudium begonnen, es nach dem ersten Semester aber für ein Jahr in Amerika unterbrochen hatte. Eigentlich wollte ich mich nach diesem Semester von Bethel aus auf das erste theologische Examen vorbereiten. Es kam anders. Ich fand in diesem Semester meine Frau und meinen Doktorvater, und so sind zehn Jahre in Münster daraus geworden. Willi Marxsen war zwischenzeitlich dorthin berufen worden, und seine eben erschienene Einleitung in das Neue Testament sorgte für heftige Diskussionen. In einer seiner ersten Vorlesungen öffnete sich die Tür, und eine junge Studentin kam herein, die mich vom

ersten Blick an bezauberte. Schnell erfuhr ich ihren Namen: Susanne Dörner, Tochter des Althistorikers und Archäologen Friedrich Karl Dörner und der Germanistin und Autorin Eleonore Dörner, geb. Benary. Sie hatte als 21-Jährige bereits eine Berufsausbildung als Gymnastiklehrerin, abgeschlossen am Seminar Loheland in der Rhön, die sie sich nach dem Abitur gewünscht hatte. Nun durfte sie am Institut für Leibesübungen in Münster Volkstanz unterrichten, direkt vor der Marxsen-Vorlesung. Sie kam regelmäßig etwas zu spät, und regelmäßig war von da an ein Platz für sie freigehalten. Neugierig setzte ich mich auch in die Vorlesung, die ihr Vater über seine Ausgrabungen in der Türkei hielt, und war gleich fasziniert von seinen lebendigen, mit Dias unterstützten Berichten über die Entdeckungen im Gebiet des antiken Königreiches Kommagene, dessen Könige um die Zeitenwende – also fast zeitgleich mit dem Auftreten Jesu – ein ganz eigenes Religions- und Kulturprogramm entwickelt hatten. Mein Bruder Martin beobachtete, manchmal etwas schmunzelnd, dieses neue Interesse und die aufkommende Liebe. Ich aber entdeckte zunehmend, welche Schätze Susanne aus ihrer Kindheit und Jugend mitbrachte: geboren in Wien, als Flüchtlingskind nach dem Krieg in dem Dorf Bebenhausen bei Tübingen groß geworden, während ihr Vater Assistent an der Universität Tübingen war. Das Dorf – einst Zisterzienser-Kloster, später Jagdschloss der Könige von Württemberg, wohin König Wilhelm nach seiner Abdankung mit seinen Getreuen gezogen war – hatte einen ganz besonderen Charakter. Susanne lernte noch einen Hofknicks für die Königin Charlotte, die dort als Witwe lebte. Und es gab eine einzigartige Dorfgemeinschaft mit vielen originellen Menschen, einem besonderen Zusammenhalt unter der französischen Besatzung und vielen gemeinsamen Festen. Hier brachten sich Susannes Eltern mit ihrem für die damalige Zeit schon deutlich kulturübergreifenden Lebenshintergrund ein: die Mutter aus einer gebildeten preußischen evangelischen Offiziersfamilie mit hugenottischen, jüdischen, auch katholischen Wurzeln, der Vater aus einer methodistischen Bergmannsfamilie im Ruhrgebiet stammend. Ihre Ehe hatten sie 1938 in Istanbul begonnen, am dortigen deutschen archäologischen Institut. Mein Schwiegervater hatte bereits den ganzen Orient bereist. Die junge Familie wohnte nun im Dachgeschoss des Schulhauses, und der Lehrer Sinn bat eines Tages Susannes Mutter, ihr doch die noch vierjährige Susanne in die einklassige Schule zu geben, da diese sonst wegen Minderzahl hätte geschlossen werden müssen. Dort lernte sie mit den Älteren Woche für Woche einen Choral, konnte als Sechsjährige schon die ganze Glocke von Schiller auswendig, während ihr Mathematik nicht so behagte. Als die Familie nach Münster zog, wohin der Vater zur Habilitation gewechselt hatte, besuchte sie das Schiller-Gymnasium – in der ersten Klasse, in der in die

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bisherige Jungenschule sechs Mädchen aufgenommen wurden. Ihre Patentante, die Apothekerin Sabine Landois, Großnichte des berühmten Münsteraner Zoogründers Hermann Landois, der als frei denkender Katholik sich nach dem Ersten Vatikanischen Konzil der altkatholischen Bewegung verbunden fühlte, gehörte mit in den Familienkreis und begleitete sie während ihrer Konfirmandenzeit regelmäßig in die Kirche. Sehr prägte Susanne der später bekannte Geschichtsdidaktiker Karl-Ernst Jeismann als junger Lehrer, der kritisches, selbstständiges Denken förderte. In der bündischen Jugend gewann sie besondere Freundschaften, bei Radtouren und Wanderungen hatte sie tiefe Naturerlebnisse und sie nahm einen großen Reichtum an Liedern und Geschichten in sich auf. Die Eltern förderten natürlich sehr die klassische Bildung, und als Belohnung für ihr Griechisch-Lernen unternahmen sie mit ihr nach dem Abitur eine Griechenlandreise, bei der sie die berühmten antiken Stätten aufsuchten, aber auch das orthodoxe Osterfest intensiv miterlebten. Aber zurück zu meinem achten Semester: Marxsen bot neben seiner Vorlesung auch ein Seminar über Taufe im Neuen Testament an und gab mir – auf Grund meiner Wiener Seminararbeit – die Taufstellen in Kolosser- und Epheserbrief als Referatsthema. Ich traute mich, auf Grund eigener Beobachtungen seiner Einstufung des Kolosserbriefes als deutero-, also nachpaulinisch zu widersprechen – es sei vielmehr genuin paulinische Argumentation in späterer Situation – und hatte beim Vortrag des Referats eine atemlose Hörerschaft. Aber Marxsen ließ sich beeindrucken und regte mich direkt nach der Seminarsitzung zu einer Doktorarbeit über den Kolosserbrief an. Da gleichzeitig eine studentische Hilfskraftstelle frei wurde, konnte ich meine Eltern von da an finanziell entlasten. Marxsen betreute mich in einer Weise, die mir sehr entgegenkam. Er machte keine Vorgaben, wies allenfalls einmal auf wichtige neue Literatur zum Thema hin und wartete im Übrigen auf meine Vorlagen, die er dann zügig durchsah und korrigierte. Im Sommersemester 1964 konnte ich in das Hamann-Stift einziehen, ein für damalige Verhältnisse großzügiges Wohnheim für Theologie-Studieren­de, zentral am Breul und der nahen Promenade gelegen. Dort wohnte ich bis nach meinem ersten theologischen Examen in einer netten Gemeinschaft, mit ungezwungenem Miteinander-Lernen zu den Lehrveranstaltungen und zum Examen. Benachbart war das Volkeningheim mit der Studierendengemeinde und der gotischen Johanneskapelle, ein lebendiges geistliches Zentrum mit zunehmend auch in die politische Dimension reichenden Aktivitäten. Bald übernahm ich dort die Leitung der Bläsergruppe. Da meine Freundin Susanne stellvertretende Vertrauensstudentin wurde, gab es viel Gelegenheit, gemeinsam mitzuwirken. Wir entdeckten, wie viel an Lied-,

Poesie- und Musikschätzen wir miteinander teilen konnten und nutzten alle Gelegenheiten zum Tanzen, die sich boten. Der ›wunderschöne Monat Mai‹ war mit dem Hochgefühl des Zueinander-Findens eigentlich durch nichts zu überbieten. Ob eine junge Liebe sich bewährt, erfährt man besonders bei gemeinsamen Reisen sowie in Zeiten, in denen man nicht zusammen sein kann. Zu beidem erhielten wir reichlich Gelegenheit: Bei einer romantischen Schwarzwaldwanderung nach dem Semester mit meinem Vater, Bruder Martin und Schwester Dorothea, einer Unternehmung, die Susanne nach anfänglichem Zögern ihrer Eltern genehmigt wurde, erlebten wir uns in der Natur, bei langen Tageswanderungen, abends beim Singen zur Gitarre, und Susanne fühlte sich in unserem Familienkreis schnell beheimatet. Danach reiste sie in die USA zu ihren dort lebenden Paten, erlebte intensiv Sightseeing und Feste und wurde von mehreren jungen Amerikanern heftig umschwärmt. Als sie dann aber zum Wintersemester 1964/65 zum Studium nach Berlin ging, steigerte sich unser geistiger, geistlicher und vor allem persönlicher Austausch besonders durch lebhafte Korrespondenz so sehr, dass sich bei meinem Besuch in Berlin am 19. Dezember 1964 mein Heiratsantrag – die ›heimliche Verlobung‹ –fast wie selbstverständlich ergab. Dabei half es, dass mir Professor Marxsen gerade die Stelle einer wissenschaftlichen, examinierten Hilfskraft in Aussicht gestellt hatte, wenn ich nur schnell mein Examen ablegen würde. Es war ein Weg am Schlachtensee, bei dem das entscheidende Gespräch stattfand. Am Abend des Verlobungstages sang Susanne im Messias von Händel mit, und ihr strahlendes Gesicht bei dieser wunderbaren Musik ist mir unauslöschlich in Erinnerung. Von gleicher Beseligung war der folgende Abend, für den Susanne zwei Plätze in der ersten Reihe der neuen Berliner Philharmonie ergattert hatte, um dort die Aufführung des Weihnachtsoratoriums von Bach zu erleben. Einige honorige Berliner um uns wunderten sich über die jungen Leute auf diesen prominenten Plätzen. William Born, der damals die FDP als ihr Vorsitzender wieder in den Berliner Senat gebracht hatte, saß hinter uns, wünschte uns demonstrativ gesegnete Weihnachten und brachte uns anschließend in seinem kleinen DKW persönlich zu unseren Quartieren.

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Das Pfarrhaus in Schellerten: Gemälde des Vaters Karl-Heinz Lähnemann

Das erste Foto, am 16.06.1941‚ aufgenommen von Hans-Georg, Bruder der Mutter (gefallen am 12. Juli 1941)

Weihnachten 1941: Erster Heimaturlaub des Vaters

Mai 1943 – mit Bruder Martin

1950 als »Jungbläser«

Die Familie mit Johannes, Martin, Dorothea und Magdalene (Lela) 1954 in Brambauer, kurz vor dem Umzug nach Freistatt

Der Familien-Posaunenchor in Freistatt 1961: Der Vater mit (v. r.) Johannes, Dorothea, Martin, Christiane (Nane) als Dirigentin, Cousine Sibylle und ­Magdalene (Lela)

Gemeinsam in die Zukunft mit Susanne (Januar 1965)

Silberhochzeit der Eltern, September 1965, mit den Großelternpaaren Lähnemann (links) und Kirchberg (rechts)

Bei der Hochzeit am 13. Mai 1967 vor der Universitätskirche Münster mit Mutter Lähnemann, den Schwiegereltern Dörner, dem Großvater Kirchberg und den Großeltern Lähnemann Bei der Verlobung im Grabungslager Arsameia/ Ostanatolien am 6. Oktober 1965 – mit Bruder Martin

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 Doktorand, Assistent und junger Familienvater in Münster im 68er-Aufbruch

Erstes theologisches Examen · Verlobungsfest in Kommagene · Doktorarbeit über den Kolosserbrief · Hochzeit, Promotion, Vikariat, zweites theologisches Examen, Ordination, Assistent · 1968er-Reformwege: Hochschuldidaktik, Curriculumtheorie

Drei Tage vor Weihnachten 1964 war es, als ich – so wurde es erwartet – in der Dodostraße in Münster bei Susannes Eltern erschien und um ihre Hand anhielt. Mein Schwiegervater in spe reagierte positiv, aber unkonventionell: »Gut. Dann kann Susanne erst einmal ihr Studium unterbrechen und im Sommer mit in die Ausgrabung nach Kommagene in der Osttürkei kommen. Dort kann ich ihre Hilfe gebrauchen, und sie lernt das antike Königreich kennen, von dem sie schon so viel gehört hat. Und du (er wies auf mich) machst in der Zwischenzeit dein theologisches Examen. Wenn das gut geschafft ist, kommst du in die Ausgrabung, und ihr feiert dort die Verlobung.« Er setzte hinzu: »Ihr könnt euch dann viele Briefe schreiben. Wenn sie ankommen, braucht ihr euch nicht aufzuregen: Was drin steht, ist längst überholt!« Diese Aussicht schreckte uns nicht, spornte uns im folgenden Sommer vielmehr an, im brieflichen Erzählen einander am eigenen Erleben intensiv Anteil zu geben. Ich stand als erstes vor der Frage: Wie bereitet man sich in wenigen Wochen auf ein Examen vor, für das normalerweise ein bis zwei Semester Anlaufzeit zu rechnen waren? Immerhin hatte ich eine ganze Anzahl ausgearbeiteter Vorlesungsmitschriften, Seminararbeiten und im Hintergrund die Bibelkundeprüfung, an die ich anknüpfen konnte. Im Hamann-Stift bildeten wir eine Lerngruppe, in der wir uns jeweils abends berichteten, was wir am Tag erarbeitet hatten. Für die wichtigsten systematischen Themen exzerpierte ich mir entsprechende Lexikon-Artikel aus Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). Bald erhielt ich die Themen und Texte für die wissenschaftliche Arbeit, die Predigt und die Katechese. Ich hatte die Berichte von der Taufe Jesu durch Johannes in der neutestamentlichen Überlieferung zu vergleichen. Das war eine spannende Aufgabe. Denn es ist unstreitig, dass mit der Taufe durch Johannes Jesu öffentliches Wirken begann, dieser Akt

gleichzeitig aber als Unterordnungsakt unter die Autorität des Täufers verstanden werden konnte. Außerdem gab es die verbreitete Meinung, dass in diesen Berichten eine ›adoptianische‹ Christologie vorliege, Jesus also hier als Sohn Gottes ›adoptiert‹ und eingesetzt werde – und deshalb nicht seit Ewigkeiten präexistent Gottes Sohn sei. Gerade Letzteres habe ich bestritten: Jesus wird hier nicht zum Sohn Gottes eingesetzt, sondern als Gottes Sohn vorgestellt! Meine Thesen habe ich später für meine Promotionsvorlesung wieder aufgegriffen, und daraus wurde mein erster wissenschaftlicher Aufsatz, der in der Theologischen Literaturzeitung erschien. Im Mai 1965 begann Susannes Reise mit dem Expeditions-Team zur Ausgrabung in der Osttürkei – im VW-Bus durch Österreich, Jugoslawien, Bulgarien, über Istanbul, Ankara, Adana, Adiyaman an den oberen Euphrat, begleitet von langen Erzählbriefen, die mich jeweils etwa nach einer Woche erreichten und unauslöschliche Bilder eines Grabungssommers lieferten. Am 5. Juni schrieb sie, gleich nach der Ankunft im Grabungslager: »… Johannes, Du mußt versuchen zu kommen – und ich wünschte, es wäre schon morgen!   Wieviel Bilder, wieviel Erzählungen gingen meiner Begegnung mit Kommagene voraus, aber meine Phantasie hatte sich kein Bild geschaffen, das auch nur annähernd der überwältigenden Wirklichkeit gleichgekommen wäre. Meine Vorstellung hatte sich doch immer noch in europäischen Bahnen bewegt, jetzt bin ich in eine fremde Welt entrückt, deren Raum mit unserem Maßgefühl kaum auszumessen ist. Fast zwei Tage lang rollten wir nur noch auf ›Wegen‹ diesem urzeitlichen Gestade zu. Jetzt ist es, als hätten wir den ›innersten Winkel‹ des fremden Königreiches erlangt. Riesige Bergspitzen umschließen unser Blickfeld. Oben, wo sich eine Felsenschlucht etwas weitet, stehen unsere Zelte – auf die jetzt die Sonne blendendes Licht wirft (40 Grad). Unsere Küche liegt etwas tiefer, und das Laubdach davor hält die Kraft der Strahlen noch so weit zurück, daß ich noch ganz gut hier schreiben kann. Im Hintergrund sorgt außerdem Aziz dafür, daß immer heißer Tee für uns bereit ist.   Als ich heute morgen am Wasserfall entlang hinabstieg und auf der anderen Seite wieder emporkletterte, um aus unserem braven Bus, der im Dorf stehen bleiben mußte, die Marmelade zu holen, durfte ich nicht mehr allein zurückgehen, sondern Aziz und Emin setzten mich auf das Maultier, und ich durfte zurückreiten. Bei solcher Leibgarde kann man sich schon wie eine Königstochter vorkommen! Als mir gestern Emin entgegenkam, um mich als die Tochter seines ›Doktor Bey‹ schon vor dem Dorf zu begrüßen, stieg in mir ganz lebendig die alttestamentliche Erzählung auf, wie Rebekka in das Land ihres zukünftigen Mannes kommt und man ihr auch weit entgegenzieht. Die Gesten des Willkommens, von ehrerbietiger Zuneigung erfüllt – einfach schon deshalb, weil man in diesem ›Stand‹ kommt –, mögen damals ähnlich gewesen sein und erschütterten mich tief. Emin führte mich gleich in den kühlen, sauberen, lehmgestrichenen Gästeraum seines Hauses und gab mir die kleine Susanne auf den Schoß, die mich mit blauen Augen und blonden Haaren ganz wie ein deutsches Kind anmutete, wäh-

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rend ihre Schwester im orangefarbenen kurdischen Kleid und mit langen schwarzen Zöpfen eine türkische Schönheit ist. Sie sieht wirklich wie Schneewittchen aus, und man glaubt, die Illustration zu einem alten Märchen zu sehen, wenn sie, ohne Weg und Steg zu achten, ganz besonnen und flink neben uns auftaucht und wieder verschwindet, während wir (jedenfalls vorläufig noch) den gebahnten Weg benutzen. …«

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Es ist dieses staunende, sensible Begegnen mit einer ganz unvertrauten anderen Kultur, Religion und Lebenswelt, die uns fasziniert und von da an immer wieder in Erfahrungsräume jenseits unserer traditionellen Grenzen geführt hat. Für mich war es – nach dem im September 1965 ausgesprochen gut abgeschlossenen Examen –zusammen mit meinem Bruder Martin die Reise zum Verlobungsfest, die mich erstmals in die orientalische Welt führte. Mit einem Studentenflug erreichten wir zunächst Athen, besuchten die Akropolis und den Areopag, auf dem nach der Überlieferung der Apostelgeschichte Paulus gepredigt hatte. Von Piräus aus fuhren wir mit einem Nachtschiff in einer heißen Kabine unter Deck über die Ägäis bis zur Insel Chios. Von dort – es war eine Zeit voller Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei – gab es keine reguläre Verbindung zum nahen türkischen Festland. Uns blieb nur, in eine der Dschunken zu steigen, die zu einem horrend überhöhten Preis die 12 km bis nach Cesme hinüberfuhren. Per Anhalter erreichten wir Izmir. Zwei Tage und zwei Nächte rollten wir mit einem Zug, der alle 10 km hielt, durch Anatolien, beeindruckt von der Hochfläche und den hohen Randgebirgen, mitten unter türkischen Familien, die den Zug bis in den letzten Winkel füllten und uns immer wieder von ihren Reisevorräten anboten. Über Konya ging es durch die kilikische Pforte nach Adana an der Mittelmeerküste und dann wieder hinauf durch das Taurus- zum Antitaurus-Gebirge und damit zum Gebiet des antiken Königreichs Kommagene. Vom kleinen Bahnhof Gölbas¸ı aus fuhr noch ein Bus, teilweise halsbrecherisch an Steilabhängen entlang, bis nach Adiyaman, der Provinzhauptstadt. In der dortigen Militärstation konnten wir per Feldtelefon das Ausgrabungslager erreichen und unser Näherkommen beschreiben. Ein Armeejeep nahm uns mit bis nach Yeni Kahta, der dem Ausgrabungslager nächstgelegenen Kleinstadt. In den Abendstunden holte uns schließlich mein Schwiegervater mit dem Grabungsjeep nach Eski Kahta, dem Ort, bei dem er 1950 Arsameia, die Sommerresidenz der kommagenischen Könige, am Rande des Nemrud Dagh-Massivs entdeckt hatte. Unterwegs hielten wir an der Römer-Brücke über den Cendere Köprü, die dort seit den Tagen des Kaisers Septimius Severus alle Zeitenstürme überdauert hat. Vom Scheitelpunkt der Brücke blies ich mit meinem Flügelhorn meiner Künftigen ein Lied entgegen. Als ich

dann vom Dorf aus über eine mittelalterliche Bogenbrücke, die den Kahta Cay überspannt – der in der Antike Nymphaios hieß und sich durch gigantische Felsklüfte zwängt – den Pfad zum Zeltlager emporstieg, kam Susanne mir entgegen: in kurdischem Gewand, zwei Schritte hinter ihr der Grabungswächter mit Gewehr. Das erste, was sie mir nach der Begrüßung sagte, war: »Johannes, mit Gästen kannst du mich nicht mehr schrecken!« Sie hatte ja die Grabungsküche geführt, unterstützt von drei einheimischen Mitarbeitern, und an einem Küppersbusch-Herd unter einem Blätterdach für bis zu 30 Personen jeweils das Essen vorbereitet. Ihre Improvisationsgabe wurde in den nächsten Tagen noch sehr gefordert. Denn überraschend setzte verfrüht die Regenzeit ein, und das Laubdach musste mit Plastikfolien gesichert werden. Gleichwohl führte sie uns auf die nahe Yeni Kale, die ›neue Burg‹, eine gigantische Anlage der Mamelucken, in der im Sommer mehrere Räume freigelegt worden waren, sowie auf die Eski Kale, die ›alte Burg‹ in Arsameia, wo ihr Vater die berühmte Kultinschrift des Königs Antiochus I. von Kommagene entdeckt hatte, die größte Felsinschrift Kleinasiens. Als am 6. Oktober der Regen pausierte, wurde schnell alles für das Verlobungsfest hergerichtet. Meine Eltern in Deutschland erhielten ein Telegramm: »Verlobung schon heute, da ausnahmsweise kein Regen«, und die Grabungsmitarbeiter tauschten ihr Grabungszivil mit weißen Hemden, die sie aus der Tiefe ihrer Koffer herauskramten. Das ganze Dort hatte auf das Fest gewartet. Für die Mädchen gab es neue Haarschleifen. Und dann wurde gefeiert: mit Hammelbraten und Airan, wunderbaren Trauben und Tomaten, Cay und süßem Baklavar! Pfeifer und Trommler spielten zum Tanz auf. Ich erlebte zum ersten Mal orientalische Gastlichkeit, neu für mich wie der morgendliche Ruf des Muezzin, wie die Gebetszeiten, zu denen die Arbeiter ihre Teppiche ausrollten: für einen jungen evangelischen Theologen eine fremde, faszinierende Welt! – Was ich mir von dieser Reise an für die vielen Reisen in verschiedene Länder und Kontinente, die folgen sollten, vorgenommen habe: Stell an den Anfang das Staunen, das Wahrnehmen, richte deine Sinne auf das, was dir begegnet. Stell das Kategorisieren, das Urteilen zurück! Zum Abschluss unserer Tage in Kommagene durften wir auf Maultieren hinaufreiten zum 2100 m hohen Gipfel des Nemrud Dagh, auf dem Antiochus I. von Kommagene sein Grabmal hat errichten lassen, das zu den eindrucksvollsten Sehenswürdigkeiten in der Türkei gehört: eine 50 m hohe Schotterpyramide mit Götterfiguren auf drei Seiten, deren Überreste in etwa zehnfacher Lebensgröße in den Himmel ragen. Auf der Rückseite der Figuren hat der König in Inschriften – in schönstem Koine-Griechisch (dem Englisch der Antike) – sein Kultprogramm erklärt, das in religionsgeschichtlich einzigartiger Weise die griechisch-römische mit der persischen Götterwelt ver-

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bindet. Uns schauten die wieder ausgegrabenen Köpfe von Zeus-Oromasdes, Apollon-Mithras und der Landschaftsgöttin Kommagene in fast mystischem Licht an, hoch über der Felsenlandschaft, die sich wie ein Meer ausbreitet, in der Ferne der Euphrat, der später zum Atatürk-Stausee aufgestaut wurde. Auf der Rückreise mit dem VW-Bus der Ausgrabung nach Deutschland zeigten uns die Eltern viele der bedeutenden Landschaften und Orte der Türkei: die Ebene von Antalya, wo die antike Großstadt Antiochien lag, die Höhlenkirchen in Kappadokien, die Hethiter-Ausgrabungen in Bog˘azkale, das Atatürk-Mausoleum in Ankara, Hagia Sophia und Blaue Moschee in Istanbul. Susanne und ich dachten, das bliebe für uns eine ziemlich einmalige Begegnung, weil wir ja eine Pastorenfamilie auf dem Lande in Deutschland werden wollten. Dass es einmal einen intensiven theologischen und religionspädagogischen Austausch mit den islamisch-theologischen Fakultäten der Türkei, vor allem in Ankara, geben würde, konnten wir noch nicht ahnen. In Deutschland wurde unsere Verlobung noch zwei Mal nachgefeiert: in Freistatt und in Münster. – Und dann begann die intensive Arbeit an der Dissertation. Susanne, die ihr Abitur am humanistischen Schiller-Gymnasium in Münster gemacht hatte, schrieb mir dazu den ganzen Kolosserbrief in Griechisch auf große Blätter, die ich an meine Schrankwand im HamannStift heftete, so dass ich die Epistel immer im Blick haben konnte. Eines Mittags kam mir in den Sinn, dass es offenkundig viele Formen des griechischen Wortes pas, pasa, pan (= jeder, alles) in dem Brief gab. Ich ging an die Schrankwand und unterstrich die Worte: 32 Mal kamen diese Formen in den vier Kapiteln vor: Das konnte kein Zufall sein! Es war der Beginn der Entdeckung, dass es den ganzen Kolosserbrief hindurch besondere sprachlich-logische Verknüpfungen gibt, die den Stil des Briefschreibers ausmachen und den Brief zu einem kunstvoll komponierten Gesamtwerk werden lassen – mit dem theologischen Impetus, dass alles in Jesus Christus verankert ist, dass von einem umfassenden Heil die Rede sein muss, dass er der Herr über alle Mächte und Gewalten ist. Vom Stil des Verfassers hebt sich die Sprache des berühmten Christushymnus Kol 1,15–20 deutlich ab, ebenso aber auch die Begrifflichkeit, die die Gegner verwenden und auf die im zweiten Kapitel des Briefes ausführlich eingegangen wird. Aus der Erarbeitung der Komposition des Briefes – quasi in Anwendung der bei den Evangelien entwickelten redaktionsgeschichtlichen Methode auf einen Brief – wurde so der erste Teil meiner Doktorarbeit. Beim folgenden Teil, in dem es um die Situation bei den Adressaten des Briefes ging, half mir mein Schwiegervater mit seinen detaillierten Kenntnissen über die Religionswelt in Kleinasien, die von vielfältigen Religions-Mischformen – Synkretismen – geprägt war: mit dem Men-Kult (der Mond-Verehrung), dem Kybele-Kult (Magna Mater –

die ›große Mutter‹), mit streng asketischen, teilweise auch exzentrischen Kulten. Es war eine spannende Spurensuche, die die Attraktivität der von den Gegnern in Kolossä vertretenen Heilslehre plausibel machte: dass man die göttliche Fülle erst erreiche, wenn neben Christus noch die Mächte des Kosmos verehrt – und durch asketische Kultpraktiken besänftigt würden. Vor diesem Hintergrund tritt dann die zentral und universal auf Christus bezogene Argumentation des Briefschreibers – ob es Paulus oder sein bester Schüler war, ließ ich am Ende offen – plastisch hervor. Als Mitarbeiter von Professor Marxsen wurde ich vor allem hineingenommen in sein Bemühen, die Anliegen moderner bibeltheologischer, exegetischer Arbeit breiteren Leserkreisen zu erläutern und nahezubringen. Es war die Zeit der Bekenntnisbewegung Kein anderes Evangelium. Gerhard Bergmann hatte 1964 mit seinem im Schriftenmissionsverlag Gladbeck erschienenen Buch Alarm um die Bibel zum Angriff auf die historisch-kritische Auslegung der Bibel und besonders auf die Neutestamentler, die sie vertraten, geblasen. Es gab heftige Auseinandersetzungen in den Gemeinden und auch bei den Kirchentagen. Willi Marxsen verfasste in dieser Zeit mehrere Bücher, die sich nicht nur an ein fachtheologisches Publikum wandten, sondern bewusst auch an eher evangelikal ausgerichtete Kreise und Gemeinden. Ich habe nicht nur Korrektur gelesen, sondern auch über seine inhaltlichen Ausführungen mit ihm und seinem Assistenten Alfred Suhl diskutiert. Auch hier nahm Marxsen meine kritischen Fragen, etwa zu seiner Position in der Frage der Auferstehung Jesu, ernst. Ein besonderer Erfolg, der ihm freilich besonders heftige Angriffe einbrachte – bis hin zu der Aufforderung, seine kirchlichen Ämter niederzulegen –, war das Büchlein Der Streit um die Bibel, das ein Jahr nach Bergmanns Buch im Schriftenmissionsverlag erschien. Als ich Korrektur las, war ich begeistert: Hier konnte jemand jedem denkenden Gemeindeglied erklären, welche Hilfe für ein lebendiges Verstehen der biblischen Botschaft historisch-kritisches Arbeiten erbrachte: am Beispiel von Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft, am Beispiel der Wunderfrage, am Beispiel der Hoheitsnamen für Jesus – ›Gottes Sohn‹ und ›Menschensohn‹. Bei Marxsens Vorträgen und auf dem Hannoveraner Kirchentag gab es immer volle Säle und heftige Auseinandersetzungen. Vielen Zuhörern wurde dabei die Tür geöffnet zu einem denkenden Glauben. Die westfälische Kirchenleitung hat durchgängig zu Marxsen gehalten, und eine Gruppe engagierter Pfarrer in Schleswig-Holstein schlug ihn sogar für die Bischofswahl vor. Das Jahr 1966 erbrachte für Susanne und mich eine Erstbegegnung mit einer ganz besonderen Religions- und Kulturwelt: Mit Susanne und den Schwiegereltern nahm ich im April an einer von der Volkshochschule Münster sorgfältig vorbereiteten Reise nach Israel teil. Als das Flugzeug das Mit-

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telmeer überquert hatte und wir im Anflug auf Tel Aviv waren, stimmte jemand an: Hevenu Schalom alechem – ›Wir wünschen Frieden für alle‹ – und bald sang das ganze Flugzeug diese mitreißende Melodie. Nach der Landung waren wir umfangen vom betörenden Duft blühender Orangen- und Zitronenbäume. Im Flugzeug waren wir mit einer israelischen Studentin ins Gespräch gekommen, die aus einer deutsch-jüdischen Familie stammte. Der Vater war als Kind bei den Thomanern in Leipzig gewesen, musste emigrieren und hatte im Holocaust viele Familienangehörige verloren. Die Vergangenheit war im Elternhaus zu einem Tabu geworden. Der Tochter hatten die Eltern ihren Wunsch, in Deutschland zu studieren, verweigert. Ein Kompromiss war ein Studium in der Schweiz, von wo aus die junge Studentin dann doch mehrmals nach Deutschland eingereist war. Sie sagte, es sei für sie so gewesen, als käme sie überraschend in ihre eigene Heimat – mit Landschaft, Kultur, Musik und Kunst. Sie lud uns in ihr Elternhaus in Tel Aviv ein, und es war, als besuchten wir das Haus einer gebildeten deutschen Familie – mit den Bildern, den Büchern, dem Mobiliar. Freundlich wurden wir, gleichsam als Nachgeborene der NS-Zeit, aufgenommen, und in unserer Gegenwart wurde zum ersten Mal wieder Deutsch gesprochen. Dieses Erlebnis prägte sich uns ebenso tief ein wie der Besuch in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem mit der Vergegenwärtigung der unendlichen Zahl von Einzelschicksalen, die dem NS-Terror zum Opfer gefallen waren. Uns wurde deutlich, dass ohne die Konfrontation mit den Traumata der Geschichte, ihrer Offenlegung und Bearbeitung, der Brückenbau zwischen den Völkern, Kulturen und Religionen unvollständig bleiben muss. Israel als Land der Gegenwart sprach uns an, als Land, das sich in der Moderne neu bilden musste: mit Sprache, Schulwesen, Aufbau und Entwicklung, Armee und der Kultivierung nationaler Symbole, in der Konfrontation mit Nachbarn, die immer wieder als Feinde auftraten und auftreten. Die Kibbuzim, die wir besuchten, erlebten wir als faszinierende Kommunen einer zukunftsorientierten Entwicklung. Der Krieg, in dessen Folge sich der Staat Israel konstituierte, wurde uns damals freilich einseitig als Helden-Geschichte dargestellt, der Sieg eines David gegen einen Goliath, und die vielen Gedenkstätten dafür machten den Eindruck, als solle eine früher fehlende Nationalgeschichte nachgeholt werden. Als Land der Bibel zeigte sich Israel für mich als jungen Neutestamentler wie ein vielfältiges ›Bilderbuch‹: von Galiläa im Norden bis zur Negev-Wüste im Süden, mit Jerusalem – damals noch von der Grenze nach Jordanien durchzogen – in der Mitte. Dass Jesus als Jude in Galiläa aufgewachsen ist, diesem Landstrich mit seiner überquellenden Natur und dem fischreichen See Genezareth, lässt seine Rede vom gütigen Schöpfergott, seine Gleich-

nisse mit den Bildern von Saat und Ernte, Vögeln und Blumen, Fischfang und Seefahrt, plastisch vor Augen treten. Aber auch die Orte der hebräischen Bibel, die Psalmen, die Prophetie, das Wirken Johannes des Täufers am Jordan, die Wüste als Rückzugsort für Jesu Fasten, die Herrschaften, die Kämpfe, die Zerstörungen und der Wiederaufbau in der Geschichte – alles wurde plastisch. Mit meinen Dias von der Reise haben Susanne und ich immer wieder die Welt und Umwelt der Bibel in Schule und Hochschule lebendig werden lassen. Eine ganz andersartige Reiseerfahrung führte uns nach Leipzig: Das Hamann-Stift Münster pflegte eine Partnerschaft mit dem dortigen Theologischen Seminar, einer der drei kirchlichen Hochschulen in der DDR, in denen Studierende aufgenommen wurden, die wegen ihrer kirchlichen Einstellung nicht zur erweiterten Oberschule zugelassen worden waren, was Voraussetzung eines regulären Hochschulstudiums gewesen wäre. Später dienten sie oft auch als ›Bausoldaten‹ und entgingen damit dem direkten militärischen Dienst. In einer Vorbereitungszeit auf das eigentliche Theologiestudium erhielten sie eine ergänzende Grundausbildung, vor allem in den Sprachen, um dann ein komplettes Studium absolvieren zu können. Unter den Dozierenden in Leipzig waren so renommierte Theologen wie die Systematiker Ulrich Kühn und Werner Krusche, der später Bischof in Magdeburg wurde. Wir führten dort während der Leipziger Messe gemeinsam geheime Seminare durch, zu denen wir auch Dozenten aus Westdeutschland mitbrachten, u. a. Willi Marxsen, der von da an regelmäßig zu Vorträgen in die DDR reiste, und den ebenfalls bekannten Neutestamentler Walter Schmithals. Während der Messe gab sich die DDR weltoffen. Für einen Umtausch von zwölf Westmark in zwölf Ostmark pro Tag erhielten wir eine Aufenthaltserlaubnis für die Messetage. Dazu wurde bei der Einreise das Gepäck nicht genauer kontrolliert. Die westfälische Landeskirche finanzierte uns den Geldumtausch sowie für jeden Einreisenden mehrere Bücher theologischer Fachliteratur, die der Bibliothek des Theologischen Seminars zugutekamen. Unserem Münsteraner Studentenpfarrer Clark Seha, Tillich-Spezialist mit amerikanischem Pass, gaben wir einmal alle Bände des großen Lexikons Religion in Geschichte und Gegenwart mit, die er dann mühsam vom Bahnhof zur Hochschule schleppte. Wir wussten, dass genau gegenüber dem Seminar die Stasi ihr Quartier hatte; aber davon ließen wir uns nicht einschüchtern. Bis spät in die Nachtstunden diskutierten wir über unsere verschiedenen Gesellschaftssysteme und was es heißt, christlichen Glauben in einer säkularen Welt und gegenüber einem aggressiven Atheismus zu leben. Dazu begann im Vorlauf zum Prager Frühling 1968 ein neuer Dialog zwischen Christen und Marxisten, und ein Buch wie Jesus für Atheisten des Prager

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Philosophen Milan Machovec inspirierte uns zum Nachdenken über Konvergenzen zwischen der Jesusbotschaft mit ihren Visionen des Reiches Gottes und kritischer marxistischer Gesellschaftsanalyse. Bei diesen Begegnungen entstanden lebenslange Freundschaften, für uns besonders mit dem damaligen Tutor Michael Petzoldt, der dann Pate unserer ältesten Tochter Henrike wurde, zu deren Taufe er leider noch nicht in den Westen reisen konnte. Im Winter 1966/1967 planten wir unsere Hochzeit und suchten eine kleine Wohnung in Münster, die wir schließlich in der Overbergstraße, nahe den Schwiegereltern, im vierten Stockwerk fanden. Ich arbeitete am dritten Hauptteil meiner Dissertation, in dem ich der Argumentation im zweiten Kapitel des Kolosserbriefes detailliert nachging – in Auswertung dessen, was ich zur Komposition und zur Situation des Schreibens erarbeitet hatte. Wie hier erstmals in der frühen Geschichte des Christentums eine weltanschauliche Auseinandersetzung mit einer ›Philosophie‹ geführt wurde, die das umfassende Heil in Christus in Frage stellte und Ehrfurcht vor den sogenannten ›Weltelementen‹ einforderte, erwies sich als Beispiel eines logisch-argumentativen Dialogs, der den Selbstanspruch der Gegner und ihre dogmatisch-asketischen Praktiken – am Ende direkt ironisch – ad absurdum führte. Als wir am 12. Mai 1967 standesamtlich, am 13. Mai – Pfingstsamstag – kirchlich heirateten, war das Grundmanuskript der Doktorarbeit fertig. Es wurde in den folgenden Monaten durchkorrigiert und um ein Kapitel zur Einordnung des Kolosserbriefes in den Gesamtkorpus der Paulusbriefe erweitert, so dass die Dissertation im Winter 1967/68 eingereicht werden konnte. Bei unserem Hochzeitsfest war eine familia numerosa in Münster versammelt. Vier der noch lebenden sieben Großeltern konnten dabei sein. Mein Vater predigte über das schöne Verheißungswort aus dem Propheten Nahum 1,7: »Der Herr ist gütig und eine Feste zur Zeit der Not und kennt die, die auf ihn trauen.« Wir hatten es als Wort für diesen Tag in den Herrnhuter Losungen gefunden, und unser Vater legte es unter den Leitbegriffen ›Geborgenheit, Liebe, Vertrauen‹ für unseren gemeinsamen Weg in der Ehe aus. Wir sangen das Otto Riethmüller-Lied Herr, wir stehen Hand in Hand, und zum Auszug erklang eine Extrade von meinem Bläserensemble. Auf die Gratulationscour vor der Kirche folgte ein Empfang im Rheinischen Hof, mit Imbiss und ungezwungenem Beisammensein, etwas damals noch ganz Ungewöhnliches. Beim Kaffee am Nachmittag folgte eine Darbietung der anderen, musikalisch, besinnlich, humorvoll. Als für sie Schönstes notierte meine Mutter in ihrem Bericht über den Tag den Rosentor-Walzer, den Susanne und ich tanzten – als Bild für ein inspirierendes MiteinanderBewegen, wie es wirklich unsere 40 gemeinsamen Jahre durchdrungen hat. Susannes besonderes Geschenk für mich hat mich seit diesem Tag durch

das Leben begleitet: ein kleines Jagdhorn (Fürst Pless-Horn) mit Ventilen, auf dem sich Liedmelodien ebenso wie Festmusik besonders klangvoll intonieren lassen. Es ist mein Reisehorn geworden und mit mir in allen fünf Erdteilen gewesen – zum Wecken einer Reisegruppe, bei spirituellen Begegnungen, zur Eröffnung von Konferenzen und für das Zusammenrufen nach Pausen. Für alles hat es sich gleichermaßen als geeignet erwiesen. Susanne war davon ausgegangen, dass wir in Zukunft nur noch mit diesem kleinen Horn reisen müssten. Aber bei der Hochzeitsreise nach Bebenhausen bei Tübingen übte ich mit ihr, das Instrument selbst zu blasen. Und da schließlich alle drei Töchter blasen lernten, waren wir in den 80er-Jahren ein kleiner Familienposaunenchor. Mein Hochzeitsgeschenk für Susanne war auch musikalischer Natur: Ich vertonte für sie drei Gedichte, die wir für unseren gemeinsamen Weg entdeckt hatten: Stefan Georges So ich traurig bin, weiß ich nur ein Ding: Ich denke mich bei dir und singe dir ein Lied …, Josef von Eichendorffs Es schienen so golden die Sterne … und Ina Seidels Gedicht Ehe: »O dass ich dich fand einzig warm und fest, Hand in meiner Hand, Hand, die mich nicht lässt! Meiner Sinne Sinn, meiner Augen Licht, so ich nächtig bin, wandelst du dich nicht.« Worte und Melodie haben uns wie ein warmer Akkord durch die 37 Jahre unserer Ehe begleitet. Unsere kleine Wohnung in der Overbergstraße in Münster – 68 Stufen hoch – wurde bald ein Begegnungsort für viele Menschen. In unserer Dankkarte für die Hochzeitsgeschenke und -glückwünsche hatten wir geschrieben: »… kommt bald zu uns, schaut das Glück euch selbst an: Susanne/Johannes Lähnemann«. Zu den ersten Gästerunden gehörte der internationale Tanzkreis, den Susanne an der Universität leitete. Aktivste Mitglieder wurden Anne Jacquot aus Frankreich und die beiden katholischen Theologiestudenten Guiseppe (Peppino) Frizzi aus Italien und Christoph Cassetti aus der Schweiz. Peppino nahm die bei uns erworbenen Volkstanzkünste mit in seine erste Gemeinde in einem sozialen Brennpunktbezirk in Lissabon in Portugal. Dass er dort mit den Kindern der Gemeinde einen Tanzpreis der Stadt gewann, hat Susanne als einen der größten Erfolge ihrer Arbeit angesehen. Wir selbst hatten in den Sommerferien 1967 ein einzigartiges Tanzerlebnis: Mit meinem Bruder Martin und seiner Verlobten Inge fuhren wir in einem zehn Jahre alten Käfer nach England und Schottland und nahmen eine Woche lang an der Summer School der Royal Scottish Country Dance Society in St. Andrews teil. Dieser edle Tanz und die mitreißende Musik dazu begeisterten uns. Wegen unserer Tanzerfahrungen wurden wir gleich am zweiten Tag von den beginners zu den intermediates geschickt, und noch erfahrenere Mittänzer schleusten uns durch die öffentlichen Tanzabende, bei denen an die 100 Tänzerinnen und Tänzer durch den großen Saal wog-

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ten und schwebten – nach jeweils kurzen mündlichen Angaben der Bewegungsfolge eines Tanzes. Vom Herbst 1967 an leistete ich parallel zu meiner Universitätstätigkeit mein Vikariat in der Erlöserkirchengemeinde Münster ab. Die Landeskirche rechnete mir meine vorherige Mitarbeit in der Studentengemeinde als ein Vikariatsjahr an, und Professor Marxsen erklärte der Kirche gegenüber, ich sei für ihn so unentbehrlich, dass auf den Besuch eines Predigerseminars verzichtet werden sollte. Pastor Heinrich Halverscheid, mein Vikarsvater, und Pastor Richard Hilge, zuständig für die zweite Kirche der Gemeinde, die Epiphaniaskirche, waren beide vorzügliche Prediger und Seelsorger; homiletisch und im Blick auf gute Einzelseelsorge habe ich viel von ihnen gelernt. Im Konfirmandenunterricht wurde ich allerdings ins kalte Wasser geworfen. Pastor Halverscheid gestand: »Ein katechetisches Charisma habe ich leider nicht, Bruder Lähnemann.« Was ich konnte, war: gut erzählen, Klavier und Gitarre spielen. Damit hatte ich meine eine Stunde im katechetischen Seminar bestritten. Aber die Konfirmandinnen und Konfirmanden respektierten den kleinen jungen Mann nicht. In der zweiten Konfirmandenstunde flogen die Papierkugeln um meinen Kopf. Was tun? Ich sprach einen Volksschullehrer an, um bei ihm zu hospitieren, und besuchte pädagogische Seminare. Erstmals las ich Arbeiten von Karl Ernst Nipkow – wie auch später seine Grundfragen der Religionspädagogik und seine bis heute fundamentalen Arbeiten – und ich bin glücklich, ihn in den uns verbindenden geistlichen und pädagogischen Fragestellungen später auch als persönlichen Freund gewonnen zu haben. Gleichwohl: Jede Konfirmandenstunde blieb eine Herausforderung – und nur auf Umwegen hörte ich, dass einige meiner Schäfchen meinen Unterricht doch spannend fanden. Im Winter 1967/68 erwarteten wird unser erstes Kind. Freilich bedrängte uns – und besonders meine Schwiegermutter – die Vorstellung, mit einem Baby immer die 68 Stufen zu unserer Wohnung hinaufsteigen zu müssen. Da ergab es sich, dass in der rechten Hälfte des Doppelhauses, in dem Professor Marxsen wohnte, eine Etage frei wurde – am Mauritzsteinpfad gelegen, mit Balkon, Blick auf die alte Mauritzkirche und einem Spielplatz vor der Tür. Die Schwiegereltern halfen uns bei der Einrichtung, und so kam es, dass die gleichen Möbel-Spediteure, die unser schweres Klavier ins vierte Stockwerk in der Overbergstraße gehievt hatten, es nach wenigen Monaten wieder herunterschleppen mussten. Das Haus im Mauritzsteinpfad – ein Altbau aus den 30er-Jahren – wurde für uns zu einem besonders schönen Heim, zumal wir nach zwei Jahren auch noch die Parterre-Wohnung dazu mieten konnten. Die Gutachter für meine Doktorarbeit – die Professoren Willi Marxsen, Günther Klein und als Auswärtiger Wolfgang Schrage in Bonn – erstellten

ihre Gutachten zügig, und so konnte der 20. April 1968 als Rigorosumsdatum festgelegt werden. Dieses wurde damals noch nicht in Form einer Thesen-Verteidigung gehalten, sondern mit Prüfungen in allen theologischen Disziplinen, mit der Möglichkeit, jeweils Schwerpunkte zu benennen. Dabei hielt sich die Thematik der Auseinandersetzung mit ›Irrlehren‹, religiösen Sondergruppen und Sekten durch, und es ergab sich ein anspruchsvolles, fast kollegiales Debattieren weit jenseits trockener Wissensdemonstration. Da ich bereits vom Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn einen Vertrag für die Veröffentlichung der Dissertation in der neuen wissenschaftlichen Reihe Studien zum Neuen Testament hatte, konnte die offizielle Promotion bereits am 2. Juli 1968 stattfinden, bei der ich die Promotionsvorlesung halten durfte und dann noch damit überrascht wurde, dass mir die Fakultät einen ihrer beiden Jahrespreise verlieh. Dazwischen aber lag die Geburt unserer ersten Tochter. Wir hatten uns gründlich darauf vorbereitet, einen Geburts-Vorbereitungskurs besucht, das Buch über die sanfte Geburt von Leboyer gelesen, und ich durfte bei der Geburt dabei sein. »Es hat dunkle Haare«, war das erste, was uns die Hebamme im Evangelischen Krankenhaus sagen konnte, und dann war nach einer langen, anstrengenden Prozedur am Morgen des 15. Mai 1968 das kleine neue Wesen dar. Ich spüre jetzt noch, wie mich die Erfahrung, was ›Schöpfung‹ sein kann, in diesem Moment überwältigte: ein kleiner, neuer Mensch mit allem, was er braucht, um ins Leben hineinzuwachsen. Wir durften danach noch lange zu dritt zusammen sein, erstmals als kleine Familie. So wie ich selbst der erste Enkel für meine Großeltern war, so erging es auch Henrike. Ja, es lebten damals noch fünf (!) Urgroßeltern – und sie selbst hat Erinnerungen an die Urgroßmutter Lähnemann und die Urgroßeltern Kirchberg, die erst 1977, zwei Jahre nach ihrer diamantenen Hochzeit, starben. Natürlich sind die ersten Wochen und Monate besonders aufregend: die unruhigen Nächte, das Stillen, der besorgt-aufmerksame Blick auf die Entwicklung des Kindes. Aber schon die Anderthalbjährige kennzeichnete der Freund und Theologe Michael Raske als »ein Muster an Ausgewogenheit und Energie«. Als sie am 27. Oktober 1968 von ihrem Großvater in der Moorkirche in Freistatt getauft wurde – mit dem schönen Taufspruch aus Palm 36 »Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben« – hatte ich meine erste vollamtliche Anstellung als wissenschaftlicher Assistent an der evangelisch-theologischen Fakultät erhalten. Unter den Paten waren unsere Freundin Dagmar Smend, Frau des Alttestamentlers Rudolf Smend, meine Schwester Magdalene und Michael Petzoldt aus Leipzig, der damals nicht zur Taufe kommen konnte.

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Kurz zuvor war Helmuth Kittel, der Namensgeber des religionspädagogischen Konzepts der Evangelischen Unterweisung, als 60-Jähriger (!) von Osnabrück nach Münster berufen worden, um dort die Ausbildung der Realschullehrerinnen und -lehrer aufzubauen, die neu an die Fakultät gekommen waren. Was macht man mit Studierenden, die kein Griechisch mitbringen, im Neuen Testament? Da ich in Marxsens Proseminaren bereits Sondersitzungen für Studierende ohne Griechisch angeboten hatte, um an deutschen Übersetzungen elementarisiert wissenschaftlich zu arbeiten, erhielt ich das Angebot, auf einer Assistentenstelle mit Lehrauftrag diesen Kreis der Studierenden systematisch zu betreuen. Seitdem habe ich kontinuierlich an Hochschulen gelehrt (d. h. das SS 2017 ist mein 90. Semester in der Lehre!), eine Aufgabe, die mir stets Herausforderung und Freude gleichermaßen gewesen ist. Es folgte ein Halbjahr, das vielleicht die anstrengendste Zeit in meinem Leben überhaupt war: die ersten eigenständigen Lehrveranstaltungen, das weiter laufende Vikariat, die Vorbereitung auf das zweite theologische Examen – und zu Hause ein Baby im ersten Lebensjahr! Meine Dissertation wurde glücklicherweise als wissenschaftliche Hausarbeit für das Examen anerkannt, und bei Predigt und Katechese profitierte ich deutlich von den inzwischen gesammelten Praxiserfahrungen. Die Klausuren durfte ich extern in meinem Assistentenzimmer schreiben, beaufsichtigt von unserem Pastor Hilge. Er rief für mich im Landeskirchenamt an, ob die Klausuren auch mit Schreibmaschine geschrieben werden könnten – und das wurde genehmigt! Entsprechend ging das Schreiben flüssig, und die Korrektoren mussten sich nicht mit meiner nicht leicht zu lesenden Handschrift abgeben. Beim mündlichen Examen im Landeskirchenamt in Bielefeld wurden wir an einem Tag in nicht weniger als zehn Fächern geprüft – darunter auch Kirchenrecht und ›kirchliches Leben‹ –, und ich habe dabei den Nimbus des frisch Promovierten respektfrei ausgenutzt. Im Neuen Testament gab mir Heinrich Greeven Matthäus 18,12–14 – das Gleichnis vom verlorenen Schaf – als Text, den ich gerade ausführlich im Proseminar behandelt hatte. Als er merkte, dass ich auch seinen eigenen Aufsatz dazu benutzt hatte, sprang er schnell zum Jakobusbrief. In Münster zurück, war Henrike schwer erkältet, und es gab eine Woche lang keine ruhige Nacht. Wohl nie wieder war ich in meinem Leben so erschöpft wie damals! Aber dann erhielten wir so viel Babysitter-Hilfe, dass ich drei Wochen lang mit meinem Vater Ski-Urlaub und Kur in Badgastein machen konnte, und das schenkte mir meine Kräfte zurück. In der Ordinationsfreizeit traf unser damaliger westfälischer Präses, Hans Thimme, auf eine Gruppe junger Theologen, die schon vom Geist des 68erAufbruchs erfasst waren, und wir handelten mit ihm aus, dass wir unsere

Ordinationsformulare modernisieren durften. Mein Ordinationstag war mein 28. Geburtstag – in der Epiphaniaskirche in Münster, in der mich Richard Hilge bei meinen Gottesdiensten vielfältig inspiriert hatte. Auch mein ehemaliger Klassenkamerad Wilfried Knabe, der inzwischen Pater in Maria Laach geworden war und uns zu seiner Priesterweihe eingeladen hatte, nahm teil, und wir zogen ihm, da er seine Soutane nicht mitgebracht hatte, in der Sakristei kurzerhand einen dort hängenden evangelischen Talar an, in dem er dann am Altar ein Votum sprach. In meiner Predigt ging ich auf die damals virulente kritische Hinterfragung althergebrachter Ordnungen ein, zu denen auch die Ordination zählte. Ich fragte: »Wie soll ich meinen Auftrag, hauptamtlich die Worte Jesu weiterzusagen, nachkommen, ohne dass sich Jesus hinter mich stellt? Wie soll ich wagen, meinen Weg als Theologe zu gehen, ohne mir dazu ausdrücklich das Versprechen mitgeben zu lassen, dass er immer schon vor mir angefangen hat? Wie soll ich der Einsamkeit, in der sich mancher Pfarrer auf einmal wiederfindet, begegnen, wenn nicht andere Getaufte neben mich treten? – Um für die Zukunft gestärkt zu werden, in der Gemeinde und an der Hochschule, darum hat diese Stunde, diese Ordination ihren Sinn. Ich trete damit nicht in einen geistlichen Stand, sondern ich bin von allen Geistlichen hier, der ganzen Gemeinde, auf den Weg geschickt – so wie wir auch versuchten, es bei der Ordination durch Beteiligung von Presbytern, Studenten und einem katholischen Freund sichtbar zu machen.«

In der Epiphaniaskirche behielt ich danach einen Predigtauftrag neben meiner Universitätstätigkeit. Dort habe ich auch unsere am 1. Juli 1970 geborene Charlotte getauft – es war die erste Taufe, die ich selbst hielt –, und wir wählten wie bei Henrike als Taufspruch einen Vers aus Psalm 36: »Bei dir, Herr, ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht.« – ein Wort, das seither über ihrem Weg leuchtet. Die Tätigkeit an der Universität in dieser Zeit war in vieler Hinsicht von den damaligen Aufbrüchen geprägt: Hinterfragung der Institutionen, Erprobung neuer Lehrformen, erste ›demokratische‹ Beteiligung in Universitätsgremien. Interdisziplinär arbeitete ich vom Neuen Testament aus mit Günther Böhm zusammen, Oberstudiendirektor, Lehrbeauftragter und späterer Honorarprofessor bei uns, der einen exzellenten didaktischen Grundkurs entwickelt hatte. Mit unseren exegetisch-didaktischen Seminaren gingen wir auch in die Schule, damals ein absolutes Novum, und ich erlebte Böhm als Meisterpädagogen. Frucht unserer Zusammenarbeit war ein Buch über hochschul- und schuldidaktische Arbeit mit dem Philemonbrief des Paulus. In wöchentlichen Gesprächsrunden diskutierten wir über unsere didaktischen Bemühungen wie auch über die Curriculumtheorie – und zwar mit

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Helmuth Kittel, der dafür erstaunlich offen war. Es sollte nicht mehr darum gehen, traditionelle Stoffe einfach auf verschiedene Lernebenen zu verteilen, sondern sorgfältig zu erörtern, warum was wann wie gelernt werden sollte. Wir hörten Herwig Blankertz, einen Hauptvertreter der Curriculumtheorie, und mit in unserer Runde war häufig Hilbert Meyer, einer der lebendigsten pädagogischen Theoretiker und Praktiker, die ich kenne. Ich selbst gab einen ersten Band mit hochschuldidaktischen Projekten in der Theologie heraus. Susanne absolvierte währenddessen ergänzend zu ihrer Ausbildung als Gymnastiklehrerin eine religionspädagogische Ausbildung in Villigst, mit der sie die Befähigung erwarb, Religionsunterricht an Schulen zu geben. In das Gesamtbild passen auch die ökumenischen Aufbrüche dieser Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil: Willi Marxsen und Peter Lengsfeld (als katholischer Ökumeniker) luden ein in eine Sozietät, in der wir exegetische und dogmatische Themen vielperspektivisch erörterten. Paul Hoffmann stellte u. a. seine aufregenden Untersuchungen zur Logienquelle Q, der Redenquelle in den Evangelien, vor. Michael Raske und Gotthard Fuchs, damals Assistenten bei Lengsfeld und Sprecher der jungen deutschen Priestergruppen, wurden Freunde und fanden sich häufig an unserem familiären Mittagstisch ein. Ich war dann auch einer der Ersten, der zusammen mit einem katholischen Kollegen eine ökumenische Trauung hielt, damals noch angegriffen von einem Pfarrbruder, der dies für einen Verrat an der evangelischen Sache hielt. Dabei hatte ich bei der intensiven Vorbereitung mit dem jungen Brautpaar und angesichts der Ernsthaftigkeit, wie sie unter der Zusage des Glaubens ihre Ehe führen wollten, ein Gespür dafür gewonnen, was es bedeutet, dass nach katholischem Verständnis die Ehe ein Sakrament ist, das sich die Eheleute gegenseitig spenden. Eine besondere persönliche, aber auch kulturübergreifende Erfahrung machten wir, als die Hilfsorganisation Terre des Hommes Susanne mit ihren Türkischkenntnissen bat, die Betreuung eines vierjährigen türkischen Mädchens zu übernehmen, für das eine Operation geplant war, die damals nur in der Universitätsklinik Münster durchgeführt werden konnte. Die kleine Aliye war mit nur einem Bein und einer Rückgratverkrümmung von fast 90 Grad geboren und konnte sich entsprechend nur schwer und kriechend bewegen. Ihre Eltern hatten zu Hause alles auf das Beste für das Kind eingerichtet, sie u. a. mit einem Kaninchen zum Bewegen und Spielen angeregt. Als der Vater, Sabri Yilkan, den Vorsitzenden von Terre des Hommes Deutschland, Dr. Kingren, traf, trug er ihm das Anliegen vor, das Kind so operieren zu lassen, dass ihm eine Prothese angepasst werden konnte. Aliye kam nach Deutschland, und die Eltern hatten ihr versprochen: »Dort bekommst du dein Beinchen!« Susanne war regelmäßig bei ihr. Aliye hörte ihr zu, sprach

aber kein Wort, so groß war doch der Umstellungs-Schock. Als die Operation nach langer Vorbereitung anstand, wurde dem Vater ermöglicht, nach Deutschland zu kommen. Er wohnte bei uns, und wir hatten selten einen so vornehm-bescheidenen Gast, der dazu noch wunderbar mit unseren Töchtern spielte. Als es darum ging, der Operation zuzustimmen, bei der nur zu 50 % mit Erfolg gerechnet werden konnte, fragte er nicht nach Details, sondern sprach, als Muslim, uns als Christen an: »Können Sie mir versichern, dass die Ärzte Ehrfurcht vor Gott und dem Leben der Menschen haben? Dann kann ich zustimmen.« Susanne konnte das versichern. Die vierstündige Operation gelang, und danach rief uns jede Stunde eine Schwester aus der Universitätsklinik an, um zu berichten, wie es Aliye ging. Als sie aus der Narkose aufwachte, rief sie: »Susanne!« Von da an sprach sie nur noch Deutsch. Aliye musste vier Monate im Gipsbett liegen, damit sich der Körper an die neue Knochenstellung anpasste. Am Tag, als sie aus dem Gipsbett herauskam, setzte sie sich sofort hin und sagte: »Ich will mein Bein.« Zur Finanzierung der Sonderanfertigung einer verstellbaren Prothese halfen uns Mädchen einer Realschulklasse, die gegen ein Entgelt Familien anboten, im Haushalt zu putzen. Wir erlebten mit, wie in der Rehabilitation mit Aliye das Gehen geübt wurde und wie ihr das bald gelang. Bei unserer Türkeireise 1972 konnten wir sie und ihre Familie in Balikesir besuchen und sie aufrecht gehend bewundern. Bis über ihren Schulabschluss hinaus und während ihrer pharmazeutischen Ausbildung hielten wir Kontakt mit ihr. Eine besondere, in diesen Jahren noch sehr innovative Aufgabe war für mich die Mitarbeit an einem Fernstudium für Mitarbeiter der kirchlichen Erwachsenenbildung mit Zentralsitz in Hannover. Der von uns erarbeitete Studienbrief Jesus von Nazareth/Christologie – ein theologisches Thema in der Erwachsenenbildung füllte – mit Text-, Material- und Bildteil – einen Ordner von 460 Seiten Umfang! Auch er ist ein Dokument des Aufbruchs: Theologie nicht nur für Theologenzirkel, sondern in die Gemeinden hinein, Theologie nicht als Belehrung über Traditionsinhalte, sondern in der Kommunikation und Auseinandersetzung; die Jesusfrage nicht ohne historische Information, aber in existentieller und sozialer Zuspitzung. Theologie im Wind der Kritik, in politischen Kontexten – und doch orientiert am Zentrum christlichen Glaubens. Mit meinen Kollegen Ulrich Becker und Hans-Jürgen Fraas sowie der Pastorin Elisabeth Hoffmann und Robert Mehlhose von der Arbeitsstelle in Hannover trafen wir uns meist in der Mitte der Bundesrepublik in Frankfurt/Main. Alle beteiligten sich am gesamten Entstehungsprozess: Man entwarf, las, reagierte, redigierte, trug Bild- und Medienideen bei, Aufgabenstellungen und Diskussionsanstöße. Natürlich wurde später in den Studienzirkeln, die damit arbeiteten, auch auf eine gründliche Evaluation geachtet.

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Unser geschichtlich-kultureller und geographischer Horizont erweiterte sich in diesen Jahren durch den Historisch-Archäologischen Freundeskreis, den mein Schwiegervater 1968 als Träger-Verein für seine Ausgrabungen in der Türkei gegründet hatte. Bei den Jahrestreffen wurden deutsche Kulturstätten aufgesucht und über neue Ausgrabungsergebnisse berichtet, und es wurden Reisen in die Türkei, aber auch in andere Länder organisiert, bei denen vorab die Kompetenzen der Mitfahrenden abgerufen und ReferatsAufgaben verteilt wurden. So erschloss sich bei den Reisen nicht nur Archäologisches, sondern auch Religiöses, Kulturelles, Kunstgeschichtliches, Geologisches, Biographisches und vieles mehr. Die Reise, die uns 1972 in den Westen der Türkei führte, machte mir mein neutestamentliches wissenschaftliches Arbeiten noch einmal sehr lebendig. Auf mich fiel die Aufgabe, die Sendschreiben an die sieben Städte im Westen Kleinasiens, die in der Apokalypse, der Offenbarung des Johannes, im letzten Buch der Bibel, im zweiten und dritten Kapitel stehen, vorzustellen und zu erklären: Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea. Sie lagen zur Zeit der Abfassung der Offenbarung in der damals blühenden, wirtschaftlich und politisch bedeutsamen Provinz Asia des römischen Reiches, und die kleinen Gemeinden hatten sich während erster Verfolgungen mit den vielfältigen religiösen Kulten, besonders dem Kaiserkult, auseinanderzusetzen. Wir haben alle Städte besucht, und im Theater von Milet trug ich mein Referat zu den ungeheuer bildreichen und zeitaktuellen Sendschreiben vor. Ein besonderes Geschenk machte uns mein Schwiegervater: Er spendierte uns ein Taxi, um den im Tal des Lykos, einem Nebenfluss des Mäander, gelegenen antiken Hügel von Kolossä zu suchen und zu finden, da ich ja über den Kolosserbrief meine Doktorarbeit geschrieben hatte. Der Taxifahrer wunderte sich, warum wir ihn zu diesem verlassenen Ort, an dem noch keine Ausgrabung stattgefunden hatte, leiten wollten. Für uns aber war überraschend, wie wir in dem pappelbestandenen Tal auf dem Weg plötzlich einen Säulenstumpf und ein Kapitell fanden und, nach einer Lichtung, überraschend vor dem antiken Stadthügel standen, aus dem an einzelnen Stellen bearbeitete alte Steinplatten hervorstachen. Wir erstiegen den Hügel und konnten von dort aus über das weite Tal bis hin nach Laodizea und zu den berühmten Kalkterrassen von Hierapolis – beide Städte werden im Kolosserbrief erwähnt – blicken. Auch Hierapolis, das heutige Pammukkale (›Baumwollburg‹) besuchten wir, wo die heißen Quellen schon in der Antike einen Badeort speisten, das Wasser über die Felsen hinabfließt und unten lau ankommt. Die frühen Christen in Laodizea hatten das vor Augen, als ihnen vorgehalten wurde: »Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.« (Offb 3,15–16).

Seit 1970 hatte unsere Familie ein zweites Zuhause in Germignaga am Lago Maggiore: zwei Terrassenwohnungen übereinander an der Ostseite des Sees nahe Luino, mit weitem Blick über den ganzen Nordteil des Sees, die Orte am Ufer, die bewaldeten Höhen bis hin zu den Vorbergen des Gotthard. Den Namen Casa Clara trägt es nach Susannes Großmutter, aus deren Erbe die untere Wohnung erworben werden konnte, während die obere von Sabine Landois – Patentante sowohl von Susanne als auch meiner zweiten Frau Sabine – gekauft wurde. Es wurde der kontinuierlichste Familiensitz angesichts aller Wohnungswechsel in Deutschland, längst unsere seconda patria mit Freundschaften vor Ort, vielen Besuchern und Gästen, später auch Doktorandenkolloquien und Kammermusiktagen. Die mit Nachbarn erworbene Badebucht, später ein kleines Segelboot und die Wanderausflüge, aber auch das Kulturleben in den Städten und Dörfern und die Gottesdienste in der methodistisch-waldensischen Gemeinde in Luino, die in ökumenischer Offenheit oft Gäste aus anderen europäischen Ländern hat, machten die Aufenthalte dort immer zu einem vielfältigen Erlebnis. In Münster kam es zur Wiederbegegnung mit meinem englischen HornFreund Martin Prowse, der als Studienrat für Deutsch und Französisch für drei Jahre an ein Gymnasium in Iserlohn kam, dort seine Frau Isobel kennenlernte und uns oft mit ihr in Münster besuchte. Beide sprechen hervorragend Deutsch, und deshalb war ich zunächst unsicher, als sie mich baten, bei ihrer Trauung in Isobels schottischer Heimat die Predigt zu halten. Ich hatte mein Schul-Englisch zwar weiter gepflegt, aber natürlich keine Erfahrung, vor einem größeren englischsprachigen Publikum eine Ansprache zu halten. Ich sagte trotzdem zu, bereitete zunächst die Auslegung des schönen Textes Kolosser 3,12–17 auf Deutsch vor, übersetzte sie dann, so gut ich konnte, und korrigierte sie mit Hilfe von Susannes altem Englischlehrer. Mehrfach las ich sie laut und fühlte mich dann einigermaßen gerüstet für den Traugottesdienst. Als ich in wohl formulierten Sätzen meine Trauansprache begann, weiteten sich die Augen von Martin und Isobel, weil sie von mir noch nie so viele zusammenhängende englische Ausführungen gehört hatten. Es war für mich ein wichtiger Einstieg, zunehmend unbefangen auf Englisch zu kommunizieren, was sich in meinem späteren interreligiösen Engagement als wertvoll erweisen sollte. Da meine Assistentenstelle in Münster zeitlich befristet war, mussten wir uns für die weitere Lebens- und Berufsplanung neu entscheiden. Ich hätte mir gut den Weg ins Pfarramt mit seinen vielgestaltigen Aufgaben vorstellen können, fand aber auch zunehmend Freude daran, Theologie elementar jungen Menschen nahezubringen, und hatte durchgängig positive Rückmeldungen in meinen Lehrveranstaltungen. So kam es zu mehreren Bewerbungen im

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Hochschulbereich, und 1972/73 war ich erfolgreich mit meiner Vorstellung für die Stelle eines Akademischen Rates an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, Abteilung Lüneburg. Susanne schien der Ort sehr weit nördlich. Aber als uns beim ersten Besuch dort Bartholomeus Vrijdaghs, Assistent im Fach Religion, am Bahnhof abholte und mit uns zum baumbestandenen Bachplatz vor der gotischen St. Michaelskirche fuhr, sagte sie spontan: »Hier kann ich bleiben.« Es sollten besonders intensive und fruchtbare Jahre werden – für die ganze Familie und für meinen weiteren Weg! Susanne erwartete damals unser drittes Kind, eine eigentlich unkomplizierte Schwangerschaft. Als ich am 18. Juni 1973 aus einer Lehrveranstaltung gerufen wurde, weil die Wehen eingesetzt hatten, wurde es eine überaus anstrengende Geburt, die schließlich aber glücklich verlief. Friedrich Georg war ein Kind, das in seiner von Anfang an ausgeglichen-frohen Art seinem Namen alle Ehre machte. Seine Taufe am 4. November 1973 war gleichzeitig unser Abschiedsfest in Münster. In der folgenden Woche stand unser Umzug nach Lüneburg an. Als Taufspruch wählten wir Psalm 27, Vers 1: »Der Herr ist mein Licht und mein Heil. Vor wem sollte ich mich fürchten. Der Herr ist meines Lebens Kraft. Vor wem sollte mir grauen«, ein Vers, der uns noch sehr begleiten sollte.

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 Allround-Theologie in Lüneburg und die Frage nach den Weltreligionen

Das gastfreie Haus im Riesengarten · Theologie gegenüber Ultra-Linken · Gemeinde, Musik, Schulpraxis · Kindestod und Geburt · Die Religionenthematik · Habilitationsschrift und Habilitation · Das Studienbuch Jesus Christus

Mit der Wohnungssuche in Lüneburg hatten wir großes Glück. Wir konnten ein kleines Haus mieten, in einem 2500 qm großen, allerdings auch pflegeintensiven Garten: 17 Apfelbäume standen da, jeweils sieben Birnbäume, Kirschbäume, Zwetschgenbäume, dazu eine am Haus wachsende Aprikose und in der Mitte auf der Wiese eine große Weide, unter deren hängenden Ästen wir eine Schaukel anbringen konnten. Im Herbst duftete der Keller nach den dort gelagerten Äpfeln, und bis weit in die Wintermonate hinein gab es fast täglich ein Gericht mit Äpfeln. Meine Jugenderfahrung mit großen Pfarrgärten kam mir zugute, so dass das Wichtigste auch in begrenzter Zeit geschafft werden konnte. Der Garten wurde besonders in den Sommermonaten ein Anziehungspunkt für Spielgefährten, Freundinnen und Freunde und viele Gäste. Als eines Abends der Vollmond über der Wiese aufging, stellte sich Charlotte unter die Weide und zitierte aus dem Märchen von Frau Holle: »Bäumchen, schüttel dich, Bäumchen, rüttel dich, wirf Gold und Silber über mich!« In der Nachbarschaft war die reformierte Christuskirche, die mit ihrem jungen Pastor Hans-Wilfried Haase unsere kirchliche Heimat wurde. Mit Bartholomeus Vrijdaghs als Assistent verband uns schnell eine tiefe Freundschaft, und das ›Wand-an-Wand-Wohnen‹ der ganz verschiedenen Fächer an der Pädagogischen Hochschule lud zu anregenden Blicken über die Disziplingrenzen hinaus ein. Freilich wehte der Theologie ein scharfer Wind ins Gesicht: Lüneburg war die Experimentierhochschule der Hamburger Ultra-Linken, und noch 1976 war MSB Spartakus die gemäßigtste Gruppierung, die sich in die Studierendenvertretung wählen ließ. Günter Rudolf Schmidt wurde 1974 als Nachfolger von Klaus Wegenast berufen, und mir war klar, dass nicht Anpassung, sondern Profilierung gefragt war. Mit Schulleitern, die z. T. erlebt hatten, dass Studierende mit dem Motto ›Macht

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kaputt, was euch kaputt macht‹ in die Schulen gekommen waren, musste ich um Praktikumsplätze verhandeln. Mir kam dabei zugute, dass ich von Helmuth Kittel herkam. Manche Rektoren hatten nach dem Zweiten Weltkrieg bei ihm als engagiertem Dozenten in Celle gelernt. Wir nahmen gleichzeitig Studierendenpfarrer-Funktionen wahr und bauten eine Arbeitsgemeinschaft für Hochschulgottesdienste auf. Es gab Realschullehrerkurse für Volksschullehrer, die sich weiterbilden wollten – engagierte Praktiker, die mit Wissensdurst an die Hochschule kamen. Bei Intensiv-Studientagen brachten wir Lehrkräfte von den Schulen mit unseren Studierenden zusammen, was das Vertrauen in unsere Ausbildung stärkte. Ich selbst unterrichtete nebenher kontinuierlich Evangelische Religion in der Schule im Brennpunktgebiet Kaltenmoor, zunächst in der Orientierungsstufe, später in der Realschule. Die Orientierungsstufe wurde elfzügig geführt und war durch die ständigen Leistungsüberprüfungen und neuen Kurseinteilungen von entsprechender Unruhe und disziplinarisch oft schwierigen Situationen geprägt, denen aber ein engagiertes Kollegium durch gute Kooperation begegnete. Ich arbeitete alle Unterrichtseinheiten nach dem lerntheoretischen Modell von Paul Heimann, Gunter Otto und Wolfgang Schulz gründlich mit Lernzielformulierungen, Planungsübersichten und Medien aus und beriet anhand ganzer Jahresplanungen Fachkonferenzen. Es war eine Zeit, in der viel Religionsunterricht ausfiel und manches links-ideologisch orientierte Schulkollegium die Abschaffung des Religionsunterrichts an seiner Schule beschloss. Die Konzeptionen eines problemorientierten Religionsunterrichts halfen da sehr, die Relevanz des Faches im gesamtschulischen Kontext neu plausibel zu machen, weil es nicht nur Sinn-, Wert- und ethische Fragen im Lichte religiöser Traditionen bearbeitete, sondern gezielt auch gesellschaftliche Fragen thematisierte. In der Reformierten Gemeinde gestalteten wir Familiengottesdienste. Mit Susannes Theater- und meinen musikalischen Fähigkeiten führten wir Singspiele zu den Festzeiten des Kirchenjahrs auf und realisierten das parallel auch mehrfach in der Schule. Eltern halfen uns bei der Herstellung der Kulissen, der Schauspielerkleidung und oft auch der musikalischen Gestaltung: Die Heilung der zehn Aussätzigen, Der verlorene Sohn, Philippus und der Kämmerer sowie biblische Singspiele des schwäbischen Pfarrers Ulrich Gohl wurden von uns neu inszeniert. Für szenische Dramatik, Tanz und Bewegung brachte besonders Susanne viel Fantasie auf. Privat gründeten wir mit einer Reihe junger Elternpaare einen kleinen Chor, mit dem wir uns monatlich ungezwungen zu gemeinsamem Singen trafen. Im Hochschulorchester und in Kammermusik-Ensembles konnte ich mich mit Horn und Klavier einbringen; regelmäßig spielte ich mit dem Ehepaar Martin und Vera Westphal das Trio für Horn, Geige und Klavier von Johannes Brahms. Einmal wurde ich

sogar vom Theater Lüneburg für die Operette Der Vogelhändler von Carl Zeller engagiert, als ein Hornist des kleinen Orchesters ausfiel: 31 Seiten Noten einzeilig, einschließlich Radetzki-Marsch und An der schönen blauen Donau; es machte mir großen Spaß, spontan dabei zu sein und eine Aufführung vom Orchestergraben aus mitzuerleben. Höhepunkt meiner musikalischen Laufbahn war ein Konzert beim Jahrestreffen des Historisch-Archäologischen Freundeskreises auf der Wasserburg Vischering im Münsterland. Hermann Baumann hatte sich dazu außerhalb seiner Konzertverpflichtungen gewinnen lassen. Wir hatten uns die Kegelstatt-Duos für zwei Hörner von Mozart und das Beethoven-Sextett für zwei Hörner und Streichquartett ausgesucht. Den Quartettpart übernahm unser Freund Martin Westphal mit dem Klavierauszug. Außerdem sollte Hermann mit seiner Hornsammlung einen Vortrag über die Geschichte des Horns und des Blasens halten. Als wir das Programm am Abend zuvor in Kettwig bei Baumanns probten, war dort Meir Rimon zu Gast, Solo-­Hornist des israelischen Philharmonischen Orchesters, der auf dem Rückflug von einer Konzerttournee in den USA in Deutschland zwischengelandet war, um neue Blastechniken mit Hermann auszuprobieren. Um Mitternacht legten wir noch die Reicha-Trios für drei Hörner auf. Dann kamen wir auf die Idee, dass Meir am nächsten Tag im Publikum sitzen und auf die Aufforderung, dass doch jemand einmal versuchen solle, auf dem Horn einen Ton zu erzeugen, sich zu dem ›Experiment‹ bereit erklären sollte. Als nach der Instrumenten-Demonstration von alten Signalinstrumenten über die Inventionshörner der Mozartzeit bis hin zum modernen Doppelhorn die Frage dann gestellt wurde, kam Meir Rimon tatsächlich nach vorn und mimte den gelehrigen Anfänger. Als es ihm nach einigen halbwegs klangvollen Tönen ›gelang‹, eine halbe Tonleiter hervorzubringen, schlug Hermann vor, miteinander ein Trio zu probieren, bei dem das dritte Horn meist das erste Ventil benutzen sollte. Nach einer ruhigen Adagio-Einleitung folgte ein meisterhaft gespieltes Allegro. Die Überraschung war vollkommen gelungen, und nach der Pause wurde das Inkognito gelüftet. Sportlich begeisterten mich von Lüneburg aus die Segelfreizeiten, die mit der Jugend der reformierten Kirche in Holland auf den ›Friesen Meeren‹ bei Sneek durchgeführt wurden und bei denen ich als Skipper eine kleine Crew leiten konnte. Die weite westfriesische Landschaft, die Seen und die Kanäle, auf denen man jeden Tag einen anderen Törn unternehmen und die kleinen Städte an den Ufern ansteuern konnte, dazu die Gemeinschaft der jungen Leute haben sich unvergesslich eingeprägt. Die Gemeinde – und ebenso der weite Familien- und Freundeskreis – stützte und tröstete uns, als unser kleiner Friedrich Georg mit 13 Monaten

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plötzlich an dem ja noch immer schwer erklärbaren Kindstod starb. Es sind bei solchem Erleben Sekunden, Minuten, Stunden, die sich unauslöschlich dem Bewusstsein eingraben. Es war am 18. Juli 1974, als Susanne sich aus Loheland in der Rhön meldete, wo sie im Gymnastikseminar, in dem sie ausgebildet worden war, einen Ferienkurs mitmachte und unsere drei Kinder mit dabei haben konnte. Ihr Telefonat habe ich immer noch im Ohr, und ich konnte nur sagen: »Ich komme sofort.« Auf der Fahrt dorthin hatte ich unseren Freund und Pastor Hans-Wilfried Haase als Begleiter. Was der Dichter Hanns Köbler mit seinem Lied Ich möcht’, dass einer mit mir geht, der auch im Schweren zu mir steht meint, habe ich da unmittelbar erfahren. Friedrich war ein ausgesprochen ›lichtvolles‹ Kind gewesen, das in seiner hellen Ausstrahlung alle, die in seine Gegenwart kamen, beglückte. Es waren die uns nahe stehenden Menschen, die den Schmerz mit uns teilten, aber auch der Schatz der Paul-Gerhardt-Lieder, die uns mit ihren starken Trostbildern halfen. Mein Vater hielt die Traueransprache, und Friedrichs Taufspruch klang für uns noch einmal neu: »Der Herr ist mein Licht und mein Heil. Vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft. Vor wem sollte mir grauen?« Die Erfahrung der 13 glücklichen Monate mit diesem Kind lehrte uns, uns an dieser Zeit auch danach immer wieder innerlich auszurichten und – so gut wir nur konnten – Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. In einem Album haben wir nicht nur die Bilder von ihm, sondern auch die Trostworte gesammelt, die unsere Verwandten und unsere Freundinnen und Freunde uns geschickt haben. Manche Gäste, die selbst aus einer Traurigkeit zu uns kamen, haben sich daran aufgerichtet. 1976 wurde uns unsere Tochter Luise geschenkt. Ich konnte wieder dabei sein, und meine Schwiegermutter sagte, sie habe nie ein solches Strahlen auf meinem Gesicht gesehen wie an diesem Tag. Henrike und Charlotte durften damals nicht zu einem Besuch mit in die Klinik kommen. Ich lud sie zum Trost auf den Lüneburger Sport-Flugplatz ein, wo man einen Mitflug mit einer kleinen Cessna buchen konnte, die Fallschirmspringer bis zur Absprunghöhe transportierte. Wir stiegen hoch über der Lüneburger Altstadt auf, und in etwa 1.300 m Höhe sagte der Fallschirmspringer: »Tschüss, ihr Kinder, unten sehen wir uns wieder« und sprang aus der Luke. Schöner war dann doch noch der kleine Triumphzug, als wir die Mutter und das Baby aus der Klinik abholen konnten. Zum Empfangskommittee gehörte auch Florian Fehrenbach, den Susanne 1975 quasi als Tagesmutter vormittags übernommen hatte, während seine Mutter am Johanneum, dem nahen Gymnasium, unterrichtete. In der Lüneburger Zeit begann für mich auch inhaltlich das Kapitel, das dann das Hauptthema meines Wirkens wurde: die Weltreligionenthematik. Studierende hatten schon in Münster begonnen, mich zu fragen: »Wie kön-

nen wir unseren christlichen Glauben vertreten angesichts der Herausforderung durch die Weltreligionen?« Gastarbeiter, Reisen in alle Welt, Medien hatten sie für diese Frage sensibilisiert. Nicht christliche Religionen im Unterricht mit Schwerpunkt Islam war der Versuch eines ersten Seminars an der Hochschule, verbunden mit einem Besuch im (schiitischen) Islamischen Zentrum in Hamburg. Es war eine Erstbegegnung, nicht nur für die Studierenden, sondern auch für mich. Der ästhetische Glanz der Moschee an der Alster beeindruckte uns ebenso wie das Gespräch mit Imam Mehdi Razvi, hoch gebildeter islamischer Lehrer mit pakistanischem Hintergrund, dessen weisheitliches Denken mich bis heute begleitet. Aus dem Seminar erwuchs ein erster Aufsatz: Jesus und Mohammed, Christoph und Ali. Zur Problematik des Fremdreligionen­ unterrichts am Beispiel des Islam1. Typisch war dabei der Begriff ›Fremdreligionen‹, zu denen auch der Islam als etwas eigentlich Fremdes, Fernes gerechnet wurde, obwohl die Wahl eines christlichen und eines islamischen Namens im Titel schon andeutet, dass es auch um die Herausforderung einer direkten Begegnung angesichts der nach Deutschland eingewanderten muslimischen Gastarbeiterfamilien ging. Dann erreichte mich im Sommer 1974 die Anfrage, ob ich im Wintersemester 1974/75 den Lehrstuhl von Peter C. Bloth an der Kirchlichen Hochschule Berlin während dessen Forschungssemester vertreten könne. Da ich gleichzeitig mein volles Deputat in Lüneburg erfüllen musste, blieb mir nur, schnell eine Vorlesung zum gleichen Thema vorzubereiten. Ich arbeitete mich tiefer in die Thematik ein, vor allem mit Hilfe von Rudi Parets Buch Mohammed und der Koran, tippte Tag für Tag Seite um Seite und hatte in Berlin eine kleine, aber sehr interessierte und engagierte Hörerschaft. Eine Studentin nahm mich mit in ihre Wohngemeinschaft in Kreuzberg und lud die muslimischen Nachbarn dazu ein. Für diese war es erstaunlich, dass sich ein deutscher Dozent für ihre Religion interessierte. Aus dem Vorlesungsmanuskript wuchs meine Habilitationsschrift. Es gab die ersten Kontakte mit Udo und Monika Tworuschka, die sich aus religionswissenschaftlich-religionspädagogischer Perspektive schon ausführlicher der Thematik gewidmet hatten, ähnlich auch mit Peter Antes an der Universität Hannover. Für die Habilitation lag der Theologische Fachbereich an der Universität Hamburg nahe. Doch gab es damals dort keinen Religionspädagogen, der das Verfahren hätte begleiten können. So wandte ich mich an Klaus Wegenast in Bern. Nach der dortigen Habilitationsordnung hätte eigentlich nur bei Eigenbedarf habilitiert werden können. Da kamen wir auf die Lösung, in Hamburg anzufragen, ob nach vollzogener Habilitation in Bern eine Umhabilitation dorthin möglich wäre. Das wurde aus Hamburg bejaht, 1 Ev. Erzieher 6/1974, S. 409–424.

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und Klaus Wegenast gelang es, seine Fakultät – u. a. mit dem Religionswissenschaftler E. Zbinden – für die Arbeit zu interessieren. Ihre Leitfragen waren: 1. Wo sehen wir uns gegenwärtig von nichtchristlichen Religionen herausgefordert? Wo zeigen sich Ansätze, wo Grenzen des Verstehens und der Gemeinschaft mit ihnen? 2. Wohin führt uns die Auseinandersetzung mit dem Islam als der ›Nachbarreligion‹ des Christentums, wenn man ihn von seinen Wurzeln her in seinen Hauptanliegen verstehen will? 3. Was ergibt sich als ›didaktische Bilanz‹ für das Themengebiet ›Nichtchristliche Religionen‹ im christlichen Religionsunterricht? Für eine zusammenhängende Arbeit an diesen Fragen gab es – trotz der ersten vorliegenden Themenbände von Helmut Angermeyer, Herbert Schultze/ Werner Trutwin, Dietrich Zilleßen/Udo Tworuschka – noch keine Vorbilder. Zu den Hauptteilen der Arbeit gehörte die Reflexion der aktuellen Begegnung der Religionen, eine umfangreiche Grundeinführung in den Islam, das theologische Nachdenken darüber – mit einem theologischen Vergleichskapitel: Gottesbild und Ethik bei Jesus und Mohammed – und die Entwicklung eines Teil-Curriculums zu den Religionen für den Religionsunterricht in den verschiedenen Altersstufen, schon unter Einbeziehung der fernöstlichen Religionen. Dazu kamen ein Exkurs über den Konfirmandenunterricht und schließlich ein Planungsbeispiel für einen Unterrichtsentwurf: Islam in der Orientierungsstufe. So sollte christlichen Lehrerinnen und Lehrern, Pfarrerinnen und Pfarrern eine Tür geöffnet werden zu einem Inhalt, für den sie in ihrer Ausbildung kaum einmal eine Anregung bekommen hatten. Für mich persönlich bedeutete der erfolgreiche Abschluss der Habilitation in Bern, dass ich gemäß der vorherigen Absprache durch Umhabilitation Privatdozent in Hamburg wurde. Da im dortigen Fachbereich Theologie ein auf schulischen Unterricht ausgerichteter Religionspädagoge fehlte, war ich mit meiner Qualifikation willkommen. Vier Semester lang bin ich neben meiner Lehrtätigkeit in Lüneburg zu Seminaren in Hamburg gefahren. Parallel erarbeitete ich zusammen mit der Lüneburger Gymnasiallehrerin Ursula Hahlbohm das Studienbuch Jesus Christus auf der Basis der Studienbriefe aus dem Erweiterungsstudium für die kirchliche Erwachsenenbildung. Es erschien im Diesterweg-Verlag und wurde zu einem theologischen Orientierungswerk, das zur wissenschaftlichen und existentiellen Begegnung mit der Basis des christlichen Glaubens im Kontext des aktuellen Pluralismus hinführte, ein Arbeitsbuch für die gymnasiale Oberstufe und die Eingangsstufe eines religionsbezogenen Studiums. In drei Auflagen fand es eine breite Rezeption.

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 Die Weltreligionen als Schwerpunktthema in Theorie und Praxis

Curriculumarbeit zu islamischer Religionspädagogik in Nordrhein-Westfalen · IslamArbeitsgruppe der Evangelischen Kirche · Indienreise – die östliche Religionswelt · Der Ruf nach Nürnberg

Als 1977 meine Habilitationsschrift unter dem Titel Nichtchristliche Religionen im Unterricht. Beiträge zu einer theologischen Didaktik der Weltreligionen. Schwerpunkt: Islam im Gütersloher Verlagshaus erschien, war eine neue Situation entstanden: Der Islam war zur drittgrößten Religionsgemeinschaft in Westdeutschland und Westberlin geworden. Dass das Zusammenleben mit einer größeren ›Gastarbeiter‹-Bevölkerung nicht nur ein sprachliches und soziales Problem bedeutete, sondern auch eine religiös-kulturelle Herausforderung, wurde damals noch kaum begriffen; man ging ja von einer Rückkehr der Gastarbeiter in näherer Zukunft aus. Auch in der Ausländerpädagogik, den Studiengängen Deutsch als Fremdsprache und der beginnenden interkulturellen Pädagogik wurde die religiöse Dimension weitgehend ausgeblendet, wohl auch, weil deren Promotoren überwiegend nicht religiös geprägt waren. Immerhin wurde ich schnell in zwei Arbeitsbereichen engagiert, die sich in Pädagogik und Gesellschaft dem Zusammenleben mit Muslimen widmeten: Die Evangelische Kirche in Deutschland hatte im Rahmen ihrer Ausländerkommission eine Arbeitsgruppe Islam eingerichtet, geleitet von Michael Mildenberger. In ihr erarbeiteten wir erste praktische Hilfen für die Gemeinden: zu Grundlagen im Islam und dazu, wo Anknüpfungspunkte für Begegnungen und Gespräche möglich wären, zu Festen im Islam (zweisprachig Türkisch – Deutsch), zu Ehen mit Muslimen. Die Broschüre Zusammenleben mit Muslimen erreichte eine Auflage von 240.000 Exemplaren; mit ihr wurde u. a. die ganze Westberliner Polizei ausgerüstet. Sie erzählte am Beispiel einer aus der Türkei stammenden Familie, was diese als GlaubensErbe aus ihrer Heimat mitgebracht hatte. Bereits 1979 wurden Udo Tworuschka und ich vom nordrhein-westfälischen Kultusminister als Berater in die erste Richtlinienkommission für Religiöse Unterweisung für Schüler islamischen Glaubens berufen, zusammen

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mit Tilman Nagel als Islamwissenschaftler. Es folgten zehn Jahre konkrete Zusammenarbeit mit islamischen Lehrerinnen und Lehrern, die im muttersprachlichen Unterricht eingesetzt waren und in dessen Rahmen islamkundlichen Unterricht erteilten, und zwar am Landesinstitut für Schule und Weiterbildung unter der kompetenten Leitung von Klaus Gebauer. Wir erstellten einen ausführlichen Curriculumentwurf in Türkisch und Deutsch – mit Lernzielen, didaktischen Begründungen, Vorschlägen für den Aufbau einzelner Unterrichtseinheiten und Medienhinweisen. Erlebte und erfahrene Umwelt der Schülerinnen und Schüler und religiöse Grundlagen wurden systematisch aufeinander bezogen und im Sinne eines Spiralcurriculums – von Jahrgangsstufe zu Jahrgangsstufe aufbauend – ausgestaltet. Es war ein intensiver wechselseitiger Lernprozess im Dialog: Wie spricht man mit Kindern in einer säkular-pluralistischen Umwelt von Gott, vom Gebet, von Engeln und ethischen Verpflichtungen? Dass etwa im Islam die Orthopraxie, das religiöse Leben auf der Basis der Grundpflichten (der fünf Säulen) einen viel höheren Stellenwert hat als im christlichen, besonders im evangelischen Bereich, musste sich auch in der Gestaltung des Lehrplans niederschlagen. 800 islamische Lehrkräfte erhielten Weiterbildungskurse, um den Unterricht zu erteilen. Aus der Türkei wurden Kerim Yavuz und Beyza Bilgin, die damals schon ein problemorientiertes Unterrichtskonzept vertrat, als führende Religionspädagogen ihres Landes zu Beratungen eingeladen. Die Ergebnisse – einschließlich erster Entwürfe für Schulbücher – wurden an der Islamisch-Theologischen Fakultät in Ankara, aber auch an der Al AzharUniversität in Kairo vorgestellt und erhielten jeweils viel Zustimmung. Bei meinem Einsatz für das Fach erhielt ich anfangs nicht nur Zustimmung, sondern auch Gegnerschaft aus christlich-religionspädago­gischen Kreisen: Wie könne ich es verantworten, mich auf diesem Wege für eine ›aggressive Religion‹ einzusetzen? Ein Umdenken setzte allmählich ein: Dass für ein gedeihliches Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft auch der Islam den Raum erhalten muss, sich im Rahmen unseres Bildungssystems zu artikulieren, dass ein Religionsunterricht auf der Basis des Grundgesetzes beitragen kann zur Vorbeugung gegen Radikalisierungen und das Entstehen einer Parallelgesellschaft, dass für die Zukunft eines konfessionsbezogenen christlichen Religionsunterrichts auch die Nachbarschaft eines islamischen und eines jüdischen Religionsunterrichts wichtig ist, setzte sich als Erkenntnis durch. Besonders deutlich wird das in der Denkschrift der Evangelischen Kirche zum Religionsunterricht Identität und Verständigung von 1994, die die prägende Handschrift von Karl Ernst Nipkow als dem großen religionspädagogischen Vordenker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trägt. In ihr ist von einer Fächergruppe Religion/Ethik die Rede. Die Fächer sollten

danach ihr je eigenes Gepräge haben, aber nicht isoliert voneinander existieren, sondern in Ergänzung, Austausch und Kooperation aufeinander bezogen sein. Dass es bis zum Anfang des neuen Jahrtausends gebraucht hat, bis an Konzepten eines konfessionellen islamischen Religionsunterrichts in Deutschland konsequent gearbeitet wurde – Vorreiter waren die Länder Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen –, hat besonders mit der Problemfrage zu tun, wer auf islamischer Seite die Religion repräsentativ vertreten kann. In den islamischen Verbänden – voran DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion), Zentralrat der Muslime, Islamrat, Verband islamischer Kulturzentren – ist nur ein kleiner Teil der muslimischen Bevölkerung mitgliedschaftlich organisiert. Es gibt Konkurrenzen, türkischerseits einen langen Kampf darum, dass Türkisch die Unterrichtssprache sein sollte – und natürlich das Fehlen einer Ausbildung der Religionslehrkräfte in Deutschland. Gleichwohl ist die Curriculumarbeit in Nordrhein-Westfalen eine Pionierleistung gewesen, auf die später immer wieder zurückgegriffen wurde, weil an ihr gezeigt werden konnte, wie islamisch geprägte Bildung im deutschen Schulsystem ihren Ort finden kann. Die Arbeit an einer Didaktik der Weltreligionen sollte für mich ihre Fortsetzung finden in der Begegnung mit den im fernen Osten beheimateten Religionen des Hinduismus und Buddhismus, die aber durch größere Minderheitengruppen in Großbritannien und durch die Ausstrahlung, die etwa Yoga und Zen auf Lebensformen im Westen ausüben, auch in Europa zunehmend an Bedeutung gewannen. Nach einer ersten Einarbeitung in die Thematik bot sich 1980 die Gelegenheit, mit meinem religionspädagogischen Kollegen Hans Grothaus, Vorsitzender des Kuratoriums der in Indien wirkenden Gossner-Mission, sowie weiteren Flensburger Kollegen und Studierenden eine längere Reise nach Indien mitzumachen. Es war ein Abenteuer, in diese fremdartige und gleichzeitig faszinierende Welt einzutauchen. Jeden Tag schrieb ich einen längeren Brief an meine Töchter, um sie an den Erlebnissen und allem Staunenswerten teilhaben zu lassen. Als wir in Benares im Morgenlicht eine Bootsfahrt auf dem Ganges gemacht hatten, das rituelle Bad der Pilger gesehen, den Klang der Tempelglocken gehört, den süßlichen Rauch der Scheiterhaufen gerochen, den Rhythmus des Lebens und Sterbens am heiligen Wasser wahrgenommen hatten, fragte mich der katholische Inder, der uns führte, mit welchen Zielen wir nach Indien gekommen seien. Ich zählte unsere ›Lernziele‹ auf: Kennenlernen des Hinduismus, Begegnung mit Christen in Indien, Besichtigung von Entwicklungsprojekten. Er zog die Augenbrauen hoch: »Haben Sie vor, mit einem Becher einen Ozean auszutrinken?« Das Bild vom Becher und vom Ozean begleitete mich künftig auf den Wegen des Erkundens und des Staunens über die Vielfalt und Unend-

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lichkeit der östlichen Religiosität, wobei ich manchmal denke, dass auch der Becher wenigstens einen Geschmack vom Ozean geben kann. Kennzeichnend war das Gespräch mit einem Swami, einem spirituellen Führer, in der bildungsmäßig und sozial sehr aktiven Ramakrishna-Mission in Kalkutta. Er zeigte uns den Meditationsraum, in dem sich nur eine Meditationsplastik in Form einer Lotosblume befand. Götterbilder bräuchten sie nicht. Wir fragten, wie das in Einklang zu bringen wäre mit dem Durga-­ Puja-Fest, wo draußen in tausenden Straßen vor Zelten mit aus Lehm gestalteten und bunt bekleideten Götterfiguren tanzend und lärmend gefeiert wurde, die Götterbilder ›gefüttert‹ und am Ende dem Ganges übergeben wurden. Er lächelte und sagte: »Es muss verschiedene Formen von Religion für verschiedene Sorten von Menschen geben. Die Leute draußen zeigen mit ihrem Feiern die Hingabe und Verehrung dem Göttlichen gegenüber auf die ihnen gemäße Weise.« Mir wurde klar, dass am Anfang der Begegnung mit dieser ungeheuer vielgestaltigen Religiosität das Staunen stehen sollte – vor jedem Kategorisieren und Urteilen. In den später entwickelten Unterrichtsentwürfen haben meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ich versucht, dem durch eine vielperspektivische Zugangsweise gerecht zu werden: etwas von den Grundanschauungen dieser anderen Religionswelt zu entfalten – mit Samsara (dem Kreislauf der Welten und Wiedergeburten), Kharma (dem Gesetz von Ursache und Wirkung), Moksha (dem Freiwerden aus dem Kreislauf der Wiedergeburten als höchstem Heilsziel) bzw. etwas abgewandelt Nirvana im Buddhismus –, aber auch dem Frömmigkeitsleben, der Symbolik, der sozialen Vielfalt einschließlich des Kastenwesens in verschiedenen Interpretationen, den politischen Dimensionen dieser größten Demokratie der Welt und schließlich auch dem Verhältnis zu den anderen Religionen (und der Rolle des Christentums in Indien). Spätere Reisen und Begegnungen – mit Vertretern der Gandhi-Bewegung (u. a. A. T. Ariyaratne, Buddhist und hoch geachtet als ›Gandhi von Sri Lanka‹) und des Engaged Buddhism (oder ›Buddhismus mit kleinem b‹: Sulak Sivaraksa in Thailand) und bei Dialogen in Japan und Korea – haben die Erfahrungen dieser ersten Reise vertieft. Im ›Westen‹ sind die Einflüsse der östlichen Religionen wie in Wellenbewegungen zu beobachten gewesen: Neben Zen in katholischen Klöstern, den verschiedensten Formen von Yoga und der Transzendentalen Meditation des Maharishi Mahesh Yogi, die eine vergleichbar stabile Kontinuität aufweisen, hat es Gruppen gegeben, die zeitweise einen großen Zulauf erfuhren – wie die Neo-Sannyas-Bewegung des Bhagwan-Shree-Rajneesh oder die von Sri Chinmoy gegründete Gruppierung mit ihren Friedensläufen –, dann aber wieder sehr in den Hintergrund traten. In den 80er-Jahren spielten die

sogenannten ›Jugendreligionen‹ – besonders die Hare-Krishna-Bewegung – eine so große Rolle, dass ihre Behandlung sogar in Lehrplänen und Schulbüchern ihren Niederschlag fand, in einer Zeit, in der die Weltreligionen sonst erst ganz am Rande vorkamen. In der Hare Krishna-Bewegung hat es später einen direkten Reform-Prozess gegeben, in dem man sich deutlich von früheren Abschottungen, mit der Entfremdung junger Menschen von ihren Familien, abgewandt hat. Die Entwicklungen sind vor allem von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) mit ihrem Materialdienst und ihren Veröffentlichungen differenziert begleitet worden. Mit diesen Ausblicken habe ich mich schon weit bis ins Ende des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus bewegt. Zunächst stand 1980/81 jedoch ein großer Wechsel für mich an. Nach Abschluss der Habilitation hatte ich mich mehrfach an verschiedenen Hochschulen beworben. Ich erreichte erste Listenplätze für Professuren, und 1980 ergab sich die seltene Konstellation, dass ich parallel auf vier Listen für Lehrstühle auf dem ersten Platz stand, drei davon in Bayern (Würzburg, Bayreuth und Nürnberg), die fast parallel ausgeschrieben worden waren. Am Abend vor der Vorstellung in Nürnberg erfuhr ich, dass der Senat der Universität Würzburg meiner Erstplatzierung zugestimmt hatte. Entsprechend gelassen fuhr ich nach Nürnberg, stellte mich dort mit dem Thema Jesus für Atheisten. Milan Machovec und die Christen – mit Thesen zur Religionspädagogik vor und konnte die Kollegen von der Berufungskommission in eine intensive Diskussion hineinziehen. Als die Entscheidungen der Universitäten gefallen waren, schrieb mir Karlman Beyschlag, damaliger Dekan der Theologischen Fakultät in Erlangen, die maßgeblich an den Berufungen beteiligt war, einen langen Brief, in dem er lebhaft für den Lehrstuhl in Nürnberg warb, der mit einer Zweitmitgliedschaft in der Theologischen Fakultät verbunden war. Ich wurde ins Ministerium nach München eingeladen und durfte zusammen mit Susanne alle drei Universitäten besuchen, um mich dann zu entscheiden, wohin ich den Ruf haben wolle. In Nürnberg nahm sich die Dekanatssekretärin Else Wittschus – trotz Semesterferien – ausführlich Zeit, uns alles zu zeigen, und dann brauchte ich nicht lange, um mich für diesen Standort zu entscheiden: Religionspädagogik in der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg, fachlich unterstützt von der Theologischen Fakultät in Erlangen, im Gegenzug dazu religionspädagogische Lehrveranstaltungen meinerseits in Erlangen. Der Ruf von Kultusminister Hans Maier erreichte mich per Fax in Serampore bei Kalkutta während meiner Indienreise, eine unvergessene Situation in tropischer Hitze während unseres Aufenthaltes im dortigen Theologischen Seminar.

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 Der Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg und die Nürnberger Foren zur Religions- und Kulturbegegnung

Die vielseitige Aufgabenstellung in Nürnberg · Wohnen im Stadtteil Zerzabelshof · Die Auferstehungskirchengemeinde · Das erste internationale Symposium

Bei meiner Berufung nach Nürnberg hat es sicher eine Rolle gespielt, dass ich in einer klassischen theologischen Disziplin, dem Neuen Testament, promoviert, aber religionspädagogisch habilitiert war, zudem schon längere Erfahrung in der Ausbildung von Religionslehrerinnen und -lehrern und in der Unterrichtspraxis mitbrachte. Dazu weckte der Schwerpunkt ›Weltreligionendidaktik‹ zusätzliches Interesse. Oft habe ich hervorgehoben, dass die Aufgabe in Nürnberg für mich ein Idealfall war: Lehrangebote über Religionsfragen im erziehungswissenschaftlichen Studium, für Fachstudierende neben der Religionspädagogik Angebote im Neuen Testament und in der Religionswissenschaft, dazu religionspädagogische Seminare für künftige Pfarrerinnen und Pfarrer und Gymnasiallehrende an der Theologischen Fakultät in Erlangen. Ich empfand es als Privileg, junge Menschen auf ihrem Weg in einen verantwortungsvollen Beruf hinein begleiten und anregen zu können und mit ihnen theoretisch wie praktisch zusammenzuarbeiten: in den Anfängerseminaren, in neutestamentlichen Proseminaren und Vorlesungen, in den semesterbegleitenden Praktika, in denen ich mich in jedem Wintersemester auch an den Unterrichtsversuchen selbst beteiligte, in den Lehrveranstaltungen zu den Weltreligionen, religionspädagogischen Vorlesungen und Seminaren bis hin zu den Examenskolloquia. Die hochschuldidaktische Bemühung um qualitätvolle, lebendige Lehrund Lernformen war mir ein besonderes Anliegen. Vorlesungen hielt ich gern, nicht in der traditionellen Art der reinen Wissensvermittlung, sondern mit einem durchsichtigen, variablen Plan, Informationseingabe, oft durch Thesen- oder Arbeitspapiere unterstützt, gekoppelt mit Diskussionsrunden zum Vorgetragenen. Bei der Überblicksvorlesung zum Neuen Testament ging ich

von der Arbeit an einzelnen Texten aus – vorbereitet von den Studierenden anhand von Leitfragen –, von denen sich Linien in das jeweilige Bibelbuch hinein ausziehen ließen. Es gab nicht nur Übersichten zu den Evangelien und den Briefen, sondern ich setzte gern auch Dias von meinen Reisen und aus der Archäologie ein. In die Vorlesungen zum Islam lud ich einen Imam ein, der die Koranrezitation erläutern und vortragen konnte, zum Hinduismus reiste mehrfach Saraswati Albano-Müller aus Schwelm an, deren Vater noch ein Schüler und Freund Mahatma Gandhis gewesen war. Sie brachte ihren Hausaltar mit und konnte faszinierend sowohl die spirituelle Symbolik indischer Götterverehrung wie auch das Ethos Gandhis erläutern. Nach Gründung der Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden gehörten selbstverständlich die Besuche bei den Orten der Andacht – Synagoge, Moschee, Hindu-Tempel, Buddhistisches Zentrum – dazu. Die religionspädagogischen Seminare enthielten immer praktische Elemente des Mitgestaltens; hier wie in den Praktika mussten die Studierenden die Hürde freien Erzählens nehmen und erlebten dann das faszinierte Zuhören der anderen. Aus der Erfahrung, wie hilfreich Singen mit Gitarrenbegleitung zur Sammlung und Belebung im Religionsunterricht sein kann, regte ich mehrfach Studierende mit Gitarrenerfahrung an, am Tag des Seminars jeweils eine halbe Stunde mit interessierten Kommilitoninnen und Kommilitonen Gitarrengriffe und Lieder einzuüben. Als besonders effektiv erwiesen sich die Examenskolloquia. Exemplarische Examensthemen wurden von Einzelnen oder einem kleinen Team vorbereitet und dann die Situation der mündlichen Prüfung simuliert: Wie höre ich eine Prüfungsfrage, wie achte ich auf ihre Zielrichtung, wie reagiere ich? Ein besonderes Training galt den Essay-Klausuren, um der Gefahr zu entgehen, anhand einer Assoziation zum gestellten Thema ein auswendig gelerntes Referat herunterschrieben, statt auf die genaue Fragestellung zu achten. Besonders freute es mich, wenn Prüflinge so weit kamen, die Prüfungsvorbereitungszeit als Erntezeit eines ausgefüllten Studiums zu begreifen; sie wussten aber auch, dass sie mich notfalls einmal um Mitternacht anrufen durften, wenn sie sich in Sorgen verrannt hatten. Mit der Modularisierung des Studiums hat sich manches verändert: Die Vervielfachung der Einzelprüfungen hat das Abschlussexamen entlastet, aber einer längerfristigen Gesamtsicht größerer Zusammenhänge ist diese Veränderung nicht zuträglich. An einen besonderen Brauch werden sich viele meiner Studierenden erinnern: Weil ich bei mir selbst merkte, wie ich auch bei spannenden Vorträgen nach 45–50 Minuten unweigerlich müde wurde, unterbrach ich die üblichen 90-Minuten-Vorlesungen nach der Hälfte, ließ, sofern es andere nicht störte, die Fenster öffnen, und sang mit allen, die mitsingen mochten, einen Kanon: Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang, Herr, gib uns dei-

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nen Frieden, mache dich auf und werde licht … – Zu meiner Abschiedsvorlesung 2007 bekam ich eine Urkunde in Sternform mit vielen Unterschriften und einem Dank für diese unkonventionelle Vorlesungsgestaltung. Lang andauernde Freundschaften und Beziehungen sind in der Lehrtätigkeit erwachsen; es gab immer wieder Gelegenheiten, bei denen ich auch seelsorgerlich gefragt war. Wichtig war mir die genaue Lehrstuhlbezeichnung: Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts. Der Oberbegriff ›Religionspädagogik‹ bezieht sich auf den breiten Gesamtbereich von Religion und Pädagogik über den konfessionellen Bezug hinaus. Gerade für das interreligiöse Lernen war das eine gute Vorgabe. Zweimal habe ich griechisch-orthodoxe Theologen zur Promotion führen können, mehrfach auch muslimische Nachwuchskräfte bei ihren Qualifikationsarbeiten begleitet. Dass andererseits das konfessionelle Profil für künftige evangelische Religionslehrerinnen und Religionslehrer in ökumenischer und interreligiöser Offenheit geschärft werden sollte, empfand ich als wichtige Voraussetzung für echte Gesprächsfähigkeit in der Pluralität. Die Erlanger Kolleginnen und Kollegen kamen gern nach Nürnberg, um unser Fachangebot zu ergänzen, besonders Hans-Christoph Schmitt im Alten Testament, Otto Merk, Jürgen Roloff und Hans Bald im Neuen Testament, Karlman Beyschlag, Berndt Hamm und Hans-Christoph Brennecke in der Kirchengeschichte, Alaisdair Heron, Reinhard Slenczcka und Hans Ulrich in der Systematischen Theologie, Niels-Peter Moritzen und Hermann Brandt in der Missions- und Religionswissenschaft, nicht zuletzt Günter Rudolf Schmidt, der kurz nach mir von Lüneburg auf den Parallel-Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät berufen worden war. Durch den Ortswechsel war ihnen klar, dass sie ein anderes Publikum hatten als in Erlangen, dass Elementarisierung, nicht Simplifizierung, bei der Erschließung der wissenschaftlichen Arbeit gefragt war. Bei meinen Vorlesungen über den Islam profitierte ich von der Erlanger Orientwissenschaft: Für die Einführung in den Koran konnte man sich niemand Besseren vorstellen als Hartmut Bobzin, der selbst eine fundierte Übertragung des Koran vorgelegt hat, für die Erläuterung der verschiedenen religiösen Richtungen im Islam Wolfdietrich Fischer, der mehrfach selbst in orientalischen Ländern Promotionen abgenommen hat. Das Lehrstuhlteam arbeitete über all die 27 Jahre bis zu meiner Pensionierung harmonisch und effektiv zusammen. 14 Jahre lang war es Gerhard Lindner, promovierter Kirchengeschichtler, der mir zur Seite stand und schon vor meinem Kommen ein dichtes Netz an Praxiskontakten aufgebaut hatte. Werner Haußmann, später Assistent und dann Lindners Nachfolger, war bei meinem Kommen bereits Hilfskraft am Lehrstuhl. Mit Gertraud

Heckel gewannen wir eine äußerst kompetente Sekretärin, Hartmut Garreis betreute den Berufsschulbereich, Karin Ulrich-Eschemann wirkte als beliebte Lehrbeauftragte und später Honorarprofessorin, mit Klaus Wild, Hauptschullehrer und später Leiter des Praktikumsamtes, gestaltete ich modellbildende Praktika. Die Assistentinnen und Assistenten Georg Tsakalidis, Klaus Hock, Heiner Aldebert, Peter Athmann, Hansjörg Biener und Susanna Straß trugen mit ihrem Engagement die Arbeit mit. Die Nachbarschaft der verschiedenen Didaktiken im Haus förderte das interdisziplinäre Zusammenarbeiten: mit Schulpädagogik – hier besonders dem Kollegen Max Liedtke – ebenso wie mit Psychologie, Geschichtsdidaktik, Didaktik des Deutschen als Zweitsprache und mit den musischen Fächern. Mit dem philosophisch gebildeten und eher religionskritisch eingestellten katholischen Kollege Josef Brechtken gab es eine freundliche Nachbarschaft, aber wenig direkte Zusammenarbeit. Das änderte sich bei dem später berufenen systematisch-theologischen Kollegen Erich Schrofner und bei Brechtkens Nachfolger Georg Langenhorst, der den Lehrstuhl von 2001– 2006 innehatte. Besonders in gemeinsamen Vorlesungen zur Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts arbeiteten wir im Dialog zusammen, und die Studierenden wussten diese Kooperation zu schätzen. Mein Dienstzimmer in Nürnberg befand sich zwischen den Räumen der Musikdidaktik, ich hörte die Studierenden üben, gestaltete mit ihnen und den Musikkollegen humorvolle Konzerte in der gegenüberliegenden großen Aula, gründete und leitete ein Bläserensemble. Auf Anregung der Studierenden baten mich die Musikdozenten, mir ein Gutachten über meine musikalischen Qualitäten von Hermann Baumann ausstellen zu lassen. Es kam ein Gutachten, das im Ministerium für Erstaunen sorgte, und in der Folge erhielt ich nicht nur einen offiziellen Lehrauftrag, sondern auch die Prüfungsbevollmächtigung für Ensemblemusik. Im Bereich der Hochschulleitung ließen die Pflichten nicht lange auf sich warten: im Fachbereichsrat, als Prodekan und Senator, Dekan von 1985– 1987, später Repräsentant der beiden philosophischen und der erziehungswissenschaftlichen Fakultät in der Hochschulplanungskommission. Alles forderte erheblichen Einsatz, besonders in Zeiten stark reduzierter Einstellung von Lehrkräften in Schulen und entsprechender Sparmaßnahmen an den Hochschulen, aber auch in der persönlichen Zuwendung und Fürsorge wie in einem mittelgroßen Betrieb. Gesamtbayerisch war ich bald in der KLGHT (später KLT: Konferenz der an der Lehrerbildung beteiligten Theologinnen und Theologen) heimisch, besonders zusammen mit Rainer Lachmann/Bamberg und Gottfried Adam/ Würzburg, die fast zur gleichen Zeit wie ich berufen worden waren. Zu unse-

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rem Kreis gehörten auch als etwas ältere Kollegen Hans-Jürgen Fraas/München, Helmut Anselm/Augsburg, Wilhelm Sturm/Regensburg und später Horst Rupp als Nachfolger von Gottfried Adam in Würzburg und Werner Ritter in Bayreuth. Wir trafen uns im Religionspädagogischen Zentrum in Heilsbronn, wurden zu einem echten Freundeskreis, arbeiteten einen Grundwissenkatalog für unsere Studierenden aus und verfassten das Religionspädagogische Kompendium mit Einführungen zu allen theologischen Disziplinen, das für mehr als eine Generation von Studierenden zum theologisch-didaktischen Leitfaden wurde. Mir wurden 40 Seiten für eine Einführung in den Umgang mit der Bibel und schon in der ersten Auflage 20 Seiten für Zugänge zu den Weltreligionen eingeräumt, auf denen ich vor allem Neugier und Lerninteresse für dieses wichtige Inhaltsgebiet zu wecken versuchte. Neue Familienheimat wurde der Nürnberger Ortsteil Zerzabelshof (ZABO), überregional bekannt für das Frankenstadion, das unmittelbar neben dem Reichsparteitagsgelände liegt. Nachdem wir anfangs Nürnberg gegenüber skeptisch waren wegen der ›braunen‹ Vergangenheit der Stadt, schätzten wir umso mehr, wie offen und selbstkritisch mit der Last der nationalsozialistischen Geschichte umgegangen wurde, nicht zuletzt durch das Dokumentationszentrum im riesigen Kolosseum am Dutzendteich. Gerhard Lindner und seine Frau Ingrid überzeugten uns, dass Zabo mit seiner Nähe zur Fakultät die ideale Wohngegend für uns sei. Sie fanden das zum Verkauf stehende Reihenendhaus in der Viatisstraße, das fast 30 Jahre der Familienmittelpunkt wurde: nur 200 Meter vom Valznerweiher und dem Reichswald entfernt, in Busentfernung zur Stadtmitte. Nicht nur für alle drei Töchter gab es ein Zimmer, sondern auch eine Gästekammer, einen großen Wohn- und Musikraum, einen Garten, der sich mit den angrenzenden Gärten von Nebenan und Gegenüber zu einer grünen Fläche erweiterte. Über den Weg zwischen den Gärten konnten sich die Kinder der benachbarten Reihenhäuser treffen. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang konnten wir direkt vom Haus aus sehen. Dazu kamen Nachbarn, die unsere Musik liebten. Um zwei Ecken in der Siebenbürger Straße wohnte mein pädagogischer Kollege Hans Glöckel mit seiner Familie, kirchlich engagiert und religionspädagogisch interessiert, der mir ein besonders hilfreicher Berater war, als ich Aufgaben im Senat und als Dekan übernahm. Als ich im Herbst 1981 am Theologenkongress in Wien teilnehmen und dort über Religiöse Erziehung im Islam referieren sollte, wollten Susanne, die in Wien geboren war, und ich gern gemeinsam dorthin reisen. In der Nachbarschaft fand sich die junge Familie Keßler, deren Tochter Claudia mit Luise in den evangelischen Kindergarten ging, und war bereit, Luise jeweils zu bringen und zu holen und im Hintergrund einsatzbereit zu sein. Daraus wurde eine lebenslange Freund-

schaft, besonders zwischen den beiden fast gleichaltrigen Mädchen. »Nicht verzagen, Keßler fragen«, war das Motto des Vaters, Hermann, wenn es um irgendwelche Autofragen oder handwerkliche Dinge ging; und Evi Keßler ist auch gegenwärtig meine Gastgeberin, wenn ich zu Lehrveranstaltungen und interreligiösen Terminen in Nürnberg bin. Bei dem Kongress fand mein Referat mit dem damals noch exotisch klingenden Titel »Religiöse Erziehung im Islam« große Aufmerksamkeit, sogar der Spiegel berichtete darüber. In der Gemeinde der Auferstehungskirche in Zerzabelshof zogen wir zu viert in den Posaunenchor ein, der uns bei seinen Festen auch fränkische Lebensart nahebrachte. Susanne baute eine Gymnastikgruppe auf, dazu kam für uns gemeinsam ein Tanzkreis, in dem wir Tänze der Völker von Schottland bis Israel übten. Susanne wirkte viele Jahre im Kirchenvorstand, brachte immer wieder Ideen ein, z. B. zur kommunikativeren Gestaltung des Kirchenraums aus den 60er-Jahren, aber auch im Engagement für die Schneller-Schulen im Nahen Osten, in deren deutschem Förderverein sie im Vorstand mitwirkte. Dass wir ein offenes Haus für Besucher aus aller Welt hatten, beobachteten vor allem die älteren fränkischen Nachbarn mit Erstaunen und Neugier. Susannes Eltern entschlossen sich 1982, von Münster nach Nürnberg umzuziehen. In der Wohnung nahe der Fakultät und dem Gymnasium der Töchter kehrte die Familie gern ein. Meine Schwiegereltern liebten die Großstadt mit ihrem reichen Kulturangebot, und es gelang ihnen erstaunlich schnell, durch ihre Vorträge im Volkshochschulbereich und ihre Vertrautheit sowohl mit der Türkei als auch mit Griechenland noch einen Freundeskreis aufzubauen; der Verein der Pontos-Griechen ernannte sie sogar zu Ehrenmitgliedern. Beim Mittagessen in unserer Mensa freundeten sie sich auch mit dem ganzen Lehrstuhlteam an. Im Jahr 1984 führte mein Schwiegervater noch einmal eine große Grabungskampagne am Nemrud Dagh durch und konnte dort die Stelen und Orthostaten an der Seite des großen Altarplatzes vor den Götterfiguren in 2100 m Höhe wieder aufrichten. Im Anschluss leitete er eine Reise mit dem Historisch-Archäologischen Freundeskreis in die West- und Südtürkei, und wir besuchten nicht nur die großartigen antiken Stätten in Antalya, Side, Alanya, Perge und das Theater von Aspendos, in dem auch mein Reisehorn akustisch wunderbar erklingen konnte, sondern die Spuren der Reisen des Apostels Paulus standen uns erneut konkret vor Augen. Als wir in dem Ferienort Kemer nachmittags im Teehaus saßen, ertönte der Ruf des Muezzin vom nahen, neu erbauten Minarett. Ich ging zur Moschee und fand vor ihr eine Tafel, auf der der Imam mit Kreide einen Koranvers geschrieben hatte, in Arabisch, Türkisch und Deutsch: »Die Gläubigen sind Brüder. Darum stif-

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tet Eintracht zwischen euren Brüdern und dient Allah, damit er sich eurer erbarmt.« Als der Imam mich sah, begrüßte er mich mit einem ›Willkommen‹, bevor er im Moscheeraum das Gebet leitete. Nach dem Gebet reichte mir jeder der Männer, die sich dort versammelt hatten, die Hand, und der Imam lud mich mit Susanne und den Schwiegereltern zu sich nach Hause ein. Dort lagen und hingen wunderschöne Teppiche. Wir hörten, dass die Frau des Imam aus einem Yürückendorf stammte und von Kind auf alle Schritte der Teppichherstellung gelernt hatte: Spinnen, den Webstuhl bespannen, die Farben herstellen, Färben und Knüpfen. 80 Knoten pro Quadratzentimeter waren die Norm. Auf die Frage, wie lange sie für einen Teppich brauche, antwortete Mustafa Elmas, ihr Mann: zwei Monate. »Aber wenn ich ihr helfe, braucht sie nur einen Monat. Sie ist mein Ögretmen (Lehrer).« Und auf die Frage, ob sie ein Musterbuch hätte, winkte er ab: »Sie hat alles im Kopf. Sie ist ein Professor.« Diese Anerkennung eines dörflichen Imams für die Leistung einer Frau war mir ein schönes Beispiel für ein Ethos, das das Verhältnis von Mann und Frau auch im islamisch geprägten Kulturkreis positiv bestimmen kann. Mein Schwiegervater ließ mich dann noch einen besonders schönen Teppich, mit Naturfarben hergestellt, aussuchen, den ich in mein Dienstzimmer in Nürnberg legte und der immer wieder einmal Anlass gab, vom Imam in Kemer zu erzählen. Fachlich und forschungsmäßig wurde in Nürnberg das weite Gebiet Weltreligionen im Unterricht, Erziehung zu Religionsbegegnung, Weltreligionen und Friedenserziehung zunehmend mein Schwerpunkt. Der Kanzler lächelte, als ich bei meinen Berufungsverhandlungen um Gastvortragsmittel für ein interreligiöses Symposium bat. Das Religionenthema klang interessant, man war auch ein wenig beunruhigt nach der unerwarteten islamischen Revolution im Iran. Aber insgesamt waren die Weltreligionen in Theologie und Religionspädagogik doch noch ein Randund Hobbythema. Er räumte mir schließlich bereitwillig 1.800 DM für sechs Gastvorträge ein. Werner Haußmann fing gleich Feuer bei der Idee des Symposiums, ebenso wie Gerhard Lindner und unsere Sekretärin Gertraud Heckel. Was konnten wir in diesem Feld Spezifisches leisten? Es gab ja immerhin schon die Dialoge im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils und durch das Dialogprogramm des Ökumenischen Rates der Kirchen, auch mit dem muslimischen Weltkongress. Es gab auf der anderen Seite pädagogische Herausforderungen mit Ausländerkindern, ihrer Sprache, ihrer kulturellen Prägung. Es entwickelte sich gerade die Ausländerpädagogik als neue Disziplin. Aber wie ließ sich zwischen diesen verschiedenen Ebenen vermitteln?

Da hatten wir die Idee, Vertreterinnen und Vertreter der Religionen, die im Dialog erfahren sind, zusammenzubringen mit Pädagogen und Experten aus anderen Humanwissenschaften, aber auch Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern, die in der Praxis stehen und die damals schon oft über das Kopftuch der türkischen Mädchen, über Probleme beim Haushaltsunterricht, Schwimmunterricht, in der Sexualkunde und bei Klassenfahrten stöhnten. Im Kontext sollte auch die politische, die wirtschaftliche und die ökologische Perspektive vertreten sein. Die erste Konferenz im Herbst 1982 nannten wir noch bescheiden Symposium. Sie war ganz auf Christen und Muslime, türkische und deutsche Kinder konzentriert, nahm aber auch die Schule als Ganze und die Lehrerbildung in den Blick. Und es bildeten sich Konstanten heraus, die für eine nachhaltige interreligiöse Erziehung auch in der Gegenwart und für die Zukunft gelten sollten: Diese Erziehung braucht ȤȤ eine Korrespondenz im theologischen Dialog: Wie entfalte ich meinen Glauben so, dass er Menschen in anderen Religionen und Kulturen verständlich ist? Lassen sich Gemeinsamkeiten entdecken? Wie ist mit Unterschieden und Unvereinbarkeiten umzugehen? Wie bringe ich Wahrheitsanspruch einerseits, Verständigungsbereitschaft andererseits zueinander in Beziehung? Sie braucht ȤȤ die Wahrnehmung, welche Rolle die Religionen im gesellschaftlich-politischen Feld spielen. Die Ost-West-Konfrontation und die Säkularisierungs­ debatte hat hier lange Zeit einen blinden Fleck gelassen, der erst allmählich und teils sehr zögerlich überwunden wird. Sie braucht ȤȤ überzeugende Konzepte in der Pädagogik. Dass dazu gerade auch empirische Arbeit nötig ist, hat sich erst langsam durchgesetzt. Sie braucht ȤȤ die Schule als konkretes Erfahrungs- und Entfaltungsfeld. Und sie braucht ȤȤ den Bezug zu den vielen Feldern außerschulischer Erziehung. Kulturbegegnung in Schule und Studium nannten wir unsere erste Konferenz. Den Begriff der ›Begegnung‹ haben wir dabei bewusst gewählt, weil er einen

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dynamischen Prozess beschreibt. Schon damals haben wir betont, dass Integration ein wechselseitiger und ein ganzheitlicher Prozess ist. Dieser wechselseitige und ganzheitliche Prozess drückt sich in einer Skizze aus, die wichtigste Schritte der Kulturbegegnung sichtbar macht:

Sich gegenseitig kennen Sich gegenseitig verstehen Sich gegenseitig achten

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Voneinander lernen Füreinander eintreten

Ein Schritt wirkt auf den nächsten hin. Dabei muss die intellektuelle Bemühung nicht notwendig das Erste sein. Oft wird sie von existentieller Betroffenheit getrieben werden. Ganzheitlich, das bedeutet: ›von Kopf‹ (Interesse, Wissbegier, Lernen) – bis ›Fuß‹: Hingehen zum anderen. Wichtig ist gerade das Letzte: Die Erfahrung, sich persönlich zu kennen, das Erleben der Gastfreundschaft, das Abenteuer einer Freundschaft führt zu dem nötigen Staunen, führt dazu, neue Horizonte zu entdecken. Wir haben schon damals betont, dass erst, wenn Pädagoginnen und Pädagogen selbst dieser Ganzheitlichkeit gerecht zu werden versuchen, sie die Schülerinnen und Schüler in diesen Prozess hineinnehmen können. Sicher haben wir damals in mancher Hinsicht etwas idealistisch gedacht. Wir haben später die Härte vieler schulischer Realitäten deutlicher wahrund ernst genommen. Aber es waren gerade die pädagogischen Praktiker, die an diesen Gedanken mit formuliert haben. Das Symposium wurde von dem breiten Teilnehmerkreis mit großer Zustimmung aufgenommen und als Ermutigung für ihre Arbeit angesehen. Klaus Gebauer vom nordrheinwestfälischen Institut für Schule und Weiterbildung sagte, daraus sollte eine kontinuierliche Einrichtung werden: das ›Nürnberger Forum‹. Das folgende Forum 1985 hatte den programmatischen Titel Erziehung zur Kulturbegegnung. Es reflektierte einerseits verschärfte Probleme mit Ausländerkindern und ihren Familien: Ghettotendenzen, z. T. übereilte Rückkehr in die Türkei, Ausländerklassen als ›Verschiebemasse‹ in den Schulen.

Andererseits gab es verstärkte Integrationsbemühungen durch eine interkulturelle Erziehung, die freilich die religiöse Komponente lange Zeit fast ganz außer Acht ließ. Immerhin gab es ja bereits die Curriculumsarbeit an einer Religiösen Unterweisung für Schüler islamischen Glaubens, besonders in Nordrhein-Westfalen. Als einen Schwerpunkt mit Zukunftsrelevanz bei diesem Forum möchte ich den vertieften theologischen Dialog im Kontext der Erziehungsfragen nennen. Mehdi Razvi und ich haben ihn über die Gottesfrage in Christentum und Islam geführt. Er machte deutlich, dass die verbreitete Behauptung: In ethischen Fragen korrespondieren die Religionen miteinander, in theologischen Fragen gibt es Dissens, viel zu kurz greift. Es zeigt sich vielmehr, dass es besonders im Bereich des Gottesglaubens, der Schöpfungslehre und der Anthropologie zwischen Judentum, Christentum, Islam und Baha’itum Korrespondenzen gibt, die es den Religionen ermöglichen müssten, gemeinsam dem Menschen, der nach grundlegender Sinngebung sucht, Antwort zu geben. In Christentum und Islam ist der Glaube an den einen Gott, der sich den Menschen gnädig zuwendet, die Grundlage. In beiden Religionen wird Gott als der Schöpfer, der Erhalter, der Richter verehrt. Zeichen dafür sind die Schöpfung, die Sendung der Gottesboten, die Gebote … – Daraus ergeben sich Konsequenzen für den Auftrag des Menschen: Dankbarkeit für die Schöpfung und Verantwortung für sie, Solidarität mit allen Kreaturen, Sinngebung für ein nicht dem Egoismus verfallenes Leben, Geborgenheit aus dem Glauben an Gott, Kritik an der Vergötzung von innerweltlichen Zielen, Einsatz für Schwächere und Benachteiligte. Daneben bleiben Unterschiede, die sich teils ergänzen, teils gegenseitig ausschließen: besonders durch das auf Jesus Christus zentral bezogene christliche Bekenntnis einerseits, durch das koranische Offenbarungsverständnis im Islam andererseits. Angesichts der radikalen Abgrenzungen, die wir oft lange Zeit gerade in den evangelischen Kirchen erlebt haben und erleben, zuweilen auch im Islam, muss aber der Fruchtbarkeit des theologischen Dialogs mehr zugetraut werden, eines Dialoges, der falsche Etikettierungen überwindet und der einen gemeinsamen Weg in der Begegnung mit den globalen Herausforderungen inspirieren kann. Das Forum fand einen so positiven, ja begeisternden Zuspruch, dass daraus eine regelmäßig alle drei Jahre stattfindende Einrichtung wurde. Von meiner Frau Susanne wurden die Foren jedes Mal wegen des großen organisatorischen Aufwands, der Mühen, die notwendigen Gelder einzuwerben, und des langen Prozesses von der thematischen Idee, der Vorbereitung, der Durchführung bis zur Veröffentlichung der Ergebnisse mit leichtem Stöhnen begleitet: »Muss es wieder sein?« Aber sie selbst genoss es dann – ebenso

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wie das Lehrstuhlteam –, wie sich von Mal zu Mal quasi schneeballartig neue Teilnehmergruppen erschließen ließen und sich vor, während und nach dem Forum internationale Gäste bei uns zu Hause einfanden. Waren das doch zumeist Persönlichkeiten, die auf der Aufbruchslinie ihrer Gemeinschaften standen und stehen, Vor-Denker und aktiv handelnde Menschen, von denen nicht wenige wegen ihres unkonventionellen Engagements bedrängt und bedroht wurden. Einen bewegenden Moment erlebten wir, als Abdoldjavad Falaturi, Leiter der islamisch-wissenschaftlichen Akademie in Köln, zu einem Abendessen an den großen runden Tisch in unserem Wohnzimmer kam. Ich sprach vor dem Essen ein Tischgebet, und nach dem Abendessen setzte ich mich ans Klavier und sang mit der Familie das Lied Abend ward, bald kommt die Nacht. Darauf stand Falaturi auf und umarmte mich: Dies sei eine neue Erfahrung für ihn gewesen – geistliches Leben in einer christlichen Familie! Ich merkte: Für Musliminnen und Muslime stellt es ein Problem dar, dem Christentum bei uns als einer Religion zu begegnen, von deren religiösen Vollzügen im Alltag oft so wenig zu sehen ist. Die berühmten fünf Säulen im Islam sind ja sämtlich öffentliche, gemeinschaftliche Bekenntnishandlungen, am deutlichsten das regelmäßige Zusammenkommen zum Gebet in der Moschee. In eine ähnliche Richtung ging ein anderes Erlebnis dieser Jahre: Es war ein Imam aus der Türkei neu nach Deutschland gekommen. Er hatte von meinem Interesse am Dialog erfahren und wollte deshalb ein Gespräch mit mir führen. Ein türkischer Lehrer half beim Übersetzen, als der Imam in meinem Arbeitszimmer mir gegenüber saß. Er begann: »Herr Lähnemann, Sie sind evangelischer Theologe. Erklären Sie mir bitte als Erstes: Was sind die Hauptpflichten eines evangelischen Christen?« So hätte ich ja nie eine erste Frage bei einer Begegnung mit einer anderen Religion gestellt. Ich dachte nach und gab zur Antwort: »Von Jesus ist uns das Doppelgebot der Liebe gegeben: der Liebe zu Gott und zu dem Nächsten, und ich muss als evangelischer Christ in jeder Situation bedenken: Was ist hier Liebe zu Gott und was ist hier Liebe zum Nächsten?« Daraufhin sah er mich mit großen Augen an und sagte: »Aber sagen Sie mal, Herr Lähnemann: Wenn den evangelischen Christen das so freigestellt ist, das jedes Mal neu zu entscheiden: Tun sie das dann auch?« Er spürte offenkundig etwas von der großen eigenverantwortlichen Freiheit in der evangelischen Tradition – und sah gleichzeitig die Gefahr, dabei einer Beliebigkeit zu verfallen. Und mir wurde schlagartig deutlich, welch große Herausforderung darin besteht, uns wechselseitig unsere Religion zu verdeutlichen und zu erklären. Ich begrüßte es deshalb, wenn die Kollegen Reinhard Slenczka und Günter R. Schmidt in ihren Veranstaltungen den Kleinen Katechismus Martin Luthers als Ausgangspunkt

nahmen, um von ihm aus elementar und systematisch die christliche Glaubenslehre zu entfalten. Für die Veröffentlichung unserer Forumsergebnisse gewannen wir den EB-Verlag, zunächst in Hamburg-Rissen, später in Berlin, der sich als eine besondere Aufgabe gestellt hat, Brücken zu schlagen zwischen Weltreligionen und Weltkulturen. Mit dem Verleger Hans-Jürgen Brandt und seinem Kollegen Rainer Kuhl gibt es inzwischen eine über 30-jährige Zusammenarbeit im Rahmen ihres weitgesteckten Verlagsprogramms. In der wissenschaftlichen Reihe Pädagogische Beiträge zur Kulturbegegnung sind neben den bisher elf Forumsbänden viele Dissertationen und Habilitationsschriften erschienen, die dem gleichen Themenfeld gewidmet sind. Finanzielle Unterstützung verdanken wir dabei vor allem der Stiftung Apfelbaum/Köln unter ihrem Geschäftsführer Hans-Martin Schmidt, dem die Kulturbegegnung ein besonderes Herzensanliegen ist. Es gelang uns fast immer, die Forumsbände in Jahresfrist herauszubringen, und wir konnten sie zu günstigen Preisen anbieten.

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Das Haus in Lüneburg (1973–1981)

Die Wohnung im Mauritzsteinpfad Münster (1968–1973)

Mit Henrike – Blick auf die Mauritzkirche

Weihnachten 1973 in Lüneburg, mit Friedrich Georg

Der ›100. Geburtstag‹ der Familie Juni 1980

Familienposaunenchor 1986

Mit Carl Friedrich von Weizsäcker und Bischof Hans-Gernot Jung (Kassel) bei der Tagung Von der Weltversammlung zum Konzil 1990 in ­Hofgeismar

Mit dem Vorgänger (Helmut Schrettenbrunner, r.) und dem Nachfolger im Dekanat (Dieter Spanhel) 1987

Empfang beim 4. Nürnberger ­Forum 1991 im Historischen Rathaussaal Nürnberg mit Oberbürgermeister Peter Schönlein

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 Weltreligionen im Unterricht: das Doppelwerk einer theologischen Didaktik der Weltreligionen …

Die Bücher mit den Schwerpunkten Fernöstliche Religionen und Islam · Kontakte mit der World Conference on Religion and Peace (WCRP) · Austausch mit englischer und türkischer Religionspädagogik

Parallel zum ersten und zweiten Nürnberger Forum begann ich, an einem Grundlagenwerk zu den Weltreligionen zu arbeiten. Denn wo gab es für Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer wie auch für Erwachsenenbildner eine zusammenhängende inhaltliche Einführung in die großen Religionen in Verbindung mit theologischem Nachdenken und gezielten ›Wegbeschreibungen‹ für verantwortliches Lehren und Unterrichten in diesem Feld? Neben der vielfältigen Lehrtätigkeit an der Erziehungswissenschaftlichen und an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg und der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Nürnberger Foren, den Dialogreisen nach England und in die Türkei wuchsen allmählich die beiden Bände Weltreligionen im Unterricht mit den Schwerpunkten Fernöstliche Religionen und Islam. Wenn sie im Untertitel als ›theologische Didaktik‹ gekennzeichnet wurden, dann war damit gemeint, dass die Religionen nicht einfach neutral beschrieben werden sollten. Mein christlich-theologischer Hintergrund sollte erkennbar bleiben. Ich führte dazu aus, dass die Begegnung mit den Religionen und ihren Wahrheitsansprüchen immer auch den Wahrheitsanspruch des eigenen Glaubens und seine Artikulation betrifft: Kann er den Fragen der anderen standhalten? Ist er vielleicht zu partikular gesehen? Können die Erfahrungen der anderen zur Entgrenzung der eigenen Erfahrungen und Vorprägungen verhelfen? Lassen sich aus der Begegnung heraus neue Möglichkeiten finden, den universellen Charakter des christlichen Glaubens neu zu entfalten? Andererseits sollte ›theologische Didaktik‹ nicht bedeuten, dass die Religionen von vornherein von christlichen Vorstellungen aus zu beschreiben waren. Es sollte vielmehr versucht werden, den Weg des anderen mitzuvollziehen, sich seine Erlebnisse, sein Denken und Handeln vor Augen zu führen, die anderen Religionen von ihren je spezifischen Wurzeln aus zu verstehen.

Aber wie macht man das, wenn man von der Ausbildung her kein Religions­wissenschaftler ist und der eigene Erfahrungsweg nur begrenzt das Einsteigen in fremde Kulturräume ermöglicht? Mein Bemühen war, neben dem Rückgriff auf religionswissenschaftlich fundierte Literatur und Originalzeugnisse aus den Religionen das Gespräch und die Hilfe von Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftlern, zunehmend auch von Angehörigen der anderen Religionen zu suchen und immer wieder meine Entwürfe gegenlesen zu lassen. Für den Islam waren das die Kollegen Wolfdietrich Fischer und Hartmut Bobzin an unserer Universität Erlangen-Nürnberg. Bobzin hatte sich mit einer Arbeit über den Koran im Zeitalter der Reformation habilitiert, eine wissenschaftliche Arbeit, die sich in Partien spannend wie ein Kriminalroman liest. Er ist zum führenden deutschen Koran-Forscher und -übersetzer geworden. Als Muslima haben Beyza Bilgin in Ankara, ihre Schülerin Mualla Selcuk und ihr Schüler Cemal Tosun viele Gespräche über einen zeitgemäßen Islam mit mir geführt. Später war es u. a. Harry Harun Behr, muslimischer bayerischer Grundschullehrer, der dann die erste islamisch-religionspädagogische Professur an unserer Universität übernahm. Für den Hinduismus hat mir Hugald Grafe, der als christlicher Theologe lange Zeit in Indien gewirkt hat, viel Grundlegendes vermittelt. Später kamen als Gesprächspartner von Hindu-Seite Ram Mall hinzu, aber auch die »Brückenbauerin« Saraswati Albano-Müller, die seit den 1950erJahren in Schwelm lebt und in ihrem gastfreundlichen Haus die lebendige Vielfalt hinduistischer Götter-Symbolik und der damit verbundenen spirituell-ethischen Ausdrucksformen vermittelt. Als Kind ist sie noch Mahatma Gandhi begegnet, weil ihr Vater dessen Schüler und Freund war. Über die Bewegung Religions for Peace gewann ich die Freundschaft von Muthukumaraswamy Aram, Friedensstifter im konfliktgeschüttelten Nagaland in Indien, und seiner Tochter Vinu, engagierte Ärztin in einer indischen Entwicklungs-Region. Für den Buddhismus hat der Kollege Niels-Peter Moritzen die Manuskripte gegengelesen; spätere Arbeiten ließ ich von Alfred Weil, langjährigem Vorsitzenden der Deutschen Buddhistischen Union, durchsehen. Es war für mich sehr ermutigend, dass ich neben vereinzelter Kritik ganz überwiegend positive Rückmeldungen aus den Religionsgemeinschaften zu meinen Darstellungen erhielt. Entsprechende Hilfe fand ich auch für die beispielhaften Unterrichtsprojekte, die in den beiden Bänden ausgeführt werden – samt der Medien und Materialien, die im Unterricht eingesetzt werden können. Das Unterrichtsvorhaben zur Begegnung mit dem Islam für das 5. bis 7. Schuljahr habe ich selbst mehrfach erprobt, die Hinduismus-Entwürfe erprobten die Realschullehrerin Irma Kögel und der Hauptschullehrer Klaus Wild, das

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Unterrichtsvorhaben über Meditation und Gebet im Zen-Buddhismus und in der Communauté von Taizé Ursula Hahlbohm und später meine Schwester Christiane Lähnemann. Breitere empirische Daten zu den verschiedenen Schulformen und schulischen Altersstufen gab es damals noch nicht, wohl aber praxisbezogene Erfahrungsberichte aus verschiedenen Kontexten. Als grundlegende Thematik wurde ergänzend die Frage nach der Bedeutung des Themas ›Weltreligionen‹ für das Selbstverständnis evangelischer Theologie und Religionspädagogik aufgenommen. Ich habe sie erörtert an der Verhältnisbestimmung der Religionsdidaktik zu den Religionswissenschaften einerseits, zur Theologie andererseits und in der Auseinandersetzung um den Religionsbegriff. Bei der ersten Frage ging es mir darum zu zeigen, dass die Aufgabenstellungen in Theologie und Religionswissenschaft schwerpunktmäßig verschieden sind, gleichwohl aber aufeinander bezogen sein sollten. Fragt Theologie – als ›Denken des Glaubens‹ – schwerpunktmäßig vom religiösen Vollzug aus und auf religiösen Bezug hin, so bemüht sich Religionswissenschaft, den religiösen Vollzug und den Wahrheitsanspruch der einzelnen Religionen nicht von vornherein wertend aufzunehmen, sondern religiöse Erscheinungsweisen mit Hilfe historischer, philologischer, soziologischer, psychologischer u. a. Methoden zu deuten. Gleichzeitig überschneiden sich die Arbeitsweisen an vielen Stellen, und beide Disziplinen sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Bei dem zweiten Thema – der Frage nach dem Religionsbegriff – wird die Dynamik der religionspädagogischen Diskussion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders sichtbar. Hier standen Karl Barths Negativurteil über Religion – Religion als ›Unglaube‹, weil der Mensch hier von sich aus ein Gottesbild konstruiere – und Paul Tillichs Definitionen einander kontrovers gegenüber. Paul Tillich konnte Religion positiv beziehen auf das Empfangen von Offenbarung – im Christentum und in anderen Religionen – und sie darüber hinaus im weitesten Sinne als »Zustand des Ergriffenseins von einem letzten Anliegen« bezeichnen. In der Rezeption von Barths Negativurteil über Religion wurde weitgehend übersehen, dass es sich vornehmlich gegen Fehlformen des Protestantismus in dessen Sicht handelte – und nicht um ein fundiertes Gesamturteil über alle lebenden Religionen. Faktisch aber hat es zu einer lange währenden weitgehenden Ausblendung der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Religionen in evangelischer Theologie und Religionspädagogik geführt, am schärfsten formuliert in Helmuth Kittels Programmschrift Vom Religionsunterricht zur Evangelischen Unterweisung. Kittel trat für eine zentral auf das Evangelium von Jesus Christus bezogene ›Unterweisung‹ ein, die er damals jedenfalls nicht mehr Religionsunterricht nennen wollte.

Dass diese Position in einer Zeit, als das Bewusstsein wuchs, dass unsere Gesellschaft sich nicht mehr von vornherein als christliche versteht, in die Krise geraten musste, wurde spätestens in den 1960er-Jahren deutlich. Hubertus Halbfas und Siegfried Vierzig holten Tillichs Religionsbestimmung in den Mittelpunkt religionspädagogischer Theorie hinein, weil er nicht nur den nichtchristlichen Religionen, sondern auch allen Sinn-Problemen im säkularen Bereich gegenüber eine große Offenheit einschließt. Doch hat es auch diesem weiten Religionsbegriff gegenüber, der Religion als Seinsstruktur des Menschen fasst – als die Ergriffenheit von der Frage nach der Bestimmung des Daseins –, bald Kritik gegeben: Er neige zu Geschichtslosigkeit und Gesellschaftsferne, betonte Karl Ernst Nipkow, und vereinnahme vorschnell Philosophie und säkulare Bewegungen als Religion. Insofern erschien mir – auch für den theologisch-religionspädagogischen Gebrauch – eine phänomenologisch von der Erkundung der ›Religionswelten‹ ausgehender religionswissenschaftlich orientierter Religionsbegriff angemessen. Ich habe mich deshalb an den Versuch einer eigenen Begriffsbestimmung gewagt, die sicher nicht allen Differenzierungen in den Religionen gerecht werden kann, aber eine grundlegend verbindende Perspektive zum Ausdruck bringt und sichtbar macht, dass der Religionsbegriff Theologie und Religionswissenschaft, konfessionsbezogenen Religionsunterricht und religionskundlichen Unterricht nicht trennen muss, indem ich ›Religion‹ kennzeichnete als Namen für eine Gemeinschaft, in der Menschen aus Erfahrungen mit einer über menschliche Grenzen hinausweisenden Macht/Größe leben, von denen her grundsätzliche Sinngebung des Lebens vermittelt sowie grundsätzliche Anleitungen zum Verhalten gegeben werden. Das abschließende Kapitel der beiden Weltreligionen-Bände weist dann schon in die Richtung meiner späteren Evangelischen Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive, in der die Besinnung auf den Weg Jesu Christi und eine »entgrenzende Pädagogik des Evangeliums« theologisch im Mittelpunkt steht, indem ich hier thetisch »die weltweite Dimension des Evangeliums – das Christusgeschehen als Begründung dialogischer Theologie und Religionspädagogik« umriss. Die beiden Bände wurden sehr vielfältig rezipiert – als Gesamtwerk und als Grundlagenarbeit für Theoretiker wie für Praktiker. Als Stephan Leimgruber Interreligiöses Lernen 1995 erstmals zusammenhängend aus katholischer Perspektive erschloss, bezog er sich ausdrücklich auf meine Arbeiten. In ihrer Folge wurde ich für die pädagogische Arbeit der Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (World Conference on Religions and Peace/WCRP) gleichsam entdeckt, vor allem durch deren europäischen Generalsekretär

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Günther Gebhardt, dem ich im ökumenischen Institut in Bossey bei Genf begegnet war und der über Friedenserziehung in religiösen Friedensbewegungen promovierte. Er lud mich und meine Mitarbeiter zu der europäischen Versammlung von WCRP 1986 in Rovereto/Italien ein. Darunter war neben Werner Haußmann auch der Theologe und Religionswissenschaftler Klaus Hock, der als Nachfolger von Georg Tsakalidis für anderthalb Jahre Assistent bei mir war, bevor er für fünf Jahre als Dozent nach Nigeria ging und sich anschließend mit einer Arbeit über das dortige Verhältnis zwischen Christentum und Islam in Hamburg habilitierte. In diese Jahre hinein gehört auch der beginnende Austausch mit der englischen und der türkischen Religionspädagogik. Bereits 1983 waren Karl Ernst Nipkow und ich zu einer Konferenz über Religious Education in a Pluralistic Society am Westhill College in Birmingham eingeladen, bei der wir über die Entwicklung in Deutschland referierten, während John Hull, dem ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal begegnete, darauf aus englischer Perspektive antwortete. Die Entwicklung in England/Wales – und mit leichten Variationen in Schottland – ist spezifisch anders verlaufen ist als in der Bundesrepublik Deutschland. Die Religionen-Thematik hat sich dort zu der die religionspädagogische Diskussion beherrschenden Fragestellung entwickelt. Das ist umso bemerkenswerter, als Religionsunterricht in Großbritannien wie in der Bundesrepublik ordnungsgemäßes Schulfach für alle Schulstufen ist und eine christlich-konfessionell ausgerichtete Religionspädagogik bis Ende der 1960er- und in die 1970er-Jahre hinein dominant war. Es gab mehrere Faktoren, die die neue Entwicklung in Großbritannien beeinflusst haben: 1. Zunächst einmal ist Religious Education prinzipiell überkonfessionell – in jedem Fall an den staatlichen Schulen, aber grundsätzlich auch in den staatlich unterstützten kirchlichen Schulen. Eine konfessionelle Trennung der Kinder findet nicht statt. 2. Durch die Tradition des Commonwealth und kontinuierliche Einwanderungen vor allem aus Indien/Pakistan, Westindien, Afrika, aber auch aus anderen Gebieten des Commonwealth, gibt es schon seit Langem in den Ballungszentren viele verschiedene religiöse und kulturelle Gruppierungen. 3. Als entscheidend für die Entwicklung der religionspädagogischen Diskussion hat sich schließlich die 1969 im Dorf Shap im Lake District gegründete SHAP Working Party on World Religions in Education erwiesen. Diese Vereinigung von Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftlern, Religionspädagoginnen und Religionspädagogen, von

Lehrkräften an Grundschulen bis hin zur Universität hat sich systematisch um das Studium und die unterrichtliche Vermittlung der Religionen-Thematik und um die kulturpolitische Durchsetzung dieser Anliegen bemüht. Auf europäischer Ebene wurden diese Anliegen in späteren Jahren von der European Association on World Religions in Education (EAWRE) unter der Federführung von Herbert Schultze, dem langjährigen Direktor des Comenius-Instituts in Münster, und von Manfred Kwiran, dem Leiter der Arbeitsstelle Religionspädagogik der Braunschweigischen Landeskirche, verfolgt. Der grundsätzliche Zugang zur Welt der Religionen im Unterricht wurde in England – im Gegenüber zu einem confessional approach – als phänomenologisch (phenomenological approach) gekennzeichnet. Als phänomenologisch galt der Versuch, sich in die Gedankenwelt der Gläubigen einzufühlen, ihre Gedankengänge womöglich nachzuvollziehen, ihre Gefühle und Erfahrungen, soweit es nur geht, nachzuempfinden. Der Unterschied zur Diskussionslage in Westdeutschland zeigt sich insbesondere darin, dass die Religionen-Thematik bereits zentral in den Lernbereichen in der Grundschule verankert wurde. Sie sollte zwei wesentliche Beiträge zum Grundschulunterricht leisten: 1. Sie sollte den Kindern die ›Tiefendimension‹ des Lebens erschließen, die in den religiösen Überlieferungen der verschiedenen Kulturen ihren besonderen Ausdruck findet. 2. Sie sollte das Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Religionen und Kulturen begleiten und stützen, indem bei den Schülern »an attitude of welcoming acceptance and interest in another culture« (übersetzt etwa: eine Grundeinstellung bereitwilliger Offenheit und des Interesses gegenüber einer anderen Kultur) angebahnt wird. Didaktische Ausgangssituationen sind die basic needs der Kinder, vor allem Liebe, Geborgenheit und Schutz. Was auf dieser Basis im Bereich der agreed syllabuses, also der Lehrpläne, die von den Educational Authorities der einzelnen Grafschaften zum Teil in Kontakt mit christlichen wie nichtchristlichen religiösen Gruppierungen erlassen wurden, im Bereich der Schulbücher und im Bereich der praktischen Unterrichtshilfen (Modelle, Poster, Fotoserien, AV-Medien) geleistet worden ist, ist in Deutschland von den 80er-Jahren an zunehmend wahrgenommen worden. Einer breiteren Akzeptanz des britischen Konzepts, das in der Bundesrepublik Deutschland ähnlich von Hubertus Halbfas vertreten wurde, stand und steht zunächst einmal die durch das Grundgesetz gege-

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bene Verfassungswirklichkeit entgegen, nach der der Religionsunterricht konfessionsbezogen zu erteilen ist. Es gibt aber auch sachliche Überlegungen, die kritische Anfragen an dieses Konzept hervorrufen: Ist es sinnvoll, Kinder religionsvergleichend in die Welt der Religionen einzuführen, ohne dass sie zunächst eine gute Grundlegung in der eigenen Glaubenstradition erfahren haben? Leistet eine auf die Pluralität der Religionen und einen allgemein-ontologischen Religionsbegriff (depth themes) bezogene Religionspädagogik nicht letztlich einem Synkretismus und einer gewissen Orientierungsbeliebigkeit Vorschub? Hier hat es in der britischen Öffentlichkeit, besonders im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Education Reform Act von 1988, heftige Diskussionen gegeben, aber auch selbstkritische Überlegungen in der Religionspädagogik, die nicht zu einer grundsätzlichen Kurskorrektur, wohl aber zu Spezifizierungen und Differenzierungen im Konzept geführt haben. Mit Werner Haußmann zusammen habe ich 1989, am Anfang seiner Zeit als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl, die Entwicklung in England und Schottland durch eine Autoreise zu Universitäten, Colleges und den Kolleginnen und Kollegen jenseits des Kanals direkt vor Ort studieren können. Es sollte der Auftakt zu Haußmanns Doktorarbeit über einen Vergleich der Religionspädagogik in England und Deutschland sein. Wir besuchten die religionspädagogischen Institute in London, Birmingham, Coventry, Lancaster, Glasgow und Edinburgh und blieben von da an in Kontakt besonders mit Robert Jackson an der University of Warwick in Coventry, John Hull und Michael Grimmith in Birmingham, Brian Gates und John Shepherd in Lancaster. Wir besuchten auch Schulen und erlebten konkreten Unterricht. Eine sehr bezeichnende Erfahrung interreligiösen Lernbemühens erlebten wir in einer ländlichen Grundschule in Schottland: Gina Davis, die Rektorin, vermittelte ihren Kindern erste Vorstellungen über verschiedene Religionen. Um den Unterricht anschaulich zu machen, hatte sie ein Schülerheft erstellt. Es trug den Titel: Houses without Bedrooms (Häuser ohne Schlafzimmer) und enthielt Bilder sowie Skizzen religiöser Gebäude: Kirche, Moschee, Synagoge, hinduistischer Tempel, … – Alle Schülerinnen und Schüler gehörten wie die Lehrerin der evangelisch-reformierten Church of Scotland an. – Als die Eltern die Lehrerin fragten, warum sie mit den Kindern so etwas Exotisches behandle wie fremde Religionen, antwortete sie: »Ihr lebt doch mit euren Kindern auf dem Lande. Einmal in der Woche kauft ihr im Supermarkt ein. Mit Geld brauchen eure Kinder nicht umzugehen. Aber ihr legt Wert darauf, dass wir in der Schule mit den Kindern auch den Umgang mit Geld üben. Denn in ihrem zukünftigen Leben werden sie das garantiert brauchen. – Genauso ist es mit den verschiedenen Reli-

gionen. Sie werden zur künftigen Lebenswelt eurer Kinder gehören, und die Kinder müssen etwas darüber wissen, auch wenn sie ihnen jetzt noch nicht begegnen.«

Der Austausch mit der Religionspädagogik in der Türkei entwickelte sich aus der Curriculumarbeit in Nordrhein-Westfalen, zu der Kerim Yavuz und vor allem Beyza Bilgin von der Theologischen Fakultät in Ankara als Berater eingeladen wurden. Eine weitere direkte Begegnung ergab sich 1985 bei einer Dialogreise der Arbeitsgruppe Zusammenleben mit Muslimen der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Islamisch-Theologischen Fakultäten in der Türkei. Seitdem sind die religionspädagogischen Kontakte besonders zwischen der Theologischen Fakultät Ankara und dem Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts in Nürnberg nicht abgerissen. Während beim zweiten Nürnberger Forum 1985 Rotraud Wielandt noch gleichsam ›von außen‹ über Zeitgenössische islamische Religionspädagogik in der Türkei referierte, waren bei den folgenden Nürnberger Foren – also von 1988 an – durchgängig Religionspädagoginnen und -pädagogen aus der Türkei mit eigenen Beiträgen vertreten. Dabei hatte Rotraud Wielandt schon gezeigt, wie vielperspektivisch sich eine moderne Religionspädagogik in der Türkei anbahnte – wie etwa Beyza Bilgin als führende Denkerin in diesem Feld für einen problemorientierten Religionsunterricht eintrat: Wichtig sei, die Lebensfragen der Kinder ernst zu nehmen – und sie nicht einfach von einem vorgegebenen Lehrsystem her zu belehren.

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 Kein Weltfriede ohne Religionsfriede: Hans Küng 1988

Die ›Wende‹ · Religionspädagogik in Leipzig · Weltreligionen und Friedenserziehung · Konziliarer Prozess und interreligiöser Dialog · WCRP-Weltversammlung in Melbourne · Gründung der Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden · Interreligiöser Dialog mit Fernost

In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre bahnten sich Umbrüche an, die sich als besonders folgenreich erweisen sollten, kulminierend in der Wende in der DDR und dem Ende des krassen Ost-West-Gegensatzes. Gleichzeitig war zu ahnen, dass die Religionenthematik neue Brisanz erreichen würde. Ein neuer intensiver Kontakt nach ›drüben‹ ergab sich, als ich den jungen evangelischen Theologen Heiner Aldebert, den ich im Vikarsexamen in Ansbach geprüft hatte, zu einer Doktorarbeit anregte. Während ich zunächst an ein Thema aus dem Bereich interreligiösen Lernens dachte, erfuhr ich von ihm, dass er mehrfach mit Theologie-Studierenden aus der Bundesrepublik und aus der DDR Seminare in Drittländern – also z. B. Ungarn – durchgeführt hatte. Er hatte Interesse, seine Dissertation über die Christenlehre in der DDR zu schreiben – ein religionspädagogisches Modell, das die Kirchen in der DDR in ihrem säkular-atheistisch geprägten Umfeld entwickelt hatten. Wir nahmen Kontakte mit Religionspädagogen in der DDR auf und konnten – auf dem ›Kurier-Weg‹ – Gutachten von ihnen erhalten, dass eine solche Arbeit auch aus ihrer Sicht für den theologisch-religionspäda­gogischen Austausch willkommen wäre. Auf dieser Basis erhielt Heiner Aldebert ein Promotionsstipendium und erschloss sowohl die Geschichte der an die Stelle des Religionsunterrichts getretenen Christenlehre als auch ihre aktuelle Entwicklung, in der die DDR-Kirchen versuchten, dem Weg einer ›Kirche im Sozialismus‹ pädagogisch gerecht zu werden. Er war wiederholt vor Ort, besonders im Kreis Güstrow, um Christenlehre auch praktisch zu erleben, und beschrieb die kirchlich-pädagogischen Bemühungen auf den verschiedenen Ebenen der einzelnen Gemeinden, der Kirchenkreise und der Kirchenleitung. Er verfolgte die Spuren der Säkularisierungs-Theologien, besonders die ›nichtreligiöse‹ Interpretation Dietrich Bonhoeffers, in der DDR, aber auch die Anstrengungen, kirchlicherseits etwas zur Friedenserziehung beizu-

tragen, wobei die Bemühungen um Dialog von Seiten der staatlichen Volksbildung immer wieder abgelehnt wurden. Dieter Reiher aus Ost-Berlin, Herausgeber der einzigen religionspädagogischen Zeitschrift in der DDR, der Christenlehre, der beim dritten Nürnberger Forum 1988 dieses Bemühen und das Spannungsfeld, in dem sich christliche Erziehung in der DDR befand, plastisch beschrieb, konnte nicht ahnen, dass er zwei Jahre später als Staatssekretär im Bildungsministerium der letzten DDR-Regierung wieder nach Nürnberg kommen würde. Als Heiner Aldeberts Arbeit 1990 erschien, war sie in mancher Hinsicht schon historisch; aber von allen Rezensionen wurde hervorgehoben, dass die Erfahrungen religiöser Lernbemühungen in säkular-atheistisch geprägtem Umfeld auch für die Zukunft religiöser Bildung von Relevanz seien. Wir verfolgten in unserer Familie die aufregenden Entwicklungen im Sommer und Herbst 1989 mit großer Anteilnahme. Beim Kirchentag in Berlin, bei dem ich eine Gebetsstunde der Religionen mitgestaltete, besuchten wir unseren Freund Michael Petzoldt in Ostberlin und waren noch etwas in Angst, als wir mit ihm einen ungenehmigten Ausflug ins Berliner Umland machten. Im Oktober besuchte Susanne mit einer Delegation unserer Nürnberger Auferstehungskirchengemeinde die Partnergemeinde in Gotha und wurde in die erste regimekritische Demonstration mitgenommen – begleitet von zwei dortigen Gemeindegliedern am Ende des Zuges, dem ein Polizeijeep mit abgedunkelten Fenstern folgte. Bei der Versammlung in der Kirche kam es dann zu Schuldbekenntnissen für missachtete Menschlichkeit, Wahrheit und Aufrichtigkeit. Vom Abend des 9. November, als die Nachricht vom Durchbruch der Berliner Mauer kam, wissen wohl alle, wo und wie sie ihn verbracht haben. Wir hatten uns schon zeitig hingelegt, als meine Mutter an unseren Betten stand und unter Tränen sagte: »Die Mauer ist gefallen!« Am nächsten Morgen klingelte es, und ein befreundetes junges Paar aus dem Südharz stand vor der Tür: Sie hatten sich ein Motorrad geliehen, waren nach Göttingen gefahren und per Zug nach Nürnberg gereist. Wie oft hatten wir bei unseren Fahrten nach Italien gedacht: Wenn unsere Freunde aus der DDR nur erleben könnten, wie leicht wir hier über die Grenzen fahren! Es folgten die aufregenden Monate bis zur Wiedervereinigung – mit all den Unsicherheiten, die damit verbunden waren. Wie heterogen die Situation von Lehrkräften und künftigen Pfarrern im Blick auf religiöse Erziehung und Religionsunterricht nach der Wende war, erlebte ich, als ich vom Kollegium der Kirchlichen Hochschule Leipzig – dem früheren Theologischen Seminar, an dem wir in den 60er-Jahren die geheimen Messeseminare gehalten hatten – gebeten wurde, im Sommersemester 1991 einen ersten religionspädagogischen Lehrauftrag wahrzunehmen. Im

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Wechsel mit meinem Freund und Kollegen Gerhard Lindner fuhr ich alle vierzehn Tage nach Leipzig. Wir boten zwei Seminare zum religionspädagogischen Umgang mit einem zentralen theologischen Thema – Die Jesusthematik im Unterricht – und zu exemplarischen ethischen Themen – anhand der Zehn Gebote – an. Im kleinen Kreis der zehn Teilnehmenden trafen Studierende der Hochschule, denen auf Grund ihrer christlichen Einstellung ein Universitätsstudium verweigert worden war, und junge, im DDR-Bildungssystem sozialisierte Pädagogen und Pädagoginnen, für die die Seminare geöffnet worden waren, aufeinander. Es war ein zunächst mühsamer Lernprozess auf beiden Seiten, da man in dieser Konstellation vorher noch nie zusammen gewesen war und wechselseitig entsprechende Vorbehalte hatte. Aber die konkrete Auseinandersetzung mit den Lerninhalten führte letztlich zu produktiven Diskursen – als z. B. eine Junglehrerin, bewusste Atheistin, über Gerd Theißens spannendes Buch Der Schatten des Galiläers mit seiner induktiven Art, die Jesusgeschichte zu erschließen, referierte. Welche Herausforderung es bedeutete, dem Religionen-Thema wieder einen angemessenen Ort in der Schule zu geben, wurde uns mehr als deutlich. Dass viel Geduld und langfristiges Arbeiten und Entwickeln nötig wurde, erfuhren wir in ähnlicher Weise wie beim Aufbau islamischen Religionsunterrichts. Schwierig war auch die Zusammenführung von Kirchlicher Hochschule und Theologischer Fakultät in Leipzig, da zwei theologische Hochschuleinrichtungen an einem Standort nicht länger zu halten waren. Die Fakultät berief sich auf ihre Wissenschaftstradition, die Hochschule auf ihre Verankerung in der Kirche, mit der sie gegenüber der staatlich-ideologischen Beeinflussung weitgehend frei geblieben war. Als man sich absolut nicht einigen konnte, wurde eine Kommission mit je drei von der Fakultät und drei von der Hochschule vorgeschlagenen externen Theologie-Professoren eingesetzt, und ich wurde gebeten, den Vorsitz zu übernehmen. Es gelang uns, in nur einem Vierteljahr ein Fakultäts-Modell zu entwerfen, in dem die Kompetenzen der beiden Einrichtungen so verteilt waren, dass – bis auf zwei stasibelastete Mitglieder – alle Dozierenden übernommen werden konnten. Tat man sich anfangs schwer miteinander, so hat sich doch im Laufe der folgenden Jahre ein gut kooperierender Lehrkörper entwickelt, und die Fakultät hat wissenschaftlich – etwa in der Liturgik und in der Bachforschung, aber auch in der Religionspädagogik – ein überregional anerkanntes Profil gewonnen. Mitten in diese Umbruchszeit fiel das dritte Nürnberger Forum 1988. Hier haben wir mutig einen sehr weiten Rahmen ins Auge gefasst: »Weltreligionen und Friedenserziehung. Wege zur Toleranz. Der Tagung lag die doppelte Erkenntnis zugrunde:

ȤȤ dass die Religionen in der Friedensforschung bis dahin nur unzureichend berücksichtigt wurden, ȤȤ dass die großen Religionsgemeinschaften erst ganz am Anfang stehen, die zwischen ihnen bestehenden Konflikte pädagogisch aufzuarbeiten. Dabei war schon damals offenkundig, dass in den meisten aktuellen Weltkonflikten auch der religiöse Faktor eine Rolle spielte. Es gelang, Hans Küng für den Eröffnungsvortrag zu gewinnen. Ich hatte schon lange seine theologischen Arbeiten mit Faszination verfolgt: seine berühmt gewordene Dissertation zur Theologie Karl Barths unter dem Thema Rechtfertigung, seine Arbeit über Kirche und Wiedervereinigung, in der er die Themen entfaltete, mit denen sich dann das Zweite Vatikanische Konzil auseinandersetzte, seine Bücher Christsein und Existiert Gott? Als ihm 1979 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen wurde, wohl vor allem wegen seiner Anfrage zur ›Unfehlbarkeit‹, war ich entgeistert. Hier war doch ein Theologe, der die Fundamentalia des christlichen Glaubens einer breiten, auch säkular religionskritischen Öffentlichkeit plausibel machen konnte! Umso mehr habe ich dann anerkannt, dass Küng sich nicht zurückzog, sondern von seinem Ökumene-Institut in Tübingen aus die ›weitere Ökumene‹, die bewohnte Erde insgesamt, in den Blick nahm und begann, gleichsam als Weltbürger auch dem Religionen-Dialog neue Impulse zu geben. Auf der Basis von Dialogvorlesungen mit seinen religionswissenschaftlichen Kollegen Josef van Ess (für den Islam), Heinrich von Stietencron (für den Hinduismus) und Heinz Bechert (für den Buddhismus) entstand das Buch Christentum und Weltreligionen, das sich als Hinführung zum Dialog mit Islam, Hinduismus und Buddhismus darbot. Küng eröffnete das Forum mit der bekannt gewordenen These »Kein Weltfriede ohne Religionsfriede« – für mich der Beginn einer kontinuierlichen Zusammenarbeit. Dabei war Küng von Anfang an klar, dass Konflikte ebenso wie Frieden in einem komplexen, vielfältigen Faktorenfeld stehen. Aber die religiöse Komponente kann für Konflikt- wie für Friedensbereitschaft ein entscheidender Motor sein, weil mit ihr die tiefsten Empfindungen und Werte der Menschen angesprochen werden. Küng hat dann auch nicht für harmonistische Lösungsversuche plädiert, sondern ist für einen ökumenischen Weg zwischen Wahrheitsfanatismus und Wahrheitsvergessenheit eingetreten. Das ist ein Weg, der die Wahrheit der anderen sieht und ernst nimmt und dabei die eigene Wahrheit nicht aufgibt. Das ist ein Weg, der die Selbstkritik jeder Religion im Blick auf die eigene Geschichte einschließt. Das ist ein Weg, auf dem sich die Religionen kooperativ den Herausforderungen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Lebensgrundlagen

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stellen. Das Doppelgesicht der Religionen als Unheilsverstärker aus fanatischen Motivationen heraus, als Ressourcen für die großen friedensstiftenden Gestalten des 20. Jahrhunderts – Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Martin Luther King u. a. – wurde von ihm analysiert und systematisch auf das Spannungsfeld von Glaubensbewahrung und Friedensbemühung bezogen, verbunden mit dem Plädoyer für einen Paradigmenwechsel von der eurozentrischen zu einer polyzentrischen pluralistischen und transkulturellen Welt. Da er das Manuskript wegen seiner Verlagsbindung nicht einfach freigeben konnte, fanden wir den Weg, dass ich den Vortrag für die Publikation des Forumsbandes zusammenfassen und von ihm autorisieren ließ.2 Hans Werner Gensichen, Missionswissenschaftler von der Universität Heidelberg, stellte komplementär dazu dar, dass keine der großen Religionen als die überlegene Friedensreligion bezeichnet werden kann, dass aber auch keine als bedingungslos militant, aggressiv, friedensfeindlich hinzustellen ist. Jede lässt erkennen, dass sie mindestens potentiell einen Weg vom persönlichen inneren Frieden des Herzens zur tätigen Überwindung von Aggressionen zu zeigen vermag. Smail Balic aus Wien (mit bosnischem Hintergrund) hat – als Vordenker eines modernen Islam – diese Ambivalenz am Begriff des Dschihad durchbuchstabiert, indem er der unzulässigen Übersetzung als ›Heiliger Krieg‹ den Dschihad als Anstrengung für den Frieden entgegenstellte. Beyza Bilgin aus Ankara stellte programmatisch ›das Prinzip Liebe‹ als Herzstück islamischer Erziehung in den Mittelpunkt. Sie war die erste Freitagspredigerin in der Türkei, mit ihren religiösen Erzählungen für Kinder im Rundfunk präsent – und konnte später nicht zu Unrecht den »Preis für die Frau mit dem mutigen Herzen« vom türkischen Journalistenverband entgegennehmen. Im Herbst 1988 war es auch, als ich vom Generalsekratariat der Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (World Conferenc on Religion and Peace/ WCRP) in Genf angefragt wurde, ob ich als Delegierter aus Deutschland an der fünften WCRP-Weltversammlung in Melbourne/Australien, vor allem als Experte für Friedenserziehung durch die Religionen, teilnehmen und mitwirken würde. Die evangelisch-lutherische und die reformierte Kirche Bayerns unterstützten mich, indem sie Zuschüsse für die Flugreise gaben. Und so flog ich im Januar 1989 – zwei Tage und zwei Nächte – nach Südosten über die Kontinente, zusammen mit meinem Kollegen Norbert Klaes aus Würzburg, der mir als Moderator von WCRP Europa die Insider-Kennt2 H. Küng: Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Ökumenie zwischen Wahrheitsvergessenheit und Wahrheitsfanatismus. In: J. Lähnemann (Hg.): Weltreligionen und Friedenserziehung. Schwerpunkt: Christentum – Islam. Rissen 1989 = Pädagogische Beiträge zur Kulturbegegnung 7, 146–152.

nisse über die interreligiöse Bewegung vermittelte, die ich für den Einstieg auf der internationalen Ebene brauchen konnte. Er erzählte mir auch von dem langen Weg, den die Bewegung schon zurückgelegt hatte: Im Jahr 1970 waren erstmals 300 Vertreterinnen und Vertreter der Religionen aus vielen Teilen der Welt in Kyoto zusammengekommen. Dahinter stand ein langjähriges Bemühen, das vor allem von Indien, den USA und Japan ausgegangen war. In Japan hat die schreckliche Erfahrung der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg dazu geführt, dass die verschiedenen Religionsgemeinschaften nach Wegen gemeinsamen Wirkens suchten. Dabei standen die Menschenrechte von Anfang an mit im Blickpunkt, wie aus der ersten großen interreligiösen Erklärung, die in Kyoto verabschieden wurde, deutlich wird3: Wir fanden, dass wir gemeinsam besitzen: −− die Überzeugung von der grundlegenden Einheit der menschlichen Familie, von der Gleichheit und Würde des Menschen; −− ein Bewusstsein für die Unantastbarkeit des Einzelnen und seines Gewissens; −− ein Bewusstsein für den Wert der menschlichen Gemeinschaft; −− die Erkenntnis, dass Macht nicht gleich Recht ist; dass menschliche Macht sich nicht selbst genügen und sich nicht absolut setzen darf; −− den Glauben, dass Liebe, Mitleid, Selbstlosigkeit und die Kraft des Geistes letztlich größere Macht haben als Hass, Feindschaft und Eigeninteressen; −− ein Bewusstsein für die Ver­pflichtung, an der Seite der Armen und Bedrückten zu stehen; −− die grundlegende Hoffnung, dass letztlich der gute Wille siegen wird.

Für die zweite Weltversammlung in Löwen/Belgien hatte Maria Lücker, große Vorkämpferin für WCRP in Deutschland, im Vorfeld das Buch Religionen, Frieden, Menschenrechte herausgegeben. Dabei war es in den Zeiten des Kalten Krieges immer schwierig, konkrete Menschenrechtsverletzungen in den Erklärungen direkt zu benennen, besonders für die Teilnehmenden aus den sozialistischen Staaten, die bei zu konkreten Anklagen Repressalien in ihren Heimatländern befürchten mussten. Die dritte Weltversammlung hatte 1979 in Princeton/USA stattgefunden, in der Nähe der Vereinten Nationen, wo WCRP inzwischen als NGO akkreditiert war. Es gab eine Einladung ins Weiße Haus, wo die Teilnehmenden von Präsident Jimmy Carter empfangen wurden. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf dem Thema der nuklearen Abrüstung, 3 Übersetzung nach H.A. Jack: WCRP: A History of the World Conference on Religion and Peace. New York 1993, 438.

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Die vierte Weltversammlung fand 1984 erstmals in Afrika statt, und zwar in Nairobi/Kenia. Erzbischof Desmond Tutu konfrontierte die Delegierten mit der Realität der Apartheid in Südafrika und mit der Notwendigkeit, dieser durch interreligiöse Kooperation zu begegnen. Die fünfte Weltversammlung, zu der ich nun reiste, wurde dann auf dem fünften Kontinent abgehalten. Ich konnte dort die Aufgabe der Friedenserziehung durch die Religionen in einem eigenen Kommissionsbereich thematisieren. Ein besonderer Akzent lag in Melbourne auch auf der Teilnahme von Aborigines und damit auf der Berücksichtigung der indigenen Religionen. Ich erlebte aber auch bereits den Spannungsrahmen, in dem die Interreligiöse Bewegung sich immer wieder befindet, und kann das an zwei Ereignissen im Kontrast festmachen: Früh am Sonntag Morgen, dem 28. Januar 1989, versammelten sich die 600 Teilnehmenden der Konferenz – aus insgesamt 17 Religionen und allen Erdteilen – am Strand des südlichen Ozeans in Mornington. Alle verrichteten die Morgenandacht in ihrer besonderen Tradition: Buddhistische Nonnen waren still in Meditation versunken, neben ihnen Hindus. Juden rezitierten leise in Hebräisch aus den Psalmen, Christen hatten in Andacht die Hände zum Gebet gefaltet. Als die Morgensonne langsam den Weg über das Wasser fand, stiegen zwei Angehörige der Jain-Religion aus Indien in ihren weißen Gewändern in die Fluten und verrichteten im Angesicht der Sonne ihr Morgengebet. – Ich selbst nahm mein kleines Horn und blies im Hintergrund zwischen den Bäumen den Choral Morgenglanz der Ewigkeit von Christian Knorr von Rosenroth, der mit seinen von Strophe zu Strophe wechselnden Bildern der Transzendenz gleichsam ein interreligiöser Choral ist. Pastor Johannes Achilles, damals lutherischer Geistlicher der deutschsprachigen Gemeinde in Melbourne, schrieb später in einem Bericht über die Konferenz: »Es lag ein Hauch von Ewigkeit über dieser Morgenstunde.« Das Gegenteil erfuhr ich bei der ersten Plenumssitzung der Konferenz: Als zu Beginn der Pause ein buddhistischer US-Amerikaner ans Pult trat und eine Friedensbotschaft des Dalai Lama vorlas – gemäßigt, klug, auch ökologische Herausforderungen benennend –, rissen die chinesischen Delegierten, als sie sie hörten, die Kopfhörer aus ihren Ohren und drohten, die Konferenz zu verlassen. John Taylor, Generalsekretär von WCRP, rief daraufhin die Teilnehmenden auf, nur Erklärungen vorzutragen, die mit der Konferenzleitung abgestimmt waren. Natürlich war es eindrücklich, mit weltweit religiös führenden Persönlichkeiten zusammenzukommen. Erzbischof Desmond Tutu war dabei, Kardinal Arinze als Präsident des vatikanischen Rates für den interreligiösen Dialog, Inamullah Khan, Generalsekretär des muslimischen Weltkongresses und viele

andere. Die Ambivalenz der Religionen in den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten, in denen sie leben, das mühsame Geschäft einer nicht nur oberflächlichen Verständigung, die Aufgabe, spirituellen Reichtum zu teilen und doch auch Verschiedenheit zu achten und sich auf die konkreten Bedingungen des Zusammenlebens einzulassen – das alles war hier hautnah zu erfahren. Sich mit einem Pastor der lutherischen Kirche von Brasilien auszutauschen, der vor Ort gegen die den einfachen Bauern und der Natur angetane Gewalt kämpfte, oder mit Vertreterinnen der GandhiPeace-­Foundation, die in verschiedenen Gebieten Indiens mit den untersten Kasten oder sogar Kriminellen an der Landentwicklung arbeiten, mit dem buddhistischen Leiter eines interreligiösen Begegnungs- und Forschungszentrums in Bangkok oder mit Kämpfern in Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung: es war deswegen so inspirierend, weil sie alle aus der spirituellen Verwurzelung in ihren Traditionen die Kraft für ihr Engagement schöpften. Das Gesamtmotto der Konferenz – Building Peace through trust/Frieden bauen durch Vertrauen – war auch Leitmotiv für die Thesen, die ich für die Kommission vorbereitet hatte, die Vertrauen bilden durch Gewaltlosigkeit und Friedenserziehung als Thema hatte. Sie waren durch das Generalsekretariat von WCRP vorher verschickt worden. Im Kommissionsbericht, der aus den Diskussionen erwuchs, wird beschrieben, was Vertrauen bedeutet: Freiheit von Furcht vor anderen, vor Lebensbedrohungen, Offenheit für andere, andere als Bereicherung des eigenen Lebens wahrnehmen können. Es wird umrissen, in welcher Weise Religionen Vertrauen vermitteln und den Widerständen gegen Vertrauensbildung entgegenwirken können. Der Weg der Gewaltfreiheit wird als positiver, aktiver, dynamischer Weg beschrieben, und es wird zum bewussten Training der Methoden gewaltfreier Aktion aufgerufen. Im Blick auf die Erziehung in Schulen, Familien und Religionsgemeinschaften wird die Priorität eines Liebe und Zuwendung vermittelnden Umgangs mit den heranwachsenden jungen Menschen hervorgehoben, woraus überhaupt erst Vertrauen für neue Formen der Begegnung erwachsen kann. Konkret wird die Bildung von internationalen Kommissionen angeregt, die Schulbücher, Lehrpläne und Lehrerausbildungsprogramme daraufhin prüfen sollen, welches Bild sie von den verschiedenen Religionen und Kulturen vermitteln, wie auf diesem Wege Missverständnissen und Vorurteilen entgegengewirkt werden kann. Andererseits sollen positive Erfahrungen und Modelle dokumentiert werden und durch ihre Weitergabe die erzieherische Praxis angeregt werden. Damit waren auch Leitlinien beschrieben, die meine weitere interreligiös-internationale pädagogische Arbeit bestimmen sollten. Beten und Tun des Gerechten – dieses Motto von Dietrich Bonhoeffer kennzeichnet das Bemühen, das sich hier artikuliert, wohl am besten. Am Ende

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des schon beschriebenen Gebetstreffens am Strand von Mornington gab mir Erzbischof Angelo Fernandes aus Neu Delhi, erster Präsident von WCRP, sein Gebet in die Hand, mit dem das Treffen endete. Ich habe es ins Deutsche übersetzt, und es ist zu einem ›Grundgebet‹ geworden, dass bei unseren Gebetsstunden der Religionen in Deutschland immer wieder vorgetragen wurde: O Herr aller, der du jede Bemühung um ein besseres Verständnis, um gegenseitiges Annehmen und um weltumfassende Solidarität inspirierst und segnest, wir danken dir für den Glauben, den du uns geschenkt hast, und für die Wegleitung durch dein Wort, das wir in dieser Gottesdienststunde neu gehört haben.   Reinige uns und unsere religiösen Traditionen von allen Spuren der Enge und Intoleranz; schenke immer mehr Menschen, besonders jungen Menschen, deinen Geist, dass sie sich denen anschließen, die für den Frieden arbeiten. Stehe ihnen bei, dass sie – über alle Grenzen und über alle selbstsüchtigen Ziele und Interessen hinaus – ein Bewusstsein von der Einheit der

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Menschenfamilie entwickeln und eine verantwortliche Gemeinschaft aufbauen.   Insbesondere bitten wir dich: Schenke uns allen eine tiefe Glaubenserfahrung, die uns weiter zu dir bringt als zu der Quelle der Wahrheit und Güte. Pflanze uns ein umfassendes Bewusstsein ein von der unerträglichen Bürde der Armut, die Millionen unserer Schwestern und Brüder tragen müssen, von der immer größer werdenden Schere zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre und von dem dämonischen Streben nach Massenvernichtungswaffen.   Entfalte in uns einen größeren Geist persönlicher und gemeinschaftlicher Verantwortung, damit die Schätze der Erde – statt für die Zerstörung unseres Planeten – in kluger Anwaltschaft und in einer lodernden Flamme uns gemeinsam umschließender Liebe dazu genutzt werden, die Menschen der Erde in Freiheit, Freundschaft, Gerechtigkeit und Frieden zusammenzuführen.

Die Vorbereitung der Reise nach Melbourne war für mich auch Anlass, über die interreligiöse Arbeit in Nürnberg nachzudenken. Zudem war im August 1988 bei einem interreligiösen Treffen in Mainz die deutsche Sektion von WCRP gegründet worden. Beteiligt waren mit mir aus Nürnberg Jürgen Kuhlmann und Christine Herrmann-Wielsch. Ich wurde in den deutschen Vorstand gewählt, dessen Vorsitz seither Franz Brendle wahrnimmt. Schnell war das gemeinsame Anliegen deutlich, auch in Nürnberg aktiv zu werden. Christine Herrmann-Wielsch und ihr Mann Holger – Religionswissenschaftler und Medien-Fachmann – wurden die engsten Mitarbeiter beim Aufbau der Nürnberger Gruppe. Ich schrieb die Leiterinnen und Leiter der Religionsgemeinschaften in Nürnberg an mit der Bitte, mir jeweils einen Vertreter/ eine Vertreterin ihrer Glaubensgemeinschaft für die aufzubauende örtliche Arbeit von WCRP zu benennen. So kam es, dass sich im November 1988

17 Persönlichkeiten in unserem Wohnzimmer einfanden – der Anfang der kontinuierlichen interreligiösen Arbeit in Nürnberg. Seitdem haben wir uns in Nürnberg im Schnitt wenigstens einmal monatlich getroffen, uns besucht in den Räumen der Religionsgemeinschaften, den Dialog gepflegt und Kooperationen aufgebaut, zum Austausch untereinander, zur wechselseitigen Unterstützung und zur Vertretung religiöser Anliegen in der Öffentlichkeit. Dieses Zusammenwirken hat meinem interreligiösen Wirken die nötige praktische Basiserfahrung vermittelt. Kennzeichnen lassen sich die interreligiösen Lernprozesse vor Ort am besten mit den Begriffen ›Begegnung – Verständigung – Kooperation‹ als drei wesentlichen Schritten des Dialogs, die ich im Anschluss an unsere Nürnberger Erfahrungen hier einmal zusammenhängend entfalten möchte. Es ist ein Dialog von Kopf bis Fuß: Die intellektuelle Verständigung gehört ebenso dazu wie das ›Sich-auf-den-Weg machen‹. Begegnung bedeutet: Hingehen zum anderen, gegenseitig zu Gast sein, gegenseitige Wahrnehmung des gelebten Glaubens und der Chancen und Probleme, ihn in unserer Gesellschaft zu praktizieren. Begegnung im eigentlichen Sinne ist mehr als die bloße Wahrnehmung der religiösen Vielfalt. Bei wirklicher Begegnung öffne ich mich dem anderen. Ich bemühe mich, ihn kennenzulernen mit seinen Lebens- und Glaubenserfahrungen. Ich nehme wahr, was mir fremd ist, aber auch, was mich überraschend anspricht, und erkenne, wo ich selbst befragt werde und meine Glaubensgemeinschaft befragt und hinterfragt wird. Das ist mehr als ein Nebeneinanderleben oder nur der freundliche Austausch von guten Wünschen anlässlich religiöser Feste, so wichtig solche Zeichen auch sind. Wo interreligiöse Konflikte aufbrechen – und das gilt für viele Länder –, hat dieser erste Schritt des Dialogs zumeist nicht stattgefunden. Nur so können pauschalisierte Vorstellungen über den anderen genährt und zu Fanatismen missbraucht werden. Und umgekehrt: Durch das Gegenseitig-zu-Gast-Sein kann ein Vertrauen erstehen, das ein Gespräch ohne die Angst, übervorteilt oder in die Ecke getrieben zu werden, möglich macht. Verständigung: Der geistige Austausch ist die wichtige zwe­ite Ebene des Dialogs. Er hilft, die verschiedenen Glaubenssysteme in ihrem Gesamtzusammenhang zu verstehen, Vorurteile und Missverständ­nisse zu erkennen und abzubauen, wahrzunehmen, was uns verbindet und was uns unterscheidet, wo wir im Spirituellen voneinander lernen und wo wir in praktischen Aufgaben miteinander handeln können. Das durch die Begegnung gewachsene Vertrauen kann helfen, problematische Gesprächshaltungen zu überwinden: dass wir nicht in einer abwehrenden Verteidigungshaltung, nicht mit einem besserwisserischen Bekehrungseifer, aber auch nicht positionslos auftreten.

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Alle drei Haltungen haben wir auch in unserer Nürnberger WCRP-Gruppe erlebt. Je fremder einem eine Religionsform ist, je aggressiver sie erscheint, desto ängstlicher und eifriger ist man dabei, das eigene Wahrheitsbewusstsein zu demonstrieren. Die Besserwisserei ist eine Untugend im Dialog, die das Gespräch immer besonders erschwert – vor allem, wenn die Angehörigen einer Religion den Anhängern einer anderen zeigen wollen, was sie eigentlich glauben müssten. Aber auch das Verstecken der eigenen Position erleben wir nicht selten, wenn man sich den Argumenten der anderen nicht gewachsen fühlt oder wenn man aus Schuldgefühlen den anderen gegenüber, die man z. B. als Opfer der Kolonialgeschichte sieht, die eigene Überzeugung, die eigene Tradition nicht deutlich hervorzukehren vermag – etwas, was ich besonders auf der protestantischen Seite häufig erlebt habe. Wir sollen im Dialog durchaus als überzeugte und überzeugende Vertreter unseres Glaubens auftreten; nur dann wird sich unser Gegenüber wirklich ernstgenommen sehen. Es lassen sich schwerpunktmäßig drei Aufgabenstellungen der Verständigung unterscheiden: 1. die gegenseitige Entfaltung der Konturen des jeweiligen Glaubens; 2. die Herausarbeitung von Verbindendem, Unterscheidendem und Trennendem in den Religionen (und warum es uns verbindet, unterscheidet, trennt); 3. die Fruchtbarmachung der jeweiligen spirituellen und ethischen Grundlagen für uns alle betreffende Themen und Herausforderungen. Zu 1: Die gegenseitige Entfaltung der Glaubensgrundlagen setzt am besten bei der Begegnung an: Kirche, Moschee, Synagoge, Hindutempel, buddhisti­ scher Meditationsraum sind sichtbare und sprechende Glaubenszeugnisse. Der Sinn von Symbolen führt, selbst beim muslimischen und reformierten Bilderverbot, mitten in das Glaubensverstehen einer Religionsgemeinschaft hinein. Gerade Muslimen, für die ihre Pflichten deutlich erkennbarer Ausdruck ihres Glaubensvollzugs sind, fragen nach den sichtbaren Aus­drucksformen des Christentums und finden über die dazugehörenden Geschichten und Deutungen am ehesten einen Zugang zu den Inhalten des christlichen Glaubens: Kreuz, Altar, Kanzel, Taufstein verdeutlichen ebenso Zentrales dieser Inhalte wie Gebetsnische, Gebetsteppich, Predigtkanzel (Minbar) und die Schriftzeichen für Allah und Mohammed in der Moschee. Vertieft wird diese Form der Glaubensentfaltung, wenn wir beginnen, Zentraltexte der jeweiligen Religion zu lesen und sie uns gegenseitig zu interpretieren. Freilich setzt das voraus, dass wir die heiligen Schriften der anderen

nicht von vornherein aus dogmatischen Gründen abqualifizieren, sondern dass wir bereit sind, die Inhalte sprechen zu lassen und sie im Resonanzraum der jeweiligen Glaubensgemeinschaft zu hören. Das Bibliodrama mit Juden, Christen und Muslimen, wie es Heiner Aldebert erprobt hat, ist dafür eine besonders gute Schule. Zu 2: Die interpretierende Entfaltung von Zentraltexten der Glaubensgemeinschaften führt uns unmittelbar hinein in den theologischen Dialog: Wir entdecken, wo und wie in den verschiedenen Religionen von Gott und vom Menschen, vom Auftrag für den Menschen und von seiner Verfehlbarkeit, von Sünde und Erlösung, von Verantwortung für das Zusammenleben in Familie, Gemeinde, Gesellschaft und für die Umwelt die Rede ist. Vergleichbare Offenbarungsaussagen, vergleichbare Fragen und Erfahrungen werden hier ebenso sichtbar wie unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, Differenzen und Unverein­barkeiten. Wir entdecken den Strom der Schö­pfungstheologie, der die monotheistischen Religionen (also Judentum, Christentum, Islam, Baha’itum) verbindet, mit seinen weitreichenden Konsequenzen für den Auftrag an den Menschen und seine soziale und ökoethische Verantwortung. Wir entdecken die wesentlichen Unterschiede zu den ›Religionen des ewigen Weltgesetzes‹ (Hinduismus, Buddhismus) mit ihren Vorstellungen vom Kreislauf der Welten und des Lebens. Wir finden als Verbindendes in allen großen religiösen Traditionen die Sicht des Menschen, der sich verfehlt, wenn er ›in sich verkrümmt‹, nur auf sich und seine egoistischen Interessen bezogen ist und nicht in ›Rück-Bin­ dung‹ (religio) auf ein seine Grenzen überschreitendes Absolutes, von dem her ihm Sinn und Orientierung zukommt, lebt. Unterscheidendes und Unvereinbares (z. B. zur Bedeutung der Person Jesu: Jesus als zentrale Heilsgestalt im Christentum, als eine vieler möglicher göttlicher Manifestationen im Hinduismus, als Prophet im Islam. Oder: die Bezo­genheit auf ein Weltziel Gottes in den monotheistischen Religionen gegenüber dem Ziel des Freiwerdens aus dem Kreislauf der Wiedergeburten in Hinduismus und Buddhismus) wird offen und ehrlich benannt. Es wird aber nicht isoliert und von außen – und d. h. oft mit dogmatischen Vorurteilen – betrachtet, sondern im jeweiligen Sinnzusammenhang der Religion gesehen und verstanden. Insbesondere werden die Motive zur Achtung des anderen, zur nötigen liebevollen Zuwendung gerade zum Fremden in allen Religionen entdeckt, ebenso die Impulse zum gemeinsamen Handeln über die Grenzen der eigenen Gemeinschaft hinweg. Widerstreitende Erscheinungen in der Geschichte der Religionen werden nicht übergangen, sondern einschließlich der geschichtlichen Verletzungen (Kreuzzüge, Türken vor Wien, Kolonialismus) bearbeitet.

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Zu 3: Der Bereich der Verständigung – der Dialog im Blick auf gemeinsame Herausforderungen – dient unmittelbar der Anbahnung von Kooperation zwischen den Glaubensgemeinschaften. Er ist mit den Stichworten des Konziliaren Prozesses – Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung deutlich benannt, noch deutlicher vielleicht mit den Unverrückbaren Weisungen der Weltethoserklärung: ȤȤ der Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben, ȤȤ der Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung, ȤȤ der Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit, ȤȤ der Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau.

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Wenn wir erleben, welchen entsolidarisierenden und Gewalt fördernden Erfahrungen junge Menschen ausgesetzt sind, müssen wir gemeinsam über Aufgaben der Werteerziehung nachdenken. Wenn wir erleben, wie Glaubensschwestern und -brüder hier und anderswo in Minderheitensituationen bedrängt und benachteiligt werden, fordert das unseren gemeinsamen Protest. Wenn wir erleben, wie mit einseitigen und verdrehenden Darstellungen Stimmung für ein Gegeneinander der Kulturen gemacht wird, müssen wir gemeinsam unsere Stimme erheben. Wie die Kooperation vor Ort ansetzen kann, lässt sich wiederum an der Arbeit unserer Gruppe in Nürnberg verdeutlichen. Unmittelbar aus der Begegnung ergab sich das Anliegen, gemeinsam über die Religionsgemein­ schaften in Nürnberg und Umgebung zu informieren, weil so am ehesten Unkenntnis und Missverständnisse überwunden werden können. Das Resultat ist die Broschüre Offene Türen, in der sich (in der 5. Auflage 2017) mehr als 40 Glaubensgemeinschaften mit Texten, Adressen und Fotos selbst vorstellen – auch solche, die nicht bei WCRP/RfP mitarbeiten. Das Motto zeigt den Willen, sich mit dem eigenen Glauben und seiner Praxis nicht abzuschließen, sondern zu öffnen, sich bekannt zu machen und Gastfreundschaft zu üben. Mit diesem unkonventionellen Stadtführer sind inzwischen auch die Nürnberger Schulen ausgerüstet. In anderen Städten – wie in Berlin und Hannover – hat es Nachahmer und ähnliche Bemühungen gegeben. Ein weiterer Bereich sind die wenigstens einmal jährlich veranstalteten Gebetsstunden der Religionen: Menschen aus den verschiedenen Glaubensgemeinschaften kommen zusammen zu Gebeten, Meditationen, Auslegungen, Liedern für den Frieden. Das ist kein gemeinsamer Gottesdienst – jeder

Synkretismus (= Glaubensvermischung) soll vermieden werden; es ist auch keine Werbeveranstaltung für einzelne Religionen – jeder Proselytismus soll ebenfalls vermieden werden. Aber wir sind beieinander zu Gast bei den Gebeten aus den verschiedenen Religionen, wir sind in der Verschiedenheit unserer Traditionen verbunden in der Suche nach Frieden und erfahren so am ehesten etwas von der spirituellen Kraft der verschiedenen Religionen. Besonders fruchtbar ist die Vorbereitung einer solchen Gebetsstunde: wenn Texte aus den Religionen zu einem bestimmten Thema – wie Umkehr, Reinigung des Geistes, Bewahrung des Lebens oder Gastlich zu sein vergesset nicht zusam­ mengestellt werden. Dabei soll der jeweilige Glaube zur Sprache kommen – aber so, dass Andersgläubige nicht verletzt werden, sondern sich in ihrer Verschiedenheit verbunden sehen können vor gemeinsamen Herausforderungen und in gemeinsamen Aufgaben. Es ist nicht zufällig, dass im Zusammenhang mit diesen Gebetsstunden auch gemeinsame Erklärungen verfasst wurden – etwa zum Beginn des Golf­ kriegs oder bei Ausbruch fremdenfeindlicher Aktionen in Deutschland. In ihnen erklärten sich Angehörige der verschiedenen Religionen gegen jeden Missbrauch des Namens Gottes für Krieg, Agitation und Fanatismus und traten ein für die Rechte von Fremden und Minderheiten. In der Stadt, von der einmal die Rassegesetze des Nationalsozialismus ausgegangen sind, ist es ein besonderes Zeichen, wenn sich hier Juden, Christen und Muslime mit den Anhängern der anderen Religionen gemeinsam zu Wort melden. Dass sich in der lokalen Arbeit brennglasartig die Probleme spiegeln, wie sie auch national und international der Bearbeitung bedürfen, zeigt sich schon daran, dass die internationalen Probleme auch bei den Mitgliedern unserer Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden präsent sind: Jede in unserem Kreis vertretene Religionsgemeinschaft weiß von Mitbrüdern und -schwestern, ja kennt sie oft persönlich, die ihres Glaubens wegen in Bedrängnis sind, missachtet, benachteiligt oder sogar verfolgt werden (koptische Christen in Ägypten, buddhistische Mönche und Nonnen in Tibet, Muslime in Myanmar, Baha’i im Iran …) Kooperation, das bedeutet im Einzelnen auch: Freundschaften, die über Religionsgrenzen hin wachsen, Hilfen für religionsgemischte Familien, öffentliches Eintreten für Einzelne und Gemeinden, die in Schwierigkeiten geraten sind. Mit besonderer Wärme denke ich an Persönlichkeiten, die das in den Aufbaujahren unserer Gruppe erlebbar gemacht haben. Sie sind mir mit ihrer Freundlichkeit, ihrer geistlichen Ausstrahlung, aber auch mit ihren Fragen und in ihrem Suchen immer wieder präsent: Esther Hallo aus der israelitischen Kultusgemeinde und Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Pfarrer Alois Huber aus der

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römisch-katholischen Kirche, Hartmut Wenzel als evangelisch-reformierter Präses, Peter Johannes Athmann für die Baptisten und als Meister meditativer Saxophonmusik, Haupt­imam A. D. Ibrahimovic´ für die geistliche Verwaltung der Muslimflüchtlinge, Ahmed El Banna als Muslim mit einem weiten ökumenischen Herzen und seine Frau Gerda sowie Klaus Klawonn als engagierter Humanist. Begegnung, Verständigung, Kooperation – das ist kein fester Fahrplan. Oft bringt eine aktuell notwendige Zusammenarbeit den Verständigungsprozess erst richtig in Gang. Ein absolutes Novum für Nürnberg war 1989 die erste Gebetsstunde der Religionen für den Frieden, die wir am Buß- und Bettag, 22. November, in der evangelisch-reformierten Kirche St. Martha hielten. Die reformierte Gemeinde hat sich immer durch eine besondere Offenheit für die Ökumene und für bürgerschaftliches Engagement ausgezeichnet. Die schöne, kleine gotische Kirche – mit den ältesten Nürnberger Glasfenstern – war ein besonderer Andachtsraum für diese Zusammenkunft. Gründlich hatten wir die Gebetsstunde vorbereitet – mit jüdischen, katholischen, evangelischen, orthodoxen, muslimischen und buddhistischen Beiträgen – und sie unter das Motto Ich möchte gerne Brücken bauen gestellt. Saxophon, Gitarre, Querflöte und Orgel begleiteten die Lieder und boten meditative Musik für Stillephasen. Hartmut Wenzel, Pfarrer der reformierten Gemeinde, begrüßte uns und schaute während der Stunde manchmal hinauf in das Kirchengewölbe, so, als wollte er sagen: »Liebe Kirche. So etwas hast du noch nicht erlebt!« Von unserer Gruppe aus luden wir ein, gegenseitig zu Gast zu sein bei den Gebeten und Meditationen, betonten aber auch, niemand solle sich gedrängt fühlen, etwas mitzuvollziehen, was ihm nicht entspräche. Gleichwohl könne auch das Hören auf die Beiträge der verschiedenen Glaubensgemeinschaften Wertvolles aus der Spiritualität der jeweils anderen spürbar machen und manches innerlich mitvollzogen werden. Die Kirche war voll, und die Atmosphäre von einer besonderen Dichte und Wärme. Gleichwohl: Kurz nach dieser Gebetsstunde informierte mich der damalige Nürnberger Stadtdekan und spätere bayerische Landesbischof, Hermann von Loewenich, über einen Beschwerdebrief, den zwei lutherische Gemeindeglieder an den damaligen Landesbischof Johannes Hanselmann gerichtet hatten, dass hier in einer christlichen Kirche nichtchristliche Beiträge vorgetragen worden wären. Hinter dem Brief stand aber, das wurde bald deutlich, ein Pfarrer, der nicht bei der Gebetsstunde zugegen war, sondern die Gemeindeglieder aufgrund ihrer Erzählungen zu dem Brief angeregt und offenkundig auch die Argumentation theologisch ausgeführt hatte. Ich war froh, dass von Loewenich so offen mit der Beschwerde umging. Er regte an,

ein Gespräch mit den eher evangelikal ausgerichteten Geistlichen des Dekanats zu führen, das dann auch stattfand und nach gründlicher Erläuterung unserer Motive, des Selbstverständnisses und der Maßgaben der Gebetsstunde auch zu so viel Einverständnis führte, dass es bei den späteren Gebetsstunden ähnliche Probleme nicht mehr gab. Insgesamt hat sich mir beim dritten Nürnberger Forum, bei der Weltversammlung von WCRP in Melbourne und parallel dazu beim Beginn der Nürnberger örtlichen Arbeit sehr deutlich erschlossen, dass die Wahrnehmung weltweiter Herausforderungen und die Erfahrungen vor Ort aufeinander bezogen werden müssen, so wie Global denken und lokal Handeln einander korrespondieren sollten. Hans Küngs Buch Das Projekt Weltethos, das 1990 erschien, war hierfür eine programmatische Zuspitzung. Als ich es in die Hand bekam, war ich elektrisiert: Seine Thesen »Kein Weltfriede ohne Religionsfriede«, die er beim Nürnberger Forum vorgetragen hatte, fortgesetzt durch die Thesen »Kein Religionsfriede ohne Dialog zwischen den Religionen« und »Kein Dialog zwischen den Religionen ohne Grundlagenarbeit in den Religionen« – und schließlich »Kein Überleben ohne ein Weltethos« erschienen mir als prophetische Aussage, das ganze Buch begegnete mir wie eine große prophetische Rede. Die These »Kein Überleben ohne ein Weltethos« sprach mich, noch bevor die Rede von der Globalisierung Allgemeingut wurde, unmittelbar an. Damals schon war längst klar, dass es Weltprobleme gibt, die uns alle herausfordern: die ökologische Krise mit der wohl unaufhaltsamen Erderwärmung und Klima-Veränderung, die Krise der Verarmung in vielen Teilen der Welt, die Krise durch neue Weltkonflikte, oft genug ideologisch angeheizt, die Krise durch Verwahrlosung in den nachwachsenden Generationen, gerade auch in den industrialisierten Ländern, die Krise durch Migration, durch Kriminalität, durch Perspektivlosigkeit. Ich sah, dass im Bereich der Wirtschaftskonzerne längst global gedacht und gehandelt wurde, dass es einen weltweiten Konsummarkt gibt. Ich sah, dass es einzelne politische Führer gibt, die sich verantwortlich den globalen Perspektiven stellten – oft im Widerstreit zu den nationalen Interessen, die sie vertreten müssen. Aber wie stand es um die globale Perspektive im Bereich der Werte und der Ethik? Die Kirchen hatten immerhin den konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung initiiert. Hans Küngs Buch aber fasste von vornherein die religions- und kulturübergreifende Perspektive ins Auge. Seine These, die dann auch Eingang gefunden hat in die Erklärung zum Weltethos, war:

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»Diese eine Welt braucht das eine Ethos; diese eine Weltgesellschaft braucht keine Einheitsreligion und Einheitsideologie, wohl aber einige verbindende und verbindliche Normen, Werte, Ideale und Ziele.«4

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Natürlich gab es gleich Kritik: Ist das nicht viel zu global, viel zu undifferenziert? Kann es eine Verständigung über ein globales Ethos geben – über die Grenzen der Religionen und Weltanschauungen hinweg? Als Pädagoge und gerade auch als Religionspädagoge fühlte ich mich aber sofort angesprochen. Ich bin der Überzeugung, dass alle Erziehung heute die weltweiten Verflochtenheiten wie auch die weltweiten Herausforderungen ernst nehmen muss. Deshalb habe ich mitgearbeitet an der Erklärung zum Weltethos, zu der Hans Küng durch den amerikanischen Theologen Leonard Swidler angeregt worden war und die dem Parlament der Weltreligionen 1993 in Chicago vorgelegt wurde. Ich habe Hans Küng dazu gewinnen können, 1994 mit mir das Nürnberger Forum unter dem Titel ›Das Projekt Weltethos‹ in der Erziehung zu veranstalten. In der Konsequenz dieser Entwicklung lag es, dass die Evangelische Akademie Hofgeismar 1991 eine Tagung zum Thema Von der Weltversammlung zum Konzil? Bilanz und Perspektiven des konziliaren Prozesses nach Seoul veranstaltete, bei der Carl Friedrich von Weizsäcker und ich die Hauptreferate halten sollten und mir die Aufgabe zukam, über Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung als Themen des Dialogs mit den Weltreligionen zu sprechen. Von Weizsäcker als Initiator des konziliaren Prozesses hatte ursprünglich schon an eine Art Konzil der Weltreligionen gedacht, musste sich dann aber mit dem zunächst eingegrenzteren Prozess innerhalb der christlichen Ökumene zufriedengeben, der sich aber auch schon als sehr folgenreich erwies, zumal er von der Basis über nationale und internationale Verständigung – besonders bei der Baseler Tagung für Europa – zur globalen Ebene in Seoul führte. Für mich war es eine außerordentlich inspirierende Begegnung, zumal von Weizsäcker die Gabe hatte, immer unmittelbar ein ernstes, beziehungsreiches Gespräch zu beginnen. Für welchen Gelehrten des 20. Jahrhunderts wird man wie für ihn sagen können, dass man ihn ebenso nach der Quantentheorie wie nach dem Buddhismus fragen konnte?! Ich nahm die drei Leitbegriffe des konziliaren Prozesses so auf, dass ich zu jedem ein in den einzelnen Religionen verankertes tiefgreifendes Verständnis nachweisen konnte, dass aber in keiner der Religionen in ihrer Geschichte konsequent realisiert, ja nicht selten verletzt wurde. Schließlich haben sich in jeder Religion auch positive Beispiele ergeben, mit denen aus den Quellen der religiösen Über4 H. Küng: Projekt Weltethos. Neuausgabe 1992, Klappentext.

lieferungen heraus konkrete Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung geleistet wurde und wird. – Als wir im Kreis der Teilnehmenden abends noch lange im Gespräch zusammensaßen, gesellte sich von Weizsäcker zu uns und fragte direkt: »Worüber sprechen Sie gerade?« Ich antwortete, dass sich unserem Eindruck nach zeigte, dass sich die Faktoren ›Nation‹ und ›Religion‹ nach dem Ende des Kalten Krieges in keiner Weise als überholte Größen erledigt, sondern vielmehr nach der ›Wende‹ neu als relevant erwiesen hätten. Er stimmte dem lebhaft zu und saß mit uns bis nach Mitternacht im Gespräch zusammen, schließlich waren er und ich die Letzten, und ich hatte noch mehr als eine Stunde lang das Privileg eines spannenden Gesprächs. Es war konsequent, dass wir das vierte Nürnberger Forum unter das Thema stellten: Das Wiedererwachen der Religionen als pädagogische Herausforderung. Interreligiöse Erziehung im Spannungsfeld von Fundamentalismus und Säkularismus. Damit trafen wir in die besondere Situation Anfang der 90er-Jahre: Die Berliner Mauer war gefallen, der Ost-West-Gegensatz geschrumpft. Aber nach der anfänglichen Euphorie hatte sich Ernüchterung breit gemacht: Die früheren Ostblockländer verwandelten sich nicht einfach in blühende Gärten, neue regionale Konflikte brachen auf, und der Jugoslawien-Krieg stand vor der Tür. Die Situationen im Nahen Osten, in Nigeria, in Indien wurden zum Thema. Besonders die Beispiele religiös-ethnischer Fanatisierung machten uns zu schaffen. Gleichzeitig wurde das Phänomen einer pluralistisch-vagabundierenden Religiosität in den hochindustrialisierten Staaten immer sichtbarer. Für meinen einleitenden Überblick im Forumsband wählte ich als Titel Lernen für die Menschheitsfamilie. Wachsende Notwendigkeiten – begrenzte Voraussetzungen und Fähigkeiten – zukunftsweisende Ansätze. Ich stellte die Gefahren des Rückfalls in Nationalismen und Fundamentalismen ebenso heraus wie das weltweite Bemühen, globale Kooperationen zu entwickeln. Smail Balic´ kam mit der berechtigten Furcht zum Forum, dass die bosnische Heimat seiner Familie mit einem neuen Krieg überzogen würde. Karl Ernst Nipkow hat damals deutlich gemacht, dass wir uns pädagogisch auf einen »harten Pluralismus« einlassen müssen, der nicht beschönigt wird, und dass wir den »Welt-Horizont« als notwendige Voraussetzung christlicher Bildung und Erziehung im Blick auf die nicht christlichen Religionen ins Auge fassen müssen. Es war ebenfalls im Herbst 1991, als Franz Brendle, Präsident von WCRP Deutschland, und ich Einladungen erhielten zu Religions-Dialogen in Japan, Korea und Hongkong. Die Idee war bei der fünften Weltversammlung von WCRP in Melbourne geboren: einen Austausch zwischen den fernöstlichen Industrienationen und Europa in Fragen der interreligiösen Begegnung zu

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beginnen. Professor Yohiaki Iizaka, führender Politologe aus Tokio (evangelisch), sprach uns als Delegierte aus Deutschland darauf an. Er verwies auf die vielen vergleichbaren Probleme, vor denen die Religionsgemeinschaften in Ländern wie Japan und Deutschland stehen, die von einer hochtechnisierten Zivilisation ebenso geprägt sind wie von verbreitetem säkularem Denken neben großem religiösem Pluralismus. Dem stehe eine noch fehlende breite Basis für einen Religionsdialog gegenüber, der über Goodwill-Erklärungen hinausgelangen müsse. Dazu komme die Notwendigkeit, dass der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung über die Kirche hinaus als Aufgabe für die Religionen zu begreifen sei. Eine besondere Herausforderung sei dabei die Friedenserziehung, in der es gegenseitige Befruchtung zwischen Ost und West geben solle. Im Blick waren auch die Parallelitäten in der Geschichte – besonders mit verhängnisvollem Nationalismus, der Niederlage im Zweiten Weltkrieg, der Schuldfrage, der Versöhnungsaufgabe und der Erfahrung von Hiroshima als einem Impuls für die Initiierung interreligiöser Kooperation. Von WCRP Japan – damals schon anders als in Deutschland in viel offiziellerer Position eine Dachorganisation der Religionsgemeinschaften – wurden die Kosten für Aufenthalt und Reisen in Japan und Korea übernommen; bei den Flugkosten gewährten die westdeutschen Kirchen einen Zuschuss. Unsere Reiseroute umfasste Tokio, Hiroshima, Osaka, Kyoto, Seoul und Hongkong. Wir trafen Buddhisten, Christen, Konfuzianer und Schintoisten. Darunter waren die – in ganz Japan berühmten – alten Religionsführer: der 97-jährige Erzabt des buddhistischen Klosters auf dem Mount Hiei bei Kyoto, dem Mutterkloster des Tendai-Buddhismus, Etai Yamada, der Gründer der großen buddhistischen Laienbewegung Rissho Kosei Kai (Gesellschaft zur Aufrichtung von Gerechtigkeit und Freundschaft), Nikkyo Niwano, der in den 60er-Jahren einziger offizieller nicht christlicher Beobachter beim Zweiten Vatikanischen Konzil war, der Leiter der neu-schintoistischen Konko Kyo in Osaka, Rev. Toshio Miyake. Auf christlicher Seite waren neben Professor Iizaka u. a. die katholischen Bischöfe von Kyoto und Tokio, der Zen-Forscher Professor Heinrich Dumoulin, der Leiter der christlichen Akademie in Seoul, Dr. Won Yon Kang und der Leiter des Hong Kong Christian Institute, Dr. Kwok Nai Wang, unsere Gesprächspartner. In Tokio und Seoul wurde jeweils ein Symposion gehalten, bei dem Franz Brendle über die religiöse Situation in Europa besonders nach der ›Wende‹ und ich über die Rolle der Religionen in der Friedenserziehung referierten, mit Korreferaten aus beiden Ländern, aber auch von einer Kollegin und einem Kollegen aus Thailand, die ebenfalls nach Seoul eingeladen waren. Die Erfahrung, an der Seite spirituell-religiös geprägter Menschen einer großen Breite an Indifferenz und

mangelnder Verantwortungsbereitschaft in unseren Gesellschaften gegenüberzustehen, hat uns gerade nach den Spezifika und den besonderen Möglichkeiten in den spirituellen Traditionen unserer Glaubensgemeinschaften fragen lassen. Dabei standen wir gleichzeitig einer Welt an religiösen Bildern, Symbolen und Riten gegenüber, die uns in vieler Hinsicht neu und fremd anmutete und mich – ähnlich wie bei der Indienreise – zuerst einmal beobachten und staunen ließ, vor allen Versuchen, das Erlebte zu kategorisieren oder gar von außen zu beurteilen. So kann man etwa, wenn man die Vielfalt buddhistischer Religionsformen in Japan wahrnimmt, nicht das Christentum als Gnadenreligion dem Buddhismus als vermeintlicher Religion der Selbsterlösung gegenüberstellen: Die gnadenhaft zuteilwerdende Hilfe durch die Buddhas und Bodhisattwas ist für viele glaubende Menschen in Japan selbstverständlich Grundlage ihrer religiösen Erfahrung. Und doch ist das eher zyklische Denken – die Folge der Wiedergeburten, die Folge der Welten – gegenüber der Schöpfungstheologie in den monotheistischen Religionen ebenso bestimmend wie das immer wieder auffallende inklusive Denken: So wie man zu den Riten für Neugeborene und zu Hochzeitsriten den Schinto-Schrein besucht, so zu den Riten für die Verstorbenen den buddhistischen Tempel. Beide Religionen haben einander besonders im Bereich der Volksfrömmigkeit tief durchdrungen. Gleichzeitig ist auch das Erbe der konfuzianischen Ethik etwa im Familienzusammenhalt und in der Achtung heilsamer Ordnungen noch deutlich zu spüren. Christliches Gedankengut, besonders das Ethos der Bergpredigt, kann man zusätzlich durchaus bejahen. Ich sprach mit mehreren Buddhisten, die der Bibel wichtige Lebenshilfe verdanken und regelmäßig in ihr lesen. Hinsichtlich der Wertevermittlung in einer säkularen Gesellschaft wurde besonders aufmerksam nach unseren Erfahrungen mit schulischem Religionsunterricht gefragt: Es gibt in japanischen Schulen kein Fach, in dem Sinn-, Wert- und ethische Fragen – im Horizont der Religionen und Weltanschauungen – eigens thematisiert werden. Auch in von Religionsgemeinschaften getragenen Schulen steht dieser Lernbereich deswegen am Rande, weil man sich in scharfer Konkurrenz hinsichtlich der eher ökonomisch bestimmten Leistungsbilanzen zur erfolgreichen Vorbereitung auf die Universität befindet. Demgegenüber sind die Religionsgemeinschaften, besonders die sogenannten ›neuen Religionen‹ – eigentlich Reformbewegungen auf der Basis von Schintoismus und Buddhismus – stark in der Wertevermittlung an die junge Generation engagiert. Dabei wird etwa bei Rissho Kosei Kai hervorgehoben, dass alle Dinge die Buddha-Natur besitzen, d. h. die Möglichkeit, volle Erleuchtung zu erlangen. ›Nirwana‹ wird dabei positiv verstanden als Beseitigung von Habgier, Zorn, Dummheit und somit als wahrer Frieden

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unter den Menschen. ›Karma‹ wird nicht als lastendes, schicksalhaftes Gesetz gesehen, sondern soll anleiten zur Ansammlung von Verdiensten – für die Vorfahren, die Familie, das Land, schließlich die ganze Welt. Wir genossen bei dieser Reise eine hohe Kultur der Gastlichkeit und auch das Bemühen, uns Schönes in diesen Ländern zu zeigen. Beim Flug von Tokio nach Hiroshima gelangen mir aufregende Fotos hinunter auf den Fuji, den heiligen Berg, mit seinem Krater und den Pilgerwegen, die auf ihn hinauf führen.

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Für unsere Familie waren diese Jahre von ersten Abschieden, aber auch Neuanfängen geprägt. Meine Eltern wie meine Schwiegereltern hatten ihr Leben in den 80er-Jahren noch sehr aktiv gestalten können. Alle vier nahmen lebhaften Anteil an meiner Arbeit, zählten auch zu den Teilnehmern der Nürnberger Foren, begleiteten aber ebenso unsere Töchter auf ihren Wegen. Mein Vater nahm Gottesdienstvertretungen und Kurseelsorge wahr, besonders in Südtirol. Meine Mutter wie meine Schwiegermutter waren wunderbare Erzählerinnen für ihre Enkelkinder, meine Schwiegermutter auch noch für die ältesten Urenkel, und unermüdliche Briefschreiberinnen in ihren großen Freundeskreisen. Meine Schwiegereltern blieben mit ihren Vorträgen, besonders über das kulturelle Erbe Griechenlands und der Türkei, viel unterwegs und arbeiteten gemeinsam an Publikationen im archäologisch-geschichtlichen wie im literarischen Bereich. Als besonders schönes Familienfest feierten wir die Goldene Hochzeit der Schwiegereltern im August 1988. Es war ein strahlender Sonnentag, an dem sich Familie und Freunde in der Viatisstraße versammelten. Wir hatten als Überraschung eine Kutsche mit zwei Pferden bestellt, die rechtzeitig vor dem Weg zur Kirche anrollte und in die das Jubelpaar zusammen mit den Enkelkindern einstieg. In unserer Auferstehungskirche predigte ich auf ihren Wunsch über Die Güldne Sonne von Paul Gerhardt, ein Lied, das sie sehr liebten. Musikalisch bildeten wir damals einen vierstimmigen Familienposaunenchor. In einer kleinen Theateraufführung brachten die kommagenischen Götter dem Ausgräber-Ehepaar ihre Glückwünsche. Beide Elternpaare erlebten noch die Studienzeiten von Henrike und Charlotte mit. Zuerst Abschied nehmen mussten wir leider schon 1990 von meiner Mutter. Bis zuletzt bekamen wir ihre wöchentlichen Briefe, mit denen sie auf unser ebenfalls wöchentliches Erzählen antwortete; sie, wie auch ihre intensive Teilnahme am Leben der Enkel, fehlten uns danach sehr. 1992 starb mein Schwiegervater. Ihm zeigte Henrike, die in Bamberg, Edinburgh und Berlin Germanistik, Kunstgeschichte und Theologie studiert hatte, noch die Magisterarbeit über den Nürnberger Stadtgerichtsschreiber Johannes Forster, die ganz seinem epigrafischen wie kulturhistorischen

Interesse entsprach. Wenige Tage vor seinem Tod hatte er die Freude, dass ihm sein Schüler Sencer S ¸ahin, inzwischen Professor in der Türkei, noch Bilder von dem ersten eindeutig identifizierten Mithraeum in seinem Ausgrabungsgebiet Kommagene zeigen konnte. Er schenkte uns – gleichsam als ein Vermächtnis – die Mittel, um mit unseren Töchtern eine Reise nach Ostanatolien und bis zum Nemrud Dagh zu unternehmen. In Ernst und Ursel Maxeiner aus Hagen hatten wir türkeierfahrene Freunde, die oft mit unseren Eltern unterwegs gewesen waren und nun die Reise vorbereiteten, zu der sich ein generationenübergreifender Kreis von 24 Kleinasien-Begeisterten zusammenfand. Ende August 1992 reisten wir über Istanbul und Ankara nach Trabson (Trapezunt) mit seiner pontischen Geschichte, zu den SumelaKlöstern, in die georgischen Grenzgebiete und dann südlich über Erzurum, Malatya und Adiyaman in das Ausgrabungsgebiet von Kommagene, wo wir im Grabungshaus in Eski Kahta wie alte Freunde aufgenommen wurden. Henrike, Charlotte und Luise sahen und erlebten mit uns die Landschaft und die antiken Stätten, die sie bisher nur aus den Büchern und Erzählungen der Großeltern kannten, sahen die Sonne über dem Felsenmeer rund um den Göttergipfel des Nemrud Dagh untergehen und sangen im Kreis der Reisegruppe zu Susannes Gitarre die Lieder, die oft in den Grabungssommern erklungen waren. Im Mai zuvor feierten wir unsere Silberhochzeit, bei der das Gedenken an meine Mutter und meinen Schwiegervater noch sehr gegenwärtig war. Es wurde gleichwohl ein musikalisches Fest im großen Familien- und Freundeskreis. Susanne machte mir dabei ein besonderes Geschenk: In eine kleine Walnussschale war ein Zahnstocher gestellt mit einem dreieckigen Stück Papier daran: Ich sollte mir doch einmal den Wunsch nach einem kleinen eigenen Segelboot erfüllen! Nach längeren Recherchen entschieden wir uns für einen Topper, eine in England entwickelte Jolle, die auf dem Autodach zu transportieren war und gemütliches ebenso wie sportliches Segeln ermöglichte. Es war eine Kunst, sie jedes Mal frisch aufzutakeln, was mir jedoch zunehmend fixer gelang. Sie wurde oft auf der fränkischen Seenplatte eingesetzt, reiste aber auch regelmäßig mit uns über die Alpen an den Lago Maggiore, und ich hatte dort ein malerisches Segelrevier, vor allem bei den frischen morgendlichen Nordwinden – dann erreichten wir fast Surfbrettgeschwindigkeiten. Kinder, Patenkinder, Freunde sind immer wieder einmal mit mir so über die Wellen geritten, mit unvergesslichen Blicken über den weiten See und die grandiose Bergwelt. Mein Vater und meine Schwiegermutter konnten ihr Leben noch bis 1996 und 1997 selbstständig gestalten, mein Vater mit vielen Gottesdiensten, meine Schwiegermutter als Autorin. Zu ihrem 80. Geburtstag 1992 erschie-

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nen unter dem Titel Der Berglöwe und zwölf wunderbare Geschichten Märchen aus unserer Zeit, illustriert mit Zeichnungen der Künstlerin Ingrid Schaar im EB-Verlag. Beide reisten noch viel und erlebten die in Charlottes Familie geborenen ersten beiden Urenkelkinder Angela und Jakob mit. Charlotte begann ihr Studium für das Grundschullehramt wie Henrike in Bamberg, und für sie wurde diese Stadt schließlich zur Familienheimat. Zwei Wochen nach unserer Silberhochzeit hatte ich bei einem Vortrag eine besonders große Hörerschaft: 900 Menschen, vor allem aus der Baha’i-­ Religion, waren in der Paulskirche in Frankfurt versammelt – zur Gedenkfeier am hundertsten Jahrestag des Hinscheidens von Baha’u’llah, der Gründungspersönlichkeit ihrer Religion, der im 19. Jahrhundert aus der Gottesoffenbarung, die ihm zuteilwurde, die Vision einer Menschheitsfamilie entwickelt hatte. Der Geistige Rat der Baha’i in Deutschland hatte mich gefragt, ob ich bereit sei, aus diesem Anlass den Festvortrag zu halten. Ich fühlte mich geehrt, wies aber darauf hin, dass ich als evangelischer Christ und Theologe, freilich engagiert im interreligiösen Dialog, sprechen würde. Ich war um ein Thema mit globaler Dimension gebeten worden: Die Frage nach Gott in einer säkularen Welt und der Dialog der Religionen. Damit sah ich mich herausgefordert zu einer Bilanz meines Denkens als Christ, Theologe und Dialogpartner. Ich wollte nicht an der Realität eines verbreiteten weltanschaulichen, methodischen und praktischen Atheismus vorbeigehen, auch eigene Leiderfahrungen und Glaubenszweifel nicht übergehen. Ich wollte aber von einem Gehaltensein im Glauben sprechen, das aus einem Schatz an Erfahrungen im eigenen Lebenskreis geprägt ist und seine Vergewisserung von Menschen her bezieht, die eben aus diesem Gehaltensein heraus ihr Leben gestalteten und gerade auch im 20. Jahrhundert den Sinn glaubender Existenz neu verdeutlicht haben – Menschen wie Mahatma Gandhi, Dietrich Bonhoeffer, Dag Hammarskjöld, Papst Johannes XXIII., Martin Luther King, Dom Helder Camara und viele weniger bekannte Gestalten, aber auch Gemeinschaften, in denen sich Spiritualität und Solidarität mit Bedrängten neu verbunden hat, wie etwa die Communauté von Taizé. Ich hob hervor, dass, wenn von Gott gesprochen werden soll, zwei Denkrichtungen zu verfolgen sind: Von der Situation des Menschen aus ist eine Offenheit zu entdecken, die nach einer menschliches Vermögen übersteigenden fundamentalen Sinngebung und Verhaltensorientierung fragen lässt. Auf der anderen Seite – wenn man den Gottesgedanken konsequent fasst – muss deutlich sein, dass jedes menschliche Reden von Gott den Grenzen menschlicher Vorstellungs-, Ausdrucks- und Denkkraft unterliegt. Wirkliche Gottesbegegnung wird darum nicht allein eine Antwort auf die in der menschlichen Situation liegenden Fragen bieten, sondern auch alle menschlichen Fragen und Ant-

wortversuche überschreiten und damit ihre Begrenztheit deutlich machen. Im Sinne der ersten Denkrichtung stellte ich als unüberholte Aufgabe verantwortungsbewusster Religionsgemeinschaften gerade in einer demokratischen Gesellschaft heraus, die Frage nach dem Sinn, dem Wozu, nach einem Heil wachzuhalten, das weiter reicht als das Streben nach Geltung in der Wohlstandsgesellschaft einerseits, als die Sehnsucht nach Bindung an totalitäre Heilslehren andererseits. Im Sinne der zweiten Denkrichtung verwies ich darauf, dass sich die großen Religionen auf Erfahrungen von Offenbarung bzw. Erleuchtung berufen, die über die menschliche Frage nach dem Absoluten weit hinausgehen, Sinn und Orientierung auch angesichts menschlicher Endlichkeit vermitteln und zu einem Ethos führen, das sich nicht in kurzfristigen und vorläufigen Zielen erschöpft. Exemplifiziert habe ich das am Weg Jesu Christi als dem mich bestimmenden Weg, auf dem mir die Liebe Gottes in einzigartiger Weise zuteilwird. Dies habe ich dann später in meiner Evangelischen Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive weiter entfaltet, während ich in meinem Frankfurter Vortrag abschließend die Ebenen eines ganzheitlichen Dialogs in Begegnung, Verständigung und Kooperation erläutert habe, wie sie sich in unserer Nürnberger Arbeit vor Ort als wesentlich herausgestellt haben. Ergänzend hat der Jurist Udo Schäfer, den man sicher als Vordenker der Baha’i-Gemeinschaft in Deutschland bezeichnen kann, bei der Gedenkveranstaltung den Weg Baha’u’llahs und seine universalen Visionen nachgezeichnet.

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 Religiöses Lernen in der Pluralität, das Projekt Weltethos und Friedenserziehung in den 90er-Jahren

Identität und Verständigung. EKD-Denkschrift · Das Projekt ›Weltethos‹ in der Erziehung · 5. Nürnberger Forum · Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive als Grundlagenwerk · Die Schneller-Schulen im Nahen Osten · Peace Education Standing Commission und Weltversammlung in Amman

Waren bis zum Ende der 80er-Jahre Udo Tworuschka – zusammen mit seiner Frau Monika – und ich nahezu die Einzigen, die in Deutschland Monografien im Bereich interreligiösen Lernens geschrieben haben, so änderte sich das in den 90er-Jahren. Ein besonderes Signal dafür war die 1994 erschienene Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Religionsunterricht, die deutlich die Handschrift von Karl Ernst Nipkow trug. Der Titel Identität und Verständigung war Motto und Programm. Die nicht mehr zu übersehende Pluralität in den Schulen – bei den Lehrkräften wie bei den Schülerinnen und Schülern –, die Einrichtung von Ethik bzw. Philosophie oder Werte und Normen als Ersatz- oder Alternativfach sowie von LER – Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde – in Brandenburg, außerdem die beginnende Entwicklung von jüdischem und islamischem Religionsunterricht wurde ernst genommen. Die evangelische Glaubenstradition als Referenzrahmen für ein Identitätsangebot, das nicht als fixes System zu begreifen, sondern für Suchprozesse offen sein soll, auf der einen Seite, die dialogische Bemühung um Verstehen und Austausch auf der anderen Seite sollten dynamisch aufeinander bezogen sein. Dementsprechend wurde für eine Fächergruppe Religion/Ethik plädiert, in der die konfessionell verschieden ausgerichteten Fächer ihren Platz haben sollten, die aber nicht isoliert voneinander existieren, sondern in Austausch und Kooperation aufeinander bezogen sind. Dieses Anliegen ist in der weiteren Theoriebildung und in der Praxis noch längst nicht hinreichend beachtet worden, und mein Plädoyer für die Bildung einer deutschen Gesamtkonferenz Religion/Ethik, das ich beim Jubiläum des Comenius-Instituts in Münster vorgetragen habe, blieb bisher ungehört. Gleichwohl gibt es seither in der Lehrplanarbeit der verschiedenen Bundesländer das Bemühen, wechselseitige Bezüge sichtbar zu

machen, und bei der Schulbuchentwicklung ist es zunehmend Standard geworden, Kapitel über die jeweils anderen Religionen von fachkundigen Vertretern der anderen Glaubensgemeinschaften gegenlesen zu lassen. Parallel zu dieser religionspädagogischen Öffnung der evangelischen Kirche, die ich sehr begrüßte, gewann das Projekt Weltethos deutlichere Konturen: 1993 fand in Chicago das zweite Weltparlament der Religionen statt. Es war eine bewusst von Religionsvertretern in Chicago für dieses Jahr anberaumte Initiative. Eine solche kulturell-religiöse Großveranstaltung hatte es seit dem ebenso benannten Weltparlament der Religionen 1893 nicht mehr gegeben, mitbedingt durch die Spannungen und Kriege des 20. Jahrhunderts. Insgesamt hatte diese Initiative mehr Event- und Deklarationscharakter als die Weltversammlungen von Religions for Peace, setzte aber auch international beachtete Signale. Das auffälligste Signal 1993 war die Erklärung zum Weltethos. Inspiriert von Hans Küngs Buch Projekt Weltethos hatten die Veranstalter ihn gebeten, die Elemente eines gemeinsamen Ethos in einer Deklaration auszuformulieren. In einem interreligiösen Beratungsprozess, an dem ich auch beteiligt war, entstand die Erklärung zum Weltethos. Beim ›Parlament‹ im September 1993 wurde diese von der Mehrheit der Delegierten, darunter mehr als 200 führende Persönlichkeiten aus den Religionsgemeinschaften, unterzeichnet. Ich brauche nicht hervorzuheben, welch abenteuerliches Unterfangen das zunächst war: Kann es denn so etwas geben, ein gemeinsames Ethos, wird da nicht unzulässig pauschaliert, muss nicht jede konkrete Umsetzung an den harten Realitäten scheitern? Diese kritischen Anfragen wurden bei der Entstehung der Erklärung ebenso wie nach ihrer Annahme von den Religionsvertretern in Chicago immer wieder vorgetragen. Und natürlich sind sie ernst zu nehmen! – Mich hat aber von vornherein der Ansatz fasziniert: Da wurden die Negativ-Gebote aus den Religionen – Du sollst nicht töten, Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht stehlen, Du sollst nicht falsch Zeugnis reden – positiv umformuliert. Sie wurden über die individuelle Perspektive hinaus in die soziale und ökologische Dimension hinein entfaltet. Wichtig ist, auf die Anliegen der Erklärung zu achten: Sie soll die Menschenrechtserklärung der UNO von der Seite ethischer Grundverpflichtungen her stützen und ergänzen. Zu den Prinzipien gehört: Sie soll von Anhängern der ›westlichen‹ wie der ›östlichen‹ Religionen mit getragen werden, aber auch für Menschen ohne religiöse Bindung plausibel sein. Die Erklärung selbst5 beginnt mit einer Kurzbeschreibung der Situation und der Herausforderung, der sich die Religionen und Weltanschauungs5 Text und Kommentierung in H. Küng/K.-J. Kuschel: Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen, München 1993.

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gemeinschaften stellen müssen. Es folgt die Grundforderung: Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden. Entfaltet wird sie durch die Goldene Regel: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu« – oder positiv gefasst, so von Jesus in der Bergpredigt: »Was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch.« Den Kern der Erklärung bilden die schon erwähnten »positiven Gebote«, in der Erklärung als Vier unverrückbare Weisungen benannt, die sich an der zweiten Tafel des Dekalogs und den Laiengeboten des Buddhismus orientieren. Es ist nicht von Gesetzen die Rede, sondern von einer Kultur, die entwickelt werden soll: 1. Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben (eben nicht nur: Du sollst nicht töten!) 2. Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung (eben nicht nur: Du sollst nicht stehlen!) 3. Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit (eben nicht nur: Du sollst nicht lügen!) 4. Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau (eben nicht nur: Du sollst nicht ehebrechen!) Diese unverrückbaren Weisungen sind so aufgebaut, dass jeweils mit einer Situationsbeschreibung begonnen wird, die Weisung selbst (negativ – positiv) umrissen wird (A), dann eine Beschreibung der Grundkonstellation und der Grundaufgabe zu dieser Weisung folgt (B), die pädagogische Aufgabe benannt wird (C), die strukturelle Aufgabenstellung entfaltet und die erforderliche ethische Grundeinstellung zur jeweiligen Weisung gekennzeichnet wird (D–F). Natürlich wurde für mich die pädagogische Perspektive besonders wichtig. Hans Küng ließ sich von mir für das fünfte Nürnberger Forum 1994 begeistern. Ihm leuchtete mein ceterum censeo ein – dass nämlich die drei Imperative – Kein Weltfriede ohne Religionsfriede, Kein Religionsfriede ohne Religionendialog, Kein Religionendialog ohne Grundlagenarbeit in den Religionen – den vierten nach sich ziehen: Kein Friede, kein Dialog, keine Grundlagenarbeit ohne erzieherische Bemühung, ohne die nötige Bildungsarbeit, ohne gemeinsames Lernen. Es wurde ein besonders vielfältiger und lebendiger Kongress mit breiter internationaler Beteiligung und mit Vertreterinnen und Vertretern aus Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und der Baha’iReligion, aber auch Anhängern einer säkular geprägten Ethik. Gegenüber dem kritischen Vorwurf, das Projekt Weltethos propagiere eine generalisierende Minimalethik, die letztlich weitgehend folgenlos bliebe, wurde in gro-

ßer Differenziertheit sichtbar, dass es aus der Tradition der verschiedenen Religionen sehr spezifische Modelle zur Begründung eines verbindenden Ethos gibt, dass sich Möglichkeiten kontextbezogener interreligiöser Kooperation für konkrete Konfliktszenarien zeigen lassen, dass sich Perspektiven für religiöses, interreligiöses und philosophisches Lernen erschließen lassen, aber auch Grundlagen eines Schulethos gewonnen werden können. Hans Küng riss in seinem Eröffnungsreferat die Probleme und Aufgabenstellungen schlaglichtartig auf: die unter Heranwachsenden präsente Gewalt und verbreitete Desorientierung, Gewalt in den Medien, fehlendes Leitbildbewusstsein bei führenden Politikern und Wirtschaftsleuten, eine an Profit und privatem Genuss orientierte Gesellschaft, schließlich ein undurchschaubarer Pluralismus und ›Orientierungsdschungel‹. Er griff wichtige Ergebnisse der Aggressionsforschung ebenso auf wie die Beschreibung von Gewalt- und Friedenspotenzialen in den Religionen. Er bezog sich auf die pädagogischen Impulse der Weltethos-Erklärung und benannte die Herausforderungen für eine ganzheitlich-ethische Erziehung, zu der ein gesellschaftlicher Diskurs in Gang zu setzen sei, bei dem die Religionen, die Politiker, die Ökonomie und schließlich die primären pädagogischen Agenten, also Gemeinde und Schule, Beiträge zu einer ›ökumenischen Friedenspädagogik‹ zu leisten hätten. Jonathan Magonet sprach darüber, inwieweit der Dekalog Grundlage des Ethos in den monotheistischen Religionen sein kann. Klaus Wengst entfaltete anhand der Bergpredigt Jesu Ruf nach Gerechtigkeit. Mehdi Razvi erläuterte die koranische Botschaft in ihrer Bedeutung für gegenwärtige Unrechtsstrukturen. Chandrabal Tripathi bot eine aktuelle Interpretation der Bhagavadgita. Alfred Weil fragte, inwieweit das Ethos des Buddhismus ein Leitfaden für gegenwärtige Weltkrisen sein kann. Udo Schäfer stellte Baha’u’llahs Einheitsparadigma so dar, dass es als visionär, aber nicht andere Traditionen vereinnahmend, erkannt werden konnte. Geiko Müller-Fahrenholz erörterte, inwiefern die indigenen Religionen Bedeutung für ein postmodernes Weltethos gewinnen können. – Mit Muthukumaraswamy Aram und seiner Tochter Vinu waren Friedensstifter aus Indien, mit Yoshiaki Iizaka ein Berater des japanischen Kaiserhauses, mit A. T. Ariyaratne der ›Gandhi‹ Sri Lankas, mit Mitri Raheb ein Vertreter palästinensischer Befreiungstheologie, mit John Hull und Beyza Bilgin ein Vorkämpfer und eine Vorkämpferin international ausgerichteter interreligiöser Pädagogik zugegen. Den schmerzlichsten Beitrag brachte Smail Balic´ als in Wien lebender aufgeklärter Muslim mit bosnischem Hintergrund ein, als er – mitten im noch andauernden Krieg im ehemaligen Jugoslawien – fragte, was aus den Konflikten und den z. T. religiös-national verbrämten ethnischen Säuberungen für das Ethos der Religionen zu lernen sei. Es war ein leidenschaftlicher

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Appell gerade auch an die Religionsgemeinschaften, den neuen Fanatismen entgegenzutreten. Die Bewegung Religions for Peace hatte sich schon vor diesem Zeitpunkt bemüht, eine Gruppe von führenden Persönlichkeiten des ehemaligen Jugoslawien aus Judentum, Orthodoxie, Katholizismus und Islam zu bilden, die sich gemeinsam für einen Friedens- und Versöhnungsprozess einsetzten. Sie kam erstmals bei einer europäischen Versammlung 1993 auf der schwedischen Insel Gotland zusammen und hat in der Folge über Jahre hinweg ein Büro in Sarajewo unterhalten. Unermüdlich hat daran der Reis el Ulama – der höchste Vertreter des Islam von Bosnien – Mustafa Ceric´ mitgewirkt. Unmittelbar nach dem Forum reiste ich mit A. T. Ariyaratne, Vinu Aram und Beyza Bilgin nach Genf, wo die 44. Internationale Konferenz für Erziehung der UNESCO stattfand, zu der Erziehungsminister aus allen Kontinenten angereist waren. Ich war gebeten worden, dafür einen Round Table zum Thema Education for tolerance and mutual understanding: the role of religions vorzubereiten. Auf dem Podium gab es Statements von Vertreterinnen und Vertretern des Judentums, des Christentums, des Islam, des Hinduismus, des Buddhismus und der Baha’i-Religion – jeweils zu den Fragen: 1. Welche Motivationen für Toleranz und gegenseitiges Verstehen gibt es in meiner Religion? 2. Welche Probleme und Herausforderungen sind gegenwärtig – aus meiner Perspektive – in diesem Feld die Hauptprobleme und Herausforderungen? 3. Wie ist meine Religionsgemeinschaft beteiligt an Initiativen und Projekten für Toleranz und gegenseitiges Verstehen? 4. Worin bestehen die Hauptnotwendigkeiten und Aufgaben, um die Erziehung in diesem Feld zu verbessern? Aus säkularer Perspektive äußerte sich die Erziehungsministerin der Philippinen, Ricarda T. Gloria, dazu, aus der Sicht der UNO der Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit, Abdelfattah Amor. Das mit Hans Küng veranstaltete fünfte Nürnberger Forum war gleichsam der Startschuss einer sich rasch entwickelnden und ausweitenden pädagogischen Arbeit des Projekts Weltethos. Ein Glücksfall war die Gründung der Stiftung Weltethos 1995. Sie wurde möglich durch einen großen finanziellen Beitrag des Ehepaars Karl Konrad und Ria von der Groeben. Sie hatten 1945 ihr gräfliches Gut in Ostpreußen verlassen müssen, waren aber dann in Westdeutschland zu erfolgreichen Geschäftsleuten geworden. Als es darum ging, für welche Aufgabe sie erhebliche Teile ihres Vermögens zur Verfügung stellen würden, gab die Lektüre von Hans Küngs Buch zum Weltethos den Ausschlag: Für dieses Projekt und seine Visionen wollten sie sich dauerhaft

einsetzen. Die Universität Tübingen erhielt dazu die größte Spende ihrer Geschichte in Höhe von 5 Millionen D-Mark. Die Gründung der Stiftung ermöglichte es Hans Küng, auch über seine Emeritierung hinaus einen kleinen Mitarbeiterstab und eine Arbeitsstelle einzurichten, für die die pädagogische Arbeit ein vorrangiges Aufgabengebiet wurde. Bereits 1996 initiierte die Stiftung einen pädagogischen Wettbewerb, bei dem Unterrichtsprojekte zum Weltethos eingereicht werden konnten. Da kam viel Fantasie und konkrete Lern-Arbeit zutage. Die ja durchaus intellektuell anspruchsvoll formulierten Impulse der Weltethoserklärung wurden nicht nur in Philosophie- und Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe erschlossen. Auch aus den Bereichen von Hauptschule, Realschule und sogar der Grundschule, beginnend schon mit einer Einheit »Entdecken – Staunen – Handeln« im zweiten Schuljahr, kamen Wettbewerbsarbeiten. Die prämierten Arbeiten wurden von Werner Haußmann und mir in zwei Bänden herausgegeben. Kurz nach dem fünften Nürnberger Forum fand im November 1994 die sechste Weltversammlung von Religions for Peace statt, zum ersten Mal seit 1974 wieder in Europa. Eröffnet wurde sie im Vatikan. Papst Johannes Paul II. hatte alle eingeladen, sich nicht in der Audienzhalle, sondern in der Halle der Bischofssynode zu versammeln. An diesem symbolisch wichtigen Ort bot sich ein buntes Bild mit Delegierten aus aller Welt. Unter den vielfältigen Ornaten aus den verschiedenen Religionsgemeinschaften fielen besonders afrikanische Stammeskönige mit ihren Kronen auf, aber auch ein Indianerhäuptling aus Nordamerika mit seinem Federschmuck. Auf dem Podium saßen die hohen Würdenträger: der ökumenische Patriarch der orthodoxen Kirchen, der Erzbischof von Canterbury, der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, der Großscheich der Al Azhar-Universität, der Präsident der buddhistischen Laienbewegung Rissho Kosei Kai, eine leitende Persönlichkeit hinduistischer Friedensarbeit sowie Vertreterinnen des Judentums und der Baha’i-Religion. Als der Papst in seinem weißen Gewand die Halle betrat und die bunt gemischte Versammlung sah, sagte er lächelnd zu seinen Begleitern: »The other Bishops Synod« – »Die alternative Bischofssynode!« Er drückte seine hohe Anerkennung für unsere interreligiöse Zusammenarbeit aus – und hat in dieser Hinsicht ja auch persönlich ganz wichtige Anstöße gegeben, besonders sichtbar durch das Friedensgebet der Religionen in Assisi 1986, was ihm anfangs viel Kritik eingebracht hatte und das zum Startpunkt für eine Bewegung geistlicher Begegnungen der Religionen geworden ist. Alle Delegierten wurden danach in Bussen nach Riva am Gardasee transportiert, wo in der Ruhe der im Spätherbst wenig frequentierten Hotels intensive Beratungen stattfanden. Die Hauptlast der Organisation und Finan-

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zierung hatte die Fondazione Opera Dei Caduti aus dem im nahen Etschtal gelegenen Rovereto übernommen. Sie ist um die aus Kanonen gebaute größte Glocke der Welt gebildet worden, die dort jeden Tag für die Gefallenen aller Kriege läutet. Als eine wichtige Grundeinsicht bei den Beratungen stellte sich die Erkenntnis heraus, dass Religionen für den Frieden nicht nur Konferenzen auf nationaler und internationaler Ebene braucht, ebenso wie Basisgruppen, die sich um Begegnung, Verständigung, Kooperation vor Ort bemühen, sondern auch kontinuierliche und systematische Arbeit in zentralen Aufgabenfeldern. Der holländische Buddhist Hans van Willenswaard sprach alle in pädagogischen Bereichen tätigen Delegierten an: »We need a Peace Education Standing Commission!« Das wurde zu einem Impuls, aus dem sich für mich ein neuer Arbeitsbereich ergab. Ich hatte beobachtet, dass mir auf vielen Konferenzen und Zusammenkünften immer wieder neu hoch interessante Projekte der Friedenserziehung in und mit den Religionsgemeinschaften begegneten, dass sie aber wechselseitig kaum einmal voneinander wussten, geschweige denn hinsichtlich ihrer Visionen, Ziele, Methoden und Erfahrungen miteinander kooperierten. Eines der wenigen erprobten Beispiele war ein Austausch zwischen nordirischen Friedensinitiativen und dem Friedensdorf Neve Shalom – Wahhat al Salam in Israel, wo jeweils vorurteilsüberwindendes Lernen durch Begegnung und Miteinander-Lernen gepflegt wurde. Ich bekam den Auftrag, den Aufbau einer entsprechenden Kommission zu leiten, wozu durch die kontinuierliche Präsenz interreligiöser und friedenspädagogischer Bildung bei den Nürnberger Foren eine gute Basis gegeben war. In Deutschland hat sich parallel eine neue Vielfalt in der Religionen-­ Didaktik entwickelt, bei der immer wieder an meine grundlegenden Bände aus den 80er-Jahren angeknüpft wurde: hinsichtlich altersgemäßer Entgrenzung – von Sekundarschul-Bildung bis hin zu Elementar- und Erwachsenenbildung –, dem Bemühen um authentische Darstellungen besonders auch in Schulbüchern, einer Bewegung vom ›Lernen über‹ hin zu einem Begegnungslernen, der Förderung interdisziplinärer Zugänge und ersten Ansätzen zu empirischer Forschung. Es entstanden grundlegende religionspädagogische Werke wie Stephan Leimgrubers Interreligiöses Lernen 1995 (2007 in erheblich erweiterter 2. Auflage), bewusst auf katholisch-theologischer Basis entwickelt, meine Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive (1998) und Karl Ernst Nipkows großes Doppelwerk Bildung in einer pluralen Welt (1998). Mit beiden Religionspädagogen bin ich in kontinuierlichem Austausch gewesen, nicht zuletzt durch ihre Mitwirkung bei den Nürnberger Foren. Stephan Leimgruber entfaltete die produktiven Elemente des Zweiten Vatikanischen Konzils für die Religionspädagogik: für einen Dialog und

ein Lernen in Wertschätzung der verschiedenen religiösen Traditionen, die der Einzigartigkeit der Heilserfahrung in Jesus Christus nicht widersprechen müssen. Von dieser dem inklusiven Modell entsprechenden Sichtweise nähert er sich aber auch den Entwürfen einer pluralistischen Theologie der Religionen, wie sie John Hick und Paul Knitter entworfen haben, insofern die Dialogpartner in den anderen Religionen prinzipiell als ebenbürtig angesehen werden und im Gespräch ihr Wahrheitsverständnis voll zur Geltung bringen sollen. Von hier aus beschrieb er den Lernprozess Christen – Juden, den Lernprozess Christen – Muslime und den Lernprozess Christentum – Fernöstliche Religionen, jeweils verbunden mit Impulsen für die religionspädagogische Praxis, in der die andersgläubigen Partner von Objekten des Studiums zu Kommunikationspartnern werden. Der Titel meines Werks Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive war Programm, insofern ich mich bemühte, Evangelium und interreligiöses Lernen in eine konstruktive Beziehung zu setzen. Dabei war mir wichtig, ›Evangelium‹ nicht einfach als Siglum des Protestantismus zu sehen, sondern es zu begreifen als ›gute Nachricht‹, die Jesus gebracht hat und deren Inhalt er selbst ist. Ich habe mich bei diesem Buch nicht unter Zeitdruck gesetzt, sondern von einer vorlesungsfreien Zeit zur nächsten immer wieder ein neues Kapitel konzipiert. Natürlich versuchte ich, vor dem Hintergrund meiner internationalen Erfahrungen einleitend den »gegenwärtigen Welthorizont religiöser Erziehung« zu umreißen. Ich habe dann die Geschichte der Religionspädagogik unter der Perspektive »Besinnung auf den eigenen Glauben und Öffnung für andere Kulturen und Religionen« gesichtet und dabei besonders von Udo Tworuschkas Buch über die Geschichte der nicht christlichen Religionen im christlichen Unterricht profitiert. Auch die Situation der Heranwachsenden beschrieb ich mit Beispielen aus verschiedenen religiös-kulturellen Kontexten: eine Absage an jegliche pauschalisierende Kennzeichnung und ein Plädoyer für ein achtsames Wahrnehmen der jeweiligen Lebens- und Lernbedingungen. Friedrich Schweitzers grundlegendes Werk Lebensgeschichte und Religion half mir, ein Verständnis von Grundtypen der Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter zu gewinnen. Theologisch zentral für die religionspädagogische Orientierung wurde der Bezug auf Wort, Tat und Weg Jesu Christi, aus dem sich eine grenzüberschreitende Pädagogik des Evangeliums ableiten lässt. Eine Schlüsselerzählung dafür ist die Geschichte von der Frau in Syro-Phönizien, also einer heidnischen Frau, die Jesus um die Heilung ihrer kranken Tochter bittet, was Jesus zunächst ablehnt. Er ist dann aber durch ihren großen Glauben bereit zu lernen, dass er nicht nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel geschickt ist (Markus 7,24–30; Matthäus 15,21–28). Wichtig sind natürlich auch seine Gemein-

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schaft mit Zöllnern und Sündern, seine Seligpreisungen und das Gebot der Feindesliebe – sein Weg an der Seite der Leidenden und Schwachen, durchs Kreuz hindurch zum Leben, der sich für die Jünger als der Weg Gottes erweist. Ich plädierte und plädiere dabei für eine Verhältnisbestimmung von Christentum und Weltreligionen, die den Dialog so versteht, dass in ihm Wahrheitserfahrung und Toleranz, Identität und Verständigung als zwei Pole jeweils aufeinander bezogen werden. Die Wahrheitserfahrung der eigenen Tradition und die Aufgabe der Mission – d. h. überzeugender Zeuge des eigenen Glaubens zu sein – wird nicht beiseitegelassen, aber in einen offenen Prozess eingebracht, der Toleranz und Achtung der anderen einschließt, Lernen voneinander ermöglicht und sich bewusst ist, dass all unser Wissen und Reden in irdischer Begrenzung geschieht. Dass Gott, dass der ultimate concern letztlich immer größer ist als menschliches Verstehen, ist eine den verschiedenen Theologien der Religionen gemeinsame Einsicht. Bis in die unterrichtlichen Konkretionen hinein reicht der fünfte Teil des Buches, in dem ich unter dem Motto »Lernen im Lebenszusammenhang des Glaubens« Grundsätze und Beispiele aus verschiedenen Erziehungsfeldern entfalte – vom Grundschulbereich bis hin zur Erwachsenenbildung. Und schließlich habe ich in einem Abschlusskapitel bedacht, wie für Religionslehrerinnen und Religionslehrer Positionalität (ihr eigener Glaube) und Offenheit im Bedingungsfeld von Schule und Religionsgemeinschaft, Fach- und Schülerorientierung zur Geltung kommen können. Karl Ernst Nipkows großes Doppelwerk Bildung in einer pluralen Welt – 1: Moralpädagogik im Pluralismus; 2: Religionspädagogik im Pluralismus – erschien kurz nach meinem Buch und bezog sich vielfach darauf. Es ist eine umfassende Entfaltung der in der Denkschrift Identität und Verständigung der EKD (1994) enthaltenen Grundsätze. Er beschreibt den langen Weg zu einer pluralismusfreundlichen, freiheitlichen evangelischen Schulpolitik, umreißt die Perspektiven interreligiösen und interkonfessionellen Lernens und die sinnvolle Konstitution einer schulischen Fächergruppe Philosophie – Ethik – Religion, für die mehrseitige Gesprächsfähigkeit und Kooperation einzuüben ist. Er geht in je einem eigenen Kapitel dem Verhältnis von Juden und Christen und Christentum und Islam und den damit gebotenen Lernaufgaben detailliert nach und bilanziert die internationale Diskussion anhand des Paradigmenstreits in Europa am Beispiel Englands. Wie Leimgruber konnte Nipkow Anliegen der differenzierten pluralistischen Religionstheologie von John Hick produktiv aufgreifen. Wichtig wurden in diesen Jahren auch die Dissertationen von Werner Haußmann (1993) und Karlo Meyer (1999), die eine Brücke schlugen zwischen der englischen und der deutschen Religionspädagogik und sowohl

die multikulturellen Erfahrungen in Großbritannien als auch die dort entwickelten Unterrichtswege für den Dialog fruchtbar machten. Die Ansätze und praktisch erprobten Modelle, über Learning Religion (konfessionell) und Learning about Religion (religionskundlich) zu einem Learning from Religion zu gelangen, wie sie Robert Jackson, Michael Grimmith, John Hull u. a. entwickelt haben, verliehen den unterrichtlichen Begegnungsmöglichkeiten neue Anschaulichkeit. Werner Haußmanns Vorschlag einer ›Personalisierung‹ – das Sichtbarmachen von religiösen Erfahrungen an den Lebensbeispielen besonders von Kindern dort, wo eine direkte Begegnung nicht möglich ist, wurde von Karlo Meyer weitergeführt: Kinder und ihre Familien, die in einer bestimmten religiösen Tradition leben – exemplarisch: Islam und Judentum – werden befragt und erzählen plastisch davon, wie sie ihren Glauben leben. Dabei will Karlo Meyer bewusst auch die Fremdheiten zwischen den Religionen hermeneutisch wie praktisch ernst nehmen: wie man fremden religiösen ›Gegen-Ständen‹ in ihrer Individualität Raum geben muss und wie wesentlich das weiterführende Gespräch ist, in dem die Schülerinnen und Schüler mit ihrer Sicht zur Geltung kommen. Konzeptionell und praktisch bedeutsam geworden ist in diesen Jahren weiterhin der Hamburger ›Religionsunterricht für alle‹, der aus verfassungsrechtlichen Gründen zunächst »in evangelischer Verantwortung« veranstaltet wurde. Die evangelische Seite – vor allem das Pädagogisch-Theologische Institut Hamburg (Horst Gloy, Folkert Doedens) und die ev. Religionspädagogik an der Universität (Wolfram Weiße, Thorsten Knauth) – hat hierzu in der Tat Entscheidendes beigetragen. Dabei ist ›Dialog‹ von Anfang an das entscheidende Merkmal: Gründend im Dialogverständnis von Martin Buber und Hans-Jochen Margull ist er im Gespräch mit den verschiedenen Religionsgemeinschaften in der multikulturellen Hansestadt entwickelt worden und wird von ihnen gemeinsam getragen. Zum Dialog gehört auch, dass die Schülerorientierung Vorrang erhält vor dem Konfessionsprinzip. Das ist seither in einer Fülle praxistauglicher Unterrichtshilfen konkretisiert worden. Anfragen ergeben sich hinsichtlich der Gewichtung – ob Identitätsbildung hinreichendes Gewicht erhält gegenüber der Verständigungsbemühung – und hinsichtlich der Frage,wie die erforderliche hohe Professionalität der Lehrkräfte zu erreichen ist. Als weitere Zentren mit religionspädagogischer Ausstrahlung haben sich die Universität Duisburg (Folkert Rickers/Eckart Gottwald) und die Interreligiöse Arbeitsstelle Nachrodt INT°RA (Reinhard Kirste/Paul ­Schwarzenau/ Udo Tworuschka) mit der Reihe Religionen im Gespräch herausgebildet. Die neue Vielfalt war auch beim sechsten Nürnberger Forum 1997 präsent. Zu dem Gesamtthema Interreligiöse Erziehung 2000. Die Zukunft der Religions-

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und Kulturbegegnung kamen vom 28. September bis 2. Oktober 50 Referentinnen und Referenten aus 19 Ländern, darunter aus den ›Brenn­punktregionen‹ ehemaliges Jugoslawien, Israel/Palästina, Südafrika, aber auch aus Nordirland, Russland, Indien, Hongkong und Costa Rica: Wie kann religiöse Erziehung zu sinnvollem und verantwortungsvollem Leben verhelfen? Wie kann interreligiöse Erziehung dazu beitragen, Konflikten vorzubeugen, in Konflikten Feindbilder abzubauen, nach Konflikten Versöhnungsarbeit zu leisten? Das waren leitende Fragen für die 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Im theologisch grundlegenden Themenbereich 1 nahmen wir Visionen, Hemmnisse und Perspektiven aus der Sicht der verschiedenen Religionen wahr; die politisch-gesellschaftlichen Kontexte betrachteten wir im Themenbereich 2 anhand von Problemanalysen zum Spannungsfeld von Fundamentalismus und Relativismus – es wurde eine offene Weltkarte religiös mitbedingter Problemfelder. Die Prinzipien interreligiöser Erziehung stellten wir im Themenbereich 3 unter das der dritten unverrückbaren Weisung der Weltethoserklärung entnommene Motto »Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit«, um in den Themenbereichen 4 und 5 Beispiele zukunftsweisender Begegnung in Schule, Hochschule und außerschulischen Feldern vorzustellen – aus europäischen, asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Kontexten. Wir konnten die Konzeption und erste Arbeitsergebnisse der Peace Education Standing Commission (PESC) von Religions for Peace (RfP) präsentieren, Verständigungsarbeit und Versöhnungsbemühungen in den Spannungsgebieten des ehemaligen Jugoslawien und im Nahen Osten, aber auch in Indien und im Südafrika nach der Apartheid dokumentieren. Für den Eröffnungsvortrag hatten wir Annemarie Schimmel gewonnen, die großartige Orientalistin und Brückenbauerin zwischen den Kulturen – sprachlich, inhaltlich und poetisch. In ihrer Entfaltung der Grundlagen christlicher und islamischer Mystik zeigte sie die sich wechselseitig befruchtenden interreligiösen Verbindungslinien zwischen den Mystikern, ihre Einblicke in das tiefste Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes, das sich frei von jeder religiösen Enge entfaltet hat, auf. Als ich ihr direkt vor ihrem Vortrag einen kurzen Einblick gab in die breite internationale Hörerschaft, die sie erwartete, fragte sie mich, ob sie ihren Vortrag wechselnd in Deutsch und in Englisch halten solle. Ich erwiderte, das sei durchaus willkommen, könne aber keine Verlängerung ihrer Redezeit einschließen. »Ich werde meine Redezeit einhalten«, antwortete sie. Nach der Begrüßung stellte sie sich hinter das Katheder, schloss die Augen, begann in Deutsch, wechselte nach wenigen Minuten ins Englische – klar, verständlich, bildhaft – und endete mit ihren Ausführungen pünktlich nach einer Dreiviertelstunde! Wir verschriftlichten mit einiger Mühe ihre mündliche Rede in deutscher wie

in englischer Fassung, schickten sie ihr zu und erhielten von ihr dann die Genehmigung zur Veröffentlichung. Den harten Bedingungen und Schwierigkeiten der Religionsbegegnung im Blick auf die Schule widmete sich demgegenüber Karl Ernst Nipkow, indem er das Thema Wahrhaftigkeit im Glauben und Fürsorge für eine bewohnbare Erde in Gerechtigkeit wählte. Er stellte dem Lernen in der Pluralität die Aufgabe, Identitätsprofile zu entwickeln und gleichwohl zukunftsorientiert zu denken und zu handeln. Meisterhaft bilanzierte er beim Schlussplenum in einer Art Talkshow mit den Gruppenleitern der fünf Themenbereiche, wie an den oft harten Realitäten politisch-religiöser Spannungsfelder langfristig konstruktiv gearbeitet werden kann. An all den vielfältigen Erfahrungen dieser Jahre nahm auch unsere Familie in mehrfacher Hinsicht teil. Susanne brachte sich vor allem in die Arbeit der Schneller-Schulen in Amman/Jordanien und Khirbet Kanafar/Libanon ein und berichtete beim Forum 1997 über die Erfahrungen dieser Schulen, gemeinsam christlichen und muslimischen Kindern aus armen Familien eine fundierte Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen. Diese Schulen gehen auf die Gründung des ›Syrischen Waisenhauses in Jerusalem‹ durch den schwäbischen Missionar Johann Ludwig Schneller 1860 zurück. Jerusalem war damals Teil der Provinz Syrien des osmanischen Reiches, und durch die kriegerischen Spannungen zwischen Drusen und Christen gab es Waisenkinder, um die sich Schneller kümmerte. Die Einrichtung entwickelte sich bis 1900 zur größten diakonischen Institution im Nahen Osten, und das Konzept ›Ausbildung der Kinder, im Land für das Land‹ führte dazu, dass Schneller-Schüler zu sein im Orient gleichsam als Markenzeichen für fundierte Qualifikation galt. Als die Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Jerusalem nicht mehr fortgeführt werden konnte, taten sich frühere Schneller-Schüler mit den Enkeln des Gründers, Hermann und Ernst Schneller, zusammen, und es kam zum Aufbau der Schulen im Libanon und in Jordanien. In Jordanien hat sich das Königshaus mit König Hussein an der Spitze immer wieder für diese Schuleinrichtung eingesetzt. Von der christlichen Basis aus wurden die Schulen zunehmend zu Orten interreligiöser Friedenserziehung. Und so gilt gegenwärtig, dass unter dem Motto ›Frieden Leben Lernen‹ an der Johann-Ludwig-Schneller-Schule im Libanon und an der Theodor-Schneller-Schule in Jordanien christliche und muslimische junge Menschen lernen, friedlich zusammenzuleben. Viele kommen aus Flüchtlingsfamilien oder schwierigen Familienverhältnissen, einige sind durch Gewalterfahrungen geprägt. In den Schneller-Schulen erleben Christen und Muslime gemeinsam Geborgenheit. Im Vorstand des Evangelischen Vereins für die Schneller-Schulen (EVS) als des deutschen Fördervereins wurde und

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wird in Zusammenarbeit mit den kirchlichen Trägern vor Ort über Wege zeitgemäßer integrativer Pädagogik, gerade auch der Religionspädagogik, nachgedacht und ein vielfältiger Austausch, auch auf der Mitarbeiterebene, gepflegt. Mehrfach war Susanne mit dem Vorstand vor Ort und setzte sich besonders dafür ein, dass zusätzlich zu der traditionellen Jungenerziehung auch für Mädchen der Zugang zu den Schulen geöffnet wurde. Im familiären Kreis erlebten wir eine besondere ›Kulturbegegnung‹ dadurch, dass über den American Field Service (AFS) ein junger Amerikaner – Daniel Fogarty aus Kalifornien – für ein Jahr zu uns kam, gleichsam als Gastbruder für Luise, die noch das Neue Gymnasium in Nürnberg besuchte, während ihre großen Schwestern schon weit im Studium waren. Daniels Vater entstammt einer irischen Familie, die Mutter ist Vietnamesin. Die Eltern hatten sich während des Vietnam-Krieges kennengelernt, und Daniel war in Singapur in großem Familienkreis aufgewachsen, bevor er nach Kalifornien kam, wohin seine Mutter ausgewandert war. Er ist sprachlich wie musikalisch hoch begabt und hatte lange den Wunsch gehabt, nach Deutschland zu kommen. Er fühlte sich in unserem Haus, in dem er erstmals ein eigenes Zimmer hatte, von Anfang an wohl und sah bald in Susanne und mir seine Vize-Eltern. Buddhistisch geprägt, war er eigentlich Vegetarier, aber man hatte ihm in Kalifornien gesagt, in Deutschland müsse er Fleisch essen, was er daraufhin trainierte – um dann festzustellen, dass unsere älteste Tochter auch Vegetarierin ist. Gleichwohl schmeckten ihm Nürnberger Würstchen und Glühwein auf dem Christkindlesmarkt besonders gut. Das Neue Gymnasium war so flexibel, für ihn ein besonderes Lernprogramm zusammenzustellen: in Englisch Teilnahme am Leistungskurs, in den meisten anderen Fächern Unterricht in Luises 11. Klasse, in Französisch, was er gern lernen wollte, in einer 9. Klasse, die frisch mit Französisch begonnen hatte. Zu den Nürnberger Museen und ihren Kunstschätzen öffnete ihm Henrike, unsere Älteste, den Blick. Fast unbändig war seine Freude, als er erstmals bei uns Schnee erlebte, und bei der gemeinsamen Reise in unser Ferienparadies am Lago Maggiore sammelte er die Stempel von Österreich, Liechtenstein, der Schweiz und Italien in seinem Pass. Zwischendurch konnte er seinen über 90-jährigen Großvater, den er noch nie gesehen hatte und der allein in einem kleinen Bauernhaus in Irland wohnte, besuchen. Daniel wurde später Jurist, und sein weiterer Weg führte ihn von den USA aus u. a. nach Taiwan, Vietnam und China; immer blieb er dabei wie ein Mitglied unserer Familie im Austausch auch aus der Ferne. Unser Familienkreis erweiterte sich, als im April 1994 zu unserer Freude Angela als erstes Enkelkind geboren wurde. Ihre Mutter Charlotte hatte im Jahr zuvor mit ihrem Mann Markus eine eigene Wohnung in Bamberg bezie-

hen können. Wir genossen es, vergleichsweise junge Großeltern zu sein und die Entfernung von Nürnberg aus leicht überbrücken zu können. Die Taufe in der schönen hellen, barock ausgestatteten Kirche St. Stephanus konnte sogar noch mein Vater halten. Die Eltern teilten sich die Elternzeiten so ein, dass Charlotte ihr Referendariat abschließen und Markus sich auf die Steuerberaterprüfung vorbereiten konnte – und beide ihre Abschlüsse gut erreichten. Die Nachricht von der Geburt unseres zweiten Enkelkindes, Jakob, im Oktober 1995 erhielt ich an einem besonderen Ort, nämlich in Bethlehem. Dort nahm ich teil an einer Konferenz über Kontextuelle Theologie in Palästina. Es war die Zeit des Oslo-Prozesses, der Verträge, die erstmals den Palästinensern begrenzte Selbstverwaltung und eine Autonomie-Behörde in Jericho ermöglichten – eine Zeit voller Hoffen und Bangen. Eingeladen hatten Mitri Raheb, evangelisch-lutherischer Pastor der Weihnachtskirche in Bethlehem, und seine Schwester Viola Raheb, Pädagogin und stellvertretende Schulrätin für die evangelischen Schulen in Palästina. Wir tagten kurz nach der Eröffnung des Internationalen Zentrums in der Weihnachtskirche. Mit mir waren dort der katholische praktische Theologe Ottmar Fuchs aus Bamberg, Ulrike Bechmann, Leiterin des Büros für den Weltgebetstag der Frauen, Hans-Jürgen Abromeit, Direktor des Pastoralkollegs der westfälischen Landeskirche, und Paul Löffler, Leiter des interreligiösen Dialogs in Schleswig-Holstein und erfahrener Nahostkenner. Es war ein theologisches Symposium mit bewusster Anbindung an die Lebenspraxis in Palästina: mit Besuchen im spannungsgeladenen Hebron und in Jericho, mit Gesprächen im Präsidialbüro von Yassir Arafat, im Al-Liqa-Dialogzentrum in Bethlehem und in der Schule Talitha Kumi in Beit Jala. Was heißt hier ›kontextuelle Theologie‹? Schnell wurde klar, dass ›kontextuell‹ nicht ›provinziell‹ heißt, so sehr das Lebensumfeld, die Lebensbedingungen, die geschichtlichen Prägungen und – im Falle Palästinas – auch die Leiden der Menschen zu bedenken sind. Im Gegenteil: die ökumenische Dimension, die interreligiöse Begegnung, die globalen Herausforderungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung gehören unlösbar dazu. Gemeinsam haben wir gefragt: Wie lesen wir in diesem Kontext die Bibel? Wie gehen wir mit der ›doppelten Solidarität‹ mit Israel und dem palästinensischen Volk um? Welche Bedeutung hat der ökumenische und der interreligiöse Dialog? Welche Aufgaben haben die christlichen Schulen, die christliche Erziehung in diesem Kontext? Aus der biblischen Überlieferung werden die Linien von Recht und Gerechtigkeit wichtig im palästinensischen Kontext, die Erwählung Gottes, die gerade den Schwachen gilt und die durch Jesus Christus ein Angebot wird für alle Völker und Kulturen. In der Solidarität mit Israel und mit den Palästinen-

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sern ist es wichtig, beide Seiten mit gleicher Ernsthaftigkeit zu hören. Uns wurde deutlich gemacht, dass die Arbeit der kleinen, aber im religiös-politischen Kontext wichtigen christlichen Kirchen nicht im Gegensatz zum Islam gepflegt werden soll, sondern in gemeinsamer Anstrengung mit Muslimen, mit Scheichs und Imamen. Von deren Seite hörten wir viel Anerkennung des Friedenseinsatzes der Christen und ihrer Erziehungsarbeit. Unter pädagogischer Perspektive hob Viola Raheb hervor, wie wichtig es für die Kinder ist, zu lernen, dass der religiöse Pluralismus zur palästinensischen christlichen Identität hinzugehört. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit der christlichen Schulen liege im Heilen der inneren und äußeren Verletzungen, denen die Kinder in den vergangenen Jahren ausgesetzt waren. Blicke ich auf die politisch und religiös unheilvollen Entwicklungen und Konstellationen, die sich seither im heilig-unheiligen Land ergeben haben, könnte man enttäuscht und verzweifelt sein. Und doch wurde uns bei einer Reise im November 2015 deutlich, wie viel Linderndes und Heilendes von christlicher und interreligiöser wie auch säkularer karitativer und auf Friedensbemühungen konzentrierter Arbeit ausgeht und von engagierten Menschen unbeirrt verfolgt wird. Bei der Konferenz damals war es der Abend des 2. Oktober, an dem Viola Raheb mit einem Fax aus Bamberg zu mir kam und sagte: »Ich glaube, Sie sind wieder Großvater geworden.« Jakob war genau am Geburtstag meiner Großmutter Lähnemann geboren – ein mir wohl vertrautes Datum. Schnell besuchten wir nach meiner Rückkehr die nun vierköpfige Familie in Bamberg, bewunderten den Enkel, und Susanne fuhr zur Unterstützung hin, so oft sie konnte. Die Taufe war für den April 1996 geplant und sollte noch von meinem Vater gehalten werden. Er suchte als Taufspruch das Wort aus Jakobs Kampf mit dem Engel aus: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« Unerwartet für uns mussten wir im Februar von ihm Abschied nehmen. Er hatte sich gewünscht, den Gottesdienst zu Martin Luthers 450. Todestag in der LukasKapelle in Bielefeld-Senne zu halten, und hatte ihn schon Wochen vorher sorgfältig vorbereitet. Was er in der Predigt sagte, erhielt überraschend einen tiefen Bezug zu seinem eigenen Leben. Er erzählte von den letzten Stunden Martin Luthers. Er berichtete, wie Martin Luther im Angesicht des Todes von seinen Freunden gefragt wurde: »Ehrwürdiger Vater, wollt ihr auf die Lehre und den Glauben, wie ihr ihn gepredigt habt, auch sterben?« Worauf Luther laut und vernehmlich mit »Ja« antwortete. »Seine letzten Worte waren dann das Gebet des sterbenden Jesus am Kreuz: ›Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.‹ Du hast mich erlöst, HERR, du treuer Gott« (Lk 23,46; Ps 31,6). Und unser Vater fuhr fort: »Dazu kann man mit den

Liedworten sagen: ›Wer so stirbt, der stirbt wohl.‹« Unser Vater lud dann nach den Fürbitten die Gemeinde noch zum Vaterunser ein. Dabei brach er zusammen – und starb wenige Tage danach in Bielefeld, kurz nachdem wir im Geschwisterkreis an seinem Sterbebett zusammen alle Verse von Befiehl du deine Wege von Paul Gerhardt gesungen hatten. – Die Taufe des kleinen Jakob hielt dann ich, wiederum in der Stephanskirche in Bamberg. In unserer Auferstehungskirchengemeinde in Nürnberg-Zerzabelshof hatten wir im Laufe der Jahre mit unserem Posaunenchor die Tradition der Bläsergottesdienste aufgebaut: Mit den Bläserinnen und Bläsern suchten wir jeweils ein Kirchenlied aus, das den Mittelpunkt eines besonderen, festlich ausgestalteten Gottesdienstes bilden sollte. Dazu wurden passende Bläsersätze geprobt, weitere Choräle und Bläsermusiken herangezogen, und ich predigte über das ausgewählte Lied, das damit zum Predigttext wurde. Der ganze Reichtum der evangelischen Liedtradition kam dabei zur Geltung, von den Liedern der Reformations- (z. T. auch Vorreformations-)Zeit über die Paul-Gerhardt-Lieder, die Lieder des Pietismus, des 19. Jahrhunderts, die Liedtexte Jochen Kleppers, Dietrich Bonhoeffers bis hin zu dem reichen neuen Liedgut aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vieles davon erstmals während der evangelischen Kirchentage gesungen. Wir profitierten davon, dass die Posaunenchorarbeit in Deutschland einer der lebendigsten, die Generationen übergreifenden Arbeitszweige der evangelischen Kirche war und ist, mit einer großen Vielfalt an Bläsersätzen, unter die auch Elemente von Jazz und Gospel aufgenommen wurden. Wir luden die Freundinnen und Freunde aus unserer Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden ein, die so diese spezifisch protestantisch geprägte Form geistlicher Kultur kennenlernen konnten. Nach einem der Gottesdienste umarmte mich begeistert ein Imam, erfüllt von dem spirituellen Erlebnis, und sagte humorvoll, ich sei jetzt ihr ›Hauptimam‹. Zum 50-jährigen Jubiläum unseres Posaunenchores 1996 brachten wir in Zusammenarbeit mit dem in unserer Gemeinde beheimateten Helmut-Seubert-Verlag ein sehr schön gestaltetes Buch mit 18 Liedpredigten heraus, bereichert um Kunstwerke der Münsteraner Künstlerin Rika Unger, das zu einem ganz vielfältig gebrauchten Andachtsbuch geworden ist. Nach dem Abschied von unserem Vater mussten wir 1997 auch von Susannes Mutter (als Letzte unserer Eltern) Abschied nehmen. Ich lag in tiefer Todesnacht, du warest meine Sonne – das war einer der vielen Verse, die sie auswendig wusste und mit denen sie sich in den Nächten, die oft von ihrer großen Herzschwäche belastet waren, getröstet hat. Unverändert rege war bis zuletzt ihr Geist, und sie nahm vom nahen Wohnstift aus lebhaft an allem Familiengeschehen teil: Mit fachkundigem Interesse ließ sie sich von ihrer

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ältesten Enkelin Henrike, die nach ihrer Promotion in Bamberg mit ihrem Doktorvater Christoph Huber als Assistentin nach Tübingen gegangen war, über ihre Forschungsarbeiten in mittelalterlicher Literatur berichten. Für Luise hoffte sie, dass sie nach ihrem Abitur einen der raren Studienplätze an einer Schauspielschule erhielt, was Luise schließlich an der Hochschule für Musik und Theater Zürich gelang. Es gab unendlich viel, was die Familie mit ihr verbindet. Mit ihrer Erzählkunst blieb sie uns vor Augen, wenn wir die in den letzten Jahren neu geschriebenen Märchen lasen. Liebende Herzen in Trapezunt hieß das Buch, das wir mit Hilfe unseres Verleger-Freundes Peter Athmann posthum herausbringen konnten. Darin leuchtet noch einmal die Liebe unserer Eltern zu Kleinasien auf, die sie mit ihren griechischpontischen und ihren türkischen Freunden teilten. – Ich habe die Trauerfeiern sowohl für meine Eltern als auch für meine Schwiegereltern halten können – in Freistatt, wo meine Eltern ja 25 Jahre lang gewirkt hatten. Ich wurde manchmal gefragt, wie ich es als Sohn schaffen könnte, an den Särgen zu stehen und diesen Abschied zu gestalten. Ich selbst empfand dieses Abschiednehmen natürlich als schwer, aber letztlich auch als sehr wertvoll. Gab es doch bei jedem der Eltern viel Dank zu sagen. In den Tagen zwischen dem Heimgang und den Trauergottesdiensten habe ich mich jeweils noch einmal so in ihre Lebenswege vertieft und mit Bibeltexten und geistlichen Liedern verbunden, dass ich gut darüber sprechen konnte, innerlich sehr bewegt, aber doch in Ruhe und geistlicher Verbundenheit mit den Verstorbenen. Susanne erlebte in diesem Jahr eine weitere Kulturbegegnung, bei einer Reise mit einer Frauendelegation auf die indonesische Insel Sulawesi, zu der vier Partnerkirchen des Evangelischen Missionswerks Südwestdeutschland, dessen Synode sie angehörte, eingeladen hatten: Sieben deutsche Frauen waren unter der Leitung der Indonesienreferentin des Missions­werks drei Wochen unterwegs. Eine Pfarrerin aus Bali begleitete sie, und immer abwechselnd reisten Indonesierinnen mit ihnen von einer Gemeinde zur nächsten. Christliche Frauengruppen vor Ort hatten ein dicht gefülltes Programm vorbereitet. Überall – auch in den ärmsten Gemeinden – wurden sie auf das Herzlichste begrüßt und bewirtet. Die Freude über den Besuch der Schwestern war groß. Natürlich wurden Wünsche um mehr Unter­stützung durch die reichen Kirchen vorgetragen, aber auch Projekte vorgestellt, in denen sich landwirtschaftlicher, diakonischer oder auch erzieherischer Einsatz der meist kleinen christlichen Gemeinden in einem großen muslimischen Umfeld hilfreich auswirkten. Ein tiefes Erlebnis waren die durch engagierte Predigten (oft von jungen Pfarrerinnen gehalten), freudiges Singen und intensives Beten gestalteten Gottesdienste. Kurz danach hat sich in verschiedenen Teilen Indonesiens zur Katastrophe entwickelt, was sich bei dem Besuch

schon als Notstand anbahnte: In vielen Gemeinden herrschte auf Grund der langen Trockenperiode Wassermangel, und die ersten Smogalarme wegen der Waldbrände wurden ausgegeben. Erschreckend wirkte sich der ausbeuterische Zugriff der Menschen auf die Natur und die ungleichen Zugänge zu den Wasserquellen aus. Die Gemeinden in Indonesien und ihre Partner sahen sich ganz neu herausgefordert, Zeichen für nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen und die Bewahrung der Schöpfung zu setzen. 1998 war für Susanne und mich das erste Jahr ohne Kinder im Haus und ohne Eltern, und das ließ uns wiederum vielfältig unterwegs sein. Gemeinsam erlebten wir eine sonnige Frühlingswoche in Granada in Südspanien. Die märchenhafte Alhambra, Burg der letzten muslimischen Herrscher in Andalusien, bringt bis heute einen Widerschein vergangener orientalischer Raum- und Gartenarchitektur in die nach dem Willen der katholischen Herrscher umgestaltete Stadt. Wir erfuhren, wie man sich neu bemüht um die Verlebendigung des großen kulturellen Erbes aus dem Mittelalter und um ein gutes Miteinander von Christen und Muslimen. Die UNESCO-Kommissionen Spaniens verfolgten die Aufgabe, die Religionen für eine Kultur des Friedens zu gewinnen, und luden zu einer Konferenz über Religiöse Erziehung in einem Kontext von Pluralismus und Toleranz ein. Wie verengt die Perspektive ist, wenn hervorgehoben wird, die abendländische Kultur speise sich aus jüdisch-christlichen Wurzeln, zeigte uns die Begegnung mit der Geschichte Andalusiens. Ich konnte vor Religionsvertretern aus der ganzen Welt die ersten Ergebnisse der im Aufbau befindlichen Peace Education Standing Commission von Religions for Peace vorstellen. In einer Pilotphase – gefördert von der Evangelischen Kirche in Deutschland – hatten wir mit einem kleinen Team beispielhafte Modelle der Friedenserziehung in den Religionen untersucht. Dabei bestimmten wir als drei Aufgabenbereiche die religiöse und interreligiöse Erziehung, die Erziehung zu gewaltfreier Kommunikation und Konfliktlösung und die Umwelterziehung und Erziehung zu sozio-ökonomischer Entwicklung. Im September dieses Jahres wurde ich dann gebeten, WCRP direkt bei der UNESCO in Paris zu vertreten, wo die vierte Session des Advisory Committee on education for peace, human rights, democracy, international understanding and tolerance stattfand. Als Mitglied einer NGO hatte man in diesem Gremium aus offiziellen Vertretungen vieler Staaten nur Beobachterstatus. Gleichwohl versuchte ich, mit einer Tischvorlage die Delegierten davon zu überzeugen, dass in dem geplanten Fragebogen nicht nur allgemein vom Lernen über die Werte der Kulturen die Rede sein sollte, sondern explizit auch die Religionen genannt werden sollten, die sowohl bei Konflikten als auch in den Friedensbewegungen eine wesentliche Rolle spielten. Aber das Bewusstsein, dass dieses ein relevantes Erziehungsfeld ist, war damals auf

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politischer Ebene noch nicht entwickelt. Erst die Anschläge des 11. September 2001 haben da ein Umdenken provoziert. Im folgenden Winter hatte ich ein Forschungssemester, das für uns mit einer Reise nach Birming­ham begann, der ›multikulturellen Hauptstadt Europas‹. Für drei Wochen lebten wir dort im Woodbrooke College am Rande der Millionenstadt. Leitgedanke des von Quäkern getragenen Hauses war es, eine holding atmosphere für alle zu verwirklichen, die auf dem großen alten Landsitz und seinem Park zu Gast sind. Ein morgendlicher Gebetskreis und ein besinnlicher Abendkreis im Schweigen, Möglichkeiten zum Gespräch bei Teepausen und bei den Mahlzeiten, geteilte Pflichten und freiwillige Mitarbeit in Küche und Garten schafften rasch gute Verbindungen untereinander. Dass es bei diesem auf gemeinsamen Lebensvollzug ausgerichteten Stil um mehr als private ›Erbauung‹ geht, wurde deutlich bei den Menschen, die sich von diesem Standort aus in Krisengebieten der Welt engagierten. Wir selbst durften in dem Zimmer wohnen, in dem Mahatma Gandhi weilte, als er, der lange Zeit als Erzfeind des Empire galt, erstmals nach England zu Verhandlungen kam. Damals wollte er ausdrücklich in Woodbrooke zu Gast sein, um seine Verbundenheit mit den Quäkern zu zeigen, die ihn bei seinem gewaltlosen Kampf um die Unabhängigkeit Indiens mit großem Engagement unterstützt hatten, indem sie in England unzensierte Nachrichten über seinen gewaltfreien Widerstand brachten. Im Tagebuch des Colleges waren die Stunden, die er dort verbrachte, genau beschrieben, beginnend mit seiner allmorgendlichen Wanderung und Meditation. Vor dem Zimmer hing ein Bild mit einer Botschaft von ihm, die seither mit mir geht: »Wenn du in einer Lage bist, in der du nicht weißt, wofür du dich entscheiden sollst, dann stell dir den ärmsten und elendsten Menschen vor, der dir je begegnet ist, und bedenke, ob deine Entscheidung ein wenig dazu beitragen kann, dass sich seine Lage verbessert – und du wirst sehr schnell wissen, wofür du dich entscheiden sollst.«

Jetzt waren junge Leute da, die von ihrem mutigen Frie­densein­satz in Sri Lanka und in Indien berichteten. Ich hielt – in Zusammenarbeit mit meinem blinden Freund John Hull, der sicher einer der fantasiereichsten Religionspädagogen der vergangenen Jahrzehnte war und der als erster Religionspädagoge überhaupt in Großbritannien zum Full Professor ernannt worden war – Vorlesungen und Seminare an der Universität und sammelte Material für ein Unterrichtswerk zu denWeltreligionen, das ich in Folge meiner Evangelischen Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive vorbereiten wollte. Dazu half auch das Centre for the study of Islam and Christian-Muslim Relations mit seinem Leiter Jörgen Nielsen, das viele junge Wissenschaftler, vor allem

aus islamisch geprägten Ländern, förderte und das als brain trust der christlich-islamischen Beziehungen in Europa gelten kann. Gegenüber den eher ruhigen Wochen in Birmingham war die zweite große Reise dieses Forschungssemesters erheblich aufregender und nicht ohne Spannungen: Mit 15 Christen aus Deutschland und ebenso vielen koptischen Christen und Muslimen aus Ägypten waren wir im März 1999 für drei Tage auf einem Nilschiff zu Begegnung und Dialog versammelt. Eingeladen hatte die Dialogabteilung der Koptisch-Evangelischen Kirche, mit 300.000 Mitgliedern größte protestantische Kirche im Nahen Osten, in Zusammenarbeit mit dem Islam-Arbeitskreis in der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Hergestellt wurde die Verbindung durch Pfarrer Tharwat Kades, der aus der koptisch-evangelischen Kirche in Ägypten stammte, in Langen in Hessen Dienst tat und sich für den Dialog in Ägypten wie in Deutschland engagierte. Nach einem früheren Besuch in Ägypten hatte sich besonders auch Kirchenpräsident Peter Steinacker für dieses Vorhaben eingesetzt, unterstützt vom Islam-Beauftragen Pfarrer Claus J. Braun und dem Islam-Arbeitskreis der hessen-nassauischen Kirche; Steinacker selbst hielt das zentrale Referat über die Frage nach einer gemeinsamen Zukunft der Religionen. Weitere Teilnehmer waren der Religions- und Missionswissenschaftler Theo Sundermeier, der Orientalist Hans Daiber, ich als Religionspädagoge sowie Pfarrerinnen und Pfarrer ›von der Basis‹, darunter Wolfram Reiss, der über die pädagogische Erneuerung in der koptischen Kirche Ägyptens seine Doktorarbeit geschrieben hatte. Von ägyptischer Seite waren Professorinnen und Professoren der Al Azhar-Universität und ein Vertreter des Religionsministeriums ebenso beteiligt wie koptisch-evangelische und koptisch-orthodoxe Theologen und der Bischof der koptisch-katholischen Kirche, Youhanna Kolta. Drei Tage auf dem Schiff von Luxor nach Assuan, das hieß einerseits: die große Flussoase des Nils erleben, mit den fruchtbaren Ufern und den Tempeln und Königsgräbern der Pharaonenzeit, Sonnenaufgang und Untergang hinter den Palmen. Es bedeutete aber auch: Wir waren auf engem Raum zusammen, mit der Chance des unmittelbaren Kontakts, aber auch der Notwendigkeit, in schwierigen Situationen des Dialogs nicht einfach auseinandergehen zu können. Islam und der Westen war die Gesamtthematik. Sie ist geschichtlich belastet durch die koloniale und nachkoloniale Geschichte, durch das im Westen verbreitete Bild vom Islam als einer unbeweglichen, unmodernen und in der Gegenwart aggressiven Religion; auf islamischer Seite trifft man immer wieder auf das Bild von einem dem Pluralismus verfallenen ›Westen ohne Werte‹. Dieses Bild wurde hinterfragt durch Vorträge zu Islam und Wissenschaft und

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zur Situation der Religionsgemeinschaften in der weitgehend säkular geprägten deutschen Gesellschaft. Die nachaufklärerisch-kritischen Beiträge aus Deutschland wurden von den Ägyptern, zumal den Muslimen, ebenso mit Skepsis gehört wie von deutscher Seite die muslimischen Beiträge, die das traditionell positivistische Bild vermittelten, dass in den Wurzeln des Islam im Koran alle wesentliche, auch moderne Wissenschaft bereits angelegt sei. Immer wieder wurde wechselseitig ein großes Bedürfnis an Information, genauerer geschichtlicher Kenntnis und Dialogerfahrung artikuliert. Offen wurden von beiden Seiten Menschenrechtsfragen angesprochen: Von christlicher Seite aus waren es u. a. die Frage nach der freien Religionswahl und der Stellung der Frau. Die muslimischen Gesprächspartner wiesen hierzu auf die geschichtlich gesehen fortschrittlichen Bestimmungen des Koran hin – die Aussage aus Sure 2, Vers 256: »In der Religion gibt es keinen Zwang« und die deutliche Aufwertung der Frau in der damaligen arabischen Gesellschaft, Bestimmungen, die es in der Gegenwart fortzuschreiben gälte. Ebenso direkt wurden von muslimischer Seite Fragen einer gerechten Wirtschaftsordnung für die vom Westen abhängigen muslimischen Länder und besonders gegenüber dem in den westlichen Medien verbreiteten Negativbild des Islam vorgebracht. Die drei gemeinsamen Tage auf dem Schiff bewirkten, dass wir nicht beim freundlichen Austausch von Höflichkeiten stehen blieben. Es gab auch keine voreilige Einigung auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Wir mussten uns darin üben, die Fremdheit der Denkweise der anderen zu akzeptieren, ohne ihr deshalb zuzustimmen. Nicht einfach war das Bemühen, sich über Begriffe und Anliegen zu verständigen, auch angesichts der Sprachprobleme; die vorgesehene Kommunikation in Englisch reichte nur begrenzt; es war immer wieder notwendig, ins Deutsche, ins Arabische und aus dem Arabischen zu übersetzen. Als inhaltliches Grundproblem erwies sich die inklusive muslimische Sicht der dem Islam voraufgegangenen Schriftreligionen Judentum und Christentum. Nach herkömmlicher muslimischer Sicht sind beide Religionen mit ihrer eigentlichen Botschaft im Koran aufgenommen, die vermeintlichen Verfälschungen, die sich in Tora und Evangelium finden – einschließlich der Gottessohnschaft Jesu – beseitigt. Wir fühlten uns hier ähnlich pauschal vereinnahmt, wie es dem Judentum immer wieder ergangen ist, wenn es mit der christlichen Sicht von Tora und jüdischer Tradition konfrontiert war und oft noch ist. Auf muslimischer Seite zeigte sich besonders die Schwierigkeit, die theologischen und anthropologischen Grundanliegen unserer im Weg Jesu Christi gegründeten zentralen Heils- und Erlösungserfahrung wahrnehmen zu können. Ein Grundkonsens bestand demgegenüber darin, dass der Gottesglaube in beiden Religionen zu achtungsvollem Umgang miteinander verpflichten

muss. Er half uns, zusammenzubleiben und besonders die Chance der persönlichen Gespräche zwischendurch zu nutzen. Natürlich sprachen wir auch über gemeinsame Herausforderungen. Die Leitbilder des konziliaren Prozesses – Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung – erwiesen für beide Seiten ihre Relevanz ebenso wie die Grundlinien des Projekts Weltethos – Achtung vor allem Leben, Eintreten für Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung, die Förderung von Toleranz und Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander, das Eintreten für partnerschaftliches Zusammenleben in Ehe und Familie … Dass in der Erziehung die Kinder vertraut gemacht werden sollen mit ihrer Religion als einem ›verantwortungsfähigen Sinnsystem‹, aber auch zu offener Begegnung mit Andersgläubigen befähigt werden sollen, haben damals Christen und Muslime ebenso unterstrichen wie die Aufgabe der Friedenserziehung. Das war auch eine Leitlinie bei den anschließenden Gesprächen mit Muhammad Sayyid Tantawi, dem damaligen Groß-Scheich der Al AzharUniversität, wie auch mit Papst Shenouda III. von der koptisch-orthodoxen Kirche. Beide betonten auch, wie wichtig es sei, radikalen Kräften aktiv entgegenzutreten, eine Herausforderung, die nach dem arabischen Frühling 2011 keineswegs geringer geworden ist. Besonders eindrucksvoll war für uns das Erlebnis der koptischen Frömmigkeit, sowohl in der koptisch-evangelischen als auch in der koptisch-orthodoxen Kirche. Papst Shenouda versammelte zu seinen wöchentlichen Ansprachen in Kairo viele tausend Gläubige um sich, darunter zu großen Teilen Jugendliche. Die zunächst vorwiegend von Laien getragene Sonntagsschulbewegung hat zu einer Wiederbelebung der monastischen Frömmigkeit geführt. Mein späterer Mitarbeiter Wolfram Reiss hat das in seiner Dissertation eindrucksvoll dargestellt. Im St. Bischoi-Kloster, wo 30 Jahre zuvor nur 14 Mönche lebten, gab es 1999 140 Mönche. Sie kommen zu großen Teilen aus akademischen Berufen. Die Klöster werden von vielen Gläubigen regelmäßig mit der ganzen Familie besucht, besonders an den Freitagen, dem offiziellen freien Tag in Ägypten, und an Sonntagen – zur persönlichen Andacht und zur Teilnahme an den Gottesdiensten, die der traditionellen Liturgie folgen, inzwischen aber regelmäßig Predigten einschließen. Dass es auch in der koptisch-orthodoxen Kirche Spannungen und Richtungsauseinandersetzungen gegeben hat und gibt – vor allem zwischen einer mehr auf das persönliche geistliche Leben bezogenen Ausrichtung und einer mehr sozial-diakonischen Prägung – ist nicht zu verschweigen. Aber das lebendige, sichtbare Zeugnis des christlichen Glaubens hat sich immer wieder als hilfreichste Grundlage im Dialog mit Muslimen erwiesen.

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Susanne und ich konnten im Anschluss an die Dialoge in Ägypten noch nach Jerusalem, Bethlehem und Amman reisen, und ich erlebte zum ersten Mal die Arbeit der Schneller-Schulen vor Ort, sehr beeindruckt von den Bemühungen um die durchgängig aus schwierigen Verhältnissen kommenden Kinder, die hier einen Platz finden konnten, um bei erzieherischer Zuwendung, in Geborgenheit und Schutz leben und lernen zu können. Wir sprachen mit den Lehrerinnen und Lehrern, der Schulleitung und den Erziehern über ihre Erfahrungen, besuchten den Unterricht, die Wohngruppen und die Werkstätten. Nicht nur der persönliche Einsatz aller für die Kinder und Jugendlichen sprach uns an, sondern ebenso das gemeinsame pädagogische Bemühen von Christen und Muslimen, das vom jordanischen Königshaus bewusst gefördert wird. Ich konnte erste Vorklärungen treffen für ein Seminar zu interreligiöser Friedenserziehung, das ich für die Peace Education Standing Commission für die Tage vor der nächsten Weltversammlung von Religions for Peace ins Auge fasste, die im November 1999 in Amman stattfinden sollte. Besonders intensiv habe ich in dieser Zeit die Arbeit von Heiner Aldebert an seiner Habilitationsschrift begleitet: »Spielend Gott kennenlernen« setzte er als Motto über seine Bemühungen, das Bibliodrama als Weg, der biblischen Botschaft kreativ-existentiell zu begegnen, religionspädagogisch zu erschließen. Er stellte nicht nur die sehr differenziert ausgearbeiteten Grundlagen des Bibliodramas ausführlich dar, seine Möglichkeiten und Grenzen sowohl in theologischer als auch in pädagogischer Hinsicht, sondern folgte auch den Spuren von Theater und Spiel im Kontext der Gestaltung biblischer Inhalte durch die Kirchengeschichte hindurch, er erprobte und dokumentierte bibliodramatisch-pädagogisches Arbeiten einen ganzen Schuljahrgang hindurch in der Kollegstufe des Gymnasiums. Eine ganz neue Erfahrung erbrachten dabei mehrere Seminare mit einem ›Bibliodrama der Buchreligionen‹, also mit Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen, Musliminnen und Muslimen. Wir stellten uns der Frage: Kann an biblischen Texten bibliodrama­tisch religionsübergreifend gearbeitet werden, wenn die Texte von einer je spezifisch unterschiedlichen ›Glaubensmitte‹ in den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam aus gesehen werden? Es kamen altersmäßig, berufsmäßig und hinsichtlich der religiösen (und z. T. auch säkularen) Vorerfahrungen sehr gemischt zusammengesetzte Gruppen zusammen. Dabei spielten die jeweiligen Lebenskontexte, aus denen die Teilnehmenden kamen – von einer Jüdin, die noch der Holocaust-Generation angehörte, über junge muslimische Türken der zweiten und dritten Generation bis hin zu christlichen Theologen und Lehr­amtsstudierenden mit intensiver Jugendarbeitserfahrung – eine wichtige Rolle. An drei dokumen-

tierten Beispielen – der Geschichte von Mose am brennenden Dornbusch, dem Traum des Josef und der Paradiesgeschichte nach Genesis 2–3 – konnte Heiner Aldebert Lernprozesse wiedergeben, die für die aktuelle interreligiöse Kommunikation aufschlussreich und hilfreich sind. So ergab sich in der Verhüllungsszene am brennenden Dornbusch eine intensive Begegnung mit dem Phänomen des verborgenen Gottes. Im Familiendrama der Josefsgeschichte spiegelten sich Elemente des ›Familiendramas‹ der drei Religionen. Bei der Paradiesgeschichte wurde neben den je sehr spezifischen ParadiesVisionen aus den drei Religionen u. a. in ›innerreligiösen‹ Gesprächsrunden sichtbar, wie man sich mit seinem eigenen Glauben im Kontext der anderen Religionsgemeinschaften erfährt und wie einen die Sicht der anderen jeweils betrifft. Wir konnten religiöse Grunderfahrungen identifizieren, die immer wieder in der Textbegegnung zur Geltung kamen: die besondere Weise der Kommunikation Gottes bei den Juden, das Leben aus Gottes Weg mit seinem Volk heraus, das evangelische Bewusstsein vom ›Ende des Gesetzes‹ und das muslimische Ernstnehmen der Haupt- und Nebenpflichten, die in ihrer Gesamtheit die Hingabe an Gott, die Glau­benspraxis des Islam konstituieren. Ein besonderer Prüfstein war das Bilderverbot in der jüdischen, der reformierten und der muslimischen Tradition. Es wurde auf seine Intention hin befragt und in der Weise der Darstellung mitbedacht. Nach Überzeugung der beteiligten Musliminnen und Muslime ließen sich Wesenszüge Gottes durchaus anschaulich machen, wenn jeglicher Eindruck einer Verehrung von Idolen vermieden würde. Ähnliches zeigte sich bei der Frage nach einem würdigen Umgang mit religiösen Symbolen und Gegenständen. Als es darum ging, den brennenden Dornbusch sichtbar zu machen, in dem Gott dem Mose erscheint, dieser mit Tüchern dargestellt wurde und religiöse Artefakte darumgelegt waren, nahm in der ersten Seminarpause ein junger Muslim einen Teller, auf dem der Name Allahs in Kalligrafie stand, vom Boden und legte ihn auf einen Tisch: Der Fußboden war für ihn ein unangemessener Ort für den achtungsvollen Umgang damit. Eine große Bereicherung war, dass an diesen Seminaren auch der bedeutende Arabist, Theologe und Koranexeget Nasr Hamid Abu Zaid teilnahm, der – aus Ägypten stammend – mit seiner Frau in den Niederlanden im Exil lebte. Seine Weise, den Koran als dialogisches Offenbarungsgeschehen und Grundlegung für eine moderne Lebensführung zu begreifen, was viele aufgeschlossene Muslime und besonders Studierende in Kairo begeisterte, hatte ihm aus konservativen Kreisen den Vorwurf der Ketzerei eingebracht. Ein ägyptischer Richter verfügte 1995 die Zwangsscheidung von seiner Frau, die nicht mit einem »Abtrünnigen« zusammenleben dürfe. Seitdem lebte das Paar im holländischen Leiden, wo Abu Zaid als Professor für Islamwis-

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senschaft lehrte. Mit unserer Gruppe der Religionen für den Frieden in Nürnberg veranstalteten wir mit ihm und dem jungen Rabbiner Markus Schalom Schroll einen Abend über aktuelle Schriftauslegung von hebräischer Bibel, Neuem Testament und Koran und hatten ein hoch aufmerksames Publikum, das den großen Heilig Geist-Saal füllte. Nasr Abu Zaid sprach in Englisch, und ich übersetzte spontan, da die vorbereiteten Skripte seiner Ausführungen in Deutsch nicht hinreichten. Die Weise, in der wir uns im Dialog unsere heiligen Schriften als lebendige, in Raum und Zeit hinein gesprochene inspirierte Texte erläuterten, ließ ein intensives wechselseitiges Hören, Fragen und Aufmerken entstehen, das auch atmosphärisch spürbar wurde. Kein Geringerer als der spätere Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Navid Kermani, hat Nasr Abu Zaid als seinen entscheidenden Lehrer bezeichnet und in dem Buch Ein Leben mit dem Islam dessen eigene Schilderungen seiner Biografie unnachahmlich nacherzählt. Die Sommermonate und der Herbst 1999 waren inhaltlich für mich bestimmt von der Vorbereitung der 7. Weltversammlung von WCRP in Amman. Meine Teilnahme wurde allerdings in Frage gestellt durch einen gesundheitlichen Einbruch bei Susanne. Während der Ferienwochen am Lago Maggiore fiel ihr längeres Wandern und vor allem Steigen zunehmend schwerer. Zurück in Nürnberg, überwies ihre Hausärztin sie zu einem erfahrenen Kardiologen, und dieser entdeckte – glücklicherweise – einen gutartigen Tumor im Bereich des linken Herzvorhofs, eine ganz seltene Erkrankung. Wir mussten also auf eine gravierende Herzoperation zugehen, für die sich die hoch qualifizierte Herzchirurgie der Erlanger Universitätsklinik anbot. Bei Urlaubstagen auf Rügen sammelte Susanne noch einmal Kräfte, und dann kam die Operation. Sie dauerte vier Stunden – unter Verwendung einer Herz-Lungen-Maschine – und verlief erfolgreich. Der Operateur rief mich hinterher direkt an und erläuterte alle Einzelheiten dieses auch für ihn seltenen Eingriffs, bei dem ein faustgroßer Tumor zutage gefördert wurde. Es folgte eine lange Zeit allmählicher Rekonvaleszenz, darunter vier Wochen in der ausgezeichneten Reha-Klinik Lauterbacher Mühle südlich des Starnberger Sees. Susanne sagte, sie würde keinem die Operation wünschen, wohl aber eine solche landschaftlich schöne und physiotherapeutisch auf jeden Einzelnen eingehende Erholungseinrichtung. Das Wissen, dass Susanne dort gut begleitet wurde, half mir, einigermaßen entlastet nach Amman zu fliegen. Die Reise erbrachte ganz außergewöhnliche Begegnungs- und Lernerfahrungen. Schon die religiösen Gebäude im Zentrum der jordanischen Hauptstadt erstaunten uns: Neben der modernen King Abdullah-Moschee in Amman steht die ebenso moderne koptischorthodoxe Kirche. Das ist mehr als ein Symbol: Der jordanische Staat hat sich

mit seinem Königshaus der religiösen Toleranz und dem Zusammenleben der Kulturen verpflichtet – mitten im Spannungsfeld des Nahen Ostens. Gerade im Rückblick auf all die Spannungen und Konflikte im Nahen Osten seither leuchtet das hier sichtbare Bemühen noch einmal hell auf. Das Gesamtthema der Weltversammlung war ›Action for Common Living‹ – ›Aktion für gemeinsames Leben. Die Rolle der Religionen im nächsten Millennium‹. Prinz Hassan bin Talal von Jordanien, Onkel des Königs, nahm selbst die Aufgabe des Chairman wahr; König Abdullah II. hielt eine engagierte Rede zur Eröffnung: Der Nahe Osten – als Wiege von Judentum, Christentum und Islam – müsse an der Jahrtausendwende ganz neue Signale der Verständigung geben; das Heilige Land – und natürlich besonders Jerusalem – gehöre keinem exklusiv, sondern solle ein Pilgerort des Friedens für die Welt werden! 360 Delegierte aus allen Erdteilen waren gekommen, dazu über 800 Beobachter von Religionsgemeinschaften und anderen nichtstaatlichen Organisationen, aber auch aus Politik und Kultur. Besonders deutlich vertreten waren die Konfliktregionen ehemaliges Jugoslawien, Sierra Leone (Westafrika) und Indonesien. Aus Sierra Leone – seit elf Jahren vom Bürgerkrieg heimgesucht – und aus Indonesien waren nicht nur die Religionsführer, sondern auch die Staatspräsidenten selbst gekommen. Ahmad Teju Kabbah aus Sierra Leone und Abdurahman Wahid, neugewählter Präsident von Indonesien, zeigten sich als gläubige und bewusst liberale Muslime. In allen drei Regionen wirkte WCRP durch den Aufbau interreligiöser Zusammenarbeit an Konfliktbewältigung und Versöhnung mit. In Sarajewo hatten sich der katholische Kardinal Vinko Puljic, der serbisch-orthodoxe Metropolit Nikolai Mrdja, der Führer der Islamischen Gemeinschaft Großmufti Mustafa Ceric´ und der Repräsentant der jüdischen Gemeinden Jakob Finch auf eine Erklärung ›gemeinsamer moralischer Verpflichtungen‹ mit konkreten Versöhnungsschritten geeinigt, die danach auch von den religiösen Führern im Kosovo übernommen wurde. In Sierra Leone war der Interreligiöse Rat die Instanz, die letztlich Regierung und Rebellen zu gemeinsamen Vereinbarungen gebracht hatte. Der katholische Erzbischof Josef Ganda berichtete bewegt davon, wie von den Muslimen in allen Moscheen für ihn gebetet wurde, als er von Rebellen entführt worden war. ›Kein Weltfriede ohne Religionsfriede‹ – die These von Hans Küng hatte so an vielen konkreten Stellen erneut ihre Wahrheit bewiesen. Dabei wurde sichtbar, dass es das soziale Engagement religiöser Gruppen und karitativer Vereinigungen war und ist, das in vielen Brennpunktregionen überhaupt ein Mindestmaß an Menschlichkeit und Hilfe ermöglicht. Ein zweiter Schwerpunkt der Weltversammlung war die Arbeit der Kommissionen und damit auch der Peace Education Standing Commis­sion/PESC«,

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der Ständigen internationale Kommission für Friedenserziehung. Die Kommission traf sich schon vier Tage vor der Weltversammlung zu einem Seminar in der Theodor Schneller-Schule in Amman, die ja selbst ein Beispiel interreligiöser Friedenserziehung war und ist. Eingeladen waren zu dem Seminar Vertreter interreligiöser Projekte der Friedenserziehung aus Israel und Palästina. Der Mut, mit dem sie gegen alle Tendenzen zum Fanatismus pädagogische Zeichen der Begegnung zwischen jungen Juden und Palästinensern setzten, ist bewundernswert. Die Chance, sich in einer beispielhaften christlich getragenen Schule in Jordanien zu treffen und sich mit einem internationalen Kreis interreligiös engagierter Pädagogen auszutauschen, wirkte inspirierend. Ich hatte damals Finanzmittel vom New Yorker WCRP/ RfP-Sekretariat aus einer Zuwendung der Rockefeller-Stiftung zur Verfügung gestellt bekommen, die es möglich machten, Reise- und Aufenthaltskosten für die Teilnehmer zu übernehmen. Meine junge Mitarbeiterin Jutta Müller hatte mich bei der Organisation sehr unterstützt. Unter den Teilnehmern waren John Taylor aus Genf, früherer Generalsekretär von WCRP und aktuell Beauftragter der Konferenz Europäischer Kirchen für den Versöhnungsprozess im ehemaligen Jugoslawien, Mualla Selc¸uk, Professorin aus Ankara und Generaldirektorin für Religionsunterricht im Erziehungsministerium der Türkei, Sulak Sivaraksa aus Bangkok, Repräsentant des Engaged Buddhism und Träger des alternativen Friedensnobelpreises, Jakobus Schoneveld aus Holland, der mit dem Projekt Living in the Holy Land. Respecting differences mit israelischen und palästinensischen Pädagoginnen und Pädagogen Unterrichtsmaterial über die verschiedenen Religionen für beide Seiten erstellte, und Günther Gebhardt von der Stiftung Weltethos. Erstmals besuchten auch Rabbis die Theodor Schneller-Schule. Rabbi Howard Bogot stellte sein dreisprachig in Hebräisch, Arabisch und Englisch verfasstes Buch Shalom – Salaam – Peace mit Kinderbildern über Träume und Visionen vom Frieden vor. Er musste allerdings auch feststellen, dass im jordanischen Geografiebuch, das die Schule benutzte, anstelle von Israel ein weißer Fleck auf der Landkarte war. Immer wieder ist mir in meinem Wirken so das engagierte Bemühen um Verständigung einerseits, die oft widerstreitende Realität andererseits begegnet. Pädagoginnen und Pädagogen können nur begrenzt auf die Politik einwirken. Aber ohne sie kann der Friedensprozess erst recht nicht gelingen. Die Empfehlungen der Ständigen Kommission für Friedenserziehung wurden in die Weltversammlung eingebracht und im abschließenden Plenum von Anhängern aller Religionen (Juden, Christen, Muslime, Zoroastrier, Hindus, Buddhisten, Konfuzianer, Shintoisten, Jains, Baha’i, indigenen Religionen, …) begrüßt. Die grundlegenden Ausführungen – hier aus dem Englischen übertragen – sind fundamental:

»Friedenserziehung als Aufgabe der Religionen   Aufruf bei der VII. Weltversammlung von WCRP in Amman   Es gibt nahezu keinen Krieg, Bürgerkrieg oder Konflikt ohne religiöse und/oder ideologische Implikationen. Diese Tatsache fordert die Religionen heraus, ihren Beitrag zu leisten, um Konflikt und Gewalt gegen Menschen und Natur zu bekämpfen.   Als verantwortliche Anhänger verschiedener Religionen und Konfessionen, versam­melt bei der VII. Weltversammlung von WCRP in Amman, betonen wir, dass Erziehung einer der wichtigsten Faktoren ist, um Unwissen und Vorurteile abzubauen, die zu den gefährlichen Vorbedingungen für gewaltsame Konflikte gehören.   Die Religionsgemeinschaften müssen sich an den erzieherischen Anstrengungen beteiligen, wie sie bereits von Erziehern in vielen Weltregionen auf vielen Gebieten unternommen werden – in religiöser Unterweisung, Geschichte, Soziologie, Ethik und in der Berufsausbildung –, und zwar auf vielfältigen Wegen: von der Auswertung der Erfahrungen und Entdeckungen der Jugendlichen selbst bis hin zu einem bewussten und kritischen Umgang mit Massenmedien und moderner Informationstechnologie.   Der spezifische erzieherische Beitrag der Religionen ist zweifach – einerseits nach innen, andererseits nach außen gerichtet: −− Durch eine innere Erneuerung auf der Basis ihrer spirituellen Grundlagen und Motivationen können die Religionen Wege aufzeigen, die zu Frieden und Versöhnung führen, und sie können das Verantwortungsbewusstsein für soziale Gerechtigkeit und die Bewahrung der Lebensgrundlagen stärken; solche Erziehung zur Erneuerung kann ihre Dynamik aus den Begabungen und der Berufung jedes Einzelnen schöpfen und zu persönlicher Sinnerfüllung und Einsatzbereitschaft für die gemeinsame Verantwortung beitragen. −− Nach außen gerichtet haben die Religionen die Aufgabe, eine offene Atmosphäre für Begegnung und Kooperation zwischen religiösen wie auch nichtreligiösen Personen und Organisationen zu schaffen. Sie sollten Sorge dafür tragen, ein authentisches Verständnis des Glaubens der Anderen zu erreichen und zu verbreiten und gleichzeitig ihren eigenen Glauben den Angehörigen anderer Religionen und Weltanschau­ungen in respektvoller Weise darzustellen, wobei jede Form von Proselytismus zurückzuweisen ist. Lebendiger interreligiöser Kontakt und Dialog sind von zunehmender Bedeutung nicht nur für die Friedenserziehung, sondern auch für die Religionen selbst. …«

Eine Zusammenfassung dieser Erklärung konnte ich dem Plenum bei der Schlussversammlung vorstellen. Und da ich zwischendurch die Konferenzteilnehmer wiederholt mit meinem kleinen Horn zusammengerufen hatte, wurde ich gebeten, für alle noch einmal eine Melodie zu blasen. Da stand ich also vor den Menschen aus allen Religionen und Regionen der Welt auf dem Podium, nahm mein Instrument und blies das Lied der Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings We shall overcome. Alle sangen mit, und bei

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der dritten Strophe We walk hand in hand reichten sich die vielen Menschen aus den vielen Ländern und Religionen die Hände. Direkt nach der Weltversammlung in Amman wurde ich von Rabbi David Rosen, einem der Präsidenten von WCRP, eingeladen, vor dem International Council of Christian and Jews bei seiner Jahrestagung im Martin-Buber-Haus im Februar 2000 in Heppenheim am Oberrhein über die Aufgaben der Friedenserziehung in interreligiöser Perspektive zu referieren. Es wurde ein sehr denkwürdiger Vortrag: Während der Bahnreise von Nürnberg aus musste ich in Aschaffenburg in einen Regionalzug nach Darmstadt umsteigen. Wie immer hatte ich etwas zu viele Bücher in meinem Gepäck mit und war entsprechend beladen. Als ich in Aschaffenburg aus dem Zug stieg, wunderte ich mich über den mit grünem Filz belegten Bahnsteig, nicht bemerkend, dass das eine aktuelle Erhöhung für die Arbeiten am Bahnsteig war. Ich trat plötzlich ins Leere und landete mit meinem linken Fuß so hart auf der tieferen Ebene, dass ich einen stechenden Schmerz im Knöchel spürte. Ich schleppte mich noch in die Regionalbahn, wies dort aber den Zugführer auf meinen lädierten Fuß hin. Dieser telefonierte mit einem Krankentransport in Darmstadt, wo ich in einen Rollstuhl gesetzt und im Krankenwagen zu einem Orthopäden gebracht wurde. Dieser stellte per Röntgen einen Knöchelbruch fest. Ich schilderte ihm, dass in Heppenheim ein internationaler Kreis christlich-jüdischer Repräsentanten auf meinen Vortrag wartete. Er ging sofort darauf ein, machte mir einen provisorischen Verband, rief in Heppenheim an, um mein verspätetes Eintreffen zu erklären und fuhr mich dann persönlich mit seinem Auto dorthin, nicht, ohne mir zwei Unterarmstützen mitzugeben. Ich humpelte in den Vortragssaal und wurde mit Beifall, Anteilnahme und gleichwohl Neugier im Blick auf meinen Vortrag begrüßt. Das munterte mich wiederum so auf, dass ich während des ganzen Vortrags keinerlei Schmerz spürte. Nach dem Vortrag und einer engagierten Diskussion erhielt ich von David Rosen das vermutlich schönste Kompliment, dass mir gesagt werden konnte, indem er aus dem Danielbuch des Alten Testament zitierte (Dan 12,3): »Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.« – In der folgenden Nacht schlief ich im Hotel mehr schlecht als recht, und für den folgenden Morgen hatte man mir ein Taxi spendiert, das mich die ganze weite Strecke bis nach Nürnberg brachte, wo unsere Freundin Shirin Ehras in ihrer chirurgischen Praxis meinen Fuß fachmännisch eingipste. Der eigentlich vorgesehene SkiUrlaub in Badgastein entfiel. Stattdessen konnte ich eine Erholungswoche mit Susanne im Haus Sonneneck in Badenweiler erleben, die dort noch in der Folge ihrer Herzoperation vier Aufbau-Wochen verbrachte. Sie trainierte ihr Herz, ich meine Gehfähigkeiten mit Stützen, und wir probierten täglich eine

etwas größere Spazierrunde aus, bis wir es schließlich hinunter in die Stadt und wieder hinauf schafften. Eine Osterwoche und die Augustferien am Lago Maggiore waren dann weitere Stationen auf dem Weg für Susannes Genesung. Ein Jahr nach der Operation konnte sie wieder dienstags die Enkel in Bamberg betreuen, ihre Gymnastikgruppe und unseren Tanzkreis leiten. Auch die Arbeit im Vorstand des Vereins für die Schneller-Schulen nahm sie wieder auf. Hauptereignis im Jahr 2000 wurde für uns das siebente Nürnberger Forum, das Ende September 50 Referentinnen und Referenten aus 19 Ländern zusammenführte Es stand unter dem Gesamtthema Spiritualität und ethische Erziehung – Erbe und Herausforderung der Religionen. Gemeint war es in doppelter Weise: als Herausforderung für die Religionen und als Herausforderung durch die Religionen. Geleitet hat uns dabei Dietrich Bonhoeffers Motto »Beten und Tun des Gerechten!« Susanne ließ sich in den Forumstagen noch von Henrike vertreten und reiste zu den Freunden Smend nach Göttingen. Tochter Henrike sorgte nicht nur für den Haushalt, sondern wirkte auch als Gruppensekretärin beim Forum mit, während meine Schwester Christiane A. T. Ariyaratne betreute. Die von ihm gegründete Sarvodaya-­Bewegung (Wohlfahrt für alle) ist in 15.000 Dörfern von Sri Lanka präsent. Mit Hunderttausenden hatte er im Jahr zuvor eine Friedens-Meditation in Colombo gehalten, um gegen den andauernden Bürgerkrieg zu demonstrieren. Wie geisterfülltes Leben und verantwortliches Handeln zusammengehören, zeigten Vertreter aller Religionstraditionen, besonders aus Brennpunktregionen der Erde: Khairallah Assar aus Algerien, Sulak Sivaraksa aus Thailand, Eveline Goodman-Thau und Ophir Yarden aus Jerusalem, zusammen mit Viola Raheb aus Bethlehem, die noch zwei Tage vor dem neuen Gewaltausbruch im Nahen Osten eindringlich über die Aufgabe sprach, Samen für Frieden in der Erziehung zu legen, auch wenn die Früchte weitgehend noch bis heute auf sich warten lassen. Für den Eröffnungsvortrag hatten wir Bayerns ehemaligen Landes­bischof Hermann von Loewenich gewinnen können, für den Schlussvortrag Hans Küng. Beide zeigten Wege zur Wahrnehmung globaler Verantwortung, die aus konfessionalistischer Enge herausführen und sich dem weltanschaulichen und interreligiösen Dialog öffnen, ohne den Boden eines spezifischen Glaubens zu verlassen. Deutlich wurde, wie die spirituelle Grundlegung neu an Bedeutung gewonnen hat für ein geisterfülltes, nachhaltiges Handeln. Während von Loewenich die wichtigsten Lernprozesse skizzierte, die er in der eigenen Kirche in verantwortlichen Positionen während der Jahrzehnte seit 1945 mit vollzogen hat – beispielhaft anhand der Stuttgarter Schulderklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945, der Denkschrift zur

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Versöhnung mit den Ländern im Osten, dem Friedenseinsatz, der mit zu der gewaltlosen Wende in Deutschland geführt hat, zeichnete Küng den weiten Denk- und Arbeitsprozess, der ihn von erster evangelisch-katholischer Verständigung über die Selbstvergewisserung christlichen Glaubens angesichts neuzeitlichen Denkens hin zur Begegnung mit den Weltreligionen und dem Projekt Weltethos geleitet hat. Dass der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und das Projekt Weltethos mit seinen vier Weisungen zu Gewaltlosigkeit/Bewahrung des Lebens, Gerechtigkeit/Solidarität, Toleranz/Wahrhaftigkeit und Partnerschaft in ihrer Ergänzung die großen Aufgaben für die Zukunft benennen und sich wechselseitig befruchten können, wurde durchgängig deutlich. Ebenso sind beide Bewegungen von der Überzeugung getragen, dass die Zukunft nicht durch ideologische Vereinheitlichung, sondern durch dialogische Differenzierung zu gewinnen ist, wie es die Weltethos-Erklärung selbst anregt, eine Überzeugung, die auch in vielen weiteren Forumsbeiträgen sichtbar wurde. Dabei war die ganze Bandbreite von den traditionellen Religionen Afrikas und ihrem Balance-System von Lebenden und Toten, Menschen- und Geisterwelt, Lebens- und Naturrhythmen bis hin zu dem von Anfang an globale Dimensionen einbeziehenden sittlichen Monotheismus des Baha’itums vertreten. Es zeichneten sich in aller Verschiedenheit verbindende Grundlinien ab: nicht nur darin, dass Spiritualität entfaltet wird als Tiefendimension des Lebens, zu der Staunen, Innewerden, Ehrfurcht, Fantasie gehören – ein geisterfülltes Leben, das im Gegensatz zu vordergründigem Zweck- und Erfolgsdenken steht –, sondern auch darin, dass durchgängig eine ganzheitliche Sicht vertreten wurde, in der Spiritualität und Ethik und eine ihr entsprechende Erziehung eng nebeneinander stehen. In der Tradition von Judentum, Christentum, Islam und Baha’itum zeigte sich sittliches Verhalten als Ausdruck des Dankes für geschenktes Leben und erfahrene Zuwendung, zentral mit der Gotteserfahrung verknüpft; in Buddhismus und Hinduismus ist es Teil des spirituellen Weges und notwendige Voraussetzung jeder Erleuchtung. Die Lebensbeispiele Dietrich Bonhoeffers, Mahatma Gandhis und Martin Luther Kings, aber auch schon der Sufi-Meister, zeigen, wie spirituelle Lebensgrundlage und verantwortliches Handeln ineinandergreifen und wie mit Gewaltlosigkeit, Furchtlosigkeit und Liebe, Mitleid und selbstlosem Dienst – gemäß Gandhis Prinzipien – in der Neuzeit experimentiert werden kann und muss. Dass die drei genannten Beispielgestalten für ihre Überzeugung sterben mussten, zeigt, wie wenig selbstverständlich diese Sicht- und Lebensweise ist

und wie viel an Selbstkritik, Neubesinnung und Reform in den Gesellschaftssystemen und gerade auch in den Religionsgemeinschaften notwendig ist. Selbstkritisches Rückfragen hat unter den Forumsbeiträgen besonders John Hulls Referat über Die Spiritualität der Behinderung ausgelöst: Wie er aus der Erfahrung der Blindheit heraus die christliche Tradition sichtete und die Welt der ›Sehenden‹ provozierte, hat nicht nur Christen, sondern ebenso die Angehörigen der anderen Religionen zu Selbstbesinnung veranlasst. Wenn unüberlegt Blindheit, Dunkelheit und Unwissen gleichgesetzt werden, ist damit schnell eine Stigmatisierung nicht sehender Menschen als defizitär gegeben. Hull fragte: Werden nicht auch in religiösen Traditionen oft ganze Lebenswelten wie die der Behinderten und ihre Erfahrungen durch schablonisierende Sichtweisen ausgegrenzt und ausgeblendet? Am Ende des Forums hat Karl Ernst Nipkow in gekonnter Weise talkshow-mäßig mit den Gruppenleiterinnen und -leitern eine Bilanz gezogen, bei der er die ›Nürnberger Erklärung der Religionen zur Bewahrung des Lebens‹ in den Mittelpunkt stellte, die wir in unserer Gruppe der Religionen für den Frieden formuliert hatten und in der es u. a. heißt: »Wehrt dem Fremdenhass! Haltet eure Hand über die Minderheiten! Seid Anwälte der Verfolgten und Unterdrückten überall in der Welt! Tragt Sorge dafür, dass Kinder in den guten Werten unserer Religionen erzogen und von ihnen geprägt werden! Arbeitet gemeinsam daran, die Lebensgrundlagen in unserem Land und in unserer ganzen Welt zu pflegen! Vergesst nicht, dass das Leben eines jeden von uns eine kostbare Gelegenheit ist!«

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 Der 11. September 2001 und die Folgen

UNO-Konferenz in New York · Symposium zu neuen Unterrichtsprogrammen in Istanbul · Die Anschläge in New York und Washington · Gebetsstunde nach dem 11. September

Die Kontraste des Jahres 2001 hätten kaum größer sein können: Die UNO hatte es zum Jahr des Dialogue among Civilisations erklärt – auf Anstoß von niemand anderem als dem iranischen Präsidenten Khatami, der selbst in Teheran ein Zentrum für diesen Dialog gegründet hatte. Und es war das Jahr von Nine Eleven, wie das dramatische Ereignis bald in Kurzform bezeichnet wurde, als von Terroristen gelenkte Flugzeuge in das Pentagon in Washington und in die Twin Towers des World Trade Center in New York stürzten, diese zum Einsturz brachten und Tausende in den Tod rissen. Es gab einerseits eine sich deutlich erweiternde Vielfalt an Begegnungsund Verständigungsbemühungen im interreligiösen und interkulturellen Bereich, mit vielen Verbindungen in die politische Ebene hinein. Andererseits breitete sich eine Angst und Sensibilität gegenüber möglichen Terror­attacken aus, die die These des amerikanischen Politologen Samuel Huntington vom clash of civilisations als vorrangigem Krisenszenario des 21. Jahrhunderts zu bestätigen schienen. Für mich hatten sich im Übergang zum neuen Jahrtausend die Aufgaben im Bereich der Interreligiosität noch einmal deutlich erweitert: Für die Arbeit der Peace Education Standing Commission (PESC) hatte ich vom Generalsekretariat in New York für die Jahre 2000 und 2001 Mittel erhalten, die es möglich machten, den Theologen Hansjörg Biener als Kommissionskoordinator einzustellen, der zusammen mit meinem damaligen Assistenten Peter Johannes Athmann eine Website aufbaute – in Englisch und Deutsch – und mit mir die Broschüre Peace Education from Faith Traditions vorbereitete, in der wir Beiträge zum UN-Jahr für den Dialog der Kulturen zusammenstellten. Im gleichen Zeitraum erhielten mein Kollege und früherer Assistent Klaus Hock von der Universität Rostock und ich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft Mittel, um ein umfangreiches Forschungsprojekt durchzuführen. Es ging um Die Darstellung des Christentums in Schulbüchern islamisch geprägter Länder – als Paralleluntersuchung zu dem früheren Forschungsprojekt

zum Islam in deutschen und anderen europäischen Schulbüchern, geleitet von den Professoren Abdoldjavad Falaturi/Köln und Udo Tworuschka/Jena. Es wurden zunächst die Schulbücher aller relevanten Fächer in der Türkei, Iran, Ägypten und Palästina, später noch Jordanien und Libanon untersucht. Und schließlich war 1999 ein Runder Tisch der Religionen in Deutschland gegründet worden, mit Repräsentanten vom Zentralrat der Juden, der evangelischen, katholischen und orthodoxen Kirchen, der muslimischen Dachverbände DITIB (Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion), Zentralrat der Muslime und Islamrat, der Deutschen Buddhistischen Union und des Geistigen Rates der Baha’i – mit Franz Brendle als Geschäftsführer und mir als seinem Stellvertreter, verantwortlich vor allem für die Vorbereitung gemeinsamer Erklärungen. Es waren also drei für den Dialog und die Zusammenarbeit der Religionen hoch relevante Aufgabenbereiche, die freilich in den Medien immer weniger wahrgenommen wurden und werden als die Problemnachrichten, die von Fanatisierungen ausgehen. Im Februar 2001 flog ich zum ersten Mal nach Amerika, um für WCRP an einer bei der UNO anberaumten Konferenz über ›Friedenserziehung auf der Grundlage der Religionen‹ teilzunehmen und über interreligiöse Friedenserziehungs-Initiativen zu referieren. Ich konnte eine ganze Woche lang dort sein und auch etwas von der Vielfalt der Riesenstadt erleben: das berühmte MoMa mit einer Sonderausstellung über van Goghs ›Postman‹ und Monets Wasserlilien ebenso wie das Metropolitan Museum, den belebten Central Park mitten in der Wolkenkratzerlandschaft, das Broadway Musical Annie get your gun, die Freiheitsstatue und das Empire State Building. Als ich dort in über 300 m Höhe rundum blicken konnte und vor den großen Spiegeln stand, fotografierte ich mich. Auf dem Dia war ich ebenso zu sehen wie die Twin Towers des World Trade Center im Hintergrund, die wenige Monate später nicht mehr stehen sollten – quasi ein Symbol für dieses besondere Jahr. Untergebracht war ich sehr zentral – und geistlich-spirituell passend – bei der katholischen Gemeinschaft der Maryknoll Brothers, Patres mit weltweiten Wirkungshorizonten, was hoch interessante Gespräche ergab. Nicht weit war es bis zum UNO-Gebäude und zu dem in dessen Nachbarschaft gelegenen Büro des Zentralsekretariats von WCRP. Ich lernte den dort arbeitenden kleinen, aber sehr effektiven Stab an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern um Generalsekretär William Vendley kennen und konnte mit ihm wie mit den für die verschiedenen Aufgabenfelder – wie interreligiöse Frauenförderung und die ständige interreligiöse Kommission für Abrüstung – wirkenden Kolleginnen und Kollegen intensive Gespräche führen. Gespräche führte ich auch mit Rabbi Elliot Stevens von der Zentralkonferenz amerikanischer Rabbis über konservatives und liberales Judentum und die Chan-

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cen und Grenzen der Friedenserziehung, und ich besuchte den Sabbatgottesdienst in der Synagoge der Emanu-El-Gemeinde, der größten Synagoge der Welt: in neuromanisch-maurischem Stil, mit einem prächtig verzierten Tora-Schrein, zwei Kanzeln, einer großen Orgel und einer Gottesdienstform, die Traditionelles und Neuzeitliches miteinander verband; bei der Predigt über Exodus 20 (die Gebote) fühlte ich mich auch als Protestant nicht fremd. Vor der eigentlichen Konferenz konnte ich mich mit Cora Weiss, der Präsidentin des Hague Appeal for Peace, besprechen. Diese Projektarbeit war hervorgegangen aus einer gleichnamigen Konferenz 1999 in den Niederlanden, die wiederum an die entsprechende Friedenskonferenz 100 Jahre zuvor anknüpfte. In ihrem Zusammenhang war eine ›Focus Group on Religion and Spirituality‹ entstanden, die die Konferenz vorbereitet hatte. Sie hatte 150 Friedenserzieher aus allen Teilen der Welt und allen maßgeblichen religiösen Traditionen zusammengebracht, erstmalig auf dieser globalen Ebene. »Peace is possible. We can do it!« – »Frieden ist möglich. Wir können dazu beitragen!« Oder sogar: »Wir können es schaffen!« Das war die provozierende Aussage, die hinter den Beiträgen bei der Konferenz stand. Dabei war diese Überzeugung schon damals nicht leicht dahin gesagt. Denn die Friedenserzieherinnen und -erzieher, die dort mit mir zusammen waren, kamen fast durchweg aus Projekten, die in verschiedenen Spannungsgebieten der Welt aktiv sind: in Süd- und Nordkorea, in Mozambique und Algerien, im Kosovo und im Nahen Osten. Deanna Armbruster, Jüdin aus dem Friedensdorf Neve Shalom/Wahhat as Salam, in dem Juden, Christen und Muslime zusammenleben und Seminare für arabische und jüdische Jugendliche durchführen, sagte nicht lange nach Ausbruch der zweiten Intifada: »Angesichts von Terror und Hass ist unsere Friedenserziehung nötiger denn je. Wir haben noch nie so viele Anfragen und Angebote zur Mitarbeit bekommen wie jetzt, wo alle Friedenshoffnungen für Israel und Palästina zerstört zu werden drohen.«

Von Vertretern der UNO bei der Konferenz wurde hervorgehoben, wie notwendig die Friedensinitiativen gebraucht werden, die aus einer tiefen geistlichen Wurzel heraus Kraft und langen Atem schöpfen. Wenn die Quäker sich bemühen, Gott in jedem lebenden Wesen zu erkennen, Mennoniten einen Weg gehen, auf dem die Friedensworte Jesu wörtlich genommen werden; wenn eine Buddhistin sagt: »Wir haben gemeinsame Wurzeln. Wir alle leben in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander. Wir sollten die BuddhaNatur in allem sehen«, dann sind das Beispiele dafür, wie Spiritualität fähig machen kann, gegenüber allen Widerständen immer wieder mit Mut auf Frieden hin zu arbeiten. Besonders beeindruckend waren deshalb auch die

Beispiele, bei denen Spiritualität und Gewaltüberwindung eng zusammengingen – etwa bei der katholischen Bewegung St. Egidio, die entscheidend den Demokratisierungsprozess in Mozambique vorangetrieben hat, oder bei den Franziskanerinnen. Fast alle Beispiele sind – bei durchaus ähnlicher Zielsetzung – aus einer bestimmten religiösen Tradition hervorgegangen. Es zeigte sich, dass man wechselseitig viel zu wenig voneinander weiß, so dass der Austausch über die Probleme, die Visionen, die Arbeitsmethoden und die Erfahrungen, um die wir uns in der Peace Education Standing Commission bemühten, als wichtige Aufgabe anerkannt wurde. Unsere Broschüre Peace Education from Faith Traditions lag den Teilnehmenden vor. In ihr wurden die drei Bereiche ›Religiöse und interreligiöse Erziehung‹, ›Erziehung zu gewaltfreier Kommunikation und Konfliktlösung‹ sowie ›Umwelterziehung und Erziehung zu sozio-ökonomischer Entwicklung‹ zusammenhängend erläutert und anhand von praktischen Beispielen exemplifiziert. Ich konnte unsere Arbeit im gleichen Jahr auch in Lissabon im Nord-Süd-­Zentrum, in Madrid bei einer UNESCO-Konferenz und in Rom bei Religioni per la Pace Italia vorstellen. Direkt um Reformprozesse im Religionsunterricht ging es im April 2001 in einem ganz anderen Kontext, und zwar bei einem großen internationalen Kongress in Istanbul, bei dem das neue Unterrichtsprogramm für das Schulfach Religionskultur und Ethik in der Türkei vorgestellt und mit Kolleginnen und Kollegen aus Europa und dem Mittelmeerraum erörtert wurde. 1984 war dieses Fach obligatorisch in allen Schulen eingeführt worden, nachdem es vorher nur freiwillig in wenigen Schuljahren angeboten wurde. Allerdings war es zunächst – im Sinne Kemal Atatürks – sehr stark auf die türkische Nation bezogen. Nun aber war Mualla Selcuk, Professorin an der islamisch-theologischen Fakultät in Ankara und Schülerin von Beyza Bilgin, Generaldirektorin für den Religionsunterricht im türkischen Erziehungsministerium und hatte diesen Kongress organisiert. Beim Nürnberger Forum im Herbst 2000 war ich auf meine Mitarbeit angesprochen worden, und so kam es, dass sich die internationalen Referentinnen und Referenten weitgehend aus Kolleginnen und Kollegen rekrutierten, die beim siebten Nürnberger Forum im Jahr 2000 mitgewirkt hatten. Bei ihm hatten aus der Türkei u. a. Nevzat As¸ikog˘lu über Gleichnisse als Inspiration für ethische Bewusstseinsbildung und Beyza Bilgin über Prophetengeschichten als Inspiration für ethische Bewusstseinsbildung gesprochen, über Themen also, die auch religionsübergreifend pädagogisch relevant sind. Karl Ernst Nipkow aus Tübingen kam erstmals in die Türkei, Reinhold Mokrosch aus Osnabrück, Raimund Hoenen aus Halle, der in der DDR-Zeit die Christenlehre mitgeprägt hatte, John Hull aus Birmingham und Brian Gates aus Lancaster, Khairalla Assar

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aus Annaba/Algerien und viele andere. Ein besonderes Erlebnis war für alle der Abend, an dem der Erziehungsminister zu einem Essen auf einem Schiff eingeladen hatte, das an den Lichtern der Riesenstadt entlang und unter der Bosporusbrücke hindurch fuhr – was einen märchenhaften Eindruck hinterließ. Mit meinem kleinen Horn blies ich zur Freude der türkischen Kolleginnen und Kollegen und des Schiffspersonals das romantische türkische Abendlied Benim gönlün sar hoshtur – Ich bin beseligt unter dem Sternenhimmel. In dem neuen Programm für den Religionsunterricht wurde darauf Wert gelegt, dass man sich bei der Darstellung der verschiedenen Religionen um Objektivität bemühen solle, und dass die Erziehung zur Toleranz ein notwendiges Leitziel des gesamten Unterrichts sein müsse. In den Arbeiten der türkischen Kolleginnen und Kollegen hat sich das von da an zunehmend in dem Anliegen ausgedrückt, die Selbstsicht der anderen Religionen ernst zu nehmen. Ich sprach darüber, wie in den konfessionsbezogenen Religionsunterricht in Deutschland zunehmend die Religionen-Thematik und die Aufgabe des Lernens in der Begegnung einbezogen worden ist, während aus England das grundlegend interreligiös ausgerichtete Unterrichtsprogramm vorgestellt wurde. Mit Beyza Bilgin und Mualla Selcuk sprach ich über die ersten Ergebnisse unserer Untersuchung zur Darstellung des Christentums in türkischen Schulbüchern – und dass wir neben sachgerechten Passagen auch zu pauschale und fehlerhafte Partien gefunden hätten. Sie stimmten zu, für den November des Jahres einen Runden Tisch mit den Religionspädagoginnen und Religionspädagogen der Universität Ankara und Vertretern der Minderheitskirchen in Istanbul, wo die Kirchen vor allem angesiedelt sind, einzuberufen. Der 11. September sollte diesem Treffen dann noch besondere Aktualität verleihen. Zuvor allerdings wurde im Juni mein 60. Geburtstag gefeiert. Er war voller Überraschungen für mich. Eine besonders große Überraschung war ein musikalisches Geschenk: Ich hatte im Winter zuvor ein Konzert von Turgay Hilmi, dem Horn-Lehrer unserer Tochter Henrike, in einer Kirche in Neumarkt gehört. Er spielte ein Konzert für Alphorn und Orgel, was mich begeisterte. Hilmi – selbst Muslim aus dem türkischen Teil Zyperns, verheiratet mit einer katholischen Frau – gab das Konzert als Benefizveranstaltung für die Renovierung einer katholischen Kirche in der am Mittelmeer gelegenen südtürkischen Stadt Adana, die er und seine Frau in traurigem Zustand gefunden hatten. Ich erzählte Susanne von dem Konzert und dem wunderbaren Zusammenklang des Alphorns mit seinem weichen, weiten Klang und der Orgel. Sie wiederum erzählte Henrike davon, und diese hatte die Idee: »Mutter, wir tun uns zusammen. Wir schenken dem Vater zum Geburtstag ein Alphorn!« Aber woher ist ein Alphorn zu bekommen? Mein Hornfreund

Hermann Baumann hatte zwar mehrere Alphörner, konnte aber keines entbehren. Da erfuhren sie von Turgay Hilmi, dass es nicht weit von Nürnberg in Eschenbach bei Hersbruck eine Alphornwerkstatt gäbe. So kam es, dass Susanne mir eines Tages sagte, im Kofferraum unseres Autos befände sich eine Überraschung für mich, ich dürfte also nicht hineinschauen – sollte auch nicht raten, was es wäre. Als wir dann meinen Geburtstag in unserem Heimatort Freistatt mit der weiteren Familie feierten, wurde ich mehrmals hinausgeschickt, weil eine Vorführung für mich vorzubereiten wäre. Als es so weit war, wurde ich vor einen Vorhang gesetzt und hinter mir ertönte ein Schwall von Horntönen: Nicht nur die neun Bläser unseres weiteren Familienkreises spielten, sondern auch alle anderen, für die Henrike Hörner aus Gartenschläuchen mit Trichtern gebastelt hatte. Der Vorhang wurde zurückgezogen, und ich sah in der Mitte das Alphorn stehen. Ich ließ die anderen weiterblasen, probierte, wo auf dem Alphorn die Naturtöne lagen, und spielte, als die anderen aufhörten, die wohl berühmteste sinfonische Alphornmelodie, die Johannes Brahms nach einer in der Schweiz gehörten Weise an zentraler Stelle in den letzten Satz seiner ersten Sinfonie eingebaut hat. – Seitdem ist das Alphorn mein liebstes musikalisches Spielzeug. Da es – bei einer Länge von dreieinhalb Metern – in drei Teile auseinanderzulegen und in einem Beutel zu transportieren ist, der dann wie ein überdimensionierter Golfschläger aussieht, ist es auch im Auto zu transportieren und erklingt immer wieder auf der Terrasse unserer Casa Clara am Lago Maggiore. Für Freunde und Verwandte, die versuchen möchten, dem Instrument einen Ton zu entlocken, habe ich ein Gästemundstück. Die andere große Überraschung war, dass meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, voran Werner Haußmann und Peter Athmann, eine InternetFestschrift initiiert hatten, in die sich ein breiter Freundes- und Kollegenkreis eingebracht hat. Für die Universität hatten meine Mitarbeiter einen ganzen Festnachmittag und Abend mit einem Symposium vorbereitet. Den Festvortrag hielt Klaus Wegenast aus Bern, der zusammen mit Karl Ernst Nipkow den Weg der evangelischen Religionspädagogik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz entscheidend geprägt hat – unter dem bezeichnenden Titel: Religionspädagogik von 1968 bis 2001. Die Laudatio hielt Hans Grothaus aus Flensburg, der mir die Wege zur Begegnung mit fernöstlicher Religiosität geöffnet hatte. Musikalisch hatte ich mir gewünscht, dass Hermann Baumann selbst kam und mit Hermann junior, meinem Patensohn, und mir zusammen musizierte. Wir bliesen zu dritt ein Trio von Anton Reicha, das wir schon einmal mit dem israelischen Hornisten Meir Rimon auf Burg Vischering im Münsterland aufgeführt hatten, und beim zweiten Satz aus Mozarts drittem Hornkonzert – dem einzig schönen Larghetto – begleitete

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ich Hermann senior auf dem Flügel. In unserer Aula mit der guten Akustik klang das wunderbar. Es gab einige originelle Gedichte und die Rede einer studentischen Hilfskraft, die die Besonderheiten und Eigentümlichkeiten meines Lehrens – einschließlich der Kanons bei den Vorlesungen – humorvoll schilderte. Drei Monate später traf uns – nach den Sommerferien am Lago Maggiore – der 11. September 2001. Wie beim Bau der Mauer in Berlin 1961 und bei ihrem Fall 1989 ist es ein Datum, bei dem wohl jeder weiß, wo und wie er von dem Ereignis erfahren hat. Bei uns in Nürnberg war es Luise, die von einem Besuch bei ihrem früheren Grundschullehrer Pommer angelaufen kam, weil sie dort im Fernsehen die Bilder aus New York mit den Flugzeugen, die in die Twin Towers krachten und sie zum Einsturz brachten, gesehen hatte. Eine Nachricht und ein Ereignis, das uns wie unendlich viele Menschen weltweit sprachlos machte: In welchen Hirnen kann solch ein mörderisches und selbstmörderisches Vorhaben entstanden sein – und wie kann dafür sogar noch religiöse Motivation herangezogen werden?! Allahu akbar, das die unendliche Größe Gottes und die Wunder seiner Schöpfung preisen soll, hatte auf einmal ein völlig irritierendes Doppelgesicht. Als zwei Tage danach Susanne und ich gerade eine Reise nach Prag antreten wollten, lange geplant zusammen mit Freunden aus Leipzig, erhielt ich einen Anruf vom Hessischen Rundfunk mit der Bitte um ein Interview zu dem Schreckens- und Gewaltpotenzial, das sich hier religiöser Einkleidung bediente. Wir konnten vereinbaren, das ich es von einem Partnerstudio des hessischen Rundfunks in Prag aus gab, was sich nach Überwindung einiger technischer Hürden und mit sehr kundigen Rundfunkfachleuten in Prag auch bewerkstelligen ließ. Ich konnte eindringlich zum Ausdruck bringen, welche Gegensignale in interreligiöser Kooperation jetzt zu geben seien, wie es dazu aber noch an differenziertem Bewusstsein fehle. In unserer Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden waren wir uns schnell einig, ein Zeichen zu geben, dass wir uns über die Grenzen der Religionen und Nationen hinweg gegen allen Terror und gegen alle Intoleranz einsetzen, und das sehr bewusst in der Stadt, von der einmal die Nürnberger Rassegesetze ausgegangen sind. Wir fassten deshalb den Plan, eine Gebetsstunde der Religionen in einer Moschee zu halten, die ihre Türen seit Langem für Begegnungen geöffnet hatte, einer Moschee andererseits, bei der in diesen Wochen auch bereits Drohungen eingegangen waren. Es gelang nicht nur, auch die christlich-orthodoxe Seite dabei zu haben, in Gestalt des rumänisch-orthodoxen Metropoliten Seraphim Joanta. Es gelang auch, den Vorsitzenden der israelitischen Kultusgemeinde, Stadtrat Arno Hamburger, zu bewegen, erstmals eine Nürnberger Moschee zu besuchen. Man muss dazu

wissen, dass Hamburgers Eltern zu den zwölf überlebenden Juden in Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten. Er selbst kehrte aus dem englischen Exil zurück, um bei den Nürnberger Ärzteprozessen zu übersetzen. Mit seiner Gemeinde hat er eine neue Synagoge gebaut und ein vorbildliches Altersheim gegründet, das auch Nichtjuden offen steht. Beide Einrichtungen mussten damals unter Polizeischutz gestellt werden. Wir hörten bei der sehr bewegenden Gebetsstunde die Friedensbotschaft aus dem Propheten Jesaja – das Wort von den Schwertern, die zu Pflugscharen werden; wir hörten das Gebet O Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens nach Franz von Assisi. Wir hörten aber auch die Worte aus dem Koran: »Wenn einer jemanden tötet, …, so ist es, als hätte er die Menschen alle getötet. Und wenn jemand ihn am Leben erhält, so ist es, als hätte er alle am Leben erhalten.« (Sure 5,32) Wenige Tage danach rief mich Arno Hamburger aufgeregt an: Ihm war bei dem Besuch eine Schrift über den Islam überreicht worden – ein aus dem Türkischen übersetzter Ilmihal – eine Art Katechismus. In dieser Schrift wurde deutlich islamisches Absolutheitsbewusstsein dokumentiert einschließlich des notwendigen Kampfes gegen die Ungläubigen und einer abwertenden Betrachtung von Juden und Christen. Wahrscheinlich war dem sehr dialogbereiten Imam der Moschee der Inhalt dieser Schrift seines Verbandes gar nicht näher bekannt. Und sicher könnten Muslime ähnlich problematische Schriften gegenüber dem Islam auch auf Büchertischen in manchen Kirchen finden. Deutlich aber machte uns dieses Beispiel erneut, dass der Dialog der Kulturen nicht nur in den Konfliktregionen dieser Erde gefordert ist, sondern gerade auch bei uns in Deutschland und vor Ort. Denn: Die traditionellen, oft vorurteilsgeladenen Bilder von den anderen müssen überwunden werden, weil sie zu leicht den Zündstoff für Konflikte bilden. Im konkreten Fall habe ich mich mit einem längeren Brief an den Vorsitzenden des Dachverbandes dieser Moschee gewandt und ihm die Problematik einer solchen Schrift erläutert. Ich erhielt darauf zur Antwort, dass diese Schrift quasi eine vorläufige ›Notlösung‹ sei, da man auf Deutsch sonst keine Hilfen für die Koranunterweisung hätte, und dass sich der Verband bemühe, zu besseren Materialien für die pädagogische Arbeit in den Moscheen zu kommen. Erfolgreicher und ganz im Sinne dessen, was ich in meinem Interview nach dem 11. September gesagt hatte, war der im Frühjahr in Istanbul geplante Runde Tisch zur Schulbuchforschung: Im November 2001 saßen Vertreterinnen und Vertreter der Islamisch-Theologischen Fakultät Ankara – der ›Mutterfakultät‹ aller theologischen Fakultäten der Türkei – und der christlichen Minderheitskirchen in der Türkei – des ökumenisch-orthodoxen

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und des armenisch-orthodoxen Patriarchats sowie der katholischen Kirche – mit meinem Mitarbeiter Patrick Bartsch und mir in Istanbul zusammen, um die Ergebnisse unserer Untersuchung der Darstellung des Christentums in türkischen Schulbüchern zu erörtern. 14 Tage vorher hatten alle eine Zusammenfassung unserer Analysen der Religions- und Geschichtsbücher erhalten. Sie war systematisch-inhaltlich aufgebaut: Was erfahren türkische Schülerinnen und Schüler über Jesus, die Bibel, Lehren und ethische Grundsätze des Christentums, seine Geschichte, seine Konfessionen, die kulturelle Entwicklung, gegenwärtige Erscheinungen, über Diakonie, Mission und den interreligiösen Dialog – bzw. was erfahren sie nicht oder einseitig oder inkorrekt? Wir waren ebenfalls auf pädagogische Gesichtspunkte eingegangen: Wann wird was wie vermittelt? Das Gespräch lief von Anfang an lebendig und konstruktiv: Beyza Bilgin, Nestorin der Religionspädagogik in der Türkei, hatte unsere deutsch und englisch vorgelegte Analyse bereits ins Türkische übersetzt, und es entspann sich ein intensiver Austausch: Wie erklärt die christliche Seite, dass die Trinitätslehre nicht der Glaube an drei Götter ist? Wie kommt es, dass das Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) in den Schulbüchern immer wieder herangezogen wird, um zu zeigen, dass die Entscheidung für die vier Evangelien im Neuen Testament spät und unzuverlässig sei – ein historisch komplett falscher Sachverhalt? Warum erscheint in den Schulbüchern kaum etwas von dem reichen kulturellen Erbe des Christentums in Kleinasien und vom gegenwärtigen gelebten Christentum? – Praktisches Resultat dieses Runden Tisches war, dass das türkische Erziehungsministerium zwei Monate später die christlichen Kirchen in Istanbul aufforderte, eine Kommission einzurichten, die konkret an Verbesserungen der Schulbuchkapitel über das Christentum arbeiten sollte. Diese Kommission wurde gebildet, sie traf sich monatlich und erstellte Verbesserungsvorschläge. Wir konnten solche Verbesserungen in späteren Schulbüchern tatsächlich feststellen. Diese Erfahrung aus der ersten Phase unseres von der DFG geförderten Forschungsprojekts zeigte uns, dass sich unsere Ausgangshypothese bestätigte: Schulbücher können ein Schlüssel für den internationalen pädagogischen und interreligiösen Dialog sein. Als negative Folge des 11. September konnten wir kaum noch Mittel vom New Yorker Generalsekretariat von Religions for Peace für die Peace Education Standing Commission (PESC) bekommen: Jede Summe von mehr als 5000 Dollar musste vom FBI überprüft werden! ›Religion‹ galt nun generell als etwas Gefährliches, obwohl wir ja gerade an einer Überwindung der religiösen Konfrontationen arbeiteten. Das bedeutete für mich, dass ich in der Folgezeit für die Kontakte, Kooperationen und Publikationen von PESC

jeweils aktuell Sponsoren finden musste – wobei die Nürnberger Foren und die internationalen Versammlungen von Religions for Peace jeweils als Kristallisationspunkte dienten, bei denen Kolleginnen und Kollegen aus dem Feld interreligiöser Erziehung zusammenkamen und die Aufgabe der Friedenserziehung in interreligiöser Kooperation in Arbeitsgruppen und Workshops thematisiert wurde.

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Liedbegleitung im Praktikum in Nürnberg-Ziegelstein – Januar 1995

Im antiken Königreich Kommagene: auf dem Nemrud Dagh (vor dem ­Löwen-Horoskop) – September 1992

Vorlesung Interreligious Education in England and Germany im Seminar von John Hull in Birmingham – Oktober 1998

Mit A. T. Ariyaratne aus Sri ­Lanka und Vinu Aram aus Indien bei der Matinee zu Mahatma Gandhis 125. Geburtstag – am Vortag zum 5. Nürnberger Forum, 2. Oktober 1994

Die Peace Education Standing Commission (PESC) von Religions for Peace (RfP) in Amman/ Jordanien in der Theodor Schneller-Schule: Vorstellung des Kinderbuchs Schalom – Salaam – Peace von Rabbi Howard Bogot – November 1999

Mit Franz Brendle und Hans Küng bei der 7. Weltversammlung von Religions for Peace in Amman – November 1999

Internationales Symposium zu neuen Wegen in der ­religiösen Erziehung in Istanbul März 2001

Im Sekretariat von Religions for P ­ eace in New York mit Generalsekretär William Vendley Februar 2001: Überreichung der PESC-Broschüre Peace Education from Faith Traditions

Gebetsstunde der Religionen nach dem 11. September 2001 in der Ayasofia-Moschee Nürnberg: Metropolit Serafim spricht das Vaterunser

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 Der Runde Tisch der Religionen in Deutschland, die Schulbuch­ forschung und der Aufbau der Ausbildung islamischer Religionslehrkräfte

Gründung des Runden Tisches · Bewahrung – Entwicklung – Versöhnung · Nürnberger Forum 2003 · DFG-Projekt: Das Christentum in Schulbüchern islamischer Länder · Modellversuche Islamunterricht und islamische Lehrerausbildung

Die neuen Aufgabenfelder, die sich um die Jahrtausendwende ergaben, haben das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts für mich sehr geprägt – neben und zum Teil in Verbindung mit der weiter laufenden interreligiösen Arbeit vor Ort in Nürnberg, meiner Lehre an der Universität und den Nürnberger Foren 2003, 2006 und 2010. Sie entsprachen und entsprechen den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen, die durch die zunehmende Pluralisierung, die Erfordernisse nationaler und internationaler interreligiöser Zusammenarbeit und die notwendigen Entwicklungen im Bildungsbereich gegeben sind. Die Initiative zum Runden Tisch der Religionen in Deutschland ging von der evangelischen Kirche aus: Franz Brendle – als Vorsitzender von WCRP/ RfP Deutschland – wurde gebeten, die Religionsgemeinschaften anzusprechen und um die Benennung von Vertretern zu bitten: Deutschland brauche ein Gremium, das über die traditionelle ökumenische Bemühung der christlichen Kirchen hinausging, um zu einer wechselseitigen Wahrnehmung auf repräsentativer Ebene zu kommen und von hier aus die Aufgabe von Dialog und Zusammenarbeit sowohl den Glaubensgemeinschaften selbst zu vermitteln, als auch gemeinsame Positionen im gesellschaftlichen Diskurs zu artikulieren. Dazu waren immer wieder Vorbehalte zu überwinden: Können die großen Kirchen den viel kleineren Religionsgemeinschaften die gleiche Vertretung einräumen? Wie steht es etwa mit den muslimischen Verbänden, deren Mitgliederzahl nur einen kleinen Teil der Muslime erfasst und bei denen es auch Gruppen gibt, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden? Wie steht es um den Zentralrat der Juden, der ja nicht nur das

Judentum als Religion vertritt, sondern viel breiter auch dessen kulturelle und soziale Funktion in der Gesellschaft wahrnimmt? Es ergab sich schließlich, dass von der evangelischen und der katholischen Kirche je zwei Vertreter am Runden Tisch beteiligt sind, die orthodoxe Kirche, der Zentralrat der Juden, die muslimischen Verbände DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion), Islamrat und Zentralrat der Muslime, die Deutsche Buddhistische Union und der Geistige Rat der Baha’i mit je einer Vertretung. Zur Konstituierung des Runden Tisches kam es 1998. Prägend waren in der Anfangszeit Ignatz Bubis als Vorsitzender des Zentralrats der Juden, Rolf Koppe als Auslandsbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), von römisch-katholischer Seite Weihbischof Hans-Jochen Jaschke als Vorsitzender der Unterkommission der Deutschen Bischofskonferenz zum interreligiösen Dialog, der rumänisch-orthodoxe Metropolit Serafim Joanta für die orthodoxen Kirchen, Bekir Albog˘a für DITIB, Hasan Özdogan für den Islamrat, Nadeem Elyas für den Zentralrat der Muslime, Alfred Weil für die Deutsche Buddhistische Union und schließlich Friedo Zölzer für den Geistigen Rat der Baha’i. Hinzu kam auf katholischer Seite der Fundamentaltheologe Hans Waldenfels, auf evangelischer Seite der Theologe und Religionswissenschaftler Ulrich Dehn. Franz Brendle als Präsident von Religions for Peace Deutschland wurde gebeten, die Geschäftsführung zu übernehmen. Ich wurde sein Stellvertreter und bald mit der Aufgabe der inhaltlichen Vorbereitung gemeinsamer Erklärungen betraut, zusammen mit Klaus Lefringhausen, Nord-Süd-Beauftragter, später Integrationsbeauftragter der Nordrhein-Westfälischen Landesregierung und Vertrauter des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau. Es waren also sowohl Verbindungen zu den Leitungsgremien der verschiedenen Religionsgemeinschaften als auch zur politischen Ebene gegeben. Drei Hauptaktivitäten haben sich bald herauskristallisiert: der Austausch über Entwicklungen und Probleme in den einzelnen Religionsgemeinschaften und damit auch über das Verhältnis der Religionsgemeinschaften zueinander, die Erarbeitung gemeinsamer Erklärungen zu religiös und gesellschaftlich relevanten Herausforderungen und Aufgabenstellungen und – gleichsam eine Erfindung des Runden Tisches – ein jährlicher Tag der Religionen in einer größeren deutschen Stadt, der interreligiösen Initiativen in den verschiedenen Regionen Deutschlands Schubkraft verleihen sollte. Beim gegenseitigen Austausch ging es einmal um die Frage: Was wissen wir überhaupt voneinander: von den Strukturen der jeweils anderen Religions­gemeinschaften, von der Entwicklung der Mitgliedschaften, von den geistlichen, seelsorgerlichen und sozialen Aufgaben, von den vorrangigen Anliegen und Sorgen, von ihrem Selbstverständnis als Glieder unserer

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Gesellschaft? Kann es da auch so etwas wie eine Anwaltschaft füreinander geben? Und wie gehen wir mit Spannungsfeldern um, die sich zwischen uns ergeben? Wir nahmen wahr, wie beim Judentum die große Einwanderung aus dem Osten die Gemeinden sozial und bildungsmäßig forderte und zum Teil auch ihr Gesicht veränderte und wie gleichzeitig neue Formen von Antisemitismus die Gemeinden bedrängte. Die evangelische und die katholische Kirche zeigten und zeigen sich als soziales Gewissen in der Gesellschaft gefordert, als Anwälte eines integrierenden Zusammenlebens. Sie sind gleichzeitig erheblich dem demographischen Wandel ausgesetzt. Die muslimischen Verbände sahen und sehen sich gefordert, einerseits ihre Organisationsstrukturen so zu klären, dass eine Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts möglich wird. Besonderes Anliegen war kontinuierlich, an der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts gestaltend mitzuwirken und andererseits der generellen öffentlichen Skepsis gegenüber dem Islam und Muslimen entgegenzutreten. Buddhisten und Baha’i werden im öffentlichen Bewusstsein weniger wahrgenommen, wenn es nicht um singuläre Erscheinungen wie den Dalai Lama geht. Andererseits sind die Baha’i als im Iran verfolgte Minderheit die religiöse Gruppe, die sich international besonders stark für Menschenrechte und Religionsfreiheit engagiert. Die verschiedenen Formen des Buddhismus haben besonders mit ihren spirituellen Angeboten eine große Breitenwirkung. Noch nicht vertreten waren und sind auf Grund noch offener Organisationsstrukturen Aleviten und Hindus. Für alle Religionsgemeinschaften aber steht die Aufgabe an, sich angesichts einer verbreiteten Säkularität neu zu orientieren und auch mit nicht religiös orientierten humanistischen Gruppierungen zum gemeinsamen Wohl zusammenzuarbeiten. Zur Sprache gekommen sind von Anfang an auch Konflikte – wie etwa die Rede von Papst Benedikt in Regensburg, bei der Muslime eine Fundamentalkritik ihrer Religion wahrnahmen, die Gesprächsverweigerung der Muslime nach der Veröffentlichung der EKD-Studie Klarheit und gute Nachbarschaft mit ihrer deutlich kritischen Sicht des Islam, aber auch die Ablehnung von muslimischer Seite in Hamburg, dort Baha’i mit an den Runden Tisch zu nehmen, ein Problem, das durch Initiative des Runden Tisches gelöst werden konnte. Gleich nach der Gründung stellte sich auch die Frage: Können wir etwas gemeinsam unternehmen und öffentlich zur Sprache bringen? Da kam von dem leider 2009 tödlich verunglückten Klaus Lefringhausen die Idee, einen Brief der Religionen an die Religionen in Deutschland zu verfassen. Er ist von Klaus Lefringhausen und mir konzipiert worden und benannte die Grundaufgaben, um die es geht. In Auszügen:

Es ist Zeit, aufeinander zuzugehen. Die Religionsgemeinschaften fühlen sich mitverantwortlich für das gesellschaftliche Zusammenleben und sind sich der Bedeutung der Religionen für das öffentliche Leben bewusst. Religion ist nicht nur Privatsache. … Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet – zumal in seinen grundlegenden ersten Artikeln – zu einem konstruktiven Zusammenwirken, nicht nur zu einer äußerlichen Toleranz. Wir können die Fragen nach einem solchen Zusammenwirken aus solchen Gründen, vor allem aber aus unserem je eigenen Selbstverständnis heraus, nicht länger hinausschieben. …«

Nach der Benennung von Ängsten in der Bevölkerung, von Fragen, die auftauchen, und Aufgaben, die sich abzeichnen, folgen drei Aufrufe: −− Gehen wir aufeinander zu! Besuchen wir uns in unseren Gottesdienst-, Gebets- und Meditationsräumen! Dort können wir erkennen, was unseren Glauben und unser Leben prägt. Wo wir uns persönlich kennenlernen und beieinander zu Gast sind, entsteht Vertrauen, werden Gespräche möglich, hören wir einander zu – ohne Angst, übervorteilt oder in die Enge getrieben zu werden. −− Üben wir den Dialog! Wer in den Dialog eintritt, muss sich mit seinem Glauben und seiner Überzeugung in das Gespräch einbringen. Streitfragen dürfen nicht einfach ausgeklammert werden. Wo sie behandelt werden, muss es im Respekt voreinander und in der ehrlichen Bemühung um die Suche nach Wahrheit geschehen. … Nur im Dialog lässt sich entdecken, wo wir in Grundauffassungen miteinander übereinstimmen und verbunden sind. −− Suchen wir die Zusammenarbeit! In allen Religionen gibt es vom Glauben her die Verpflichtung zur Achtung vor allem Lebendigen, zur Überwindung zerstörerischer Gewalt, zur Suche nach dem Frieden, zur Solidarität mit Schwachen und Leidenden, zum Einsatz für eine gerechte Gesellschafsund Wirtschaftsordnung, zum Schutz der Familie, zur verantwortlichen Partnerschaft von Mann und Frau, zum Ausbau des Erziehungs- und Bildungswesens. Es ist eine Fülle von Aufgaben, die die gemeinsame Arbeit der Religionen erfordern. Wir möchten also die bestehenden Initiativen ermutigen, auf ihrem Wege fortzufahren und zugleich zu neuen Initiativen aufrufen. Die am Mainzer ›Runden Tisch‹ (erg.: Mainz war der erste Ort unseres Treffens) versammelten Vertreter der Führungskreise verschiedener Religionsgemeinschaften unterstützen diese Bemühungen nachdrücklich und setzen sich auch selbst in diesem Sinne ein. Reichen wir uns die Hände und öffnen die Herzen füreinander, auf dass in das neue Jahrtausend hinein die Welt gerechter und friedvoller werde!6 6 Der Brief ist abzurufen auf der Homepage des Runden Tisches der Religionen in Deutschland: http://runder-tisch-der-religionen.de/?id=stellungnahmen.

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Da der Brief damals von Ignatz Bubis der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, fand er ein breites Medien-Echo. Allerdings gab es im Rat der EKD Kritik: Zu harmonisierend sei in dem Brief von Gemeinsamkeiten der Religionen die Rede! Die EKD hat sich dann längere Zeit sehr zurückgehalten und nur eine persönliche Mitgliedschaft akzeptiert, bis Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter (Lübeck) die Arbeit des Runden Tisches energisch unterstützte und ihr auf EKD-Ebene wieder Anerkennung verschaffte, so dass dann auch in ihrer Nachfolge Bischof Martin Hein (Kassel) direkt vom Rat der EKD delegiert wurde. Intensiv wurden beim Runden Tisch die Folgen des 11. September 2001 erörtert – und wieder wurden Klaus Lefringhausen und ich gebeten, eine Erklärung zu verfassen, die zum Jahrestag der Terroranschläge 2002 der Öffentlichkeit übergeben werden sollte. Bewusst haben wir sie unter die Überschrift gestellt Nachhaltig zusammenarbeiten! Da sie sehr fundamental die anstehenden Herausforderungen benennt, gebe ich sie in vollem Wortlaut wieder: Nachhaltig zusammenarbeiten! Lernprozesse der Religionen nach dem 11. September 2001 Am 11. September 2002 jähren sich die Anschläge in New York und Washington – ein Angriff, bei dem auch religiöse Motive eine Rolle gespielt haben. Als Mitglieder am Runden Tisch der Religionen in Deutschland fragen wir, welche Folgen nicht nur kurz-, sondern längerfristig zu

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bedenken sind und was insbesondere die Religionsgemeinschaften lernen müssen: 1. Die Religionen sind zu einer Weggemeinschaft berufen. Dabei brauchen wir den Mut, uns gegenseitig vor ideologischem Missbrauch zu warnen. 2. Die Ursachen der Gewalt liegen tief. Zu ihnen gehören soziale und wirtschaftliche Verarmung, religiös-kulturelle Nichtachtung und verletztes Selbstbewusstsein ebenso wie religiöser Fanatismus und politischer Missbrauch religiöser, kultureller und nationaler Gefühle. Im Hintergrund stehen oft Wunden, die man sich in der Geschichte der Religionen zugefügt hat. 3. Der Terror des 11. September 2001 in den USA ist vom Ausmaß und seiner menschenverachtenden Brutalität her unfassbar. Für Religionsgemeinschaften bedeutet er eine Herausforderung ganz eigener Art. 4. Auch wenn terroristische Taten nur religiös verbrämt, aber nicht motiviert sind, gibt es in Religionsgemeinschaften Sichtweisen, die sie stützen und für die die Religionsgemeinschaften Mitverantwortung tragen. 5. Wir betonen deshalb: Die Religionsgemeinschaften sind ihrem Glauben und damit auch dem Gemeinwohl verpflichtet. Sie müssen – zusammen mit Vertretern der Politik, der Wirtschaft und der Erziehung – daran mitarbeiten, die Mechanismen aufzudecken, die zum Terror führen. Sie sind insbesondere gefordert, ein Netzwerk für die Entwicklung von Frieden und Gerechtigkeit mit aufzubauen.

6. Gefordert ist eine religiöse Ethik, die über die eigene Glaubensfamilie hinaus weist und die Bereitschaft zur Mitarbeit an der Weltgemeinschaft weckt. Nicht nur in Wirtschaft und Politik, sondern auch in den Religionen und Kulturen muss global gedacht und gehandelt werden. 7. Gleichzeitig ist eine wirksame institutionelle Form für das interreligiöse Krisen­management gefordert: Über die Aburteilung jeglichen Terrors im Namen der Religionen hinaus müssen Strukturen entwickelt werden, um bei gegenseitigen Beschuldigungen und Verletzungen im Gespräch zu bleiben, an der Deeskalation von Gewaltaktionen mitzuwirken und Versöhnungsprozesse in Gang zu setzen. 8. Der 11. September 2001 verlangt nachhaltiges Denken und Handeln: −− in einer kontinuierlichen Begegnung und Verständigung zwischen Menschen verschiedener Religionen und Kulturen, −− in einer Erziehung, die Vorurteile überwindet und in der Verletzungen der Vergangenheit aufgearbeitet werden, −− in einer Bildung, die das je eigene religiöse und kulturelle Erbe lebendig macht und fruchtbar werden lässt für eine vielfältige, nicht ›gleichgeschaltete‹ Gemeinschaft, −− im Einsatz für Benachteiligte und an den Rand gedrängte Bevölkerungsgruppen, −− in einer Integrationsbemühung, in die sich alle mit ihren Fähigkeiten und Besonderheiten gleichberechtigt einbringen können. Wir hoffen, dass vom Tag der Religionen, der von uns angeregt wurde und am 14. November 2002 erstmals in Hamburg stattfinden wird, nachhaltige Verständigungsimpulse ausgehen. Bonn, im September 2002

Die Initiative für einen Tag der Religionen – jeweils in einer größeren deutschen Stadt – wurde vom Runden Tisch ausdrücklich als Beitrag zum Dialogue among Civilisations 2001 ergriffen. Er hat von 2002 an jährlich stattgefunden u. a. in Hamburg, Nürnberg, Köln, Kiel, Osnabrück, Hagen, Kassel, Coburg, Hannover, 2016 in Dortmund; 2017 war er in Frankfurt/Main. Eingebunden sind die Religionsgemeinschaften und Bildungseinrichtungen vor Ort, aber ebenso die Stadtverwaltung und die Stadtspitze. Um den Tag wird jeweils ein interkulturelles und interreligiöses Programm gestaltet, das sich gelegentlich über mehrere Wochen hinzieht und die Aufgabe des kultur- und religionsübergreifenden Zusammenlebens zu einem prioritären Stadtthema macht. Der Tag der Religionen selbst wird vom Runden Tisch der Religionen mit einer Zentralveranstaltung und einer prominenten Persönlichkeit als Gastredner bestritten – dazu gehörten die Politiker Armin Laschet, Heiner Geißler und Christian Wulff, aber auch der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutsch-

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land und Heiner Bielefeldt vom Lehrstuhl für Menschenrechte der Universität Erlangen-Nürnberg als UNO-Sonderberichterstatter für Glaubens– und Gewissensfreiheit. Der zweite Tag der Religionen war gleichzeitig der Eröffnungstag des achten Nürnberger Forums, das unter dem Thema Bewahrung – Entwicklung – Versöhnung. Religiöse Erziehung in globaler Verantwortung stand. Dafür konnte ich die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth als Festrednerin gewinnen. Ich sprach sie darauf an, als ich im Jahr zuvor, am 17. Februar 2002, die Festrede zu ihrem 65. Geburtstag im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin hielt. Jürgen Micksch, Vorsitzender des Interkulturellen Rates Deutschland, hatte mich empfohlen, und Maria Böhmer, damals Vorsitzende der Frauenunion, hatte mich daraufhin um den Vortrag gebeten. Als Thema für die Festveranstaltung hatte sich Rita Süssmuth den ›Dialog der Kulturen‹ gewünscht. Ich griff dieses Motto auf und gab ihm zwei Zuspitzungen: ›Dialog der Kulturen in Deutschland‹ und als Untertitel ›Visionen ohne Illusionen‹. Ich wollte deutlich machen: Wir brauchen Visionen, die über das Konfliktpotenzial der Gegenwart hinausführen. Aber: Wir brauchen sie ohne die Illusion, ein harmonisches Zusammenleben würde sich aus den Visionen gleichsam automatisch ergeben. Ich wollte zeigen, dass es harte Arbeit kostet, eine sorgfältige Analyse der Zusammenhänge, dass es vor allem Geduld braucht, zu einer wirklichen Integration zu gelangen. Sicherheit, dass sie gelingt, kann es nicht geben. Mit Rückschritten muss gerechnet werden – und das müssen wir ja auch gegenwärtig wieder bedrückend erfahren. Es ist immer wieder auch ein Stück Geschenk, wenn neue Gemeinschaft gelingt. Dass diese Arbeit aber lohnt und was zu ihr nötig ist, wollte ich in drei Schritten zeigen: 1. Realisierte Visionen: Mir ging es darum, sichtbar zu machen, dass es bei uns längst eindrucksvolle Beispiele gibt, wo Visionen eines neuen Zusammenlebens trotz aller Hindernisse verwirklicht wurden. 2. Pionierwege des Dialogs: Ich wollte auf Vordenker verweisen, die den Dialog längst eingeübt haben, dass dieser aber intensiviert und verbreitert werden muss. 3. Zukunftsaufgaben unter Belastungen und Verheißungen. Ich wollte sehr wichtige, auch ganz konkrete Zukunftsaufgaben benennen, die nicht leicht zu realisieren sind, für die aber alle Anstrengung lohnt. Unter die realisierten Visionen rechnete ich die Stuttgarter Schulderklärung der EKD von 1945, mit der Deutschland direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus seiner Isolation trat, so dass ihm die Kirchen und dann auch die

Völker vor allem der Westmächte die Hand reichen konnten. Ich rechnete unter sie die Aussöhnung mit Frankreich, für die der Handschlag zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle in der Kathedrale von Reims ein besonderes Signal wurde. Für die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn wurden die Ostdenkschrift der EKD und der Briefwechsel zwischen den polnischen und den deutschen Bischöfen während des Zweiten Vatikanischen Konzils zu entscheidenden Impulsen. Und natürlich war auf den Wendeprozess in der DDR zu verweisen. Im Blick auf ›Pionierwege des Dialogs‹ stellte ich die doppelte These auf, dass hinsichtlich interreligiöser Begegnung und Austausch seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts mehr geschehen ist als je zuvor in der Geschichte, dass aber hinsichtlich der Breitenwirkung Begegnung und Dialog noch immer zu sehr am Rande stünden, trotz einer deutlichen Ausweitung des Interesses seit 1990. Ich erwähnte die Impulse des Zweiten Vatikanums, des Dialogprogramms des Ökumenischen Rates der Kirchen, von WCRP, die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und die christlichmuslimischen Gesellschaften, aber auch den Runden Tisch der Religionen in Deutschland und die religionspädagogischen Bemühungen um interreligiöses Lernen. Für die Zukunftsaufgaben stellte ich – in umgekehrter Reihenfolge zu Hans Küngs Imperativen – »Kein Weltfriede ohne Religionsfriede, kein Religionsfriede ohne Religionendialog, kein Dialog ohne Grundlagenarbeit in den Religionen!« – drei Maximen auf: ȤȤ Grundlagenarbeit in den Religionen bedeutet: Selbstbesinnung und Öffnung, ȤȤ Dialog bedeutet: Begegnung und Verständigung in einem kontinuierlichen, systematischen Rahmen, ȤȤ Kooperation bedeutet: Wahrnehmung gemeinsamer Gesellschaftsverantwortung in Deutschland und Europa. Für alle drei Maximen konnte ich konkrete Beispiele benennen. Das große Foyer des Konrad Adenauer-Hauses war voll besetzt, ein weites politisches Spektrum nicht nur aus der CDU, ein sehr aufmerksames Publikum und ein sehr auf das Thema konzentriertes Podium im Anschluss daran. Zu den Zuhörerinnen gehörte auch Angela Merkel, damals als Vorsitzende der CDU. Für die Frauen-Union war der Jubiläumsgeburtstag von Rita Süssmuth ein Anlass, den langen Weg von Frauen in höchste politische Ämter sichtbar zu machen und ihr nachhaltiges Wirken zu würdigen. Vom 23.–26. September 2003 fand dann das achte Nürnberger Forum statt, eröffnet mit dem Tag der Religionen, und für beides war Rita Süssmuth

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die Festrednerin. Am Vormittag des 23. September hatten die Nürnberger Religionsgemeinschaften ihre Türen geöffnet, nicht nur für die Forumsteilnehmer, sondern für die Öffentlichkeit insgesamt und besonders auch für Schulklassen. Die Synagoge war dabei, 13 Kirchengemeinden der verschiedenen Konfessionen, fünf Moscheen und islamische Zentren, die buddhistische Gemeinschaft in Fürth, der Hindu-Tempel in der Nürnberger Südstadt, die Baha’i-Gemeinde und das Friedensmuseum. Nach der Eröffnungsveranstaltung wurden in der Sebalduskirche Lieder und Tänze der Religionen dargeboten, hinführend zu einer Gebetsstunde der Religionen. Als Gesamtthema hatten wir gewählt: Bewahrung – Entwicklung – Versöhnung. Religiöse Erziehung in globaler Verantwortung. Ansatzpunkt war, das Schlagwort ›Globalisierung‹, das bisher vor allem in ökonomischen, sozialen und politischen Kontexten diskutiert wurde, von der Rolle der Religionen und ihren Aufgaben im erzieherischen Feld her zu beleuchten. Die Stichworte Bewahrung – Entwicklung – Versöhnung wurden dazu nicht nur als Gegenbegriffe gegen einseitige Konsum- und Profit­orientierung sowie politischen Machtmissbrauch in die Diskussion gebracht, sondern auch bewusst auf das Ethos der Religionen bezogen, das aus deren geistlichen Wurzeln heraus zu entfalten und für die religiöse Mitverantwortung im politischen wie im erzieherischen Feld zu aktualisieren ist. Die Referentinnen und Referenten, die aus 22 verschiedenen Ländern in Europa, Asien, Afrika und Amerika nach Nürnberg gekommen waren, repräsentierten durch die Vielfalt der religiös-weltanschaulichen Kontexte und der Aufgabenbereiche, aus denen sie kamen, selbst ein Stück Globalität. Die Weite des Gesamtthemas wurde durch eine von den früheren Foren her bewährte Grundstrukturierung in fünf Themenbereiche – ergänzt um Workshops zu wissenschaftlichen und praktischen Arbeitsbereichen – greifbar und hinreichend übersichtlich. Eingerahmt wurde die Gesamtheit der Beiträge durch den Eröffnungsvortrag von Rita Süssmuth und den Schlussvortrag von Hans Küng. Beide brachten eine übergreifende Perspektive ein, mit der Grundfragen der Gesamtthematik gezielt angesprochen werden, während Karl Ernst Nipkow das Schlusspodium souverän moderierte. Rita Süssmuth stellte sich der Frage, ob Bewahrung, Entwicklung, Versöhnung politische Vokabeln werden können und gab selbst eine konstruktive Antwort. Sie machte deutlich, wie Versöhnung nicht ohne Entwicklung wachsen kann und bescheinigte vielen Gruppierungen der Zivilgesellschaft, dass sie in diesem Feld vor-gedacht und vor-gehandelt haben. Sie mahnte konkret die Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Kommunen in Integrationsfragen an und vertrat die These, dass das Miteinander der Reli-

gionen deren Identität nicht schwäche, sondern stärken könne. Dabei sah sie in der Beheimatung in einer spezifischen religiösen Tradition das Potenzial für einen dynamischen Umgang mit der Globalisierung, das partizipatorisch in einer Mitwirkungsgesellschaft in demokratischer Einübung zur Geltung gebracht werden kann. Hans Küng riss am Ende des Forums weitreichende Perspektiven auf, ausgehend von einem in der Gegenwart neu geforderten Umgang mit der Geschichte, indem er anhand der Paradigmenkonflikte zwischen und in den Religionen noch einmal zusammenhängend die Leitbegriffe des Forums – Bewahrung, Entwicklung, Versöhnung – beleuchtete. Im Bewusstsein, wie schwer es ist, die Fülle der Religionserscheinungen und ihrer geschichtlich gewachsenen Ausprägungen in eine Zusammenschau zu bringen, zeigte er doch – hier konzentriert auf die drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam – Linien und Tendenzen, die in aller Vielfalt ein Kontinuum darstellen: Er kann einmal einen Identitätskern umreißen – für das Judentum: Israel als Gottes Volk und Land; für das Christentum: Jesus Christus als Gottes Messias und Sohn; für den Islam: Der Koran als Gottes Wort und Buch – dabei verbunden durch die Beziehung auf den einen und einzigen Gott Abrahams, den gnädigen und barmherzigen Schöpfer, Bewahrer und Richter aller Menschen. Diese Mitte ist zu bewahren, will sich die Glaubensgemeinschaft nicht von ihren Wurzeln trennen. Es gibt gleichzeitig ein Entwicklungspotenzial in den Religionen, das sich in ihrer dynamischen, durchaus nicht geradlinig verlaufenden Geschichte zeigt, von sehr kennzeichnenden Paradigmenwechseln gekennzeichnet ist und das kritischselbstkritisch in die gegenwärtige Begegnung einzubringen ist. Die Arbeit daran – in den Religionen und zwischen den Religionen – ist eine notwendige Bedingung zur Versöhnung in der Gegenwart, die die Religionen erst zu glaubwürdigen Verfechtern eines notwendigen Grundethos in Prozessen der Globalisierung und einer ihr entsprechenden Bildung macht. Im Zentrum des Forums stellte Karl Ernst Nipkow die übergreifende Frage: Wie lernt man global? Er ging sie vielfältig an, mit Bezügen zu allen Themenbereichen. Sein Nachdenken über eine Bildung, die Freund-FeindSchablonen überwinden kann, war geprägt von kritischem Realismus – angesichts entsolidarisierender Strukturen, die sich in viele Weltregionen hinein ausstrecken und der fehlenden emotionalen und kognitiven Dispositionen, dem entgegenzuwirken. Es wurde sichtbar, dass die psychischen und verantwortungsethischen Fähigkeiten der Menschen nicht Schritt gehalten haben mit der globalen Entwicklung. Gleichzeitig räumte Nipkow visionären Ausblicken, für die es in alternativen Bildungsprojekten bereits Erfahrungen gibt, einen wichtigen Platz für die nötige Erneuerung ein.

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Geerdet wurden diese Überlegungen durch Erfahrungen und Projektbeispiele aus vielen verschiedenen religiösen und regionalen Kontexten: von A. T. Ariyaratne mit seiner Sarvodaya-Bewegung auf der Basis von Gandhis Prinzipien in Sri Lanka, von Sulak Sivaraksa aus Thailand mit seinem Spirit in Education-Projekt im Rahmen der Bewegung des Engaged Buddhism, von Beyza Bilgin mit ihrer Einführung der Weltethos-Thematik in die türkische Religionspädagogik, von Norman Richardson für die interreligiöse Erziehung in Nordirland, von Fedor Kozyrev für die Ansätze einer Humanitarian Religious Education in Russland, von Viola Raheb und Ophir Yarden in sehr ernüchternder Weise für Palästina und Israel. Prinz Hassan bin Talal von Jordanien – damals Präsident des Club of Rome und immer wieder unermüdlich in Friedensinitiativen für den Nahen Osten – schickte uns ergänzend seine Überlegungen zu Religionen als Triebkräfte für Fanatismus oder für Versöhnung? Der nahöstliche Konflikt in globalem Zusammenhang, in denen er die Kommunikationsprobleme in der wechselseitigen Wahrnehmung zwischen den arabischen Ländern mit Palästina, Israel und dem ›Westen‹, die immer wieder durch einseitige Darstellung in den Medien verschärft werden, herausstellte und zu politischen Gegenprogrammen aufrief. Es gab ergänzend Workshops zum Thema Meditation, zur interreligiösen Hermeneutik, zur Medienarbeit, zu aktuellen Forschungsprojekten sowie eine pädagogische Werkstatt. Vor allem aber schloss sich an das Forum noch ein Symposium zur interreligiösen Schulbuchforschung an, in dem Klaus Hock und ich mit unseren Mitarbeitern Patrick Bartsch und Wolfram Reiss eine Zwischenbilanz unseres Forschungsprojekts Die Darstellung des Christentums in Schulbüchern islamisch geprägter Länder zogen und mit Kolleginnen und Kollegen aus der Türkei, dem Iran, Ägypten, Palästina, Israel, Griechenland und Algerien die Perspektiven, die sich für die Weiterarbeit ergaben, erörterten. Einleitend gaben wir einen Überblick über die Geschichte und Entwicklung des Projekts, die Erwartungen, die wir mit ihm verbanden, die ersten Ergebnisse und die Einsichten, die wir gewonnen hatten. Ich möchte das hier wenigstens in Kürze skizzieren, weil es ein so spannungsvoller wie spannender Prozess war: Unser Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass Schulbücher – auch im Zeitalter audiovisueller Medien – zentrales Mittel der Information und Orientierung in Schulen sind: mit prägnanten Texten, Bildern, Leitmotiven. Das gilt verstärkt in den meisten islamisch geprägten Ländern. Dort sind die Schulbücher oft die ›Lehrer der Lehrenden‹. Unsere Ausgangsthese, die sich bereits in der ersten Phase unserer Arbeit bestätigte, war, dass Schulbücher ein Schlüssel für den internationalen pädagogischen und interreligiösen Dialog sein können; denn

ȤȤ sie verdeutlichen den Stand der gegenseitigen Wahrnehmung, ȤȤ sie spiegeln die theologische und pädagogische Wissenschaft in dem jeweiligen Land, ȤȤ sie ermöglichen den Dialog an einem umgrenzten, exemplarischen Gegenstand. Das Projekt hat eine lange Vorgeschichte, die nicht denkbar war ohne die in Nürnberg in zwanzig Jahren aufgebauten internationalen, interreligiösen und religionspädagogischen Kontakte: durch die Nürnberger Foren, die an unserem Lehrstuhl moderierte Peace Education Standing Commission (PESC) der Bewegung Religions for Peace (WCRP/RfP), aber auch die Bemühungen um einen islamischen Religionsunterricht und die Ausbildung islamischer Religionslehrerinnen und -lehrer. Vorgängerprojekt war das in den 1980er-Jahren durchgeführte Forschungsprojekt Islam in deutschen Schulbüchern – später ausgeweitet auf weitere europäische Länder –, organisiert von der Islamisch-Wissenschaftli­chen Akademie Köln unter Leitung von Abdoldjavad Falaturi und Udo Tworuschka. Es ist dokumentiert in zehn Bänden, die durch das Georg Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig veröffentlicht wurden, und hat zu einer wesentlichen – wenn auch immer noch nicht ganz durchgreifenden – Verbesserung der Darstellung des Islam in Schulbüchern geführt. Schon damals wurde eine Gegenuntersuchung angemahnt. Dabei wurde mit Recht vermutet, dass sich diese Aufgabe angesichts der sprachlichen Probleme, der kulturellen und politischen Rahmenbedingungen und der unterschiedlichen Schulsysteme als noch komplexer erweisen würde. Nach einem vergeblichen ersten Anlauf bei der VW-Stiftung 1993/94 gelang es Klaus Hock und mir im Jahr 1999, über die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Mittel für unsere Untersuchungen zu erhalten. Ausgewählt haben wir zunächst die Türkei mit ihrer kemalistisch-laizistischen Tradition, den Iran als ›Islamische Republik‹, Ägypten mit seiner Al Azhar-Universität und der starken christlich-koptischen Minderheit sowie Palästina als problembeladene Brennpunktregion. Mit Patrick Bartsch – Turkologe, Iranist und Islamwissenschaftler – und Wolfram Reiss – Theologe mit langer Erfahrung im Nahen Osten – fanden wir sprachlich und fachlich kompetente Mitarbeiter. Was mussten wir alles unternehmen! Die Detailarbeit begann mit der Beschaffung der Schulbücher, der Erschließung der schulisch-pädago­ gischen Rahmenbedingungen, der Erstellung von Kriterien für die Raumund Inhaltsanalyse, der Anfertigung von Schulbuchprofilen und der Übersetzung der relevanten Passagen und Kapitel. Gleichzeitig bauten wir Kontakte

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zu Theologen, Religionspädagogen, Vertretern der Kultusbehörden und der Kirchen in den vier Ländern auf. Dabei fanden wir mehr an Aufgeschlossenheit und Interesse, als wir zunächst annahmen. Dass im pädagogischen Feld international gedacht werden muss, dass der interreligiöse Dialog die praktische Ebene der Schulen erreichen sollte, ist eine von Kolleginnen und Kollegen unserer Partnerländer geteilte Überzeugung. Ich konnte dann eine kurze – und natürlich längst nicht vollständige – Skizze wichtiger Ergebnisse zeichnen: 1. Es gibt Gemeinsames in der Betrachtung des Christentums in den verschiedenen islamisch geprägten Ländern: Das Christentum wird gemäß dem Koran als Buchreligion betrachtet und damit prinzipiell als anerkannte Religion. Das Gesamtbild des Christentums ist deshalb nirgendwo absolut negativ. Andererseits gilt das Christentum als unvollkommene Vorläuferreligion des Islam – mit dem Problem von Verfälschungen in seinen heiligen Schriften und mit Lehren, die mit dem Glauben an den einen Gott scheinbar nicht in Einklang zu bringen sind (Gottessohnschaft Jesu …). Weiterhin spielen Belastungen durch die Geschichte eine Rolle, vor allem die Kreuzzüge und der Kolonialismus. Insgesamt findet sich ein nur sehr punktuelles, selektives Eingehen auf das Christentum – ganz überwiegend dargeboten in der Form vermeintlich objektiver Fakten. Erkenntnisse einer neueren Weltreligionen-Didaktik hatten – außer in ersten Ansätzen in der Türkei – noch keinen Eingang in die Schulbücher gefunden. 2. Es gibt große Unterschiede in den verschiedenen Ländern: In der Türkei hatte damals noch die laizistische Tradition einen starken Einfluss: Das Fach Religions- und Sittenkunde verstand sich als objektiv informierend, wobei eine islamisch-positionelle Konzeption faktisch dominierte. Es galt aber seit 2001 ein neues Unterrichtsprogramm, in dem auf objektive Information über die Religionen und Erziehung zur Toleranz großer Wert gelegt wurde. Im Iran als Islamischer Republik spielte Religion in der schulischen Erziehung eine zentrale Rolle. Dabei wurde in Schulen der Minderheiten (es gibt z. B. 36 armenische Schulen in Teheran) auch Religionsunterricht in deren Tradition erteilt. Insgesamt aber ist der Islam in den Schulbüchern – auch den Geschichtsbüchern – das Maß aller Dinge, die Überlegenheitsreligion schlechthin. In den Religionsbüchern kamen Christen nur vor, insofern sie sich zum Islam bekehrten. In Ägypten wurde politisch offiziell ein maßvoll islamisch-konservativer Kurs verfolgt, für den auch die Al Azhar-Universität steht – in Spannung zum untergründigen Wirken der Muslim-Brüder. Die christlichen Kirchen, voran die koptisch-orthodoxe Kirche, galten als anerkannte Religions­

gemeinschaften und stützten den nationalen Kurs der Regierung. Es gab aber kaum eine wechselseitige inhaltliche Wahrnehmung – weder in den muslimischen noch in den christlichen Religionsbüchern. Im Geschichtsbild wurde einseitig die Linie direkt von den Kreuzzügen zum Kolonialismus gezogen. In Palästina waren lange Zeit ägyptische (im Gaza-Streifen) und jordanische Schulbücher (auf der Westbank) in Gebrauch. Im Zuge des Oslo-Prozesses hatte es ernsthafte Bemühungen um neue gegenseitige Wahrnehmung auch in Kontakt mit israelischen religionspädagogischen Instanzen gegeben, die inzwischen stark zurückgefahren, trotz der desolaten politischen Lage aber nicht vollkommen auf Eis gelegt waren. Als Besonderheit unseres Projekts konnte und kann gelten, dass wir nicht nur zu Analysen gelangt sind, sondern dass sich konstruktive Gespräche in den Partnerländern initiieren und führen ließen. Wir waren dazu in Teheran und Kairo ebenso wie in Istanbul und später in Amman, Damaskus und Beirut. In Istanbul hatten wir ja bereits im November 2001 einen Runden Tisch mit Vertreterinnen und Vertretern der islamischen Religionspädagogik und der türkischen Minderheitskirchen – griechisch-orthodox, armenisch, katholisch – organisieren können, in dessen Folge die Kirchen auf Bitten des Erziehungsministeriums eine Kommission bildeten, die dann Verbesserungen der Schulbuchkapitel über das Christentum erarbeitete. Am erstaunlichsten waren für uns die Gespräche, die Patrick Bartsch und ich im September 2002 in Teheran führen konnten. Nachdem wir zunächst nur die deutsche evangelische Gemeinde dort als Anlaufadresse hatten, wurden wir innerhalb einer Woche von Institution zu Institution weitergereicht, wobei uns besonders die deutsche Botschaft half. Wir erlebten mehrfach ein aufgeschlossenes Interesse an unserer Forschung, eine hohe Dialogkultur und den Willen, unsere Analysen sehr ernst zu nehmen. Während am 11. September 2002 auf den ersten Seiten der Zeitungen in Teheran die Warnung des geistlichen Führers Khamenei vor den Feinden der islamischen Revolution zu lesen war – die offizielle Politik –, war gleichzeitig bei unseren Ansprechpartnern ein großes Bedürfnis nach geistigem Austausch und offenem Dialog zu spüren. Viele Hoffnungen ruhten damals auf Staatspräsident Mohammad Khatami. Er hatte nicht nur das UNO-Jahr des ›Dialogs der Zivilisationen‹ angestoßen, sondern selbst ein Internationales Zentrum für den Dialog ins Leben gerufen. In dessen zehn Abteilungen – neben Religion und Philosophie auch Geografie, Politik, Architektur – waren Spitzen-Wissenschaftler des Iran tätig. Intensive Gespräche führten wir mit dem Leiter der Religionsabteilung – Saeid Edalad Nezhad –, an denen auch der international bekannte Reformtheologe Mojtahed Shabestari teilnahm, der als langjähriger Leiter

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des Hamburger Islamischen Zentrums fließend Deutsch spricht. Wir scheuten uns nicht, die Situation der Christen im Iran und der bedrückten größten religiösen Minderheit der Baha’i anzusprechen und hatten Gelegenheit zu Gesprächen mit dem armenischen Bischof Sebouth Sarkissian und einem Vertreter der chaldäisch-katholischen Kirche. Bei dem Religionsgeschichtler Homayoun Hemmati, der uns zusammen mit seiner Frau persönlich einlud und später auch nach Deutschland gekommen ist, stand die ganze Breite westlich-theologischer und philosophischer Literatur in der Bibliothek – darunter Bultmann, Küng, Habermas. Er selbst hatte das berühmte Buch Rudolf Ottos Das Heilige in Farsi übersetzt und bedauerte, dass so wenig von Martin Luther in Farsi vorliege. Schließlich waren wir auch im Erziehungsministerium, in dessen Bibliothek wir sogar deutsche Religionsbücher fanden. Entscheidend war ein Gespräch mit dem Leiter der Schulbuchabteilung, AqÁ-ye EtesÁmi, und seinen Mitarbeitern. Wir kamen auf fundamental-religionspädagogische Fragen – Wie kann man mit Kindern von Gott sprechen? – und erläuterten die Zusammenfassung unserer Untersuchung der iranischen Schulbücher. Sie baten um die Übersendung unserer Gesamtanalyse, die sie in Farsi übersetzen wollten. Von Edalad Nezhad und Shabestari wurden wir parallel dazu angeregt, einen ausführlichen Brief direkt an Präsident Khatami und den einflussreichen Ayatollah Mohajerani zu schreiben, in dem wir die interreligiöse Relevanz unserer Untersuchung erläutern sollten. Zu unserer Überraschung hat Khatami später persönlich positiv auf unseren Brief geantwortet und im Erziehungsministerium wurde unsere Analyse wörtlich übersetzt, versehen mit einer Einleitung, in der zwar einschränkend gesagt wurde, dies sei wohl eine einseitig westliche Sicht, aber man könne sicher in Einzelheiten an Verbesserungen in den Schulbüchern arbeiten. Leider wurde unter der Präsidentschaft von Ahmadinejad die Arbeit des Zentrums für den Dialog der Zivilisationen weitgehend heruntergefahren, aber das Erziehungsministerium veröffentlichte gleichwohl unsere Untersuchung. Am schwierigsten waren die Gespräche in Ägypten. Dortige Instanzen warfen uns direkt koloniale Einmischung vor: Wie kämen wir dazu, von außen ihre Schulbücher zu beurteilen – zumal es ein prinzipiell gutes Zusammenleben von Muslimen und Kopten im Lande gäbe? Bei dem Symposium 2003 brach das bei der ägyptischen Pädagogin Samiha Sedhoum Petersen und dem Theologen Elsayed Elshahed noch einmal deutlich hervor. Doch hat es auch hier später eine konstruktive Weiterentwicklung gegeben, durch eine von der UNESCO eingerichtete europäisch-ägyptische Arbeitsgruppe, an der Wolfram Reiss mitgearbeitet hat. Fragen, die immer wieder auftauchten, waren: Kann es gelingen, das Selbstverständnis christlicher Kirchen und ebenso das anderer Religions­

gemeinschaften konstitutiv zu berücksichtigen? – Schwierig angesichts der im Koran festgelegten Sicht der nicht muslimischen Religionen! Lässt sich erreichen, aus der Selektivität des Dargestellten zu einer ganzheitlicheren Darstellung auch im Sinne aufbauenden Lernens zu gelangen? Werden Schulbuchkapitel vor ihrer Veröffentlichung von kompetenten Fachleuten der anderen Seite gegengelesen? Lassen sich altersgemäß lebendige Darstellungsformen finden? Beim Symposium im Anschluss an das Nürnberger Forum 2003 wurden bereits einige Grundsätze formuliert, die sich als relevant für die Schulbucharbeit ergeben haben: Prinzipielles Anliegen sollte es danach sein, ein möglichst zusammenhängendes Gesamtbild der verschiedenen Religionen zu vermitteln, das von ihren Anhängern als authentisches Bild, nicht als Zerrbild akzeptiert werden kann. Dabei sollten die grundlegende Reflexionsarbeit in den Religionsgemeinschaften, ihre »Theologie«, aber auch aktuelle Erkenntnisse der Religionswissenschaften berücksichtigt werden, um nicht zu simple und überholte Bilder der Religionen zu vermitteln. Besonderer Augenmerk gilt einer differenzierten Darstellung der Geschichte. Interreligiöse Kooperation beim Gegenlesen entsprechender Schulbuchkapitel sollte entwickelt werden. Wichtig ist, die Religionen nicht nur als Lehrgebäude erscheinen zu lassen, sondern als lebendige Größen mit ihrer inneren Pluralität. Soweit möglich, sollte Lernen ›in der Begegnung‹ realisiert werden, sollten verschiedene Unterrichtsfächer – neben Religion besonders Geschichte und Geografie – in die Kooperation einbezogen und ein aufbauendes Lernen von Altersstufe zu Altersstufe angestrebt werden. Die Begrenztheit der Möglichkeiten angesichts der oft noch problematischen Qualität der bildungsmäßigen Strukturen und der Lehramtsausbildung in verschiedenen Ländern, aber auch die innerreligiösen Widerstände gegenüber diesen Vorstellungen waren uns sehr bewusst. Aber wir konnten in den Folgejahren an ihrer Konkretion weiter arbeiten und schließlich beim Nürnberger Forum 2010 Standards für interreligiöse Schulbuchforschung und Schulbuchentwicklung formulieren, die ein breites internationales Echo gefunden haben. Ebenso aktuell für die interreligiöse Entwicklung, besonders aber auch für die Integrationsaufgaben in der deutschen Gesellschaft war der Aufbau der Ausbildung islamischer Religionslehrkräfte an unserer Universität und parallel dazu von Modellversuchen islamischen Unterrichts in deutscher Sprache, den wir ab 2002 angegangen sind. Wir waren vier Kollegen aus vier Fakultäten, die sich dieser neuen Aufgabe widmeten: Hartmut Bobzin als Islamwissenschaftler, Matthias Rohe als Jurist mit islamwissenschaftli-

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cher Qualifikation, Gotthard Jasper als Politologe und damaliger Rektor der Universität und ich mit meiner erziehungswissenschaftlich-religionspädago­ gischen Qualifikation. Wie hatten erfahren, dass sich in Erlangen eine islamische Religionsgemeinschaft gegründet hatte, die auf persönlicher Mitgliedschaft beruhte und nicht von einem der Islamverbände dominiert wurde. Ihr besonderes Anliegen war, sich unter dem Vorsitz von Remsi Güneysu für einen Modellversuch konfessionsbezogenen Islamunterrichts einzusetzen. Gotthard Jasper lud uns ins Rektorat ein und schlug vor, für ein Pilotsemester in Absprache mit der islamischen Religionsgemeinschaft Erlangen einen Gastprofessor aus der Türkei, der sich in Deutschland wissenschaftlich qualifiziert hat, einzuladen und auf diesem Wege Strukturen für einen möglichen Studiengang zu entwickeln. Als ersten Gastprofessor konnten wir Halit Ünal von der Universität Kaiseri gewinnen, der in Deutschland bei Abdoldjavad Falaturi in Köln promoviert hatte. Mit ihm zusammen konzipierten wir eine explorative Lehrveranstaltung, in der wir die Konturen eines möglichen Lehramtsstudiengangs für islamische Religionslehre interdisziplinär – islam-theologisch, islamwissenschaftlich, juristisch, aber auch aus der Sicht der Schulverwaltung – ausloteten. Acht muslimische Studierende fanden sich ein, sämtlich mit deutscher Hochschulzugangsqualifikation. Parallel boten Halit Ünal und ich ein Seminar zur religiösen Sozialisation und Entwicklung im Kindes- und Jugendalter an, in dem es um exemplarische religiöse Lernentwicklungen bei christlichen und muslimischen Schülerinnen und Schülern ging. Es war in jeder Hinsicht ein Entdeckungslernen: Wie denken wir, wie fragen wir in unseren religiösen Kontexten? Wie reden wir von Gott, wie vom Menschen, wie von der Ethik, wie gehen wir mit der Frage nach Gottes Gerechtigkeit angesichts von Leid um? Wir wussten, dass auch an mehreren anderen Hochschulen in Deutschland – Münster, Frankfurt/Main, Osnabrück – am Aufbau einer Ausbildung islamischer Religionslehrerinnen und -lehrer gearbeitet wurde, aber unsere Universität war die erste, die hier praktische Erfahrungen sammelte, was zu Anfragen aus dem ganzen deutschen Raum führte. Schwieriger gestaltete sich der geplante schulische Modellversuch. Die Grundschule Brucker Lache in Erlangen machte sich stark dafür. Die islamische Religionsgemeinschaft Erlangen schlug als Lehrer Ali Türkmenoglu vor, der seine Lehrerausbildung in der Türkei absolviert, dann einen Abschluss an der Al Azhar-Universität in Kairo erworben und schließlich in Deutschland einen Magister in Islamwissenschaft gemacht hatte. Das Schulamt Erlangen erklärte sich damit einverstanden. Der Unterricht begann im Schuljahr 2002/03 für alle muslimischen Kinder, deren Eltern sich einen solchen

Unterricht wünschten – parallel zum evangelischen und katholischen Religionsunterricht. Der Einstieg – angelehnt an den schon vorher bestehenden Lehrplan für Islamkunde im muttersprachlichen Unterricht – war vielversprechend. Doch nach 14 Tagen erhielt ich einen erregten Anruf aus der Bezirksregierung Mittelfranken: Der Unterricht sei nicht kultusministeriell genehmigt und müsse sofort gestoppt werden. Schule, Eltern und Kinder waren enttäuscht. Aber dann erhielten wir politische Unterstützung: Joachim Herrmann, Landtagsabgeordneter aus Erlangen und späterer Innenminister Bayerns vermittelte ein Gespräch bei der damaligen Kultusministerin Monika Hohlmeier, zu dem wir zusammen mit Remsi Güneysu nach München reisten. Wir erklärten ausführlich unser im Entstehen begriffenes ›Erlanger Modell‹, und der Unterrichtsversuch wurde für das nächste Schuljahr genehmigt! Im Sommersemester 2003 hatten wir dann schon 18 Studierende, und im folgenden Wintersemester konnte erstmals ein semesterbegleitendes Praktikum an der Grundschule Brucker Lache durchgeführt werden. Das bedeutete, dass ich in drei Jahren nacheinander im Wintersemester jeweils mittwochs als Praktikumsbegleiter im islamischen Unterricht in Erlangen saß, mit Ali Türkmenoglu als Lehrer und jeweils sechs bis zehn muslimischen Studierenden. Alle möglichen Themen für das erste bis vierte Schuljahr mussten erstmals erprobt werden, dazu eine systematische Unterrichtsvorbereitung und -auswertung. Die Klassenzimmer schmückten sich zunehmend mit kreativen Arbeiten der Schülerinnen und Schüler aus christlichem und islamischem Religionsunterricht, man war bei Themen wie Weihnachten und Ramadan auch wechselseitig zu Gast – und die muslimischen Kinder waren sichtlich stolz, ihren eigenen Religionsunterricht zu haben. Zur ersten Gruppe der Studierenden gehörten mit besonderem Engagement Amin Rochdi und Emel Durmaz, seine spätere Frau, die von Heidelberg nach Nürnberg gewechselt waren, als sie von dem Angebot für islamische Religionspädagogik dort hörten. Beide sind ein Beispiel für eine neue, junge Generation von Deutschen, die aus ihren Familien kulturelle Vielfalt und aus der Ausbildung vorzügliche Voraussetzungen für die neuen Aufgaben mitbringen. Mit einem aus Marokko stammenden Vater und einer Mutter aus dem Piemont war Amin Rochdi viersprachig aufgewachsen: Arabisch, Italienisch, Französisch und Deutsch sprach er, hatte in der Schule Englisch und Latein gelernt und später bei einem Erasmus-Aufenthalt in Ankara auch Türkisch! Emel Durmaz kam aus einer in Deutschland sozialisierten türkischen Familie, ihre Mutter war schon als Zweijährige nach Deutschland gekommen. Kein Wunder, dass beide nach erfolgreicher Ausbildung vielfältig gefragt und gebraucht wurden und werden.

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Aber wie erreicht man es, wenigstens eine ordnungsgemäße Professur für Islamische Religionslehre zu bekommen? Es war ein Zeitraum, in dem an den Hochschulen rigoros gespart werden musste und neue Stellen großen Seltenheitswert hatten. Ich kam auf die Idee, zwei schon damals einflussreiche Landtagsabgeordnete in den Unterricht einzuladen: Joachim Herrmann und Ludwig Spaenle, der Vorsitzender des Hochschulausschusses im Landtag war. Mit Studierenden bereiteten wir beispielhafte Unterrichtsstunden vor: eine für das erste, eine für das zweite Schuljahr. Für das erste Schuljahr wählten wir die Josefsgeschichte, die in der Bibel und im Koran vorkommt, für das zweite Schuljahr eine auf Angst- und Bedrängniserfahrungen bezogene Sure des Koran, die Sure 114, oft ›Schutz-Sure‹ genannt. Stefanie Alhayari, Studentin mit besonderer pädagogischer Begabung, hatte zur Vorbereitung auf die Josefs-Geschichte ein Lied gedichtet, das sie am Anfang mit den Kindern sang: »Wir begrüßen dich alle mit Salam, Salam. Wir verneigen uns vor dir. Wir achten dich. Und wir wünschen dir einen guten Tag.« Jedes der acht Kinder durfte einmal in der Mitte stehen, während die anderen Kinder dies Lied sangen und sich vor dem Kind in der Mitte verneigten. »Wie fühlt man sich, wenn man so in der Mitte stehen darf?« Die Kinder machten Gebärden des Stolzes und der Freude. »Wie fühlt man sich, wenn nur ein Kind das darf und die anderen und du selbst darfst das nicht?« Die Kinder demonstrierten ihren Ärger und Neid. – Und dann wurde die Geschichte von Josefs Traum erzählt: Wie sich die Gestirne vor ihm verneigten (nach Sure 12) – was den Zorn seiner Brüder erregte – und wie Gott dann Josefs Weg trotz des Anschlags der Brüder auf ihn zum Guten lenkte. Ähnlich lebendig brachte Erkan Erdemir, Student unserer Praktikumsgruppe und pädagogisch fantasiereich, im zweiten Schuljahr die Schutzsure als Gebet mit möglichen Angsterfahrungen der Kinder ins Gespräch. Nach diesen beiden Unterrichtsstunden wurde ich mit meinen Kollegen und Remsi Güneysu von der islamischen Religionsgemeinschaft Erlangen in den Hochschulausschuss des Landtags eingeladen. Dort konnten wir ausführlich das ›Erlanger Modell‹ der Ausbildung islamischer Religionslehrkräfte vorstellen. Es wurde schließlich ein Weg gefunden, eine Professur für Islamische Religionslehre einzurichten – zunächst nur auf Zeit. Der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) machte sich – besonders über seinen Vorsitzenden Albin Dannhäuser und seinen Ausländerbeauftragten Manfred Schreiner – für das Modell stark, und alle Landtagsfraktionen unterstützten das Vorhaben. Das Kultusministerium berief unter der Zuständigkeit von Ministerialrat Ulrich Seiser eine Richtlinienkommission, in der Harry Harun Behr, damals an der Universität Bayreuth, muslimischer Fachberater wurde. Es wurde eine fruchtbare, schnelle Arbeit:

In einem halben Jahr war ein Lehrplan für die vier Grundschuljahrgänge erstellt, der die islamische Tradition ebenso konstitutiv aufnahm, wie er die Situation der muslimischen Kinder differenziert ins Auge fasste, wobei wir auch die parallelen Lehrpläne für katholische und evangelische Religion und für das Fach Ethik beachteten. Ähnlich zügig gelang die Erstellung eines Lehrplans für die Schuljahrgänge 5–10, zunächst im Haupt- und Realschulbereich. Mir wurde dabei klar, dass in der gegenwärtigen Aufbausituation für eine islamische Religionspädagogik deren Konturen erst einmal profiliert entwickelt werden mussten – und in diesem Prozess der Selbstentfaltung die islamischen Inhalte nicht komplett in einem interreligiösen Unterricht aufgehen konnten. Natürlich waren dabei Kooperation und Austausch mit den anderen Fächern der Fächergruppe Religion/Ethik in den Blick zu nehmen. Aber Inhalte wie Prophetie und Gebet haben z. B. im Islam einen anderen, höheren Stellenwert als etwa im evangelischen Religionsunterricht – und das Muslim-Sein ist besonders an das Ernstnehmen der Hauptpflichten, der sogenannten fünf Säulen, gebunden. Harry Harun Behr – als Jugendlicher bei einem Aufenthalt in Indonesien zum Islam konvertiert – war Bayerischer Grundschullehrer und hatte bei Christoph Bochinger über die Ansätze zu islamischem Religionsunterricht in Deutschland promoviert. Ein akademisch qualifizierter muslimischer deutscher Grundschullehrer – das war damals noch ein Alleinstellungsmerkmal, und so kam die Berufungskommission an unserer Universität zu dem Vorschlag, ihn auf die neue Professur zu berufen. Institutioneller Rahmen wurde das Interdisziplinäre Zentrum für Islamische Religionslehre (IZIR), das Hartmut Bobzin, Matthias Rohe und ich an unserer Universität gegründet hatten. Geklärt werden musste vor allem, wie und unter welcher interdisziplinären Beteiligung der Studiengang aufzubauen war und zu welchem Abschluss er führen sollte. Ziel war natürlich eine Verankerung in der bayerischen Lehramtsprüfungsordnung. Aber das ging nicht kurzfristig, und eine Reihe der Studierenden hatte sich mitten in einem Magisterstudium für dieses Zusatz-Studienangebot entschieden, ohne nun ein komplettes Lehramtsstudium absolvieren zu können. So wurde als Zwischenlösung gefunden, ein Zertifikat über den erfolgreichen Abschluss des Studiengangs zu erstellen, Voraussetzung für eine Einstellung als Fachlehrkraft für islamische Religion in den in Aufbau begriffenen Schulversuchen. Wir entschieden uns, den Studiengang analog zu den Unterrichtsfächern Evangelische und Katholische Religionslehre für das Lehramt an Grund–, Haupt- und Realschulen aufzubauen. Er sollte sowohl interdisziplinär ausgerichtet sein – mit Beteiligung von Islamwissenschaft, Erziehungswissen-

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schaften und anderen Humanwissenschaften – als auch dialogisch-kooperativ im Blick auf nicht islamische Religionen und eine plurale Gesellschaft und gezielt die Verknüpfung von Theorie und Praxis vorsehen. Der Bereich der Erziehungswissenschaften konnte von den entsprechenden Lehrstühlen in der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät und der Pädagogik in der Philosophischen Fakultät abgedeckt werden, der Bereich der Religionswissenschaft interdisziplinär von der islamischen Professur in Zusammenarbeit mit der Theologischen Fakultät, besonders dem dortigen Lehrstuhl für Religionswissenschaft. Der Bereich der Islamischen Theologie und Religionspädagogik wurde zum genuinen Aufgabenbereich der Professur für Islamische Religionslehre, bedurfte aber nicht zuletzt wegen des Umfangs der Inhaltsgebiete kooperativer Unterstützung aus der Islamwissenschaft und der juristischen Fakultät im Blick auf Islamisches Recht. Im Bereich islamischer Religionspädagogik sollte eng mit christlicher Religionspädagogik kooperiert werden, da die Erfahrungen hinsichtlich der religiösen Sozialisation der Schulkinder und die religionspädagogischen Aufgabenstellungen in der pluralen Gesellschaft komplementär sind. Der Studienplan orientierte sich an den Rahmenmaßgaben der bayerischen Lehramtsprüfung (LPO I) für ein Unterrichtsfach an Grund-, Haupt- und Realschulen. Bald hatten wir auch Studienanfänger, die ein grundständiges Lehramtsstudium begannen und islamische Religion als Ergänzungsfach wählten. Problem war dabei, dass das notwendig zu einer Studienverlängerung führte, wodurch die Regelstudienzeit überschritten wurde und so eine Studienförderung durch BAFÖG in den letzten Semestern nicht mehr gewährleistet war. Dass die Studierenden diese Sonderbelastung auf sich nahmen und dabei gleichzeitig noch als ›Botschafter‹ für das neue Fach auftraten, war eine großartige Bestätigung unserer Initiativen. Nach einer Ausweitung der Modellversuche auf weitere Schulen und Schultypen, oft unter Beteiligung muslimischer Eltern, gab es schließlich einen Durchbruch, als der Wissenschaftsrat 2010 seine Empfehlungen Vielfalt der Religionen – Theologie im Plural vorstellte. Das führte zur Einrichtung von Instituten bzw. Departments für Islamische Religion an mehreren universitären Standorten – Osnabrück, Münster, Frankfurt/Main, Gießen, Tübingen und eben auch Erlangen-Nürnberg. Zudem bot die Bayerische Staatsregierung aus der Türkei entsandten Lehrkräften, die nach Beendigung des muttersprachlichen Unterrichts eigentlich in die Türkei zurückkehren mussten, aber vorher schon auf Deutsch islamkundlichen Unterricht erteilt hatten, Verträge als Fachlehrkräfte für islamische Religion nach dem Erlanger Modell an, ergänzt um Weiterqualifikation in Zusammenarbeit mit unserer Universität. Da diese Lehrkräfte dann meist an mehreren Schulen Islam-

unterricht erteilten, erweiterten sich die Modellversuche mit einem Schlag auf 250 Schulen! – Dass es bei diesem fast zu schnellen Prozess auch zu Problemen kam, weil eben doch eine grundständige deutsche Lehramtsausbildung fehlte, das Unterrichten an mehreren Schulen eine starke Belastung bedeutet – und parallel Spannungen in der Zusammenarbeit mit den islamischen Verbänden auftraten – konnte und kann nicht verwundern. Dennoch ist inzwischen– auch durch die Entwicklung qualifizierter Religionsbücher und durch viele Fachtagungen an den Universitäten und an Weiterbildungseinrichtungen, voran der katholischen Akademie der Diözese RottenburgStuttgart – ein Stand erreicht, den ich mir Anfang der 1980er-Jahre noch nicht vorstellen konnte. 2005 erschien bei Vandenhoeck & Ruprecht ein von Werner Haußmann und mir herausgegebener Band, der die Vielfalt spiegelt, in die hinein sich interreligiöses Lernen inzwischen entwickelt hatte: Dein Glaube – mein Glaube. Interreligiöses Lernen in Schule und Gemeinde. Der Titel macht bereits deutlich, dass es um Begegnungslernen, um Lernen an den religiösen Orten, an authentischen Zeugnissen und nach Möglichkeit miteinander und übereinander geht. Wir boten im Kollegenkreis erprobte Unterrichtsprojekte vornehmlich für die Altersstufen der Sekundarstufe I, also des fünften bis zehnten Schuljahrs: Glaube gewinnt Gestalt – Lernen mit religiösen Artefakten, Begegnung mit dem Islam – Eine ›Nachbarreligion‹ mit Fremdheit und Nähe, Die Synagoge erkunden – Dem Judentum begegnen, Schöpfungsglaube – Naturwissenschaft – Weltverantwortung – Gemeinsame Herausforderungen für Juden, Christen und Muslime, Letzteres unter Beteiligung eines jüdischen Religionslehrers und einer muslimischen Pädagogin. Im Sinne aufbauenden Lernens waren dann Unterrichtseinheiten zum Hinduismus, zum Buddhismus und zum Projekt Weltethos für die Oberstufe vorgesehen. Dieses Buch, das in besonderem Maß unterrichtliche Praxis angeregt und belebt hat, war in vieler Hinsicht eine Konkretion der in meiner Evangelischen Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive angelegten Linien.

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 Wege in der Familie und ein schwerer Abschied

Jubiläumsgeburtstag · Ausbildung der Töchter · Susanne in den Schneller-Schulen zu Beginn des Irak-Kriegs · Die Krebsdiagnose · Das geschenkte Jahr · Die interreligiöse Trauerfeier

In unserer Familie haben wir die ersten Jahre des neuen Jahrtausends sehr bewusst erlebt – dankbar für Susannes Wiedergenesung nach der schweren Herzoperation Ende 1999. Ein Höhepunkt war ihr 60. Geburtstag am 28. August 2002: Der Familienkreis – die Töchter, Schwiegersohn Markus sowie Angela und Jakob als Enkelkinder – feierten mit uns in unserer italienischen Ferienheimat. In Erinnerung daran, dass der 28. August auch Goethes Geburtstag ist, eröffneten wir den Tag mit den Goethe-Liedern von Beethoven, die Henrike zusammengestellt hatte und von mir begleitet vortrug. Susanne hatte sich dann ein besonderes Ausflugsziel ausgesucht: die von dem Schweizer Architekten Mario Botta kühn auf einen Felsvorsprung des Monte Tamaro oberhalb von Bellinzona gebaute Kirche Maria degli Angeli. Sie schwingt sich in großen Bögen gleichsam in das Tal des Ticino hinein und auf die Vorberge von St. Gotthard und San Bernardino zu. Susanne hat selbst dazu ein kleines Gedicht verfasst: Chiesa degli Angeli Über dir blaue Himmelshülle, beschreite den Rampenweg! Lass dich locken ins Nichts, halte an am Kreuz! Rings der Kranz granitener Berge – tief unten ein Stück schimmernder See – Engelsbogen spannen sich unter dir, tragen dich, falten sich über dir, steigst du die Treppen hinab zum Ort der Einkehr.

An diesem Ort der Einkehr sangen wir den von Susanne besonders geliebten Haydn-Kanon Ille potens sui laetusque deget cui licet in diem dixisse vixi: »Wer seiner selbst mächtig und fröhlich sein Leben verbringt, wird einst (am jüngsten Tage) sagen können: Ich habe gelebt.« Während wir mit den Kindern noch zum höher gelegenen Gipfel hinaufstiegen, ruhte sich Susanne im Gras aus, und Henrike hat eines der schönsten Fotos von ihr gemacht, auf dem die innere Heiterkeit ihres Lächelns und ihr ganz Den-Augenblick-Wahrnehmen besonders aufscheint. Sie trägt eine einfache Jacke, die ihr von Sulak Sivaraksa aus Thailand geschenkt worden war. Ich hatte in der Seilbahn mein Alphorn mit nach oben genommen, und es erklang auf dem Rampenweg der Kirche so voll und offenkundig überzeugend, dass auf einmal ein Schweizer zu mir kam und mir ein Zweifranken-Stück in die Jackentasche steckte – willkommener Beitrag zu einem Eis für die Enkelkinder! Am Spätnachmittag erfrischten wir uns dann an unserer Badebucht mit Schwimmen im Lago Maggiore und ließen den Tag mit einer Einladung in das traumhaft am See gelegene Camin-Hotel in Colmegna ausklingen. Als wir am nächsten Tag über die Alpen zurück nach Nürnberg fuhren, musste im Auto nicht nur Platz für die Enkelkinder sein, sondern auch für Waldhorn, Alphorn, Saxophon und das Segelboot auf dem Dach! Wir empfanden zu diesem Zeitpunkt dankbar, dass jede unserer Töchter ganz den ihr entsprechenden Weg gefunden hatte, persönlich wie beruflich ihren Wünschen und Begabungen gemäß: Henrike erhielt 2001/02 die Chance, mit einem Humboldt-Stipendium in Oxford forschen und arbeiten zu dürfen. Sie liebte das vielfältige Universitätsleben und die fantastischen Bibliotheken. Unter den vorzüglichen Arbeitsbedingungen dort konnte sie ihre Habilitationsschrift über mittelalterliche Bibeldichtung am Beispiel des Buches Judit abschließen und war dann wieder zu ihren Aufgaben als Assistentin an der Universität Tübingen zurückgekehrt. Nacheinander tauchten bei ihr in Oxford die Schwestern, Susanne und ich auf. Jeder Gast konnte bei den netten Wirtsleuten mit unterkommen und erlebte seinen Neigungen entsprechende Tage – ich mit einer Konferenz über An interfaith perspective on Globelisation, Susanne mit schottischen Tänzen, Charlotte durch Gespräche mit englischen Lehrerinnen und Lehrern, Luise mit Einblicken ins College-Leben. Charlotte unterrichtete in dieser Zeit ein erstes und zweites Schuljahr in Stegaurach nahe Bamberg, wohin sie meist mit dem Fahrrad fuhr. Als wir in den Ferien einmal das Klassenzimmer mit ihr besuchten, konnten wir sehen, wie liebevoll sie darauf achtete, dass der Raum eine gute Atmosphäre ausstrahlte. Mich freute besonders, dass sie sehr gern Religion unterrichtete, manche gute methodische und Erzählidee konnte ich für meine eigene Praktikumsbegleitung übernehmen. Wichtig war ihr auch immer, genügend

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Zeit für die eigene Familie, die Interessen und Begabungen der Kinder zu haben, Geburtstage und Familienfeste fantasiereich zu gestalten, Kultur und Schönheiten in Bamberg und bei Reisen zu entdecken. Markus engagierte sich neben der sich ausweitenden Arbeit in seinem Steuerberatungsbüro im Fußballtraining, was der Fußballleidenschaft von Angela und Jakob zugutekam, die sich bei ihnen wie auch bei dem später geborenen Samuel kontinuierlich durchhielt. Luise hatte 2001 ihre Ausbildung an der Hochschule für Musik und Theater in Zürich abgeschlossen und erfüllte sich einen lange gehegten Wunsch, indem sie von der französisch-spanischen Grenze aus die 800 km durch Nordspanien nach Santiago di Compostela den berühmten Jakobsweg wanderte, ein für Körper, Geist und Seele tief beeindruckendes Erlebnis. Sie zehrte danach davon bei ihrem ersten Engagement als Urmel aus dem Eis an der Landesbühne Hannover. Musikalisch begleite ich die Töchter gern am Klavier: Henrike hat sich auf Horn und Gesang konzentriert, Charlotte auf die Querflöte, Luise auf das Saxophon. Sehr originell ist, dass es von Telemann ein Concerto für Flöte, Horn und Continuo gibt, bei dem die Horn-Partie auch vom Alphorn geblasen werden kann, da sie – den damaligen technischen Möglichkeiten entsprechend – nur Naturtöne enthält und in der Grundstimmung des Alphorns, in F, notiert ist. Wie gut Susanne nach ihrer Herzoperation genesen war, merkten wir schon im Vorfrühling des Jahres 2002 bei einer Reise über Kosanis und Thessaloniki in Nordgriechenland nach Kreta, die auch längere Bergwanderungen einschloss. Dabei erlebten wir, wie schön es ist, wenn man in einem anderen Land von Freunden erwartet und begleitet wird! Eleni und Georg Tsakalidis, mein früherer Assistent, nahmen uns mit ihren fünf inzwischen erwachsenen Kindern wie Familienangehörige auf und zeigten uns die mazedonischen Schätze ebenso wie die Meteora-Klöster ›zwischen Himmel und Erde‹. Auf Kreta versammelte sich die Europäische Arbeitsgemeinschaft für Weltreligionen in der Erziehung (European Association on World Religions in Education/EAWRE) unter Vorsitz von Herbert Schultze in der orthodoxen Akademie. Inspiriert von Bischof Irenäus wurden hier in den voraufgegangenen Jahrzehnten mutige Friedensinitiativen ergriffen – theologisch, ökologisch, pädagogisch und politisch. Leitgedanke ist es, einen Raum der Begegnung zu schaffen. Dazu trägt auch die Lage der orthodoxen Akademie am Meer nahe einem deutschen Soldatenfriedhof und einem Friedhof kretischer Partisanen bei. Verständigungs- und Versöhnungsarbeit wird dort besonders mit der jungen Generation in einem internationalen Jugenddorf gelebt, das Jugendliche aus verschiedenen Ländern gemeinsam aufgebaut haben. Ich referierte

in der Akademie über den Stand unseres Forschungsprojekts Die Darstellung des Christentums in Schulbüchern islamisch geprägter Länder, während Georg Tsakalidis das Korreferat über Weltreligionen in griechischen Schulbüchern hielt – gleichsam eine Aufbruchsaufgabe auch für orthodoxe Religionspädagogik. Susanne bemühte sich im Übrigen weiterhin aktiv für die Schneller-Schulen im Libanon und in Jordanien. Ein besonderes Anliegen war ihr – neben der zunehmend schwierigen Grundversorgung der Schulen und Werkstätten – die Renovierung der wunderschönen, um 1900 aus Deutschland für das frühere Syrische Waisenhaus in Jerusalem gestifteten Kirchenfenster, die in die Christuskirche in Amman gerettet werden konnten, jetzt aber zu verkommen drohten. Diese Fenster, als einziger Schmuck der Kirche von den Kindern dort sehr geliebt, erzählen die Jesusgeschichten, beginnend mit der Geburt, in ganz anschaulicher Weise. Unsere Freunde Ursel und Ernst Maxeiner, die uns in den 70er-Jahren für die Schneller-Arbeit gewonnen hatten, finanzierten aus eigener Tasche das Gutachten eines Experten, der die Kirchenfenster vor Ort untersuchte, und wir warben mit einem Postkarten-Set von den Fenstern für Unterstützung. Susanne konnte die Notwendigkeit der Renovierung selbst in Augenschein nehmen, als sie im März 2003 eine Reise zu den Schulen unternahm. Die Reise war schon lange geplant. Aber konnte man sie in dieser Situation antreten? Es drohte der Krieg im Irak, den der amerikanische Präsident George W. Bush heraufbeschwor, und der ganze Nahe Osten stand unter Spannung. Doch der Wunsch, gerade jetzt mit den Schneller-Mitarbeitern vor Ort zu sprechen, ihren Alltag, ihre Probleme und Hoffnungen zu teilen, war stärker als alle Bedenken. Entsprechend dankbar waren die Freundinnen und Freunde dort, dieses Beispiel an Solidarität zu erleben. Allerdings riet Martin Schneller, der deutsche Botschafter in Amman und Urenkel von Johann Ludwig Schneller, dem Gründer der Schulen, der Gruppe, möglichst bald zur Schule in Khirbet Kanafar im Libanon weiterzureisen, um noch ohne Probleme die syrische Grenze zu passieren. Zuvor aber erfuhr die Gruppe die offene, spontane Begrüßung durch die Kinder. Während der Gespräche mit einem Teil der Lehrlinge holten andere schon den Dudelsack hervor und begannen zu tanzen und zu singen. Lange Gespräche mit dem Direktor und mit dem Botschafter legten die großen Herausforderungen, in denen sich die ganze Einrichtung damals befand und auch jetzt weiter befindet, offen. Die Strecke nach Khirbet Kanafar in der Bekaa-Ebene wurde dann ohne Probleme per Taxi zurückgelegt, damals noch auf dem gar nicht so weiten Landweg über Syrien. Die Mitarbeiter der Johann-Ludwig-Schneller-Schule waren tief berührt, dass der deutsche Vorstand sich trotz des beginnenden Irak-Kriegs zu ihnen auf den Weg gemacht hatte. Die Reisegruppe konnte

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bei den Besichtigungen und Gesprächen das Bemühen wahrnehmen, alle Arbeitsbereiche – Schule, Internat, Werkstätten – mit soliden Plänen transparent weiterzuentwickeln. Als Herzstück der Schule erwies sich die tägliche Abendandacht und der Sonntagsgottesdienst. Alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Internatsschüler und -schülerinnen – ob Christen oder Muslime – nahmen daran teil. Die Begeisterung, mit der alle sangen und beim Erzählen der biblischen Geschichten mitgingen, war zu spüren – bis hin zu den kleinen Mädchen, den neuesten Mitgliedern der Schneller-Familie. Wir waren dann sehr dankbar, dass die Gruppe gesund und ohne Verzögerungen wieder in Deutschland ankam. Für den folgenden Sommer planten wir viel: Susanne hatte eine Ausbildung in meditativem Tanz begonnen, die in Wochenendseminaren in Bendorf bei Koblenz stattfand und die ihr in der Verbindung von Spiritualität und Bewegung besonders viel gab. Für mich begann ein Forschungssemester, und es gab dafür reichlich Vorhaben: die Teilnahme an einer zweiten Konferenz über An Interfaith Perspective on Globalisation in St. Petersburg, zu der ich Ende April reiste, die Vorbereitung des achten Nürnberger Forums, die Teilnahme an einer Europäischen Konferenz von Religions for Peace in Graz im Juli, den Abschluss der Arbeit an dem Buch Dein Glaube – mein Glaube. Gerade hierfür wollten wir im Juni längere Zeit in unserer Casa Clara am Lago Maggiore weilen. Es kam sehr anders: Susanne hatte seit dem Frühjahr immer wieder starke Rückenschmerzen, deren Ursache auch bei mehreren Untersuchungen nicht gefunden werden konnte, bis ihre Hausärztin plötzlich einen vollkommen überhöhten Tumormarker bei ihr feststellte. Erst nach mehreren weiteren Untersuchungen mit entsprechender Ungewissheit wurde ein Tumor an der Bauchspeicheldrüse festgestellt: Pankreas-Krebs, der fast immer besonders aggressiv ist und oft in wenigen Wochen zum Tod führt. Eine Operation kam nicht in Frage, sondern nur der Versuch, durch Chemotherapie den Tumor zurückzudrängen. Darauf stellten wir uns nun ein: Behandlung, Schonung, Bewegung. Die Töchter reisten so oft an als möglich. Viele helfende Gedanken und Gebete von nah und fern begleiteten uns, die liebevolle Pflege in der Familie und durch Freunde, das hervorragende Fachwissen engagierter und kompetenter Ärzte in der Erlanger Universitätsklinik, bei unseren Hausärzten und einer erfahrenen Heilpraktikerin halfen uns. Eine neue Form der Chemotherapie, die ambulant durchgeführt werden konnte und bei der die Nebenwirkungen in erträglichem Rahmen blieben, führte zu einer deutlichen Besserung des Zustandes. Sogar die meditative Tanzausbildung konnte Susanne wieder aufnehmen und in den Kursen durch Bewegung und Musik neue Anregungen gewinnen und Kraft schöpfen.

Fast den ganzen August und September hindurch führte Henrike für uns den Haushalt – und sprang dann während des Nürnberger Forums noch bei der Simultanübersetzung Englisch – Deutsch mit ein. Im Mai hatten wir die Freude gehabt, mit ihr in Tübingen ihre Habilitation für deutsche Philologie zu feiern, und Susanne konnte – wenn auch mit Schmerzen – dabei sein. Das Jahr, das uns noch gemeinsam geschenkt wurde, war ein sehr erfülltes: Im September wurde in Bamberg der Enkel Samuel geboren, und während Susanne in den Jahren zuvor meist einmal wöchentlich nach Bamberg gefahren war, um dort mit der jungen Familie zusammenzusein, kam nun Charlotte regelmäßig mit dem kleinen Samuel nach Nürnberg. Susanne legte ein Album für ihn an und notierte die wöchentlichen Fortschritte, was Charlotte später weiterführend übernahm. Beim Nürnberger Forum kam zu Susannes Freude noch einmal ein internationaler, interreligiöser Freundes- und Kollegenkreis in unseren Garten, darunter John Taylor aus Genf, Seaid Edalad Nezhad aus Teheran, Norman Richardson aus Nordirland. Als Harald Seubert, Vertrauensmann des Kirchenvorstands in unserer Auferstehungskirchengemeinde, Susanne am Ende des Jahres fragte, wie es ihr ginge, sagte sie mit einem Lächeln und sehr bezeichnend für sie: »Bis hierher hat mich Gott gebracht.« Henrike schenkte Susanne zu Weihnachten eine Reise nach Israel, zu jüdischen und arabischen Freunden in Haifa. Im März flogen sie dorthin. Susanne sah viele der Stätten, die wir 1966 während unserer Verlobungszeit mit ihren Eltern erstmals besucht hatten. Alle Spannungen waren präsent, ebenso die bedeutungsschwere Geschichte des Landes, und Susanne hat sehr an den Ängsten, Verletzungen, aber auch Hoffnungen, die es gegen allen äußeren Augenschein gibt, Anteil genommen. Unvergesslich blieben ihr und Henrike bis zuletzt, wie sie mit Freund Ariel Meiraf früh morgens den Gipfel des Karmel besteigen konnten und vor ihnen die Sonne über der Ebene mit den Olivenbäumen aufstieg. Zu Ostern 2004 haben wir noch einmal den klaren Frühlingsblick auf den See und die mit Schnee bedeckten Gipfel am Lago Maggiore genossen, mit blühenden Mimosen und Kamelien ums Haus; wir haben den Auferstehungsgottesdienst mit unseren Freunden in der kleinen evangelischen Gemeinde in Luino gefeiert und sind mit unseren Freundinnen Viktoria Friedrich-Cerinotti und Lydia Roy einen für uns neuen wunderbaren Bergweg zur Agricultura Roccola hinaufgestiegen. Im Mai konnten wir an Henrikes Geburtstag alle Luises Pinocchio-Premiere in Bamberg erleben. Ein besonderes Geschenk war, dass Susanne weiterhin an ihrer Ausbildung zum meditativen Tanz teilnehmen konnte. Von dort kam sie immer erfüllt und voller Freude zurück und tanzte täglich in unserem Wohnzimmer. Die letzte große Reise

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unternahm sie Ende Mai/Anfang Juni zu den Freunden Schlünders an die Algarve – einschließlich Segelpartien mit der Yacht Tartaruga auf dem teils ruhigen, teils bewegten Atlantik. Die Schwäche und die zunehmenden Schmerzen danach sahen wir zunächst als ein Zwischentief an, mussten aber bald einsehen, dass die Chemotherapie immer weniger verkraftbar und wirksam war. Nacheinander kamen die Freundinnen Margrit Wegner, Elke Stiller und Christa Rumann und lösten sich in Hilfe und Begleitung ab, so dass Susanne bis zuletzt immer noch entlastete Stunden haben und sich in ihren Telefonaten und Briefen anderen zuwenden konnte. In den zuletzt schmerzhaften Nächten aber sprach sie oft schon die letzte Strophe aus Befiehl du deine Wege: »Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unsrer Not …« – In aller Lebenszugewandtheit konnte sie Abschied nehmen, und wir sind dankbar, dass dies mit allseitiger Hilfe – durch Hausarzt, Heilpraktikerin, Freundinnen und Freunde und die Uni-Klinik in Erlangen – in Würde möglich war. Henrike und Charlotte und meine Schwester Christiane waren mit mir in den letzten Tagen bei ihr; auch Luise konnte noch kurzfristig von einer Weiterbildung am Lee Strasberg Theater- und Filminstitut in New York herüberfliegen. Mein langjähriger Kollege Günter Rudolf Schmidt hielt mit uns am 23. Juli das Abendmahl, und am 24. Juli konnten wir Susanne unter Singen und Beten hinübergeleiten. Wir konnten noch bis spät in den Abend an ihrem Bett weilen. In der Traueranzeige notierten wir: »Sie war ein Sonnenstrahl für jeden, der ihr begegnete« – und das wurde in fast jedem Kondolenzschreiben bestätigt. Bei der Trauerfeier in Nürnberg, die wiederum Günter Schmidt in großer innerer Verbundenheit mit Susanne hielt, füllten annähernd 300 Trauergäste die Kirche. Auch jüdische und muslimische Freundinnen und Freunde erinnerten an sie. Kantor Baruch Grabowski und seine Frau sangen aus der jüdischen Liturgie, und Mitglieder der muslimischen Begegnungsstube Medina erinnerten daran, dass sie Susanne und mir im Jahr zuvor eine Urkunde gebracht hatten, auf der sie uns zu ›Mama und Papa des Dialogs‹ erklärt hatten. Motto über der Trauerfeier war das von Susanne ausgesuchte Wort Mache dich auf, werde licht, denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir! (Jesaja 60,1). Ich sang es mit der ganzen großen Gemeinde als Kanon. Auch Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott stand auf dem Liedzettel und erinnerte daran, wie Susanne dazu bei einem Gemeindefest in der leergeräumten Kirche mit einem großen Gemeindekreis vor dem Altar getanzt hatte. Der Posaunenchor spielte Gloria sei dir gesungen aus Philipp Nikolais Wachet auf, ruft uns die Stimme und, als der Sarg hinaus geleitet wurde, um dann nach Freistatt überführt zu werden, Abends, wenn ich schlafen geh, vierzehn Engel um mich stehn von Engelbert Humperdinck.

Die Beerdigungsfeier in Freistatt, zu der viele uns vertraute Freunde und Verwandte anreisten, hielt unser Freund Hans-Wilfried Haase zu Susannes Konfirmationsspruch Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein (Jesaja 43,1). Er erinnerte an Susannes besondere Gabe, betrübte und mit Sorgen belastete Gemüter fröhlich zu machen. Susannes Wunsch, statt der Blumen für die Restaurierung des Nürnberger Kirchenfensters mit dem Bild von Jesu Kindersegnung in der SchnellerSchule in Amman zu spenden, hat sich durch überreiche Gaben mehr als erfüllt. Es waren schwere Abschiedstage für mich, in denen ich aber intensive Begleitung durch die Familie und den großen Freundeskreis erfuhr. Den Korb mit der Trauerpost nahm ich mit auf zwei Reisen, die wir noch gemeinsam geplant hatten: zu den Freunden Björn und Elin Ekmann nach Dänemark und mit den Freunden Elke und Arnulf Stiller an den Lago Maggiore. Dorthin kam auch Charlotte mit dem kleinen Samuel, und auf der Terrasse unserer Casa Clara machte er seine ersten eigenen Schritte. Auf die Dankkarte für die vielfältige Anteilnahme an Susannes Heimgang ließen wir ihr Bild vom 60. Geburtstag auf dem Monte Tamaro setzen und fügten ihm die Abschiedsworte hinzu, die Dietrich Bonhoeffer in seinem Brief aus dem Gefängnis Berlin-Tegel an Renate und Eberhard Bethge an Heiligabend 1943 geschrieben hatte: »Zunächst: es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines lieben Menschen ersetzen kann, und man soll das auch garnicht versuchen; man muß es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie garnicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt, und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft miteinander – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren. Ferner: Je schöner und voller die Erinnerungen, desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht mehr wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.«7

Wenn ich gefragt wurde, wie ich nun allein zurecht käme, konnte ich ehrlich sagen, dass der Haushalt und die tägliche Versorgung kein Problem darstellten: Mittags ging ich meist mit den Mitarbeitern in unserer sehr guten 7 D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. v. E. Bethge. Tb-Ausgabe. München 1961, 99.

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Mensa zum Essen, sonntags fuhr ich häufig nach Bamberg und lud Charlotte und ihre Familie in den Greifenklau, das gute fränkische Lokal in der Nachbarschaft, ein. Donnerstags kam wie seit 17 Jahren regelmäßig Frau Agnes Thiele, die über alles im Haus Bescheid wusste, die Wäsche der Gäste wechselte und die Räume jedes Mal strahlend zurückließ. Schwerer war und ist es, wenn mich bei Liedern, Musik oder Begegnungen die Erinnerung überwältigt und das Gespräch über alles, was wir geteilt haben, nur noch innerlich stattfinden kann. Und doch lebt in diesen Erinnerungen ja der gemeinsame Schatz weiter und wird in der Vergegenwärtigung umso wertvoller. Dazu gehörten und gehören die Besuche auf dem Freistätter Friedhof, auf dem der Grabplatz der Familie wunderschön gestaltet ist. Wie ihre Großtante Annemarie Benary, auf deren Grab sie beigesetzt wurde, hat Susanne einen Findling als Grabstein bekommen. Er hat eine sanfte, leicht hellgelbe Färbung und trägt über den Lebensdaten und dem von Susanne gewählten Jesaja-Wort Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt in Bronze das Sonnen-Emblem, das Lotte Heilmann, Susannes Schnitzlehrerin in Loheland, gestaltet hat und das auch über Susannes Traueranzeige stand. Wenn ich dort bin, blase ich auf meinem kleinen Horn die Lieder, die meine Lieben dort besonders liebten – für Susanne und den kleinen Friedrich Es kennt der Herr die Seinen, für meine Mutter Jerusalem, du hoch gebaute Stadt, für meinen Vater Jesu, meine Freude und für Susannes Eltern Die güldne Sonne. Oft gesellen sich alte Freistätter Freunde dazu, so auch bei meiner Goldenen Konfirmation 2005, bei der ich den Weggefährten von damals den 23. Psalm mit meinem Konfirmationsspruch – Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich – in der Predigt auslegte. Eine besonders schöne Erinnerungswoche war der Beginn der Sommerferien 2005 in unserem Haus am Lago Maggiore: Marylin und John Hull, mein bekannter religionspädagogischer Kollege aus Birmingham, besuchten mich in Casa Clara und brachten eine getrocknete Blüte von dem Rosenstock mit, den ihnen Susanne sieben Jahre zuvor geschenkt hatte. Ich habe mit John, der seit seinem 45. Lebensjahr blind war und über seine Erfahrungen mit der Blindheit sehr bewegende und mehrfach übersetzte, teilweise sogar verfilmte Bücher verfasst hat, die ganze Umgebung neu erlebt: wenn er sich die Hand führen ließ, um die Umrisse der Berge innerlich nachzuzeichnen, wenn er an der Reling des Schiffes den Wellen lauschte, sich am Vogelgezwitscher ergötzte und wenn er im Botanischen Garten auf der Isola Madre die Pflanzen betastete. Eine besondere Freude war für ihn auch mein Alphorn. Das konnte er nicht nur hören, sondern in seiner ganzen Länge betasten, und er war stolz, dass er dem Instrument schnell einen Ton entlocken konnte. Als

Religionspädagoge, der mit der ganzen vor allem englischsprachigen Welt in Kontakt war, war er gleichzeitig ein nie ermüdender Gesprächspartner für mich. Er gewann mich dann dazu, mich zur Mitgliedschaft bei der Internationalen religionspädagogischen Fachgesellschaft für Religionspädagogik (International Seminar on Religious Education and Values/ISREV) vorschlagen zu lassen, die er gegründet hatte und die alle zwei Jahre in einem anderen Land tagt. Dadurch kam ich in den Folgejahren zu den Konferenzen in Drijbergen/Holland, Ottawa/Kanada, Turku/Finnland und Chicago/USA, zu denen weltweit eingeladen wurde – mit Kolleginnen und Kollegen, die eine ähnliche Vielfalt religiöser und interreligiöser Erziehung repräsentierten wie bei den Nürnberger Foren. Das Besondere bei diesen Konferenzen ist, dass neben wenigen Plenumsreferaten jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin eingeladen ist, mit einem collegial paper interessante Perspektiven der eigenen Forschungsarbeit in kleinem Kreis durchzudiskutieren. Alle müssen sich dabei auf eine Vortragszeit von 20 Minuten konzentrieren, es erfolgt der Kommentar von einem respondent, der das Referat vorher erhalten hat, und dann gibt es eine 15-minütige Diskussion. Da jede und jeder einmal als Referent, einmal als chair und einmal als respondent eingesetzt wird, gibt es einen sehr vielfältigen Austausch von Erfahrungen im Bereich religiöser Erziehung und Werteerziehung von Chicago über München, Jerusalem, Johannesburg, St. Petersburg, Ankara – bis hin nach Sidney.

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 Die Wahrnehmung der politischen Relevanz interreligiöser Verständigung und Bildung

Die Islam-Konferenz · Vorlesungen in Ankara · Schulbuchgespräche in Amman, Damaskus, Beirut · Das Handbuch Friedenserziehung · Weltversammlung in Kyoto · Visionen wahr machen – Forum 2006 · Die europäische Landkarte zur interreligiösen Erziehung

Im Juni 2006 erhielt ich einen Brief aus dem Innenministerium in Berlin, von Wolfgang Schäuble unterzeichnet. Er lud mich ein zu einer Konsultation, weil ihm eine integrationsfördernde Entwicklung im Zusammenleben mit Muslimen in der deutschen Gesellschaft wichtig war und er sich des Rats von Experten versichern wollte, die mit den Konstellationen der islamischen Präsenz in Deutschland vertraut waren. Zu ihnen gehörten Rotraud Wielandt/Bamberg von islamwissenschaftlicher, Matthias Rohe von juristischer Seite. Bei einem ausführlichen Mittagessen mit Schäuble loteten wir mit ihm Fragenbereiche aus, die als relevant gelten konnten: die Frage der Vertretung der Muslime in den islamischen Verbänden, ihrer Anerkennung als Körperschaften öffentlichen Rechts, Fragen der öffentlichen Religionsausübung, des Moscheebaus, muslimischer Feiertage, muslimischer Bestattungen, das Schlachten entsprechend muslimischer Tradition (›Schächten‹), muslimische Seelsorge in Krankenhäusern, Gefängnissen und bei der Bundeswehr – und besonders natürlich auch Bildungsfragen. Dazu gehörten nicht nur die Entwicklung islamischen Religionsunterrichts und die entsprechende Lehrerausbildung sowie die Qualifizierung von Imamen, sondern auch so konkrete Fragen wie das Kopftuchtragen bei Lehrerinnen und Schülerinnen, der Unterricht in Sexualkunde, der Hauswirtschaftsunterricht (›Schweinefleisch‹), die Teilnahme an Klassenfahrten, der Schwimmunterricht, … Aber auch Sicherheitsfragen und die Vorbeugung gegenüber Extremismus kamen schon in den Blick. Schäuble legte Wert darauf, dass die zu gründende Islamkonferenz plural zusammengesetzt war. Es sollten nicht nur Vertreterinnen und Vertreter der überwiegend konservativ geprägten muslimischen Verbände teilnehmen, ergänzt um nichtmuslimische Fachleute, sondern auch einzelne eher säkular geprägte, in

der Öffentlichkeit bekannte muslimische Persönlichkeiten. Die eigentliche inhaltliche Arbeit fand dann in drei Arbeitsgruppen statt, und ich wirkte in der für juristische und Bildungsfragen zuständigen Gruppe mit. Auf Grund der pluralen Zusammensetzung kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen und heißen Debatten. Aber ich fand es wichtig, dass gerade auch die Problemfragen auf den Tisch kamen. Dabei verständigten wir uns für den schulischen Bereich darauf, so viel Integration als möglich anzuvisieren, damit auch konservativ geprägten Eltern Brücken gebaut werden konnten, ihre Kinder an Sexualkunde, Klassenfahrten, Schwimm- und Turnunterricht teilnehmen zu lassen und keinen falschen Druck auszuüben, etwa hinsichtlich eines Kopftuchtragens schon vor der Pubertät. Ministerialdirektorin Cornelia Rogall-Grothe und Ministerialrat Klaus Spenlen leiteten unsere Sitzungen einfühlsam und zielstrebig, so dass schließlich nach viel Mühen eine gemeinsame Handreichung für den Schulunterricht verabschiedet werden konnte. Dank für die ersten drei Jahre unsere Mühe war dann ein von Schäuble veranlasster Empfang bei Bundeskanzlerin Angela Merkel, der unsere Arbeit offenkundig auch persönlich am Herzen lag. Nicht direkt politisch, aber doch wichtig für das öffentliche Wirken der Religionsgemeinschaften und die interreligiöse Arbeit waren im Jahr 2006 drei Auslandsreisen, die ich unternahm: im Frühjahr zunächst für eine Vorlesungswoche zur Islamisch-Theologischen Fakultät in Ankara im Rahmen des ERASMUS-Abkommens unserer Universität mit der dortigen, dann zu Schulbuchgesprächen nach Amman, Damaskus und Beirut und im August als Chairman der Peace Education Standing Commission von Religions for Peace, zur achten Weltversammlung der Weltkonferenz der Religionen für den Frieden nach Kyoto/Japan. Dass die Religionen in ihrem Miteinander und Gegeneinander, darin, wie sie sich selbst darbieten und wie sie die anderen sehen, wie sie versöhnend oder konfliktverschärfend, karitativ oder konfrontativ wirken, ein wichtiger Faktor im gegenwärtigen Weltgeschehen sind, wird zunehmend auch von Verantwortlichen auf der politischen Ebene wahrgenommen. Unvergesslich ist mir der Start nach Ankara. Ich war im Flughafenbus in Frankfurt, als mein Handy klingelte, das ich glücklicherweise noch nicht ausgeschaltet hatte. Henrike in Tübingen war am Telefon: »Vater, ich bekomme den Lehrstuhl für Germanistik in Newcastle upon Tyne!« Die englische Universität hatte nicht einmal eine Woche gebraucht, um Henrike nach ihrer Vorstellung dort den Ruf zu erteilen! Schon im September wurde sie in einen sehr netten Kreis von Kolleginnen und Kollegen aufgenommen. Sie war für Germanistik insgesamt zuständig, konnte aber ihren Forschungsschwerpunkt im Bereich mittelalterlicher Literatur und Sprache – der Mediävis-

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tik – weiter verfolgen, und alle zwei bis drei Jahre wurde ihr dazu ein Forschungssemester eingeräumt. Wie sehr hätte sich Susanne, hätten sich die forschenden Großeltern über diese Nachricht gefreut! Für Ankara hatte ich Vorlesungen über Religionen und Friedenserziehung, über den Aufbau islamischer Religionspädagogik im Dialog mit christlicher Religionspädagogik in Deutschland und über den Dialog zwischen Christentum und Islam am Beispiel der Trinitätslehre vorbereitet. Die Assistentin meines religionspädagogischen Kollegen Cemal Tosun, Hadise Kader Zengin, die in Deutschland zur Schule gegangen war und die ich während ihres DAAD-Stipendiums zur Vorbereitung ihrer Doktorarbeit über die Ansätze islamischen Religionsunterrichts in Bayern betreute, hatte die Vorlesungen vorher ins Türkische übersetzt, freilich mit Ausnahme der Vorlesung über die Dreieinigkeitslehre. Das war dann doch etwas zu diffizil. Nachdem ich zunächst bei Cemal Tosun zu Gast war und mit seiner Familie einen Tag in den schönen Parks von Ankara zugebracht hatte, erlebte ich in den folgenden Tagen volle Hörsäle in der Theologischen Fakultät. Beyza Bilgin konnte leider nicht dabei sein, aber aus einem sie ehrenden Anlass: Der türkische Journalistenverband hatte sie zur ›Frau des Jahres mit dem mutigen Herzen‹ gewählt, und sie nahm die Auszeichnung in Istanbul entgegen. Dafür nahm sich Mualla Selcuk, ihre Schülerin, die damals Dekanin der Theologischen Fakultät war, Zeit für Gespräche mit mir und für einen Empfang beim Rektor der Universität, die damals schon 40.000 Studierende hatte. – Gut die Hälfte der Studierenden der Theologischen Fakultät waren junge Frauen – teils ohne Kopftuch, teils mit Kopftuch, was damals nur an dieser Fakultät gestattet war; untereinander hatten sie damit keine Probleme, und ich habe viele sehr selbstbewusste junge Theologinnen, vor allem künftige Lehrerinnen, aber auch künftige Imaminnen erlebt. Ich hatte eine ungeheuer aufmerksame, neugierige Hörerschaft. Für die Übersetzung meiner Vorlesung über die Trinität fand sich eine hervorragende Lösung: Der katholische Theologe Pater Felix Körner, der an der Fakultät Lehrveranstaltungen über das Christentum hielt und in der kleinen dortigen Kommunität der Jesuiten lebte, dolmetschte meine Ausführungen sorgfältig. Ich hatte die Problematik gleich im Titel benannt: Dreieinigkeit. Glauben wir Christen an drei Götter? Ich griff die negativen Aussagen über die Trinität aus dem Koran auf: »… und sagt nicht: drei« – und sprach dann darüber, dass jedes Reden von Gott an dem unendlichen Geheimnis Gottes seine Grenze findet und dass über ihn nur mit Symbolen und mit ›Namen‹ gesprochen werden kann, die eine Antwort auf seine Selbstbekundung sind und seiner Größe keinen Abbruch tun. Ich erläuterte, wie die Selbstbekundung Gottes sich für unseren christlichen Glauben in einzigartiger Weise

in Jesus Christus, in seinem Wort, seiner Tat und seinem Weg offenbart hat. Ich nahm die muslimische Metapher des Allahu akbar auf – ›Gott ist groß‹, eigentlich besser übertragen als ›Gott ist größer‹ im Sinne eines unendlichen Komparativs: Die Dreieinigkeitslehre verdeutlicht uns im christlichen Glauben, dass Gott als der Dreifaltige größer ist in dreifacher Weise: größer als wir uns eigentlich vorstellen können – als der Schöpfer, der Erhalter und der Vater aller Menschen, größer als wir uns eigentlich vorstellen können – als unser Bruder in Jesus Christus, in dem er in unsere menschliche Existenz hineingekommen ist und sie – besonders mit seinem Einsatz für die Menschen am Rande und in seinem Weg ans Kreuz – bis zum Letzten und Schwersten durchlebt und durchlitten hat, worauf dann mit der Auferstehung die größte Hoffnung verbunden ist. Und auch größer als wir uns eigentlich vorstellen können – in seinem immer neuen Wirken durch den Heiligen Geist, der die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes unter uns lebendig machen will (nach 2. Korinther 13,13). Nach der Vorlesung meldete sich eine Studentin zu Wort und sagte, sie habe eigentlich immer schon gemeint, dass die Christen sicher nicht an drei Götter glauben! Vom 20.–30. März 2006 reiste unser Team für das Forschungsprojekt Christentum in den Schulbüchern islamisch geprägter Länder zu Gesprächen über die Ergebnisse unserer bisherigen Untersuchungen und die Entwicklungen in Palästina, Jordanien, Syrien und dem Libanon in den Nahen Osten: Klaus Hock, Wolfram Reiss, Patrick Bartsch und ich, dazu kamen für Syrien noch der syrische Soziologe Khairallah Assar, der in Annaba in Algerien lehrte, und für den Libanon der Historiker und Mitarbeiter des Georg-Eckert-Instituts für Schulbuchforschung in Braunschweig, Jonathan Kriener. In ausführlicher Korrespondenz hatten wir ein detailliertes Programm für die Treffen in der Theodor Schneller-Schule in Amman, in Damaskus, in der JohannLudwig-Schneller-Schule in Khirbet Kanafar und in Beirut ausgearbeitet. Anfang des Jahres waren die beiden ersten Bände mit unseren Untersuchungen und Ergebnissen erschienen: der von Wolfram Reiss über Ägypten und Palästina, der von Patrick Bartsch über die Türkei und den Iran – jeder Band über 500 Seiten stark, mit der Analyse von mehreren hundert Schulbüchern. Daher wussten wir, wie unterschiedlich sich die Lage in den verschiedenen Ländern darstellt. Über Fuad Giacaman, den Leiter des arabischen Erziehungsinstituts in Bethlehem, hatten wir die Kontakte zum Direktor des palästinensischen Curriculumzentrums und zur Vorsitzenden des Nationalen Komitees für Staatsbürgerkundebücher bekommen, über Prinz Hassan von Jordanien zum stellvertretenden Direktor des königlichen Instituts für interreligiöse Studien und zur islamischen Theologie an der jordanischen Universität, aber auch zu Vertretern der Kirchen in Jordanien. Wir besprachen

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vor allem die gravierenden Unterschiede zwischen den Religionsbüchern, die ganz auf die Affirmation der eigenen Religion bezogen waren, und den Geschichts- und Staatsbürgerkundebüchern, die – besonders in Palästina – der objektiven Information und dem Toleranzgedanken verpflichtet waren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Während in den ägyptischen Schulbüchern eine direkte Negativlinie von den Kreuzzügen zum Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts gezogen wurde, war in palästinensischen Geschichtsbüchern statt von Kreuzzügen von Frankenkriegen die Rede, und damit der Blick über die religiöse Dimension hinaus entgrenzt. Für den Religionsunterricht konnte man sich noch nicht vorstellen, dass über das Vertrautmachen mit der eigenen Religion hinaus auch die anderen Religionen in den Blick genommen werden sollten: Das müsse doch die Schülerinnen und Schüler nur verwirren! Erstaunt waren wir demgegenüber in Damaskus, wohin wir damals noch ganz ohne Grenzprobleme reisen konnten: Wir trafen uns mit den Schulbuchverantwortlichen des Erziehungsministeriums für die verschiedenen Schulfächer – und uns wurde als Ziel vorgestellt, in Zukunft sollten Kapitel über das Christentum in islamischen Religionsbüchern von christlicher Seite, über den Islam in christlichen Religionsbüchern von muslimischer Seite geschrieben werden. Leider hat der Bürgerkrieg in Syrien dieses Vorhaben zunichte gemacht. Im Libanon wurde uns verdeutlicht, dass man dort nicht einseitig von einem islamisch geprägten Land sprechen dürfe, da das Christentum in der Bevölkerung und in der Kultur gleichgewichtig vertreten sei. Die vor allem in den verbreiteten religiösen Schulen verwendeten Religionsbücher – sunnitisch, schiitisch, christlich – waren noch ganz von der jeweiligen Binnenperspektive mit direkter oder indirekter Abwertung anderer Glaubensformen bestimmt und in keiner Weise auf eine plurale Gesellschaft bezogen, was Jonathan Krieger kritisch herausgearbeitet hat. In den Fächern Nationalkunde, Philosophie und Zivilisation sowie Geschichte, die an den staatlichen Schulen unterrichtet werden, konnten wir demgegenüber das Bemühen um Toleranz zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen, um verbindende Werte in der Ethik und eine insgesamt ausgleichende Darstellung, auch hinsichtlich der Geschichte, beobachten. Natürlich werden wir immer wieder gefragt: Wie ist denn die Schulbucharbeit weitergegangen? Hat sie etwas bewirkt? – Zunächst lieferten wir im Jahr 2006 eine Bilanz, zusammen mit unseren Kooperationspartnern in den verschiedenen Ländern, die unter dem bezeichnenden Titel Schulbuchforschung im Dialog im Verlag Otto Lembeck/Frankfurt/Main erschien und neben kurz gefassten Länderberichten Antworten und Kommentare unserer Gesprächspartner enthielt, ergänzend aber auch eine Untersuchung über Islam in griechischen Schulbüchern von Georg Tsakalidis und eine Thesenreihe über Bedeu-

tung, Erfahrungen und Aufgaben interreligiöser Schulbuchforschung, die ich erstellt hatte und auf die der Geschichtsdidaktiker Walter Fürnrohr antwortete. Sie wurde beim Nürnberger Forum 2010 zu Standards für interreligiöse Schulbuchforschung und -entwicklung weitergeführt. Die Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) war 2006 abgeschlossen. Wir lieferten einen Abschlussbericht ab, der von den Gutachtern, die zu Beginn unseres Projekts durchaus skeptisch waren, sehr positiv beurteilt wurde. Wolfram Reiss, der 2007 auf den Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien berufen wurde, hat die Weiterarbeit zu seinem besonderen Anliegen gemacht, und 2012 konnte als weiterer Band die Untersuchung der Schulbücher in Jordanien und im Libanon vorgelegt werden. Da es in fast allen Ländern, in denen wir die Untersuchungen durchgeführt haben, seit 2010 neue Turbulenzen politischer und religiöser Art gegeben hat – die mit dem ›arabischen Frühling‹ verbundenen Hoffnungen sind leider großer Ernüchterung gewichen –, fragt man sich sehr, wie viele unserer Impulse umgesetzt werden können. Die Gesprächskontakte sind aber auch unter erschwerten Bedingungen nicht abgerissen, und selbst über Syrien hat Viola Raheb, Assistentin von Wolfram Reiss, in ihrer Dissertation Historisches wie Aktuelles aus der Schulbucharbeit in dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Land zutage fördern können. Im Juni 2006 wurde mein 65. Geburtstag gefeiert. Damit stand eigentlich meine Pensionierung zum Ende des Sommersemesters am 30. September an. Wir hatten am Lehrstuhl für den September noch das neunte Nürnberger Forum geplant – gleichsam als Bilanz einer 25-jährigen Forumsarbeit: Visionen wahr machen – interreligiöse Bildung auf dem Prüfstand war das Thema und das Motto. Da wurde ich vom Rektor unserer Universität, dem Volkswissenschaftler Karl-Dieter Grüske, angesprochen, ob ich wohl bereit sei, meine Dienstzeit noch um ein weiteres Jahr verlängern zu lassen. Die Ausbildung der Lehrkräfte für islamischen Unterricht sei noch nicht ›in trockenen Tüchern‹ und man würde mich gern als Leiter des Interdisziplinären Zentrums für Islamische Religionslehre (IZIR) weiter dabei haben. Da mir gerade diese Aufbauaufgabe besonders wichtig war, sagte ich zu. Am meisten berührte mich dabei, wie sich meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darüber freuten und versprachen, mich so viel zu entlasten wie nur möglich. Auch unter dieser Perspektive wurde mein 65. Geburtstag ein großes Fest. Ich erhielt zwei sehr originelle Geschenke, die mich beide gleichermaßen erfreuten, so verschieden sie auch waren: Von den Töchtern und Enkeln wurde ich mit einem Geburtstagskanon geweckt, und dann musste ich viele Tüten auspacken: In jeder Tüte befand sich ein Teil der hölzernen Brio-Eisenbahn – Schienen, Weichen, Loks, Personen- und Güterwagen, zwei

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Bahnhöfe, ein Tunnel, der Geräusche abgab, wenn ein Zug durchgeschoben wurde. Henrike hatte unseren ganzen weiten Familien- und Freundeskreis angeschrieben und sowohl um Beteiligung als auch um Beschriftung bzw. Bemalung der Schienen gebeten sowie darum, sich mit einem Beitrag am Geschenk einer Bahncard 100 zu beteiligen. Ein Jahr lang die Freiheit zu haben, in jeden Zug und Bus, in jede U- und Straßenbahn in Deutschland einsteigen zu können, ohne zu bezahlen. – Wie sehr habe ich als leidenschaftlicher Bahnfahrer diese Freiheit genossen! Aber auch die Brio-Eisenbahn ist seither beliebtes Spiel- und Bastelobjekt, wenn die Enkel zu Besuch sind, und füllt dann das ganze Wohnzimmer. Das zweite Geschenk war ebenfalls eine wunderbare Überraschung: das von den Freunden und Kollegen Werner Haußmann, Hansjörg Biener, Klaus Hock und Reinhold Mokrosch herausgegebene Handbuch Friedenserziehung. interreligiös – interkulturell – interkonfessionell als Festgabe zu meinem Geburtstag – ein voluminöser Band mit 70 Einzelbeiträgen. Da hatte sich der weite Kreis der Kolleginnen und Kollegen eingefunden, der meinen Weg über viele Jahre begleitet hatte. Hans Küng hat ein Geleitwort geschrieben, Karl Ernst Nipkow einen Grundlagenbeitrag zur Geschichte der Friedenserziehung. Er hat dem mühsamen Weg zur Friedensgesinnung in Kirche und Gesellschaft nachgespürt – und gab später dazu noch einen eigenen Band heraus. In drei großen Themenbereichen wurden in der Festgabe Grundlagen von und für Friedenserziehung – mit den Indikatoren von Frieden und Unfrieden und der Bedrohung friedlichen Zusammenlebens –, theologische und religionswissenschaftliche Grundlagen sowie Handlungsfelder religiöser Friedenserziehung und Praxisbeispiele ausgelotet. Mir war der vielperspektivische, interdisziplinäre Zugang zur Thematik, der für die Gesamtanlage des Bandes gewählt worden war, wichtig, und ich brauchte geraume Zeit, um diese Vielfalt selbst zu rezipieren. Das Jahr 2006 hielt für mich dann noch zwei weltweite interreligiöse Erfahrungen bereit: die achte Weltversammlung von Religions for Peace im August in Kyoto und das neunte Nürnberger Forum im September: im einen Fall reiste ich um die halbe Welt, um engagierte religiöse Führungspersönlichkeiten, Dialogiker und Praktiker aus der ganzen Welt zu treffen, im anderen Fall kamen in Religionen und Friedenserziehung aktive Menschen aus vielen Nationen nach Nürnberg, um mit mir das letzte Forum innerhalb meiner Dienstzeit zu gestalten. Mit der achten Weltversammlung kam die Bewegung Religionen für den Frieden an ihren Gründungsort zurück, in die mit ihren vielen wunderschönen Tempeln und Schreinen und dem Klosterberg Mount Hiei in aller Modernität doch so stark religiös geprägte Stadt Kyoto. Hier versammelten

sich 500 Delegierte und insgesamt 2000 Teilnehmer aus mehr als 100 Ländern. Confronting Violence and Advancing shared Security (Der Gewalt entgegentreten – gemeinsam an der Friedenssicherung arbeiten) war das mehr als aktuelle Thema. Neben dem japanischen Premierminister Koizumi und Irans Ex-Präsident Khatami war Hans Küng einer der Eröffnungsredner, und die Versammlung machte sich fast einhellig die Erklärung zum Weltethos zueigen. Ich hatte vorab für die japanisch-buddhistische Zeitschrift Dharma World einen Artikel über die interreligiöse Friedenserziehungsarbeit unter dem provozierenden Titel Let Peace conquer the World (Lasst Frieden die Welt erobern) geschrieben und wiederum die pädagogische Arbeit der Konferenz zu leiten. Ganze drei eineinhalbstündige Sitzungen wurden uns innerhalb der vier Konferenztage für die Kommissionsarbeit eingeräumt. Ich hatte ein Grundlagenpapier erarbeitet, das dann in mehreren Untergruppen diskutiert und ergänzt wurde. Es artikulierte die Not- und Problemlagen, unter denen viel zu viele Kinder weltweit zu leiden haben, und dabei besonders auch das verbreitete Fehlen fundamentaler Orientierung in Sinnfragen, kulturellen und ethischen Fragen, für die gerade die Religionsgemeinschaften besondere Anwälte sein müssten: als Gemeinschaften, die Lebenssinn stiften und ein Weltverständnis vermitteln können, das nicht nur auf kurzfristige Ziele ausgerichtet ist. Oft konnte einem der Atem stocken, wenn von Gewalterfahrungen erzählt wurde, die gerade Kinder in Kriegs- und Konfliktsituationen erfahren mussten. Und oft konnten wir staunen darüber, wie Erzieherinnen und Erzieher auf der Basis ihrer religiösen und spirituellen Überzeugung unendliche Fantasie entwickelten, um den Nöten zu begegnen. Besonders bewegend und inspirierend sind immer auch die Gespräche in den Pausen, in denen ungewöhnliche Lebenswege und ein außergewöhnlich engagierter Einsatz sichtbar werden. So erkundete ich in den wenigen freien Stunden die vielfältigen religiösen Orte Kyotos zusammen mit einem jungen buddhistischen Mönch aus Kambodscha, der als Junge gezwungen wurde, als Kindersoldat zu kämpfen, und der jetzt im Kloster auch auf meditativem Wege an der Heilung der erlittenen Wunden arbeiten konnte. In unserer Kyoto Declaration for Peace Education haben wir in vier Abschnitten die Herausforderungen zu Beginn des dritten Jahrtausends benannt, auf die spirituellen, ethischen und sozialen Potenziale verwiesen, die die Religionen einbringen können, Vorschläge zu ihrer Umsetzung beschrieben und konkrete Schritte dazu aufgeführt. Hinsichtlich der Potenziale heißt es – in Anlehnung an die Erklärung zum Weltethos (Übersetzung aus dem Englischen): ȤȤ Die Religionen können Lebenssinn stiften und ein Weltverständnis vermitteln, das nicht nur auf kurzfristige Ziele ausgerichtet ist. Die Ethik

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der großen Religionen hat eine globale, nicht nur eine partikulare Dimension. Die Erklärung zum Weltethos des Weltparlaments der Religionen (1993) zeigt das sehr deutlich. Die Religionen können das Lernen für eine Kultur der Gewaltfreiheit und der Achtung vor allem Leben fördern – und das in interreligiöser Zusammenarbeit. Die Religionen können das Lernen für eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung fördern – und das in interreligiöser Zusammenarbeit. Die Religionen können das Lernen für eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit fördern – und das in interreligiöser Zusammenarbeit. Die Religionen können das Lernen für eine Kultur der Gleichberechtigung und der Partnerschaft von Mann und Frau fördern – und das in interreligiöser Zusammenarbeit.

Im Blick auf die Umsetzung wird u. a. Folgendes ausgeführt: ȤȤ Gegründet in der Beziehung zu einem Letztgültigen, einem unbedingten Anliegen, das menschliche Grenzen übersteigt, können sie (erg.: die Religionen) Kraft geben, in langfristiger Perspektive, nicht nur kurzfristig zu arbeiten – und das sollte für alle religiösen Erziehungsbemühungen gelten. ȤȤ Von ihren Erfahrungen her können sie aktiv werden in der Vorbeugung von Konflikten, in der Konfliktlösung und in der Versöhnungsarbeit nach Konflikten – und dafür muss die erzieherische Arbeit ausgeweitet werden. … ȤȤ Die Religionsgemeinschaften sollten für die Vermittlung religiöser Kenntnisse und interreligiösen Verstehens auch im öffentlichen Bildungswesen eintreten und ebenso für eine Erziehung zu gewaltfreier Kommunikation und Konfliktlösung sowie für Umwelterziehung und Erziehung zu sozio-ökonomischer Verantwortung. … Von der Schlussversammlung, bei der ich im Plenum unsere Kyoto-Erklärung zur Friedenserziehung kurz vorstellen konnte, gibt es ein besonders schönes Foto: Auf der Bühne stehen unter einem großen japanischen Friedenssymbol Kinder aus allen großen religiösen Traditionen, zusammen mit William Vendley, Generalsekretär von Religions for Peace, und Mustafa Ceric´, unermüdlichem muslimischem Kämpfer für Dialog und Versöhnung im ehemaligen Jugoslawien. Jedes Kind brachte eine Botschaft: »Ich bin Shinto. Meine Religion ist ein Weg zum Frieden.« »Ich bin Christin. Meine Religion ist ein Weg zum Frieden.« »Ich bin Muslima. Meine Religion ist ein Weg zum Frieden.« …

Dieses Bild schmückte dann auch den Band mit den Referaten und Ergebnissen des neunten Nürnberger Forums, das vom 26.–29. September folgte – nicht, wie zunächst gedacht, als Abschluss meiner offiziellen Dienstzeit, sondern quasi zum Einläuten des letzten Dienstjahres. Visionen wahr machen hatten wir als Motto gewählt: Sie sind nicht nur für die Zukunftsbilder in den Religionen wesentlich, es braucht sie im politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Feld. Interreligiöse Bildung auf dem Prüfstand war der Untertitel, und damit war die Verbindung zur Realität und zur Praxis gleichermaßen im Blick. Nach 25 Jahren Forumsarbeit wollten wir Bilanz ziehen und vorausblicken. Denn bei den Foren war immer beides zur Geltung gekommen: vorausschauende, in die Zukunft weisende Ideen und Vorstellungen, und gleichzeitig das Bemühen um praktische Umsetzung und Wirksamkeit. Geerdete Visionen – so habe ich deshalb meine Einführung überschrieben. Mit Karl Ernst Nipkows Eröffnungsvortrag zu Bilanz und Ausblick, 45 Jahre nach seinem ersten Aufsatz über Weltreligionen im Unterricht 1961, in dem er eine Bildungsoffensive für interreligiöses Lernen forderte, und Hans Küngs Schlussvortrag zur Standortbestimmung beim Projekt Weltethos hatte das Forum wiederum besonders prominent-kompetente Referenten. Im Themenbereich 1 wurde die theologische und religionswissenschaftliche Sicht erschlossen: Bilder von Heil und Gericht in den Religionen – Perspektiven für Gegenwart und Zukunft?, im Themenbereich 2 nach der Herausforderung durch die Eine Welt – Religionen im gesellschaftlich-politischen Feld gefragt, im Themenbereich 3 grundlegenden pädagogischen Linien nachgegangen: Träume haben, Ideen realisieren – entgrenzende Potenziale interreligiöser Bildung. Konkretisiert wurde das im Themenbereich 4 quasi in vier konzentrischen Kreisen: Prinzipien, Projekte, Praxis – Interreligiöse Bildung. Lokal, National, Europäisch, Global. Von den ›Abrahamischen Teams‹ vor Ort (Jürgen Micksch) über das interdisziplinäre Zentrum Weltreligionen im Dialog in Hamburg, von A Soul for Europe als englischem Beitrag bis hin zu Educating for Ethical Values and Peace – Fundamental Perspectives from America and Europe reichten die insgesamt 30 Einzelbeiträge. Hinzu kamen Workshops zur interreligiösen Hermeneutik: Das Eigene im Licht der Anderen entdecken, zur interreligiösen Schulbuchforschung und zur Schulentwicklung mit interreligiösen Elementen. Ich selbst sprach im Rückblick auf Die Nürnberger Foren – eine Vision und ihre Konsequenzen über die Dynamik interreligiöser Begegnung und hielt zusammenfassend folgende drei Punkte fest: »1. Wir müssen lernen, in den Religionen global zu denken und zu handeln. Wir brauchen ein Lernen, das ethische Fundierung für eine gemeinsame Weltverantwortung vermittelt – und zwar in allen Erdteilen.

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2. Wir brauchen weltweit mehr an interreligiöser Bildung: über den Tellerrand hinausschauen, im Bewusstsein der Vielfalt der Religionen, Kulturen und Weltanschauungen leben, sensibel für die Wege der anderen zu werden, um Vorurteilen und Fanatismus entgegentreten zu können und miteinander für Partnerschaft, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Lebensgrundlagen arbeiten zu können. 3. Die fundamentale Herausforderung aber ist eine Pädagogik, die Lebensfundierung vermittelt: dass die Kinder und Heranwachsenden Liebe, Geborgenheit, Schutz aus einem verantwortungsfähigen Sinnsystem heraus erfahren können.«8

Am Ende blickte ich vorsichtig voraus: »Ob und wie es ein 10. Nürnberger Forum geben wird, lässt sich heute noch nicht sagen. Aber es gab schon einmal einen, der sich dieses Forum vorgestellt hat. Es war Peter Schreiner. Beim sechsten Nürnberger Forum 1997 hatte er eine Vision:9 »Wir befinden uns im Jahr 2009. Das X. Nürnberger Forum geht gerade mit großer Resonanz zu Ende. Via Satellitenkonferenz konnten TeilnehmerInnen weltweit die Plenarvorträge verfolgen und sich aktiv an den Arbeitsgruppen und kulturellen Begegnungen beteiligen. Wurde 1997 noch über zukunftsweisende Begegnungen im Bereich interreligiöser Erziehung 2000 nachgedacht, so hatten sich nun die Themen und Akzente deutlich verschoben: War interreligiöse Erziehung im Jahre 1997 noch mehr Zielvorstellung und Wunsch, so ist nun die religionspädagogische Landschaft Europas durchgängig interreligiös geprägt. …«

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Ganz so ideal hat sich die interreligiöse Bildung nicht entwickelt. Aber es hat viele bemerkenswerte Schritte in diese Richtung gegeben. Und es kam ein zehntes Nürnberger Forum, wenngleich erst 2010. Manfred Pirner, damals Professor in Ludwigsburg und zuvor Assistent in Bamberg bei Rainer Lachmann, war 2006 einer der Referenten mit dem Thema Populäre Medienkultur – ›lingua franca‹ für interreligiöse Bildung?10 Er hatte mir schon 2005 in einem Brief geschrieben: »Ganz gleich, wer Dein Nachfolger wird: Die Sache mit den Nürnberger Foren muss weitergehen!« Als er dann 2008 wirklich mein Nachfolger wurde, hat er mit dieser Ankündigung ernst gemacht – und seitdem haben wir das zehnte, elfte und zwölfte Nürnberger Forum gemeinsam geplant und   8 J. Lähnemann: Geerdete Visionen. Perspektiven des 9. Nürnberger Forums. In: J. Lähnemann (Hg.): Visionen wahr machen. Interreligiöse Bildung auf dem Prüfstand. Hamburg-Schenefeld 2007.= Pädagogische Beiträge zur Kulturbegegnung 26,9–13, 13.   9 J. Lähnemann, a. a. O., 538, und P. Schreiner: Religionspädagogische Bewegungen international – Aufgaben ihrer Vernetzung. In: J. Lähnemann (Hg.): Interreligiöse Erziehung 2000 – Die Zukunft der Religions- und Kulturbegegnung. Hamburg 1998. = Pädagogische Beiträge zur Kulturbegegnung 16, 284–293, 284. 10 A.a.O. 150–156.

geleitet. Er brachte 2010 gleich seine reiche Medienerfahrung ein in das Thema Medien-Macht und Religionen. Herausforderung für interreligiöse Bildung. Ich brachte meine internationalen, interreligiösen Verbindungen ein, Werner Haußmann seine große organisatorische Erfahrung – eine wunderbare Zusammenarbeit! Zunächst aber kam es im Gefolge des neunten Nürnberger Forums, zu dem ja insbesondere auch Religionspädagoginnen und Religionspädagogen aus verschiedenen Teilen Europas gekommen waren, zu einem neuen Projekt der Peace Education Standing Commission von Religions for Peace in Zusammenarbeit mit Peter Schreiner vom Comenius-Institut Münster: der Erarbeitung einer europäische Landkarte, fachkundig designet von Florian Ermann, Hilfskraft am Lehrstuhl, die ein Bild über Religion im öffentlichen Bildungswesen vermittelt. Sie wurde eingebettet in ein Handbuch, das 16 Beiträge aus den verschiedenen Regionen Europas enthielt.11 Auf der Landkarte haben wir in Stichworten für 44 Staaten verzeichnet, wie Religion jeweils im schulischen Bereich vorkommt. Nur in wenigen Ländern – vornehmlich in Frankreich und Russland – war zu diesem Zeitpunkt Religion im öffentlichen Bildungswesen nicht vorgesehen. In Russland wurde aber danach – nach vielem Hin und Her – an einem Religion beinhaltenden Fach gearbeitet, und auch in Frankreich gibt es seit Langem eine intensive Diskussion, ob nicht zumindest im Fach Geschichte dem religiösen Analphabetismus entgegengearbeitet werden muss. Wichtig sind dabei die Grundeinsichten, die wir in der Einleitung des Handbuchs zusammengefasst haben: »In nahezu allen europäischen Ländern wächst die Einsicht, dass Religion Teil der öffentlichen Erziehung sein sollte: −− zur Vermittlung notwendiger Kenntnisse über das kulturell-religiöse Erbe des Kontinents, −− zur Orientierung über die religiös verwurzelten Werte und Ethik für das persönliche Leben wie auch für die Gesellschaft, −− zur Reflexion über Lebenssinn und Lebensziele im Licht der Schriften, Traditionen und spirituellen Praxis der Religionen, −− für eine Erziehung zu Toleranz und zur Vorbeugung gegenüber falschen Vorurteilen – durch authentische Information über und – wenn eben möglich – in der Begegnung mit verschiedenen gelebten Religionen.«12

Diesen Grundeinsichten steht eine spannungsvolle, in vielen Ländern noch unzureichende bis desillusionierende Realität gegenüber. Das kann nicht 11 J. Lähnemann/P. Schreiner (Ed.): Interreligious and Values Education in Europe. Map and Handbook. Münster 2008. 3. Aufl. 2009. 12 A.a.O., 5 (original in Englisch).

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verwundern. Denn wie sollen die Einsichten umgesetzt werden in Ländern mit segregierten Gesellschaften wie in Nordirland und im ehemaligen Jugoslawien, in Frankreich mit seiner z. T. ideologisch verfochtenen Laïcité, in den ehemaligen Ostblockländern mit jahrzehntelanger atheistischer Propaganda, in Griechenland mit seiner engen Verknüpfung von orthodoxer Tradition und nationaler Geschichte? Aus den Aufbaujahren in den ostdeutschen Bundesländern wissen wir, wie mühsam das ganze Feld zu beackern ist. Gleichwohl zeigt die Landkarte, wie die Diskussion und die Bemühung um sich öffnende Ansätze religiöser Bildung im öffentlichen Raum in vielen Ländern um sich greifen. Dabei ist ein gewisses Nordwest-Südost-­Gefälle zu beobachten: Nordwest- und Nordeuropa sind vorwiegend von multi-­ religiösen Ansätzen gekennzeichnet, wobei es auch in traditionell konfessionell sehr einheitlichen Ländern wie Irland und Island inzwischen viel Raum für interreligiöses Lernen gibt. Im Süden und Osten herrscht konfessioneller Religionsunterricht vor mit herkömmlich wenig Information über andere Religionen. Aber es gibt Beispiele für eine lebendige Diskussion, interreligiöse Elemente auch hier in den Unterricht zu integrieren, was sich für die Türkei und für Griechenland zeigen lässt. In Zentraleuropa, besonders in den deutschsprachigen Ländern, finden wir verschiedene Formen konfessioneller und konfessionsübergreifender Zugänge. Insgesamt erweisen sich die Prinzipien der Multi-Perspektivität und der vielseitigen Kooperation als wesentlich: Religion in der öffentlichen Bildung braucht den Kontakt mit den Religionsgemeinschaften, um nicht steril und unauthentisch zu sein. Und sie braucht das öffentliche Diskussionsfeld in demokratischer Pluralität, um nicht Exklusivismen Vorschub zu leisten. Darin liegt auch eine besondere Herausforderung für die interreligiösen Gruppen und Arbeitskreise. Die zunehmend in europäischen Metropolen, aber auch auf Landesebene sich bildenden Interreligiösen Räte oder Runden Tische der Religionen sollten sich gerade auch dieser Herausforderung annehmen. Wir haben Landkarte und Handbuch bei der europäischen Versammlung von Religions for Peace 2008 in Rovereto vorgestellt, wo ich 1986 erstmals dieser interreligiösen Bewegung begegnet war. Vom Lehrstuhl in Nürnberg war als Studentin Katja Coordes dabei, vom Interdisziplinären Zentrum für Islamische Religionslehre waren Amin und Emel Rochdi mitgekommen – und verstärkten die junge Generation bei der Konferenz. Für das Podium hatte ich neben Peter Schreiner Wolfram Weiße aus Hamburg und Brian Gates aus Lancaster als europäische Vorreiter religiöser und interreligiöser Erziehung gewonnen – und wir hatten eine vielgestaltige Hörerschaft, die unsere Anliegen mit in ihre Heimatländer nehmen konnte.

Parallel zu unserer Arbeit in der Friedenserziehungskommission hat sich auch auf der Ebene des Europarats das Bewusstsein durchgesetzt, dass die Bemühung um religiöse und Werteerziehung ein gesamteuropäisches Anliegen sein sollte. Die früher dominierende Auffassung, Religion aus dem Bereich öffentlicher Erziehung herauszuhalten, weil sie Privatangelegenheit sei, erwies sich – spätestens nach den Ereignissen des 11. September 2001 – als überholt. Es ist vor allem Robert Jackson von der Universität Warwick in England gewesen, der in den europäischen Gremien dazu unermüdlich Überzeugungsarbeit geleistet hat. In den Empfehlungen des Europarats hinsichtlich der Dimension religiöser und nicht religiöser Überzeugungen innerhalb interkultureller Erziehung wird die weltanschauliche Vielfalt auf örtlicher, nationaler und internationaler Ebene positiv gewertet. Es wird ermutig, die lokale wie die globale Perspektive zu verknüpfen, Lernen über die Religionen und Identitätsbildung in Verbindung zu bringen und eine positive Beziehung zwischen Eltern und Religionsgemeinschaften, aber auch zu nicht religiösen humanitären Organisationen aufzubauen. Intention ist, junge Menschen mit einer Vielfalt an Positionen in einer Atmosphäre wechselseitiger Toleranz im safe space, dem geschützten Raum des Klassenzimmers vertraut zu machen.13 Als besonders ertragreich hat sich in diesen Jahren auch ein großes von der Europäischen Union gefördertes, von Robert Jackson und Wolfram Weiße geleitetes Forschungsprojekt erwiesen: REDCo: Religion in Education. A contribution to Dialogue or a factor of Conflict in transforming societies of European Countries? – Religion in der Erziehung. Ein Beitrag zum Dialog oder ein Konfliktfaktor im Wandel der Gesellschaften in europäischen Ländern? – exemplarisch durchgeführt mit der Befragung von Jugendlichen in England, Estland, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Norwegen, Russland und Spanien. Es hat – in der ganzen Vielfalt und Verschiedenheit der bildungsmäßigen Kontexte – doch zu einigen wesentlichen Grundbeobachtungen geführt: dass nämlich viele Schülerinnen und Schüler Vorurteile gegenüber den Religionen der anderen haben, dass sie aber gleichzeitig bereit sind, mit anderen in den Dialog zu treten. Nahezu alle Schülerinnen und Schüler betrachten das Lernen von interreligiöser Verständigung auf der persönlichen wie auf der gesellschaftlichen Ebene als eine Notwendigkeit und Möglichkeit. Die Schule bietet dazu ein einzigartiges Forum.14 13 Council of Europe: Recommendation CM/Rec (2008) 12 of the Committee of ministers to Member States on the dimension of religions and nonreligious convictions within intercultural education. Strasbourg. Council of Europe Publishing 2008. 14 W. Weiße: Religion in Education – REDCo. In: Lähnemann/Schreiner 2008, 81–83, 82 f. (Übersetzung aus dem Englischen).

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Die mit diesen Initiativen eröffneten Wege wurden im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends auf politischer wie auf wissenschaftlicher Ebene weiter verfolgt, besonders sichtbar in der Veröffentlichung des Europarats von 2014: Signposts – Policy and practice for teaching about religions and non-religious world views in intercultural education – Wegweiser – Politik und Praxis des Unterrichts über Religionen und nichtreligiöse Weltanschauungen im Rahmen interkultureller Erziehung15 und in der umfassenden Darstellung Religious Education at Schools in Europe (REL-EDU), die seit 2013 unter Federführung von Martin Rothgangel von der Universität Wien in sechs Bänden die verschiedenen Regionen Europas erfasst. Wie wichtig diese Bemühungen sind, erweist sich erneut angesichts des Wiederauflebens nationaler Egoismen seit 2013/2014 – nicht selten unter Bemühung traditioneller religiöser Prägungen – in so vielen europäischen Staaten.

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15 Hierzu R. Jackson: Inclusive Study of Religions and World Views in Schools: Signposts from the Council of Europe. Strasbourg 2016.

Susanne an ihrem 60. Geburtstag, 28. August 2002, auf dem Monte ­Tamaro bei Bellinzona

Die Familie im Advent 2002: ­Johannes, Jakob, Angela, Charlotte, Susanne, Markus, Henrike, Luise

Forums-Runde 2003 auf der ­Terrasse Viatisstr. 125 mit (v.l.)­ Norman Richardson (Belfast), ­Koichi Kawamoto (Tokio),­ Günther Gebhardt (Tübingen), Saeid ­Edelad Nezhad (Teheran)

Mit Bill Vendley und Prinz ­Hassan bin Talal von Jordanien beim ­Kirchentag in Hannover Mai 2005

Vorlesung Dreieinigkeit – Glauben wir Christen an drei Götter? an der Universität Ankara März 2006

Bei der Weltversammlung von Religions for Peace in ­ Kyoto im August 2006

Gebetsstunde der Religionen Lasst uns die Erde schützen im Februar 2007 in St. Clara, Nürnberg

Überreichung des Handbuchs Friedenserziehung (Fest­ gabe zum 65. Geburtstag) beim 9. Nürnberger Forum Visionen wahr machen – September 2006

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 Pensionierung und ein persönlicher Neuanfang

Ein Zusatzjahr auf dem Lehrstuhl · Abschiedsvorlesung · Begegnung mit Sabine Schulz-Pillgram · Argentinienreise · Berufung Manfred Pirners als Nachfolger · InlineSkater-Unfall · Bundesverdienstkreuz · Eheschließung · Festvortrag in Kairo · Umzug nach Goslar

In den letzten beiden Semestern während meiner offiziellen Dienstzeit nahm ich noch einmal mein volles Lehrdeputat wahr. Die Lehre hatte mir ja immer viel Freude gemacht. Ich knüpfte an Bewährtes an und erprobte doch auch wieder Neues, wissend, dass ich auch nach der Pensionierung weiter in der Lehre willkommen sein würde. In der Veranstaltung Religionen vor Ort profitierten die Studierenden direkt von der interreligiösen Arbeit in Zusammenarbeit mit der Gruppe der Religionen für den Frieden und den verschiedenen Glaubensgemeinschaften in Nürnberg und Umgebung: Die wunderbaren alten Kirchen – St. Lorenz, St. Sebald, die Frauenkirche – wurden ebenso Räume der Begegnung und des Lernens wie die rumänisch-orthodoxe Kathedralkirche, die Synagoge, die Moscheen und das buddhistische Zentrum in Fürth. Wie der rumänisch-orthodoxe Metropolit Serafim die Ikonostase erklärte, aber auch die Tafel mit Glaubenszeugen, auf die u.A. Dietrich Bonhoeffer und Edith Stein aufgenommen waren; wie Arno Hamburger, Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde, die Geschichte der Juden in Nürnberg erzählte; wie der ehemalige buddhistische Mönch Robert Jandaka seinen Lebensweg schilderte; wie Saraswati Albano-Müller, die dazu extra aus Schwelm anreiste, mit ihrem Hausaltar ihren Tageslauf darstellte, von ihrem Vater erzählte, der ein Freund und Schüler Gandhis war – und Studentinnen in einen Sari kleidete: Das waren Erfahrungen, die das Studium sonst kaum bereithält. Gleichzeitig war die Lehrveranstaltung Auftakt zur Neubearbeitung unserer Broschüre Offene Türen. Religionsgemeinschaften in Nürnberg und Umgebung, in der sich dann schließlich 32 Glaubensgemeinschaften aus dem Nürnberger Raum mit Einführungstexten, Fotos, Adressen und Internetauftritten vorstellten – ein Leitfaden gerade auch für die Schulen der Stadt; als Hilfskraft hat sich dabei Katja Coordes als Meisterin der Recherche erwiesen. Im Sommersemester lud ich zu Pfingsten mein Oberseminar in unsere Casa Clara am Lago Maggiore ein. Die Diskussion der aktuellen Projekte im

Mitarbeiter- und Doktorandenkreis stand ebenso auf dem Programm wie Ausflüge in die wunderbare Landschaft am und um den See. Wir haben auch den deutschsprachigen Gottesdienst in der kleinen evangelischen Gemeinde gestaltet – mit einer Predigt über Geh aus mein Herz im Paul-Gerhardt-Jahr, Liedbegleitung auf dem alten Harmonium und dem Kanon Ausgang und Eingang, Anfang und Ende liegen bei dir, Herr, füll du uns die Hände. Zuvor war ich bei Henrikes Antrittsvorlesung an der Universität von Newcastle upon Tyne. Ich konnte mit einem großen Freundeskreis aus Deutschland hinüberfliegen. Playing on the harp strings of the soul (Auf dem Saitenspiel der Seele spielen) war ihr Thema, mit dem sie ihr Forschungsprojekt zu den in Europa verstreuten Handschriften des Klosters Medingen bei Lüneburg vorstellte und damit auch an unsere gemeinsame Zeit in Lüneburg anknüpfte. Im September konnte sie 20 der insgesamt 43 erhaltenen illuminierten Gebetsbücher aus Medingen in der Hamburger Staatsbibliothek ausstellen und hat bei einer begleitenden Tagung im Kloster selbst ein Stück der dort niedergeschriebenen Lied- und Gebetstexte wieder zum Klingen gebracht, wie das Christ is uppstande von siner marter aller. Ausgang und Eingang waren dann ein besonderes Leitmotiv in den letzten Monaten meines aktiven Universitätsdienstes, der am 30. September 2007 endete. Einen Höhepunkt bildete die Abschiedsvorlesung am 10. Juli zum Thema Kein Religionsfriede ohne interreligiöses Lernen! Lernen habe ich dabei verstanden als gemeinsame Aufgabe für Lehrende und Lernende, für alte und junge Menschen. Ich habe es pointiert als Herausforderung für Theologie, Politik und Pädagogik entfaltet – und die besonderen Chancen umrissen, die unser demokratisches Gemeinwesen, das auf die fruchtbare Zusammenarbeit der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen angewiesen ist, dafür bietet. – Nicht nur Vertreter der Universität, der Kirche, der Schulverwaltung und viele Mitglieder unserer Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden waren gekommen, sondern auch Verwandte, Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen aus der Nachbarschaft in Nürnberg-Zerzabelshof ebenso wie von weither. Die Eröffnung gestaltete Peter Athmann mit einer wunderschönen Saxophon-Improvisation. Er bezog sich dabei auf die von mir gewünschte Melodie zu Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, deren Text Schalom Ben Chorin 1942 gedichtet hat. Nach der Vorlesung und den Grußworten marschierte eine Gruppe Studierender auf die Bühne, überreichte mir 26 Rosen, für jedes Jahr meiner Nürnberger Dienstzeit eine, und bat um einen Kanon, den ich mit Vergnügen einübte und aufführte – Jeder Teil dieser Erde sei unserm Volk heilig. Die Lehrstuhlmitarbeiter schenkten mir einen exzellenten Rucksack für meine vielen Reisen (mit Spezialfach für den Laptop) und eine gefüllte

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Spardose: für eine Opernaufführung in Verona! Beim anschließenden Empfang trafen sich manche ehemalige Studentinnen und Studenten nach langer Zeit wieder, es gab viele lebendige Gespräche, und Luise hatte mit ihrem Freund Ansgar als besonderen Clou ein Gästebuch mitgebracht, in das die Anwesenden, beginnend mit unserem Rektor Karl-Dieter Grüske, sich nicht nur eintragen konnten. Sie machten von jedem und jeder mit einem Holzrahmen als Accessoire auch ein Polaroid-Foto. Die Aufnahmen wurden ausgedruckt und zu all den guten Worten geklebt, die mir die Gäste zugedachten. Aus einem der Rahmen schaut jemand, der für meinen weiteren Weg wichtig werden sollte: Sabine Schulz-Pillgram, Grundschullehrerin aus Goslar. Ich hatte sie am 16. Oktober 2005 zum ersten Mal getroffen, als ihre Patentante Sabine Landois, die auch Patentante meiner im Jahr zuvor gestorbenen Susanne war, ihren 80. Geburtstag in Münster feierte; persönlich waren wir uns vorher noch nicht begegnet. Wir hatten uns seit diesem Datum mehrere Male gesehen, besonders, nachdem die Tante im Februar 2007 leider verstorben war und wir zusammen mit Ansbacher Landois-Verwandten eine Erbengemeinschaft bildeten. Ich hatte sie für die Osterferien 2007 erstmals an den Lago Maggiore eingeladen – in unser Haus, das sie vom Erzählen kannte, in dem sie aber noch nie gewesen war. Da die bei der Abschiedsvorlesung überreichte Geldsumme zu einer Aufführung in Verona für zwei ›Poltrone‹-Plätze in der Arena reichte, fragte ich sie, ob sie mit mir dorthin fahren würde – und mich in der Nacht bei der vierstündigen Rückfahrt nach Luino beim Chauffieren ablösen könne –, und sie sagte zu. Und so reisten wir die 250 km nach Verona so, dass wir am Nachmittag noch in Ruhe Zeit für einen Stadtgang mit einer Stunde in St. Zeno, der einzigartigen romanischen Kirche, hatten. Dann saßen wir in der 17. Reihe der Arena. Der Abend war nach heißem Tag angenehm warm, der Himmel dunkelte sich allmählich ein, Sterne wurden über dem weiten Rund sichtbar, bei der Ouvertüre wurden auf allen Rängen Lichter entzündet. Wir erlebten gemeinsam die Aida von Guiseppe Verdi in dem weiten Rund dieses großartigen antiken Amphitheaters, konnten dem Dirigenten quasi über die Schulter schauen und waren mitten im dramatischen Geschehen, umgeben von den Klängen der Musik. Wir stellten zunehmend fest, das uns viel miteinander verband: ihre Tätigkeit als Lehrerin – ich hatte ja fast meine ganze Dienstzeit über Lehrerinnen und Lehrer, besonders für Grundschulen, ausgebildet – und dabei das besondere Interesse am Religionsunterricht, den Sabine immer gern gegeben hat. Sie war auch die erste Lehrerin in Goslar, die zum Thema Islam mit den Schülerinnen und Schülern regelmäßig die kleine Moschee in der Frankenberger Straße besuchte und Kontakt zur Moscheegemeinde hielt. In der Gemeinde am Frankenberg mit ihrer wunderschönen alten roma-

nisch-gotischen Kirche ist sie Kirchenvorsteherin und Vorsitzende des Diakonieausschusses. Außerdem liebt sie wie ich das Reisen, zu dem sie ihre Patentante oft eingeladen hatte – mit der Transsibirischen Eisenbahn, in den Westen Kanadas, nach Island. Mit uns dagegen verbrachte die Tante, die mit Leidenschaft Apothekerin und Kunstliebhaberin war, vor allem Ferien in unserem gemeinsamen Haus am Lago Maggiore. So kam es, dass wir Sabine Schulz-Pillgram zu Lebzeiten von Susanne nie getroffen hatten und sie Susanne leider auch nicht kennenlernte. Familiär stammt sie aus einer Familie, deren Vorfahren vor allem Gutsbesitzer im Osten Brandenburgs nahe Frankfurt/Oder waren. Ihr Großvater besaß das Gut in dem Dorf Pillgram, was sich dann im Familiennamen niederschlug. Die Enteignung nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Großvater nie ganz verwunden; aber die Familie reiste, als das zu DDR-Zeiten schließlich wieder möglich wurde, regelmäßig zu Besuchen bei Freunden und früheren Gutsmitarbeitern nach Pillgram. Sabines Mutter, Anne Dörthe geb. Ehlermann, war in dem Dorf Üfingen bei Braunschweig zu Hause, wo der Großvater einen großen landwirtschaftlichen Betrieb besaß. Geboren 1954 in Göttingen, zog Sabine mit der Familie später nach Üfingen, von wo aus der Vater Hans-Joachim Schulz-Pillgram, gelernter Landwirt, bei der Landwirtschaftskammer in Braunschweig tätig war. Sie verbrachte dort einen Großteil ihrer Jugend, fuhr mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Wolf-Dieter und später ihrer fünf Jahre jüngeren Schwester Dorothee zu den weiterführenden Schulen nach Braunschweig. Sie studierte für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen in Braunschweig und Göttingen und kam als Lehrerin an Schulen in Oker und dann für 31 Jahre an die Goetheschule in Goslar. Sehr jung wurde sie in den Zonta-Club, einen internationalen Serviceclub für berufstätige Frauen, aufgenommen und hat viele Jahre im Vorstand mitgearbeitet, was ihr viele berufsübergreifende Kontakte und Freundschaften einbrachte. Ich fühlte mich nach Abschluss meiner Dienstzeit als homo libero, nahm Winter und Frühjahr 2007/08 wirklich als ›Freisemester‹ mit der Perspektive, später auch wieder Lehre an der Universität anzubieten. Als besonders entlastend empfand ich, nicht mehr in Hochschulgremien sitzen und Klausurenberge durchkorrigieren zu müssen, so selbstverständlich mir das in der Dienstzeit gewesen war; noch in meinem zusätzlichen Dienstjahr war ich Mitglied des Fachbereichsrats unserer Fakultät. Zunächst widmete ich mich zwei ungewöhnlichen Manuskripten, die beide mit der Türkei zu tun hatten: einem Band mit Vorträgen, die Beyza Bilgin in Deutschland gehalten hatte, und der Transkribierung der Briefe, die mir Susanne während unserer Verlobungszeit 1965 aus Ostanatolien geschrieben hatte.

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Die oft aus aktuellem Anlass gehaltenen Vorträge von Beyza Bilgin mussten sprachlich überarbeitet und thematisch so geordnet werden, dass sie in einem sinnvollen Gesamtzusammenhang erschienen. Als Gesamtthema wählten wir Islam und islamische Religionspädagogik in einer modernen Gesellschaft. In einer Einführung schilderte ich die Entwicklung, die Beyza Bilgin entscheidend angestoßen hat und den über viele Jahre gewachsenen internationalen Austausch, an dem sie teilnahm. Wir ordneten die Vorträge unter drei übergreifenden Gesichtspunkten: ȤȤ Grundlagen des Islams zu Beginn des 3. Jahrtausends, ȤȤ islamische Erziehung im Kontext der Türkei und Europas, ȤȤ Fragestellungen einer zeitgemäßen islamischen Religionspädagogik. Darin spiegeln sich die zentralen Anliegen von Beyza Bilgin: ȤȤ einen Islam zu entfalten, der toleranz- und pluralismusfähig ist und damit den Herausforderungen einer modernen, von religiöser Vielfalt und verbreiteter Säkularität geprägten Gesellschaft entspricht, wobei immer wieder der Koran selbst als Grundlage eines dynamischen Religionsverständnisses herangezogen wird, ȤȤ die aktuellen Fragen aufzugreifen, die sich für eine islamische Erziehung vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Türkei im Blick auf die Gesamtentwicklung in Europa und den internationalen Austausch ergeben, ȤȤ die Konturen einer islamischen Religionspädagogik zu entwerfen, die Offenheit und Vielfalt nicht scheut und dialogisch sowohl im Blick auf die Lernenden, Schüler und Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Studenten und Studentinnen, Dozenten und Dozentinnen und Menschen in allen Altersstufen und Lebenskonstellationen angelegt ist.

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Als Religionspädagogin ist Beyza Bilgin darüber hinaus die Stärkung und Ermutigung der Frauen ein besonderes Anliegen. Sie arbeitet konsequent die fortschrittlichen Impulse heraus, die der Koran in der arabischen Gesellschaft des 7. Jahrhunderts gesetzt hat: Eigenständigkeit, Selbstverantwortung, Recht auf Bildung sind für sie Elemente, die der Koran inspiriert hat. In der heiklen Frage des Kopftuchtragens plädiert sie – unter der Prämisse, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse zur Zeit der koranischen Offenbarung keinen kanonischen Rang haben – begründet gegen ein Gebot in dieser Frage, durchaus im Bewusstsein, dass sie sich damit gegen die Mehrheit traditionsbezogener Islamgelehrter stellt. Aber Denkverbote gibt es für sie nicht. Das Buch ist vor allem im Zuge des Aufbaus islamischer Religionspädagogik in Deutschland vielfach rezipiert worden. Angesichts stark gegenläufiger Tendenzen zu Pluralität und Modernität in der Türkei stellt es eine bleibende Herausforderung dar.

Die Arbeit an dem zweiten Manuskript bedeutete mir ein besonders großes Vergnügen. Ich hatte ein lange verschollenes Kästchen, beklebt mit Bildern aus der Türkei und besonders aus der Ausgrabung meines Schwiegervaters im Keller unseres Hauses wiederentdeckt und fand in ihm die Briefe, die Susanne mir 1965 von der Reise in das antike Königreich Kommagene am oberen Euphrat geschrieben hatte und in denen sie mich an dem aufregenden Erleben in dieser fernen Welt ungeheuer lebendig teilhaben ließ. In meiner Schilderung unserer Verlobungszeit 1964/65 habe ich die Briefe schon erwähnt und auch wenigstens einen von ihnen wiedergegeben. Nun wanderte ich noch einmal die mehr als 40 Jahre zurück zu den damaligen Reisestationen und in das Ausgrabungslager am Rande des Gebirgsmassivs des Nemrud Dagh, spürte noch einmal dem Staunen über die orientalische Kultur, dem Zusammenleben mit den einheimischen Mitarbeitern, der Arbeit in der Grabungsküche, aber auch der gegenseitigen Anteilnahme, den Sehnsüchten und den Erfahrungen des jungen Paares nach. Ich dachte zunächst nur an eine Weitergabe im Familienkreis. Aber dann entdeckte ich noch ein Fotoalbum, das meine Schwiegermutter über die Grabungsmonate 1965 angelegt hatte. Ich scannte eine Auswahl der Bilder und fügte sie passend in den Text ein. Elmar Schwertheim und Jörg Wagner, Schüler meines Schwiegervaters und Vorsitzende des Historisch-Archäologischen Freundeskreises, den mein Schwiegervater gegründet hatte, ließen das Manuskript drucken und verschickten es als Weihnachtsgabe an die Mitglieder des Vereins, von denen viel positives Echo kam, zumal die meisten aus Eigenerfahrung mit der Ausgrabung sich gut in die Schilderungen hineinversetzen konnten. Pläne hatte ich im Übrigen vor allem für zwei Vorhaben: eine Reise zu den Verwandten nach Argentinien – Cousinen von Susanne mit ihren Familien – und Kammermusiktage mit dem Bläserquintett, in dem ich musizierte, in unserer Casa Clara am Lago Maggiore. Die Reise nach Argentinien plante ich zusammen mit Luise und ihrem Freund Ansgar, die schon vor mir nach Buenos Aires flogen und Bergwanderungen ganz im Norden des Landes vorhatten, für die Zeit über Weihnachten und Neujahr 2007/2008. Bei einem Riesenland wie Argentinien muss man natürlich eine Auswahl treffen, und dabei half uns vor allem Ulla Naumann, Cousine von Susanne, gleicher Jahrgang wie ich. Es schälten sich vier Etappen heraus: eine Reise von Salta aus mit einem Mietwagen ganz in den Westen und südlich bis Tucuman, Weihnachten auf der Estanza südlich von Buenos Aires bei unseren Verwandten, anschließend ein Ausflug im Delta des Rio de la Plata – und für mich ergänzend eine Fahrt zu den Iguazú-Wasserfällen im Norden, den größten Wasserfällen der Welt. Einplanen konnte

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ich auch ein Treffen mit der südamerikanischen, international tätigen Friedenserzieherin Alicia Cabezudo in Buenos Aires. Es wurde eine eindrucksvolle Reise in den Sommer der südlichen Erdhälfte – mit den Kontrasten zwischen der 15 Millionen-Stadt Buenos Aires, der wilden Berglandschaft der Anden, der weiten Ebene der Pampa und der Flusswelt am La Plata und am Iguazú. Die besondere Befreiungsgeschichte des Kontinents wurde ebenso sichtbar wie das soziale Spannungsfeld, das sich in diesem Land bietet. Und es war die Begegnung mit einem Zweig der Familie, der sich schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Existenz in diesem Land aufgebaut und dabei doch auch die Verbindungen zur ursprünglichen Heimat gehalten hat. Ulla Naumann half uns, uns in der fast ganz in Quadraten aufgebauten Hauptstadt zurechtzufinden, ihrer von Kolonial- und Befreiungskampf geprägten Geschichte nachzuspüren, dem Künstlerleben im Stadtteil La Boca und beim abendlich im Park getanzten Tango zu begegnen und das Alltagsleben in großer Buntheit und Vielfalt wahrzunehmen. Nachdem wir in den Norden geflogen und mit einem gemieteten Opel Kadett über einspurige, in Passagen aus Schotter bestehenden Straßen die atemberaubende Bergwelt – mit Pässen in über 3000 m Höhe, dem Ausblick auf über 6000 m hohe Gipfel, einer Landschaft mit Riesen-Kakteen, aber auch einem reichen Weingebiet – erlebt hatten, folgte dann wieder von Buenos Aires aus die Fahrt in das unendliche Flachland der Pampa mit der Estanza La Suabia – gemäß der schwäbischen Herkunft von Ullas Mann Ludwig. Weihnachten im Hochsommer: Durch die Weidelandschaft mit ihren vielen Rindern, über nur teilweise befestigte, sandige Wege, zuletzt gesäumt von einer Eukalyptus-Allee, gelangten wir zu den einfachen Bungalows um einen liebevoll von Ulla gepflegten Garten mit bunter Blumenpracht unter Palmen. Das Weihnachtszimmer war mit einem Kiefernbäumchen geschmückt; die Kerzen machten es fast zu warm. Mit Begleitung am Klavier, das freilich lange nicht mehr gestimmt war, erklangen deutsche Weihnachtslieder. Ullas Mann Ludwig grillte Assado, und bis spät konnten wir in der lauen Nacht auf der Terrasse sitzen. Argentinische Freunde mit spanischem Hintergrund kamen zu Besuch, weil sie die ›deutsche Weihnacht‹ am schönsten fanden. Mit den Söhnen, Schwiegertochter und dem kleinen Enkel wurde gespielt, am nächsten Tag ein Drachen gebastelt, der sich nach mehreren Anläufen hoch in die Lüfte schwang, und es gab kleine Ausritte auf einem eigentlich sehr braven Pferd, das allerdings, als ich auf ihm saß, mich fast abwarf, weil es plötzlich in Galopp verfiel, um schnell zurückzukommen! Wunderbar waren die Iguazú-Wasserfälle an der Grenze zu Brasilien, die sich über 2,7 km erstrecken und das Wasser aus 60–85 m herabsausen lassen – ein Nationalpark mit einzigartiger Pflanzen- und Tierwelt: Kaimane,

Nasenbären, 800 Schmetterlingsarten, die hinter den Wasserfällen lebenden Rußsegler. Ein langer Wandertag mit Bootsfahrt und Schmalspurbahn führte mich auch zum Garganta del Diablo, dem ›Teufelsschlund‹, dem riesigen, u-förmigen Wasserfallsystem. Die kleinen, mit meiner damals neuen Digitalkamera aufgenommenen Videos lassen mich immer wieder einmal in die Mitte der tosenden, über die Felsen strömenden Wassermassen zurückkehren. Nach der Rückkehr eröffneten mir Luise und Ansgar in Deutschland, dass sie sich bei dem Pilgerweg im Hochgebirge, angekommen in einsamer Höhe von 4200 m, die Ehe versprochen hatten – und mit mir ein Hochzeitsfest in Italien planen wollten, ein besonders schönes Resultat dieser großen Reise in eine andere Welt! Ähnlich entscheidend wurden für mich die Kammermusiktage am Lago Maggiore im März 2008. Wir hatten uns zwei Jahre zuvor zu fünft zusammengefunden zu einem klassischen Bläserquintett – Barbara Ipsen mit Querflöte, Franz Peschke mit Oboe, Gerlinde Schelle mit Klarinette, Christoph Zwanzger mit Fagott und ich mit dem Horn – und musizierten die klangvolle romantische, spätromantische und moderne Musik, die die Komponisten Anton Reicha und Franz Danzi im 19. Jahrhundert gleichsam ›erfunden‹ hatten. Es gab auch Arrangements älterer klassischer Musik wie die um den St. Antony-­Choral komponierte Serenade von Josef Haydn. Der Plan, miteinander in Casa Clara zu spielen, schien zunächst in Frage gestellt, weil Gerlinde Schelle, Jüngste in unserer Runde, für Anfang des Jahres ein Baby erwartete. Daraufhin fragte ich Sabine Schulz-Pillgram, ob sie bereit sei, als Babysitterin mit nach Casa Clara zu kommen. Sie sagte zu, und so fuhren wir in ihren Osterferien den anderen voraus, um vor Ort alles vorzubereiten. Da auch der Vater der kleinen Alina mit anreiste und sich in die Betreuung des Babys einbrachte, war Sabine nicht zu sehr belastet. Der 13. März war ein besonders schöner, sonniger Frühlingstag. Franz Peschke und Barbara Ipsen erzählten uns später, sie hätten morgens auf der Terrasse mit dem weiten Ausblick gestanden, und Franz Peschke hätte bemerkt: »Ich glaube, Sabine ist nicht nur zum Babysitten da!« Sie ahnten nicht, dass am Abend dieses Tages – wir hatten mittags einen traumhaften Ausflug mit dem Schiff nach Cannero di Riviera mit Essenseinladung von Franz Peschke unternommen – das entscheidende Gespräch zwischen uns stattfinden sollte. Obwohl wir uns nun schon länger vertraut geworden waren, war Sabine vollkommen überrascht, als ich die Frage stellte, ob wir unseren Weg in Zukunft gemeinsam gehen wollten. Umso glücklicher war ich, als sie mir – nach einigem Nachdenken – zusagte. Angesichts zweier sehr eigenständiger und schon vielfältig geprägter Lebenswege sich neu ganz zusammenzufinden, ist sicher alles andere als selbstverständlich. Aber wir entdeckten zunehmend vieles miteinander und führten

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uns gegenseitig in unsere Verwandtschafts- und Freundeskreise ein. Erste Gelegenheit dazu war die Konfirmation von Enkelin Angela am Pfingstfest in Bamberg. Sie hatte sich, kennzeichnend für ihr soziales Empfinden, die Seligpreisung »Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit« als Konfirmationsspruch ausgesucht. Meine Töchter, die Schwiegersöhne und die Enkelkinder verstanden sich gleich gut mit Sabine, und besonders mit Charlotte als Grundschullehrerin gab es schnell eine gemeinsame Gesprächsebene über die Aufgaben und Herausforderungen im Unterricht, mit den Kindern aus ganz unterschiedlichen Lebenszusammenhängen, den Eltern und im Kollegium. Sie tauschten auch viele Ideen aus. So hatte Charlotte Sabine gleich ihr im Vorjahr bei Auer erschienenes Buch Fetzige Raps im Sachunterricht geschenkt. Sie hatte selbst geschriebene Gedichte – z. B. den Igel-Rap und den Muttertags-Rap – mit Rhythmusübungen verknüpft und dazu angeleitet, wie Musik- und Sachunterricht miteinander verknüpft werden können. Im Sommersemester 2008 nahm ich dann wieder zwei Lehrveranstaltungen wahr: einmal mit dem mir sehr vertrauten Thema Begegnung mit dem Islam: Grundlagen, Geschichte, religionspädagogische Perspektiven, dann aber auch mit neuem Nachdenken über Grundlagen des interreligiösen Dialogs anhand des Buchs von Karl Josef Kuschel: Juden, Christen, Muslime. Herkunft und Zukunft. Sein Ansatz faszinierte sowohl Herbert Rommel, der in diesem Semester den Lehrstuhl für Katholische Religionspädagogik vertrat und bei mir wohnte, als auch mich. Und so planten wir eine gemeinsame Lehrveranstaltung dazu. Kuschel hatte sich der Frage gestellt, wie es möglich ist, im Verhältnis zwischen den drei großen monotheistischen Religionen ein einseitiges Konfrontationsdenken, aber auch ein einseitiges Harmoniedenken zu überwinden und zu einem Beziehungsdenken zu kommen. Auf diesem Wege ließ sich Verbindendes, schwerpunktmäßig Verschiedenes, aber auch Unvereinbares offen herausarbeiten. Vergleichend hat Kuschel erschlossen, wie zentrale Figuren der Religionsgeschichte – Adam, Abraham, Moses, Jesus und Maria – in der hebräischen Bibel, im Neuen Testament und im Koran zur Darstellung kommen und sie in ihrem jeweiligen Resonanzraum interpretiert. So ist etwa Abraham in der jüdischen Tradition zentrale Leitgestalt für die Verheißungen von Volk und Land, als Segensweg für alle Völker. In der neutestamentlichen Tradition begegnet er als Vater des Glaubens besonders bei Paulus und im Hebräerbrief, in der muslimischen Tradition als Kämpfer für die Verehrung des einen Gottes und gegen menschenverachtenden Götzendienst. Es sind verschiedene Perspektiven, die aber nicht im Gegeneinander, sondern im Bezug zueinander gesehen werden können. Dies ist auch der Weg, auf dem ich mich selbst am besten in dem Spannungsfeld von Wahrheitsanspruch und Dialog theologisch verorten kann.

Diese Position deckt sich mit keinem der klassischen Typen des Exklusivismus (außer in der eigenen Religion gibt es kein Heil), des Inklusivismus (in den verschiedenen Religionen gibt es Spuren der Wahrheit, die in der eigenen Religion voll zur Geltung kommen) und des Pluralismus (hinsichtlich der Wahrheit gibt es verschiedene religiöse Wege, die im Wetteifer miteinander Geltung beanspruchen können) – am wenigsten natürlich mit dem Exklusivismus. Herbert Rommel und ich hatten, geübt durch allabendliche Diskussionen bei mir zu Hause, eine sehr lebendige Weise entwickelt, uns gegenseitig die Bälle zuzuwerfen, und wir erhielten immer wieder die Rückmeldung, wie sehr das auch die Studierenden in einen niveauvollen Diskurs hineinführte. In diesem Semester hatte sich endlich auch meine Nachfolge geklärt: Manfred Pirner, bis dahin Professor an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, hatte den Ruf erhalten und erfolgreiche Berufungsverhandlungen geführt. Er brachte alle Voraussetzungen mit, um die Arbeit am Lehrstuhl – in Lehre und Forschung und in vielfältiger interdisziplinärer Zusammenarbeit – erfolgreich fortzuführen. Er war Assistent bei Rainer Lachmann in Bamberg gewesen, hatte bei ihm promoviert und sich habilitiert und kannte von daher die bayerische Religionslehrerausbildung bereits gut. Religionspädagogik und Musik, Religionspädagogik und Medien waren besondere Schwerpunkte seiner Arbeit, und ihm lag sehr daran, das interreligiöse Profil in Nürnberg weiterzuführen und weiterzuentwickeln. Wir wurden bald enge Freunde, was auch für seine Frau Carmen galt, und er bezog mich immer in seine Pläne mit ein. Am 10. Juli kamen abends alle mit dem Lehrstuhl verbundenen Mitarbeitenden mit mir und ihm in unserem Garten in der Viatisstraße zusammen. Sabine war an ihrem ersten Ferientag aus Goslar eingetroffen, und wir konnten uns nicht nur über unsere je besonderen Wege austauschen, sondern auch zusammen singen und musizieren. Vier Tage später gab es dann ein Abschiedsessen mit Herbert Rommel und seinen Mitarbeitern vom katholischen Lehrstuhl, der danach leider auf Grund von Abmachungen zwischen den katholischen bayerischen Bistümern und der Staatsregierung eingespart wurde, obwohl wir viele Anstrengungen unternommen hatten, ihn zu erhalten. Die vor mir liegende vorlesungsfreie Zeit war mit mehreren Vorhaben verplant: Teilnahme am International Seminar on Religious Education and Values (ISREV) in Ankara, wo meine dortigen Freundinnen und Freunde schon auf ein Wiedersehen warteten, Ferien am Lago Maggiore und am 23. August das Hochzeitsfest dort für Luise und Ansgar. Es sollte anders kommen: Am Morgen des 15. Juli fuhr ich – wie fast jeden Morgen in der Sommerzeit – mit meinen Inline-Skatern zum Schwimmen in das nur einen km entfernte Club-Bad des 1. FCN. Die Inliner waren mir 1996 von Susanne und Henrike geschenkt worden, und ich liebte es – von

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meiner Schlittschuh-Erfahrung her geübt – mit ihnen unterwegs zu sein, besonders im Reichswald, in dem es asphaltierte Wege gab. Manchmal kam ich mit ihnen sogar zur Fakultät, von den Studierenden etwas ungläubig angestaunt. Es war immer ohne größere Blessuren abgegangen. An diesem Dienstagmorgen nun war ich meine 1000 Meter zügig geschwommen und startete zurück zur Viatisstraße, freute mich auf das Frühstück mit Sabine, das mich dort erwartete. Um eine unübersichtliche Ecke, für die ich mir eigentlich Vorsicht vorgenommen hatte, bog ich etwas zu schnell. Eine Fahrradfahrerin kam mir entgegen, ich wich aus, flog durch die Luft und landete mit der linken Hüfte auf der Straße. Als ich mich erheben wollte, merkte ich, dass ich im linken Bein keine Kraft hatte. Zwei Mitschwimmer hoben mich vorsichtig auf und setzten mich in das Auto des einen. Wir holten Sabine ab und fuhren auf direktem Weg zur Notaufnahme des Nürnberger Südklinikums. Dort gab es eine lange Wartezeit, bis eine Röntgenaufnahme den Verdacht bestätigte: Oberschenkelhalsbruch! Als ich schließlich in einem Einzelzimmer gelandet war, telefonierte ich mit dem Lehrstuhl, da am Nachmittag in meiner Vorlesung Klausuren geschrieben werden sollten, für die alle Unterlagen vorbereitet waren. Noch am Abend wurde ich operiert: Mit drei Teleskopschrauben und einer Halteplatte wurde mein linker Oberschenkel stabilisiert – und es begann eine längere Genesungs- und Rehabilitationszeit. Mein regelmäßiges sportliches Training kam mir dabei zugute. Es war natürlich ein Segen, dass Sabine ihre ganzen Ferien über bei mir sein, mich besuchen, dann zur Reha fahren und häuslich verwöhnen konnte. Eine Woche vor dem 23. August wurde mir eine Reha-Pause genehmigt, und Sabine chauffierte mich an den Lago Maggiore, damit ich dort die Trauung von Luise und Ansgar halten konnte. Es wurde ein hinreißend schönes Fest, auf dem ich mich mit den Unterarmstützen halbwegs bewegen konnte. 90 Gäste waren angereist, darunter die Cousinen aus Südamerika und Vizesohn Daniel aus Hongkong. Es war möglich, die standesamtliche Eheschließung in der Commune von Germignaga vorzunehmen, und unsere deutsch-italienische Freundin Viktoria Friedrich-Cerinotti übersetzte die sehr persönliche Ansprache der stellvertretenden Bürgermeisterin. Ansgars Vater, von Beruf Landschaftsgärtner, bereitete zusammen mit den Cousinen wunderbaren Blumenschmuck für Kirche und Hochzeitsauto – den 18 Jahre alten Fiat Uno von Viktoria – vor. Als Hochzeitskirche durften wir die romanische Kirche La Canonica San Vittore im Bergdorf Brezzo di Bedero benutzen. Die Trauung war ökumenisch geplant, weil Ansgar aus einer katholischen Familie stammt. Mit dem Priester des Nachbarortes hatten wir den ganzen Ablauf vorbereitet. Nach dem Einzug in die Kirche, bei der mein langjähriger Mitarbeiter und Freund Peter Athmann, Luises Saxophonlehrer,

zur Orgel festlich sein Instrument erklingen ließ, begrüßte er das junge Paar mit den schönen Worten: »Wir Pfarrer beten für die Einheit der Kirche. Ihr könnt sie in eurer Ehe leben!« Als Trauspruch hatten sich Luise und Ansgar ein herausforderndes Ermutigungswort gewählt, das gleich zweimal im Alten Testament vorkommt: als Psalm Davids sowohl im zweiten Samuelbuch, Kapitel 22, als auch in Psalm 18: »Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.« Sie knüpften dabei nicht nur an die Befreiungserfahrungen an, auf die der Psalmbeter sich bezieht, sondern auch an das in ihrem Glauben verankerte Vertrauen, mit dem sie sich in schweren Stunden wechselseitig hatten stützen können. Ich entfaltete das Wort in drei Schritten: »Mit Gott über Mauern springen: Vertraut auf diese alte Glaubenserfahrung! – Mit Gott über Mauern springen: Wagt mutig euren eigenen, unverwechselbaren Weg! – Mit Gott über Mauern springen: Helft Mauern in dieser Welt überwinden!« Symbolisch sprangen sie nach dem Gottesdienst mitten in der großen Hochzeitsgesellschaft gemeinsam von der kleinen Mauer vor der Kirche. Es folgte ein Auto-Corso hinunter zum Ristorante Nadir am See, das den ganzen Tag für uns reserviert war. Im Garten wurden Fotos von einzelnen Gästegruppen gemacht, zu denen sich alle Clowns-Nasen aufsetzten – passend zu Luises Schauspieltätigkeit als Krankenhausclown bei den Roten Nasen. Eine Fahrt über den See nach Cannero mit einer kleinen Combo und Luftballons für die Kinder erfreute die ganze Hochzeitsgesellschaft, und ein Abend mit Tanz rundete den Tag ab, der uns allen fest im Gedächtnis geblieben ist. Im August 2008 war es auch, als Sabine und ich auf die Idee kamen, den 16. Oktober als Datum für die standesamtliche Eheschließung in Nürnberg zu wählen, weil es der Geburtstag unserer Tante Sabine war, durch die wir uns kennengelernt hatten. Er lag auch in Sabines Herbstferien, und wir wollten vorher noch ein paar Tage in Casa Clara sein, um am Ende der Ferien nach Soest zu fahren, wo ich den Tschelebi-Friedenspreis für Verdienste im christlich-islamischen Dialog erhalten sollte. Der Oktober wurde dann aber noch bedeutungsvoller als geahnt. Eine Woche vor unserer Eheschließung erhielt ich per Fax die Nachricht aus der Staatskanzlei in München, dass Bundespräsident Horst Köhler mir das Bundesverdienstkreuz verliehen habe und dass Günther Beckstein, damals Ministerpräsident Bayerns, es mir gern persönlich überreichen würde. Der einzige in Frage kommende Termin war der Tag vor unserer Trauung. So schränkten wir den Ausflug in den Süden auf eine Kurzreise ein und waren rechtzeitig zurück, um am 15. Oktober zusammen mit Henrike, die aus Newcastle bei uns zu Besuch war, nach München zu fahren. Über die neue ICE-Schnellstrecke erreichten wir München in einer guten Stunde. Durch den Hofgarten wanderten wir zur Staatskanzlei, einen genial

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um den Kuppelbau des früheren Armee-Museums gebauten Glaspalast. Die Sekretärin des Protokollchefs erwartete uns bereits. In dessen Zimmer, das mit wunderschönen Museums-Leihgaben ausgestattet war, wurden wir freundlich mit einem Tee empfangen, und Ministerpräsident Beckstein erwartete uns dann pünktlich um 13.15 Uhr in seinem großen Arbeitszimmer, betonend, dass dies zwischen Finanz- und Koalitionsverhandlungen so ziemlich der einzige angenehme Termin des Tages sei. Er trug eine sehr persönliche Würdigung meines interreligiösen Wirkens vor und hatte neben dem Verdienstkreuz für mich auch einen wunderschönen Blumenstrauß für Sabine. Anschließend wurden wir noch durch das ganze Gebäude mit Kabinettssaal und Kuppelsaal geführt. In Nürnberg trafen bald nach unserer Rückkehr Sabines Bruder WolfDieter, ihre Mutter und ihre Tante Gisela ein, die die fünfstündige Autofahrt trotz ihrer 85 und 87 Jahre recht gut überstanden hatten. Sie erfreuten sich sichtlich an meiner Vorführung der Horn-Sammlung und natürlich besonders am Alphorn. Abends stießen dann meine Schwester Christiane (Nane) und Luise zu uns. Unser Hochzeitstag selbst war zwar nicht vom Wetter verwöhnt, aber rundum schön und harmonisch. Im Blumengeschäft Halbig bastelte die junge Floristin eine halbe Stunde lang an dem Brautstrauß, den Sabine sich in blau und weiß gewünscht hat, aber wir starteten dann doch pünktlich um 11 Uhr zum Rathaus, nachdem auch Sabines Schwester Dorothee – zusammen mit Nane unsere Trauzeugin – aus Bad Homburg eingetroffen war, schließlich auch Sabines Goslarer Pastor Reinhard Guischard. Im Standesamt ging alles nett und zügig zu, vielleicht auch, weil wir den letzten Termin an diesem Tage wahrnahmen. Der Hochzeitsraum war geschmackvoll mit einem großen Blumen-Bouquet geschmückt, und der Standesbeamte führte seine Aufgabe ausgesprochen freudig aus. Seine Rede war durchaus auf ein älteres Paar bezogen, dem er wechselseitige Unterstützung und gute Begleitung im Zueinander-Gehören wünschte. Sabine vertat sich nicht bei der Unterschrift mit ihrem neuen Namen, und dann folgte ein ausführliches Beglückwünschen und Umarmen. – Im großen Flur vor dem Hochzeitszimmer steht eine echte Gondel aus Nürnbergs Partnerstadt Venedig, die zu besonders netten Hochzeitsfotos einlud. Für das Mittagessen hatten wir mit dem Restaurant im Heilig Geist-Stift einen historischen Ort gewählt. Fränkische Hochzeitssuppe, Sauerbraten mit Kloß und Blaukraut schmeckten allen offenkundig sehr gut, und so fuhren wir hoch befriedigt zum Ausruhen und zum Nachmittagskaffee in die Viatisstraße. Am übernächsten Wochenende ging es dann nach Westfalen: In Soest erhielt ich den Tschelebi-Friedenspreis für Verdienste im christlich-islami-

schen Dialog. Benannt ist er nach Muhammad Nafi Tschelebi, einem in Berlin lebenden syrischen Staatsbürger und Begründer des Berliner IslamInstituts im Jahr 1927. Verliehen wird er vom Kuratorium des von Mohammad Salim Abdullah gegründeten Zentralinstituts Islam-Archiv Deutschland. Zu meiner großen Freude kam Beyza Bilgin, die Kollegin und Freundin aus Ankara, um die Laudatio zu halten. Der November begann mit dem 20-jährigen Jubiläum der Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden, bei dem wir eine komplette Neuausgabe unserer Broschüre Offene Türen. Religionsgemeinschaften aus Nürnberg und Umgebung, jetzt mit 32 verschiedenen Glaubensgemeinschaften und interreligiösen Gruppen, dazu durchgängig bunt bebildert, vorstellen konnten. An den Schluss der Broschüre haben wir die gemeinsam formulierte Nürnberger Erklärung der Religionen zur Bewahrung des Lebens gestellt, die seither nichts an Aktualität verloren hat: »Wir, Gläubige aus verschiedenen Religionen, sind erschrocken über neu auflebende Fremdenfeindlichkeit, religiösen und nationalen Fanatismus, über Flüchtlingselend und Verarmung in vielen Regionen der Welt und dem gleichzeitig weiter fort­schreitenden Raubbau auf unserem Planeten.   In der Verschiedenheit unserer Bekenntnisse wissen wir uns doch verbunden in der ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ (A. Schweitzer) und in der Suche nach neuer Geschwisterlichkeit. Wir rufen die Schwestern und Brüder in unseren Glaubensgemeinschaften und alle Menschen guten Willens auf:   Wehrt dem Fremdenhass! In der Stadt, von der einmal die Nürnberger Rassegesetze ausgegangen sind, wollen wir ein Zeichen setzen gegen neue Menschenverachtung, dafür, dass Verfolgte und Flüchtlinge eine Heimat finden können.   Haltet eure Hand über die Minderheiten! Erkennt, dass andere religiöse und ethnische Gruppen unter euch Reichtum, nicht Verarmung bedeuten. Die Beschneidung ihrer Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten macht euer Leben ärmer. Unsere Religionen gebieten, was Grundgesetz und Menschenrechte fordern: Schützt den Fremden.   Seid Anwälte der Verfolgten und Unterdrückten überall in der Welt! Gebt euch nicht mit billigen Parolen zufrieden, weckt Verständnis, setzt euch für Gerechtigkeit ein.   Tragt Sorge dafür, dass Kinder in den guten Werten unserer Religionen erzogen und von ihnen geprägt werden! Lasst sie Liebe erfahren und lernen, solidarisch zu handeln, damit sie nicht der Verwahrlosung, dem Drogenkonsum oder auch fanatischen Anschauungen anheimfallen.   Arbeitet gemeinsam daran, die Lebensgrundlagen in unserem Land und auf unserer ganzen Welt zu pflegen! Wehrt der Gedankenlosigkeit und Rücksichtslosigkeit im Umgang mit Tieren und Pflanzen, mit Luft, Wasser und den Böden.   Setzt Zeichen gegen maßlosen Konsum, gegen hemmungslose Raserei auf unseren Straßen, gegen Machbarkeitswahn und unbegrenztes Wachstum. Setzt aber auch Zeichen gegen die

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Vergiftung des Geistes und der Sitten durch Sexismus in den Medien, durch Gewaltvideos oder durch okkulte Praktiken.   Vergesst nicht, dass das Leben eines jeden von uns eine kostbare Gelegenheit ist! Lasst uns wahrnehmen, wie jeder von uns einzigartig ist mit seinen Gaben und Bega­bungen, aber auch mit seinem Bedürfnis nach Liebe und Gemeinschaft. Und gleichzeitig sind wir verbunden mit allem Lebenden, sind beschenkt mit Sonne, Wind und Regen, mit Wachsen und Gedeihen. Im Bewusstsein der ganzen Vielfalt und Schönheit der belebten und doch so bedrohten Welt wollen wir mittragen an der Verantwortung für das Leben um uns und auf der ganzen Erde.«

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Für das eigentliche Hochzeitsfest mit der kirchlichen Trauung haben Sabine und ich uns dann ein Frühlingswochenende ausgesucht: den 2. Mai 2009, einen Samstag in einem verlängerten Wochenende, geeignet für viele anreisende Gäste. Die Trauung sollte in Sabines Kirche St. Peter und Paul auf dem Frankenberge in Goslar stattfinden. Das war gleichzeitig ein Signal für eine grundlegende Entscheidung. Längere Zeit waren wir unsicher, ob wir unseren gemeinsamen Wohnsitz in Nürnberg oder in Goslar nehmen sollten. Beide waren wir ja sehr in den Orten unseres langen beruflichen Wirkens verankert. Wir erkundigten uns auch nach Möglichkeiten für Sabine, als Lehrerin nach Nürnberg zu kommen und besuchten zwei Schulen in Nürnberg, in denen eine Tätigkeit für sie denkbar gewesen wäre, wohl wissend, wie schwierig ein Bundeslandwechsel von Niedersachsen in das begehrte Bayern zu bewerkstelligen wäre. Ich erhielt immerhin einen Brief von Kultusminister Ludwig Spaenle, dass man es sehr schätzen würde, ich bliebe in Bayern, und dass er sich einsetzen würde, wenn es darum ginge, eine Stelle für meine Frau zu finden. Aber ich merkte, wie sehr Sabine mit der schönen Stadt Goslar, ihrer überschaubaren Schule mit nettem Kollegium nach mehr als 30 Dienstjahren verbunden war – und im Gegensatz zu mir ja noch voll im Dienst stand. Außerdem war mir die norddeutsche Landschaft immer sehr heimatlich geblieben. So entschieden wir uns, nach einer Wohnmöglichkeit in Goslar Ausschau zu halten – und uns gleichzeitig für mich um eine bleibende Unterkunftsmöglichkeit in Nürnberg zu kümmern. Der 2. Mai 2009 war ein strahlender Tag von früh bis spät, an dem wir unser Jawort bestätigten. Reinhard Guischard, Pastor in Sabines Gemeinde, leitete in seiner gewinnend freundlichen Art den Gottesdienst, Hans-Wilfried Haase aus Lüneburg hielt mit Humor und Ernst die Trauansprache über Psalm 103, Vers 2: Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Es ist mein Tauf- und Sabines Konfirmationsspruch. Nach den langen Wegen, die wir beide bereits gegangen sind und zu der auch die erfüllte Ehezeit mit Susanne gehört, hatte er für uns eine besonders tiefe Bedeutung. Aus Nürnberg war eigens unser vorzüglicher Posaunenchor angereist. Er blies

zu Eingang und Ausgang die Festmusik von Johann Pezelius und Gottfried Reiche, die ich mir gewünscht hatte, und begleitete die Lieder, die wir sangen. Luise spielte mit ihrem Saxophon ein wunderschönes Adagio von Leonardo Vinci, begleitet von Heidi Brettschneider, unserer Nürnberger Kirchenmusikerin. Die große Festgemeinde an Verwandten, Freunden und Bekannten – von Sabines Mutter bis zum fünfjährigen Enkel Samuel aus Bamberg – folgte uns aus der Kirche, wo Sabines Schulkinder mit einem Rosenbogen auf uns warteten. Und dann pflanzten wir einen Rosenstock, eine schöne Frankenberger Tradition, die von Trauung zu Trauung den Weg hinauf zur Kirche um einen neuen Duft und eine neue Farbe erweitert. Die Kollekte im Gottesdienst haben wir für ein neues Instrument im Gottesdienstsaal der kleinen evangelischen Gemeinde in Luino erbeten. Das dortige alte Harmonium, auf dem ich bei den Gottesdiensten am Lago Maggiore die Lieder begleitete, hatte inzwischen zu viele Registerausfälle. Es kam eine schöne Summe zusammen, und wir konnten im Herbst ein neues Stage Piano – mit den verschiedensten Instrumentaleinstellungen – mit nach Italien nehmen. Abends feierten wir im evangelischen Tagungshaus auf dem Hessenkopf in Goslar: Zwei große Familien- und Freundeskreise, insgesamt 100 Gäste, lernten sich kennen, und unser Posaunenchor gab ein Extra-Konzert mit Volks-, Tanzund Gospelmusik, bei dem ich so begeistert mitspielte, dass eine Verwandte zu Sabine meinte: »Je länger dein Mann mitbläst, desto jünger sieht er aus.« Unser großes Hochzeitsgeschenk, an dem sich viele beteiligten, war eine Kreuzfahrt nach Norwegen, zu der wir mit dem Riesenschiff Costa Atlantica in Sabines Sommerferien von Kopenhagen aus starteten. Wir bewohnten eine Kabine mit Balkon, aus der wir das dunkle Wasser und die Felsenberge um die Fjorde mit ihren Kaskaden zum Greifen nahe sahen, aber auch die Sonnenuntergänge über der Nordsee und bei der Rückreise die Sonnenaufgänge über der norwegischen Küste, die in den hellen nordischen Nächten fast ineinander übergingen. An Bord wurden wir unter den mehr als 2000 meist italienischen Passagieren von morgens bis abends verwöhnt, an Land gab es Ausflüge in die Berge mit atemberaubenden Aussichten, aber auch zu Edward Griegs Haus auf Troldhaugen bei Bergen – einschließlich Lied- und Klavierdarbietungen – und zur fantastischen neuen Oper in Oslo. Dort beeindruckte uns besonders das Museum für die Friedensnobelpreisträger, in dem man sich an aufgestellten Stelen deren Lebensbilder vor Augen führen konnte. Im Herbst 2009 erarbeitete ich ein neues Manuskript. Es hatten sich inzwischen wieder so viele Liedpredigten angesammelt, dass sich die Veröffentlichung in einem weiteren Band lohnte. Ich wollte es gern zu meinem 60-jährigen Posaunenchor-Jubiläum herausbringen, das Weihnachten 2009 anstand. Als Motto wählte ich den Liedbeginn des Paul-Gerhardt-Liedes Ich

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singe dir mit Herz und Mund, das die Grundlage der ersten Predigt bildete. Der zeitliche Rahmen war diesmal noch weiter gefasst als beim ersten Band von 1996. Er reichte von Laudato si nach dem Sonnengesang des Franz von Assisi (1225) bis hin zu Vertraut den neuen Wegen von Klaus Peter Hertzsch, das oft als ›Wende-Lied‹ bezeichnet wurde. Die 18 Predigten wurden in vier Abschnitte gegliedert unter den Überschriften Lob und Dank, Durch das Kirchenjahr, Gott mit uns auf dem Weg und Segen. Das Motiv des Ökumenischen, Entgrenzenden und des ›Hellmachens‹ in dieser oft dunklen Welt ließ sich dabei durchgängig in den Predigten finden. Eine Besonderheit war, dass ich bei allen lebenden Liederdichtern mit diesen persönlich Kontakt aufgenommen hatte, um etwas über die Entstehungssituation und den Hintergrund zu erfahren, der die Autoren geleitet hatte: bei Klaus Peter Hertzsch ebenso wie bei Peter Strauch zu Herr, wir bitten, komm und segne uns, Eckart Bücken zu Ein Licht geht uns auf in der Dunkelheit und Eugen Eckert zu Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott. Von Klaus Peter Hertzsch hörte ich, dass er Vertraut den neuen Wegen zuerst als Lied für eine Trauung gedichtet hatte, für die es sich auch als sehr passend erwies, dass aber dann im Sommer 1989 viele Gäste aus Westdeutschland zu dem Fest nach Jena gekommen waren, die das Lied mitnahmen, wodurch es gleichsam zum Leitmotiv für die Aufbrüche dieses Jahres wurde. Als er dann das Lied als Geschenk an Jürgen Henkys in Berlin zu dessen 60. Geburtstag schickte, sorgte dieser als Mitglied der Gesangbuchkommission dafür, dass es noch als jüngstes Lied in das neue Evangelische Gesangbuch gelangte, nachdem die Arbeit daran eigentlich schon abgeschlossen war. Bei Komm in unsre stolze Welt ging ich nicht nur dem bewegt-beeindruckenden Leben von Hans Graf von Lehndorff, Arzt und Krankenhausseelsorger und Verfasser des Ostpreußischen Tagebuchs, nach, sondern nahm auch mit seinem Sohn Hans Kontakt auf und schickte ihm eine von mir komponierte Melodie zu, zu der ich ihn als Rechte-Inhaber um Einverständnis bat. Ich hatte mit der durchaus originellen Melodie im Gesangbuch immer Schwierigkeiten beim Mitsingen gehabt und mich deshalb sowohl an einer neuen Liedweise als auch an einem Bläsersatz dazu versucht, zu der unsere Nürnberger Chorleiterin Heidi Brettschneider zusätzlich einen weiteren Satz sowie eine Intonation schrieb, mit denen wir das Lied sowohl in Nürnberg als auch in Goslar sangen und begleiteten. Sabine und meine Töchter lasen Korrektur, meine langjährige treue Sekretärin Gertraud Heckel half bei der Druckvorbereitung, und das Ehepaar Helmut und Hedi Seubert übernahmen es mit großer Fantasie, auch diesen Band verlegerisch zu betreuen – einschließlich einer Bildbeigabe mit den Chören der Nürnberger Gemeinde, denen der Band zu meinem Abschied von dort gewidmet war, und Bildern, die in den Predigten besprochen wurden. Einer der ersten sehr einfühlsamen Rezensenten war Franz Peschke,

emeritierter Oberkirchenrat der bayerischen Landeskirche und Oboist in unserem Bläserquintett. Das Buch erhielt viel Resonanz, besonders in Bläserkreisen, aber auch weit darüber hinaus. Anlässlich meines weihnachtlichen Bläser­jubiläums konnte ich dann in der Christvesper nicht nur im Tenor des Posaunenchors mitblasen, sondern als Solist auch die Drei Könige von Peter Cornelius in der Fassung für Horn und Orgel erklingen lassen. Im Monat zuvor hatte ich die Freude, zum vierten Mal Großvater zu werden: Bei Luise und Ansgar in Berlin war am 3. November ein kleiner gesunder Victor angekommen. Ansgar konnte bei Siemens einen dreiwöchigen Urlaub nehmen und begleitete intensiv die ersten Schritte des kleinen Erdenbürgers ins Leben hinein. Im September hatte Luise in ihrem Theater am Schlachthof noch eine originelle Premiere gehabt: Audienz bei Luise heißt das Ein-Frau-Stück, das der Autor Thomas Rau für sie geschrieben hatte, und das – rechtzeitig zum 200. Todesjahr der Königin Luise von Preußen 2010 – in lebendigen, humorvollen wie ernsten Szenen das Leben dieser legendären Königin erzählt. Luise schlüpfte dabei auch in die verschiedenen Rollen, die im Umkreis der Königin wichtig waren, sogar in die des Napoleon, dem die Königin in einer legenden-umwobenen Begegnung entgegengetreten sein soll. Für das Jubiläumsjahr gab es eine Reihe von Verpflichtungen mit dem Stück, u. a. eine monatliche Dinnershow im Opernpalais Unter den Linden, in dem die Königin selbst gelebt hat, während derer Ansgar die junge Mutter entlastete. Einen ganz schweren Verlust mussten wir am Ende des Jahres 2009 noch hinnehmen: Peter Athmann, beseelter Musiker und Saxophonlehrer von Luise, von mir 1982 für die Theologie geworben, sechs Jahre Assistent am Lehrstuhl, erster Koordinator der Peace Education Standing Commission, jetzt Leiter des Bibelzentrums in Nürnberg und mit Teilauftrag Pastor der baptistischen Gemeinde Schwabach, verstarb plötzlich, kurz nach seinem 50. Geburtstag. Noch am Abend, bevor er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hatte er mir – offenkundig schon unter starken Schmerzen – telefonisch aus einem Computer-Zusammenbruch herausgeholfen. Es ist schwer zu sagen, für wie viele Menschen – nicht nur für seine Frau Gabi und die beiden Kinder – er mit seiner Vielfachbegabung Anlaufstelle und seelsorgerlicher Anker gewesen ist. Nicht untypisch ist die Anekdote, die erzählt, wie er nach einer Reise am Hauptbahnhof Nürnberg in ein Taxi stieg, und – nach dem Ziel gefragt – geantwortet haben soll: »Fahren Sie mich irgendwo hin. Ich werde überall dringend gebraucht.« Wir alle am Lehrstuhl, die Baptistengemeinden in Bayern, deren Geschäftsführer er zeitweise war, die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Nürnberg (ACK), als deren Vorsitzender er die Verbindungen zu unserer interreligiösen Arbeit gehalten hatte, konnten es nicht fassen. Theologisch hatte er noch maßgeblich an Gesprächen mit der Evan-

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gelisch-Lutherischen Kirche Bayerns über Verständigungen in der Tauffrage mitgewirkt und sollte darüber auch weiter wissenschaftlich arbeiten. Nicht nur bei meiner Abschiedsvorlesung, sondern auch bei den Gebetsstunden der Religionen für den Frieden – und bei der Hochzeit von Luise und Ansgar in Italien – waren seine Saxophon-Improvisationen geistlich-spirituelle Kleinode, die wirklich einen Horizont von Transzendenz eröffneten. Nun waren wir am 29. Dezember 2009 in der schönen neuen Kirche der Nürnberger Baptistengemeinde versammelt. Den schlichten Holzsarg hatten Peters Kinder angemalt. Es waren so viele, die sich zu Wort gemeldet hatten, dass jeder – auch ich – sich mit einem fünfminütigen Gedenken begnügen musste. Wie Susanne war er ein Mensch, der eine kaum zu füllende Lücke hinterließ. Anfang 2010 erhielt ich eine besondere Einladung: Frank van der Velden, Theologe mit islamwissenschaftlichem Schwerpunkt und Lehrer an der Deutschen Evangelischen Oberschule (DEO) in Kairo, fragte an, ob ich den Hauptvortrag bei einer Festwoche zum zehnjährigen Jubiläum des Schulversuchs Christlich-Islamisch kooperativer Religionsunterricht auf der Oberstufe des Gymnasiums halten könne. Dieser Schulversuch ist ein beispielhaftes Projekt, das am Anfang von muslimischer wie von christlicher Seite aus kontrovers diskutiert wurde, inzwischen aber viel positives Echo erhalten hatte: In jeder Unterrichtsstunde mit der religiös gemischten Schülerschaft ist eine muslimische wie eine christliche Lehrkraft zugegen, und es wird Verbindendes, schwerpunktmäßig Verschiedenes, aber auch Strittiges aus den beiden Religionsgemeinschaften bearbeitet. Als Thema für meinen Vortrag schlug ich vor: Christliche und islamische Religionspädagogik vor globalen Herausforderungen, um die Aufgaben, vor denen christliche wie muslimische Pädagoginnen und Pädagogen stehen, in einen weiten Horizont hineinzustellen. Ich knüpfte an den berühmten Brief von 138 führenden muslimischen Persönlichkeiten an die Repräsentanten des Christentums von 2007 mit seinen drei fundamentalen Aussagen an, dass 1. Christen und Muslime zusammen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung bilden und deshalb die nötige Arbeit für den Weltfrieden nicht ohne eine Verständigung zwischen diesen beiden Religionen gelingen kann, 2. Juden, Christen und Muslime ein großes, gemeinsames Erbe im Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten haben und 3. das Gebot der Nächstenliebe unlösbar verknüpft ist mit der Suche nach Gerechtigkeit und mit Religionsfreiheit. So wenig gerade das Letzte eingelöst ist: Hier liegen Grundaussagen vor, die einen hilfreichen Orientierungsrahmen für alle zukünftigen Dialoge bieten. Christliche und islamische Religionspädagogik stehen damit vor der Aufgabe,

den Schülerinnen und Schülern aus den Grundlagen ihrer Glaubenstraditionen Orientierungs-, Existenz- und Handlungshilfen zu bieten, damit sie den globalen Herausforderungen gerecht werden können. Ihnen korrespondiert eine gesamtpädagogische Perspektive: Nur wenn die Heranwachsenden Achtung haben für ihre Mitmenschen, Verantwortung empfinden für alle belebte und unbelebte Kreatur, wenn sie sensibel sind gegen Hass, Gewalt sowie lebens- und gemeinschaftsfeindliche Entwicklungen, sind sie gerüstet für ein Zusammenleben, das unserem Planeten Zukunft eröffnet. Ich habe daraus drei fundamentale Lernaufgaben abgeleitet: Es geht 1. um ein Identitätslernen im Kontext weltweit gewachsener Pluralität, 2. um ein dialogisches Lernen im Blick auf die Gemeinschaft der Religionen und Weltanschauungen, 3. um ein Kooperationslernen im Blick auf die ›größere Ökumene‹ der bewohnten Erde. Ich konnte dazu gute Beispiele aus der aktuellen Lehrplan- und Schulbucharbeit in Deutschland bringen. Die Tage in Kairo im April 2010 waren eine spannende und hoffnungsvolle Erfahrung, nicht nur durch das positive und konstruktive Echo auf meinen Vortrag, das auch von den Botschaftsvertretungen mehrerer Länder kam, die bei der Festveranstaltung zugegen waren, sondern weit darüber hinaus: Ich konnte mit deutschen und ägyptischen Kolleginnen und Kollegen und einer christlich-islamisch zusammengesetzten Gruppe von Studierenden aus Nürnberg im Unterricht hospitieren und gleichzeitig auf den christlichen und islamischen Spuren in Kairo und im Wadi Natrun mit seinen koptischen Klöstern unterwegs sein. Wie spricht man über gemeinsame und über kontroverse Themen, wenn im Unterricht ein muslimischer und ein christlicher Lehrer, muslimische und christliche Schülerinnen und Schüler zusammen sind? Ich erlebte mit, wie gemeinsam über die Kreuzigung Jesu nachgedacht wurde, die im Koran ja negiert wird: Weswegen ist sie für Christen ein so wichtiges Thema, und was ist das Anliegen im Koran, wenn Jesus vor diesem schändlichen Tod bewahrt wird? Das Gespräch führte anhand guter Texte, u. a. von Hans Küng, über den vordergründig unüberwindbaren Widerspruch hinaus: dass für christliche Überzeugung Gott in Jesus mit dem Weg ins Leiden und Sterben hinein sich der menschlichen Not und Schuld bis zum Letzten aussetzt und das Licht von Ostern dann die große Hoffnungsperspektive aufleuchten lässt. Demgegenüber wird in der koranischen Aussage vor allem betont, dass Gott seinen Gesandten Jesus nicht von den Feinden seiner Botschaft und seines beispielhaften Handelns besiegt werden lässt. Das Ende dieser Festwoche wurde turbulent – und für mich von einem sehr traurigen Ereignis überschattet: Auf Island war ein Vulkan ausgebro-

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chen und brachte die internationale Luftfahrt zum Erliegen. Für die Studierenden bedeutete das eine Woche Verlängerung des Kairo-Aufenthalts. Für mich hatte Frank van der Velden herausgefunden, dass in der Nacht vom 19. auf den 20. April ein erstes Flugzeug wieder nach Deutschland fliegen könne, und einen Platz für mich reserviert. Da erreichte mich im Hotel der Anruf von Sabine mit der erschütternden Nachricht, dass mein Bruder Martin am Morgen des Tages plötzlich verstorben sei. Er hatte zwar schon mehrere Jahre mit einer Herzschwäche zu kämpfen gehabt, war aber gerade in der Woche zuvor noch mit gutem Ergebnis untersucht worden. Mit ihm war ich in ganz enger Beziehung aufgewachsen: Die gemeinsamen ersten Jahre im Pfarrhaus der Großeltern, die Schulzeit, die Leitung der CVJM-Gruppe, Reisen und Studienzeiten haben uns geprägt. Wie ich hatte er Theologie studiert und die Ausbildung bis zum zweiten theologischen Examen abgeschlossen. Gemeinsam hatten wir in einem vom 68er-Aufbruch geprägten Arbeitskreis für Verantwortung in Kirche und Gesellschaft mitgewirkt. Er hatte dann noch Politologie studiert und ist auf diesem Wege schließlich Akademischer Direktor für Soziologie an der Universität Hannover geworden, ein von allen Seiten wegen seines unermüdlichen Engagements vor allem in der Hochschulreform geachteter Dozent. Wir hofften jetzt, quasi in Nachbarschaft – mit seiner Frau Inge lebte er in Hildesheim – wieder mehr miteinander unternehmen zu können. Nun galt es, Abschied zu nehmen, mit Inge, den in Hamburg und Bremen lebenden Kinderfamilien und einem großen Familien- und Freundeskreis. Martins Freund Dieter Zinßer hielt die Trauerfeier, bei der wir die Lieder mit dem Familien-Posaunenchor begleiteten, zu der die Schwester Christiane extra Unterstimmen-Sätze besorgt hatte, da uns nun Martin mit seiner Trompete fehlte. Unsere Schwägerin Inge geht seitdem tapfer ihren Weg, begleitet von der Familie und vielen Freunden, und hat z. T. Martins Aufgaben übernommen, die er als vorbildlicher Großvater geleistet hat, zudem wirkt sie mit viel Einsatz als Kirchenvorsteherin in ihrer Heimatgemeinde in Hildesheim-Ochtersum. Wie so oft im Leben, lagen in diesen Monaten Abschied und Neubeginn nah beieinander: Am Ostersonntag 2010 taufte ich Luises und Ansgars kleinen Victor in der Samariterkirche in Berlin, die in den Monaten der Wende eine große Rolle gespielt hatte. Der Herr hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Dieser wunderbare Vers aus Psalm 91 begleitete von nun an den kleinen Enkel auf seinem Weg. Zu Pfingsten feierten wir dann Jakobs Konfirmation mit Charlottes Familie in Bamberg. Er hatte nicht nur seinen Konfirmationsspruch selbst ausgesucht (Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst), sondern mit den Eltern auch alles, was

zum Fest gehört, vorbereitet und gestaltet. Im neuen Schuljahr ist er seiner Schwester Angela als Schulsprecher im Gymnasium nachgefolgt. Sabine und ich planten in diesen Monaten meinen Wechsel nach Goslar. Sabines eigene Wohnung am Greifplatz war zu klein für uns beide, und in Nürnberg stand unser voll unterkellertes Einfamilienhaus – alle Räume gut ausgestattet; in einem Kellerraum befanden sich noch große Teile der Bibliothek meiner Schwiegereltern. Nach längerem Suchen fanden wir übers Internet eine Wohnung, in die wir uns gleich verliebten. Sie ist am Claustorwall gelegen, einer breiten Straße am Rande der malerischen Goslarer Altstadt, nahe zum Bahnhof, zum Stadtzentrum, zum bewaldeten Steinberg und zu unserer schönen Frankenberger Kirche, deren Turm vom Wohnzimmererker aus zu sehen ist. Die Häuser rundum stammen großenteils aus der Jugendstilzeit und geben ein abwechslungsreiches Bild ab. Es war ein Glücksfall, die geräumige Wohnung im ersten Stock erwerben zu können; und es gab – altbaugemäß – viel zu renovieren: Fenster, Fußböden, Wände. Natürlich bedeutete es einen großen Schritt, nach 29 Jahren die Viatisstraße 125 in Nürnberg zu verlassen, in die wir 1981 zu fünft eingezogen waren. Was hatte sich da angesammelt! Im August halfen Henrike, Charlotte und Luise, räumten die Haushaltsbestände und die vollen Bücherregale im Keller, packten viele Kisten und überlegten deren Verteilung; dabei tauchten bewegende Familienerinnerungen auf, unendlich viele Briefe und Tagebücher, das älteste von 1798–1816, aus denen wir uns abends vorlasen. Etwa 1000 Bücher verschenkte ich: an das Martin-Luther-Heim in Erlangen mit seinen Stipendiaten aus Osteuropa, an die Theologische Fakultät in Halle, an einen Second Book Shop von Freunden, Bücher meiner Schwiegereltern an zwei junge Archäologinnen. Wir konnten das Haus an eine nette Arztfamilie aus unserer Kirchengemeinde verkaufen. Für künftige Nürnberg-Aufenthalte war es möglich, im Haus unserer Freundin Eva Keßler Quartier zu nehmen. Im Jahresverlauf gab es noch wichtige Verpflichtungen für Sabine und mich. Gemeinsam erlebten wir den Ökumenischen Kirchentag in München. Wir erfuhren wieder, wie bereichernd es sein kann, so vielen Menschen zu begegnen, die geistlich mit uns auf dem Weg sind. Ich leitete das Podium des Runden Tisches der Religionen in Deutschland, bei dem das Manifest Vertrauen schaffen – Vertrauen wagen, das ich im Wesentlichen entworfen hatte, vorgestellt und erörtert wurde. An zentraler Stelle heißt es: »Alle Religionsgemeinschaften sind herausgefordert zu einer neuen Ehrlichkeit im Dialog, zur Bereitschaft, auch kritische Fragen zu hören und sich selbstkritisch zu prüfen.« Das haben Vertreter des Judentums, des Christentums, des Islam, des Buddhismus und der Baha’i-Religion gemeinsam hervorgehoben – eine Aufgabe, an der unverändert viel zu arbeiten ist.

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Nach einem diesmal kurzen Urlaub in unserer Casa Clara am Lago Maggiore flogen wir im Juli für zehn Tage nach Ottawa, in die grüne Hauptstadt Kanadas, die uns mit ihrer Flusslandschaft und den fantastischen Museen, in denen die ganze Kultur und Geschichte des Landes lebendig wird, sehr gefiel. Dort trafen sich Religionspädagogen weltweit zum International Seminar on Religious Education and Values, und ich referierte über Jesus breaking limits – the Relevance of the Gospel for religious freedom and interreligious learning (Jesus überschreitet Grenzen – die Bedeutung des Evangeliums für Religionsfreiheit und interreligiöses Lernen) – den zentralen Inhaltspunkt meiner eigenen Religionspädagogik. Im Herbst mussten Sabine und ich dann gleichzeitig eine große Aufgabe bewältigen – nur eine Woche vor unserem Umzug: An der Goetheschule in Goslar wurde eine Schulinspektion durchgeführt, bei der die Führung der Schule, die Unterrichtsplanung, der Umgang mit den Eltern, den Schülerinnen und Schülern und der konkrete Unterricht evaluiert wurden. Da Sabine kommissarisch die Stelle der Konrektorin wahrnahm, war sie doppelt gefordert. Mit dem Schulleiter, mit dem sie sehr gut zusammenarbeitete, den Kolleginnen und Kollegen hatte sie sich intensiv darauf vorbereitet und war drei Tage lang für das Inspektoren-Team präsent, das schließlich der Schule ein erfreuliches Zeugnis ausstellte, besonders für das Schulklima und die Kooperation mit Kindertagesstätten. Wegen der Schulinspektion konnte Sabine nur zum letzten Tag des zehnten Nürnberger Forums anreisen, das ich mit Manfred Pirner, Werner Haußmann und dem engagierten Lehrstuhlteam vorbereitete und durchführte. MedienMacht und Religionen – Herausforderung für interkulturelle Bildung war das Thema, worüber im nächsten Kapitel noch ausführlicher zu berichten sein wird. Nach dem sehr anstrengenden Doppelumzug war Karl Ernst Nipkow unser erster Gast, weil er bei einer Tagung auf dem Hessenkopf einen Vortrag zu halten hatte. Er wunderte sich, dass überall noch unausgepackte Kisten standen, da für seinen Umzug von Tübingen nach Marburg seine Kinder alles zügig hatten erledigen können. Als Weihnachten 2010 unsere Wohnräume dann endlich kistenfrei waren, genossen wir sehr bewusst die hohen, hellen Räume mit Blick in das Grün eines leicht ansteigenden Gartens, und freuten uns über nette Nachbarn unter und über uns. In Goslar fand ich sehr schnell Anschluss an das kirchliche Leben: bei Gottesdienstvertretungen in verschiedenen Stadtteilen und im Posaunenchor der Frankenberger Kirchengemeinde, dessen Mitglieder meist in meinem Alter sind, der von der Kirchenmusikerin Annette Krieger engagiert geleitet wird und Gottesdienste mit Bläserklang verschönt. Immer wieder fand ich auch Gelegenheit, als Solist vor allem barocke Musik mit Orgelbegleitung aufzuführen.

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 Medien und Menschenrechte als Herausforderung für interreligiöse Bildung

Das zehnte Forum 2010 · Schulbuch-Standards · Friedenspädagogik in Nahost · 70. Geburtstag · Gebetsstunde 2011: Terrorismus hat keine Religion! · Lehraufträge in Halle und Hildesheim · Elftes Forum: Menschenrechte, mit Heiner Bielefeldt

Für das zehnte Nürnberger Forum haben Manfred Pirner und ich überlegt, wie wir unsere besonderen Erfahrungen für ein aktuelles Thema zusammenführen könnten: Da legte sich die Verbindung von Medien und interreligiöser Bildung nahe: Er hatte sich über Fernsehmythen und religiöse Bildung habilitiert und mit weiteren Arbeiten zur Medienbildung profiliert, ich konnte die vielfältigen internationalen und interreligiösen Verbindungen einbringen, die sich im Laufe der Nürnberger Foren ergeben hatten. Medien-Macht und Religionen als Herausforderung für interkulturelle Bildung wurde das Thema und das Motto. Dabei leitete uns die Einsicht, dass Medien in zunehmendem Maße das Bild der Religionen und Kulturen in der Öffentlichkeit prägen. Häufig ist dieses Bild einseitig und negativ. So erscheint etwa in westlichen Medien der Islam oft als aggressive Religion, in islamisch geprägten Ländern ist demgegenüber vom ›dekadenten Westen‹ die Rede. Aber auch Hindu-Fanatiker und ultraorthodoxe Juden sorgen für Schlagzeilen. Manchmal, wie z. B. im Fall der Mohammed-Karikaturen, wurden und werden Medienberichte sogar zu Auslösern handfester ›religiös motivierter‹ Konflikte über Ländergrenzen hinweg. Aufklärung über die meinungsbildende Macht der Medien und kritische Auseinandersetzung erscheinen vor diesem Hintergrund dringend geboten. Andererseits konnten wir beobachten, dass in Europa und darüber hinaus ein verstärktes Bemühen der öffentlichen Medien erkennbar ist, über Religionen authentisch zu informieren. Es werden Gespräche über sie initiiert, um zur Verständigung zwischen unterschiedlichen weltanschaulich-­ religiösen Positionen beizutragen. Interreligiöse und interkulturelle Themen sind Gegenstand von Kinofilmen, Fernsehserien oder populären Büchern, die von Millionen von Menschen wahrgenommen werden. Populäre Medien können sogar als gemeinsamer Bezugspunkt der interkulturellen und interreligiösen Verständigung dienen. Aktive Partizipation von Heranwachsen-

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den wie Erwachsenen an der Medienkultur wird damit zu einer wichtigen Aufgabe von Bildung. Hinzu kam die Erkenntnis, dass Medien in einem weiten Sinn für Religionen von jeher unverzichtbar sind: Die überweltliche Wirklichkeit kann nur in Bildern und Symbolen sinnlich wahrnehmbar gemacht werden, und die Überlieferung religiöser Traditionen ist in den großen Weltreligionen ohne die Medien Schrift und Buch nicht denkbar. Von daher sind Medien als Mittler gerade auch für interreligiöses Lernen sowie für eine Weltreligionendidaktik konstitutiv. Ein besonderes, auch theologisch relevantes Spannungsfeld ergibt sich durch das Bilderverbot im Judentum, in den reformierten Kirchen und im Islam. Nicht zuletzt ergeben sich aus ethischen Grund­sätzen der Religionen Maßstäbe für verantwortungsvollen Umgang mit Medien und für die Verpflichtung auf eine Kultur der Wahrhaftigkeit, wie es in der Erklärung zum Weltethos artikuliert wird. Mit dem zehnten Nürnberger Forum 2010 wollten wir uns den vielfältigen Herausforderungen in diesem Bereich stellen und weiterführende Perspektiven entwickeln. Dazu wollten wir nicht nur in bewährter Weise Persönlichkeiten aus verschiedenen religiösen und weltanschaulichen, politischen und bildungsmäßigen Kontexten international zusammenführen, sondern auch Vertreterinnen und Vertreter aus dem Bereich der öffentlichen Medien, der Medienpädagogik sowie der Medienpolitik beteiligen. So wollten wir Impulse für die wissenschaftliche Forschung und die gesellschaftliche Diskussion ebenso geben wie für die praktische interreligiöse und interkulturelle Dialog-, Medien- und Bildungsarbeit. Wir hatten das bayerische Fernsehen dabei, das den Eröffnungsvortrag von Norbert Schneider, Direktor der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen, aufnahm. Zusammen mit der anschließenden Podiumsdiskussion – mit Rabbinerin Elisa Klappheck, dem evangelischen Regionalbischof Stefan Ark Nitsche, Erzbischof Ludwig Schick von Bamberg und Bekir Albog˘a als Dialogbeauftragten des muslimischen Dachverbandes DITIB, von politischer Seite Stéphane Beemelmans als Staatssekretär im Innenministerium – wurde er später komplett ausgestrahlt. Schneiders Beitrag war ein Plädoyer dafür, gerade auch das Fernsehen für interreligiöse Kommunikationsprozesse verstärkt zu nutzen. Nötig wäre ein professionellerer Umgang mit den Strukturen gerade dieses Mediums, um den verbreiteten Negativdarstellungen eine andere, konstruktive Sicht entgegenzustellen. Bei der Frage nach dem Spannungsfeld von Bilderverbot und Bilderkult in den Religionen – dem zweiten Themenbereich – kamen Juden, Christen, Muslime und Buddhisten zu Wort. Jonathan Magonet/London aus jüdischer, Saeid Edalad Nezhad/Teheran aus muslimischer Sicht machten deutlich, dass es auch in diesen Religionen mit einem ausdrücklichen

Bilderverbot nicht um eine vordergründige Totalablehnung bildlicher Darstellungen geht, sondern dass damit im tieferen Sinn die Abwehr der Verdinglichung und Funktionalisierung des Transzendenten gemeint ist, das damit menschlicher Verfügbarkeit dienstbar gemacht wird. Der Wert von Bildern und Symbolen zeigt sich aus Sicht der Religionstraditionen darin, die transzendentale Wirklichkeit der menschlichen Wirklichkeit näher zu bringen und begreifbar zu machen. Für Andacht und Frömmigkeit, aber auch für die pädagogische Aufgabe sind sie letztlich schwer verzichtbar, und sie haben ganzen Kulturepochen ihr unverwechselbares Gesicht gegeben. In einem dritten Themenbereich wurde nach Medienethik im Kontext religiöser Pluralität gefragt. Thomas Hausmanninger/Augsburg umriss als allgemeine Zielnorm, dass alle Strukturen und alles individuelle Handeln im Bereich der medialen Kommunikation der Ermöglichung, Wahrung und Förderung eines moralisch guten und gelingenden Lebens von Menschen zu dienen habe. Heiner Bielefeldt ging von der Debatte um Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab und dem damit verbundenen ungeheuren medialen Erfolg aus und erläuterte die unmittelbare Zusammengehörigkeit von Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit an vielen Beispielen, die er als UNOSonderbeauftragter für Religions- und Gewissensfreiheit studieren konnte. – Im vierten Themenbereich, in dem es um Medien und interreligiöses bzw. interkulturelles Lernen ging, wurde ein breites Spektrum an grundlegenden Perspektiven und an praktischen Erfahrungen zusammengetragen. Manfred Pirner zeigte auf, dass die Medienthematik in der Didaktik der Weltreligionen bislang zu sehr auf den funktionalen Gebrauch didaktischer Medien verengt war und dass hier viel konstruktiver und auch kritischer die Erfahrungswelt der Kinder mit der Medienwelt, in der sie aufwachsen, zu bearbeiten wäre. Einen besonderen Stellenwert erhielt das anschließende Symposium zur interreligiösen Schulbuchforschung. Es war uns gelungen, Kooperationspartner aus den Ländern, in denen wir das Forschungsprojekt Die Darstellung des Christentums in Schulbüchern islamisch geprägter Länder durchgeführt hatten, einzuladen: aus der Türkei, dem Iran, Ägypten, Palästina, Jordanien, dazu Experten aus Österreich, der Schweiz, Großbritannien, Griechenland und Südafrika. Die Idee war, vor dem Hintergrund unserer Forschung und neuerer Entwicklungen in den verschiedenen Ländern Standards für interreligiöse Schulbuchforschung und -entwicklung zu formulieren und genauer zu beschreiben. Ich hatte eine Vorlage erstellt, die intensiv diskutiert, korrigiert und ergänzt wurde und schließlich die Zustimmung aller Symposiumsteilnehmer fand. Es sind insgesamt neun Punkte, in denen die Notwendigkeit und die Aufgabenstellung in dem jeweiligen Inhaltsbereich dargestellt wurden; wir haben sodann vorhandene Problembereiche artikuliert und schließlich Standards

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formuliert, deren Zielrichtung, die im Original differenziert begründet wird, ich hier kurz umreißen möchte: 1. »Authentische und fachlich fundierte Darstellungen bieten«: Standard sollte hier werden, dass sich Schulbuchautorinnen und -autoren an fundierten Eigendarstellungen aus den Religionen, aber gleichermaßen auch an religionswissenschaftlich zuverlässigen Darstellungen orientieren. 2. »Eine Theologie im Dialog entwickeln«: Standard sollte hier werden, die Schulbucharbeit an die grundlegende Reflexionsarbeit in den Religionen (ihre ›Theologie‹) wie auch an die religionswissenschaftliche Forschung anzubinden. 3. »Religionen in ihrer Lebensbedeutung für konkrete Menschen darstellen«: Standard sollte hier werden, den ›Sitz im Leben‹ einer Religion bzw. ihrer Elemente exemplarisch an anschaulichen Beispielen konkreter, durchschnittlicher, am besten auch jugendlicher Menschen zu verdeutlichen. 4. »Ein differenziertes Geschichtsbild vermitteln«: Standard sollte hier werden, dass – ohne die Konfliktgeschichte zu vernachlässigen – die kulturellen Leistungen und die wechselseitige Befruchtung der Religionen gewürdigt werden. Sorgfältiger Umgang mit den Quellen und ein Perspektivenwechsel in der Sichtweise sind dazu nötig. 5. »Das kulturelle Erbe und die Kontextualität der Religionsgemeinschaften berücksichtigen«: Standard sollte hier werden, die kulturelle und sozial prägende Wirksamkeit der verschiedenen Religionen in die Schulbücher aufzunehmen, besonders auch die der Minderheiten im jeweils eigenen Land. 6. »Mit den Themenbereichen Mission, Toleranz, interreligiöser Dialog aufgeschlossen umgehen«: Standard sollte hier werden, neben der Darbietung der jeweiligen Heilsbotschaften der Religionen die Geschichte des interreligiösen Dialogs und interreligiöser Begegnungen darzustellen – mit ihren wegweisenden Signalen und Erklärungen. 7. »Gemeinsamkeiten in der Ethik herausarbeiten«: Standard sollte hier werden, die Wege zu verbindenden ethischen Grundüberzeugungen der Religionen – bei Achtung der verschiedenen Begründungen – auch in Schulbuchdarstellungen sichtbar zu machen. 8. »Die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler in ihrer Bedeutsamkeit für deren religiöse Bildung ernstnehmen«: Standard für die Schulbücher sollte hier sein, dass Kinder und Heranwachsende selbst im Blick sind mit ihren Interessen, ihren Fragen nach Orientierung, nach Lebenssinn, Glaube und verantwortlichem Handeln. Die Begegnung mit der Welt der Religionen sollte die Fragehaltung der Schülerinnen und Schüler, ihre Neugier, ihr Lernen an Symbolen, ihre Empathie, aber auch ihr kritisches Denken und Unterscheiden fördern.

9. »Religionen lebendig, altersgemäß darstellen«: Standard sollte hier sein, das Feld der Religionen altersgemäß im Sinn aufbauenden Lernens zu gestalten: von einer elementaren, den Erlebniswelten der Kinder nahen eröffnenden Erschließung hin zu größeren Zusammenhängen. Dabei sind die kognitive, die existentielle und die soziale Bildung gleichermaßen im Blick zu behalten. Lernen in der Begegnung, das heute an vielen Orten unmittelbar möglich ist, sollte angebahnt werden, ebenso die Erschließung der kulturellen Erscheinungsformen und Leistungen der Religionen. Es ist klar, dass diese Standards so herausfordernd wie weitreichend sind und sich weder einfach noch kurzfristig umsetzen lassen. Bei ihrer Veröffentlichung haben wir ausdrücklich angemerkt, dass diese Standards Resultat eines interreligiösen internationalen Konsultationsprozesses sind, bei dem trotz der Vielfalt der Gesprächsebenen die sehr verschiedenen Religions-, Kultur-, politischen und pädagogischen Kontexte nur begrenzt im Blick sein konnten. Wir haben betont, dass sie nicht einfach deduktiv in die Praxis umzusetzen sind, sondern dass es dazu vertiefender Reflexion unter der genauen Beachtung der jeweiligen Kontexte und praktischen Bedingungen bedarf. Und doch ist erstaunlich, dass sie religions- und länderübergreifend gemeinsam formuliert werden konnten und von ganz verschiedenen Seiten nachgefragt und weitergegeben wurden.16 Ebenso erstaunlich und gleichsam wie ein Aufbruchssignal zu dem sogenannten arabischen Frühling, der inzwischen leider weitgehend neuem Frost gewichen ist, war ein friedenspädagogisches Fachsymposium, zu dem ich Ende November 2010 nach Amman reiste. Das an der Theodor-SchnellerSchule eröffnete pädagogische Zentrum veranstaltete es zusammen mit dem Tübinger Institut für Friedenspädagogik und Expertinnen und Experten aus den Bereichen Theologie, Friedenspädagogik, schulische und außerschulische Bildung, Humanwissenschaften, Sozialarbeit und dem Entwicklungsdienst. Sie kamen aus Jordanien, dem Libanon, Deutschland und der Schweiz. Miteinander leben im Nahen Osten war das hoffnungsvolle Motto. Seele des Ganzen war Musa Al Munaizel zusammen mit Uli Jäger, dem Ko-Direktor 16 So vom Georg-Eckert-Institut in seinen Studien zur internationalen Bildungsmedienforschung Bd. 132 (K. Spenlen/S. Kröhnert-Othmann (Hg).: Integrationsmedium Schulbuch. Anforderungen an Islamischen Religionsunterricht und seine Bildungsmaterialien. Göttingen 2012, 199–212 – mit der Zusage der Institutsdirektorin Simone Lässig, sie international bekannt zu machen – und der Zeitschrift European Judaism Vol. 46, Nr. 1, Spring 2013, 15–25. Außerdem in M. Pirner/J. Lähnemann: Media Power and Religions. The challenge facing intercultural learning. Frankfurt/M. 2013, 147–159. Die Standards wurden außerdem von Khairallah Assar ins Arabische übersetzt und sind damit auch in der arabischen Welt verfügbar.

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des Tübinger Instituts für Friedenspädagogik. Musa Al Munaizel, DeutschJordanier und Dozent für Psychologie und Pädagogik in Würzburg, war im Rahmen eines von der EU geförderten Projekts an die Theodor-SchnellerSchule entsandt worden, um die Lehrkräfte, die Erzieherinnen und Erzieher im Blick auf die oft traumatischen Erfahrungen, die die Schülerinnen und Schüler in die Schule mitbrachten, zu beraten und Fortbildungen zu gewaltfreier Pädagogik auch über die Schule hinaus in Jordanien anzubieten. Die Lehrerinnen und Lehrer der Schule brachten sich auch mit ihren konkreten Erfahrungen in das Fachsymposium ein. Es wurde eine Pilotarbeit vor allem auch durch die interdisziplinäre Verknüpfung: Grundlagen zur Konfliktbearbeitung wurden in Beziehung gesetzt zu Aufgaben des interreligiösen Dialogs, zur Gewaltprävention in Schule und Ausbildung sowie zur Friedenspädagogik im außerschulischen Kontext. Besonders für die Kolleginnen und Kollegen aus Jordanien und dem Libanon war vieles herausfordernd und neu – als Lehrkräfte in Schulen, in denen noch wenige Jahre zuvor körperliche Strafen zur Disziplinierung eingesetzt wurden und der absolute Respekt vor den Pädagogen erwartet wurde. Die Förderung von prosozialem Verhalten, die Förderung eines kompetenten Umgangs mit Konflikten und – was in den von Religionsgemeinschaften getragenen Schulen besonders evident ist – die Offenheit für die Lebenswelt und die Religion der anderen sind Elemente, die ineinander greifen sollten. Gemäß der jordanischen Verfassung, die der christlichen Minderheit alle Rechte der Beteiligung am politischen und sozialen Leben einräumt, wird in der Theodor-Schneller-Schule christlicher und muslimischer Religionsunterricht für die entsprechenden Schülergruppen konfessionell erteilt. Es gibt aber regelmäßige inhaltliche Absprachen zwischen dem islamischen Religionslehrer und der christlichen Religionslehrerin und ein wechselseitiges Zu-Gast-Sein bei der jeweils anderen Gruppe. Als Vorstandsmitglied des Evangelischen Vereins für die Schneller-Schulen kam mir dann die ehrenvolle Aufgabe zu, bei der Eröffnung eines neuen Internatsgebäudes, in das erstmals Mädchen aufgenommen wurden – ein Schritt, für den sich vor allem Susanne im Vorstand immer wieder eingesetzt hatte –, das Band vor dem Eingang symbolisch zu durchschneiden. Wir mussten allerdings bald feststellen, dass der local board, der sich aus Honoratioren in Amman zusammensetzt und im Auftrag der Jerusalemer Episcopal Church als der Trägerkirche der Schule die Arbeit vor Ort begleiten soll, wenig übrig hatte für die ›moderne‹ Pädagogik, für die Musa Al Munaizel sich einsetzte, und einer Verlängerung seiner Beauftragung nicht zustimmte. Gleichwohl hat Musa Al Munaizel auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland, zusammen mit Uli Jäger, auf Wunsch jordanischer Erzie-

hungseinrichtungen immer wieder Fortbildungen im Pädagogischen Zentrum der Theodor-Schneller-Schule in Amman durchführen können. Das Jahr 2011 war dann – neben der Druckvorbereitung des Forumsbandes Medien-Macht und Religionen, der anschließend bei Peter Lang auch auf Englisch erscheinen konnte – vor allem von aktuellen Vorhaben in Nürnberg und dann auch in Norddeutschland bestimmt sowie vom vielfältigen Feiern meines 70. Geburtstags. Religionen vor Ort hieß die Lehrveranstaltung, die ich im Sommersemester 2011 anbot, bei der viele Studierende von dem in Nürnberg gewachsenen interreligiösen Netzwerk profitieren konnten. Sie sollten die religiöse Pluralität in Direktbegegnungen erschließen und erfahren: eine Stadt, in der es neben den beiden großen Kirchen – ca. je 170.000 Lutheraner und Katholiken – inzwischen 30.000 Muslime gibt, 2000 Juden, etwa 5000 orthodoxe Christen, die Reformierte Kirche, die Altkatholische Kirche und verschiedene evangelische Freikirchen; dazu kommen Mormonen, Adventisten, Baha’i, buddhistische Gruppen und ein Hindu-Tempel. Wir besuchten die rumänisch-orthodoxe Kathedralkirche, eingerichtet in einem ehemaligen evangelischen Gemeindehaus, mit Kuppel und Ikonen ausgestaltet, und ihren Erzbischof, Metropolit Serafim. Ebenso besuchten wir die muslimische Begegnungsstube Medina, die wieder errichtete Synagoge im Dorf Ermreuth, die evangelisch-reformierte Kirche St. Martha, das buddhistische Zentrum in Fürth. Mit den Studierenden bereitete ich Interviews vor, in denen die Gesprächspartner nicht nur nach der jeweiligen religiösen Grundüberzeugungen gefragt wurden, sondern auch persönlich darstellen konnten, wie sich ihr alltägliches religiöses Leben gestaltete und was ihnen ihr Glaube für ihr Leben bedeutete. Das Gespräch mit Metropolit Serafim mündete in die Abendliturgie in seiner Kirche, bei der er uns in die Lesungen einbezog. Ali Koc, Sprecher der Begegnungsstube Medina, stattete Studentinnen mit Gewändern ihres kleinen orientalischen Museums aus und kleidete einen Studenten als ›Imam‹ ein; im buddhistischen Zentrum wurde uns von einem ehemaligen Mönch die buddhistischmönchische Lebensform geschildert, und wir waren eingeladen, eine Meditation mitzuerleben. Bei einem Sonderbesuch in der in den 80er-Jahren neu aufgebauten Synagoge im Nürnberger Norden erzählte uns der fast 90-jährige Vorsitzende Arno Hamburger die Geschichte der Juden seit dem 13. Jahrhundert – mit den jeweiligen Entwicklungen der Gemeinde, aber auch den Pogromen, der Emanzipation im 19. Jahrhundert und den Schrecken der Nazi-Herrschaft bis hin zur Neugründung der Gemeinde. Da war eine Dreiviertelstunde atemlose Stille in der Seminargruppe. Arno Hamburger war selbst 1922 in einer wohlhabenden jüdischen Familie in Nürnberg St. Johannis geboren, wuchs als Nürnberger Junge auf, erfuhr nach 1933 die zuneh-

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mende Ausgrenzung der Juden und konnte 1939 noch mit einem der letzten Schiffe, das jüdische Kinder transportierte, nach Palästina auswandern. Dort lernte er in einer jüdischen Familie Hebräisch, studierte die Thora, trat dann in die britische Armee ein, die Nazi-Deutschland bekämpfte. Als er 1945 als britischer Soldat nach Nürnberg trampte, fand er dort seine Eltern – lebend – im Leichenhaus des jüdischen Friedhofs versteckt. Sie gehörten zu den zwölf überlebenden Juden in Nürnberg. Die alliierten Luftangriffe, die Nürnberg in Schutt und Asche gelegt hatten, hatten auch die letzten Deportationsunterlagen vernichtet. Zwei Jahre später war Arno Hamburger als Übersetzer bei den Nürnberger Prozessen gegen Nazi-Ärzte tätig, dann übernahm er auf Bitten seines Vaters den elterlichen Schlachthof und begann, die Israelitische Kultusgemeinde aufzubauen. Als jahrzehntelanger SPD-Stadtrat hat er am neuen ›Nürnberg der Menschenrechte‹ mit gebaut, eine ungeheuer starke und doch auch sehr empfindliche Persönlichkeit gegenüber allen ›braunen‹ Erscheinungen. – In der interreligiösen Arbeit gerade vor Ort ist mir immer wieder deutlich geworden, wie wichtig es ist, die Prägungen und Erfahrungen in den einzelnen Glaubensgemeinschaften konkret in den Blick zu bekommen und sensibel damit umzugehen. Mitten in dieses Sommersemester fiel mein 70. Geburtstag. Ich war dankbar, dass ich ihn ohne gesundheitliche Einschränkungen und mitten in mich erfüllenden Aufgaben feiern konnte. Mehreres durfte ich mir dazu wünschen. Das erste war eine Brockenwanderung mit der Familie, für die wir Pfingstdienstag, den 14. Juni – also einen Tag vor meinem Geburtstag – aussuchten. Zu zehnt sind wir hinaufgestiegen – tapfer auch der siebenjährige Samuel. Wir mussten uns gut einpacken gegen den Regen. Aber als wir oben waren, klarte es auf, und wir genossen einen Blick, wie ihn Heinrich Heine schon 1824 in seiner Harzreise beschrieben hat: »Ja, in hohem Grade wunderbar erscheint uns alles beim ersten Hinabschauen vom Brocken, alle Seiten unseres Geistes empfangen neue Eindrücke …« – Für Sabine ist er gleichsam ein Heimatberg, während er mir in den Kinderjahren in meinem Geburtsort Schellerten nur manchmal bei klarem Wetter in der Ferne gezeigt wurde, begleitet von den Worten: »Da sind die Russen« – Sperrgebiet, in das man nicht hinein konnte. Und dabei gab es so viele Brockengeschichten noch vom Urgroßvater Georg Schreiber her, der am Fuß des Berges vierzig Jahre lang Pastor in Altenau war! Das Brockenerlebnis war der Auftakt zu mehreren schönen Feiern in Goslar und Nürnberg – mit dem Höhepunkt des Festaktes im Theatersaal des Nürnberger Campus am 1. Juli. Für ihn hatte ich mir Karl-Josef Kuschel aus Tübingen als Festredner gewünscht, und er kam gern trotz dringender anderer Verpflichtungen. Die Laudatio wollte zu meiner Freude Karl Ernst Nipkow halten. Da kam drei Wochen vor dem Termin die traurige Nach-

richt, dass er einen Schlaganfall erlitten hatte und die Rehabilitation noch längere Zeit brauchen würde. Daraufhin übernahm mein Freund und Kollege Klaus Hock aus Rostock diese Aufgabe. Mit meinen Töchtern Henrike und Charlotte und dem Freund Christoph Zwanzger am Fagott musizierte ich das Concerto a Tre für Horn, Querflöte und Continuo von Georg Philipp Telemann. Es gab sehr originelle Grußworte: Für den Fachbereich Theologie sprach der Neutestamentler Peter Pilhofer und würdigte zuerst meine Dissertation über den Kolosserbrief, auf die er in seinen eigenen Publikationen mehrfach eingegangen war und die er aktuell noch einmal gelesen hatte, bevor er im Auftrag der Universitätsleitung mein Engagement in der Uni-Selbstverwaltung würdigte. Stefan Ark Nitsche, unser evangelischer Regionalbischof, sprach von mir als ›Schrittmacher‹ in der regionalen und überregionalen interreligiösen Arbeit. Metropolit Serafim schenkte mir eine Ikone. Karl-Josef Kuschel hielt seinen Festvortrag über das originelle Thema Jesus hat nie gelacht? Nachdenken über eine Theologie des Lachens in ernster Zeit. Er deckte ungewohnte, humorvoll-ermutigende Seiten des Evangeliums auf. In unserer Korrespondenz ergänzte ich sie mit Beispielen aus den Gleichnissen, in denen Jesus durchaus ironisch und zum Lachen anreizend erzählt hat – z. B. im Gleichnis vom um Mitternacht um Hilfe bittenden Gastgeber. Klaus Hock entfaltete in seiner Laudatio über meine ›sieben Leben‹ nicht einfach die sieben Jahrzehnte, sondern charakterisierte mich als Familienmensch, Musiker, Sportler, Religionspädagoge, Theologe, Dialog-Wegbereiter und Freund. Zum Abschluss blies ich mit dem Alphorn, zusammen mit Henrike auf ihrem Waldhorn, ein Telemann-Duett und sang mit allen einen Kanon. Werner Haußmann hatte organisiert, dass die ganze abwechslungsreiche Feier auf einem Video festgehalten wurde, so dass ich sie immer wieder noch einmal nacherleben kann. In diesem Sommer 2011 jährten sich allerdings auch die Terror-Anschläge vom 11. September 2001 zum zehnten Mal. In unserer Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden überlegten wir: Können wir an diesem Tag ein besonderes Zeichen setzen in unserer Stadt? Wir wurden auf muslimische Jugendliche aufmerksam gemacht, die T-Shirts trugen mit der Aufschrift: Terrorism has no Religion! Befragt nach ihren Motiven, sagten die Jugendlichen: »Wir wollen ein Zeichen setzen gegen Terroristen, die meinen, sie könnten die Religion für sich okkupieren!« Das war das Stichwort für uns: Terrorismus hat keine Religion! Und wir überlegten weiter: Wird eine Moschee bereit sein, Gastgeberin zu sein für eine Gebetsstunde der Religionen? Wird auch ein Vertreter oder eine Vertreterin der Israelitischen Kultusgemeinde dazu in die Moschee kommen? Wie steht es um die verschiedenen christlichen Konfessionen, um Beteiligung von Buddhis-

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ten, Hindus und Baha’i? Und: Finden wir Gebete, Lieder, Texte aus den heiligen Schriften, die unterstreichen können: Terrorismus hat keine Religion!? Es folgten viele Telefonate, Beratungen, eine intensive Quellensuche. Es war ein streckenweise fast abenteuerlicher Weg, aber letztlich doch ein sehr bewegendes und eindrückliches Ereignis, brennend aktuell nach einem neuerlichen Schock im August 2011: Vermeintlich, um das christliche Abendland zu retten, hatte der norwegische Rechtsextremist Anders Behrend Breivik gezielt Jugendliche in einem Feriencamp der sozialdemokratischen Arbeiterpartei umgebracht, zu deren Programm die Verständigung zwischen den Kulturen gehört – wie der 11. September 2001 eine Tat, die unbegreiflich erschien, die nicht nur kriminell war, sondern auch das Bild der Religionen verdüstert hat. Zu der Gebetsstunde lud die große Nürnberger DITIB-Moschee ein. Alle angesprochenen Glaubensgemeinschaften waren vertreten. Eine Christin und eine Muslima lasen aus der Bosporus-Erklärung der Konferenz der Religionen für Frieden und Toleranz vor: »Ein Verbrechen im Namen der Religion ist ein Verbrechen gegen die Religion. Wir lehnen ab, die Grundsätze unseres Glaubens mit falschen Interpretationen und ungehindertem Nationalismus zu korrumpieren. Wir stellen uns gegen jene, die die Heiligkeit des Menschenlebens schänden. …   Wir wollen alle Gläubigen daran erinnern, dass die Heiligen Schriften aller drei monotheistischen Religionen den Frieden als einen höchsten Wert erwähnen: ›Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gotteskinder heißen.‹ – ›Allah ruft alle zum Haus des Friedens. Seine Wege sind die Wege des Friedens.‹«

Zum Abschluss sprach Günther Beckstein für die bayerische Staatsregierung und erinnerte an seinen Besuch der Moschee exakt zehn Jahre zuvor.

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In ihren Herbstferien war ich mit Sabine in Nordengland und Schottland unterwegs. Henrikes Tätigkeit an der Universität Newcastle upon Tyne bot uns einen ›Brückenkopf‹, zu dem wir mit der Autofähre von Amsterdam aus reisten. Wir brachten im Auto noch sechs Kisten voller Bücher aus dem Nürnberger Haus mit. Neben der auch interkulturell relevanten Geschichte – in Newcastle wurde eines der nördlichsten, von römischen Soldaten gestalteten Mithräen gefunden – faszinierte uns die Stadt mit ihren originellen Brücken und ihrer nachindustriell modern gestalteten Architektur. Die anfängliche Sorge, wie wir mit dem Linksverkehr zurechtkommen würden, verflüchtigte sich bald, als wir merkten, wie viel ruhiger und rücksichtsvoller als in Deutschland der Verkehr vor allem in den ländlichen Gebieten ablief und wie gut uns unser Navigationssystem leitete. Wir reisten weiter

zu unseren Freunden Martin und Isobel Prowse nach Castle Douglas im Südwesten Schottlands. Ich besuchte Schottland schon zum neunten Mal, für Sabine war alles neu. Wiedersehen und Neuentdecken in diesem schönen Land hielten sich so die Waage: Mit Martin Prowse pflegte ich unsere gemeinsame Horn-Leidenschaft auf den historischen Instrumenten, die er besitzt. Loch Lomond erlebten wir im vergoldeten Herbstlicht, von Stirling Castle aus blickten wir weit über die Forth-Ebene, St. Andrews’ Kathedralruine sahen wir in flammendem Abendschein. Edinburgh zeigte sich uns mit Burg, National Gallery und Holyrood Castle als charmante Hauptstadt. Nach der Rückkehr stand ich vor neuen Aufgaben: Die religionspädagogischen Kollegen an den Universitäten Halle und Hildesheim, Michael Domsgen und Martin Schreiner, hatten entdeckt, dass ich jetzt in norddeutschen Gefilden wohnte, und wollten mich für Lehrveranstaltungen zur interreligiösen Bildung gewinnen, die bisher in ihren Studiengängen kaum angeboten wurden. Zu beiden Universitätsstädten gab es direkte Zugverbindungen von Goslar aus, bei denen ich auch mein Fahrrad mitnehmen konnte, um vor Ort mobil zu sein. In Hildesheim bestanden auf der Ebene eines Arbeitskreises schon interreligiöse Kontakte, nicht aber an der Hochschule. Bei Halle reizte mich die Arbeit mit Studierenden in einem ostdeutschen Bundesland – und damit aus einem eher nicht religiös geprägten Umfeld. Zudem war dort meine jüngste Schwester Christiane, bislang Lehrerin (auch) für evangelische Religion am katholischen Gymnasium Magdeburg, inzwischen Dozentin im Fach Pädagogik geworden. Sie hatte sich schon an den Nürnberger Foren beteiligt und Lust, das Seminar mit mir zusammen durchzuführen. An beiden Universitäten – und besonders in Halle – musste ich davon ausgehen, dass die Beschäftigung mit den Weltreligionen ebenso wie mit dem Projekt Weltethos für die meisten Studierenden eine Erstbegegnung darstellte. Zusätzlich sollte die pädagogische Dimension in den Blick kommen. Wie ließ sich das sinnvoll zusammenbringen? Ich entschied mich für ein exemplarisches Arbeiten: mit Übersichten, Informationseingaben meinerseits, dann aber auch mit ausgewählten elementaren Aufsätzen von Religions-Insidern wie Jonathan Magonet im Judentum, Klaus Wengst im Christentum, Smail Balic im Islam, Alfred Weil im Buddhismus. Dazu kamen die von Hans Küng inspirierten Broschüren Weltreligionen – Weltfrieden – Weltethos mit ihren Doppelseiten zu den Religionen sowie seine Schemata zu den Paradigmenwechseln in den Religionen. Als ebenso hilfreich und anregend erwiesen sich die Unterrichtsmodelle aus unseren Bänden Unterrichtsprojekte Weltethos und Dein Glaube – mein Glaube, die sämtlich unterrichtlich erprobt waren und komplexe Unterrichtswege darstellten. In Hildesheim hatte ich es mit einer guten Anzahl an kirchlich vorgeprägten Studierenden zu tun, in Ausbildung für das Religionslehramt,

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bei der die Verbindung von theologischer Orientierung und pädagogischer Praxis schon geübt war. In Halle kamen demgegenüber überwiegend Studierende für das Fach Ethik in Sachsen-Anhalt und das in Brandenburg eingerichtete Unterrichtsfach LER – Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde – in das Seminar. Bei ihnen überwog die Neugier und – wie Nevid Kermani es im Blick auf seine Begegnung mit christlicher Kunst ausgedrückt hat – ›ungläubiges Staunen‹ über die religiöse Welt, die ihnen neu begegnete. Mich spornte es an, ihnen dabei ein Stück Entdeckungsfreude zu vermitteln, zu zeigen, wie in den verschiedenen Religionen der Umgang mit fundamentalen Lebensfragen, den Fragen nach dem Woher und Wohin und nach verbindlicher Orientierung zum Handeln zu finden ist und wie aus Glaubenshorizonten, die eine kurzfristige diesseitige Sicht weit überschreiten, Sinn und Halt vermittelt werden kann. Wir konnten eine Moschee besuchen, die stärker von ausländischen Studierenden und einzelnen Wissenschaftlern mit islamischer Herkunft geprägt war als von Arbeitsmigranten, was anspruchsvolle Gespräche ermöglichte. Am Ende des Wintersemesters beteiligten sich die Studierenden daran, mit Postern der Stiftung Weltethos eine Ausstellung aufzubauen und Mitstudierende anderer Disziplinen über das Projekt Weltethos zu informieren. Der Tag der Religionen im Jahr 2011 fand in Hagen statt, in bewährter Weise in Kooperation zwischen dem Runden Tisch der Religionen in Deutschland und der Stadt veranstaltet. Um ihn herum war über mehr als fünf Monate ein dichtes Programm aufgebaut: mit Besuchen, mit Festen, mit Führungen zu Geschichte und Gegenwart der Religionen in der Stadt, mit Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer, mit 88 kostenlosen Gruppenführungen für Schulklassen. Diesmal war ich gebeten worden, den Vortrag bei der zentralen Veranstaltung am 17. November zu halten. Thema: Religionen – Brücken oder Blockaden der Integration? Die vielfältigen Aktivitäten in der Stadt legten eigentlich nahe, ganz positiv von den Brücken zu sprechen. Andererseits war die öffentliche Diskussion stark bestimmt von Thilo Sarrazins im Jahr zuvor erschienenem Buch Deutschland schafft sich ab. Dessen These: Deutschland schafft sich ab, weil es dem Islam, vor allem der Migration aus islamisch geprägten Ländern, Raum gegeben hat und gibt. Die Einwanderer aus der islamisch geprägten Welt seien aufs Ganze gesehen integrationsunfähiger als alle anderen im Ausland beheimateten Gruppen. Auf diese Gruppe seien 70–80 % aller Probleme von Migranten in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt, Transferleistungen/soziale Unterstützung und Kriminalität zurückzuführen. Ich war entfernt davon, seine Analysen und Sorgen insgesamt in den Wind zu schlagen: Deutschland hat ein großes Problem mit seiner zunehmenden Überalterung, mit seiner niedrigen Geburtenrate, mit dem drohenden Mangel an Fachkräften, mit einem überdurchschnittlichen Anteil an Schul- und Ausbildungsab-

brechern bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Und dass es städtische Regionen gibt, in denen sich integrationsferne, parallelgesellschaftliche Strukturen entwickelt haben, ist nicht zu bestreiten. Aber die Faktenauswahl, die Sarrazin getroffen hatte, die Autorinnen und Autoren, auf die er sich berief, waren insgesamt deutlich einseitig. Seine Forderung war eindeutig: Assimiliert euch! Letztlich reihte er sich damit bei denen ein, die den Kampf der Kulturen herbeireden, den clash of civilisations, wie ihn der amerikanische Politologe Samuel Huntington als den eigentlichen Konfliktherd des 21. Jahrhunderts prognostiziert hat. Ich hob demgegenüber hervor, dass das Ziel der Integration deutlich abzugrenzen ist gegenüber Assimilation, der einseitigen Angleichung an eine Kultur. Es geht vielmehr um einen Weg der Begegnung und des Zusammenlebens, in den alle ihre Lebenshintergründe einbringen und entfalten können. Freilich: Grundbedingung bleibt dabei, dass die Grundlagen unserer Verfassung, die plurale Demokratie, dass die Menschenrechte, dass Religions- und Meinungsfreiheit im umfassenden Sinne gewährleistet sind. Ich habe dann Problembereiche aufgelistet, die die Integration erschweren: ȤȤ Problematische Einstellungen zur Demokratie, besonders zur Religionsfreiheit ȤȤ Parallelgesellschaften in Ballungsräumen ȤȤ Konfliktorientierte Berichterstattung in den Medien ȤȤ Absolutheitsbewusstsein in einzelnen Religionsgemeinschaften ȤȤ Pauschalbilder von ›den anderen‹ – auf beiden Seiten ȤȤ Sprachliche Altlasten ȤȤ Bildungsmängel, insbesondere auch in der kulturell-religiösen Bildung ȤȤ Zu geringe Öffentlichkeitwirksamkeit von Religionsforen auf den verschiedenen Ebenen (lokal, Länder, Bund) Sie alle stellen eine Herausforderung für Bildung, Dialog und Kooperation dar. Ich habe dann aber auch bewusst von den Brücken, von guten Entwicklungen gesprochen. Sie in den Vordergrund zu stellen, sie aktiv bekannt zu machen, sie einer breiten Öffentlichkeit als Ermutigung zu unterbreiten, geschieht leider immer noch viel seltener, als die Probleme, die Gefahren, die Befürchtungen hervorzuheben – so wenig diese natürlich verschwiegen werden dürfen. Dazu habe ich internationale Beispiele genannt wie das Zusammenarbeiten der Religionen in Südafrika bei der Überwindung der Apartheid, die Vermittlerrolle des Rates der Religionen in Sierra Leone bei der Überwindung des Bürgerkriegs, die Friedensarbeit der katholischen Gemeinschaft St. Egidio in Mozambique, die Buddhistische Sarvodaya- (Wohlfahrt für alle-)Bewegung in Sri Lanka – und auf das Buch von Markus Weingardt

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Religion Macht Frieden (2007) verwiesen, das systematisch die Fülle solcher Initiativen vorstellt. Für Deutschland konnte ich aufzeigen, dass es eine erstaunliche Fülle an Initiativen gibt, die in dieser Vielfalt 30 Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre, auch wenn ihre Arbeit in der Breite der Bevölkerung oft noch gar nicht angekommen ist. Es gibt: ȤȤ den Interkulturellen Rat Deutschlands, ȤȤ den Runden Tisch der Religionen in Deutschland, ȤȤ die Islamkonferenz, ȤȤ Religions for Peace/Religionen für den Frieden – Basisgruppen in 13 Ballungsräumen, ȤȤ interreligiöse Räte/Foren in vielen deutschen Städten, ȤȤ die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, ȤȤ christlich-islamische Gesellschaften, ȤȤ Dialogbeauftragte der Religionsgemeinschaften, ȤȤ Interkulturelle Pädagogik, Interreligiöses Lernen, Islamischen Religionsunterricht.

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Auf Basisarbeit zielen gemeinsame Aktionen von Zentralrat der Juden, Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen/ACK, Zentralrat der Muslime, DITIB: Lade deinen Nachbarn ein, Weißt du, wer ich bin. An den Schluss stellte ich acht Imperative, die in der ›interreligiösen Szene‹ in Deutschland vielfach aufgenommen wurden: ȤȤ Erneuert euch, modernisiert euch! ȤȤ Überwindet das Pauschaldenken! ȤȤ Führt den Dialog systematisch! ȤȤ Arbeitet zusammen! ȤȤ Tretet füreinander ein! ȤȤ Lasst Selbstkritik ebenso wie wechselseitige Kritik zu! ȤȤ Engagiert euch für umfassende Bildung von klein auf! ȤȤ Denkt global! Welche Beispiele spirituellen, gesellschaftlichen, kulturell und sozial relevanten Wirkens in den Religionsgemeinschaften, gerade auch während des vergangenen Jahrhunderts, zu finden sind, hat mich im Jahr 2012 besonders beschäftigt. In Nürnberg hielt ich mit meinem katholischen Freund und Kollegen Herbert Rommel aus Weingarten zusammen eine Blockvorlesung über Theologinnen und Theologen des 20. Jahrhunderts – von Karl Barth bis zu Dorothee Sölle und Hans Küng – eine wunderbare ökumenische Zusammenarbeit! Und das Jahresthema der Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frie-

den lautete: Propheten, Heilige, Glaubensstifter. Beispielgestalten der Religionen, jeweils präsentiert von Angehörigen der gleichen Konfession wie die vorgestellten Persönlichkeiten: Dietrich Bonhoeffer – evangelisch, der Dalai Lama – buddhistisch, Chiara Lubich – katholisch-ökumenisch, Schalom Ben Chorin – jüdisch, Rabeya von Basra – muslimisch-mystisch, Abdul-Bahá – Baha’i, Martin Luther King – baptistisch, Mahatma Gandhi – Hindu. Wir erfuhren dabei, wie jede dieser Persönlichkeiten aus der Quelle ihres Glaubens gelebt, das konfessionelle Erbe aber mit dem Einsatz für andere und besonders für Schwache und Bedrängte in Richtung einer ›größeren Ökumene‹ entgrenzt hat. Im Sommer hatte ich Gelegenheit, die Bedeutung interreligiöser Bildung im Schulsystem im finnischen Rundfunk zu erläutern. Wir reisten nach Turku, wo in diesem Jahr das International Seminar on Religious Education and Values/ISREV tagte – ein Wiedersehen mit vielen Kolleginnen und Kollegen weltweit –, bei dem ich die Standards for Interreligious Textbook Research and Development vorstellte und von der finnischen Journalistin und religionspädagogischen Kollegin Heidi Rautionmaa interviewt wurde. Die Reise war eingerahmt von je anderthalb erholsamen Fährentagen und einer Autofahrt über die reizvolle Inselwelt vor Turku, in der die Schären miteinander durch unentgeltlich zu benutzende Fähren verbunden sind – ein Wiedersehen 50 Jahre nach meiner Trampreise durch dieses gastfreundliche Land zusammen mit meinem Studienfreund Harald Hahne. Am stärksten bewegt hat uns 2012 aber eine Herbstreise mit einer kulturell, archäologisch und ethnologisch interessierten Gruppe unter der Leitung des Kleinasien-Experten Wolfgang Dorn in die zentrale und östliche Türkei, an der auch unsere Schwägerin Inge teilnahm: eine Reise in die persönliche Vergangenheit wie in die Vergangenheit der antiken und mittelalterlichen Kulturen und gleichzeitig eine Reise in ein Land, das jetzt den Eindruck erweckte, sich positiv in die Moderne hinein zu entwickeln. In der Nachbarschaft tobte zwar schon der syrische Bürgerkrieg, und einige Freunde warnten uns, weil die Reise bis wenige Kilometer vor die syrische Grenze führte; aber in der Türkei waren die Verhältnisse hinreichend stabil, auch in der Kurdenpolitik gab es verheißungsvolle Ansätze. Wir konnten in Ankara Cemal Tosun und Beyza Bilgin besuchen und uns über die Weiterentwicklungen in der Religionspädagogik dort und deren internationalen Dialog austauschen. Und dann konnte ich Sabine zeigen, wovon ich ihr schon viel erzählt hatte: die Ausgrabungen meiner Schwiegereltern Dörner in dem antiken Königreich Kommagene, den Götterberg des Nemrud Dagh und die wiederentdeckte Residenz Arsameia mit der berühmten Kultinschrift von A ­ ntiochus I. Natürlich sprachen wir auch von dem Verlobungsfest mit Susanne, zu dem ich im Jahr 1965 mit meinem Bruder Martin gereist war. Wir

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konnten gemeinsam hinaufsteigen zu der 2150 m hoch über dem Euphrat gelegenen Grabpyramide des Königs. Die Abendsonne beschien die gigantischen Götterköpfe der Westterrasse und tauchte alles in ein märchenhaftes Licht; in der Ferne blinkte tief unten der Atatürk-Stausee am Euphrat. Nach einer kurzen Nacht fanden wir uns im Morgengrauen wieder ein. Wir sahen den Sonnenball aufsteigen und die Gesichter von Zeus-Oromasdes, Apollon-Mithras sowie der Landschaftsgöttin Kommagene gleichsam ›aufwecken‹. Am Abend blies ich auf meinem kleinen Horn den Triumphmarsch aus Aida und eine türkische Volksliedmelodie, zu der die türkischen Gipfelbesucher begeistert zu tanzen begannen, am Morgen aber Morgenglanz der Ewigkeit, das Lied von Christian Knorr von Rosenroth, das mit seinen für das Gotteslob gewählten Bildern gleichsam die Kulturen übergreift. Im Winter 2012/2013 begann die intensive Vorbereitung des elften Nürnberger Forums. Die Thematik Menschenrechte und interreligiöse Bildung lag für uns in mehrfacher Hinsicht nahe: Die Stadt Nürnberg bemühte sich schon lange, sich als Stadt der Menschenrechte zu profilieren. Sichtbar wird das in der ›Straße der Menschenrechte‹ am Germanischen Nationalmuseum – nach einem Entwurf des israelischen Künstlers Dani Karavan: mit 27 weißen Säulen von acht Metern Höhe, zwei Bodenplatten und einem Torbogen. Auf jeder der Säulen ist ein Menschenrecht eingraviert – in Deutsch und dann je in einer anderen Sprache. Diese Straße ist sowohl eine Anklage gegen die Verbrechen der Nationalsozialisten als auch eine stete Mahnung, dass die Menschenrechte noch in vielen Staaten der Erde massiv verletzt werden. Eine gleichfalls sichtbare Mahnung stellt das Dokumentationszentrum auf dem Reichsparteitagsgelände dar: Ein breiter, begehbarer gläserner Pfeil durchbohrt die meterdicken Mauern des vom Nazi-Architekten Albert Speer konzipierten ›Kolosseums‹ und führt die Besucher mit Bild, Text, Ton und Demonstrationen in die verhängnisvolle Geschichte Nürnbergs im ›Dritten Reich‹ ein. Ebenso wichtig ist der alle zwei Jahre vergebene Menschenrechtspreis, der Persönlichkeiten zuerkannt wird, die wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte in ihrer Heimat bedroht sind und die durch die internationale Anerkennung ihres Wirkens und seine mediale Bekanntmachung einen gewissen Schutz erfahren – und auch finanziell für ihre Projekte gefördert werden. Das Menschenrechtsbüro unter Leitung von Martina Mittenhuber war deshalb natürlicher Partner unseres Vorhabens. Hinzu kam, dass die Universität Erlangen-Nürnberg den ersten Lehrstuhl für Menschenrechte in Deutschland eingerichtet und mit Heiner Bielefeldt einen hervorragenden Protagonisten gewonnen hatte, der zudem die international wichtige Funktion des UNO-Sonderberichterstatters für Religions- und Gewissensfreiheit wahrnahm. Mit ihm – und in besonderer Anknüpfung an unser frü-

heres Engagement für das Projekt Weltethos – planten Manfred Pirner, Werner Haußmann und ich das Forum, das ein besonders breites Echo haben sollte. Klar war, dass die Thematik einer breiten kontextuellen Einbettung bedurfte und nicht eng religionspädagogisch zu bearbeiten war, obwohl diese Perspektive besonders in den Fokus gerückt werden sollte. Deswegen bezog sich der erste Themenbereich auf Menschenrechte und Religion insgesamt mit ihren juristischen, philosophischen und theologischen Grundlagen, und dabei auch auf die Frage des politischen Umfelds und die Sichtweisen und Diskurse in verschiedenen Religionsgemeinschaften. Im zweiten Themenbereich kamen die Herausforderungen für religiöse und besonders interreligiöse Bildung in den Blick, im dritten Themenbereich Konfliktfelder und Projekte zum Verhältnis von Menschenrechten und Religion in der Schule. Es gelang uns, für den Eröffnungsvortrag die international für Frauenrechte im Islam kämpfende Muslima Ziba Mir Hosseini aus London zu gewinnen, die sich mit dem Verhältnis von Menschenrechten und islamischen Rechtstraditionen auseinandersetzte. Sie explizierte die Unterscheidung zwischen fundamentalen Rechtsgrundsätzen, für die klassisch die Scharia steht, und den Gesetzessammlungen, die als fiqh zeitgebundene Rechtsauslegungen darstellen – und hat von daher ein Instrument, um ihre Frauenbewegung Musawah (›Gleichheit‹), die sich in vielen Ländern ausgebreitet hat, auch inhaltlich-islamisch zu legitimieren. Mit Yahya Hasan Bajwa aus Zürich als Vertreter des Ahmadiyya-Islam und Gundula Nägele als Vertreterin der Baha’i-Religion kamen religiöse Richtungen zu Wort, die in ihren Herkunftsländern Pakistan und Iran unter Druck und Verfolgung leiden, wobei die Baha’i-Gemeinschaft sich in besonderem Maße bei den Vereinten Nationen für die Menschenrechte stark macht. Heiner Bielefeldt erweiterte die Perspektive, indem er Religionsund Meinungsfreiheit insgesamt als Testfall für die Universalität der Menschenrechte darstellte. Er zeigte, wie Einschränkungen und Gefährdungen dieses Menschenrechts z. T. aus den Religionsgemeinschaften selbst kommen – und keinesfalls allein aus dem Islam! –, aber auch von Staatsideologien wie etwa in China und schließlich auch von neuen radikal-laizistischen bzw. liberalistischen Standpunkten aus, die die Religionen aus dem öffentlichen Raum ganz in die Privatsphäre verdrängen wollen. Als besondere Herausforderung wurde hervorgehoben, dass nicht nur in Regionen mit lange bestehenden Spannungen bei Menschenrechten und Religionsfreiheit – wie etwa in Saudi-Arabien und in Nordirland –, sondern auch in Gebieten, in denen verschiedene Ethnien und Religionen über lange Zeiträume vergleichsweise friedlich zusammengelebt haben, Konflikte neu aufleben – wie etwa im Libanon, im ehemaligen Jugoslawien, aktuell in Ägypten, Syrien, Nigeria, Myanmar. Friedrich Lohmann zeigte in seinem grundlegenden

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Beitrag Die Menschenrechte zwischen Universalismus und religiösem Partikularismus das Doppelgesicht von Religionen als Förderern und Behinderern der Menschenrechte auf: Aus dem fundamentalen Transzendenzbezug der Religionen lässt sich einerseits ›Selbstrelativierung‹ und damit Toleranz und Solidarität ableiten. Andererseits finden sich in den Religionen traditionell häufig Exklusivismus und Heils-Triumphalismus, die zur Einschränkung oder gar Eliminierung anderer Glaubensgemeinschaften führen. Aufklärung und Bildung ergeben sich als notwendige Verpflichtungen für die Religionsgemeinschaften. Diese Aufgabenstellung wurde dann aus evangelischer, katholischer und muslimischer Sicht entfaltet, unter Bezugnahme auf zentrale Grundüberzeugungen in den Religionen wie der, dass der Mensch – zum Ebenbild bzw. Stellvertreter Gottes geschaffen – auf die Achtung der Menschenwürde zentral verpflichtet ist. Ungewohnte Perspektiven eröffneten Friedrich Schweitzer und HansGeorg Ziebertz: Schweitzer arbeitete heraus, dass religiöse Erziehung durchaus als Menschenrecht betrachtet werden kann. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) betont das Recht der Eltern, »die Art der Erziehung zu wählen, die ihre Kinder erhalten sollen« (Art. 26), nachdem erklärt wird, dass die Erziehung »Verstehen, Toleranz und Freundschaft unter allen Nationen, rassischen und religiösen Gruppen fördern soll« – was wiederum religiöse Erziehung einschließt. Außerdem kann religiöse Erziehung verstanden werden als Teil von »Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit«, die in Art. 18 als grundlegendes Menschenrecht garantiert werden. Hans-Georg Ziebertz ist in einer empirischen Pilotstudie, durchgeführt in zwölf Ländern, der Frage nachgegangen, wie christliche und muslimische Jugendliche die Menschenrechte bewerten. Dabei hat sich insgesamt eine hohe Zustimmung ergeben – bei den christlichen wie bei den muslimischen Jugendlichen, insbesondere zu Kinderrechten, Frauenrechten, Freiheit der Rede, Schutz vor Folter, Versammlungsfreiheit, Demonstrationsrecht, Trennung von Staat und Religion. Bei den meisten dieser Rechte war eine leicht höhere Zustimmung bei den muslimischen Jugendlichen zu finden. Die Ergebnisse widersprechen bestimmten Stereotypen, an deren Verbreitung die Medien mitwirken, dass nämlich die Zustimmung zu den Menschenrechten mit westlichem, christlichem Denken in einer natürlichen Verbindung stünde, während dem Islam ein problematisches Verhältnis zu den Menschenrechten nachgesagt wird. Die hier befragten muslimischen Jugendlichen stützen dieses Vorurteil jedenfalls nicht. Um einen Zugewinn an differenzierter Sichtweise ging es auch Henrik Simojoki, der die Frage stellte, wie der Religionsunterricht zu einer Menschenrechtsbildung beitragen kann, die der ›neuen Kontextualität‹ von Reli-

gion in der globalisierten Welt Rechnung trägt. Eine medial vermittelte Sicht, die global gesehen eher Pauschalvorstellungen von Kulturkollisionen vermittelt, bestimmt z. B. häufig das Dialogverhalten vor Ort. Simojoki spricht hier von ›glokalen‹ (sic!) Konstellationen interreligiöser Koexistenz in der Weltgesellschaft. Für ihn ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer lokalisierenden Didaktik. Bei ihr sollten dialogische Potenziale vor Ort genutzt und Kontroversthemen nicht ausgeklammert werden, was Kooperationslernen der christlichen Konfessionen und des sich etablierenden islamischen Religionsunterrichts erforderlich macht. Ich selbst konnte mit meinem Beitrag die Brücke schlagen zu dem 25-jährigen Jubiläum von Religionen für den Frieden Deutschland, das wir zum Abschluss des Forums feierten. Ich sprach über interreligiöse Initiativen zur Menschenrechtsbildung und verdeutlichte das anhand der Weltversammlungen von Religions for Peace seit der Gründung in Kyoto 1970 und der vielfältig religionsdiplomatischen Vermittlungsarbeit dieser weltweit größten Koalition interreligiöser Zusammenarbeit. Anhand der Erfolge wie auch der Misserfolge konnte ich zeigen, wie neben dem Scheitern in schlimmen Konflikten konkrete Ergebnisse in Konflikt- und Versöhnungsprozessen, für Toleranz und zur Achtung der Würde und Gleichheit der Menschen erreicht wurden – und wie dabei die interreligiösen Bildungsimpulse eine wichtige Rolle spielten. In einem Fazit griff Manfred Pirner verschiedene zentrale Fäden der Diskussionen während des Forums auf, systematisierte und ergänzte sie durch eigene konzeptionell grundlegende Überlegungen zu einer Religionsdidaktik der Menschenrechte. Er ging von der sozialphilosophischen These aus, dass Religionen in den gegenwärtigen ›postsäkularen‹ (Habermas) Gesellschaften unverzichtbare Beiträge zu einem overlapping consensus (Rawls) und damit auch zur Förderung einer gemeinsamen Kultur der Menschenrechte leisten können. Der Religionsunterricht als öffentliche religiöse Bildung könne in differenziert-mehrfacher Weise Menschenrechtsbildung betreiben – strukturell, indem er die Heranwachsenden in der Wahrnehmung ihres Rechts auf Religionsfreiheit unterstützt; indirekt, indem er ethische Grundlagen für eine Kultur der Menschenrechte vermittelt; und direkt, indem er die Menschenwürde und die Menschenrechte explizit zum Thema macht. Mit diesem Beitrag reichte Pirner gleichsam schon den Stab weiter zum nächsten Nürnberger Forum 2016, das dann Öffentliche Theologie, Religionen und Bildung in interreligiöser Perspektive zum Thema haben sollte. – Wie beim voraufgegangenen Forum gelang es uns auch diesmal, den Band mit den Referaten und Ergebnissen nicht nur auf Deutsch im EB-Verlag, sondern auch – ergänzt um Beiträge aus der Perspektive jüdischer, politischer und Zivil-Pädagogik – auf Englisch beim Springer Verlag zu veröffentlichen.

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›Offene Tür‹ für interreligiöse Begegnung: vor der Auferstehungskirche Nürnberg-Zerzabelshof Juli 2008

März 2008 am Lago Maggiore: ­Beginn des gemeinsamen Weges mit Sabine Schulz-Pillgram

Überreichung des Bundesverdienstkreuzes durch ­Minis­terpräsident Günther Beckstein in der Staats­ kanzlei München am 15. Oktober 2008

Pilgerweg der Religionen in Nürnberg September 2008

Nach der kirchlichen Trauung am 2. Mai 2009 vor der Frankenberger Kirche Goslar

Empfang für die Mitglieder der Deutschen Islamkonferenz bei Bundeskanzlerin Angela Merkel am 25. Juni 2009

Friedenspädagogisches Symposium an der ­Theodor Schneller-Schule in Amman im Dezember 2010 mit Katja Baur (Evangelische Hochschule Ludwigsburg) und Musa Al Munaizel (pädagogischer Berater der Schule)

Gratulation von Werner Haußmann und Manfred ­Pirner bei der Universitätsfeier zum 70. Geburtstag am 1. Juli 2011

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 Im Gespräch mit aktuellen theologischen und religionspädagogischen Entwürfen

Die Ausdifferenzierung der Lernfelder · Neue Gesamtentwürfe · Im Spannungsfeld von Wahrheitsanspruch und Dialog

So gravierend, wie sich die Spannungsfelder zwischen den Religions- und Kulturräumen in den ersten beiden Jahrzehnten des neuen Jahrtausends entwickelt haben, ist im Gegenzug auch die Vielfalt konstruktiver Bemühungen gewachsen, Religionen und interreligiöser Bildung im Feld gesellschaftlichen Handelns neue Geltung zu verschaffen. Als einer derer, die deren Relevanz schon sehr frühzeitig bedacht haben, sehe ich mich gegenwärtig in der Mitte einer Bewegung, die sich fast unüberschaubar ausgeweitet hat und in die verschiedensten Handlungsräume hineinwirkt: in die theologische Selbstreflexion der Religionsgemeinschaften, in die Dialogarbeit zwischen den Religionen und Weltanschauungen, aber auch in die öffentliche Arbeit für Toleranz und Integration, in die Bildungsbemühungen vom Kindergarten bis zur Seniorenarbeit, in die Seelsorge und die kommunalen Handlungsfelder. Hans Martin Barth mit seiner Dogmatik, in der er den evangelischen Glauben im Kontext der Weltreligionen entfaltet, Reinhold Bernhard und Perry Schmidt-Leukel mit ihren differenzierten Arbeiten zu einer Theologie der Religionen, Karl Josef Kuschel mit seiner Entfaltung eines Beziehungsdenkens zwischen den Religionen, Klaus von Stosch mit seinen Veröffentlichungen zu einer komparativen Theologie sind Wegbegleiter im theologischen Dialog – ebenso die jüdischen und muslimischen Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde Jonathan Magonet, Elisa Klappheck, Ömer Özsoy, Yasar Sarikaya, Mouhanad Khorchide und Hamideh Mohagheghi. Die religionspädagogische Arbeit hat durch die Publikationen von Stephan Leim­gruber, die Veröffentlichungen von Frieder Harz und Helgard Jamal zur Elementarerziehung und die Projekte von Karlo Meyer, Claus Peter Sajak und Mirjam Zimmermann konkrete, erfahrungsgesättigte Gestalt gewonnen. Georg Langenhorst hat die Religionsbegegnung als LiteraturBegegnung ausgelotet und außerdem eine fundamentale trialogische Religionspädagogik – Interreligiöses Lernen zwischen Judentum, Christentum

und Islam – vorgelegt. Zusammen mit Elisabeth Naurath leitet er die Forschungs- und Koordinationsstelle Interreligiöse Bildung (FIB), an der eine Zusatzqualifikation für interreligiöse Mediation erworben werden kann. Die Hamburger Arbeiten an einem ›Religionsunterricht für alle‹ haben die Diskussion komplementär weiter belebt und in der von Wolfram Weiße gegründeten Akademie der Weltreligionen eine gute universitäre Anbindung gefunden. Von religionswissenschaftlicher Seite ist Peter Antes ebenso unermüdlich aktiv geblieben wie Udo Tworuschka mit dem Konzept einer praktischen Religionswissenschaft, die die gesellschaftliche Relevanz religionswissenschaftlicher Forschung bewusst macht. Markus Weingardt und Reinhold Mokrosch haben weiter daran gearbeitet, die Friedensarbeit der Religionen sichtbar und bekannt zu machen. Autorenteams und Arbeitsgemeinschaften haben sich ebenso wie Religions for Peace, der Runde Tisch der Religionen in Deutschland, der Interkulturelle Rat, das Haus der Religionen in Hannover mit Ali Faridi, Ernst Wolf Kleinwächter und Wolfgang Reinbold als Vositzendem und die Interreligiöse Arbeitsstelle Nachrodt mit Reinhard Kirste der praktischen Begegnung und ihrer Reflexion gewidmet. Die Stiftung Weltethos und die jährlichen Dialoge an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart unter Federführung von Hansjörg Schmid haben für kontinuierlichen Erfahrungsaustausch gesorgt. Inzwischen gibt es einen regen Austausch zwischen der christlichen und der im Aufbau begriffenen islamischen Religionspädagogik, an der von der Universität Osnabrück Bülent Ucar, Rauf Ceylan und Annett Abdel-­Rahman, aus Münster Mouhanad Khorchide, aus Paderborn Hamideh Mohagheghi und Tuba Isik, aus Frankfurt Harry Harun Behr, aus Gießen Yasar Sarikaya, aus Tübingen Fahima Ulfat, aus Erlangen-Nürnberg Tarek Badawia, Amin und Emel Rochdi, aus Wien Ednan Aslan und Elif Medeni, aus dem nicht universitären Bereich vor allem Lamya Kaddor und Rabeya Müller beteiligt sind. Auch in Grundlagenwerken zu religiöser Erziehung wie in Bernd Schröders Religionspädagogik hat die ›didaktische Erschließung nicht christlicher Religionen‹ inzwischen einen festen Stellenwert. Als Beispiel dafür, wie konturenreich der Dialog geworden ist, seien die Themen genannt, die im von Volker Meißner, Martin Affolderbach, Hamideh Mohagheghi und Andreas Renz herausgegebenen Handbuch Christlich-­ Islamischer Dialog jeweils christlich und muslimisch durchdiskutiert werden:17 1. Ursprung und Ziel: Gott als Schöpfer und Richter 2. Gottes Wort in der Geschichte: Bibel und Koran 3. Urbild des Glaubens: Abraham 17 V. Meißner/M. Affolderbach/H. Mohagheghi/A. Renz (Hg.): Handbuch christlich-islamischer Dialog. Grundlagen – Themen – Praxis – Akteure, Freiburg i. Br. 2014, 6; 91 ff.

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4. Jesus: Prophet oder Sohn Gottes? 5. Muhammad: Vorbild für Muslime – Anfrage an die Christen 6. Stellvertreter Gottes: Würde und Aufgabe des Menschen 7. Gerecht und barmherzig? Glauben an Gott angesichts des Leids 8. Verantwortung für das Leben. Grundlagen der Ethik 9. Leben in Freiheit und Würde: Menschenrechte 10. Gerechtigkeit schaffen, Unrecht beenden: Frieden und Gewalt 11. Partnerschaft, Ehe und Familie 12. Keiner glaubt für sich allein: Kirche und Umma 13. Gemeinsam vor Gott. Gebet und Spiritualität 14. Den Glauben bezeugen: Zum Verhältnis von Dialog und Mission 15. Worauf hoffen wir? Heil in Diesseits und Jenseits

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Noch umfangreicher ist das vielperspektivische, von Mathias Rohe, Havva Engin, Mouhanad Khorchide, Ömer Özsoy und Hansjörg Schmid herausgegebene zweibändige Handbuch Christentum und Islam in Deutschland, das das aktuelle religiöse Leben von Christen und Muslimen, dazu auch von Aleviten und der Ahmaddiya-Religionsgemeinschaft schildert und alle Facetten staatsrechtlicher, theologisch-ethischer, sozialer und bildungsmäßiger Perspektiven erschließt. Aus der Fülle neuerer Arbeiten, die ich in meinem Artikel Dialog der Religionen: Entwicklung, Modelle, religionspädagogische Relevanz für das wissenschaftlichreligionspädagogische Internet-Lexikon (www.wirelex.de; 2/2016) besprochen habe, will ich auf vier größere Untersuchungen näher eingehen, die zeigen, wie intensiv interreligiöse Bildung inzwischen bearbeitet und diskutiert wird: In Bilanzierung der bisherigen Entwicklungen und in Weiterführung der Arbeiten von Stephan Leimgruber plädiert Monika Tautz in ihrer Dissertation vorrangig für einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, der die interreligiöse Dimension – in einer fruchtbaren Beziehung von Identität und Verständigung – konsequent zur Geltung kommen lässt. Sie weist nach, dass die neuere Entwicklung im konfessionsbezogenen Religionsunterricht längst alle konfessionelle Exklusivität hinter sich gelassen hat; das betrifft auch die Kooperation mit dem im Aufbau begriffenen islamischen Religionsunterricht und mit dem Ethikunterricht. Praxisnah wird dieser Ansatz von ihr im Dialog mit Anthropologie und Ethik im Islam unterlegt. Lucas Graßal – mein Doktorand, gleichzeitig begleitet von meinem systematisch-theologischen Kollegen Walter Sparn – hat in seiner Dissertation die bis dahin nahezu unbearbeitete Aufgabenstellung in Angriff genommen, die Relation der in Deutschland gegenwärtig wirksamen religionspädagogischen Grundkonzeptionen zu aktuellen Religionstheologien zu durchleuch-

ten. Er hat das vorrangig an der pluralistischen Religionstheologie des englischen Theologen John Hick exemplifiziert.18 Zentral ist die Erkenntnis, dass auch eine religionspädagogische Theorie, die Pluralisierung gelten lässt und konstruktiv aufnimmt, die Geltungsfrage nicht außer Acht lässt. Der konstruktive Dialog mit John Hick führt nicht in ein relativistisches Religionsverständnis, sondern lässt die Frage nach der Wahrheit des Glaubens offen. Er hält dabei die kategoriale Unterscheidung von Gott und Welt fest, wie sie in der Rede von Gott nie völlig erschöpfend zum Ausdruck kommen kann. Mirjam Schambeck hat in einer grundlegenden Untersuchung die aktuelle Diskussion um religionspädagogische Kompetenzen systematisch aufgegriffen und bietet interreligiöses Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf.19 Sie bedient sich dabei des über die traditionelle Lernzielorientierung hinausführenden Kompetenzbegriffs, bei dem besonders die Lernenden und die Situationen, für die sie befähigt werden sollen, in den Blick kommen. Die volle Breite der Pluralität, in der sich Heranwachsende gegenwärtig vorfinden und in der es die verschiedensten Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten gibt, ist dabei das Grunddatum, dem sich alle pädagogische Bemühung stellen muss. Mirjam Schambeck schreibt in von katholischer Tradition geprägter Positionalität, aber gleichzeitig in ökumenischer, hier als weltweit verstandener Offenheit, mit der sie einen verbindenden religionsübergreifenden Verständigungshorizont erschließt. Friedrich Schweitzer schließlich, der mit seinen Arbeiten auch im internationalen Horizont vielfältig wahrgenommen wird, hat mit seiner Monografie zu Interreligiöser Bildung die religiöse Pluralität als religionspädagogische Herausforderung und Chance gekennzeichnet. Im Rahmen einer vielperspektivischen Aufarbeitung der Ansätze und Wege interreligiösen Lernens sind bei ihm die interdisziplinären Anstöße bemerkenswert: nicht nur im Blick auf jüdische und islamische Religionspädagogik, sondern auch in Richtung sozialwissenschaftlicher Arbeiten, die die religiöse Dimension lange Zeit weitgehend außer Acht gelassen haben, was ebenso für die interkulturelle Pädagogik gilt. Er entfaltet interreligiöse Fragen als durchgehende Aufgabe auch für die Homiletik (Predigtlehre) und besonders in der Auseinandersetzung mit der Aufgabe der Elementarisierung. Seine Bestimmung interreligiöser Bildung knüpft dabei deutlich an meine früheren Arbeiten an: als

18 L. Graßal: Wie Religion(en) lernen? Religiöse Bildung in deutschen religionspädagogischen Konzeptionen im Licht der Pluralistischen Religionstheologie von John Hick.= ­Pädagogische Beiträge zur Kulturbegegnung 30, Berlin 2013. 19 M. Schambeck: Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf, Göttingen 2013.

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»eine Dimension von Bildung, die sich auf die Wahrnehmung eigener und anderer Religionen und ihr Verhältnis zueinander bezieht, die auf wechselseitigem Verstehen beruhende dialogische Einstellungen anstrebt und zu einem gesellschaftlichen Zusammenleben im Sinne von Frieden und Toleranz, Anerkennung des Anderen und Respekt voreinander befähigt«.20

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Friedrich Schweitzer, als Vorgänger von Annette Scheunpflug Vorsitzender der Bildungskammer der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat auch in der Arbeitsgruppe mitgewirkt, die die 2014 veröffentliche Denkschrift des Rats der EKD zum Religionsunterricht vorbereitet hat: Religiöse Orientierung gewinnen. In ihr werden angesichts der stark angewachsenen Pluralität in Gesellschaft und Schülerschaft in differenzierter Weise die Linien weiter ausgezogen, die schon 1994 in der Denkschrift Identität und Verständigung vorgezeichnet sind. Besonders in meinem Anliegen, der Öffnung evangelischer Religionspädagogik für überkonfessionelle Zusammenarbeit und den interreligiösen Austausch theologisch vom Evangelium – dem Weg Jesu – aus die Richtung zu weisen, sehe ich mich in dieser Denkschrift positiv aufgenommen. Die Pluralität wird bejaht und gleichzeitig das Angebot der Botschaft des Evangeliums als Hilfe zum Gewinn einer Identität, die nicht statisch verstanden wird, entfaltet. Begegnung – Verständigung – Kooperation, diese Grundmerkmale interreligiöser Basisarbeit werden konsequent in den Blick genommen, wobei es keine vorschnellen Vereinnahmungen geben soll, die unterschiedlichen Eigensichten in den verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften respektiert und ein Gespräch, das Selbstkritik einschließt und auch gegenseitige Kritik akzeptiert, gefördert wird. Eben damit kann die kirchliche Bildungsarbeit und besonders der Religionsunterricht einen wichtigen Beitrag zu einem konstruktiven Zusammenleben in der demokratischen Gesellschaft leisten. Wenn ich überlege, was nach meinen früheren grundlegenden Arbeiten mein spezifischer Beitrag im Gesamtfeld interreligiöser Begegnung und Bildungsarbeit ist, so handelt es sich um die Anbindung an die konkrete interreligiöse Basisarbeit, die wir in Nürnberg beispielhaft betreiben, sodann um den Austausch vor allem mit islamischer Religionspädagogik, weiterhin um die Artikulation interreligiöser Zusammenarbeit im gesellschaftlich-politischen Raum auf bundesdeutscher Ebene über den Runden Tisch der Religionen und – last not least – die Einbeziehung internationaler, auch globaler Zusammenhänge, die Friedenserziehung im Miteinander der Religionsgemeinschaften über die Bewegung Religions for Peace und dabei besonders auch die Mitarbeit an den Konkretionen zum Projekt Weltethos. 20 F. Schweitzer: Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014, 132.

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 Interreligiöse Koalitionen: Gemeinsam wirken im Gegenüber zu Extremismus und Populismus

Hoffnungszeichen im Gegenwind · Schätze und Reformation in den Religionen · Action for Human Dignity – Die 9. Weltversammlung von Religions for Peace in Wien 2013 · From fear to trust – Europäische Initiativen in Castel Gandolfo · Public Theology – Religion – Education · Das zwölfte Nürnberger Forum 2016

Von einer kontinuierlich positiven Entwicklung im Bereich Begegnung, Dialog und Kooperation der Religionen und Kulturen – besonders auch hinsichtlich der politischen Rahmenbedingungen – kann in den Jahren seit 2012/13 leider nicht die Rede sein. Es gibt gravierende Einbrüche, die so nicht vorhergesehen wurden: der schreckliche Bürgerkrieg in Syrien, der zunehmend auch zu einem Stellvertreterkrieg ausländischer Mächte wurde, das Ende bzw. Scheitern des ›Arabischen Frühlings‹ in Ägypten und Libyen, die Instabilität im Irak, in deren Schatten der sogenannte Islamische Staat wachsen konnte – mit der spektakulären Eroberung von Mossul und weiten Gebieten im Irak und in Syrien und der Aufrichtung einer Terrorherrschaft, der Unterdrückung und Verfolgung religiöser Minderheiten und dem Export von Terror auch in europäische Länder. Die Konflikte im Heiligen Land haben sich eher noch verschärft statt verringert, und Afrika hat mit dem Süd-Sudan, Nigeria und weiteren Ländern gravierend instabile Regionen. Im Jemen tobt ein Stellvertreter-Krieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Dabei spielen immer wieder religiös-ideologische Elemente eine unheilvolle Rolle. Mit einer Mischung aus Despotie und Populismus versuchen führende Politiker gleich in einer Reihe von Ländern, ihre Machtbasis zu sichern, und auch in demokratisch einigermaßen ›funktionierenden‹ Ländern haben nationalistisch-populistische Bewegungen mit ihrer Stimmungsmache, mit dem Schüren von Ängsten Erfolge, die nationale Egoismen und Abgrenzungen gegen alles ›Fremde‹ befördern. Besonders die Jahre 2015 und 2016 haben zu neuen Destabilisierungen beigetragen: mit der Flüchtlingswelle, die Deutschland in vollem Maße traf und der PEGIDA-Bewegung (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) wie auch der AfD (Alter-

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native für Deutschland) Auftrieb gegeben hat; mit dem misslungenen Putsch in der Türkei, der eine maßlose ›Säuberung‹ von wirklichen und vermeintlichen Putsch-Sympathisanten zur Folge hatte; mit dem Brexit, dem britischen Votum für den Austritt aus der Europäischen Union, der die ganze europäische Gemeinschaft verunsichert; mit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA, die große Ungewissheiten im Blick in die Zukunft der Großmacht zur Folge hat. Gibt es Hoffnungszeichen? Erstaunlich ist, wie Kräfte der Zivilgesellschaft, gerade auch durch und mit den Religionsgemeinschaften, gewachsen sind: die Gegendemonstrationen gegen PEGIDA in Dresden, die Koalition gegen das Auftreten des Salafistenpredigers Pierre Vogel in Nürnberg sind nur zwei Beispiele, dass in der Mehrheit der deutschen Bevölkerung Extremismus und Populismus nicht Fuß fassen konnten. Dass in einer kleinen Stadt wie Goslar der schon lange bestehende Verein Leben in der Fremde sich konsequent der Flüchtlingsbegleitung widmet, steht als ein Beispiel für die bundesweit zu findende Einsatzbereitschaft, die sich auch durch die Abqualifizierung der Engagierten als »Gutmenschen« nicht lächerlich machen lässt. In Deutschland meldet sich der Interkulturelle Rat und der Runde Tisch der Religionen immer wieder zu Wort, auf europäischer Ebene der European Council of Religious Leaders, auf globaler Ebene Religions for Peace und das Parlament der Weltreligionen. Besondere Hoffnungszeichen, verbunden mit kritischen Signalen und symbolischen Handlungen, setzt vor allem auch Papst Franziskus: in seiner Enzyklika Laudato si, die die vielleicht größte globale Herausforderung, die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen, ins Visier genommen hat; mit seiner Reise in das Heilige Land und seinem Gebet an der Klagemauer; mit der Fortsetzung der Friedensgebete in Assisi; mit dem Jahr der Barmherzigkeit, in dem er auch Unbarmherzigkeiten in der römisch-katholischen Gesetzgebung kritisiert hat. Man kann fragen, was all diese Initiativen und Aktivitäten bewirken. Politisch haben sie meist keine schnellen Erfolge; medial sind sie weniger präsent als die Katastrophen- und Problemnachrichten. Aber sie halten ein kritischkonstruktives Bewusstsein wach und geben den vielen Einzelnen, die Unterstützung erfahren, eine Perspektive gegen die Resignation. Ich will einige Beispiele aus den Jahren seit 2012 schildern, die – von der lokalen bis zur globalen Ebene – sichtbar machen, wie interreligiöse Zusammenarbeit ganz konkret Wegmarken setzen kann, die zukunftsweisend sind. Zum 25-jährigen Jubiläum von Religionen für den Frieden Nürnberg haben wir überlegt, in welchem Bereich wir besondere Erfahrungen haben, die wir über unseren regionalen Rahmen hinaus weitergeben können. Wir haben uns vor Augen geführt, welche Breite an interreligiös relevanten Themen in den

Gebetsstunden der Religionen für den Frieden zur Sprache gekommen sind, und dass die Gebete, Besinnungen, Lieder einen Fundus bilden, um sichtbar zu machen, wie aus Spiritualität Kraft erwachsen kann für das gemeinsame Engagement. Sie können der Weltverantwortung der Religionen den Boden bereiten. Sie bringen zur Geltung, dass die globalen Herausforderungen, wie sie im konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und im Projekt Weltethos beschrieben werden, jeweils spezifische Korrespondenzen in den geistlichen Grundlagen der Religionstraditionen haben. Sie bilden die Basis, auf der sowohl die nötige Fantasie als auch der lange Atem für das gemeinsame Handeln erwachsen kann. Dabei wird deutlich, dass diese grundlegenden Texte und Lehren nicht gleich sind. Aber in ihrer besonderen Ausprägung halten sie eine tief gründende Kraft für das ethische Handeln bereit. Es werden auch Korrespondenzen zwischen den verschiedenen Traditionen sichtbar. So ist in allen Religionen ein Bewusstsein der Fehlbarkeit des Menschen vorhanden, der Tatsache, dass der Mensch sich nicht selbst vergöttern darf, will er nicht schreckliches Unheil anrichten, dass er vielmehr immer wieder der Umkehr und der Erneuerung bedarf, um vom Egoismus frei zu werden. Es gibt Trost und Hoffnung, die menschliche Begrenztheiten überschreiten. Wir stellten also Texte und Lieder für einen Jubiläumsband zusammen. Das war nicht einfach. Die Beiträge lagen uns ausgearbeitet vor und waren in den Vorbereitungen für die Gebetsstunden durchdiskutiert und auf die jeweilige Thematik bezogen. Aber die Verifikation der Quellen stellte eine Herausforderung dar, da oft geprägte Textgrundlagen aktuell verändert worden waren und die Fundorte sich nicht immer leicht erschließen ließen. Ich fand schließlich in allen Religionstraditionen kompetente ›Quellensucher‹, die halfen, die Herkunft der Texte zu identifizieren. Die Abdruckrechte für die Lieder waren glücklicherweise ohne zu große Schwierigkeiten zu erhalten. So entstand ein Buch mit 20 Gebetsstunden, dem wir den Titel Spiritualität. Multireligiös. – Begegnung der Religionen in Gebeten, Besinnungen und Liedern gaben. Inhaltlich spannt sich der Bogen von Ich möchte gerne Brücken bauen über Gastfrei zu sein vergesset nicht, Gläubige in den Religionen im Einsatz für Gläubige in Bedrängnis, Lasst uns die Erde schützen bis zu Terrorismus hat keine Religion. In der Einleitung erläutere ich den Charakter der Gebetsstunden, und ein detailliertes Inhaltsverzeichnis gibt den Überblick über die etwa 200 Einzeltexte. Der EB-Verlag mit Rainer Kuhl sorgte für eine ansprechende Präsentation. Da inzwischen an vielen Orten und bei vielen Gelegenheiten – neben regelmäßigen Gebetstreffen bei schulischen und kommunalen Feiern, aber auch anlässlich von Unglücken, Konflikten und gegenüber fremdenfeindlichen Aktionen – nach bewährten Formen und Texten für die gemeinsame

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Gestaltung geistlicher Zusammenkünfte gefragt und gesucht wird, hat das Buch inzwischen eine breite Lesergemeinde erreicht. Ein zweites Anliegen in der lokalen und regionalen Arbeit ist für uns, die Religionsgemeinschaften mit ihren geistigen, kulturellen und künstlerischen Traditionen und Ausdrucksformen in all ihrer Vielfalt sichtbar zu machen und die Öffentlichkeit dazu einzuladen. Wir entscheiden uns deshalb immer wieder für ein Jahresthema, in das sich die verschiedenen Glaubensgemeinschaften einbringen können. 2013 war es das Thema Schätze der Religionen. Kraftquellen für unsere Gesellschaft, 2014 Dein Glaube – mein Glaube. Religionen im persönlichen Dialog, 2015 Orte der Religionen – Häuser der Andacht, 2016 Kunst und Musik – das kulturelle Gesicht der Religionen, 2017 Reformation in den Religionen – in Bezug zum 500-jährigen Jubiläum der evangelischen Kirchen. Gegenüber den verbreiteten Negativnachrichten über die Religionen wollen wir damit zeigen, welche wichtigen Beiträge die Religionsgemeinschaften für ein lebendiges Gemeinwesen einbringen. So sind wir 2013 mit einer echten Schatztruhe monatlich von Religionsgemeinschaft zu Religionsgemeinschaft gezogen und haben Schätze gesammelt, die jeweils interpretiert und zum Ende des Themenjahrs in einer Gebetsstunde noch einmal ausgepackt, vorgestellt und von einem Gebetsbeitrag begleitet wurden: ein Bild von der großen Nürnberger Synagoge am Pegnitzufer, 1938 abgerissen, aber nun wenigstens ›virtuell‹ wieder hergestellt, ein Bild von Franz von Assisi für die katholische Kirche, ein Gesangbuch für die Evangelische Kirche, eine Ikone für die orthodoxe Kirche, ein besonders schöner Gebetsteppich mit Kompass (!) für die muslimische Gemeinde, ein Bild von Avalokitesvara – dem Bodisattva des unendlichen Mitgefühls – für die buddhistische Gemeinschaft Bodhi-Baum. Den Ertrag dieses Themenjahres konnten wir bundesweit in den Interreligiösen Kalender 2015 einbringen, den Religions for Peace Deutschland jährlich unter der Verfasserschaft von Eva Schmiedt aus Regensburg herausgibt: Pro Monat wurde ein Schatz vorgestellt und im Kontext der jeweiligen Religionstradition interpretiert. 2016 wurden in dem Kalender Gärten der Religionen, 2017 Architektur in den Religionen zum Thema und vermitteln konstruktive inhaltliche Einblicke. Bei der Thematik Dein Glaube – mein Glaube. Religionen im persönlichen Dialog haben jeweils zwei Mitglieder verschiedener Glaubensgemeinschaften vorgestellt, was ihnen ihr Glaube im persönlichen Leben bedeutet und wie sie damit ihren Alltag, ihre Feiertage und ihr eigenes Engagement gestalten: der Sufi-Scheich im Gespräch mit einer Baptistin, eine Buddhistin mit einer Frau aus der Baha’i-Religion, ein jüdischer Religionslehrer mit einer Katholikin, der rumänisch-orthodoxe Metropolit im Gespräch mit einem reformierten Pfarrer, ein Hindu mit einer evangelischen Christin, der Sprecher

der muslimischen Begegnungsstube Medina mit dem Leiter der christlichen Begegnungsstube Brücke. Gerade das eher Fremde, Unvertraute im Gegenüber wurde dabei in seiner Bedeutsamkeit für die Gemeinschaftserfahrung, die Lebensgestaltung und -bewältigung, für Halt und Geborgenheit, für Zukunftshoffnung und Engagement in den verschiedenen Religionstraditionen sichtbar. Das Themenjahr Kunst und Musik – das kulturelle Gesicht der Religionen eröffneten wir mit einer Gebets- und Meditationsstunde in der Nürnberger St. Egidienkirche, die in der Förderung von geistlicher Kunst und Kultur einen besonderen Schwerpunkt setzt. Gegen Vorbehalte, Ablehnung oder gar Angst vor der Kultur und Kunst der anderen wollten wir den spirituellen Reichtum und die Schönheit der verschiedenen religiösen Traditionen zum Ausdruck bringen. Es gab Beiträge aus neun verschiedenen Religionsgemeinschaften: einen evangelischen Posaunenchor, einen Abschnitt der jüdische Sabbatliturgie, gesungen vom Kantor der Israelitischen Kultusgemeinde, ein von einem katholischen Diakon gesungenes Magnificat, eine muslimische Improvisation mit Ney (Rohrflöte) und Ud (Laute), das Gaiatri Mantra aus der Hindu-Tradition, die Darstellung der Ästhetik im Haus der Andacht der Baha’i, schließlich den gemeinsamen gesungenen Kanon Schalom, chaverim, lehitraot – Der Friede des Herrn geleite euch. Bedeutsam war, wie drei muslimische Frauen der Sufi-Gemeinschaft Mevlana das Lied sangen, das die Frauen zur Ankunft des Propheten Muhammad in Medina gesungen haben sollen. Scheich Süleyman Bahn sagte dazu, damit sollte den Islamkritikern gezeigt werden, dass Frauen im Islam von Anfang an an zentraler Stelle dabei gewesen seien, und gleichzeitig den Islamisten, dass Musik von Anfang an auch zum Islam gehöre. So wurde diese Gestaltung des Jahresthemas zu einem grenzüberschreitenden Erlebnis. Als eine Initiative mit bundesweiter Ausstrahlung hat sich parallel hierzu das interreligiöse Musikvermittlungsprojekt Trinum erwiesen – unter dem Dach der Internationalen Bachakademie Stuttgart und der Federführung und Leitung von Bernhard König. 2011/12 ins Leben gerufen, hat es sich als Lernprojekt für Juden, Christen und Muslime entwickelt und in dem interreligiösen Gesamtkunstwerk Die vielen Stimmen Davids von Stefan Adam faszinierenden Ausdruck gefunden. Die Fragen und Probleme, die in der wechselseitigen Kommunikation auftauchten, werden in dem von Bernhard König, Tuba Isik und Cordula Heupts herausgegebenen Band Singen als interreligiöse Begegnung21 plastisch geschildert. 21 B. König/T. Isik/C. Heupts: Singen als interreligiöse Bewegung. Musik für Juden, Christen und Muslime, Paderborn 2016.

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Beim Thema für das Jahr 2017 hat uns die Überlegung geleitet, dass das Jubiläumsjahr der Reformation nicht nur eine ökumenische Herausforderung für Protestantismus und Katholizismus darstellt – in der Arbeit an den Schmerzen der Trennung, der Aufarbeitung der geschichtlichen Verletzungen, besonders aber in der Suche nach Gemeinsamkeiten und Brücken des Verstehens –, sondern dass Reformation/Erneuerung auch in den anderen Religionen immer wieder angesagt war und ist. Dabei haben wir wiederum nach möglichst authentischen Darstellungen Ausschau gehalten, d. h. wir haben Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Glaubensgemeinschaften gebeten, uns in ihren Räumen jeweils eine Persönlichkeit vorzustellen, die in ihrer Religion Erneuerungsprozesse in Gang gesetzt hat. Die Aleviten wählten den berühmten mittelalterlichen Mystiker Haci Bektash Veli, die muslimische Mevlana-Gemeinschaft den modernen Koraninterpreten Nasr Abu Zaid, die jüdische Seite Schalom Ben Chorin – zusammen mit dem reformierten Pfarrer Dieter Krabbe, der diesen Vorreiter des jüdisch-christlichen Dialogs persönlich gut gekannt hat. Evangelisch ging es um Dietrich Bonhoeffer und Dorothee Sölle, katholisch um den Konzilstheologen Karl Rahner und den Protagonisten der Befreiungstheologie Gustavo Gutiérrez, buddhistisch um den Dalai Lama, bei der Baha’i-Religion um Abdul-Bahá, durch dessen Wirken diese in Persien entstandene Religion zu einer weltweiten Bewegung geworden ist. Auf bundesdeutscher Ebene haben uns am Runden Tisch der Religionen in diesen Jahren zwei Fragen besonders begleitet: die Frage nach einem umfassenden Verständnis der Religionsfreiheit und die Flüchtlingsfrage. Da international die Verletzung der Religionsfreiheit – Behinderung der Religionsausübung, Unterdrückung von religiösen Minderheiten, Sanktionen für Religionswechsel – in vielen Ländern eine Realität ist, kam es uns darauf an, ein gemeinsames Zeichen der Religionsgemeinschaften in Deutschland zu geben. Ich entwarf dazu eine Erklärung, die 2013 beim Tag der Religionen in Coburg von den Repräsentanten aller beteiligten Religionsgemeinschaften verabschiedet wurde. Wir haben darin genauer umrissen, dass Religionsfreiheit gemäß der Erklärung der Menschenrechte und der deutschen Verfassung im Einzelnen bedeutet: ȤȤ Jeder Mensch darf eine Religion haben. ȤȤ Er darf sich öffentlich dazu bekennen. ȤȤ Er darf sie ausüben. ȤȤ Er darf wegen seiner Religion oder einer nicht religiösen Überzeugung nicht benachteiligt oder bevorzugt werden. ȤȤ Er darf seine Religion wechseln. ȤȤ Er darf seine Religion verlassen.

ȤȤ Er darf auch keine Religion haben. ȤȤ Er darf für seinen Standpunkt eintreten. Zum Abschluss der Erklärung wird das noch einmal präzise zusammengefasst: »Religionsfreiheit in vollem Sinn ist die Freiheit ›für‹, ›in‹ und ›von‹ Religionen. −− Religionsfreiheit ›für‹ beinhaltet das Recht, eine Religion zu haben, sie auszuüben, sie öffentlich zu vertreten und für sie einzutreten. −− Religionsfreiheit ›in‹ bedeutet die Notwendigkeit, konfessionelle Vielfalt innerhalb der Religionen zuzulassen; das Recht, eine Religion/ein Bekenntnis zu wechseln. −− Religionsfreiheit ›von‹ bezieht sich auf das Recht, keine Religion zu haben, eine Religion zu verlassen, und das Recht, religiöse wie nicht religiöse Standpunkte zu kritisieren. Die Grenzen der Religionsfreiheit liegen da, wo sich eine Religions- oder eine Weltanschauungsgemeinschaft gegen Freiheiten richtet, die das Grundgesetz garantiert.«

Dass diese Erklärung von den Religionsgemeinschaften in Deutschland – einschließlich aller muslimischen Dachverbände – ohne Einschränkung mitgetragen wird, ist nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil in einer Reihe islamisch geprägter Länder die Abwendung vom Islam oder seine Kritik Sanktionen zur Folge hat, ja nicht selten auch mit Todesgefahr verbunden ist.22 Ähnlich eindeutig hat sich der Runde Tisch der Religionen im Frühjahr 2016 zur Flüchtlingsfrage geäußert. Wir haben uns dabei bewusst auf die heiligen Schriften der Religionen bezogen, um deutlich zu machen, wie sie verbindlich zeigen, dass Menschen die Würde der Menschen und die Verbundenheit aller zu achten haben: »Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,33), »Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen« (Matthäus 25,35), »Wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt« (Koran Sure 49,13), »Die Erde ist eine Heimat. Alle Menschen sind ihre Bürger« (Baha’u’llah). Auf internationaler Ebene hat es immer wieder Bemühungen gegeben, die Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Religionen gerade in Spannungsgebieten zusammenzubringen, durch sie Vermittlungsebenen zu schaffen und humanitärer Hilfe den Weg zu bereiten. Bewegend ist die Ammaner Erklärung von führenden Persönlichkeiten aus Judentum, Christentum und Islam unter der Federführung von Prinz Hassan bin Talal von Jordanien 22 Diese wie auch die folgende Erklärung ist über die Homepage des Runden Tisches der Religionen abzurufen: http://runder-tisch-der-religionen.de/?id=stellungnahmen.

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und RfP-Generalsekretär Willliam Vendley nach der Eroberung von Mossul durch den sogenannten Islamischen Staat, die ich übersetzt und in der interreligiösen Szene in Deutschland verbreitet habe. In ihr heißt es u. a.: »Amman, 24. Juli 2014   In den vergangenen Tagen haben wir mit Schrecken gelesen, dass Christen aufgefordert wurden, die Stadt Mossul innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Wir haben auch von der Entweihung christlicher heiliger Plätze und deren Symbolen gehört – der Bombardierung von Kirchen und dem Kreuz, das von der St. Ephraims-Kathedrale entfernt wurde, dem Sitz des Syrisch-Orthodoxen Erzbistums in Mossul.   Diese Aktionen sind ein schrecklicher Schandfleck auf der stolzen Tradition des Pluralismus in einer Region, die die Heimat für Chaldäer, Assyrer und andere Ostkirchen seit mehr als 1.700 Jahren gewesen ist. Tatsächlich hat die durch Gewalt hervorgerufene Zerstörung alle Bevölkerungsteile überflutet, die den Irak ausmachen – Turkmenen, Jesiden, Sunniten und Schiiten und Zehntausende arabischer Familien, die aus der Region entwurzelt wurden in Furcht um ihr Leben. Diese Schrecken erweitern sich täglich und folgen einer brutalen Periode der Kämpfe in Syrien. …   Wir sehen auch mit Betroffenheit die fortdauernde Situation in Israel und Gaza, und sind – abgesehen von dem Schrecken dieser Situation – besonders davon gequält, wie der Name der Religion herangezogen wird, um den Mord an unschuldigen Menschen zu rechtfertigen. …«

Es wird auch in dieser Erklärung aus den Heiligen Schriften zitiert, um deutlich zu machen, wie in ihnen das Recht auf Freiheit und auf menschliche Würde verankert ist. Es wird an die Machthaber appelliert, dies zu achten. Am Schluss wird hervorgehoben: »Es ist Zeit, dass wir jetzt – mehr denn je – die Worte beachten, die uns der Koran mit auf den Weg gibt: ›Es gibt keinen Zwang in der Religion‹ (Sure 2,256). Wenn wir diesen Ruf zur Versöhnung ignorieren, werden sich die Einstellungen weiter verhärten, und wir werden Zeugen, wie die Menschen im Irak auseinander gerissen werden – Muslime untereinander und zwischen den Menschen verschiedenen Glaubens in der Region. Wir können nicht zulassen, dass sich diese Tragödie in einem Land vollzieht, das die Heimat einer der ältesten menschlichen Zivilisationen der Welt ist. Wir müssen zurückzahlen, was wir Mesopotamien schulden.«

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Fast noch schärfer und auch auf die Situation in Deutschland bezogen ist die Erklärung aller Münchner Imame vom September 2014 zum IS. In ihr heißt es: »Nicht im Namen Allahs und nicht in unserem Namen.   Weil wir Muslime sind, sind wir entsetzt über die Verbrechen, die im Namen unserer Religion im Irak und in Syrien begangen werden, verurteilen entschieden alle abscheulichen Taten,

wie die Vertreibung von andersdenkenden und andersglaubenden Menschen, barbarische Hinrichtungen von Journalisten, Geiseln oder Gefangenen, und betrachten all das dezidiert als ebenso unislamisch wie unmenschlich!   Wir sind zutiefst traurig über die Zerschlagung der uralten Tradition des Miteinanders im Nahen Osten, wo Menschen unterschiedlichen Glaubens und vielfältiger Kulturen seit Hunderten von Jahren zusammenleben.   Wir solidarisieren uns mit Christen, Juden, Jesiden, Schiiten oder Sunniten – wer auch immer wo auch immer unter Gewalt, Terror und Vertreibung leidet. …   Wir leiden unter den aktuellen Nachrichten ja nicht weniger als andere, sondern mehr, weil es unsere Religion ist, die dabei so unbeschreiblich pervertiert wird. Müssen die Imame lauter schreien? Ja, müssen sie! Denn es sind die Irren, die Ungebildeten und Fehlgeleiteten, die Gewalttäter allerorten, die das Bild unserer Religion nach außen bestimmen. Und es ist unsere Aufgabe – wessen sonst! – dagegen aufzutreten. Wir können nur an alle appellieren, nicht uns hier an den Wahnsinnstaten anderer, wo auch immer auf der Welt, zu messen. Nicht uns, und nicht DEN Islam. So wie wir nicht das Christentum und nicht das Judentum an dem messen wollen und werden, was Einzelne oder extremistische Strömungen an Leid verursachen.«

Am Ende der Erklärung rufen die Imame alle Muslime auf: −− »ausdrücklich jene Christen, Juden, Jesiden, Muslime, ob Schiiten oder Sunniten, in ihr Gebet mit einzuschließen, die verfolgt und vertrieben werden. −− sich offensiv vom sog. ›Islamischen Staat‹ zu distanzieren und sich unter keinen Umständen direkt oder indirekt mit Terroristen zu identifizieren oder zu solidarisieren, deren Tun zu verteidigen oder zu verharmlosen. Für uns ist der ›IS‹ weder islamisch noch ein Staat, und wir lehnen seinen selbsternannten ›Kalifen‹ kategorisch ab. Das Verbot der Organisation ›IS‹ durch die Bundesregierung begrüßen wir nachdrücklich. −− Wir appellieren an unsere Jugendlichen, wachsam zu sein. Eure Zukunft ist hier in Deutschland. Euer Platz ist die Schule, Ausbildungsstelle, Universität, der Arbeitsmarkt und die Familie. Allah hat zu Beginn seiner Botschaft uns gelehrt, in unseren Händen Schreibstifte zu tragen … und nicht Waffen! Geht auf keinen Fall in die Kriegsgebiete, um euer Leben für falsche Zwecke zu opfern!«

Natürlich ist zu fragen: Was bewirken solche Erklärungen? Sind sie nicht ein hilfloser Versuch angesichts der militärischen Macht und der Anziehungskraft besonders für anfällige Jugendliche, die der IS ausübt? Und kann es eine Lösung sein, den Teufel militärisch mit Beelzebub auszutreiben? Ich denke, wir erleben hier eine bedrückende Situation, in der es keine einfachen und keine schnellen Lösungen gibt. Dennoch haben die Erklärungen eine wichtige Funktion: Sie stärken das Miteinander und Füreinander in unserer Gesellschaft gegenüber der Infiltra-

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tion durch menschenverachtende Ideologien. Sie zeigen, dass die Muslime in großer Breite aktiver Teil unserer lebendigen, pluralen Demokratie sein wollen und dass der Kampf gegen den islamistisch verbrämten Terrorismus nicht gegen, sondern nur mit den muslimischen Gemeinden gelingen kann. Das Gegenwirken muss hier ähnlich vielfältig und fantasiereich sein wie das Gegenwirken von bürgerrechtlichen Gruppen gegen den Rechtsextremismus; ein besonders wichtiges Feld sind dabei die Social Media mit ihren Kommunikationsstrukturen, die gerade bei Jugendlichen bewirken können, dass sie sich nur im inneren Zirkel einer einseitigen Argumentations- und Propagandastruktur bewegen und von relativierenden Fakten und verantwortlichen Überzeugungen nicht mehr erreicht werden. Hier sind nicht zuletzt die Religionsgemeinschaften gefragt, sich der Öffentlichkeit und besonders auch der jüngeren Generation einladend zu präsentieren. International waren in den Jahren 2013–2016 vor allem drei Konferenzen von Bedeutung, in denen jeweils interreligiöse und interkulturelle Bildung eine wichtige Rolle spielte: die neunte Weltversammlung von Religions for Peace im November 2013 unter dem Gesamttitel Welcoming the Other: Action for Human Dignity, Citizenship and Shared Well-being in Wien, die Europäische Versammlung in Castel Gandolfo im Oktober 2015 unter dem Thema Welcoming each other in Europe: From Fear to Trust und das zwölfte Nürnberger Forum im Oktober 2016 mit der Gesamtthematik Public Theology – Religion – Education. Interreligious Perspectives. Den Auftakt bot für mich die Einladung des King Abdullah International Centre for Interreligious and Intercultural Dialogue (KAICIID) in Wien zu einer Expertenkonsultation unter dem Motto The Image of the Other. Interreligious and Intercultural Education. Best Practices in the Europe-Mediterranean Region im Mai 2013. Die Einladung war von Wolfram Reiss vermittelt worden, Mitarbeiter bei unserem früheren Schulbuchprojekt und jetzt Lehrstuhlinhaber für Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Er war ebenso wie ich zunächst skeptisch, bei einer Institution mitzuarbeiten, die ganz wesentlich von Saudi-Arabien mitfinanziert wurde: Was kann dieses Land zum interreligiösen Dialog beitragen, wenn in ihm jede Abweichung vom wahhabitisch erzkonservativ geprägten Islam sanktioniert wird, wenn in ihm Todesstrafe und Auspeitschung für Vergehen praktiziert wird und andere Religionen offiziell keinen Platz haben dürfen? Andererseits war der Kreis der Eingeladenen im interreligiösen wie im pädagogischen Feld repräsentativ und das Programm so gefasst, dass in keiner Weise eine islamistische Dominanz zu befürchten war. Als Hintergrundinformation erfuhr ich, dass der damalige König Abdullah wirklich ein echtes Interesse am interreligiösen Dialog hatte, aber noch nicht wagte,

ein solches Zentrum auf saudi-arabischem Boden einzurichten. Das Zentrum wurde in der Folge so konstruiert, dass es eine gemeinsame Gründung mit den Staaten Spanien und Österreich wurde und dass der Vatikan einen ständigen Konsultativ-Status erhielt. Im internationalen Direktorium sind alle großen Religionen in der Breite vertreten, die auch die Bewegung Religions for Peace kennzeichnet. Ich akzeptierte also die Einladung, reiste nach Wien und erlebte eine Konsultation, wie ich sie vom fachlichen Niveau her noch kaum erlebt hatte. Es nahmen nicht nur Vertreter der UNESCO teil, sondern auch Fachgesellschaften wie EUROklio, der Verband der europäischen Geschichtsdidaktiker, verschiedene Stiftungen und interreligiöse Organisationen. Die Tatsache, dass in vielen Erziehungskontexten noch vorurteilsgeladene Bilder von ›den anderen‹ vorherrschen, wurde kritisch wahrgenommen, die Vorstöße, dem vor allem auf fachlicher Ebene zu begegnen, wurden bilanziert, aber ebenso die weithin fehlende Vernetzung und die häufige Unwilligkeit staatlicher Kulturinstitutionen zu einer nachhaltigen Verbesserung analysiert. Die daraus resultierenden Empfehlungen lagen sehr auf der Linie dessen, was wir im Lauf der Arbeit in der Peace Education Standing Commission von Religions for Peace erarbeitet hatten. In den folgenden Monaten wurden ähnliche Konsultationen im afrikanischen, asiatischen, amerikanischen und ozeanischen Kontext veranstaltet und deren Ergebnisse bei einem globalen Treffen, das direkt der Weltversammlung von Religions for Peace vorausging, präsentiert. Im Vorbereitungsprozess für die Weltversammlung bat mich Kyoichi Sugino, stellvertretender Generalsekretär von Religions for Peace in New York, für den Inhaltsbereich Welcoming the Other through Religious and Multi-religious Education ein grundlegendes Kommissionspapier vorzubereiten. Religions for Peace hatte für die bei der Weltversammlung vorgesehene Kommissionsarbeit Fördermittel von der Rockefeller-Stiftung erhalten, von denen ich profitieren konnte. Gefragt war eine Ausarbeitung, in der ȤȤ die Probleme bei der Entwicklung religiöser und interreligiöser Erziehung identifiziert werden sollten und die Hauptakteure zu benennen waren, die darauf anzusprechen seien, ȤȤ die besonderen Chancen und ›Vorzüge‹ multireligiöser Zusammenarbeit aufgezeigt werden sollten, um den Problemen zu begegnen – und dies an best practice-Beispielen, ȤȤ Empfehlungen für multi-religiöse Aktionen durch interreligiöse Räte und Gruppen gegeben wurden. Es war für mich die Gelegenheit, die bisherige Arbeit der Peace Education Standing Commission zu bilanzieren und für einen weltweiten Kreis Engagierter

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zu akzentuieren. Die beiden grundlegenden Erkenntnisse, die uns alle dabei verbanden, scheinen fast banal, sind aber fundamental: Junge Menschen leben erstens ebenso wie Erwachsene überall in einer letztlich pluralen Welt. Junge Menschen leben zweitens ebenso wie Erwachsene in einer von neuer Globalität geprägten Welt. Dem können die Erziehungs- und Bildungsbemühungen nur gerecht werden, wenn die je spezifischen, ganz unterschiedlichen Lebensbedingungen und Problemkonstellationen in Rechnung gestellt werden. Orientierungs-, Existenz- und Handlungshilfe religiöser Erziehung muss entsprechend differenziert gestaltet werden. Bei der Weltversammlung in Wien im November 2013 bearbeitete die von mir geleitete Kommission nur einen von vier großen Inhaltsbereichen, die sich dem Schutz menschlicher Würde, bürgerschaftlichem Engagement und Arbeit für das Gemeinwohl aller unter dem Motto Welcoming the Other widmeten. An drei Konferenztagen hatten wir ganze drei anderthalbstündige Sitzungen, in denen dazu noch 13 Sprecherinnen und Sprecher zu Wort kommen sollten, vor allem von verschiedenen internationalen religiösen Organisationen, aus dem Frauen- und Jugendnetzwerk von Religions for Peace und auch von der der UNO zugeordneten Alliance of Civilisations. Aber dank des Grundlagenpapiers, auf das sich die Einzelnen immer wieder bezogen, konnten wir schließlich ein sehr vielfältiges und sehr klares Gesamtergebnis vorlegen, das mit der Kurzbeschreibung von sechs best practice-Beispielen aus Europa, Südamerika, Israel, Indien, Thailand und einem polnisch-italienischlibanesischen Kooperationsprojekt viel an Konkretion bot. Benannt wurden außerdem mehrere weitere Aktionen – darunter die vom Frauennetzwerk entwickelte Ausstellung Restoring Dignity für die Würde der Frauen und die Kampagne Arms Down des Jugendnetzwerks. Mit einer in den Konferenzpausen erarbeiteten Power Point-Präsentation konnte ich Hauptergebnisse im Schlussplenum vor den etwa 900 Delegierten vorstellen (dies zeigt das Cover dieses Buches), während der komplette Kommissionsbericht auf der Homepage von Religions for Peace eingestellt wurde. Ich bedauerte etwas, dass auf die interessanten Einzelprojekte in dem Bericht nur sehr kurz eingegangen werden konnte, und schaute deshalb nach Möglichkeiten, sie wenigstens im europäischen Raum bekannter zu machen. Da kam mir zu Hilfe, dass mir 2013 und 2014 zwei Preise verliehen wurden, die auch mit finanzieller Unterstützung verbunden waren: der Höffmann-Wissenschaftspreis für interkulturelle Kompetenz der Universität Vechta und der INT°RA -Projektpreis für Komplementarität der Religionen der Interreligiösen Arbeitsstelle Nachrodt. Beide Preise haben besondere Sponsoren: der Vechtaer Preis den Reise­ unternehmer Hans Höffmann, der eine Firma aufgebaut hat, mit der jähr-

lich über 50.000 Reisegäste, darunter ganze Schulen und Kirchengemeinden, Rom und die ganze Welt besuchen. Schon mit Papst Johannes Paul II. persönlich bekannt, hat ihm Papst Benedikt 2011 den Gregoriusorden verliehen. Zusammen mit dem Vechtaer Religionspädagogen Egon Spiegel hat er die Wichtigkeit interkultureller Arbeit erkannt und jährlich die Mittel für den Preis zur Verfügung gestellt. Schon viel länger hat die Stiftung Apfelbaum mit dem Rechtsanwalt Hans-Martin Schmidt in Köln die interreligiöse und interkulturelle Arbeit gezielt unterstützt – nicht zuletzt auch die Nürnberger Foren. Von dem Vechtaer Preis erfuhr ich überraschend durch die Pressestelle unserer Universität in Erlangen, noch bevor ich selbst etwas schriftlich in der Hand hatte. Sie war von der Universität Vechta um ein Foto von mir gebeten worden und bat nun selbst bei mir um ein aktuelles Bild. Die Kreisstadt Vechta im traditionell katholisch geprägten Südoldenburger Land mit ihrer kleinen, aber sehr ambitionierten Universität war mir ja seit Schülertagen bekannt, als ich dort alle 14 Tage mit dem Kreisorchester Diepholz-Vechta an der damaligen Pädagogischen Hochschule probte und erstmals 1959 als Horn-Solist auftrat. Nun bot ich als Festvortrag bei der Preisverleihung das Thema Interreligiöses Lernen als politische und pädagogische Aufgabe an. Ich wollte sichtbar machen, dass Politiker wie Religionsvertreter noch viel deutlicher als bisher ernst nehmen müssen, dass Religionen und Weltanschauungen in ihrem Miteinander ein nicht zu vernachlässigender Faktor sind. Sie haben Bedeutung sowohl für Konfliktprävention und Konfliktbewältigung als auch für die Sinnvergewisserung und Verantwortungsmotivation in der Gesellschaft. Für eine lebendige, plurale Demokratie sind verantwortungsbewusste Religionsgemeinschaften von grundlegender Bedeutung. Daraus ergeben sich für die verschiedenen pädagogischen Handlungsfelder – schulisch und außerschulisch – vielfältige Aufgaben, die ich exemplarisch erläuterte. Ich konnte mit Sabine, die dafür den ihr anlässlich ihres 40-jährigen Dienstjubiläums zustehenden freien Schultag in Anspruch nahm, nach Vechta fahren und dort nicht nur auf das universitäre und städtische Publikum treffen, sondern auch auf alte Freunde aus der Region, darunter den Vechtaer Germanisten Eberhard Ockel, den Freistätter Bürgermeister Wilhelm Kolwei, meine Mitkonfirmandin Margarete Möller und sogar noch meinen Diepholzer Klassenlehrer Hasso Apitz. Aus Osna­brück waren die Kollegen Arnim Regenbogen und Reinhold Mokrosch gekommen, und Reinhold Mokrosch hielt eine ebenso ernsthafte wie humorvoll gewürzte Laudatio. Der INT°RA-Projektpreis für Komplementarität der Religionen ist stärker auf die praktische Dimension interreligiöser Arbeit bezogen. So war in den Jahren zuvor etwa der Lichtkünstler Leo Lebendig mit seinen eindrucks-

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vollen Lichtinstallationen ausgezeichnet worden und das Projekt Engel der Kulturen der Künstler Gregor Merten und Carmen Dietrich, das die Symbole von Judentum, Christentum und Islam in ein innen offenes Rad integriert und inzwischen in vielen Städten Deutschlands und darüber hinaus installiert ist. Die Preisverleihung am 20. September 2014 in Braunschweig geschah im Kontext einer Tagung der Interreligiösen Arbeitsstelle Nachrodt zum Thema Spiritualität des Friedens – Interreligiöse Beiträge der Religionen, zu der Reinhard Kirste und Manfred Kwiran als Veranstalter einen weiten Kreis interreligiös Engagierter aus dem Spektrum der in Deutschland präsenten Religionen eingeladen hatten. Reinhard Kirste hob in seiner Laudatio vor allem die Praxisrelevanz meiner Arbeit für wechselseitiges Verstehen und Friedenserziehung in Schule, Hochschule und Gemeinde hervor, aber auch ihre theologische Verankerung in einem sich öffnenden Verstehen des Evangeliums von Jesus Christus. Ich selbst stellte exemplarisch die Arbeit des Runden Tisches der Religionen in Deutschland unter dem Motto Vertrauen wagen sowie die Bemühungen der Peace Education Standing Commission vor, für die mir das Preisgeld besonders willkommen war. Es stand nämlich für 2015 wieder eine Europäische Versammlung von Religions for Peace in Aussicht, und ich hoffte, die auf den europäischen Kontext bezogene interreligiöse Bildungsarbeit vor allem mit ihren auf die Inhalte der Religionen bezogenen Chancen und Möglichkeiten darzustellen. Für die internationalen Versammlungen von Religions for Peace ist es immer eine Herausforderung, Gastgeber zu finden, die eine entsprechende organisatorische und finanzielle Unterstützung bieten können, da die Arbeit in der Bewegung nahezu komplett ehrenamtlich geschieht und nur über ganz begrenzte logistische und finanzielle Kapazität verfügt. Für die europäische Versammlung bot sich schließlich die Fokolare-Bewegung an, diese von Chiara Lubich gegründete, im Katholizismus beheimatete spirituelle Bewegung, die längst ökumenisch organisiert und interreligiös offen gestaltet ist. Sie hat in Castel Gandolfo nahe Rom ihren Hauptsitz, in der umgebauten dortigen Audienzhalle, die der Papst ihr zur Verfügung gestellt hat. Es ging dabei besonders auch um eine Konkretion der Impulse der Wiener Weltversammlung für Europa, und das Vorbereitungskomitee unter Leitung der Belgierin Yolande Iliano, unserer europäischen Präsidentin, wählte dafür als Motto Welcoming each other in Europe: from fear to trust – Einander willkommen heißen in Europa: von Furcht zum Vertrauen. Ich konnte die Gelegenheit nutzen, eine Broschüre vorzubereiten und zu finanzieren, in der ich grundlegend auf die Chancen interreligiöser Bildung einging und beispielhafte Projekte ausführlicher darstellte als im Kommissionsbericht bei der Weltversammlung in Wien.

Unter der Überschrift The role of interreligious education in overcoming fear and building trust stellte ich dar, wie Vorbehalte und Ängste zwischen religiösen, ethnischen und politischen Gruppierungen die Quelle von Spannungen sein können – und dass der Mangel an Kenntnissen und einer Willkommens-Atmosphäre leicht politisch missbraucht werden und zu Fanatismus und Gewalt führen kann. Die drei Grundaufgaben religiöser Erziehung – nämlich in religiösen und weltanschaulichen Fragen Orientierungshilfe, Existenzhilfe und Handlungshilfe zu bieten – sind somit unverändert von hoher Aktualität. Ich beschrieb die Herausforderung, dass Migration, Reisen, Flucht, Medien es zunehmend unmöglich machen, ›die anderen‹ aus den eigenen Lebensbereichen herauszuhalten, und dass es noch zu viele Beispiele engstirniger Erziehung und eines Schwarz-Weiß-Denkens gibt. Die in der englischen Religionspädagogik von Michael Grimmith gekennzeichneten Wege religiöser Erziehung, Learning Religion – also Vertrautmachen mit einer bestimmten Religionstradition, Learning about Religion – religionskundliches Orientierungswissen vermitteln, Learning from Religion – aus den Traditionen und Quellen der Religionen Wichtiges für den eigenen Weg lernen, beschrieb ich als komplementär sich ergänzende Zugangsweisen. Bei der Frage nach dem Mehrwert religiöser Erziehung bezog ich mich auf die Spiritual and moral dispositions, die in dem bekannten Birmingham Syllabus festgehalten sind. Er wurde von einem aus Vertretern verschiedener Religionen, Lehrkräften und kommunalen Bildungsverantwortlichen zusammengesetzten Gremium erstellt. Bei der Wiener Weltversammlung war er von Ravinder Kaur Nijar, einer Frau aus Glasgow, die der Sikh-Religion angehört, vorgestellt worden: Schönheit empfinden, Freude ausdrücken, dankbar sein, für andere (Menschen wie Tiere) Sorge tragen, großzügig sein, fair und gerecht sein, Hoffnungen und Visionen haben – das sind einige dieser Dispositionen, die als humanistische Grundmerkmale und Anlagen beschrieben und jeweils auf religiöse Grundüberzeugungen bezogen werden. Es werden in der Broschüre dann vier Beispiele geschildert, die dazu beitragen können, eine Willkommenskultur zu fördern und Vertrauen aufzubauen: das Projekt Weltethos mit seinen vielfältigen pädagogischen Anregungen im globalen Horizont, das belgisch-niederländische Projekt Open Doors/ Hopen Doors, das in städtischem Kontext Religionsgemeinschaften, kommunale Bildungsträger, Lehrkräfte, Eltern und Kinder zusammenführt, die religionspädagogischen Erfordernisse, die sich aus unserer interreligiösen Schulbuchforschung ergeben haben und das Projekt Quellen der Menschlichkeit, in dem in einer interreligiös gemischten Gruppe Bibel und Koran auf ihre Beiträge zur Menschenwürde hin untersucht und ausgewertet wurden. Ich konnte eine größere Auflage drucken lassen, so dass die Broschüre allen

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gut 300 Delegierten in Castel Gandolfo, den Teilnehmern beim International Seminar on Religious Education and Values/ISREV 2016 in Chicago, allen beim zwölften Nürnberger Forum 2016 Mitwirkenden und darüber hinaus vielen weiteren im pädagogischen Feld Engagierten übergeben werden konnte.

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Wie hat sich in diesen Jahren mein persönlicher Lebenskreis weiter entwickelt? Er hat sich zunächst erweitert durch Felix – als jüngstes Enkelkind bei Luise und Ansgar in Berlin und Victor als älterem Bruder. Die Nachricht erreichte und erfreute Sabine und mich bei kurzen, schönen Erholungstagen zu Himmelfahrt 2012 auf der Insel Juist. Wir konnten sein Aufwachsen bei vielen Besuchen in Berlin begleiten und feierten Ostern 2013 ein besonders schönes Tauffest in Chorin, dem berühmten Kloster-Ort in OstBrandenburg mit einem Gottesdienst in der dortigen alten Dorfkirche. Als Taufspruch wurde Felix die Verheißung für Abraham mitgegeben: »Ich will dich segnen – und du wirst ein Segen sein« (1. Mose 12,2). Die ganze Familie beteiligte sich mit Liedbegleitung, Lesung und Gesang, und Victor durfte das Taufwasser einfüllen. Manchmal konnte ich seither schnell von Goslar nach Berlin kommen, wenn durch Ansgars und Luises Verpflichtungen eine Großvater-Unterstützung willkommen war. Jedes Mal wandert dann ein Stück aus meinem Kontingent der Brio-Eisenbahn, die ich seit meinem 65. Geburtstag habe, dorthin und erweitert den Bestand um eine neue Kurve, Schiene oder einen Waggon. In Bamberg konnte ich mit den beiden großen Enkeln – Angela und Jakob – ihr Abitur feiern und bin seitdem mit ihnen sehr im Gespräch über ihre weiteren Wege: Angela als Psychologie-Studentin in Jena, Jakob nach einem Freiwilligenjahr in Togo bei einer Organisation, die sich um Naturschutz und sanften Tourismus in diesem afrikanischen Land kümmert. Samuel hat von mir vor allem die Freude an Musik übernommen und pflegt auf dem musischen Gymnasium das Gitarren-Spiel. Bei beiden Elternpaaren sind die beruflichen Verpflichtungen – Markus in Bamberg mit seiner Steuerberaterkanzlei, Charlotte als stellvertretende Schulleiterin, Ansgar in Berlin mit seiner Verantwortung für die SiemensGasturbinenkraftwerke in Südostasien, Luise als Krankenhaus-Clown bei den Roten Nasen und mit Schauspielprojekten – sehr fordernd, und ich bewundere, wie die jüngere Generation all diese Verpflichtungen bewältigt. Henrike hat – nach acht Jahren als Professorin für Germanistik an der Universität Newcastle upon Tyne – 2014 den Ruf auf den Lehrstuhl für deutsche mittelalterliche Sprache und Literatur an der Universität Oxford erhalten und kann dort ihr besonderes Lehr- und Forschungsfeld in einem außerordentlich inspirierenden wissenschaftlichen Umfeld betreiben.

Sabine und ich konnten in diesen Jahren Reisen unternehmen, die unseren Horizont erweiterten: in den Herbstferien 2013 war es eine DonauKreuzfahrt, die wir uns gegenseitig zu unseren Geburtstagen geschenkt haben. Sie führte uns von Passau bis ins Delta und zurück. Es war ein großartiges Erlebnis: Das Schiff gleitet sanft an den Bergen und Burgen der Wachau vorbei nach Wien, es erreicht über Bratislava Ungarn, durchquert im Morgenlicht Budapest mit dem riesigen neugotischen Parlamentsgebäude, lädt zu einem Puszta-Ausflug ein, erreicht nach Halt in Belgrad den Donaudurchbruch durch die Karpaten beim ›Eisernen Tor‹, durchfährt die Walachei, bietet einen Abstecher nach Bukarest und die Erkundung der Natur des Donaudeltas mit einem kleinen Ausflugsschiff. 4400 km haben wir auf dem Wasser zurückgelegt, acht Länder berührt und dabei fünf Hauptstädte besucht. Im Januar 2014 beging Sabine bereits ihr 40-jähriges Dienstjubiläum und entschloss sich nach längeren Überlegungen, mit dem Schuljahr 2013/2014 ihren Schuldienst zu beenden. Sie hatte zunächst in Oker unterrichtet und war von 1983 an der Grundschule Goetheschule in Goslar – dabei viele Jahre Personalrätin und Fachkonferenzleiterin für Religion, zwischenzeitlich kommissarische Konrektorin und besonders engagiert im Brückenjahr für einen gelingenden Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Es gab zum Abschied viel Erinnern und Anerkennung im Kollegium und der Elternschaft und noch einmal spürbare Zuneigung ihrer Zweitklässler. Zusammen haben wir die neue Freiheit sehr genossen und erstmals auch außerhalb der Schulferien Reisen unternehmen können, 2014 im November nach Nordzypern und in die Südtürkei und 2015 mit einer Vorstands- und Stifterreise des Evangelischen Vereins für die Schneller-Schulen in den Libanon, nach Jordanien, Israel und Palästina. In diese Jahre gehörten regelmäßige Besuche bei Sabines Mutter, die, nachdem Sabines Vater 2001 verstorben war, weiterhin in Üfingen lebte, wo sie bis zu ihrem 92. Geburtstag, mit Unterstützung von außen, in ihrem Haus wohnen konnte. Bis zuletzt stimmte sie als jahrzehntelanges Chormitglied die zweite Stimme zu Volksliedern an, wenn ich sie auf dem Horn intonierte. Nach 1 1/2 Jahren liebevoller Pflege im Alerdsstift in Braunschweig mussten wir im November 2016 von ihr Abschied nehmen. Für die Trauerfeier hatte sie sich selbst als Leitwort die dritte Seligpreisung gewünscht: »Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.« In unserem Goslarer Umfeld und in der Braunschweiger Landeskirche, der ich nun angehöre, bin ich mit meinen Arbeits- und Interessensschwerpunkten häufig angefragt, nicht nur im Frankenberger Posaunenchor, dem Spontanchor der Landeskirche und zu Gottesdienstvertretungen,

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sondern besonders auch zu Beratungen und Vorträgen in Pfarrkonferenzen, Diakonieausschüssen und der Bildungsarbeit auf regionaler Ebene. Im Winter 2013/2014 führte ich mit der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem Braunschweig und der Propstei Goslar eine sechsteilige Vortrags- und Gesprächsreihe Christentum in der Begegnung mit dem Islam in der Goslarer Marktkirche und im Amsdorf-Haus durch, in der es um fundamentale Grundinformation, um Problemfragen im Dialog, im Zusammenleben und um die Zukunftsaufgaben, besonders im Feld interreligiösen Lernens, ging. Es wurde eine wirklich dialogische Veranstaltung, weil sich auch die muslimischen Gemeinden der Goslarer Innenstadt und des Stadtteils Oker, wo es einen abrahamitischen Gesprächskreis gibt, beteiligten. Zur Frage Glauben wir an den gleichen Gott? – Das Gottesbild bei Jesus und im Koran gab es einen Austausch mit meiner muslimischen Kollegin Hamideh Mohagheghi aus Hannover, zum Thema Krieg, Menschenreche, Religionsfreiheit ein Gespräch mit meinem Freund Wolf Ahmed Aries, langjährig im Dialog engagiert, ebenfalls aus Hannover, zum Thema Der Glaube der Anderen: Übereinander und miteinander lernen im christlichen und islamischen Religionsunterricht eine wechselseitige Darstellung in der Entwicklung interreligiösen Lernens mit der muslimischen Religionslehrerin Annett Abdel-Rahman, die auch wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Osnabrück und Lehrerin an der dortigen Drei-Religionen-Schule ist. Allerdings meldete sich bei einem der Abende auch ein fundamentaler Islam-Kritiker zu Wort, der von seinem Laptop aus alle gewaltbezogenen Aussagen aus dem Koran vorlas und den Islam pauschal zu einer menschenverachtenden Ideologie deklarierte. Erstaunlich war, wie sich eine junge Muslima daraufhin bemühte, diese Aussagen in die aktuellen Konfliktsituationen in der Offenbarungszeit des Koran einzuordnen. Für mich bedeutete es, dass ich die hermeneutische Frage nach dem Umgang mit solchen Problempassagen in Bibel und Koran, die man ja nicht eliminieren kann, in meinen Vorträgen immer wieder auch zum Thema machte. Das Motto Terrorismus hat keine Religion, das wir für unsere Gebetsstunde in Nürnberg am 11. September 2011 gewählt hatten, nahm ich als Überschrift für einen Vortrag, in dem ich die Erfahrung der Gewalt und die Arbeit am Frieden im Zusammenleben der Religionsgemeinschaften zum Thema machte und in vier Schritten, die gleichzeitig als Aufgabenstellungen verstanden werden können, entfaltete: 1. Die Konflikte und ihre Geschichte differenziert betrachten! 2. Die Deutungshoheit nicht den Fanatikern überlassen! 3. Die geduldige Friedensarbeit stützen! 4. Uns selbst einbringen!

Der zweite Schritt ist von besonderer Bedeutung für die theologische Arbeit im interreligiösen Dialog. Als Beispiele für Gewaltaussagen in Bibel und Koran sind etwa die Eroberungsgeschichten im Buch Josua zu nennen, wo Gott die Tötung alles Lebenden in den eroberten Städten befiehlt. Extreme Siedlergruppen in Israel leiten daraus den Anspruch auf Landgebiete ab, wie sie etwa zur Herrschaftszeit Davids zu Israel und Juda gehörten – also vom Mittelmeer bis weit über den Jordan hinaus. Fundamentalisten im Christentum nehmen die Schlachten zwischen Gott und dem Satan, zwischen Gut und Böse in der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, wörtlich, um gegen die sündenverfallene Welt zu Felde zu ziehen. Dschihadisten im Islam beziehen die Aufforderungen zum Kampf gegen die Ungläubigen im Koran auf alle, die nicht dem ihrer Ansicht nach reinen, ursprünglichen Islam folgen – und das sind dann nicht nur Götzenanbeter/Polytheisten, sondern auch Juden und Christen, Jesiden und Baha’i, und schließlich auch alle, die einer anderen islamischen Richtung folgen, und alle, die für religiöse Toleranz und Vielfalt eintreten. Man kann die Gewaltdarstellungen in Bibel und Koran nicht eliminieren. Beide heiligen Bücher spiegeln die Lebensverhältnisse, wie sie sind. Sie beschönigen sie nicht. Dazu gehören Auseinandersetzungen, Kämpfe, dazu gehören Leid und Schuld. Und doch sind die heilvollen, humanen Visionen und Bilder, die Modelle für ein verantwortungsvolles Leben und Handeln das Dominierende. Ich habe dazu Grundprinzipien benannt, die bei einer verantwortlichen Auslegung von Bibel und Koran zu beachten sind: 1. Die Situation, in der der jeweilige Text entstanden ist bzw. in die er hinein spricht. 2. Der Kontext, in dem der jeweilige Text steht. Mit dem Herausreißen einzelner Verse oder Aussagen aus dem Zusammenhang, in dem sie stehen, kann jede noch so problematische Meinung begründet werden. 3. Die literarische Gattung der einzelnen Texte: Eine Sage, eine Fabel, ein Gleichnis muss anders verstanden werden als ein Geschichtsbericht oder ein Prophetenwort. 4. Der Bezug zum Gesamtcharakter der jeweiligen Heiligen Schrift. Wenn man das auf die genannten Gewaltdarstellungen in Bibel und Koran bezieht, bedeutet es, wahrzunehmen, dass etwa die brutalen Texte über die Eroberung Palästinas durch die Hebräer wohl erst ein halbes Jahrtausend später im babylonischen Exil entstanden sind. Mit ihnen richtete sich das am Boden liegende und geschlagene Volk Israel an diesen Sagen von früheren militärischen Erfolgen innerlich auf.

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Im Neuen Testament ist die Offenbarung des Johannes mit ihren Schreckensdarstellungen über das Los derer, die vom Glauben abtrünnig geworden sind, wohl entstanden zur Zeit der ersten größeren Christenverfolgungen unter dem Kaiser Domitian am Ende des ersten Jahrhunderts, als die christlichen Gemeinden im Westen Kleinasiens gestärkt und getröstet werden mussten angesichts der Todesbedrohung, wenn sie dem Kaiser keine Opfer brachten. Besonders hart sind die Aussagen im Koran, Sure 2, Vers 190–195: »Und bekämpft auf dem Weg Gottes die, die euch bekämpfen. Handelt aber nicht widerrechtlich! Siehe, Gott liebt die nicht, die widerrechtlich handeln.« Und dann die Aussage, die Muslimen immer wieder vorgehalten wird: »Tötet sie, wo ihr sie trefft und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben.« Aber auch hier ist eine ganz spezifische Situation vorausgesetzt: Die Muslime waren wegen der Unterdrückung in Mekka nach Medina ausgewandert und hatten immer wieder Kämpfe mit den Leuten aus Mekka zu bestehen. Schließlich erreichten sie einen Vertrag, der ihnen erlauben sollte, zur Kaaba nach Mekka zu pilgern. Sie mussten aber einen Vertragsbruch und Angriffe aus Mekka befürchten. Hier erhalten die Muslime, die bis dahin die Feindseligkeiten aus Mekka geduldig ausgehalten haben, erstmals die Erlaubnis, sich aktiv gegen die Mekkaner zur Wehr zu setzen. Dass solche Aussagen, wenn sie aus dem Kontext gerissen werden und wenn die spezifische Situation, auf die sie sich beziehen, nicht beachtet wird, leicht zur Legitimierung von Gewalt herangezogen werden, dürfte deutlich sein. Das ist der Punkt, an dem die Deutungshoheit nicht den Fanatikern überlassen werden darf! Die Gewaltaussagen müssen nicht nur im Blick auf die spezifische Situation, in der und in die hinein sie sprechen, relativiert werden, sondern sie müssen auch in den Kontext der gesamten Heiligen Schrift gestellt werden. Den Gewalterzählungen im Buch Josua stehen die Zehn Gebote gegenüber und mit ihnen die Forderung, die Fremden im eigenen Land wie Einheimische leben zu lassen. Den endzeitlichen Visionen in der Offenbarung des Johannes steht Jesu Gebot der Nächsten- und Feindesliebe gegenüber, die auch dem religiösen und politischen Gegner gelten soll. Und im Koran heißt es in Sure 5, Vers 32 unter Bezugnahme auf eine jüdische Überlieferung: »Wenn jemand einen Menschen tötet, der keinen anderen getötet, auch sonst kein Unheil auf Erden gestiftet hat, so ist’s, als töte er die Menschen allesamt. Wenn aber jemand einem Menschen das Leben bewahrt, so ist’s, als würde er das Leben aller Menschen bewahren.« (Übersetzung Hartmut Bobzin)

Blicken wir auf die Zentralbotschaften der großen Religionen, so können wir feststellen, dass jede von ihren Ursprüngen her eine spezifische Friedensbotschaft in sich trägt. In der jüdischen Tradition ist der Begriff des Schalom von besonderer Relevanz, weil er viel mehr umschließt als eine bloße Kennzeichnung der Abwesenheit von Krieg. Er bringt darüber hinaus das Heil-Sein einer Gemeinschaft unter dem Heilswillen Gottes in umfassendem Sinne zum Ausdruck. Die prophetische Vision der Umwandlung der Schwerter in Pflugscharen hat sich gerade in der Friedensbewegung seit den 1970er-Jahren als besonders kräftig erwiesen. Der Weg Jesu Christi kann in ganz spezifischer Weise als exemplarischer Friedensweg betrachtet werden. Zu seiner Botschaft gehört nicht nur die Seligpreisung der Friedensstifter, sondern zentral auch das Gebot der Feindesliebe, das aus der erfahrenen Güte Gottes resultiert und dessen Zuspitzung bei Jesus darin liegt, dass es auch dem nationalen und religiösen Gegner gilt. Jesus realisiert dieses Gebot an der Seite derer, die vermeintlich von der Gottesliebe ausgeschlossen waren, und noch in seinem Gebet für seine Feinde, das er am Kreuz spricht. Für die Jünger wird dieser Weg zu Ostern als Gottes eigener Weg bestätigt und stellt sie in den Auftrag, als Friedensbringer Salz der Erde und Licht der Welt zu sein. Im Islam wird immer wieder betont, wie die Grundbedeutung der Religionsbezeichnung Islam –wörtlich Hingabe an den Willen Gottes – eine enge Beziehung zum Begriff des Friedens hat. Gegen jeden kriegerischen Eifer, den bestimmte muslimische Gruppen aus der Pflicht zum Dschihad – wörtlich Anstrengung auf dem Weg Gottes – abgeleitet haben und gegenwärtig ableiten, wird hervorgehoben, dass die eigentliche Anstrengung auf dem Weg Gottes der Kampf gegen den eigenen Egoismus sein müsse, der sich jedem Frieden in den Weg stellt. Dieser Art der Auslegung und des verantwortlichen Umgangs mit den heiligen Schriften muss in den Religionsgemeinschaften an vielen Stellen erst noch der Weg gebahnt werden – gegen all die Gegenbeispiele, die es in der Geschichte wie in der Gegenwart der Religionen gibt. Diejenigen, die sich dafür einsetzen, haben es oft in der eigenen Religionsgemeinschaft nicht leicht. Mit den Spannungsfeldern, in denen immer auch Religiöses mitspielt, bin ich vor allem durch die Arbeit im Vorstand des evangelischen Vereins für die Schneller-Schulen im Nahen Osten konfrontiert: Die Johann-LudwigSchneller-Schule in Khirbet Kanafar in der Bekaa-Ebene liegt nur 30 km von der syrischen Grenze entfernt; Flüchtlingslager gibt es im näheren und weiteren Umfeld; die politische Lage ist durch die verschiedenen Einflusssphä-

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ren – die christliche, die sunnitische, die schiitische Community, Letztere gestützt durch den Iran, die Drusen – immer wieder labil. Jordanien gilt mit Recht bisher als vergleichsweise stabiles Land in der Konfliktregion. Aber die Theodor-Schneller-Schule im Außenbezirk von Amman hat ein palästinensisches Flüchtlingslager direkt angrenzend an das Schulgelände, und auch aus dem Irak haben viele Flüchtlinge in Jordanien Schutz gesucht. Länger hatten wir eine Vorstands- und Stifterreise zu den Schulen geplant – immer wieder einmal unsicher, ob die politische Lage es erlauben würde. Im November 2015 traten wir sie dann doch an: eine Gruppe von 21 Engagierten, die sich im Vorstand des deutschen und des Schweizer Schneller-Vereins oder durch ihre Beiträge zur Schneller-Stiftung für die Arbeit der Schulen einsetzen. Uwe Gräbe, ehemaliger Propst von Jerusalem und jetzt Nahostreferent der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS) Stuttgart, hatte als Leiter der Gruppe mit einer örtlichen Reiseagentur ein Besuchsprogramm ausgearbeitet, bei dem Gefahrenpunkte umgangen und die Wege aktuell verändert werden konnten. Gleich am ersten Tag konnten wir nicht, wie vorgesehen, das Stadtzentrum von Beirut besuchen, da anlässlich des nationalen Feiertags dort Demonstrationen stattfanden – vor allem für die Wahl eines Präsidenten, ohne den das Land wegen Rivalitäten der verschiedenen Gruppen schon zwei Jahre lang auskommen musste. Umgekehrt konnten wir die eindrucksvollen antiken Orte Byblos und Baalbek besuchen. Wir begegneten einer ungebrochen lebendigen Schularbeit in Khirbet Kanafar. Schulleiter George Haddad berichtete, dass die syrischen Flüchtlingskinder, die die Schule aufgenommen hat, inzwischen gut integriert seien, soweit das in der gegenwärtigen Situation und angesichts ihrer traumatischen Erfahrungen möglich wäre. Wir sprachen mit den syrischen Flüchtlingsmüttern, die täglich mit ihren kleinen Kindern aus einem Lager abgeholt und in einem Frisiersalon ausgebildet wurden – zusätzlich zu denen, die einen Kurs als Schneiderinnen erhalten haben. Ihre Schicksale – sie mussten meist ihre Männer in den Kämpfen in Syrien zurücklassen oder flohen vor den Bombardements in Damaskus – berührten uns ebenso tief wie ihre Dankbarkeit für die Aufnahme in der Schule. Mit Jordanian Airlines flogen wir auf dem Umweg über den Golf von Akaba nach Amman. Zu sehen, wie die Kinder und Jugendlichen in der Theodor-Schneller-Schule geschützt leben und gefördert werden, bestärkte uns in der Einschätzung, wie sinnvoll und notwendig unsere Unterstützung ist. Allerdings ist der Renovierungsbedarf für die in den 1960er-Jahren errichteten Gebäude enorm, die Werkstätten sind in keinem guten Zustand und die wirtschaftliche Lage ist prekär. Aber die Aufnahme von Kindern aus dem benachbarten palästinensischen Flüchtlingslager, die Förderung von

Kindern mit Handicap und ihre Einbeziehung in die sportlichen Spiele, die Kooperation zwischen dem muslimischen Religionslehrer und der christlichen Religionslehrerin und nicht zuletzt die inzwischen selbstverständliche Präsenz von Mädchen in Kindergarten und Schule stehen dem als positive Zeichen gegenüber. Wir reisten danach über die Allenby Bridge – mit peniblen israelischen Kontrollen – nach Jerusalem weiter. Dort wurden wir von Erzbischof Suheil Sawani von der Episcopal Church als Schulträgerin empfangen und konnten mit ihm die gegenwärtig besonders hohen pädagogischen und organisatorischen Herausforderungen für die Schule in Amman erörtern. In Jerusalem erlebten wir den Sabbat mit betenden, singenden und tanzenden Jüdinnen und Juden an der Klagemauer, konnten uns trotz der Spannungen, die in der Luft lagen, ungestört bewegen und feierten in der Evangelisch-Lutherischen Erlöserkirche, Uwe Gräbes früherer Wirkungsstätte, einen wunderschönen deutschsprachigen Gottesdienst zum ersten Advent. Am Samstag zuvor hatten wir den Tag in Beit Jala an der Schule Talitha Kumi und danach in Bethlehem verbracht. Pfarrer Jens Nieper vom Berliner Missionswerk und Schulleiter Rolf Lindemann zeigten uns das schöne begrünte Schulgelände, von dem aus wir aber auch sahen, wie hart die trennende hohe Mauer um die Palästinensergebiete die Landschaft durchschneidet. Fast 1000 Kinder besuchen hier den Kindergarten, die Schule mit Internat und die Hotelfachschule, etwa 60 % christliche und 40 % muslimische Schülerinnen und Schüler – und es kann sogar das deutsche Abitur abgelegt werden. Mit einer so qualifizierten Ausbildung können sie noch am ehesten hoffen, in dem eingeschnürten Palästinensergebiet mit hoher Arbeitslosigkeit eine dauerhafte Arbeit zu finden. Für unsere erste größere Reise des Jahres 2016 waren wir zusammen mit Enkel Jakob, Henrikes Patensohn, im Januar nach Oxford eingeladen: Henrike, die sich im Jahr zuvor schon ganz am St. Edmund Hall College und an der Fakultät eingelebt hatte, hielt nun ihre Antrittsvorlesung. Sie führte ein breites internationales Publikum in ihre ›Werkstatt‹ ein, indem sie eine bebilderte Handschrift aus dem späten 15. Jahrhundert – einen im Kloster Medingen geschriebenen Psalter, den die Universität zu ihrer Begrüßung erworben hatte – als Beispiel für die hohe Kultur der handwerklich-künstlerisch-geistlichen Arbeit des Spätmittelalters vorstellte. Die Handschrift wurde in einer akademischen Prozession vom Bibliotheksdirektor samt der in vollem Amtsornat angereisten Äbtissin von Medingen hereingetragen. Für Sabine und mich war besonders schön, nicht nur Oxford mit seinen Colleges, seiner wissenschaftlichen und kulturellen Atmosphäre und seiner eindrucksvollen Architektur zu erleben, sondern auch dem breitem inter-

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nationalen Freundes- und Kollegenkreis von Henrike zu begegnen, der sie auf den Weg in die großartige Aufgabe dort begleitet hat. Mein 75. Geburtstag im Juni 2016 war zwar nur ein ›halbrunder‹ Geburtstag, er erhielt jedoch einen ganz besonderen interreligiösen Akzent. In Goslar hatten wir mit Kammermusik des Quartetts, in dem ich zu Querflöte, Geige und Cello das Klavier spiele, gefeiert, aber dann gab es am Lehrstuhl in Nürnberg eine Woche später eine Einladung mit dem dortigen Mitarbeiter- und Kollegenkreis. Die große Überraschung dabei war ein Buch mit Liedern über Gott und die Welt, für das die Kollegen Werner Haußmann und Manfred Pirner 62 Beiträge von Weggefährten für mich als langjährigen ›Liedprediger‹ gesammelt hatten. Jede und jeder interpretierte eines seiner Lieblingslieder. Vertrautes wie Geh aus mein Herz war ebenso dabei wie für mich Neues, zum Beispiel Ich sammle Farben für den Winter von Jonathan Böttcher. Bei manchen – wie Count on me von Bruno Mars und Zeugnistag von Reinhard Mey – musste ich mir die Melodien erst einmal auf YouTube anhören. Alle drei Töchter haben sich beteiligt – Henrike gleichsam ›klassisch‹ mit Christ lag in Todesbanden von Martin Luther, Charlotte mit dem schönen Abendlied Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen von Gerhard Valentin nach dem englischen Text von John Ellerton, Luise mit dem Taizé-Gesang Nada da Turbe – Nichts soll dich erschrecken, und sie wussten das mit besonderen Familienerinnerungen zu verbinden. Über die evangelischen und katholischen Kolleginnen und Kollegen hinaus haben Freundinnen und Freunde aus Judentum, Islam, Buddhismus und der Baha’i-Religion zu dem Band beigetragen: Marcus Schalom Schroll über die Bedeutung des Schofars, Cemal Tosun und Betül Zengin über Yunus Emres Zu Gott rufen, Nicola Towfigh über Baha’u’llahs vertonte Worte Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen, Alfred Weil über das Metta-Sutra, Buddhas Rede über die Liebe – in dieser ganzen Vielfalt ein großer Reichtum! Mit Anteilnahme habe ich die oft sehr persönlichen Zeugnisse der Erfahrung mit den Liedern gelesen. Sie sind, wie Manfred Pirner und Werner Haußmann es charakterisierten, Lebens­begleiter: in allen Lebenslagen, durch die Jahrhunderte, in verschiedenen Religionen und Kulturen, in der Verbundenheit mit anderen Menschen, in Zeiten der Stille und in Zeiten der Gemeinsamkeit. Aus Anlass meines Geburtstags hatte ich mir gewünscht, eine ganze Woche lang mit der kompletten engeren Familie – den drei Töchtern, zwei Schwiegersöhnen und fünf Enkeln – in unserer seconda patria, der Casa Clara in Germignaga am Lago Maggiore, Ferien zu machen. Es wurden unbeschwerte sommerliche Ferientage, an denen alle zum Gelingen beitrugen: mit Kochen und Grillen, Spielen, Musizieren, Schwimmen in der Badebucht und einem Seilbahnausflug auf den Sasso del Ferro. Am schönsten aber war

das Beisammensein in milder Luft auf der großen Terrasse bis spät in den Abend hinein, wenn die Lichter um den See angingen, die Sterne heraufrückten, immer wieder einmal eine Sternschnuppe über den Himmel zog und am Kaminfeuer zur Gitarre gesungen wurde. Nach der Teilnahme und Mitarbeit bei der sommerlichen Konferenz von ISREV (International Seminar on Religious Education and Values) in Chicago, bei der Manfred Pirner und ich die englische Fassung des Forumsbandes Human Rights and Religion in Educational Contexts vorstellen konnten, war das nächste große Arbeitsziel das zwölfte Nürnberger Forum. Nachdem bei den Foren immer schon die gesellschaftliche Relevanz interreligiöser Bildung im Fokus stand, verknüpften wir unser Vorhaben diesmal bewusst mit den Initiativen des internationalen Netzwerks für Öffentliche Theologie/Public Theology. Diese Bewegung, die sich im Bereich christlicher Theologie entwickelt hat und in Deutschland vor allem von Heinrich Bedford-Strohm, dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, in die kirchlich-theologischen Diskussionen eingebracht worden ist, hatte bisher die anderen Religionen und die interreligiöse Bildung noch kaum im Blick. Das führte uns zu dem Gesamtthema Public Theology – Religion – Education. Interreligious Perspectives – »Öffentliche Theologie – Religionen – Bildung. Interreligiöse Perspektiven. Manfred Pirner, Werner Haußmann und ich bildeten dazu einen größeren theologisch-religionspädagogischen Vorbereitungskreis mit Andrea Roth, Peter Bubmann, Florian Höhne, Andreas Nehring, Henrik Simojoki und Thomas Wabel. Wir gewannen die Vorsitzende des Global Network for Public Theology, Elaine Graham aus Chester in England, zur Kooperation, Heinrich Bedford-Strohm als Eröffnungsredner und den für seine kritischen Beiträge zur Rolle der monotheistischen Religionen bekannten Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Jan Assmann aus Konstanz für das Schlussreferat. Für die jüdische Perspektive sprachen Hanan Alexander und Zehavit Gross aus Israel, für die muslimische Mouhanad Khorchide aus Münster und Elif Medeni aus Wien, für die buddhistische Heeson Bai aus Kanada. Wir entschlossen uns, diesmal die ganze Konferenz in englischer Sprache durchzuführen, was uns nicht leicht fiel, weil es doch die Breite des Teilnehmerkreises einschränkte; aber die direkte Kommunikation – ohne Simultanübersetzung, die wir immer nur für die Plenumsvorträge hatten einrichten können, verbunden mit einer oft unbefriedigenden whispering translation in den Gruppenvorträgen – profitierte deutlich davon. Nachdem Heinrich Bed­fordStrohm deutlich gemacht hatte, wie theologisch verantwortetes öffentliches Wirken der Kirchen angesichts der gegenwärtigen massiven Gefährdungen für ein positives interkulturelles Zusammenleben einen wichtigen Beitrag in unserer Gesellschaft leisten müsse, und zwar in religionsübergreifender

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Kooperation, wurde das in verschiedene pädagogische Felder hinein entfaltet. Religiöse Beiträge für das Gemeinwohl: Wie vielfältige Ansätze dazu in den Religionsgemeinschaften vorhanden sind, wurde durchgängig sichtbar. Deutlich wurde auch, dass die Religionsgemeinschaften immer wieder zwei Gefährdungen begegnen: dem Rückzug auf eine bloße Innensicht der eigenen Religionstradition einerseits, der Anpassung an eine bestimmte ideologische Ausrichtung in einem Gesellschaftssystem andererseits. Öffentliches Wirken der Religionsgemeinschaften braucht eine kritisch-konstruktive Ausrichtung. Christlich wurde dabei – u. a. von den Kolleginnen und Kollegen aus Südafrika – besonders auf Bonhoeffers Motto vom Beten und Tun des Gerechten Bezug genommen, auch auf Reinhold Niebuhrs Eintreten für eine Reform gerade des protestantischen Christentums hin zu einer klaren Wahrnehmung der Herausforderungen einer modernen Welt. Buddhistisch kam die Bewegung des Engaged Buddhism in den Blick, oder eines Buddhismus mit »kleinem b«, wie Sulak Sivaraksa in Thailand es formuliert hat, der etwa mit seinem Parlament der Armen sozialkritisches Handeln initiiert und mit der Spirit in Education-­Bewegung die spirituellen Grundlagen der Religion für die Erziehungsaufgaben fruchtbar gemacht hat. Dem Forum vorgeschaltet war ein Nachwuchs-Workshop mit Beiträgen aus Europa, Afrika, Asien und Amerika, begleitet von senior researchers, zu denen ich auch gehören durfte. Leider konnte zu ihm wie auch zum Forum selbst diesmal – nach dem Putsch in der Türkei – keine Kollegin und kein Kollege von dort einreisen. Ich sprach am Beispiel der Peace Education Standing Commission über den Beitrag interreligiös ausgerichteter NGOs für öffentliche Erziehungsaufgaben – ein Versuch, Bilanz zu ziehen, in welch weite Bereiche hinein, schulische wie außerschulische, interreligiöse Zusammenarbeit Früchte tragen kann. Manfred Pirner nutzte die Gelegenheit, ein nachhaltiges Arbeiten für öffentliche Religionspädagogik auf den Weg zu bringen, und zwar mit der Gründung eines interdisziplinären Research Unit for Public Religion and Education (RUPRE = Forschungsstelle für Öffentliche Religionspädagogik). In den Monaten nach dem Forum haben sich die politischen Rahmenbedingungen für unsere Anliegen leider eher nicht verbessert – die Wahl von Donald Trump in den USA und der Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin sind dafür besonders signifikante Phänomene. Und doch möchte ich mit allem, was ich in diesem Kapitel geschildert habe, deutlich machen: Es gibt für uns keinen Grund, den Mut zu verlieren und in Resignation zu verfallen, sondern letztlich nur die Aufgabe, im Kreis aller Menschen guten Willens weiterhin unser Bestes zu geben!

Schätze der Religionen im Buddhistischen Zentrum Fürth: der ­Bodhisattva Avalokitesvara mit ­Brigitte Meixner, Claudia Zwiener, Bernhard ­Vetter – ­Februar 2013

Die Mitglieder des Runden Tisches der Religionen in Deutschland tragen sich beim Tag der Religionen in Coburg am 24.10.2013 ins Goldene Buch der Stadt ein (v. l.: Ahmad Aweimer, Assaad ­Elias Kattan, Oberbürgermeister Norbert Tessner, Martin Hein, Ingo Hofmann, Heinrich BedfordStrohm als Referent, Franz Brendle, Johannes Lähnemann, am Goldenen Buch Burhan Kesici)

Verleihung des Höffmann-Wissenschaftspreises der Universität Vechta am 16. Januar 2014 (v. l. Egon Spiegel, Hans Höffmann – Stifter des Preises, Präsidentin Marianne ­Assenmacher, Uwe Bartels, Vorsitzender der Universitätsgesellschaft, Reinhold Mokrosch, Bürgermeister Helmut Geis)

Mit den Teilnehmerinnen des Oberseminars – Kathrin Winkler, Christa Tribula, Andrea Roth, Stephanie Simmet – und Manfred Pirner am 22. Mai 2015 in Luino

Vorstands- und Stifter-Reise der Schneller-Schulen in den Nahen Osten im November 2015 – hier vor der Christuskirche der Theodor Schneller-Schule in Amman

Mit Tochter Henrike bei ihrer Antrittsvorlesung an der Universität Oxford – 22. Januar 2016

Mit Manfred Pirner, Karlo Meyer und Werner Haußmann in Chicago anlässlich der ­Tagung des International Seminar on Religious Education and Values (ISREV)

Die ganze Familienrunde mit Markus, Samuel, Henrike, Ansgar, Felix, Luise, Charlotte, Angela, Sabine, Victor, Johannes, Jakob auf der Terrasse von Casa Clara – anlässlich der Nachfeier zum 75. Geburtstag 2016

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 Ausblick: Ein Text und eine Vision zum Weiterdenken

Auf meinem Weg bin ich immer wieder Texten, Beispielen, Erzählungen, Gedichten, Liedern begegnet, die mir zu Stützen wie auch zu Herausforderungen geworden sind, weil sie mich gewisser gemacht haben, in welche Richtung mein Denken und Handeln führen kann – als evangelischer Christ und Theologe und als Glied in der großen Ökumene einer Weltgemeinschaft, in der so vieles miteinander verbunden und verflochten ist, dass ich mich nicht daraus lösen kann und will. Oft sind es Texte, die in großer Dichte von Erfahrungen, auch sehr schweren Erfahrungen, geprägt sind und dabei doch etwas Visionäres, Weiterführendes enthalten. Einen dieser Texte habe ich als junger Student in Dietrich Bonhoeffers Briefen aus der Haft, von seinem Freunde Eberhard Bethge in dem kleinen Band Widerstand und Ergebung herausgegeben, gefunden. Aufgeschrieben hat ihn Dietrich Bonhoeffer am 21. Juli 1944, nach der Nachricht vom Fehlschlag des Attentats auf Hitler am Tag zuvor, als Versuch, »Stationen auf dem Wege zur Freiheit« zu beschreiben. »Zucht«, »Tat«, »Leiden«, »Tod« sind diese Stationen, und zur »Tat« heißt es dort:23 Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit. Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens, nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen, und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.

Dieses in Gefängnismauern, in einer ausweglos scheinenden Situation Niedergeschriebene, nach einem Weg, der durch viele Zweifel zur Tat geführt hat – im Angesicht von Leiden und Tod, ist mir zu einem Begleitwort geworden, das mir in den täglichen Erfahrungen wie auch bei wichtigen Entscheidungen oft vor Augen gestanden hat.

23 D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. v. Eberhard Bethge. München 1964, 184.

Ein weiteres Beispiel leuchtet die Perspektiven aus, die mein Lernen in der Begegnung kennzeichnet: eine Erzählung, die gleichsam eine Vision enthält. Ich habe sie in dem Buch Wo Gott wohnt von Horst Ritter gefunden24 und bei der Gebetsstunde der Religionen zum Thema Bewahrung der Schöpfung/ Bewahrung des Lebens 1991 in St. Egidien in Nürnberg unter dem Motto Auf dem Berg Morija. Das Wunder brüderlichen Lebens erzählt und ausgelegt:25 Zwei Brüder wohnten einst auf dem Berg Morija. Der jüngere war verheiratet und hatte Kinder, der ältere war unverheiratet und allein. Die beiden Brüder arbeiteten zusammen, sie pflügten das Feld zusammen und streuten zusammen die Saat aus. Zur Zeit der Ernte brachten sie das Getreide ein und teilten die Garben in zwei gleich große Stöße: für jeden einen Stoß Garben. Als es Nacht geworden war, legte sich jeder der beiden Brüder bei seinen Garben nieder, um zu schlafen. Der Ältere aber konnte keine Ruhe finden und sprach in seinem Herzen: Mein Bruder hat eine Familie, ich dagegen bin allein und ohne Kinder, und doch habe ich gleich viele Garben genommen wie er. Das ist nicht recht. Er stand auf und nahm von seinen Garben und schichtete sie heimlich und leise zu den Garben seines Bruders. Dann legte er sich wieder hin und schlief ein. In der gleichen Nacht nun, eine geraume Zeit später, erwachte der Jüngere. Auch er musste an seinen Bruder denken und sprach in seinem Herzen: Mein Bruder ist allein und hat keine Kinder. Wer wird in seinen alten Tagen für ihn sorgen? Und er stand auf, nahm von seinen Garben und trug sie heimlich und leise hinüber zu dem Stoß des Älteren.   Als es Tag wurde, erhoben sich die beiden Brüder, und jeder war erstaunt, dass die Garbenstöße die gleichen waren wie am Abend zuvor. Aber keiner sagte darüber zum anderen ein Wort. In der zweiten Nacht wartete jeder ein Weilchen, bis er den anderen schlafend wähnte. Dann erhoben sie sich, und jeder nahm von seinen Garben, um sie zum Stoß des anderen zu tragen. Auf halbem Weg trafen sie einander, und jeder erkannte, wie gut es der andere mit ihm meinte. Da ließen sie ihre Garben fallen und umarmten einander in herzlicher und brüderlicher Liebe.   Gott im Himmel aber schaute auf sie hernieder und sprach:   Heilig ist mir dieser Ort, hier will ich bei den Menschen wohnen.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Weil sie im tiefsten Sinne das sichtbar macht, was wir zur Bewahrung des Lebens brauchen ȤȤ in unserem täglichen Umgang miteinander, ȤȤ in unserem Zusammenleben der Religionsgemeinschaften miteinander und ȤȤ im Zusammenleben mit der ganzen uns anvertrauten Welt.

18 24 H. Ritter: Wo Gott wohnt – Geschichten, Gedanken und Gebete zum Leben. Aus dem Hebräischen von J. Kerschensteiner. Essen 1990, 22 ff. 25 J. Lähnemann/Religionen für den Frieden Nürnberg: Spiritualität. Multireligiös. Begegnung der Religionen in Gebeten, Besinnungen, Liedern. Berlin 2014, 57 ff.

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Zuerst zeigen uns die beiden Brüder, was wir in unserem täglichen Umgang miteinander brauchen: Sie denken nicht an sich selbst, sondern sie denken darüber nach, ob sie dem anderen gerecht werden. Das lässt sie nicht mehr schlafen. Wer erst einmal so weit ist, dem macht es auch nichts mehr aus, nachts aufzustehen, um dem anderen eine Freude zu machen. Und dass das heimlich geschieht, ist eigentlich das Schönste an der Geschichte. Hier wird nicht zur Schau gestellt, sondern im unbeobachteten Augenblick lässt einer dem anderen das zukommen, was ihm zusteht. Und weil es ihm zusteht, möchte man ihn nicht einmal in die Verlegenheit bringen, danke sagen zu müssen. Als die beiden entdecken, wie herzlich sie einander zugetan sind, lassen sie die Garben fallen, denn die sind nicht mehr wichtig, sondern das Wissen darum, dass jeder auf das Wohl des anderen bedacht ist. Wenn wir ein wenig davon in unserem täglichen Umgang miteinander hinein nehmen könnten, wie viel würde sich da in unserem Leben ändern! Aber es steckt in unserer Geschichte noch eine tiefere Symbolik: Der Berg Morija, auf dem sie spielt, ist – äußerlich gesehen – wirklich der heiligste Berg der Welt. Nicht weniger als drei Weltreligionen versammeln sich hier in Jerusalem, um Gott anzubeten: Juden, Christen und Muslime. Abraham wandert hierher mit seinem Sohn Isaak, um ihn zu opfern – wovon Gott selbst ihn im letzten Moment zurückhält. Salomo errichtet an diesem Ort den ersten Tempel. Jesus hält sich hier im Tempel, dem Haus seines Vaters, auf. Von Mohammed wird erzählt, dass er von hier aus auf seinem Pferd zum Himmel ritt. Heute stehen hier die Al-Aksa-Moschee und der Felsendom. Wenn Gott sich ein prächtiges Gebäude suchen wollte, um darin unter den Menschen zu sein, so hätte er gewiss eine gute Wahl getroffen. Aber – so will unsere Geschichte sagen – Gott wählt nach ganz anderen Kriterien. Er möchte da unter den Menschen sein, wo in seinem Sinne gelebt wird, und zwar brüderlich. Wenn das selbstverständliche Praxis bei den Angehörigen der drei Weltreligionen, die sich den Berg Morija zu ihrem Zentrum erwählt haben, ja zwischen den Angehörigen aller Religionen und Weltanschauungen werden würde, was bliebe dieser Welt erspart! Für uns Christen hat Jesus Christus das besonders eindrücklich in seinem Gleichnis vom Endgericht zum Ausdruck gebracht, wo der Weltenrichter den vor ihm versammelten Menschen sagt: »Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« (Matthäus 25,40). Wir sind aufgerufen, das in unserer Begegnung mit allen Menschen zur Geltung kommen zu lassen, was Jesus an unserer Seite und für uns in seinem Leben und in seinem Leiden getan hat.

Was die Geschichte von den beiden Brüdern sagen will, gilt schließlich aber auch für unser Zusammenleben mit der ganzen uns anvertrauten Welt: An den anderen denken, sich in ihn hineinversetzen – das braucht der ganze Weltkreis, das braucht die ganze Erde, die die Lebensgrundlagen für uns bereit hält, in ihrer großen Schönheit und Vielfalt: Denken wir daran, was das Tier empfindet, wenn wir mit ihm umgehen? Denken wir daran, wie sich Blumen und Bäume, Büsche und Wiesen entfalten können? Was geschieht mit Wasser, Luft und Erde? Geben wir ihnen den Raum, dass das Bild der lebendigen, schöpferischen Liebe Gottes sichtbar bleibt? Der Kern und Anfang dieses brüderlichen und schwesterlichen Verhaltens aber ist, dass es uns geschenkt wird, aus dem Kreisen um uns selbst, um unser Ich herauszutreten und zum Herzen des anderen zu finden. Ich habe diese Geschichte nicht nur bei der Gebetsstunde 1991 in St. Egidien erzählt, sondern auch 1999, als wir in einer Gruppe von Muslimen und koptischen Christen aus Ägypten sowie evangelischen Christen aus Deutschland drei Tage auf einem Nilschiff von Luxor nach Assuan unterwegs waren. Wir führten harte Dialoge, in denen wir nicht nur an die Grenzen wechselseitigen theologischen Verstehens gerieten, sondern auch mit den Pauschalbildern von ›Islam‹ und ›dem Westen‹ kämpften, den westlichen Vorstellungen von Islam, der volle Pluralität nicht akzeptierenden kann, den in muslimisch geprägten Ländern verbreiteten Vorstellungen von einem dekadenten Westen andererseits. Weil wir zusammen auf dem einen Schiff unterwegs waren, konnten wir nicht einfach auseinanderlaufen. In dieser Situation wählte ich für eine Morgenbesinnung die Geschichte vom Berg Morija. Ich spüre noch heute die Aufmerksamkeit, mit der sie gehört wurde, und die Stille, als ich mit ihr zu Ende war – und erfuhr, wie sie in der Folge zu mehr Aufmerksamkeit, zum Hinhören auf die anderen und zu mehr Sensibilität führte.

18 291

Auswahlbibliografie

Buchveröffentlichungen Der Kolosserbrief – Komposition, Situation und Argumentation. Gütersloh 1971 = Studien zum Neuen Testament Bd. 3 Der Philemonbrief. Zur didaktischen Erschließung eines Paulusbriefes (zusammen mit G. Böhm). Gütersloh 1973 = Handbücherei für den Religionsunterricht H. 16 Nichtchristliche Religionen im Unterricht. Beiträge zu einer theologischen Didaktik der Weltreligionen. Schwerpunkt: Islam. Gütersloh 1977 = Handbücherei für den RU H. 21 Jesus Christus. (zus. mit U. Hahlbohm). Frankfurt/M./Aarau 1980 = Studienbücher Religion. 3. Aufl. 1989 Weltreligionen im Unterricht. Eine theologische Didaktik für Schule, Hochschule und Gemeinde. Teil I: Fernöstliche Religionen. Göttingen 1986. 2. Aufl. 1994 Weltreligionen im Unterricht. Eine theologische Didaktik für Schule, Hochschule und Gemeinde. Teil II: Islam. Göttingen 1986. 2. Aufl. 1996 Liedpredigten. Mit Kunstwerken von Rika Unger. Nürnberg 1996 Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive. Göttingen 1998 Unterrichtsprojekte Weltethos I. Grundschule – Hauptschule – Sekundarstufe I (hg. zus. mit W. Haußmann). Hamburg 2000= Pädagogische Beiträge zur Kulturbegegnung Bd. 17 Unterrichtsprojekte Weltethos 2. Realschule – Gymnasium – Berufsschule (hg. zus. mit W. Haußmann). Hamburg 2000 = Pädagogische Beiträge zur Kulturbegegnung Bd. 18 Dein Glaube – mein Glaube. Interreligiöses Lernen in Schule und Gemeinde (hg. zus. mit W. Haußmann). Göttingen 2005 = Theologie für Lehrerinnen und Lehrer – Thema Ich singe dir mit Herz und Mund. Liedpredigten II. Nürnberg 2009 Spiritualität. Multireligiös. Begegnung der Religionen in Gebeten, Besinnungen, Liedern (zus. m. der Nürnberger Gruppe der Religionen für den Frieden). Berlin 2014

Die Bände der Nürnberger Foren hg. v. J. Lähneman in der Reihe Pädagogische Beiträge zur Kulturbegegnung Kulturbegegnung in Schule und Studium. Türken – Deutsche, Muslime – Christen. Hamburg 1983 Erziehung zur Kulturbegegnung. Modelle für das Zusammenleben von Menschen verschiedenen Glaubens. Schwerpunkt: Christentum – Islam. Hamburg 1986 Weltreligionen und Friedenserziehung. Wege zur Toleranz. Schwerpunkt: Christentum – Islam. Hamburg 1989

Das Wiedererwachen der Religionen als pädagogische Herausforderung. Interreligiöse Erziehung im Spannungsfeld von Fundamentalismus und Säkularismus. Hamburg 1992 – Education in Europe: the Challenge of Religious Pluralism. 8 key articles des IV. Nürnberger Forums, übers. v. J. Shepherd. Volume 15 No. 2 des British Journal of Religions Education, hg. v. J. Hull, Spring 1993 »Das Projekt Weltethos« in der Erziehung. Hamburg 1995. – Education Toward a Global Ethic. 7 key articles des V. Nürnberger Forums, übers. v. M. J. Prowse. Volume 18 No. 1 des British Journal of Religious Education, hg. v. J. Hull, Autumn 1995 Interreligiöse Erziehung 2000. Die Zukunft der Religions- und Kulturbegegnung. Hamburg 1998 Spiritualität und ethische Erziehung. Erbe und Herausforderung der Religionen. Hamburg 2001 Bewahrung – Entwicklung – Versöhnung. Religiöse Erziehung in globaler Verantwortung. Hamburg 2005 Visionen wahr machen. Interreligiöse Bildung auf dem Prüfstand. Hamburg 2007 Medien-Macht und Religionen. Herausforderung für interkulturelle Bildung (zus. mit M.L. Pirner u. W. Haußmann). Berlin 2011. – Media Power and Religions. The Challenge Facing Intercultural Dialogue and Learning (zus. m. M. L. Pirner). Frankfurt/M. 2013 Menschenrechte und inter-religiöse Bildung (zus. m. M. L. Pirner und H. Bielefeldt, unter Mitarbeit von W. Haußmann u. A. Roth). Berlin 2015. – Human Rights and Religion in Educational Contexts (zus. m. M. L. Pirner und H. Bielefeldt). Springer Int. Publishing Switzerland 2016

Publikationen der Peace Education Standing Commission Report on Commission Development and Outcomes 1998/99. Nürnberg 1999 Peace Education from Faith Traditions. Contributions to the »Dialogue Among Civilizations« (UN-Year 2001). Nürnberg 2001 A Soul for Education. Projects for Spiritual and Ethical Learning Across Religions. Nürnberg 2002 Preservation – Development – Reconciliation. Religious Education and Global Responsibility. International and Interreligious Contributions. Nürnberg 2005 Interreligious and Values Education in Europe. Map and Handbook (zus. m. P. Schreiner). Münster 2008. 3. Aufl. 2009 The role of interreligious education in overcoming fear and building trust. Nürnberg 2015

Die Bände des Forschungsprojekts Die Darstellung des Christentums in Schulbüchern islamisch geprägter Länder (zus. mit Klaus Hock und W. Reiss) W. Reiss: Ägypten und Palästina. Hamburg 2005 P. Bartsch: Türkei und Iran. Hamburg 2005

293

Schulbuchforschung im Dialog. Das Christentum in Schulbüchern islamisch geprägter Länder. Frankfurt/M. 2006 J. Kriener/W. Reiss: Libanon und Jordanien. Berlin 2012

Festgabe zum 65. Geburtstag W. Haußmann/H. Biener/K. Hock/R. Mokrosch (Hg.): Handbuch Friedenserziehung. interreligiös – interkulturell – interkonfessionell. Festgabe für Johannes Lähnemann. Gütersloh 2006

Ausgewählte Aufsätze und Einzelbeiträge Die Taufe Jesu durch Johannes. Adoptianische Christologie in den Evangelien? In: Pastoraltheologie, Wissenschaft und Praxis 1969/12 Die sieben Sendschreiben der Johannes-Apokalypse. Dokumente für die Konfrontation des frühen Christentums mit hellenistisch-römischer Kultur und Religion in Kleinasien. In: Studien zur Religion und Kultur Kleinasiens. Festschrift für F. K. Dörner. Leiden 1978 The training of teachers of the children of migrant workers – experiences and perspectives in West Germany and West Berlin. Council of Europe, Strasbourg, Jan. 1982 Islamischer Religionsunterricht in deutschen Schulen? Zeitschrift für Mission 3/1983 Umgang mit der Bibel – zur Fachdidaktik biblischer Fundamentalinhalte. In: G. Adam/ R. Lachmann (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium. Göttingen 1984 Zugänge zu den Weltreligionen. In: G. Adam/R. Lachmann (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 1984 Der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens und die Religionen. Mission 1985 – Mappe I: Gemeindedienst. Beilage 6. Neuendettelsau 1985 On Acknowledging Religious Pluralism in Education. In: M. C. Felderhof (Hg.): Religious Education in a Pluralistic Society. Papers from a Consultation on Theology and Education, held at Westhill College, Selly Oak. London 1985 Das theologische Gespräch zwischen Christen und Muslimen. EMW (Evang. Missionswerk) Informationen 86/März 1986 Mitverfasser von: Religiöse Unterweisung für Schüler islamischen Glaubens. 24 Unterrichtseinheiten für die Grundschule. Soest (Landesinstitut für Schule und Weiterbildung) 1986 Zur Lage des islamischen Religionsunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland und WestBerlin. In: P. Biehl/C. Bizer/H.-G. Heimbrock/F. Rickers (Hg.): Jahrbuch der Religionspädagogik 2. 1985. Neukirchen 1986 Islam und Christentum 2., 20. Jahrhundert. Theologische Realenzyklopädie Bd. XVI. Berlin 1987 294

Die Türkei als Partner? Zu Geschichte, Religion, Kultur und Politik eines Landes in zwei Kontinenten. Erlangen-Nürnberg 1989 = Erlanger Universitätsreden Nr. 28/3

Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung als Themen des Dialogs mit den Weltreligionen. In: M. Schindehütte (Hg.): Von der Weltversammlung zum Konzil? Bilanz und Perspektiven des konziliaren Prozesses nach Seoul. Hofgeismar 1991 Almanya‘daki Müslüman Coçuklan Icin Din Egitiminin Ögrenim Amaçlari ve Metotlari. In: D. I. Baskanligi (Hg.): Din Ögretimi ve Din Hizmetleri Semineri/8–10 Nisan 1988. Ankara 1991 Religionspädagogik in Leipzig. Erfahrungen eines Sommersemesters. Die Christenlehre 3/1992 Die Frage nach Gott in einer säkularen Welt und der Dialog der Religionen. In: Gedenkfeier zum 100. Jahrestag des Hinscheidens Bahá‘u‘lláhs in der Paulskirche zu Frankfurt/Main am 26.5.92. Eine Dokumentation. Hofheim-Langenhain 1992 Partnerschaft mit Fernost – Religionsgespräche in Japan, Korea und Hong Kong. Deutsches Pfarrerblatt 12/1992 Musik und Lied im Religionsunterricht. In: G. Adam/R. Lachmann (Hg.): Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht. Göttingen 1993 Neue Literatur zum Islam. Ev. Erzieher 5/1993 Kontextuelle Theologie in Palästina – Hebron und Jericho: Zwischen Skepsis und Hoffnung. Schneller-Magazin 1995/4 Weltreligionendidaktische Grundregeln. In: E. Groß/K. König (Hg.): Religionsdidaktik in Grundregeln. Leitfaden für den Religionsunterricht. Regensburg 1996 Religionspädagogik und Religionswissenschaft – Probleme und Perspektiven. In: W. Ritter/ M. Rothgangel (Hg.): Religionspädagogik und Theologie – Enzyklopädische Aspekte. Festschr. W. Sturm. Stuttgart 1998 WCRP – Peace Education Standing Commission (PESC). Panorama. Intern. Journal of Comparative Religious Education and Values. Vol. 10/No. 2 1998 Christlich-islamischer Dialog in Ägypten. Deutsches Pfarrerblatt 6/1999 Dreieinigkeit. Glauben wir Christen an drei Götter? Ein Thema im Blick auf den Dialog mit dem Islam. WCRP Informationen 52/1999 L’etica universale e la prassi educativa: 10 tesi. Rinascita della Scuola (Bimetrale Internazionale di Cultura Scienza Educazione) 4–5/1999 Apostelgeschichte. In: R. Lachmann/G. Adam/C. Reents (Hg.): Elementare Bibeltexte. Exegetisch – systematisch – didaktisch. Göttingen 2001 = Theologie für Lehrerinnen und Lehrer 2 Peace Education – A Challenge for the World Conference on Religion and Peace. Dharma World (Tokyo) 28, July/August 2001 Das Projekt Weltethos – Herausforderung für die Erziehung. Concilium 37/Okt. 2001. Concilium erscheint auch in englischer, französischer, spanischer, italienischer, holländischer und portugisischer Sprache Grundsätze interreligiöser Erziehung im Kontext konfessionsbezogenen Religionsunterrichts. Doktriner Din Ögretimi Baglaminda Dinler Arasi Ögretim Ilkeleri. In: T.C. Milli Egitim Bakanligi. Din Ögretimi Genel Müdürlügü: Din Ögretiminde Yeni Yöntem Aralaslari (New Methodological Appoaches in Religious Education). Ankara 2003

295

Lernergebnisse: Kompetenzen und Standards interreligiösen Lernens. In: P. Schreiner/U. Sieg/ V. Elsenbast (Hg.): Handbuch interreligiösen Lernens. Gütersloh 2005 Interreligiöse Friedens- und Erziehungsarbeit in internationaler Perspektive: Die »Nürnberger Foren zur Kulturbegegnung« und die Bewegung »Religionen für den Frieden (WCRP)«. In: P. Schreiner/U. Sieg/V. Elsenbast (Hg.): Handbuch interreligiösen Lernens. Gütersloh 2005. Christianity in Islamic Textbooks. Panorama 16 (2004/2005) Religionswissenschaft. In: R. Lachmann/R. Mokrosch/E. Sturm (Hg.): Religionsunterricht – Orientierung für das Lehramt. Göttingen 2006 Let Peace Conquer the World. Religious Learning for an Alternative Globalization. Dharma World Vol. 33, 2006 Hg. von: Offene Türen. Religionsgemeinschaften in Nürnberg und Umgebung. 4. erw. neugestaltete Aufl. Nürnberg 2008 Hinduismus. In: R. Lachmann/M. Rothgangel/B. Schröder (Hg.): Christentum und Religionen elementar. Göttingen 2010 = Theologie für Lehrerinnen und Lehrer 5 Buddhismus. In: R. Lachmann/M. Rothgangel/B. Schröder (Hg.): Christentum und Religionen elementar. Göttingen 2010 = Theologie für Lehrerinnen und Lehrer 5 Religious/Ethical Education and global challenges. In: A. Boesak/L. Hansen (Ed.): Globalisation Volums II: Global Crisis, Global Challenge, Global Faiths. Stellenbosch 2010 Vom muttersprachlicher Religionskunde zum ordentlichen Schulfach: Islamischer Religionsunterricht als Erfolgsgeschichte? Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 64, März 2012 Multireligiöse Schulfeiern – Thesen und Anregungen. Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 11/2012, H. 1 Schulbuchforschung interreligiös. Erfahrungen und Perspektiven. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie. 66. Jahrg., 2014/1 Dialog der Religionen: Entwicklung, Modelle, religionspädagogische Relevanz. In: WiRelex – Das Wissenschaftliche Religionspädagogische Lexikon im Internet. Febr. 2016 Der Glaube der Anderen. Übereinander und miteinander lernen im christlichen und islamischen Religionsunterricht. In: Y. Sarikaya/F.-J. Bäumer (Hg.): Aufbruch zu neuen Ufern. Aufgaben, Problemlagen und Profile einer islamischen Religionspädagogik im europäischen Kontext. Münster 2017 = Studien zur islamischen Theologie und Religionspädagogik 2

296

Personenregister Abdel-Rahman, A. 255, 276 Abdul-Bahá 247, 264 Abdullah, M.S. 223

Athmann, P. J. 73, 106, 132, 148, 153, 211, 220, 227 Aweimer, A. 286

Abdullah II. von Jordanien 141 Abromeit, H.-J. 129

Badawia, T. 255

Abu Zaid, N. H. 10, 139 f., 264

Bäumer, F.-J. 296

Achilles, J. 98

Baha’u’llah 114 f., 119

Adam, G. 73 f., 294 f.

Bajwa, H.Y. 249

Adam, S. 263

Bai, H. 283

Adenauer, K. 167

Bald, H. 72

Affolderbach, M. 255

Balic, S. 96, 109, 119, 243

Ahmadinejad 174

Bartels, U. 253

Albano-Müller, S. 71, 85, 210

Barth, H.-M. 254

Albog˘a, B. 161, 234

Barth, K. 32, 86, 246

Aldebert, H. 73, 92, 103, 138 f.

Bartsch, P. 156, 170 f., 173, 195, 293

Alexander, H. 283

Baumann, H. sen. 31, 61, 73, 153

Alhajari, S. 178

Baumann, H. jun. 153

Al Munaizel, M. 237 f., 253

Baur, K. 253

Amor, A. 120

Bechert, H. 95

Angermeyer, H. 64

Bechmann, U. 129

Anselm, H. 74

Becker, U. 55

Antes, P. 63, 255

Beckstein, G. 221 f., 242, 252

Antiochus I. von Kommagene 43, 247

Bedford-Strohm, H. 165, 283, 286

Anz, W. 34

Beemelmans, S. 234

Apitz, H. 27, 271

Behr, H. 85, 178 f., 255

Aram, M. 85, 119

Benary, A. 190

Aram, V. 10, 85, 119 f., 157

Ben Chorin, S. 10, 247, 264

Arafat, Y. 129

Bergmann, G. 45

Aries, W. A. 276

Bernhard, R. 254

Arinze, F. 98

Bethge, E. 288

Ariyaratne, A. T. 10, 68, 119 f., 145, 158, 170

Beyschlag, K. 69, 72

Aslan, E. 255

Biehl, P. 294

Assar, K. 145, 151, 195, 237

Bielefeldt, H. 166, 233, 235, 248 f., 293

Assenmacher, M. 286

Biener, Hj. 73, 145, 294, 298

Assmann, J. 283

Bilgin, B. 10, 66, 85, 91, 96, 119 f., 151 f.,

As¸ikog˘lu, N. Y. 151 Atatürk, K. 151

156, 170, 194, 213 f., 223, 247 Bizer, C. 294

Blankertz, H. 54

Dalai Lama 98, 162, 247, 264

Bloth, P. C. 63

Dannhäuser, A. 178

Bobzin, H. 72, 85, 175, 179

Dantine, W. 33

Böhm, G. 53, 292

Danzi, F. 217

Boehmer, M. 166

Davis, G. 90

Boesak, A. 296

Dehn, U. 161

Bogot, H. 142, 157

Dietrich, C. 272

Bonhoeffer, D. 10, 92, 99, 114, 131, 145 f.,

Doedens, F. 125

189, 210, 247, 264, 288 f.

Dörner, E. 35, 112 ff., 131 f., 247

Born, W. 37

Dörner, F. K. 35, 75 f., 112 f., 247, 294

Botta, M. 182

Dorn, W. 247

Brahms, J. 153

Domsgen, M. 243

Braun, C. J. 134

Dumoulin, H. 110

Brandt, H. 72 Brandt. H.-J. 81

Eckert, E. 226

Brechtken, J. 73

Ehras, S. 144

Brendle, F. 100, 109 f., 149, 159, 160 f., 286

Ekman, B. 189

Brennecke, H.-C. 72

Ekman, E. 189

Brettschneider, H. 225 f.

El Banna, A. 106

Breivik, A. B. 242

El Banna, G. 106

Bröger, K. 22

Eliyas, N. 161

Brunner, P. 30

Elshahed, E. 174

Buber, M. 125

Emre, Y. 282

Bubmann, P. 283

Erdemir, E. 178

Bubis, I. 161, 164

Ermann, F. 203

Bücken, E. 226

Ess, J. v. 95

Bultmann, R. 13, 29, 174

EtesÁmi, A. Á. 174

Busch, J. 21 Busch, W. 21

Falaturi, A. 80, 149, 171, 176

Bush, G. W. 185

Faridi, A. 255 Farke, U. 25

298

Cabeduzo, A. 216

Felderhof, M. C. 294

Camara, D. H. 114

Fernandes, A. 100

Campenhausen, H. v. 30

Finch, J. 141

Carter, J. 97

Fischer, W. D. 72, 85

Cassetti, C. 49

Fichtner, J. 28

Ceric´, M. 120, 141, 200

Fitzer, G. 33

Ceylan, R. 255

Fogarty, D. 128, 220

Coordes, K. 204, 210

Fraas, H.-J. 55, 73

Daiber, H. 135

Franz von Assisi 115, 226, 262

Franziskus I., Papst 260

Grothaus, H. 67, 153

Franzkeit, A. 24

Grüske, K.-D. 197, 212

Friedrich, V. 187, 220

Güneysu, R. 176 ff.

Frizzi, G. 49

Guischard, R. 222; 224

Fuchs, G. 54

Gutiérrez, G. 264

Fuchs, O. 129 Fürnrohr, W. 197

Haase, H.-W. 59, 189, 224 Habermas, J. 174, 250

Garreis, H. 73

Haci Bektash Veli 264

Gandhi, M. 10, 71, 85, 114, 134, 146, 158, 247

Haddad, G. 280

Gates, B. 90, 204

Hahn, W. 30

de Gaulle, C. 167

Hahne, H. 28, 247

Gebauer, K. 66, 78

Hahlbohm, U. 64, 86, 292

Gebhardt, G. 88, 142, 208

Halbfas, H. 87, 89

Geis, H. 286

Hallo, E. 105

Geißler, H. 165

Halverscheid, H. 50

Gensichen, H. W. 96

Hamburger, A. 154 f., 210, 239 f.

Gerhardt, P. 226

Hamm, B. 72

Gießmann-Bindewald, U. 7

Hammarskjöld, D. 114

Giacaman, F. 195

Hanselmann, J. 106

Glöckel, H. 74

Hansen, L. 296

Glöge, G. 32

Harz, F. 254

Gloria, R. T. 120

Hassan bin Talal von Jordanien 10, 141, 170,

Gloy, H. 125

195, 208, 265

Gohl, U. 60

Hausmanninger, T. 235

Gollwitzer, H. 34

Haußmann, W. 72, 76, 88, 90, 121, 124 f.,

Gonda, J. 141 Goodman-Thau, E. 145

153, 198, 232, 241, 249, 253, 282 ff., 287, 292 f.

Gottwald, E. 125

Haydn, J. 217

Grabowski, B. 188

Heckel, G. 72, 76, 226

Gräbe, U. 279, 281

Heilmann, C. 190

Grafe, H. 85

Heimann, P. 60

Graham, E. 283

Heimbrock, H.-G. 294

Graßal, L. 256 ff.

Hein, M. 164, 286

Greeven, H. 52

Heine, H. 240

Grimmith, M. 90, 125, 273

Hemmati, H. 174

Groeben, K. v.d. 120

Henkys, J. 226

Groeben, R. v.d. 120

Heron, A. 72

Groß, E. 295

Hermelinck, J. 31

Gross, Z. 283

Herrmann, J. 177 f.

299

Herrmann-Wielsch, C. 100

Jasper, G. 176

Hertzsch, K. P. 226

Jeismann, K.-E. 36

Herzog geb. Kawehl, C. 26

Johannes XXIII., Papst 33, 114

Heupts, C. 263

Johannes Paul II., Papst 121, 271

Hick, J. 123 f. Hilge, R. 50, 53

Kabba, A. T. 141

Hilmi, T. 152 f.

Kaddor, L. 255

Hock, K. 73, 88, 148, 170 f., 195, 198, 241,

Kades, T. 135

293 f.

Käsemann, E. 33

Höffmann, H. 270

Kang, W. Y. 110

Höhne, F. 283

Karavan, D. 248

Hoenen, R. 151

Kattan, A. E. 286

Hoffmann, E. 55

Kawamoto, K. 208

Hoffmann, P. 54

Kermani, N. 140, 242

Hofmann, I. 286

Kesici, B. 286

Hohlmeier, M. 177

Keßler, E. 74 f., 231

Hosseini, Z. M. 249

Keßler, H. 74 f.

Huber, A. 105

Khan, I. 98

Huber, C. 131

Khamenei 173

Hull, J. 88, 90, 119, 125, 134, 147, 151, 190,

Khatami, M. 148, 173 f., 199

293

Khorchide, M. 254 f., 283

Hull, M. 190

King, M. L. 99, 141, 145, 247

Humperdinck, E. 188

Kirste, R. 125, 255, 272

Huntington, S. 148, 245

Kittel, H. 52, 54, 60, 86

Hussein von Jordanien 127

Klaes, N. 96 Klappheck, E. 234, 254

Ibrahimovic´, A. H. 8 f., 106

Klawonn, K. 106

Iizaka, Y. 110, 119

Klein, G. 50

Iliano, Y. 272

Kleinwächter, E. W. 255

Irenäus, Bischof von Kreta 184

Klepper, J. 131

Ipsen, B. 217

Knabe, W. 53

Is¸ık, T. 255, 263

Knauth, T. 125

Ito, K. 29

Knitter, P. 122 Koc, A. 239

300

Jack, H. 97

Kögel, I. 85

Jackson, R. 90, 125, 205

Köhler, H. 221

Jäger, U. 237 f.

König, B. 263

Jamal, H. 254

König, K. 295

Jandaka, R. 210

Körner, F. 194

Jaschke, H. J. 161

Kohler, W. 31

Kolta, Y. 135

Macdougall, N. 26

Kolwei, W. 271

Machovec, M. 48, 69

Koppe, R. 161

Magonet, J. 119, 234, 243, 254

Kozyrev, F. 170

Margull, H.-J. 125

Krabbe, D. 264

Maier, H. 69

Krieger, A. 232

Mall, R. 85

Kriener, J. 195 f., 294

Mars, B. 282

Krönert-Othmann, S. 237

Marxsen, W. 27 ff., 34 ff., 45, 47, 50, 52, 54

Krusche, W. 47

Maurer, C. 27, 29

Kühn, U. 47

Maxeiner, E. 113, 185

Küng, H. 10, 95 f., 107 f., 117, 119, 145 f., 159,

Maxeiner, U. 113

168 f., 174, 198 f., 201, 229, 243, 246

Meccenseffy, G. 33

Kuhl, R. 81, 261

Medeni, E. 283

Kuhlmann, J. 100

Mehlhose, R. 55

Kuschel, K. J. 218, 240 f., 254

Merk, O. 72

Kwiran, M. 89, 272

Merkel, A. 167, 193, 253 Merten, G. 272

Lachmann, R. 73, 202, 218, 294 ff.

Meißner, V. 255

Lähnemann, C. 86, 145, 188, 222, 230, 243

Meixner, B. 286

Lässig, S. 237

Meyrav, A. 187

Landois, H. 36

Mey, R. 282

Landois, S. 36, 57, 212

Meyer, H. 54

Langenhorst, G. 73, 254 f.

Meyer, K. 124f, 254, 287

Laschet, A. 165

Micksch, J. 166, 201

Lebendig, L. 271

Mildenberger, M. 65

Lefringhausen, K. 161 f., 164

Mittenhuber, M. 248

Lehndorff, H. v. 226

Miyake, T. 110

Leimgruber, S. 87, 122, 124, 256

Möller, M. 271

Lengsfeld, P. 54

Mohagheghi, H. 254 f., 276

Liedtke, M. 73

Mohajerani 174

Lindemann, R. 281

Mokrosch, R. 151, 198, 255, 271, 286, 294,

Lindner, G. 72 f., 74, 76

296

Lindner, I. 74

Moritzen, N.-P. 72, 85

Löffler, P. 129

Mrdja, N. 141

Loewenich, H. v. 106, 145

Müller, J. 142

Löwith, K. 31

Müller, R. 255

Lohmann, F. 249

Müller-Fahrenholz, G. 119

Lubich, C. 247, 272 Lücker, M. 97

Nägele, G. 249

Luther, M. 174, 282

Nagel, T. 66

301

Naumann, L. 216

Rau, T. 227

Naumann, U. 215 f.

Rautionmaa, H. 247

Naurath, E. 255

Rawls, J. 250

Nehring, A. 283

Razvi, M. 63, 79, 119

Niebuhr, R. 283

Reents, C. 295

Nielsen, J. 134

Regenbogen, A. 271

Nieper, J. 281

Reicha, A. 153, 217

Nijar, R. K. 273

Reiher, D. 93

Nipkow, K.-E. 50, 66, 87 f., 109, 116, 122,

Reinbold, W. 255

124, 127, 147, 151, 153, 168 f., 198, 201,

Reiss, W. 135, 137, 170 f., 174, 195, 268,

232, 240

293 f.

Nitsche, S. A. 234

Renz, A. 255

Niwano, N. 110

Richardson, N. 170, 187, 208 Rickers, F. 125, 294

Oberborbeck, F. 25

Rimon, M. 61, 153

Ockel, E. 271

Ritter, H. 289

Özdog˘an, H. 161

Ritter, W. 74

Özsoy, Ö. 254 f.

Rogall-Grothe, L. 193

Otto, G. 60

Rohe, M. 175, 179, 192

Otto, R. 174

Roloff, J. 72 Rommel, H. 218 f., 246

Paret, R. 63

Rosen, D. 144

Peschke, F. 217, 227

Rosenroth, C. K. v. 98, 248

Petersen, S. S. 174

Roshdi, A. 177, 204, 255

Petzoldt, M. 48, 51, 93

Roshdi geb. Durmas, E. 177, 204, 255

Pilhofer, P. 241

Roth, A. 283, 286

Pirner, C. 218

Rothgangel, M. 206, 295 f.

Pirner, M. 202, 219, 233, 235, 237, 249, 251,

Roy, L. 187

253, 282 ff., 286 f., 293

302

Rudolf, W. 34

Prowse, I. 57, 242

Ruhbach, G. 30

Prowse, M. 31, 57, 242, 292

Rumann, C. 188

Puljic, V. 141

Rupp, H.F. 74

Rabeya v. Basra 247

Saeid Edalad Nezhad 173 f., 187, 208, 234

Rad, G. v. 30

S¸ahin, S. 113

Raheb, M. 191, 129

Sajak, C. P. 254

Raheb, V. 130, 145, 170, 197

Sarikaya, Y. 254 f., 296

Rahner, K. 264

Sarkissian, S. 174

Raske, M. 51, 54

Sarrazin, T. 244 f.

Rau, J. 161

Savani, S. 280

Schaar, I. 114

Seha, C. 47

Schaefer, U. 115, 119

Seiser, U. 178

Schäuble, W. 192

Selcuk, M. 85, 142, 151 f., 194

Schambeck, M. 257

Serafim, J. 154, 159, 161, 210, 239, 241

Schelle, G. 217

Seubert, H. 131, 226

Scheunpflug, A. 258

Seubert, H. jun. 187

Schick, L. 234

Shabestari, M. 173 f.

Schimmel, A. 126

Shenuda III., Papst 137

Schindehütte, M. 295

Shepherd, J. 90,

Schlink, E. 30, 32

Sieg, U. 296

Schlünder, B. 188

Simmet, S. 286

Schmid, H. 256

Simojoki, H. 250 f., 283, 292

Schmidt, G. R. 59, 72, 80, 188

Sivaraksa, S. 10, 68, 142, 145, 170, 183, 284

Schmidt, H.-M. 81, 171

Slenczka, R. 72, 80

Schmidt-Leukel, P. 254

Smend, D. 51

Schmiedt, E. 262

Smend, R. 51

Schmithals, W. 47

Sölle, D. 246, 264

Schmitt, H.-C. 72

Spaenle, L. 177, 224

Schneider, N. 234

Sparn, W. 256

Schneller, E. 127

Speer, A. 248

Schneller, H. 127

Spenlen, K. 193, 237

Schneller, J. L. 127

Spiegel, E. 271, 286

Schneller, M. 185

Stein, E. 210

Schneller, T. 280

Steinacker, P. 135

Schoneveld, J. 142

Stevens, E. 149

Schrage, W. 50

Stietenkron, H. v. 95

Schreiber-Quanz, E. 7

Stiller, A. 189

Schreiner, Manfred 178

Stiller, E. 188 f.

Schreiner, Martin 243

Stöbe, H.-J. 28

Schreiner, P. 202f, 293, 296

Stosch, K. v. 254

Schröder, B. 255, 296

Straß, S. 73

Schrofner, E. 73

Strauch, P. 226

Schroll, M. S. 140, 282

Sturm, E. 296

Schröter, M. 31

Sturm, W. 74, 295

Schultze, H. 64, 89, 184

Süleyman, B., Scheich 263

Schulz, W. 60

Süssmuth, R. 166 ff.

Schwarzenau, P. 125

Sugino, K. 269

Schweitzer, A. 223

Suhl, A. 45

Schweitzer, F. 123, 250, 257 f.

Sundermeier, T. 135

Schwertheim, E. 215

Swidler, L. 108

303

Tantawi, M. S. 137

Wagner, J. 215

Tautz, M. 256

Wahid, A. 141

Taylor, J. 98, 142, 187

Waldenfels, H. 161

Tessner, N. 286

Wang, K. N. 110

Theißen, G. 94

Wartenberg-Potter, B. 164

Thiele, A. 190

Wegenast, K. 59, 63, 153

Thimme, H. 52

Wegner, M. 188

Tillich, P. 10, 86 f.

Weicker, B. 30

Tödt, H. E. 32

Weil, A. 85, 119, 243, 282

Tödt, I. 32

Weingardt, M. 245, 255

Tosun, C. 85, 194, 247, 282

Weiss, C. 150

Towfigh, N. 282

Weiße, W. 125, 204 f., 255

Tribula, C. 286

Weizsäcker, C. F. v. 10, 83, 108 f.

Tripati, C. 119

Wengst, K. 119, 243

Trump, D. 260, 284

Wenzel, H. 106

Trutwin, W. 64

Westermann, C. 30, 34

Tsakalidis, E. 184

Westphal, M. 60 f.

Tsakalidis, G. 73, 88, 184 f., 196

Westphal, V, 60

Türkmenog ˘lu, A. 176 f.

Wielandt, R. 91, 192

Tschelebi, M. N. 222

Wielsch, H. 100

Tutu, D. 98 f.

Wild, K. 73, 85

Tworuschka, M. 63, 116

Willenswaard, H. v. 122

Tworuschka, U. 63 ff., 116, 123, 125, 149,

Winkler, K. 286

171, 255

Wulff, C. 165

Uçar, B. 255

Yamada, E. 110

Ulfat, F. 255

Yarden, O. 145, 170

Ulrich, H. 72

Yavuz, K. 66, 91

Ulrich-Eschemann, K. 73 Ünal, H. 176

Zaid, Nasr Abu 139 f., 264

Unger, R. 131, 292

Zbinden 64 Zengin, B. 282

304

Velden, F. v. d. 228, 230

Zengin, H. K. 194

Vendley, W. 149, 159, 200, 208, 266

Ziebertz, H.-G. 250

Vetter, B. 286

Zilleßen, D. 64

Vierzig, S. 87

Zimmermann, M. 254

Vogel, P. 260

Zinßer, D. 230

Vrijdaghs, B. 58 f.

Zölzer, F. 161 Zwanzger, C. 217

Wabel, T. 283

Zwiener, C. 286