Atheismus und Orthodoxie: Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert 9783666562303, 9783525562307

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Atheismus und Orthodoxie: Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert
 9783666562303, 9783525562307

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Hans-Martin Barth Atheismus und Orthodoxie

H A N S - M A R T I N BARTH

Atheismus und Orthodoxie

Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert

V A N D E N H O E C K & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Edmund Schlink Band 25

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. — © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1971 — Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

MEINER FRAU

VORWORT Atheismus und Orthodoxie: Diese beiden Vokabeln bezeichnen — von gewichtigeren Inhalten abgesehen — für mich persönlich jene kuriose Situation, der das vorliegende Buch seine Entstehung verdankt. Als ich im September 1967, ausgerüstet mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, an die Harvard Divinity School zog, hatte ich vor, neben dem Lehrangebot die reichen Bibliotheken von Cambridge/Mass, zu nützen und Material für eine Habilitationsschrift über die Prinzipienlehre des Johann Musäus zu sammeln. In meine Lektüre lateinischer Texte aus dem Zeitalter der Orthodoxie bohrten sich jedoch bald unüberhörbar die Fragen der nordamerikanischen Gegenwart — die Probleme der „TodGottes-Theologie", auch einer „Tod-Gottes-Kirche" und einer „TodGottes-Gesellschaft". In dieser Situation stieß ich auf die Schriften, die nun das Hauptkontingent des Quellenmaterials der vorliegenden Arbeit ausmachen. Atheismus und Orthodoxie: Diebe beiden Begriffe markieren Probleme wohl eines jeden zeitgenössischen Christen und Theologen, der von der christlichen Tradition geprägt ist und sich einer atheistischen Gegenwart gegenübergestellt sieht. Sie kennzeichnen darüber hinaus die Situation einer Kirche und einer Theologie, die sich mühsam zwischen Orthodoxie und Atheismus ihren Weg sucht. Durch die Rekonstruktion eines Modellfalls, nämlich der Auseinandersetzung zwischen der ausgehenden Orthodoxie und dem aufkommenden Atheismus des 17. Jahrhunderts aus der Perspektive damaliger Apologetik, hoffe ich einen Beitrag leisten zu können zu jener Wegsuche: Er besteht in der Warnung, bereits „erprobte" Irrwege der Theologie nicht noch einmal einzuschlagen. Unter dem Titel „Atheismus als apologetisches Problem des 17. Jahrhunderts" wurde die vorliegende Arbeit im Wintersemester 1969/70 von der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg als Habilitationsschrift für das Fach systematische Theologie angenommen. Zu danken habe ich zunächst den Helfern in den Bibliotheken von Cambridge/Mass., in der Stadtbibliothek Soest, im Landeskirchlidien Archiv Nürnberg, vor allem aber in der Universitäts-Bibliothek Erlangen, die zu der Beschaffung des oft nicht leicht aufzufindenden Materials beigetragen haben. Das Entgegenkommen von Herrn Oberbibliotheksdirektor Dr. Dr. Sinogowitz/Erlangen ermöglichte es, daß wenigstens der größte Teil der Zitate nach Abschluß der Arbeit noch einmal kontrolliert werden 7

konnte. Besonderen Dank schulde ich Herrn Professor D. W. Maurer, der die Arbeit in ihrem Entstehen begleitet, und Herrn Professor D. W. Joest, der sie als Referent vor der Fakultät vertreten hat. Sie konnte nur deswegen relativ rasch bewältigt werden, weil Herr Professor Dr. G. Müller mir als seinem Assistenten am Erlanger Seminar für Reformationsgeschichte hervorragende Arbeitsbedingungen geschaffen hat. Dafür und für manchen guten Rat danke ich ihm herzlich. Grüßen möchte ich mit dieser Arbeit auch Dr. Harvey 'Сох, der mir durch seinen „way" des Theologie-Treibens nicht geringe Einsichten eröffnet hat. Ich danke Herrn Professor D. Dr. E.Schlink DD., daß er bereit war, meine Habilitationsschrift in die von ihm herausgegebenen „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie" aufzunehmen, und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt hat. Für die Mühe der Mithilfe beim Lesen der Korrekturen danke ich Frau Schulrätin i. R. Irene Stahl in Nürnberg, Herrn Studiendirektor Dr. G. Rückert in Erlangen und meiner Frau. Meiner Frau, die mancherlei technische Hilfen beigetragen hat, die midi immer wieder ermuntert hat und die der ständigen Tischgespräche über den Atheismus nicht müde geworden ist, widme ich dieses Buch. Spardorf bei Erlangen, im Januar 1971 Hans-Martin Barth

8

INHALT Einleitung

13

Literaturgeschichtlicher Vorbericht

19

a) Der Verlauf der Atheismus-Debatte 1. Die Anfänge 20 2. Die Höhe der Diskussion und ihre Wortführer 22 3. Verflachung und Ende der Debatte 27

20

b) Streuungsbereiche und literarische Nebenprodukte der AtheismusDebatte 1. Der Niederschlag der Problematik in der nichtmonographischen Literatur 29 2. Literarische Streitgespräche und „Geschichten des Atheismus" 30 3. Zeitgenössische literarische Hilfsmittel 33 A) Analysen des Phänomens „Atheismus" I. Die Suche nach dem Gegner

29

36 36

a) Die Klage über die „Atheisterey" und den „Genius Saeculi" 1. Die Verbreitung von Atheisten in der Christenheit 36 2. Die Existenzbedrohung des Christentums 41 3. Die „tristis experientia" 46 b) Die Sprache der Anekdoten 1. Anekdotisches über atheistische Versammlungen und Bücher 48 2. Anekdotisches über das Auftreten der Atheisten 51 3. Anekdotisches über die göttliche Bestrafung von Atheisten 55 4. Anekdotisches über die Bekehrung von Atheisten 56

36

c) „Notae Atheismi" 1. „Cyclopismus" und „Crimen laesae maiestatis divinae" 57 2. Immanenzverhaftetes Denken 60 3. Zweifelhaftes Verhalten gegenüber der Gesellschaft 63 4. Zusammenfassende Charakteristiken 64

57

II. Das Ringen um die Definition

48

68

a) Definitions Schwierigkeiten 1. Der Wortgebrauch „catachrestice" 68 2. Der Kampf gegen Fehlverdächtigungen 70 3. Die Synonyma und das Erbe des 16. Jahrhunderts 72 4. Die Schriftaussagen 73 5. Definitionen der Antike und der Alten Kirche 75 6. Der Wortsinn 76

68

b) Die Distinktionsschemata 1. Voetius und spätere Distinktionsschemata 77 2. Die Distinktion „Atheismus practicus/theoreticus" 83 3. Die Distinktion „Atheismus directus/indirectus" 86 4. Distinktionsvorschläge neben Voetius 87

77

9

с) Die Bestreitung von Providenz und Existenz Gottes 1. Das Objekt der Gottesleugnung 89 2. Die „scharfe" Atheismus-Definition 92 3. Die Gestalten des „dogmatischen" Atheismus 94 III. Die Frage nach den Ursachen

96

a) Das Urteil der konfessionellen Polemik 1. Die katholische Polemik 97 2. Die protestantische Polemik 99 3. Die pietistische Kritik 106

96

b) Die religiöse Gleichgültigkeit 1. Indifferentismus 107 2. Machiavellismus 111 3. Der Dreißigjährige Krieg 112

107

c) Der Einfluß der Antike 1. Die Antike als Arsenal der Atheisten 114 2. Die antike Aufklärung im Kampf gegen den Aberglauben 118 3. Aristoteles — ein Atheist? 119 4. Die italienischen Humanisten als Schrittmacher des Atheismus 121

114

d) Die neue Wissenschaftlichkeit

123

e) Der Atheismus als „Bewegung"

126

f ) Geistliche Gesichtspunkte 1. Der Griff nach der „licentia" 129 2. Geistliches Unvermögen 131 3. Der Sündenfall 133 4. Selbstkritische Äußerungen 134

129

IV. Die Ebenen der Auseinandersetzung

136

a) Die Rolle der Staatsgewalt 1. Die Folgen des Atheismus für Staat und Gesellschaft 137 2. Vorschläge für staatliche Gegenmaßnahmen 144 3. Stimmen für die Toleranz 148

136

b) Die geistige Auseinandersetzung 1. Das Bildungsprogramm im Kampf gegen den Atheismus 150 2. Der literarische Kampf 154 3. Stadien der Argumentationsweise 163

150

c) Das geistliche Ringen

166

B) Modelle der Gegenargumentation

172

I. Natürliche Theologie gegen den widernatürlichen Atheismus a) Die Widernatürlichkeit des Atheismus 1. Die These von der Nichtexistenz der Atheisten 172 These von der Unvernunft der Atheisten 178

172 172

2. Die

b) Der Consensus gentium 1. Die These 183 2. Die Verteidigung 186 3. Das Problem des Naturrechts 192 4. Die Auswertung des Consens-Arguments 196 10

89

183

с) D i e Cognitio D e i insita 1. Der Ansatz 197 2. Das Lumen naturale 201 205 4. Descartes' Idee 210

197 3. Das Gewissen

II. Metaphysik für G o t t

217

a) D a s „Achilleische" A r g u m e n t 1. Das Postulat der „prima causa" 218 2. Das Postulat des „primus m o t o r " 224 3. Das Postulat des „ens necessarium" 225

217

b) D e r K a m p f u m die prima causa 1. Die Frage nach der „causa" für G o t t 226 2. Die Frage nach der „causa" ohne G o t t 228 3. Das Problem der „collectio causarum" 231 4. Die Auseinandersetzung mit dem „Spinozism u s " 232

226

c) D i e Niederlage 1. Die Atomtheorie 237 2. Die These v o n der Ewigkeit der Welt 242 3. Das Ende der metaphysischen Argumentation 249

236

III. T h e o l o g i e der Physik

251

a) D a s Verhältnis der Physikotheologie zu Metaphysik u n d T h e o l o g i a naturalis

251

b) D a s P r o g r a m m der P h y s i k o t h e o l o g i e 1. Die Ausgangsstellung 254 2. Mersenne als Physikotheologe 255 3. Die weitere Entwicklung 256 4. Das Pathos der Physikotheologie 258

254

c) D i e A r g u m e n t e der P h y s i k o t h e o l o g i e 1. Die sublunarische Welt 263 2. Astronomie und Astrophysik 265 3. D e r Mikrokosmos — der Mensch 268

263

d) D i e E i n w ä n d e der G e g n e r 1. Schönheitsfehler der Schöpfung 272 2. Leid u n d Sünde 275 3. Die Grenze des physikotheologischen Ansatzes 277

271

I V . D i e Selbstbesinnung der T h e o l o g i e a) D i e Grenzen der natürlichen T h e o l o g i e 1. Die Wiederentdeckung der Transzendenz Gottes 282 Inadäquatheit des Gottesbeweises 285

280 280 2. Die

b) D i e P s y c h o t h e o l o g i e 1. Die Entdeckung der menschlichen Psyche 286 2. G o t t und die Seele 288 3. Die Seele und ihr Glück 291 4. Der Nutzen des Glaubens und das Risiko des Unglaubens 293

286

c) D i e T h e o l o g i e u n d das „Übernatürliche" 1. Die Notwendigkeit einer übernatürlichen Offenbarung 295 2. „Miracula" und „Oracula" 297 3. Die Dämonen im Dienst des Gottesbeweises 300

295

d) T h e o l o g i e der Schrift 1. Die Schrift als Legitimation der natürlichen Theologie 301 2. Die Glaubwürdigkeit der Schrift 302 3. Die Schrift als Selbstoffenbarung Gottes 305 4. Die pietistische Erfahrung 308

301

11

Resultate

310

a) Bild eines Kampfes 1. Die Vitalität der Theologie des 17. Jahrhunderts 310 2. Die überkonfessionelle Gemeinsamkeit der Apologetik angesichts des Atheismus 311 3. Orthodoxie und Pietismus im Kampf gegen den Atheismus 312

310

b) Modell eines Scheiterns? 1. Das Unvermögen einer „selbst-verständlichen" Theologie 314 2. Die Isolierung der Frage nach Gottes Existenz 315 3. Die Fehleinschätzung der Selbstbezeugung Gottes 316

314

c) Umrisse einer metatheistischen Theologie 1. Die Frage nach der Verpflichtung der Theologie gegenüber dem Theismus 318 2. Die Frage nach dem Verhältnis von natürlicher Theologie und Offenbarung 319 3. Die Frage nach dem Gott Jesu Christi 320

318

Literaturnachweis

322

a) Quellen 322

b) Sekundärliteratur 330

Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen

335

Bibelstellenregister

336

Namen- und Sachregister

337

Anhang: Bildtafeln

351

12

EINLEITUNG Im Vorwort zur ersten Gesamtausgabe seiner Werke schreibt Ludwig Feuerbach im J a h r 1 8 4 6 : „Die Frage, ob Gott ist oder nicht ist, der Gegensatz von Theismus und Atheismus, gehört dem achtzehnten und siebzehnten, aber nicht mehr dem neunzehnten Jahrhundert a n . " 1 Vom 20. Jahrhundert ganz zu schweigen — , sollte man folgerichtig ergänzen können. Erstaunlicherweise aber steht die Gottesfrage nun seit einem knappen Jahrzehnt im Brennpunkt einer erregten theologischen Diskussion. Was ein Philosoph des vorigen Jahrhunderts als durch bereits zwei Jahrhunderte vor ihm erledigt betrachten konnte, scheint sich jetzt mit beträchtlicher Verspätung der gegenwärtigen Theologie ins Blickfeld zu schieben. Doch an diesem Punkt hat die Theologie ihre eigene Vergangenheit vergessen, denn auch ihr war der Atheismus schon vor 3 0 0 Jahren Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen gewesen, wenn nicht im systematisch-theologischen Sinne, so doch auf der Ebene apologetischer Bemühung. Freilich: Atheismus als apologetisches Problem des 17. Jahrhunderts — diese Themenstellung fordert heute zu der Frage heraus: Was heißt im 17. Jahrhundert „Atheismus"? Gibt es in jenem von Glaubenskämpfen aufgewühlten und von scholastischer Orthodoxie niedergehaltenen Säkulum das, was man in der Neuzeit unter „Atheismus" versteht? Wer von den großen Philosophen dieses Zeitraums sollte „Atheist" gewesen sein? Waren nicht ein Descartes oder ein Spinoza, aus der Perspektive unseres Jahrhunderts betrachtet, fromme Leute? D a r a u f ist zunächst zu antworten: Jedenfalls stellt „Atheismus" im 17. Jahrhundert einen wesentlichen Gegenstand christlicher Apologetik dar. Eine Fülle von Literatur aus der Feder von Theologen und manchem für das Christentum engagierten Philosophen beschäftigt sich damit, „Atheismus" zu widerlegen und zu entkräften, wenngleich „die Atheisten" selbst nur selten deutlich und identifizierbar in Erscheinung treten. Sie werden vorgestellt als schwer zu greifende Zeitgenossen, die nach außen Kirchlichkeit heucheln, aber in ihrem Herzen der Moderne huldigen, und als imaginäre Predigthörer, denen an einer aus der Antike herüberwirkenden Philosophie mehr liegt als am Evangelium; sie werden ins Auge ge1 Sämmtliche Werke. Neu herausgegeben von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, Bd. II, Stuttgart 1904, S. 411.

13

faßt als amorphe Masse von Vertretern einer neuen Geisteshaltung, die auf jeden metaphysischen Überbau für die Welt und das menschliche Leben zu verzichten bereit ist und die — lange vor Laplace — ohne die „Hypothese G o t t " auskommt. Wenn es jene „Atheisten", von denen die Apologeten reden und mit denen sie sich abplagen, wirklich gegeben hat — und daran ist nicht zu zweifeln —, dann würde das bedeuten, daß der Atheismus des Abendlands nicht auf einzelne philosophische Konzeptionen, auf die Entwürfe eines Nietzsche oder Feuerbach, zurückgeht, sondern daß er eine Bewegung ist, die — aus der nichtchristlichen Interpretation der Antike durch die frühen italienischen Humanisten sich speisend, besonders während des 17. Jahrhunderts an Boden gewonnen hat 2 . „Atheismus" wäre dann nicht eine einzelne philosophische These, über die sich diskutieren läßt, sondern Chiffre für ein ganzes Weltbild, das sich seine Anerkennung zunächst unter den Gebildeten und schließlich weithin audi bei den übrigen Schichten des Volkes erobert hätte. Der Säkularismus unserer Tage wäre in diesem Fall nicht ein respektables Nebenprodukt christlichen Denkens, sondern Ergebnis eines geistesgeschichtlichen Prozesses, der dem vom Christentum des Mittelalters geprägten Weltbild den R a n g abgelaufen hätte. Aufklärung wäre demnach nicht eine Metamorphose christlichen Denkens in einen anderen Frömmigkeits- und Glaubensstil hinein, sondern ein frontaler Angriff gegen das Christentum, das seine Aussagen diesem neuen Weltbild gegenüber nicht weniger bewähren müßte als gegenüber dem Weltbild der ausgehenden Antike. Aufklärung ist aus Dieses Bild wird bestätigt durch einige ausgezeichnete Arbeiten über den späten Humanismus und die frühe Aufklärung, die sich jedoch fast ausschließlich auf die Lage in Frankreich und England beschränken und zudem meist aus rein philosophiegeschichtlicher, nicht aus theologischer Perspektive geschrieben sind. Für Frankreich ist besonders zu nennen die Studie von Richard H . Popkin, The History of Skepticism from Erasmus to Descartes, Assen 1960, sowie die ältere Arbeit von H . Busson, L a pensee religieuse franjaise de Charron к Pascal, Paris 1933; vgl. auch Lucien Febvre, Le probl^me de 1'incroyance au 16 е siecle. L a religion de Rabelais, Paris 1942 (1968 s ), ferner Marianne Greve, Die Aufklärung und das Wirken des modernen Geistes in Frankreich, Diss. 1936. Für England ist zu erinnern an die Untersuchung „Science and Religion in Elizabethan England" von Paul H . Kocher, San Marino/California 1953, und die auf die erste H ä l f t e des 17. Jahrhunderts sich konzentrierende Arbeit von Herschel Baker, The Wars of Truth. Studies in the Decay of Christian Humanism in the Earlier Seventeenth Century, Cambridge/Mass. 1952. Eine sehr interessante Detailstudie, die auch kultur- und literarhistorische Fragen aufnimmt, bietet Thomas F. Mayo, Epicurus in England (1650—1725), о. O. 1934. Darüber hinaus ist zu verweisen auf die philosophiegeschichtlichen Gesamtdarstellungen des betreffenden Zeitraums von Paul H a z a r d und John H . Randall (siehe Literaturverzeichnis) sowie auf die Untersuchungen, die sich der Geschichte des Atheismus und des Freidenkertums widmen, insbesondere Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Stuttgart und Berlin 1920ff., B d . 2 und 3, ferner J . M . R o b e r t s o n , Α Short History of Freethought Ancient and Modern, N e w York 1957, S. 262 ff. 2

14

dieser Sicht nicht organisch mit dem voraufgehenden christlichen Denken verbunden, sondern bedeutet für dieses im Gegenteil eine anorganische Überfremdung. Seither ist es — ausgesprochen oder unausgesprochen — ein zentrales Problem der Theologie, ausfindig zu machen, wie sich der Glaube unter dieser Überfremdung artikulieren muß. Sie hat zu überprüfen, inwieweit der Glaube auf das von der Aufklärung abgelöste Weltbild angewiesen ist und wie er unter dem von der Aufklärung geschaffenen „neuen Himmel" leben kann. Die Apologeten des 17. Jahrhunderts haben sich als erste dieser Aufgabe gestellt. Sie sahen ihre Lösung darin, die fortdauernde Gültigkeit des alten Weltbildes zu postulieren und den veraltenden Thron Gottes, ohne den sie sich Gottes Herrschaft nicht vorstellen konnten, zu restaurieren. Sie erkannten zwar, daß der Atheismus ein geistiges und ein geistliches Problem darstellte, aber es war ihnen nicht möglich, ihr geistliches Anliegen unter den neuen geistigen Voraussetzungen zu formulieren. Vermittlungsversuche, die die Aufklärung zu einer theologisch fruchtbaren Bewegung umfunktionieren und dem Leben der Kirche dienstbar machen wollten, gelangen nicht. Durch die Aufklärung wurde zwar eine Epoche der Kirchengeschichte bestimmt. Für einige Jahrzehnte erschien die Kirche als modern, aber, statt ihren eigenen Standort zu klären, verharmloste sie den ihres Gegners und meinte im Grunde doch, das Weltbild des Mittelalters vor der Aufklärung retten zu können. Den Apologeten des 17. Jahrhunderts fiel es schwer, die Problematik überhaupt zu erfassen und von dem Gegner, der da vor ihnen auftauchte, ein einigermaßen klares Bild zu gewinnen. Zunächst erkannten nur einzelne Theologen die Gefahr, aber im Laufe des Jahrhunderts nahm die Zahl derer, die den neuen Problemen gegenüber hellhörig wurden, ständig zu. Dieses Phänomen ist an der mit den Jahrzehnten wachsenden Zahl von Veröffentlichungen deutlich abzulesen. Der Schwerpunkt der Apologetik gegen den Atheismus liegt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Freilich reichen die ersten Voten, die eine Witterung für den neuen Geist erkennen lassen, bis in die Reformationszeit zurück. Natürlich hatte die Auseinandersetzung auch nicht an der Grenze zum 18. Jahrhundert ihr Ende; sie gischtete bis in das erste Viertel des neuen Säkulums hinein. Gleichwohl wurden die entscheidenden Gesichtspunkte für die Diskussion vom 17. Jahrhundert erbracht. Die vorliegende Untersuchung bemüht sich nun, die apologetische Arbeit des 17. Jahrhunderts gegenüber dem Atheismus darzustellen und in die gegenwärtige Diskussion um den Atheismus einzubringen. Sie gerät damit in Parallele und Antithese zu der Studie von Carl Heinz Ratschow: 15

„Gott existiert" 3 , wo die Gottesfrage von der „intakten", vorcartesianischen Dogmatik des 17. Jahrhunderts her angegangen wird. Die vorliegende Arbeit schildert den Zerfall der von Ratschow beschriebenen Position der orthodoxen Theologie; sie zeigt deren Problematik angesichts der von der Aufklärung an sie herangebrachten Fragestellungen auf. Aus unbegreiflichen Gründen ist die Mühe der Apologeten des 17. Jahrhunderts nahezu völlig in Vergessenheit geraten. Hans Leube hat in seiner Antrittsvorlesung wenigstens für den Bereich der lutherischen Orthodoxie darauf aufmerksam gemacht 4 ; dieser Hinweis ist aber nicht weiterverfolgt worden. Emanuel Hirsch widmet im 1. Band seiner „Geschichte der neuern evangelischen Theologie" der Gotteslehre zwei knappe Kapitel 5. Er beschränkt sich jedoch auf einige wenige Autoren und stößt nicht zu der Einsicht durch, daß es hier um mehr geht als um die Diskussion aufklärerischer Modifikationen der Gotteslehre: nämlich um das Problem der Leugnung Gottes selbst. W. Philipp berührt die Thematik gelegentlich in seiner Arbeit über „Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht" e , mißt ihr aber keine grundsätzliche Bedeutung bei, sondern ordnet sie dem Phänomen des „kosmischen Nihilismus" im Spätbarock unter 7 . Die klassischen „Geschichten der protestantischen Theologie" gehen allenfalls auf die Auseinandersetzung der Theologen des 17. Jahrhunderts mit einigen herausragenden zeitgenössischen Philosophen ein; so bringt W. Gaß einiges über Descartes und seinen Einfluß auf die Theologie in den Niederlanden 8 ; G. Frank berichtet über die theologische Literatur gegen Pufendorf, Peyrere, Descartes, Spinoza, gegen englische Sensualisten und einzelne Freidenker 9 ; F. C. Baur schildert nur die von Descartes, Spinoza und dem englischen Deismus ausgehende Entwicklung, 3

Eine dogmatische Studie, Berlin 1966 (1968 2 ). Die Bekämpfung des Atheismus in der deutschen lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, in: ZKG 43, 1924, S. 227 ff. 5 Gütersloh 1964 3 ; „Der Wandel der Anschauung von Gott und seinem Weltregiment" (8. Kap., S. 158 ff.); „Radikale Folgerungen und vermittelnde Gegenbildungen 1 ' (9. Kap., S. 175 ff.). β Göttingen 1957. 7 Ebd. S. 60. Es wäre zu prüfen, inwiefern dieses Lebensgefühl des „Nihilismus" und der konkrete philosophische „Atheismus" im 17. Jahrhundert sich gegenseitig bedingt haben. 8 Geschichte der Protestantischen Dogmatik in ihrem Zusammenhang mit der Theologie überhaupt, Berlin 1854 ff., Bd. 1, S. 454 ff., und besonders Bd. 2, S. 219 ff. 9 Geschichte der Protestantischen Theologie, 2. Theil, Leipzig 1865, S. 62 ff. Dazu gibt es natürlich längst neuere Arbeiten, die jedoch für die Atheismus-Problematik nicht von Belang sind; vgl. besonders J. Bohatec, Die cartesianische Scholastik in der Philosophie und reformierten Dogmatik des 17. Jahrhunderts, I. Teil, 1912. 4

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ohne die apologetischen Gegenpositionen zu entfalten 1 0 . Alle diese D a r stellungen werden dem Ringen der Theologie des 17. Jahrhunderts mit der beginnenden Aufklärung nicht entfernt gerecht. Einiges über diesen K a m p f und einzelne K ä m p f e r erfährt man immerhin in der „Geschichte der Apologie des Christentums" von O. Zöckler 1 1 sowie in Tholucks „Vermischten Schriften" 1 2 . Nirgends in der genannten Literatur jedoch wird der „Atheismus" als apologetisches Problem des 17. Jahrhunderts erkannt und dargestellt. Die vorliegende Arbeit möchte das nachholen. Sie ist zunächst interessiert an dem Beitrag, der in Deutschland zu den anstehenden Fragen des 17. Jahrhunderts geleistet wurde, muß aber gerade deswegen audi auf holländische, französische und englische Autoren 1 3 eingehen, von denen die deutschen Apologeten abhängig sind. Sie war ursprünglich wesentlich breiter angelegt: In je eigenen Kapiteln hätten Indifferentismus, Machiavellismus, Deismus, Cartesianismus und Spinozismus im Blick auf den Atheismus verhandelt werden sollen 1 4 . Die Fülle des Materials machte diesen Plan unmöglich. Darum wurde nun das Phänomen „Atheismus" so, wie es seinen Bestreitern allmählich ins Blickfeld trat, zusammen mit Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Die neuere Geschichte des Dogmas von der Reformation bis in die neueste Zeit. Dritter Theil, Tübingen 1843, S. 465 ff. In seinen 1867 in Leipzig erschienenen „Vorlesungen über die christliche Dogmengesdiichte", Bd. 3, findet sich zwar ein vielversprechender Abschnitt: „Geschichte der Apologetik", S. 28 ff.; doch bleiben die dort vorgetragenen Ausführungen viel zu allgemein. 1 1 Gütersloh 1907; sie behandelt freilich die gesamte Kirchengeschichte und unterteilt das 17. Jahrhundert nicht sehr glücklich um ca. 1650: Dritter Zeitraum (1453 bis ca. 1650), S. 254 ff. — Vierter Zeitraum (1650 bis ca. 1800), S. 337 ff. 1 2 Vermischte Schriften größtentheils apologetischen Inhalts, Erster Theil, Hamburg 1839; darin: „Über Apologetik und ihre Litteratur", S. 150—376. Leider beschränkt sich Tholuck auf die großen Namen und bespricht als ersten deutschen Apologeten — Leibniz (S. 311 ff.). 1 3 Die Leistung der Apologetik in Westeuropa ist besser erschlossen als die der deutschen Theologie. Als materialreiches Standardwerk ist immer noch heranzuziehen John Tulloch: Rational Theology and Christian Philosophy in England in the Seventeenth Century, 2 Bde., Edinburgh und London 1874 2 . Für Frankreich vgl. Julien-Eymard d'Angers: L'Apologetique en France de 1580 ä 1670. Pascal et ses Precurseurs, Paris 1954. Eine gute Einführung in die Problematik für das gesamte Westeuropa gibt, journalistisch flott geschrieben und mit einer überraschenden Kenntnis auch der deutschen apologetischen Literatur, Don Cameron Allen: Doubt's Boundless Sea. Skepticism and Faith in the Renaissance, Baltimore 1964. Vgl. ferner die in Anm. 1 genannte Literatur. 14 Als ursprüngliche Anlage der Arbeit war vorgesehen: (Kap. I) Der „Allermannsgott" — das Problem des Indifferentismus. (Kap. II) Der Gott der Staatsräson — das Problem des Machiavellismus. (Kap. III) Der Gott ohne Eigenschaften — das Problem des Deismus. (Kap. IV) Gott als Idee — das Problem des Cartesianismus. (Kap. V) Gott als N a t u r — das Problem des Spinozismus. (Kap. VI) Gott und seine Verteidiger — Kritik der Argumente. 10

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der entsprechenden Gegenargumentation ins Auge gefaßt. Die großen philosophischen Konzeptionen des Jahrhunderts konnten unter diesen Umständen nur gestreift werden. D a die Verfasser des zu untersuchenden Materials zu einem guten Teil heute unbekannte Skribenten sind, mußte zuweilen ihr Lebenslauf wenigstens knapp dargestellt werden. Im Rahmen einer systematischen Arbeit war es natürlich nicht möglich, biographischen Unklarheiten etwa durch lokalhistorische Detailstudien nachzugehen 15 . Die Tatsache, daß es sich bei den zutage kommenden Texten um weithin unbekannte oder jedenfalls nicht erschlossene Quellen handelte, ließ eine relativ breite Pinselführung gerechtfertigt erscheinen. Dadurch entstand zugleich die Skizze eines Geländes, in dem es noch viel zu erforschen gibt 1 «. Die Kurzbiographien befinden sich an der im Register mit einer kursiv gedruckten Ziffer bezeichneten Stelle. Es wird i. a. auf weiterführende Literatur verwiesen; sofern jedoch nähere Angaben ohne Detailforschung nicht erreichbar waren, mußte auf die üblichen, u. U . auch auf zeitgenössische Nachschlagewerke zurückgegriffen werden. 1 6 Vorbemerkung zur Zitationsweise: Die Titel der zitierten Werke werden in einer vereinfachten Kurzfassung angegeben; der volle Wortlaut ist ohne Mühe dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. D a die Quellen einem Zeitraum von fast zwei J a h r hunderten entstammen, wird jeweils das Erscheinungsjahr der betreffenden Schrift: genannt. Es steht in Klammern, wenn die benützte Quelle nicht mit der ersten Ausgabe des zitierten Werkes identisch ist oder wenn es sich um eine Übersetzung handelt. Obwohl die Verfasserschaft bei Dissertationen dieses Zeitraums ein heikles Problem darstellt, wird als Verfasser immer der Präses angegeben, im Literaturverzeichnis jedoch auch der Respondent genannt. Bei der Textwiedergabe wurden nicht alle Kapriolen barocker Setzerkunst nachvollzogen, insbesondere Großschreibung und Sperrungen; offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Umlaute werden in der heutigen Schreibweise wiedergegeben (also z . B . ue als ü); orthographisdie Besonderheiten einzelner Texte ( ν stat u, j stat i) weithin der üblichen Schreibweise angeglichen. Bei den Titelkurzfassungen richtet sich G r o ß - bzw. Kleinschreibung nach den in ihnen enthaltenen Schlagworten, wie das meist auch in den Originaltiteln der Fall ist; im Quellenverzeichnis dagegen wurde G r o ß - bzw. Kleinschreibung bei den lateinischen Titeln egalisiert und nur bei den neusprachigen Titeln der ursprünglichen Schreibweise entsprechend wiedergegeben. Ein Verzeichnis von Abkürzungen der benützten Standardwerke befindet sich auf S. 335. Das Siglum „ a . a . O . " wird nur verwendet, wenn der damit bezeichnete Fundort in einer der fünf voraufgehenden A n merkungen genannt ist. — D e r größeren Übersichtlichkeit halber werden im Textteil die Namen der zitierten Apologeten kursiv gegeben, sofern sie nicht in unmittelbarem Zusammenhang wiederholt auftreten. 15

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LITERATURGESCHICHTLICHER

VORBERICHT

Bei einer erstaunlichen Anzahl von theologischen Arbeiten des siebzehnten und beginnenden achtzehnten Jahrhunderts ist bereits im Titel von „Atheismus", „Atheisten" oder „Atheisterey" die Rede. Der Begriff „Atheismus" war eben erst aufgekommen, und man darf es den Theologen nicht übelnehmen, wenn sie anfangs Schwierigkeiten mit ihm hatten und ihn in einem weiteren Sinn verstanden als wir Heutigen 1 . Selbstverständlich kannten sie ihn aus lateinischen Texten des sechzehnten Jahrhunderts, und sein griechisches Äquivalent war ihnen bei der Kirchenväter-Lektüre begegnet. Nun aber verließ er die Latinität und wurde von den Sprachen des modernen Europa als Fremdwort übernommen 2 ; nun hörte er auf, nur ein peripherer Bestandteil der philosophischen und theologischen Fachterminologie zu sein. In der Vorrede eines 1701 erschienenen Buches heißt es: „Der Nähme / Atheist / ob er wol aus der Griechischen Sprache (ά&εος) herstammet / ist doch unter denen Deutschen / dermaßen üblich und bekannt worden / daß auch viele Einfältige und Ungelehrte wissen J was damit gemeynet werde . . . " 3 . Kein Wunder also, wenn sich die Theologen für ihn und für die mit ihm gemeinte Sache zu interessieren begannen! Die „Bibliotheca realis theologica" von Martin Lifenius, erschienen in Frankfurt am Main 1685, nennt unter dem Stichwort „Atheismus" 60 Titel und erfaßt noch keineswegs alle bis zu diesem Zeitpunkt herausgekommenen Arbeiten 4 . Es handelt sich dabei um Literatur römisch-katholischer, reformierter, soziVgl. unten S. 68 ff.; bereits am Ende der damaligen Auseinandersetzung hat man die Definitionsversuche der Anfangszeit kritisiert. 2 Vgl. Walter W. Skeat, A n Etymological Dictionary of the English Language, O x f o r d 1958, S. 37, s . v . „Atheism" (frühester Verweis auf Bacon, Of Atheism); Carlo Battisti, Giovanni Alessio, Dizionario Etimologico Italiano, Firenze 1950, S. 345, s. v. „ateismo" (frühester Verweis auf G. Bruno, 1584); Larousse, Nouveau Dictionnaire Etymologique et Historique, Paris 1964, s. v. „athee" (frühester Verweis auf Rabelais, 1532) und „atheisme" (frühester Verweis auf Billon, 1555). Für Deutschland bezeugt Der Große Duden, Bd. 7, Etymologie, Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1963, die Fremdworte „Atheismus" für das Ende des sechzehnten und „Atheist" für den Anfang des siebzehnten Jahrhunderts (S. 37 f.). 3 Paul Stodtmann, Der verkehrte und bekehrte A t h e i s t . . . , Leipzig 1 7 0 1 ; Vorrede (nicht pag.); zitiert schon bei Leube, Die Bekämpfung des A t h e i s m u s . . . , S. 227. 4 In Wirklichkeit sind es nur 58 Titel, da Lipenius zwei Arbeiten doppelt (unter verschiedenem Titel) aufführt. 1

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manischer, anglikanischer und lutherischer Provenienz; nicht eine Konfession allein, sondern die gesamte Kirche in allen ihren Gruppen hat sich mit dem Problem des Atheismus herumgeschlagen. a) Der Verlauf 1. Die

der

Atheismus-Debatte

Anfänge

Die theologische Auseinandersetzung hatte mit der Verteidigung einzelner Lehrpunkte „contra Atheos" noch im 16. Jahrhundert begonnen. Die Lehre von der Schöpfung mußte gegen die aus der Antike herüberwirkende Anschauung von der Ewigkeit der Welt abgesichert werden 5 ; die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und der Auferstehung des Leibes war vor Angriffen zu schützen® und schließlich galt es, die grundsätzliche Bedeutung des Glaubens und der Religion gegenüber utilitaristischen und Das versuchte u. a. Augustin Steuchus (gen. Eugubinus) im 7. Buch seiner Schrift De perenni philosophia, Leiden 1540 (ich benütze die 2. Auflage 1 5 4 2 ) . Steuchus ( 1 4 9 7 — 1 5 4 8 ) aus Gubbio, seit 1538 Bibliothekar der Vatikanischen Bibliothek, befaßte sich als Humanist und Theologe mit Problemen der Antike und des Alten Testaments. Vgl. die umfassende Darstellung von Th. Freudenberger, Augustinus Steuchus aus Gubbio, Augustinerchorherr und päpstlicher Bibliothekar ( 1 4 9 7 — 1 5 4 8 ) und sein literarisches Lebenswerk, Münster i. W . 1935 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte H . 64/65), die S. 347 ff. eine gute Obersicht über D e perenni philosophia bringt, aber das apologetische Anliegen Steuchus' gegenüber dem „aufgeklärten" RenaissanceMensdien zu wenig berücksichtigt. Vgl. außerdem G . Saitta, II pensiero italiano nelP Umanesimo e nel Rinascimento, Vol. I I , II Rinascimento, Bologna 1950, S. 75 ff. Aber audi Melanchthon hebt die biblische Schöpfungslehre ab gegen die der Stoa und des Epikureismus: „Adversus has dubitationes confirmandae sunt mentes cogitatione vera articuli de creatione. . . " ; C R X X I , Sp. 638. Jedoch erst in der dritten Auflage der Loci (1559) erfolgt diese Abgrenzung! 5

Darum bemüht sich der französische Adelige Charles de Bourgueville in: L'Atheomachie, et Discours de l'Immortalite de l'Ame, et Resurrection des Corps, Paris 1564. Aber vielleicht war schon die Dogmatisierung der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele auf dem V . Lateranense ( 1 5 1 3 ; Denzinger 738) ein erster Versuch in dieser Richtung. Protestantische Stimmen aus der Zeit der Orthodoxie schließen aus ihr jedenfalls auf die schon damals in Italien herrschende Freigeisterei; — soldi ein Dogma sei eben notwendig gewesen! Vgl. G. Voetius, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 2 1 7 ; Theophil Spizel, Scrutinium Atheismi, 1663, S. 123. Ähnliches war jedoch auch bereits von Luther zu hören gewesen; vgl. W . Köhler, Luther und die Kirdiengesdiichte, I. Teil, Erlangen 1900, S. 108 ff., wo wesentliche Äußerungen Luthers zu diesem Besdiluß des Lateranense zusammengestellt werden. Zweifellos waren Luther die philosophischen Voraussetzungen, die ihn ausgelöst hatten, nur ungenügend bekannt. Seine Äußerungen stehen noch stärker als diejenigen späterer protestantischer Polemiker in der Frontstellung gegen R o m und nicht gegen humanistisch-philosophische Tendenzen. Dieses Problem kann hier nicht näher erörtert werden; vgl. die Diskussion zwischen P . Althaus und C . Stange in: Z S T h J g . 3 (1926), S. 725 ff. und S. 735 ff., sowie C . Stange, Luther und das fünfte Laterankonzil, in: Z S T h J g . 6 (1929), S. 328 ff. (besonders S. 341 ff., 353 ff., 358 ff.). 6

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opportunistischen Argumenten herauszustellen7. Marin Mersenne versuchte in seinem großen Genesis-Kommentar, die Einwände der Atheisten und Deisten gegen die Schöpfungslehre und den Schöpfer zu widerlegen, und erstellte damit das erste grundlegende Werk gegen den Atheismus auf katholischer Seite, das sich freilich auch immer noch mit anderen Problemen befaßte; es erschien 1623 8 . Sechzehn Jahre später bot der niederländische Theologe Gisbert Voetius in Form von vier „Disputationes de Atheismo" die erste protestantische monographische Behandlung des Problems dar 9 . In Auseinandersetzung mit den Remonstranten und mit 7

Das sollten hauptsächlich die Politiker und Hofleute zur Kenntnis nehmen; vgl. Wilhelm von Assonlevilla, Atheomastix sive adversus religionis hostes universos (politicos maxime) dissertatio, Anwerpen 1598. Nach Jöchers Auskunft (I, Sp. 599) war Assonlevilla ein katholischer Philologe und Jurist, der, wegen eines Augenleidens ständig auf einen Amanuensis angewiesen, schon mit 32 Jahren starb (1597). 8 Quaestiones celeberrimae in Genesim, cum accurata textus explicatione. In hoc volumine Athei, Et Deistae impugnantur, Sc e x p u g n a n t u r . . . , Paris 1623; im folgenden zitiert als „Gn-Kommentar". Vgl. daneben: L'impiete des Deistes, Athees et Libertins de ce t e m p s . . . , 1624 (Bd. I; der Titel von Bd. II lautet: L'impiete des Deistes, et des plus subtils Libertins . . . , 1624); La verite des Sciences contre les sceptiques ou Pyrrhoniens . . . , 1625. Mersenne (Pseudonym f ü r : Sieur de Sermes, 1588 bis 1648) war von der gemeinsamen Schulzeit am Jesuitenkolleg von La Fleche her mit Descartes befreundet und korrespondierte auch mit anderen führenden Köpfen seiner Zeit. Mehr Enzyklopädist als Genie, war er in starkem Maße Kind des Geistes, den er bekämpfte. Eine hervorragende Skizze des Lebens und des Werkes von Mersenne gibt Heiner Hermelink, Marin Mersenne und seine Naturphilosophie, in: Philosophia Naturalis, Bd. I, H . 2, 1950, S. 223—242. Er sieht Mersennes Gn-Kommentar allerdings als eine „Blütenlese aus den merkwürdigsten und seltsamsten Fragen, die je bei den Kommentatoren des 1. Budis Mose aufgetaucht sind", und bezweifelt, daß die „Überwindung der Gottesleugner" dabei das ursprüngliche und zentrale Ziel abgegeben habe. Die Leute, die es angegangen hätte, „lasen kaum mehr lateinisch und schon gar nicht einen Bibelkommentar". Ebd. S. 225. Trotz dieser Bedenken steht die Absicht Mersennes in dem apologetischen Teil (bis Sp. 674) vom Aufbau und von zahllosen Einzelaussagen her völlig außer Zweifel. Die „Quaestiones in Genesim" stellen ein Arsenal von Argumenten für Gottes Existenz dar und wurden auch von den späteren Apologeten so empfunden. Die umfassendste Darstellung des Werkes Mersennes gibt Robert Lenoble, Mersenne ou la Naissance du Mecanisme, Bibliotheque d'Historie de la Philosophie, Paris 1943. Er würdigt ausführlich „Les negations de l',Atheisme'" (Kap. IV, S. 168 ff.) und „La Theodicee" (Kap. VII, S. 247 ff.) bei Mersenne. Vgl. außerdem Nr. 1, Tome II der Revue d'Histoire des Sciences et de leurs Applications, Juli—Dezember 1948, die aus Anlaß der 300. Wiederkehr seines Todesjahres ganz Mersenne gewidmet ist. Eine knappe Würdigung Mersennes findet sich in La Nature, Jan. 1949, S. 28 f.: R. Taton, Le Pere Marin Mersenne (1588—1648). • Selectarum Disputationum Theologicarum Pars prima, Utrecht 1648, S. 114 ff. Natürlich hat es Vorstufen dazu gegeben. Den frühesten mir bekannten Versuch, die Existenz Gottes gegen die Atheisten zu beweisen, stellt die Disputatio prima theologica von Konrad Vorst dar: „DE DEO. Nempe de Existentia DEI; In qua demonstrat e contra Atheos, Deum esse. Habita IX. die Martii, anni 1598. Respondente Henrico Clemente Roseo Batavo." Sie wurde in seinem Tractatus Theologicus de Deo, Steinfurt 1610, S. 1 ff., abgedruckt und S. 113 ff. mit Anmerkungen versehen. Da man ihm

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cartesianischen Tendenzen an der Utrechter Universität hatte sich der streitbare und umstrittene Verfechter reformierter Rechtgläubigkeit längst mit der Thematik vertraut gemacht10. Ein äußerer und vielleicht sehr menschlicher Anlaß brachte Voet dazu, die längst vorbereitete Munition zu zünden: Eine Grabrede auf Heinrich Renerius, den Vertreter des Cartesianismus in Utrecht, rühmt den Verstorbenen nach Meinung Voets über Gebühr. Daraufhin läßt Voetius ab 22. Juni 1639 an vier Samstagen hintereinander einen gewissen Walter de Bruyn11 aus Amersfort über den Atheismus disputieren. Descartes, der dabei einige Male ungenannt kritisiert wird, fühlt sich sofort betroffen und reicht beim Magistrat Beschwerde ein 12 . Sicher hat Descartes etwas zu empfindlich reagiert; es ging Voetius nicht nur um ihn. Das gesamte Phänomen des „Atheismus" mit all seinen Schattierungen sollte hier aufgezeigt und angeprangert werden 13 . 2. Die Höhe der Diskussion und ihre Wortführer Mersenne und Voetius haben die Theologen Mitteleuropas aufhorchen lassen. Von fast allen nachfolgenden Autoren zu diesem Thema in Frankjedoch selbst bald Irrtümer in der Gotteslehre vorwarf, hat sie so gut wie keine Auswirkungen gehabt. Vorst (1569—1622) hatte zunächst katholische Theologie studiert, dann verschiedene reformierte Universitäten besucht, war ab 1596 theologischer Lehrer in Steinfurt und ab 1610 Professor in Leiden, wo er sich in verschiedene Kontroversen verwickelte; schließlich landete er bei den Arminianern. Vgl. О. E. Straßer in: R G G 3 VI, Sp. 1500, sowie Neudecker (van Veen) in: RE 3 20, S. 762 ff. — Eine Disputatio de Deo, die gegen die Atheisten gerichtet ist, findet sich audi in dem Syntagma Disputationum Theologicarum, Herborn (Nass.) 1607, von Daniel Tilenus (1563 bis 1633; vgl. J. Moltmann in: R G G 3 VI, Sp. 899, sowie Eug. und Em. Haag, La France Protestante, Tome I X , Paris 1859, S. 383 ff.), einem aus Schlesien stammenden reformierten theologischen Lehrer an der Akademie von Sedan, wo die Disputation gehalten wurde. Tilenus behauptet: „Nihil porro vel ordine prius, vel re gravius, nobis hoc Studium ingressis occurrit, quam theorema hoc, Quod sit Deus, Heb. 1 1 . 6 : cujus theorematis, omni luce clarioris, omni explicatione notioris, tractationem necessariam reddit atheorum execranda vesania, furorque cyclopicus . . . " ; ebd. S. 69 f. 10 Vgl. Proeve van de cracht der godtsalicheyt, Amsterdam 1628; Thersites heautontimonemenos, Utrecht 1635. Gedankengut aus beiden Schriften kehrt in den offensichtlich f ü r den Druck 1648 überarbeiteten Atheismus-Disputationen wieder. Uber Voetius vgl. J. Moltmann in: R G G 3 VI, Sp. 1432f. (Lit.), sowie van Veen in: RE 3 20, S. 717ff.; Don Cameron Allen nennt Voet einen „Clausewitz of orthodoxy"; Doubt's Boundless Sea, S. 11. 11 Bruyn (1618—1653) studierte in Utrecht und wurde dort 1640 Magister. Nachdem er einige Pfarrstellen versehen hatte, promovierte er 1653 zum Doktor der Theologie, starb aber noch im gleichen Jahr. Seine literarische Tätigkeit läßt kein weiteres Interesse am Atheismus erkennen. Vgl. Jöcher I, Sp. 1440. 12 Vgl. A. C. Düker, Gisbertus Voetius, 3 Bde, Leiden 1897—1914, Bd. 2, S. 160 ff. D o r t Einzelheiten über den Streit mit Descartes (Lit.). 13 Der Streit steht am Beginn langwieriger Auseinandersetzungen, die hier nicht weiterverfolgt werden können; aus Descartes' Warte sind sie dargestellt bei Kuno Fischer, Descartes' Leben, Werke und Lehre. Heidelberg 1912 5 , S. 232 ff. 22

reich, H o l l a n d u n d D e u t s c h l a n d w e r d e n b e i d e z i t i e r t 1 4 ; n u r v e r e i n z e l t e italienische u n d einige englische a p o l o g e t i s c h e Schriftsteller finden i h r e n Z u g a n g z u m A t h e i s m u s - P r o b l e m o h n e d e n U m w e g über dieses ungleiche Zweigestirn15. F r e m d w a r das P r o b l e m auch d e n lutherischen T h e o l o g e n nicht. Bereits J o h a n n Gerbard ä u ß e r t sich d a z u in seinen „ L o c i t h e o l o g i c i " 1 β . W e i t e r e sehr f r ü h e A u s f ü h r u n g e n eines lutherischen A u t o r s z u m A t h e i s m u s finden sich bei J o h a n n Hülsemann; sie e r s c h ö p f e n sich jedoch in s c h w e r f ä l l i g e n D e f i n i t i o n s v e r s u c h e n u n d setzen Voetius v o r a u s E i n e erste e i g e n e U n tersuchung des P r o b l e m s v o n lutherischer Seite stellt C h r i s t i a n Cölbes D i s s e r t a t i o n „ d e f u l c r i s A t h e i s m i i n ecclesia" d a r 1 8 . A l l e d i e s e f r ü h e n 14 Ohne daß sie alle von diesen beiden Vorkämpfern abhängig wären, wie Leube behauptet, Die Bekämpfung des Atheismus . . . , S. 238 f. Mersenne ist als Atheistenbekämpfer vielleicht besonders dadurch bekannt geworden, daß Zitate aus seinem GnKommentar kolportiert wurden; andernfalls hätte sich sein Ansatz doch wohl stärker auswirken müssen. Die Abhängigkeit von Voetius bezieht sich nur auf dessen Distinktionsschema, dazu unten S. 77ff.; aber audi dieses erfuhr bald die Kritik seiner Nachfolger. 15 Vgl. Filippo Maria Bonini, L'Ateista convinto dalle sole ragioni, Venedig 1665; Samuel Parker, Disputationes de Deo et Providentia divina, London 1678; Richard Bentley, Die Thorheit und U n v e r n u n f t Des Atheismi . . . , Hamburg 1715 (erstes Erscheinen englisch 1692, lateinisch 1696). 16 In der Ausgabe von Ed. Preuss, Berlin 1863 ff., Bd. 1, S. 267 (im Rahmen des Locus II „De Natura Dei et Attributis divinis", Сар. IV „De quaestione, an sit Deus?") sowie Bd. 5, S. 513 (im Rahmen einer Polemik gegen die römische Kirche, Locus X X I I „De Ecclesia"). Bezeichnenderweise gibt Joh. Friedr. Cotta, der Editor der Loci Tübingen 1762, in einem „Appendix historiam doctrinae de Deo exhibens", ebd. Bd. 1, S. 159 ff., einen Abriß der Atheismus-Debatte, den er nicht mit Gerhards spärlichen Bemerkungen über den Atheismus, sondern mit Voets Atheismus-Disputationen beginnen läßt. 17 Calixtinischer Gewissens-Wurm, Leipzig 1654, S. 1339 ff. 18 Der genaue Titel lautet: Dissertatio de fulcris Atheismi in ecclesia, omnibus, Sive negligenter, sive curiose Rem sacram curantibus, in Ecclesia & Politia occurrentibus personis opposita (Resp. Bertram Isselhorst), Königsberg 1655. Christian Cölbe (1628 bis 1657), 1651 Magister in Königsberg, 1654 Doktor der Theologie in Gießen, übte nur eine kurze Lehrtätigkeit in Königsberg aus: Einem Ruf nach Gießen konnte er infolge seines frühen Todes nicht mehr nachkommen. Vgl. Jocher I, Sp. 2000, sowie Daniel Heinrich Arnoldt, Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der Königsbergischen Universität, 2. Theil, Königsberg i. Pr., 1746, S. 492 f. Ein nicht sehr günstiges Bild von der damaligen geistigen Lage der Königsberger Theologischen Fakultät zeichnet Götz von Seile, Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen, Würzburg 1956 2 ; vgl. besonders S. 91—110. 1655, im Erscheinungsjahr der Dissertation von Cölbe, bezieht Calov das AtheismusProblem in sein Systema locorum theologicorum ein: Tomus II, Cap. I „De notitia Dei naturali", Sectio II, Qu. VI, VII; Cap. II „De notitia Dei revelata". Außerdem Tomus I in den Prolegomena Cap. II „De objecto Theologiae generali, Religione" als Unterabteilung der „religio falsa". An diesen Stellen taucht das Problem später auch in anderen Dogmatiken auf, freilich oft nur sehr am Rande; vgl. Joh. Wilh. Bajers

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lutherischen Voten hatten jedoch kaum Auswirkungen auf die weitere Diskussion. Immer zahlreicher wurden bald monographische Arbeiten. In Kopenhagen schreibt Jan Jan Bircherodius seine „Exercitationes contra Atheos" 1 9 . Er hatte u. a. in Leiden studiert und auf wiederholten Reisen durch Holland, Frankreich, Deutschland und die Schweiz ein Bild von der geistigen Lage des Jahrhunderts gewinnen können 20 . Theophil Großgebauer in Rostock erarbeitete 1661 ein „Praeservatif wider die Pest der heutigen Atheisten" 21 . Er könnte besonders durch seine Beschäftigung mit englischer Literatur auf das Problem aufmerksam geworden sein 22 . Seiner Pionierstellung in Deutschland ist er sich wohl bewußt; in einem Nebensatz seiner Widmung bemerkt er, daß „meines Wissens noch kein Deutscher dis Argument so gehandelt". Johann Adam Oslander (der Ältere) diskutiert den Atheismus ausführlich in der Exercitatio V seines „Deus in lumine naturae repraesentatus" 23 . Im süddeutschen Raum befaßt sich mit dem Problem besonders der weitgereiste und enzyklopädisch Compendium Theologiae Positivae, Jena 1691 2 , S. 187; Johann Adam Scherzer, Systema Theologiae, Leipzig und Frankfurt 1698, S. 35 f.; David Hollaz, Examen Theologicum Acroamaticum, Stargard 1707, S. 83 f. und S. 308. Johann Hülsemann, Extensio Breviarii Theologici, Heilbronn 1667 5 , bringt nur eine knappe Bemerkung zum Thema Atheismus, die jedoch oft zitiert wurde. Relativ ausführlich wird das Problem an den gewohnten Stellen diskutiert bei Johann Andreas Quenstedt, Theologia didactico-polemica, Wittenberg 1691 (Pars I, Cap. II, Sectio I, Th. V, sowie Cap. V I , Sectio II, Qu. I). Vgl. außerdem das Corpus theologiae christianae des reformierten Theologen Johann Heinrich Heidegger, Zürich 1700, Locus I, V I I I ; Locus III, X I V . Alles in allem ergeben audi diese manchmal nur sporadischen Bemerkungen ein eindrucksvolles Bild, wenn man bedenkt, daß der Atheismus in den neueren Dogmatiken explizit erst seit einigen Jahren mitverhandelt wird; vgl. H. Fritzsche, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 2, Göttingen 1967, S. 41 ff., sowie vor allem H. Thielicke, Der evangelische Glaube, I. Bd., Tübingen 1968, S. 305 ff. 1 9 O. J . ; sie werden von Lipenius auf 1663 datiert; die Widmung nennt das Jahr 1660. 2 0 Bircherod (1623—1686) lehrte seit 1668 Theologie in Kopenhagen; die Entstehung der Atheismus-Exercitationen fällt also noch in die Zeit seiner Philosophie-Professur, die er von 1658 ab innehatte; vgl. Jödier I, Sp. 1101. Zur Situation der Universität Kopenhagen in diesem Zeitraum vgl. William Norvin, Kobenhavns Universitet i Reformationens og Orthodoxiens Tidsalder, 2 Bde., Kopenhagen 1937. 2 1 Großgebauer (1627—1661) wurde vor allem durch seine Tätigkeit im Rahmen der Reformorthodoxie bekannt; vgl. dazu O. Krabbe, Heinrich Müller und seine Zeit, Rostock 1866, S. 187 ff. 22 Vgl. M. Schmidt in: R G G 3 II, Sp. 1884 f. (Lit.). 23 Tübingen 1665. Oslander (1622—1697), einer der bedeutenderen Vertreter der großen schwäbischen Theologenfamilie dieses Namens, wurde nach seinem Dienst an verschiedenen Pfarrstellen 1660 Professor für Theologie in Tübingen, 1680 Kanzler der dortigen Universität. U. a. setzte er sich mit Hugo Grotius, Descartes und Balthasar Bekker auseinander; vgl. Jöcher I I I , Sp. 1120 f.; A D B 24, S. 488 f.; R E 3 14, S. 513.

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gebildete Augsburger Pfarrer Theophil Spizel24; er dürfte besonders während seines Studiums in Leiden den Problemen der Frühaufklärung begegnet sein 25 . Er setzt sich u. a. mit der Schrift des aus Augsburg stammenden Theologen Anton Reiser „De origine, progressu et incremento Antitheismi, seu Atheismi" auseinander26. Der Sache nach gehört hierher auch der Traktat „De libertinismo credendi" von Hieronymus Kromayer27, der sich stark der Bekämpfung neuer häretischer Bewegungen widmete; er hat über die Weigelianer, Quäker und Rosenkreuzer gelesen28. Ebenso ist die beginnende lutherische antideistische29 und anticartesianische30 Polemik hierher zu rechnen, soweit sie die Gotteslehre betrifft. Mit diesen Arbeiten hat die Lawine der Antiatheismus-Literatur ihren Anfang genommen; in dem halben Jahrhundert zwischen 1670 und 1720 erscheint dann die Hauptmasse der Dissertationen, Monographien, Detailuntersuchungen und „Geschichten des Atheismus". Noch ragen einzelne Schriften heraus, Johann Müllers „Atheismus devictus" 31 oder der gleich2 4 Scrutinium Atheismi Historico-Aetiologicum . . . , Augsburg 1663. Es folgen noch zwei weitere Schriften über den Atheismus sowie verstreute Bemerkungen dazu an verschiedenen Stellen seiner übrigen Werke. 2 5 Vgl. D e Atheismi radice, 1666, S. 3 ff.; über Spizel ( 1 6 3 9 — 1 6 9 1 ) vgl. M. Simon in: R G G 3 V I , Sp. 260, sowie besonders: D . Blaufuß, Gottlieb Spizel ( 1 6 3 9 — 1 6 9 1 ) , ein Anhänger Speners in Augsburg. Ein Beitrag zu den Anfängen des Pietismus in Süddeutschland, Diss, theol. (masdi.), Erlangen 1971; zu Speners Anteilnahme an Spizels literarischem K a m p f gegen den Atheismus ebd. S. 2 8 8 — 3 0 2 . 2 6 Reiser ( 1 6 2 8 — 1 6 8 6 ) hat sie offenbar von seiner Pfarrstelle in Preßburg aus geschrieben und 1669 in seiner Heimatstadt drudcen lassen. Nach großen persönlichen Schwierigkeiten floh er 1672 mit seiner Familie nadi Augsburg, wurde drei J a h r e später Prediger in Oeringen und 1678 Pastor in Hamburg. Vgl. Jöcher I I I , Sp. 1998 ff.; A D B 28, S. 119 ff. Interessante Beobachtungen zu Reisers Stellung in der AtheismusDebatte bei Blaufuß, a.a.O. S. 278, 274. 2 7 Anhang zu seinen „Loci Anti-Syncretistici", Leipzig 1668. 2 8 Über Kromayer ( 1 6 1 0 — 1 6 7 0 ) vgl. F. Lau in: R G G 3 I V , Sp. 80 f. (Lit.). 2 * Petrus Musäus, Dissertatio contra Ed. Herbertum, K ö l n 1667; Georg Titius, Dissertatio de insufficientia religionis mere naturalis ad consequendam vitam aeternam, Helmstedt 1667; Johann Musäus, Disputatio theologica de luminis naturae et ei innixae theologiae naturalis insufficientia ad salutem, J e n a 1668. 3 0 Valentin Greissing, Exercitatio academica prior de Atheismo opposita inprimis Renato des Cartes et Matthiae Knutzen, Wittenberg 1677. E r ließ ihr im gleichen J a h r eine Exercitatio academica posterior folgen. Greissing ( 1 6 5 3 — 1 7 0 1 ) stammte aus Siebenbürgen, wohin er nach seinem Studium in Wittenberg und einem Lehrauftrag in Stettin zurückkehrte. T r o t z seiner philosophischen Ausbildung war er hauptsächlich als Philologe tätig. Vgl. A D B 9, S. 635 f. Zur Kritik der Orthodoxie am Cartesianismus vgl. Klaus Sdiolder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert, München 1966, S. 131 ff. 3 1 Hambug 1672. J o h a n n Müller ( 1 5 9 8 — 1 6 7 2 ) aus Breslau — er widmete sein Buch über den Atheismus in warmen Worten seiner Vaterstadt — wirkte von 1626 an bis zu seinem Tode in Hamburg. Vgl. Jöcher I I I , Sp. 7 3 1 ; H . Schröder / E . R . W . Klose,

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zeitig in Kiel gedruckte „Atheus convictus" von Christoph Franck32, Tobias Wagners „Examen elencticum Atheismi speculativi" 3 3 und Christian Kortholts stark polemisches Buch „De tribus impostoribus magnis" 3 4 . Vergegenwärtigt man sich für Deutschland die Orte, an denen Arbeiten über den Atheismus erschienen sind, so ergibt sich folgendes Bild: Von dem Zwischenspiel in Augsburg abgesehen, waren es zuerst die mit Holland und England in wirtschaftlichem und geistigem Kontakt stehenden Seestädte Hamburg, Kiel und Rostock, in denen man sich um dieses Problem der Moderne bemühte. In den großen theologischen Schulen von Jena, Wittenberg und Helmstedt läßt sich nur mäßiges Interesse daran entdecken, während Leipzig das Problem die ganze Debatte über im Blickfeld hatte. In Hamburg brachte es die physikotheologische Bewegung modifiziert neu zu Bewußtsein, Bremen war als Ausgangspunkt der pietistischen Atheismuskritik von gewisser Bedeutung; gegen Ende der Auseinandersetzung hat auch Altdorf einige Beiträge geliefert 35 . Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart, Bd. V , Hamburg 1870, S. 4 1 7 f f . ; W . Jensen (Hg.), D i e hamburgische Kirche und ihre Geistlichen seit der Reformation, Hamburg 1958 ( B d . l ) , S. 48 (erhebliche Druckfehler!). Müllers Schriftenverzeichnis zeigt, daß er nicht speziell am Atheismus interessiert war, sondern nach allen Richtungen hin polemisierte; besonderen Raum nahm dabei die antijüdische Polemik ein. 32 1 6 4 2 — 1 7 0 4 ; nach dem Studium in Altdorf, J e n a , Wittenberg und Leipzig wird er 1665 an die neu gegründete Akademie in Kiel berufen, deren Geschicke er ab 1674 (ordentliche Theologie-Professur) wesentlich mitbestimmt. E r ist u. a. an der K o n t r o verse zwischen Lutheranern und Remonstranten interessiert. Vgl. Jöcher I I , Sp. 7 1 5 ; Rodenberg-Pauls, Die Anfänge der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Quellen und. Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins, 31. Bd., Neumünster 1955, besonders S. 218 f. und 225 ff. 3 3 Tübingen 1677. Wagner ( 1 5 9 8 — 1 6 8 0 ) war Diakon und Pastor in Eßlingen, ab 1653 Theologieprofessor in Tübingen, ein vielschreibender Polemiker und eifriger Prediger; vgl. Jöcher I V , Sp. 1775 f. E r hat von 1660—'1680 neben Johann Adam Oslander gelehrt, beide waren sie Universitätskanzler und wackere Polemiker u. a. gegen aufklärerische Strömungen; vgl. K . Klüpfel, Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen, Tübingen 1849, S. 144. Zur Situation der Tübinger theologischen Fakultät in dem fraglichen Zeitraum vgl. Carl von Weizsäcker, Lehrer und Unterricht an der evangelisch-theologischen Facultät der Universität Tübingen von der Reformation bis zur Gegenwart, Tübingen 1877, S. 65 ff. Kiel 1680; eine Auseinandersetzung mit Herbert von Cherbury, Hobbes und Spinoza. W . Jannaschs Bemerkung, Kortholt habe als „erster ev. Theologe" gegen sie gestritten ( R G G 3 I V , Sp. 25) trifft nicht zu. Kortholt ( 1 6 3 3 — 1 6 9 4 ) war stark an der Kirchengeschichte interessiert, was seiner Polemik ein ganz bestimmtes Gepräge gab. Vgl. Rodenberg-Pauls, Die Anfänge der Christian-Albrechts-Universität Kiel, besonders S. 222 ff., wo Kortholts Arbeit gut in -den Rahmen der Polemik an der Kieler theologischen Fakultät eingeordnet wird. Ferner W . Halfmann, Christian Kortholt. Ein Bild aus der Theologie und Frömmigkeit des orthodoxen Zeitalters, Kiel 1930. 34

Vgl. meinen Beitrag: Der Atheist Matthias Knutzen streift Altdorf. Zur geistigen Situation der Universität Altdorf, in: Z B K G 39, 1970, Η . I, S. 127 ff. 35

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Im westlichen Ausland hatte man die Fragestellung eher erkannt; die Apologetik der deutschen Theologen profitiert von den in Paris 36 , Leiden 37 , Antwerpen 3 8 und London 3 9 geleisteten Vorarbeiten. Die reformierten Theologen der Schweiz hüllen sich weithin in Schweigen; auch aus dem lutherischen Schweden bekommt man nur selten etwas zu hören 40 . Ein eigenartiges Phänomen stellt in diesem Zusammenhang die katholische Theologie dar, die, ursprünglich stark an dem Problem und vor allem an seinen politischen Auswirkungen interessiert, die Auseinandersetzung schließlich fast ganz den protestantischen Theologen überließ 41 . Die aufklärerische Bewegung, die im Späthumanismus der katholischen Territorien ihre ersten Anfänge genommen hatte, war inzwischen mit ihrem Schwerpunkt in den protestantischen Ländern angelangt. 3. Verflachung und Ende der

Debatte

Schon bald droht das Problem zu einem akademischen Routine-Thema zu werden oder auch zum Objekt anregender Konversation für den gebildeten Zeitgenossen 42 . Die Flut der Dissertationen schwillt an — vor 36

N e b e n Mersenne k ä m p f t e der Jesuit Francois Garasse gegen „La Doctrine curieuse des beaux Esprits de ce t e m p s . . . " , Paris 1623. 37 In Leiden hatte Philipp Mornaeus bereits 1592 geschrieben: D e veritate religionis christianae ü b e r ; Adversus Atheos, Epicureos, Ethnicos, Judaeos, Mahumedistas, & caeteros Infideles; audi der eine Generation später erschienene T r a k t a t De cognitione Dei von Petrus Molinaeus, Leiden 1625, hatte das Atheismus-Problem aufgegriffen und war stark beachtet worden (deutsch 1694). 38 In A n t w e r p e n erschienen 1613: D e Providentia Numinis et animi immortalitate libri duo adversus Atheos & Politicos, von Leonhard Lessius, S J ; ich zitiere nach der Editio secunda, A n t w e r p e n 1617. 39 Z u r Situation in England vgl. Don Cameron Allen, Doubt's Boundless Sea, Baltimore 1964, S. I l l ff., sowie Th. F. Mayo, Epicurus in England (1650—1725), Dallas 1934. a0 Vgl. Joannes U p m a r k , άθεομάστιξ, Uppsala 1709. 41 Der Franziskaner Bernardin Vetweis geht in seinem Speculum verae ecclesiae Christi ac falsarum ecclesiarum, Köln 1664, auf den Atheismus ein; Jean H a r d o u i n , SJ, (1646—1729), stellt einige „Athei detecti" vor, in: O p e r a varia, A m s t e r d a m - H a a g 1733; vgl. C. Schmidt i n : R E 3 7, S. 416 f. Beides hatte auf den G a n g der Auseinandersetzung k a u m Auswirkungen. Dagegen w a r Pascal von starkem Einfluß auf die Spätphase der Diskussion; vgl. unten S. 280, 291 f., 294 f. 42 In diesem Sinn möchte wohl die Dissertation sur l'Atheisme et sur les Athees modernes von la Croze verstanden w e r d e n ; sie findet sich in: Entretiens sur divers sujets d'histoire, de litterature, de Religion, et de critique, Köln 1711, S. 250—457. La Croze (eigentlich Maturin Veyssiere, 1661—1739), der aus seiner Mauriner Kongregation in Saumur entflohen w a r und sich in Basel vom Katholizismus abgewandt hatte, wirkte ab 1697 als Prinzenerzieher in Berlin, ab 1724 als Professor f ü r Philosophie am dortigen französischen Kolleg; vgl. Jödier I, Sp. 2218 f.

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allem nach 1700; dazu kommen in immer stärkerem Maße Ubersetzungen aus dem Englischen43. Während die Quantität der ans Licht tretenden Arbeiten steigt, sinkt die Qualität. Schon dem zeitgenössischen Beobachter wurde das klar 44 . Gegen Ende der Debatte bemerkt gelegentlich ein Autor, daß sie sich totlaufe: Es taudien keine neuen Argumente mehr auf 45 . Johann Franz Budde, einer der universalsten Theologen seiner Zeit, geht davon aus, daß es der Bücher genug gebe, „quibus atheismus refutatur"; er möchte daher in Die erste in diesem Zusammenhang bemerkenswerte Übersetzung dürfte die des Buches von Matth. Haie sein: Der erste Anfang / Oder das ursprüngliche Herkommen des Menschlichen Geschlechts, mit einer Vorrede „Von dem Atheismo", herausgegeben von Heinrich Schmettau, Breslau 1685; audi die Übersetzungen ins Lateinische werden natürlich von Belang. 4 4 Johann Christoph Dorn, Bibliotheca Theologica Critica, Leipzig 1721, verteilt sehr scharfe Rügen: An den frühen Arbeiten kritisiert er die zu weit gefaßte Definition des Begriffs „Atheismus"; die späteren können ihn wegen ihrer mangelnden Überzeugungskraft nicht befriedigen. Über Christoph Francks Atheus convictus schreibt er explizit, was er wohl auch manchem anderen derartigen Opus gegenüber empfindet: „eruditis haud satisfecit" (S. 489 f.). Es scheint ihm ausreichend, wenn man J . T h o masius' Historia Atheismi und Buddes Theses de Atheismo besitzt (zu diesen Werken unten); auf alles übrige könne man gut verzichten. Immerhin hält er Tribbechows Schrift D e veritate creationis mundi und Rechenbergs Religio prudentum (siehe Literaturverzeichnis) für nützlich. Interessant sind seine positiven Urteile über katholische und anglikanische Autoren; er gliedert seine Literaturübersicht nach konfessionellen Gesichtspunkten. Vgl. die Kritik, die Daniel Georg Morhof, Polyhistor, Lübeck 1708, Tomus I I I , Lib. V , § 9, S. 48 f. vorbringt, in der sich freilich eine grundsätzliche Einstellung deutlich ausspricht: „Scio multos esse, qui hocce tractant argumentum, & quidem spissis libris, sed plerique non satis ad hanc causam instructi, nec iis utentes armis, quibus ad hanc hydram conficiendam uti debebant. Solent enim pro fundamento uti locis Scripturae, quae non admittunt adversarii; illam enim ipsi in controversiam vocant." Ebd. S. 49. Morhofs Einzelurteile entsprechen der „Gründlichkeit", die ein „Polyhistor" für Einzelheiten aufbringen kann. Aber schließlich war Morhof ( 1 6 3 9 — 1 6 9 1 ) nicht Theologe, sondern Universalgelehrter, der seine Professur für Poesie (ab 1660 in Rostock) und Eloquenz (ab 1665 in Kiel) wohl nur als Mensa betrachtete, die ihm seine weitläufigen Studien ermöglichte; vgl. A D B 22, S. 236 ff. Auch J o h a n n Georg Walch fand es mühsam, sich in dem Labyrinth dieser Literatur zurechtzufinden; die unterschiedliche Qualität der Arbeiten führte er auf die Schwierigkeiten bei der Definition des Begriffs „Atheismus" zurück; vgl. Einleitung in die ReligionsStreitigkeiten, welche sonderlich ausser der Evangelisch-Lutherischen Kirche entstanden . . . , J e n a 1733 3 , 5. Teil, 7. Kap., § 7, S. 2 9 f. 43

J o h a n n Conrad Schwartz, Demonstrationes Dei, quem ratio docet ac Scriptura sacra, Frankfurt und Leipzig 1708, glaubt, durch seinen mathematischen Ansatz die Diskussion auf eine neue Basis bringen zu können, und schreibt darüber in seiner Vorrede: „Qunquam enim rationes novae conquiri nullae possint, postquam universas Theologi veteres praeceperunt: tarnen, si quae forte rationes veteres nunc, cum ars interpretandi summa in luce versatur, magis illustrari possint, nihil laboris, nihil molestiae recusandum erat." (Nicht pag.; 4. S.).

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seinen Thesen über den Atheismus46 nur das bisher Gesagte zu einem geschlossenen System zusammenfassen47. Tatsächlich sind, von Dissertationen über Spezialprobleme und einigen Nachzüglern abgesehen, danach keine wesentlichen Arbeiten zum Atheismus-Problem mehr erschienen. b) Streuungsbereiche und literarische Nebenprodukte der Atheismus-Debatte 1. Der Niederschlag der Problematik in der nichtmonographischen Literatur Selbstverständlich wurde die Diskussion nicht nur in der monographischen Literatur geführt. Bereits Voetius weist auf acht verschiedene Schriftengruppen hin, in denen man Äußerungen zum Atheismusproblem finden könne 48 : (1) Die Dogmatiken zu den Lehrstücken de Deo und de cognitione Dei; dazu kommen Einzeldarstellungen oder Dissertationen über diese Loci; (2) Arbeiten über die Theologia Naturalis, deren im Lauf des 17. Jahrhunderts eine ganze Reihe geschrieben wurde und die gegen Ende des Jahrhunderts von der physikotheologischen Literatur abgelöst werden sollten; außerdem Beiträge der Metaphysiker; (3) Apologien für den christlichen Glauben, deren Titel oft „de veritate religionis christianae" oder ähnlich hieß; (4) polemische Literatur gegen Häresien; denn es brauchte Zeit, bis die Theologie erkannte, daß es sich beim Atheismus Theses theologicae de Atheismo et superstitione variis observationibus illustratae et in usum recitationum editae, J e n a 1717 (deutsch im gleichen J a h r ) . Das Zitat ebd., Vorrede (nicht pag.). 4 7 In seiner Vorrede (nicht pag.; 10./11. S.) schreibt er: „Animus nimirum erat, uno velut, sed succincto, systemate, omnia, quae de hoc argumento dici poterant, complecti, & dogmata cum atheismo connexa, sed diversa tarnen ab eo, rite quidem discernere, nec tarnen praetermittere . . . " . Budde ( 1 6 6 7 — 1 7 2 9 ) war nach seinem Studium in Wittenberg und J e n a 1692 Professor für Griechisch und Latein am Coburger G y m nasium und 1693 Professor für Moralphilosophie in Halle geworden. A b 1705 wirkte er als Theologieprofessor in Jena. Vgl. E. W o l f in: R G G 3 I, Sp. 1 4 6 9 ; J o h . Kunze in: R E S 3, S. 518 ff. D i e Arbeit von J o h . Reinhard, Die Prinzipienlehre der lutherischen Dogmatik von 1 7 0 0 — 1 7 5 0 (Hollatz, Buddeus, Mosheim), Leipzig 1906, versteht Buddes Theologie (S. 39 ff.) zu wenig aus dem Spannungsfeld zu den zeitgenössischen philosophischen Strömungen heraus. Dagegen weist A. F. Stolzenburg gut auf die apologetischen Interessen Buddes hin, freilich immer verquickt mit der Darstellung der Theologie Pfaffs: Die Theologie des J o . Franc. Buddeus und des Chr. Matth. Pfaff. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in Deutschland, Berlin 1926, besonders S. 142 ff. und S. 276 ff. 4 8 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 114 f.; er erweist sich also auch hier als der „Bücherverschlinger", als den ihn ein Zeitgenosse bezeichnet hat, vgl. R E 3 20, S. 7 2 0 ; um vier Uhr früh saß er bereits in der Bibliothek! 46

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nicht einfach um eine neue „Sekte" handelte 49 ; (5) kasuistische und moraltheologische Literatur bei der Entfaltung der religiösen Pflichten bzw. des ersten Gebots; sie hat allerdings im weiteren Verlauf der Diskussion ihre Bedeutung fast völlig eingebüßt; (6) erbauliche Literatur50, hierher gehören vor allem auch Predigten und Predigtsammlungen; (7) Kommentare zu den einschlägigen Bibelstellen, also besonders zu Ps. 14,1 — „Die Toren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott" 51 — und Eph. 2, 12, der einzigen Stelle im Neuen Testament, an der der Begriff άθεος auftaucht und als Sein ohne Christus charakterisiert wird 52 ; (8) schließlich politisches und rechtswissenschaftliches Schrifttum, das den Atheismus wegen seiner staatsgefährdenden Moral behandelt; auch dazu erschienen später Einzelabhandlungen 5S . Damit war der beachtliche Literaturkomplex umrissen, in den hinein die Atheismus-Problematik nach zeitgenössischem Verständnis irgendwelche Ausstrahlungen haben mußte. 2. Literarische Streitgespräche und „Geschichten des Atheismus" Voetius54 konnte nicht ahnen, daß noch ganze Literaturgattungen in den Kampf gegen den Atheismus einbezogen werden sollten: das — u. U. allegorisch eingekleidete — Streitgespräch und der geschichtliche Abriß. Vorstufen für das Streitgespräch als antiatheistisches Kampfmittel hatte es allerdings schon früher gegeben55. Der Jesuit Wilhelm Damasus 49

Voetius a . a . O . S. 114: „quibus adde Directoria Inquisitorum"; zum Verhältnis von Atheismus und Häresie vgl. unten S. 68 ff., 96 ff. 50 А. а. O. S. 115: „tit. de Resipiscentia". 51 Johann Ulrich Frommann (1669—1715), außerplanmäßiger Professor der Theologie in Tübingen, hat die Disputation „Atheus stultus . . . " , Tübingen 1713, als Exegese dieser Stelle angelegt. (Dies ist die einzige von ihm bekannte Schrift). 52 In den Auslegungen des 16. Jahrhunderts hierzu nachzuschlagen, ist der einfachste Weg, von der damaligen Atheismus-Definition ein Bild zu gewinnen. Calvins und Bezas Erörterungen zu dieser Stelle werden gelegentlich zitiert. 53 Ζ. B. Johann Michael Hallwachs, Dissertatio de atheo, de poenis in atheum & de juramento athei, Jena 1714; Jakob Staalkopf, Dissertatio de Atheismi habitu ad vitam civilem, Greifswald 1710; Gerhard Hermann Mencken, De juramento athei, Leipzig 1713. Diese Literaturangaben sind entnommen dem Delectus argumentorum . . . von Joh. Albert Fabricius, Hamburg 1725, S. 337. 54 Er weist abschließend über den rein akademischen Bereich hinaus: „Adhaec universalis omnium temporum experientia; imprimis novissimorum, in tantum, ut occultis non modo machinationibus, sed & libris, vocibus ac dissertationibus, insuper editis scriptis, Atheismos passim promoveri ac spargi v i d e a s . . . " ; а. а. O. S. 115. 55 Apologetische Lehrform war der Dialog schon seit den Tagen der altchristlichen Apologeten; vgl. O. Zödder, Geschichte der Apologie des Christentums, Gütersloh 1907, S. 22 ff.; als solche nahm er in der Renaissance einen ungeheuren Aufschwung, vgl. Zöckler ebd., S. 324 ff. In der Barockzeit entwickelte er sich zu einem beliebten Konversationsmittel auch abgesehen von apologetischen oder überhaupt philosophischen Interessen; vgl. Georg Philipp Harsdörffers „Frauenzimmer-Gesprächsspiele" (1641—49). Kein Wunder also, wenn sich audi die antiatheistische Polemik in starkem Maße dieses Mittels bediente. 30

Lindt5e läßt einen fingierten „Constantius" mit einem „Dubitantius" diskutieren und versucht dabei nachzuweisen, daß Luther und die anderen „novatores" die Schuld an den gegenwärtigen kirchlichen und politischen Mißständen trügen; dabei kommt die Rede auch auf die „Atheisten" 5 7 . Ähnlich zeigte Mersenne die „Gottlosigkeit" der Deisten und Libertiner 5 8 in Form eines Dialogs zwischen „Le Deiste" und „Le Theologien" auf 5 9 . Voll entfaltet wurde das antiatheistische Streitgespräch erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Bei Filippo Maria Boninim haben „Filastrio" und „Atelastrio" miteinander lange philosophische Debatten über den Atheismus und Johann Lassenius läßt in seiner „Besiegten Atheisterey" von 1693 „Atheander" und „Theander" so überzeugend ihre Rollen spielen, daß man gefragt hat, ober er nicht selbst Schauspieler gewesen sein könne 6 1 . Diese literarische Form soll Dubitantius de vera certaque per Christi Jesu Evangelium, salutis aeternae via, libris I I I instructus, Köln 1565. 5 7 „ . . . Imo si verum mihi dicere licet, veri Athei atque impii, qui пес Christum пес Deum, пес denique Diabolum, пес caelum пес infernum esse profitentur." Ebd. S. 233. Lindt ( 1 5 2 5 — 1 5 8 8 ) stammte aus Dordrecht, lehrte in Dillingen und fungierte u. a. als Inquisitor in Holland, Zeeland und Friesland; ab 1561 ist er Bischof von Roermond. Vgl. L T h K 6, Sp. 1062. 5 8 L'impiete des Deistes et des plus subtils Libertins . . . , 1624. 5 9 Hier wird übrigens ein 76 Seiten langes Gedicht von P . Nicolaus Girault abgedruckt, das auf die Einwände der „Freidenker" antworten soll: Reponse ä l'Antichrestien, se disant Anti-bigot. Audi das Gedicht steht im Dienst der Apologetik. 6 0 L'Ateista convinto . . . , 1665. 6 1 Vgl. A D B 17, S. 789. Lassenius ( 1 6 3 6 — 1 6 9 2 ) hatte in Rostock studiert und ausgedehnte Reisen nach Frankreich, England, Italien, Spanien und Portugal unternommen. Nach Aufenthalten in Berlin, Straßburg und Nürnberg wurde er infolge seiner scharfen Polemik gegen die Jesuiten bis ins südliche Ungarn verschleppt, wäre beinahe in die Türkei verkauft worden und landete nach Zwischenstationen in Helmstedt, Itzehoe und Greifswald 1676 als deutscher Hofprediger (ab 1677 Theologie-Professor) in Kopenhagen. Vgl. A D B 17, S. 788 ff., sowie die R G G 2 I I I , Sp. 1495 angegebene Lit., und W . R a h e , Johannes Lassenius ( 1 6 3 6 — 1 6 9 2 ) . Ein Beitrag zur Geschichte des lebendigen Luthertums im 17. Jahrhundert, Gütersloh 1933. Bis ins Unerträgliche gibt er dem barocken Zeitgeschmack nach in seinen Arcana Politico-Atheistica von 1686, die als Dialog-Erzählung angelegt sind. Die allegorischen Gestalten werden mit den ihnen zukommenden Requisiten ausstaffiert: Philalethes, der „Freund der Wahrheit", wird als heruntergekommener und verbitterter Einsiedler vorgestellt, während sein G e sprächspartner Philistoreon in kostbaren Seidengewändern einherschreitet. A u f ihrem Weg begegnen ihnen allerlei merkwürdige Figuren, die ihnen zu denken und zu debattieren Anlaß geben, und durch all das soll das Recht von „Fräulein Waremunde" behauptet werden, die so lange im E x i l hatte leben müssen! Gelegentlich ist das barocke Kolorit auch recht amüsant. So treffen sich in Immanuel Webers „Beurtheilung der Atheisterey", Frankfurt 1697, allwöchentlich Theophil, Bibliander und Florian, um die Zeit mit nützlichen Gesprächen zu verbringen. Diesmal kommt man im „Museum" Theophils zusammen, der so eifrig diskutiert, daß er kein Ende gefunden hätte, „wo ihn die übrigen beyden Herren / mit Zeigung der außgelauffenen Sand-Uhr / nicht der Zeit und ihrer Gesetze e r i n n e r t . . . " ; gleichwohl gehen die Gesprächspartner auch „dißmahl wohl vergnüget von einander"; ebd. S. 150 f. 58

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die schwierige Materie dem nicht speziell vorgebildeten Leser leichter zugänglich machen 62 oder auch dem Gebildeten ein intellektuelles Vergnügen bereiten: So werden die Rollen von „Philalethes", „Misalethes" und „Diatetes" in den „Arcana Atheismi revelata" des Franz Cuper63 geradezu austauschbar; der Schiedsrichter übernimmt, nachdem das Gespräch eine Weile gedauert hat, die Rolle des Philalethes und dieser fungiert nun als der unparteiische Dritte e4 . Daneben treten die „Geschichten des Atheismus". Das erste Exemplar dieser Gattung stellt das schon genannte schwerfällige Buch von Anton Reiser dar 65 : Hier wird die Geschichte des Atheismus zurückverfolgt bis in ihre letzten Wurzeln, bis auf den Sündenfall, ja den Fall Satans. Spätere Darstellungen wie die 1709 in Basel und 1713 in Altdorf erschienene „Historia Atheismi" von Jenkin Thomasius66 oder Jakob Friedrich Reimmanns „Historia universalis Atheismi et Atheorum" 67 werden zu gelehrten Unternehmungen, die möglichst viel erreichbare Literatur zu verarbeiten suchen. Eine Gelegenheit, sich über den Atheismus zu äußern, sah man bald audi in den eben aufkommenden religionsgeschichtlichen Untersuchungen 62

Vgl. Johann Melchior, Christlicher Glaubens-Grund, Frankfurt 1671; dort sucht „Christianus" seinen Freund „Romanus" zu überzeugen. 63 Rotterdam 1676. 64 Ebd. ab S. 246. Andere bei Zöckler S. 342 f. angegebene Lehrformen im Dienst der Apologetik, wie Briefwechsel, Roman, Lehrgedicht, spielen in der antiatheistischen Polemik nur untergeordnete oder gar keine Rolle. Im Zeitalter Voltaires werden noch die Zeitschrift, das Reallexikon, die apologetische Textsammlung zu Mitteln, durch die das Christentum verteidigt werden soll, ohne daß es dabei jedoch speziell um den Atheismus geht; vgl. Zöckler S. 343 f. 63 De origine, progressu et incremento Antitheismi, seu Atheismi. . ., Augsburg 1669. 66 Pseudonym für Jenkin Philips; vgl. Walch, Einleitung, 17333, Bd. 5, S. 26. Die Nachrichten über ihn sind spärlich; Jöcher nennt ihn überhaupt nicht; bei Adelung, VI, Sp. 79 f., heißt es ohne Angaben genauerer Lebensdaten, er sei Informator des Herzogs von Gloucester gewesen, habe viele Jahre in der Schweiz zugebracht und sich wohl audi einige Zeit in Deutschland aufgehalten; ferner, daß er, „soviel sich aus seinen Schriften vermuthen läßt, ein Polyhistor seyn w o l l t e . . .". e7 Hildesheim 1725. Reimmann (1668—1743) wurde nach dem Theologie-Studium in Jena und seiner Lehrtätigkeit in und um Halberstadt, wo ihm 1710 seine Bibliothek „mit viel schönen Manuscripten" verbrannt war, Domprediger in Magdeburg (1714) und Superintendent in Hildesheim (1717). Jöcher berichtet: „Er war ungemein fleißig, und betrat einen Garten, welthen er ausser(halb) der Stadt besaß, in mehr als 15 Jahren nicht, studirte den gantzen Tag stehend, und bediente sich in mehr als 30 Jahren auf seiner Studier-Stube keines Stuhles." III, Sp. 1981. Ein besonderes Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Atheismus oder mit der Aufklärung allgemein ist aus dem Verzeichnis seiner Werke nicht zu erkennen. Vgl. ADB 27, S. 716 f. 88 Johann Gerhard Vossius, De Theologia gen tili et physiologia christiana; sive de origine ac progressu idolatriae, Amsterdam 1668 (erste Auflage 1641? Georgi nennt nur eine Auflage 1655); hier allerdings erst wenige Bemerkungen über das Phänomen des Atheismus. Vossius (1577—1649), nach Jöcher IV, Sp. 1716 ff. ein Polyhistor, der 32

M e h r historisch d a r s t e l l e n d gehen n a t u r g e m ä ß K i r c h e n - u n d T h e o l o g i e geschichten a n das T h e m a h e r a n . G o t t f r i e d Arnold69

b r i n g t seine I n f o r -

m a t i o n auch d a z u nicht „ u n p a r t e i i s c h " v o r 7 0 , a b e r er ist nicht d e r einzige „ K i r c h e n g e s c h i c h t l e r " seiner Z e i t , d e r ü b e r die bösen A t h e i s t e n zu berichten w e i ß 7 1 . Theologiegeschichten u n d A b h a n d l u n g e n ü b e r die K o n t r o v e r s e n d e r Z e i t w i d m e n sich ausführlich diesem T h e m a 7 2 ; eine w a h r e F u n d g r u b e v o n N o t i z e n über die A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e n A t h e i s t e n bietet J o h a n n G e o r g Walchs welche sonderlich den" 3.

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außer

der

„ E i n l e i t u n g in die R e l i g i o n s - S t r e i t i g k e i t e n , Evangelisch-Lutherischen

Kirche

entstan-

.

Zeitgenössische

literarische

Hilfsmittel

D i e g r o ß e D r u c k f r e u d i g k e i t des J a h r h u n d e r t s m a c h t e es a u f allen G e bieten unmöglich, sich o h n e literarische H i l f s m i t t e l u n d W e g w e i s e r

zu-

rechtzufinden. D i e antiatheistische L i t e r a t u r w u r d e z u n ä c h s t z u s a m m e n g e f a ß t in einem S o n d e r p a r a g r a p h e n der A b t e i l u n g „ T h e o l o g i a p o l e m i c a " , infolge eines Sturzes von der Bücherleiter, bei dem er ganz von nachfallenden Büchern bedeckt worden sei, starb. Nach dem Studium in Leiden wirkte er in Dordrecht, Steinfurt, Leiden und Amsterdam, von den theologischen Kontroversen seiner Zeit stark in Mitleidenschaft gezogen, aber mehr Universalgelehrter als Theologe. Vgl. Bakhuizen van den Brink in: R G G 3 VI, Sp. 1501 f., sowie Sepp / van Veen in: R E 3 20, S. 764 ff. Gebhard Theodor Meier räumt dagegen dem Atheismus in seiner Historia religionum, Helmstedt 1697, ein ganzes erstes Kapitel ein. Meier (1633—1693) wurde nach seinem Studium in Wittenberg und Helmstedt ebendort 1654 Magister der Philosophie und 1660 Professor der Theologie. Vgl. ADB 21, S. 192, sowie Jöcher III, Sp. 365 f. Von Anfang an empfand man Atheismus und Aberglauben bzw. die Idolatrie des Heidentums als Scylla und Charybdis, als die beiden άκρότητες άμαθίας nach Clemens von Alexandrien! In diesem Sinn schrieb noch Buddeus seine Theses theologicae de Atheismo et superstitione . . . , 1717. 69 Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie, Frankfurt am Main 1699, 2. Teil, S. 598 ff. Cap. X V I : „Von denen Atheisten / wie auch denen so genannten Naturalisten / Deisten und Latitudinariis in diesem seculo." Er verweist aber seinerseits wieder auf die schon vorhandenen Darstellungen: „Was sonsten vor exempel solcher leute in diesem seculo anzumercken wären . . . / die sind in gemeinen Teutschen büchern weitleufftig zu finden." Ebd. S. 605. 70 Valentin Ernst Löscher, Praenotiones theologicae, Wittenberg 1713 2 , findet in Praenotio VI, bei Arnold kämen Vanini und Spinoza zu gut weg, — er seihe Mücken und verschlucke Kamele! 71 Vgl. Caspar Sagittarius, Introductio in historiam ecclesiasticam.. ., Jena 1718, Bd. 2, S. 667 ff.; Joh. Lorenz Mosheim, Institutionum historiae ecclesisticae antiquae et recentioris libri quatuor, 1755 Helmstedt, S. 1023 f. 72 Vgl. Iustus Christoph Schomerus, Collegium novissimarum controversiarum, Rostock 1703, Cap. I, S. 2 ff.; Zacharias Grapius, Theologia recens controversa, Rostock 1710 2 ; Sigmund Jakob Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen, hg. von Joh. Salomo Semler, Halle 1766, S. 21 ff. 7 3 Dritte Auflage Jena 1733. Zu Walch (1693—1775) vgl. die R G G 3 VI, Sp. 1530 angegebene Lit. 33

die in einer theologischen Literaturgeschichte oder „Bibliothek" gewöhnlich anzutreffen war 7 4 . Bald reichte das nicht mehr aus. Um die Zusammenstellung der antiatheistischen Literatur hat sich am meisten verdient gemacht der umfassend gebildete Führer der Physikotheologie in Hamburg, Johann Albert Fabricius (1688—1736) 7 5 . In seinem „Syllabus" 7β ordnet er sie nach sachlichen und chronologischen Gesichtspunkten. Weit über das Gottesproblem hinaus wird hier in einer eindrucksvollen Schau die gesamte apologetische Literatur zusammengefaßt, die das Christentum bis zu diesem Zeitpunkt erstellt hatte. Insbesondere führt der „Syllabus" seinem Benutzer die theologische Arbeit vor Augen, die die christlichen Konfessionen in der Auseinandersetzung mit der beginnenden Aufklärung geleistet haben. Der Titelkupfer zeigt, wie Saul, geblendet vom göttlichen Licht, mit seiner gesamten Begleitung zu Boden sinkt 77 . Uberblickt man die antiatheistische Literatur des siebzehnten und beginnenden achtzehnten Jahrhunderts, so ergibt sich einem das Bild einer agilen und schaffensfreudigen Theologie, die wohl manchmal in Kleinlichkeit und Verständnislosigkeit befangen war, aufs Ganze gesehen aber mit Elan und Siegesgewißheit ihre Erzeugnisse zum Druck brachte. Konfessionelle und provinzielle Unterschiede werden Relativ dürftig ist, was Christoph Matth. Pfaff in seiner Introductio in historiam theologiae literariam, Tübingen 1720, auf diesem Gebiet anzubieten h a t : Liber tertius de Theologia Polemica, § 2, S. 129 ff. Er fühlt sich hier offenbar nicht sehr zu Hause: „Sed de his omnibus heic non est excurrendi locus. Pergamus." S. 133. Später änderte sich das: Pfaff hat durch Schriften und Vorlesungen maßgeblich in die Auseinandersetzung mit der Aufklärung eingegriffen, freilich nicht speziell hinsichtlich des Atheismus-Problems. Vgl. A . F. Stolzenburg, D i e Theologie des J o . Franc. Buddeus und des Chr. Matth. Pfaff, Berlin 1926, S. 143 ff. 74

Vgl. ferner Johann Christoph Dorn, Bibliotheca Theologica Critica, Leipzig 1721, Liber I I I , Cap. I X , S. 484 ff.; Caspar Neumann, Trutina religionum, Leipzig 1731, Cap. I I ; nach einem „Atheistenkatalog" S. 3 0 — 5 3 wird die Gegenliteratur durchgemustert, S. 5 3 — 6 9 . 7 5 Vgl. W . Philipp in: E K L I, Sp. 1 2 5 1 ; ders., Das Wesen der A u f k l ä r u n g . . . , S. 33 f. (Lit.) und öfter. 7 6 Der genaue Titel lautet: Delectus argumentorum et syllabus scriptorum, qui veritatem religionis christianae adversus Atheos, Epicureos, Deistas seu Naturalistas, Idolatras, Judaeos et Muhammedanos lucubrationibus suis asseruerunt, Hamburg 1725. Vgl. Abb. 1. Für die Erfassung von Literatur, die sich gegen einzelne Aufklärer richtet oder von solchen stammt, ist wichtig das „Freydenker L e x i k o n " von Johann Anton Trinius, Leipzig und Bernburg 1759, Nachdruck Turin 1960. Vgl. auch A. G. Masch, Verzeichnis der erheblichsten freigeisterischen Schriften, nebst ihren Widerlegungen, Halle 1748 (Anhang zu: Abhandlung von der Religion der Heiden und der Christen. . . ) . In seiner Vorrede zu William Derhams Astrotheologie, Hamburg 1728, bringt Fabricius ein Verzeichnis von Autoren, die es sich haben angelegen sein lassen, „durch Betrachtung der Natur und der Geschöpffe die Menschen zu G o t t zu führen", und in seiner Vorrede zu Derhams Physicotheologie, Hamburg 1730, bietet er einige Ergänzungen dazu sowie ein Verzeichnis der Boyleschen Vorlesungen 1 6 9 2 — 1 7 2 6 ; dazu unten S. 152. 77

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minimalisiert; in einem regen intereuropäischen geistigen Austausch wird analysiert und argumentiert, disputiert und gedruckt. Es fällt auf, daß in der Auseinandersetzung die großen Namen der damaligen Theologengeneration nur selten auftauchen. Ein Heer von kleinen Skribenten nimmt sich eines Problems an, das die mit dem traditionellen „Stoff" der Dogmatik befaßten Professionellen nur ungenügend erkennen. Pfarrer, die neben ihrer Gemeindearbeit schreiben, und Dozenten, die ihre ersten Disputationen abhalten, haben das Ohr offenbar näher am Puls der Zeit als ihre in die herkömmliche Fragestellung eingearbeiteten Kollegen an den Hohen Schulen. Die meisten Autoren, sofern sie sich nicht ausdrücklich ein Teilziel gesteckt haben, bemühen sich um die Analyse des Phänomens „Atheismus" und zugleich um eine wirkungsvolle Gegenargumentation. Diagnose und Therapie stehen dabei in einem spannungsreichen Wechselverhältnis.

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Α) A N A L Y S E N D E S P H Ä N O M E N S „ATHEISMUS"

I. Die Suche nach dem Gegner a) Die Klage über die und den „Genius 1. Die Verbreitung von Atheisten in der

„Atheisterey" Saeculi" Christenheit

„Ich scheue mich fast, die schände unserer zeit auszusprechen, und doch muss ichs sagen, wir sind in die jenigen Zeiten gerathen, darinnen die Gottlosen in ihren hertzen sprechen: Es ist kein Gott. Ja es ist keine Secte und Religion weiter ausgebreitet, und hat mehr leute und örter eingenommen als die Atheisterey. Es ist schier kein Herren-hoff, noch Reich noch Stadt nunmehr zu finden, darinn nicht leute seyn sollen, die aus sonderlicher klugheit Mosen, die Propheten und Aposteln zu meistern wissen. Die Atheistische spötterey hat sich von Herrenhöfen bis in die Hohen Schulen, in die Rath-häuser, in die Gerichts Stuben, in die Cabinete der Kauff-leute, in die werck-städte der handwercker, ja bis in die hütten der bauren ausgebreitet." Das sind einige der Klagen, die Gottfried Arnold in seiner „Kirchen- und Ketzerhistorie" zusammenstellt1. Er zitiert damit andere Autoren, die ζ. T. schon Jahrzehnte vor ihm ähnliches beobachtet haben wie er: Christian Scriver2, der in seinem „SeelenSchatz" wiederholt auf den Atheismus zu sprechen kam 3 , und Theophil Großgebauer*. Er hätte noch viele weitere Gewährsleute aufbieten könKirchen- und Ketzerhistorie, 1699, 2. Teil, S. 600. 1 6 2 9 — 1 6 9 3 ; seit 1667 Pfarrer an St. Jacobi in Magdeburg, seit 1690 — auf Anraten Speners — Oberhofprediger in Quedlinburg. Als einem Mann, dem die Reform der Kirche im Sinn des Frühpietismus am Herzen lag, mußte ihm das Problem des Atheismus ins Auge fallen. Vgl. M. Schmidt in: R G G 3 V, Sp. 1627 f., und H . Beck in: R E 3 18, S. 102 f. (Lit.). 3 Der Seelen-Schatz erschien von 1675 bis 1692. Ich zitiere die Ausgabe Leipzig 1701 2 . Auch Voetius hatte einst die Predigtbände durchgeblättert, um zu sehen, wie es mit dem Atheismus in den verschiedenen Ländern stand (Select. Disp., Pars I, S. 216), und Christian Kortholt schreibt 40 Jahre nach ihm: „Hätte er gewust, was ich weis / er hätte deßwegen in keinen gedruckten Predigten nachsuchen dürffen." Theologische Tractätiein . . . (VIII), Kiel 1679, S. 332. Arnold nimmt Bezug auf Seelen-Schatz, Bd. 1, Teil 1, 6. Predigt, § 25, S. 7 4 ; vgl. Bd. 2, Teil 4, 15. Predigt, § 22, S. 556 f. 4 Vgl. dessen Vorrede zum „Praeservatif wider die Pest der heutigen Atheisten", 1661. 1

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nen. Heinrich Schmettern schreibt in seiner Vorrede „Von dem Atheismo" zur deutschen Übersetzung von Haies Buch „Vom Ursprung des menschlichen Geschlechts": „ . . . es ist niemand so unbekandt in der Welt / der nicht mit Augen sehe / wie Gott und die wahre Religion / zu diesen gefährlichen letzten Zeiten / beginnen ein Spott zuwerden . . . ; ja / wie die Atheisterey nunmehr fast alle Länder / gleich einer allgemeinen Sündfluht überschwemmet."5 Johann Müller stellt seinem Leser eindringlich vor Augen, wie der Atheismus selbst auf dem Lande Fuß faßt, wie sich damit auch „Kinder / Jungen / Mägde / Ammen / Kutscher und dergleichen Leute schleppen" 6 — Hamburg 1672! Und als Empfehlungsgedicht für Müllers „Atheismus devictus" schreibt kein geringerer als Abraham Calov: „Plenis invehitur velis ATHEISMUS in orbe, Dum ruit hic, illic, cum Pietate, Fides. Debellas Atheos vitaque fideque potenter, Et lingva 8c calamo vindice, vincis, ova(n)s." Erschüttert ruft Adam Tribbechow7 aus: Nun sei man in die Zeiten gekommen, die der Apostel Paulus prophezeit habe (2. Tim 2, 3): Unter uns Christen, die zu den ewigen Freuden berufen sind, gibt es Leute, die alles angreifen, was zu ihrem Heil dient und was Jahrhunderten als heilig galt 8 . Und er hält den Atheisten vor: Wie Betrunkene in ihrem Rausch meinten, sie seien nicht mehr in der Schänke, sondern in ihrem Bett, so habe der Stolz die Atheisten geblendet, daß sie nicht mehr merkten, wer Herr sei im Hause der Welt, in dem sie sich vergnügten — hier stehe einer, der nüchtern ist: Wie werden die trunkenen Atheisten sich schämen müssen, wenn die Nacht kommt, das ewige Gericht! 9 Mitten im eigenen Hause hat die Christenheit nun ihre Feinde, klagt Kortholt Breslau 1685; Vorrede nicht pag. Atheismus devictus, S. 34. Sicherlich hat bei solchen Meldungen auch die zum Handwerkszeug des Polemikers gehörende rhetorische Übertreibung eine Rolle gespielt. 7 Tribbechow ( 1 6 4 1 — 1 6 8 4 ) lehrte in Rostock, Gießen und Kiel (1664 Moral, 1666 Geschichte). Ab 1672 wirkte er als Kirchenrat in Gotha; er hat einige Kirchenlieder hinterlassen. Vgl. RGG 2 V, Sp. 1270; A D B 38, S. 595 ff. 8 Veritas creationis mundi . . . ad convincendos Atheos, o . O . 1668, S. 1 f.: „ . . . Inter nos eheu! qui ad Coelestia gaudia vocati sumus tarn splendido gratiae praeconio, tarn ingrati reperiuntur homines, ut non tantum cuniculis perniciosarum assertionum, sed & aperto incessant convitio, quidquid ad salutem sibi a Deo destinatum, quidquid profuit ab orbe condito, quidquid Judaeis sanctum ас proselytis venerabile fuit, idem etiam a Christo aeterni Dei Filio mortis pignore obsignatum, a martyribus sanguine contestatum, atque per sanctorum patrum manus ad nos salutaris instar depositi pervenit. . . " . 5

6

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Ebd. S. 21.

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in seinem Buch über die drei Betrüger 1 0 . Jacob Daniel Ernst, ein lutherischer Pfarrer, der durch seine Anekdotensammlungen bekannt wurde 1 1 , ist der Meinung: „Solte man itzo Umbfrage halten / wie mancher gesinnet wäre / die Antwort dürffte an vielen Orthen sehr schlecht gefallen. Es weisets auch mancher mit seinem Gottlosen Leben: daß er nicht glaubet daß ein Gott im H i m m e l sey . . . Wie es nun in einem Hause sehr übel pfleget zuzugehen / wenn der H a u ß - H e r r nicht einheimisch ist; also treibens auch die Menschen sehr wunderlich in der Welt / wenn sie sich einbilden es sey kein Gott / der ihre Wercke beobachte." 1 2 Unter der Uberschrift „ H a n n ß ohne Gott" trägt er gleich zu Beginn des 2. Bandes die Beispiele und Anekdoten v o n „Atheisten" zusammen, die ihm bekannt geworden sind 1 S . Natürlich ging es den Theologen des 17. Jahrhunderts, die so viel über die „Atheisten" zu klagen hatten, nicht nur um den „Atheismus" im strengen Sinn, sondern u m die „Atheisterey", wie sie sich ausdrückten, den irrlichternden Freigeist, der hier und da an der überkommenen Dogmatik Abstriche machte und sie letztlich ganz und gar außer Gefecht zu setzen drohte, einschließlich ihres zentralen Inhalts, der heilsamen Erkenntnis Gottes 1 4 . Für einen Spizel ist es schlimm genug, wenn er sich die Ausbreitung des Atheismus so vergegenwärtigt, wie er sie versteht, und er kann es nicht fassen, „ q u a . . . ratione tot hominum myriades ubique Locorum hodie Atheismum indirecte profiteantur" 1 5 . Entsprechend ist die Nachricht Mersennes aufzunehmen, es gebe allein in Paris 50 000 Atheisten und in einem H a u s könne man manchmal ein ganzes 10

De tribus impostoribus, 1680, Widmung (nicht pag.; 4./5. S.); „hostes Ecclesiae domesticos" hat der Satan erweckt, „homines, inquam, in medio Christianorum coetu natos & educatos, in SS. Trinitatis nomine solemni ritu tinctos . . . , qui cum propagatores Christianismi esse deberent, ejus fiunt populatores; cum defensores, desertores & proditores. Sub specioso enim novae methodi praetextu, sub venusto libertatis philosophandi operimento, sub simulato Veritatis studio, nihil agunt aliud, quam ut religionem Christi evertant funditus . . . " . 11 1640—1707, Poeta laureatus; er bekleidete mehrere Ämter bei und in Altenburg (Rektor des Gymnasiums; zuletzt Stiftsprediger); vgl. Jödier II, Sp. 385 f. 12 Das Neu- Auffgerichtete Historische Bilderhausz..., Bd. 2, S. 16. Das „Bilderhaus" war eines der beliebtesten „Exempelbücher" seiner Zeit; ich zitiere aus der Auflage Altenburg 17024. 13 „Weil aber / . . . alle solche sündliche VerÜbungen aus dem schändlichen Brunn-Quell des verdammlichen Unglaubens herfür rauschen / wollen wir die erste Stelle denen jenigen einräumen / welche aus muthwilliger und vorsetzlicher Blindheit von GOTT nichts wissen / noch wissen wollen / und ihre Epicurische Meynungen theils durch ungescheuete Verneinung des Göttlichen Wesens / theils durch Verachtung der Lehre und Religion / theils durch Verspottung dessen / was von dem Jüngsten Gerichte / Unsterblichkeit der Seele / Hölle und ewiger Verdammniß geschrieben wird / und dergleichen gnugsam zu verstehen geben." А. а. O. S. 5. 14 Zur strengen Atheismus-Definition vgl. unten S. 92 ff. 15 Scrutinium Atheismi Historico-Aetiologicum, Augsburg 1663, S. 48 f. 38

Dutzend finden (1623!) 1β . Auch wenn man davon ausgeht, daß es sich hier in Wirklichkeit um Deisten handelt 17 , muß das eine maßlose und unhaltbare Ubertreibung sein 18 . Und selbst, wenn man in Redmung setzt, daß man damals, vor allem zu Beginn der Debatte, die „praktischen" Atheisten stark im Blickfeld hatte 19 , fragt man sich, ob die Schilderungen der Polemiker ein adäquates Bild der Lage vermittelt haben 20 . 16

Gn-Kommentar, 1623, Sp. 671. Sie muß wie eine Bombe eingeschlagen haben und findet sidi nahezu bei allen Autoren, die über dieses Problem gearbeitet haben — Calov, Großgebauer, Johann Müller, Sebastian Niemann, Spizel, Wagner, Weber, J. Thomasius, Elswidi, Budde u. a. —, und natürlich bei Voetius, durch den Mersennes Anliegen vielleicht der protestantischen Welt erst bekannt geworden war. Die Notiz von den 50 000 Atheisten steht im Rahmen eines Einsdiubs „Primae quaestionis adversus Atheos Colophon, in quo Athei expugnandi modus affertur" (Sp. 669—674), den Mersenne bei einem großen Teil der Exemplare seines Gn-Kommentars ersetzen ließ durch einen anderen: „Primae quaestionis adversus Atheos Colophon. Deistarum impietas, et errores aperiuntur, atque refelluntur; ubi de recta ratione, casu et fato." Vgl. R. Lenoble, Mersenne ou la Naissance du Mecanisme, Paris 1943, S. X I I I . Bis jetzt ist mir nur ein Exemplar mit dem letzteren Einschub zugänglich. 17 Spizel macht eine Andeutung in dieser Richtung; Scrutinium Atheismi, 1663, S. 28. Andererseits hat Mersenne weitgehend wirklich Atheisten, Leute, die Gottes Existenz bestreiten, vor Augen; er weiß auch bemerkenswert scharf zwischen Deisten und Atheisten zu unterscheiden, vgl. unten S. 90 f. 18 Daß Mersenne die Zahlen — und sehr hohe Zahlen — liebt, zeigt er auch an anderen Stellen seines Werks, siehe unten S. 222. Gelegentlich hat deswegen einer seiner Exzerptoren bei der Angabe der Atheistenziffer dezent eine 0 entfallen lassen. Oder sollte das nur ein Druckfehler sein? Vgl. Imm. Weber, Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 8. Christian Kortholt dagegen, wahrscheinlich angeregt durch Mersennes traurige Botschaft, schreibt unter Berufung auf Alexander Capellus, in Frankreich gebe es heute mehr Atheisten als zur Zeit des Heidentums! De tribus impostoribus, 1680 (Widmung, nicht pag., 10. S.). Die Klagen über die weite Verbreitung und die zahlenmäßige Stärke der Atheisten lassen sich fast beliebig vermehren. So schreibt der Jesuit Leonard Lessius, De Providentia Numinis, 16172, mit einer freilich noch unscharfen Atheismus-Definition, es gebe heute zwar viele Sekten, „sed nulla ex his vel hominum multitudine, vel locorum amplitudine, vel Regnorum ic Provinciarum diversitate numerosior, quam secta άθεότητος, hoc est, eorum, qui Numinis providentiam Sc animorum immortalitatem tollunt, vel certe de his ambigunt." (Widmung, nicht pag.; 1./2. S.) Selbstverständlich geht auch Voet davon aus, „quod virus hoc atheismi longe lateque diffusum sit; 8c quasi universale tum ratione locorum, nationum, statuum, temporum & c."; Select. Disp., Pars I, S. 138. Spizel ist darüber beunruhigt, daß „irruens ille tarn horrendi criminis cataclysmus Orbem pene universum inundare coepit", De Atheismo eradicando, 1669, S. 24. Vgl. auch Johann Barthold Niemeier, De Atheismi eversione, pars prior, 1689, th. VI (nicht pag.); Adam Rechenberg, Fundamenta verae religionis prudentum, Leipzig 1708, Vorrede; J. Thomasius, Historia Atheismi, (1713), S. 15 f. 19 Tobias Wagner fragt: „Annon haec speculativa DEI abnegatio tam in foro literario invaluit, quam practica invaluit in vita communi?" Examen, 1677, S. 72. 20 Glatt bestritten wird das von Caspar Neumann, Trutina religionum, Leipzig 1731, der allerdings in diesem Zusammenhang gegen Bayle nachzuweisen versucht, daß es keinesfalls ganze atheistische Nationen gegeben habe: „ . . . immo forte paucissimi, vel plane nulli sunt, qui serio, plena atque constant! mentis persuasione, Deum esse negare

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Die pietistische Kritik hat ja auch die Verhältnisse in der Kirche, die sie angriff, nicht „objektiv" dargestellt 21 . Doch es kommt nicht darauf an, ob die damalige Theologie die Gefahr überschätzt hat oder nicht 22 : Jedenfalls hat sie den Trend der Zeit, den „genius saeculi", erkannt, und es ehrt sie, wenn sie dazu in der Lage war, auch ohne sich auf objektive Tatbestände stützen zu können 23 . potuerunt, licet multi clanculum tales esse adfectent." Ebd. S. 16. Ähnlich äußert sich — in ähnlichem Zusammenhang — J o h a n n Albert Fabricius, Delectus, 1725, S. 299. Diese beiden Voten sind freilich erst ein J a h r h u n d e r t nach Mersenne abgegeben worden. Sollte der Atheismus mit der Zeit an Einfluß verloren haben, so d a ß die Trias „Gott, Tugend, Unsterblichkeit" in den Jahren der französischen Revolution wieder Gehör finden konnte? Veit Ludwig von Seckendorf, Christen-Staat, 1685, I. Buch, C a p . I, sieht einer großen Zahl von Glaubenden eine kleine Zahl von Ungläubigen gegenüberstehen: Diesen Eindruck d ü r f t e wohl der zeitgenössische Durchschnittsdirist u n d - p f a r r e r jedenfalls in Deutschland gehabt haben. Für Frankreich macht Mersenne selbst in seinem G n - K o m mentar (Widmung, nicht pag.) eine interessante A n d e u t u n g : E r könnte sich denken, d a ß die Atheisten bei Angabe ihrer Verbreitungsziffer selbst übertrieben haben, um wirkungsvoller zu erscheinen — falls sie nicht einfach die H ä r e t i k e r zu den Ihren zählen. 21 Vgl. die Ausfälle, die J o h a n n Georg Leuckfeld H u n d e r t e von Seiten lang gegen die Vertreter der orthodoxen Theologie und der offiziellen Kirche macht, im Rahmen eines Buches gegen den Atheismus: Der verführerische Atheisten Hauffe, F r a n k f u r t am Main, 1699! 22 Dilthey urteilt von seiner Kenntnis der „Gegenseite" aus: „Es gab seit dem Ende des 16. Jahrhunderts schon einen großen Kreis gelehrter u n d gebildeter Personen, welche ihr Denken und ihr Leben auf die Autonomie der Vernunft gründeten. U n d w ä h r e n d des 17. Jahrhunderts nahm die Zahl dieser Personen ständig zu." Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation ( = Gesammelte Schriften, II. Band), Leipzig und Berlin 1914, S. 283. 23 1663 erschien in Paris posthum eine Schrift des Kapuziners Zacharias Lisieux (gest. 1661) unter dem Pseudonym Petrus Firmianus mit dem Titel „Saeculi genius". (Weitere Auflagen: Paris 1685, D a n z i g 1686; vgl. Jöcher III, Sp. 2134). D a jedes J a h r hundert seinen eigenen Genius habe, sieht sich der Kapuziner veranlaßt, in Form eines philosophischen Gesprächs hier den Genius seiner Zeit zu beschreiben. Zusammenfassend charakterisiert er ihn durch die folgenden Elemente, die freilich von sehr verschiedenem Gewicht sind: „Consueti regiminis impatientia. N o v a e cujusdam theologiae periculosa sublimitas. Turbulenta eruditio. Gynomachia, sive mulierum cum Theologis conflictus. Virorum fortium nova species, quibus p r o virtute impietas. Veritas togata. Scribendi libido. Ambitiosae fortunae ars sacra. Pietas sine manibus. Inanes nobilitatis tituli. Paupertas empta. In gratiam libertatis detruncata libertas." Ebd. S. 27 f.

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2. Die Existenzbedrohung

des

Christentums

Es wurde den Theologen je länger je mehr deutlich, daß sie fortan mit einer Gruppe von Zeitgenossen zu rechnen hatten, die Kirche, Religion, Evangelium und alles, was damit zusammenhing, unter neuen Gesichtspunkten betrachteten: von „außen" und „von oben herab", bildlich gesprochen. „Klüger als Mose" kommen sich diese Leute v o r 2 4 und ihre Kritik macht vor nichts mehr halt 2 5 . Sicher entspricht es genau der Sicht der orthodoxen Theologen, wenn es in einem empfehlenden Lobgedicht zu Müllers „Atheismus devictus" heißt: „Was Gott? was Teuffei? Holl? was Aufferstehn? und Leben? Was Jüngst-Gericht? Mein Hertz muß nicht vor solches beben. Mein Interesse nur die wahre Regel ist / Der ich zu folgen hab; So spricht der Atheist." 2 8 Nicht nur Gott, auch Teufel, Engel, Unsterblichkeit, Wunder, — das gesamte metaphysische Weltbild steht auf dem Spiel. Alles, was nach Übernatürlichkeit, nach Transzendenz aussieht, wird in Frage gestellt 27 . Wohl war man versucht, auch die Vertreter dieses neuen Geistes als Sekte zu betrachten; denn bis dato hatte es ja keine anderen Abweichler gegeben als Leute, die eben irgendeiner Irrlehre zum Opfer gefallen waren. Für das Denksystem eines orthodoxen Theologen hatten die Atheisten daher lange ihren Ort in der Nähe der Sekte. Das zeigt sich daran, daß man sie in den Nachschlagewerken über Häresien und Häretiker mitbesprach 28 , manchmal freilich mit schlechtem Gewissen 29 . Eine enge Be„ . . . Mose acutiores", Mersenne, Gn-Kommentar, 1623, Sp. 715. „Quem limitem enim critica eorum acumina non movent?" Т. Wagner, Examen, 1677, S. 72; was Jahrhunderte lang festgestanden habe, daran werde jetzt gerüttelt! Johann Conrad Schwartz, Demonstrationes Dei, 1708, fürchtet, „ne in tanta seculi nostri temeritate & confusione nihil usquam denique foret, quod non violaretur & perverteretur . . ." (Vorrede, nicht pag.; 3. S.). 24

25

Von Michael Oppenbusch, einem damaligen Pastoratskollegen Müllers in Hamburg, der aus Amsterdam stammte, in Rostock und Straßburg studiert hatte und inzwischen Prediger bei der dänischen Gesandtschaft in London gewesen war (gest. 1686). Vgl. Jödier I I I , Sp. 1085. 26

Gabriel Prateolus, De vitis . . . (1581), Sp. 72 a, sucht verzweifelt nach einem Begriff, an dem deutlich werden könnte, daß die Atheisten schlimmer sind als Antichristen und Mohammedaner; so nennt er sie schließlich „diaboli cultores atque adoratores". Aber er weiß, daß auch diese Bezeichnung nicht zutrifft, da die Atheisten j a weder an den Teufel noch an die Hölle glauben! Prateolus (Preau) hatte ein Doktorat der Sorbonne inne, wurde Pfarrer in Peronne und starb dort 1588. Er widmete sich vor allem übersetzerischer und kompilatorischer Arbeit; vgl. Jöcher I I I , Sp. 1755. 2 8 Vgl. Prateolus, а. а. O. s. v. „Athei". 2 9 Paul Stockmann, Elucidarius haeresium, Leipzig 1697 2 , wo das Stichwort „Athei" einfach zwischen den Namen von alten und neuen Irrlehrern steht, schreibt entschuldigend: „Ubi notandum, quod Atheos non inter haereticos stricte sie dictos referamus, 27

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Ziehung zwischen Häresie und Atheismus sah man dadurch gegeben, daß diese als Vorstufe und geringeres Übel dem Atheismus den Weg bereitete 3 0 . So argumentierte vor allem die katholische Polemik 3 1 . Erst allquia fundamenta fidei evertunt; interim tarnen inter errantes, Sc quidem fundamentalster, merito c o l l o c e m u s . . . " ; S. 92. Umgekehrt ordnet Jenkin Thomasius seine Historia Atheismi (1713), S. 2, ganz bewußt in die Reihe der Häresie-Beschreibungen ein: Alle Häresien hätten ihre Historiographen gehabt; niemand werde es ihm also übelnehmen, wenn er „haereseos maxime omnium detestandae historiam" darstelle. Gemeinhin verstand man den Atheismus als eine Spielart der „theologia falsa", vgl. oben S. 23, Anm. 18, sowie die interessante Anordnung der Überschriften „Atheismus inchoatus" bzw. „consummatus" im Index Capitum et Quaestionum des Systema Calovs Bd. I, 1655, und die Zählung der Oberschriften im zugehörigen Text ebd. S. 122: Hier könnte sich ein Bestreben äußern, den Atheismus audi seinerseits wieder von der „religio falsa" zu unterscheiden. Vgl. außerdem Kilian Rudrauff, Protheoria theologica, Gießen 1677, der Heidentum, Häresie und Atheismus in folgendem Verhältnis sieht: Außerhalb der Kirche widersetzen sich der wahren Theologie Heidentum, Judentum und Mohammedanismus; innerhalb der Kirche Schismen und Häresien. „Extra & intra Ecclesiam verae Sc salvificae Theologiae opponitur Atheismus . . . " (De Theologia in genere, § 17, 18, 21); S. 7—11. Zum Verhältnis von Atheismus, Heidentum und Sdiwärmertum sagt Rudrauff (S. 13): „Omnem Theologiam, omnemque revelationem Sc divinationem negant Athei: Revelatam Pagani: Alligatam ad verbum externum Libertini, Enthusiastae, F a n a t i c i . . . " . Johann Andreas Quenstedt, Theologia didactico-polemica, Wittenberg 1691, sieht eigenartigerweise den Atheismus als eine Gefahr, die die Kirche von außen her bedroht, ebenso wie die „falsae religiones"; als Gefahr von innen entspricht ihm der Epikureismus: „Opposita religionis Christianae sunt partim extra Ecclesiam, partim intra Ecclesiam: Extra Ecclesiam, ut Atheismus, seu irreligiositas, Sc falsae religiones; intra Ecclesiam, ut Superstitio, Haereticismus, aliaeque erroneae Sc periculosae opiniones, itemque Epicureismus." Pars I, Cap. II, Sect. I, Th. V, Sp. 22 a. Rein phänomenologisch werden von ihm Atheismus und Epikureismus ganz ähnlich beschrieben als Lebenshaltung, die sich über die Religion hinwegsetzt und nicht mit dem Eingreifen einer Gottheit rechnet, was eben deren Verehrung überflüssig macht (vgl. die Notae I und V I I ebd. Sp. 22 a, 22 b). Bei David Hollaz, Examen theologicum, 1707, Proleg. II, Qu. 32, S. 83, erscheint der Atheismus als „irreligiositas" der „falsa religio" parallel geschaltet: „Verae Religioni opponitur tum falsa Religio, tum Atheismus sive Irreligiositas. Falsa Religio est, qua vel falsi coluntur Dii, vel verus Deus non vere colitur. Irreligiositas est, qua homines impii Religionem omnem despicatui ducunt, ut abnegata Providentia Dei Sc justitia vindicativa nihil non impune ac secure perpetrare frontem sumant." Nach Johann Georg Neumann, Theologia aphoristica, Wittenberg 1718 2 , Aphor. X L I I , S. 93, steht der Religion insgesamt der Atheismus gegenüber, der wahren Religion die Idolatrie, der christlichen Religion Idolatrie und Schisma. Alle diese Versuche verraten eine gewisse Unsicherheit in der Einordnung des Phänomens „Atheismus". 3 0 Vgl. Voetius, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 180, sowie Pars V, S. 50; an beiden Stellen läßt Voetius keine grundsätzliche Abhängigkeit des Atheismus von der Häresie gelten; es komme vielmehr darauf an, um was für eine Häresie es sich im Einzelfall handle. Jakob Friedrich Reimmann packte die Frage mehr vom Phänomen her an: Bei Atheisten und Häretikern entdeckte er die gleichen „proprietates" — „pertinacia", „dissimulatio", „ficta retractatio". Beide seien sie ungläubig, ihre „proprietates" könnten trotz anderweitiger Unterschiede übereinstimmen; auch der Atheist sei schließlich ein Getaufter, der nur eine der Schrift widersprechende Meinung vertrete; Historia universalis

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mählich lernte man, den Unterschied zwischen Sektierern und den Vertretern des neuen Geistes zu erfassen. N u n tauchten Leute auf, die die Kirche samt ihren Lehren und Irrlehren bekämpften, die die wahre Kirche mit allen Sekten und Häresien zugleich verwarfen. Wilhelm von Assonlevilla32 schreibt in seiner 1598 posthum erschienenen „Atheomastix", zu einer noch tief vom Konfessionalismus geprägten Zeit, in der der Atheismus erst als Lebenshaltung und als politisch opportuner Indifferentismus sich abzuzeichnen begann: Man müsse doch unterscheiden zwischen denjenigen Häresien, die nur das eine oder andere Lehrstück der Kirche angegriffen hätten, und jenen anderen vom Teufel eingeflüsterten Auffassungen, die jegliche Religion von Grund auf ablehnten und zu vernichten drohten 3 3 . Luther, der gewiß ein Feind der Kirche gewesen sei, habe sich doch nie gegen die alten Fundamente des Glaubens gewandt; selbst Calvin, auf den Assonlevilla noch schlechter zu sprechen ist, kommt dabei recht gut weg 34 . Erst ein reichliches halbes Jahrhundert später — und auch das ist noch beachtlich früh! — hatte ein evangelischer Theologe eine ähnliche Erkenntnis: Der junge Spener sagte, noch als Student, zu einem Kommilitonen, er „sorgte / wie in nicht langer zeit einem Studioso Theologiae möchte nicht mehr so nöthig werden / sich mit gleichem Fleiß in den controversiis zu üben / als vielmehr sich auf den kämpf gefast zu machen / welchen man mit den Atheisten zu thun haben werde / als welches das jenige teufels gifft zu seyn (ich) achte / welches vollends zuletzt dem f a ß den boden ausstossen muß" 3 5 . Der Atheismus ist f ü r den orthodoxen Theologen eine Angelegenheit, in der es um die Existenz des Christentums geht; denn es steht zu befürchten, daß er „totius Christianismi professionem cum omnibus articulis fidei ex hominum cordibus eximere possit" Es mag verwundern, daß im Zeitalter der als so selbstsicher verschrieenen Orthodoxie überhaupt jemand Atheismi, 1725, S. 19 f. Aber derartige Erörterungen entspringen nicht mehr einem vitalen Interesse. 31 32 Vgl. unten S. 97 ff. Vgl. oben S. 21, Anm. 7. 33 „ . . . liquido constat, nullas capitaliores magisque execrandas haereses ab inferis unquam emersisse, quam Politicorum stultas brutasque & nuper diabolica fraude excogitates opiniones. N a m cum superiores sectae, vel caput aliquod Christianae fidei impugnaverint, vel diversam a communi Ecclesiae consensu sententiam invexerint; haec posterior, omnem religionem radicitus extirpat, evertit, extinguit." Ebd. S. 123. 34 Ebd. S. 123 f. 35 Theologische Bedencken, Halle 1712 ff., III. Teil, Cap. VI, Art. I, Dist. III, Sect. X X I I X , S 451. 36 Wagner, Examen, 1677, S. 12. Die Beseitigung des Christentums ist das erklärte Ziel des Atheismus, das gehört neben dem Spott über Gottes Wort und der Beschränktheit auf die rein natürlichen Dinge zu seinen „notae"; ebd. S. 15 f. Vgl. August Pfeiffer, Christen-Schule, Leipzig Ί710, S. 31, der die Atheisten als diejenigen sieht, die den „ersten Grund-Stein aller Religionen wanckend machen wollen" — dieses vielleicht nicht ganz durchreflektierte Urteil ginge über die Sorge Wagners noch hinaus!

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auf den Gedanken kommen konnte, das Christentum könnte sich in „Lebensgefahr" befinden. Aber schon Mersenne referiert (1623) über eine anhand astronomischer Beobachtung gewonnene Voraussage, daß im J a h r 1661 zusammen mit einigen mächtigen Reichen die katholische Kirche ihr Ende finden werde . . . 3 7 . Manch ein frommer Zeitgenosse sieht jetzt in Erfüllung gehen, was die Schrift für die letzten Zeiten prophezeit hat. Theophil Großgebauer zitiert „drey Weissagungen über diese Spött e r " 3 8 : Durch ihr Verhalten werden diese Leute wider ihren Willen zu Zeugen für die Wahrheit der Bibel, die sie bestreiten. Großgebauer fragt: „was sinds denn für Gesellen / die die K r a f f i der Heiligen Schrifft verläugnen? Ungeistliche / die mehr Wollust lieben denn Gott / die so durch ein Breneysen verschröyete / verschrumpffene Gewissen haben / und haben aufgehöret Gottes Zurede zu fühlen. D a ß sind unsere Atheisten . . .*' 3 9 . Besonders die neutestamentlichen Anspielungen auf diejenigen, die über die Parusieverzögerung spotten, geben seiner Meinung nach ein anschauliches Bild für das Verhalten der „heutigen Atheisten" 4 0 , denen die Botschaft von Auferstehung und Gericht nicht viel sagt und die beteuern, „daß die Leute sterben / nach wie vor / . . . So sey es auch schlecht bestellet mit den Zeichen des Jüngsten Tags / davon alle J a h r von den Cantzeln herab gepredigt wird . . . " 4 1 . Johann Müller bezieht sich auf eine Prophezeiung Luthers, der gesagt habe, es könne eine Zeit kommen, in der das Evangelium nur durch die Hausväter erhalten werde: „Wofern die Teuffeley der Atheisten ferner überhand nimmet / dürffte diese Weissagung wol erfüllet werden . . . " 4 2 . Wenn schließlich selbst Gottes Existenz bestritten wird, liegt das nur in der Konsequenz des Ansatzes, und so ist es denn auch nicht zu leugnen, daß „unter denen mit dem Christlichen Nahmen übertünchten Heuchlern / es / zumahl in diesen letzten Zeiten / viel Spötter gebe / welche so gar in ihren Zweifel ziehen / daß ein Gott s e y " 4 3 . Aber auch das ist nach Auffassung der Polemiker in G n - K o m m e n t a r , 1623, Vorrede (nicht p a g . ; 5. S.). Aber Mersenne hatte noch keine K o m p l e x e ; er f ä h r t f o r t , die Atheisten sollten sich lieber auf den Jüngsten T a g einstellen statt auszurechnen, w a n n es mit der katholischen Kirche zu E n d e gehe. 3 8 Eigene Kapitelüberschrift im P r a e s e r v a t i f , 1661, S. 3 9 : 1. T i m . 4 , 1 f., 2. T i m . 3, 1 ff. und 2. Petr. 3, 3 ff. 4 0 E b d . S. 42. 4 1 E b d . S. 6 f. 4 2 Vorrede (nicht p a g . ) . »· E b d . S. 41. 4 3 A . P f e i f f e r , Christen-Schule, 1710, S. 29. P f e i f f e r zeichnet übrigens treffend das Bild der Atheisten, das in den damaligen Gemeinden geherrscht haben wird. L a u t Register — unter dem Stichwort „ A t h e i s t e n " — k a n n man in seiner Christen-Schule zu folgenden Punkten Auskunft b e k o m m e n : „Atheisten / w o derselben am meisten anzutreffen? . . . leugnen, d a ß ein G o t t sey . . . d a ß die Schrifft Gottes W o r t sey . . . halten von keiner Religion oder K i r c h e n . . . halten die Aufferstehung Christi f ü r ein Gedicht . . . glauben keine T e u f f e i . . . noch H ö l l e . . . leugnen die Unsterbligkeit der menschlichen Seelen . . . die Aufferstehung der T o d t e n . . . das J ü n g s t e G e r i c h t . . . der Welt E n d e und U n t e r g a n g . . . wie sie deßwegen einzutreiben und zur E r k ä n t n i ß zu bringen...". 37

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d e r Schrift bereits v o r a u s g e s e h e n ; j e t z t sei m a n in die Z e i t e n g e k o m m e n , d a d e r „insipiens" s a g t : „Non

est

t o n k l i n g t in solchen S t i m m e n

De us"44.

Ein apokalyptischer

a u f ; a b e r es schwingt m e h r

Unter-

Drohung

u n d V e r b i t t e r u n g in i h m als Ü b e r z e u g u n g . „ T e n d i t sensim m u n d u s a d t e r m i n u m , & q u o longius p r o c e d i t , eo fit s c e l e r a t i o r . . s c h r e i b t

der

Jesuit

den

Leonhard

LessiusiS.

Der

Lutheraner

Tobias

Wagner

sieht

A n t i c h r i s t h e r a u f k o m m e n 4 6 , a u d i er bezieht sich a u f eine angebliche P r o p h e z e i u n g L u t h e r s : 4 7 N i c h t m e h r d e r P a p s t ist j e t z t d e r A n t i c h r i s t , s o n dern der Atheismus48. I m G r u n d e f r e u t sich jedoch n i e m a n d d a r ü b e r , d a ß g e r a d e j e t z t die l e t z ten Z e i t e n beginnen sollen; n i e m a n d ist begeistert v o n d e r Aussicht, d a ß das R e i c h G o t t e s n u n nicht m e h r l a n g e a u f sich w a r t e n lassen w i r d . D i e G e n e r a t i o n n a c h M ü l l e r u n d G r o ß g e b a u e r , d e r die E s c h a t o l o g i e noch f r e m d e r g e w o r d e n ist, e r k e n n t z w a r i m m e r noch die geistige u n d

religiöse

S i t u a t i o n als gegenüber f r ü h e r e n J a h r h u n d e r t e n s t a r k v e r ä n d e r t , schildert das a b e r m i t d e r W e h m u t des E r i n n e r u n g s - O p t i m i s m u s : F r ü h e r e , glückSo Spizel, De Atheismo eradicando, 1669, S. 5. De Providentia Numinis, 1617 2 , Widmung (nicht pag.; 3. S.): Am Anfang der Welt stehe die πολυθεία, an ihrem Ende άθεία. 46 Examen, 1677, S. 71. 47 Nach seinem Tod habe man sie in seinem Studierzimmer gefunden! Spizel kennt sogar den Wortlaut; feierlich teilt er mit: „Memorabile sane ipsius B. Lutheri extat vaticinium, post beatam ejus analysin in Museo repertum, quod tale: Adest Tempus olim praedictum, quod post Antichristum revelatum essent homines futuri, qui sine Deo viverent, unusquisque secundum suas concupiscentias & illusiones. Nam Papa quidem fuit supra Deum, nunc sine Deo omnes agere volunt, & cum a Legibus Papae liberi sunt, volunt etiam a Lege Dei liberi esse, nil nisi Politica sequi." De Atheismi radice, 1666, S. 33. In den Tischreden äußert Luther gelegentlich tatsächlich die Meinung, der Epikureismus werde die Herrschaft des Antichrist noch überbieten: „Nachdem der Widerchrist offenbart ist, wird die Welt thun, was sie will, und gar in ein epicurisch Wesen und Leben gerathen, nidit glauben, daß ein Gott sey. Alsdenn wird der jüngste Tag nicht fern seyn." WA T R 6, Nr. 6987 (nicht datierbar). Der totale Unglaube stand offenbar schon spätmittelalterlichen Theologen als äußerste apokalyptische Möglichkeit vor Augen. Luther gesteht in einer Tischrede, folgende Prophezeiung des Nikolaus von Lyra bewege ihn sehr: „Detecta Antichristi malitia mundus in tantam degenerabit licentiam, ut non sentiat esse Deum." WA T R 5, Nr. 6066 (nicht datierbar). 44

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Bei solchen Hinweisen auf „Prophezeiungen" spielt offenbar auch das Bedürfnis mit, ein nie dagewesenes und schlecht zu erklärendes Phänomen als längst geplant und vorhergesehen in den Weltlauf einzuordnen: Johann Barthold Niemeier bietet selbst Aristoteles auf, der in der Erwartung, daß die Liebe zur Tugend abnehmen werde, dazu aufgefordert habe, sich so weit wie möglich von demjenigen Laster entfernt zu halten, das ihr am meisten widerspreche — das gelte zweifellos im Hinblick auf Gotteserkenntnis und Gottesdienst! De Atheismi eversione, pars prior, 1689, § I, II, V. J . Thomasius dagegen fragt sich, ob nicht Mose bereits seinen Schöpfungsbericht „per prolepsin" im Hinblick auf die Atheisten formuliert haben könnte! Historia Atheismi (1713), S. 71 f. 48

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lichere Zeiten hätten vom Atheismus nichts gewußt, unter den Barbaren habe es gar keine und unter den griechischen Philosophen der Antike nur wenige Atheisten gegeben. Wie weit sei man heute davon entfernt 4 9 ! 3. Die „tristis

experientia"

Oft berufen sich die Theologen, wenn sie über den Atheismus und seine Greuel berichten, auf die „tristis experientia". Manche von ihnen geben auch an, wie sie zu dieser Erfahrung gekommen sind: durch persönliche Begegnung, durch die Kunde von geheimnisumwitterten atheistischen Büchern und durch allerlei Anekdoten, die man sich über einzelne verwegene Atheisten erzählte. Nur einige der Autoren behaupten, persönlich mit Atheisten diskutiert zu haben. Johann Müller meint grimmig: „Ich bin vor dieser Zeit in Gesellschafft etlicher Leute gewesen / welche viel Gottlose erschreckliche Reden g e f ü h r e t . . ." 50 . Franciscus Cuperus, ein niederländischer Sozinianer 51 , teilt, offenbar ohne dabei etwas Besonderes zu finden, mit, er habe von Kind auf Gelegenheit gehabt, mit Atheisten umzugehen, und er kenne ihre Argumente genau 52 . „Wer Italien, Franckreich, Spanien durchreiset hat, oder mit solchen Leuten familiar oder bekant worden, der weiß hiervon zu urtheilen", schreibt Spener53. Die Diskussion mit Freigeistern scheint freilich mit der Zeit häufiger zu werden; man konnte in sie 49

„Quantum nostra tempora a felicitate primorum seculorum hoc in puncto distent, tristissima proh dolor! loquitur experientia: Etenim non jam unus vel alter in Ecclesia reperitur Atheus, sed Atheorum omnia sunt plena, tantaque horum carcinomatum est frequentia, ut numerus illorum ulterius iniri nequeat, totusque orbis Christianus ingemiscat, se tarn cito factum esse Atheum." Johann Ulrich Frommann, Atheus stultus, 1713, S. 12f. (unter Bezugnahme auf Stillingfleet, Origines sacrae, London 1666 s , Lib. III, Cap. I). Diese Sicht mußte katholischen Betrachtern von Anfang an nahegelegen haben. Früher, erinnert sich Wilhelm von Assonlevilla in seiner Atheomastix, 1598, S. 14, konnte man die Kirche für das Paradies halten, entsprechend jenem Wort des Paulus Phil. 3, 20: Conversatio nostra in caelis est. N u n aber habe sich der Teufel zusätzlich zu all den Verfolgungen und Häresien noch etwas Neues ausged a c h t . . . ; S. 15. 50 Atheismus devictus, 1672, Vorrede. Ein paar Seiten später: „Atheistische Discursen habe ich von vielen anhören müssen . . . " . 51 Jöcher I, Sp. 2253 f. berichtet, ohne genauere Lebensdaten zu kennen, daß seine Schriften „sehr seichte sind, und nicht groß ästimiret werden". 52 Das hat ihm bei seinen Kollegen ein sehr schlechtes Echo eingebracht; von einigen wird er kurzerhand selbst als Atheist bezeichnet, vgl. unten S. 198, Anm. 175. Er führt ihre Argumente so schlüssig und ohne polemische Verzerrung vor, daß man nidit glauben konnte, er habe es mit deren Widerlegung ernst gemeint; vgl. Morhof, Polyhistor, Tomus III, Lib. V, § 9, S. 49 (1708): „Autor ille non adeo sincerus mihi visus e s t . . . , leviter tractare rem saepe videtur, & causae bonitatem prodere." 53 Theologische Bedencken, 1712 ff., III. Teil, Cap. IV, Art. I, Dist. II, Sect. X X V I I I , S. 228. Damit will er allerdings nachweisen, daß gerade in den katholischen Ländern viele Atheisten anzutreffen sind.

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ebenso rasch hineingezogen werden wie in ein Glaubensgespräch mit Katholiken 54 . Veit Ludwig von Seckendorf erzählt in der Vorrede seines Christenstaats 55 über Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz, bei dem er in Diensten war, dieser habe sich solche Dinge sehr betrübt angehört, aber nicht recht gewußt, wie er darauf reagieren sollte; deswegen habe man solche Gespräche oft einfach abgebrochen; denn die Freigeister würden sehr zurückhaltend, sobald sie merkten, daß ihre Anschauungen bei ihrem Gegenüber kein Echo finden. Das Schweigen des Fürsten sei aber dann wirkungsvoller gewesen als bei anderen viele Worte 5 8 . Manchmal mag sich solch eine Diskussion auch in der Studierstube eines Pfarrers abgespielt haben. Christian Scriver weiß in seinem Seelen-Schatz davon zu berichten, daß ein Atheist einem Geistlichen gegenüber in Tränen ausgebrochen sei — ein Mensch, der Gottesdienst und Abendmahl fleißig besucht und auch seine Familie dazu angehalten hatte, aber nicht glauben konnte 57 . Ähnliches berichtet Spener: Ein Mann habe ihm seinen Atheismus eingestanden, aber ihm zugleich versichert, daß diejenigen glücklicher lebten, die noch die Illusion der Existenz Gottes hegen konnten, und daß er deswegen seiner Frau und seinen Kindern kein Wort von seiner Einstellung verraten werde 58 ! Ein authentisches Zeugnis für die inneren Belastungen eines Mannes, der Gott als Gegenüber verliert — und wiederfindet — besitzen wir in einem Abschnitt der Selbstbiographie des Franz Junius™. Bei der Schilderung seiner Studienjahre schreibt er, ein großes Übel habe ihn damals befallen: „Dieses Übel war die Gottesleugnung, das schwerste Übel überhaupt, das 5 4 N u r derjenige werde an der Notwendigkeit seines Buches zweifeln, schreibt J o h a n n Melchior, Christlicher Glaubens-Grund, Frankfurt 1671, in der Vorrede, „der niemals (soll ich sagen das Glück / oder) das Unglück gehabt / entweder selbsten in zweiffelmüthige Anfechtung zugerathen / oder mit der gleichen umzugehen; der auch nie keinen offenbahren oder heimlichen Verächter des Worts vorgehabt / noch von niemand aus der Römischen Kirche zur Rechenschafft seines Glaubens über dem W o r t Gottes . . . gefodert worden." S. 4 f. 5 5 Leipzig 1685, Vorrede (nicht pag.). 6 8 Dagegen habe Herzog Moritz ihm, Seckendorf, gegenüber „in vertraulichen discursen" über das Überhandnehmen des Atheismus geklagt; ebd. 5 7 Teil I V , 12. Pedigt, § 78, S. 427 (1701). Man weiß natürlich nie, inwieweit solche Berichte — vielleicht unbewußt — aus apologetisdien Gründen gefärbt wurden. Jedenfalls muß man sich audi die innere Last vergegenwärtigen, die für manche dieser frühen Atheisten das neue Weltbild mit sich brachte, das sie aus dem Glauben ihrer Väter riß. 5 8 Geminum de Athei conversione judicium, Halle 1703, S. 22 (lateinische Übersetzung der Sektionen X I , X I I i n : Theologische Bedencken, I. Teil, Cap. I, durch Joachim Lange). 5 9 Obersetzt von G. A. Benrath i n : Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der evang. Landeskirche in Baden, Bd. X X I I , Karlsruhe 1962, S. 3 7 — 7 0 . Junius ( 1 5 4 5 — 1 6 0 2 ) , aus Flandern geflohen, wirkte in mehreren pfälzischen Gemeinden als Pfarrer und wurde 1582 zum Professor der Theologie an das Casimirianum in Neustadt, Γ584 an die Universität Heidelberg und 1602 nach Leiden berufen; vgl. Benrath S. 37 sowie die in den Anmerkungen angegebene Literatur.

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ich, durch fremden Fürwitz und Mangel an eigener Erkenntnis verführt, allmählich bejaht und guthieß" 4 0 . Er stellt dar, wie er immer stärker in den Bann eines ihm bekannten Mannes geriet, der sich über die christliche Gottesvorstellung erhaben glaubte. „Mit jener grauenhaften Gottlosigkeit war täglich der Tisch gedeckt, sie schallte durch das Haus und klang durch alles, was mir zu Ohren kam, so daß ich bald für alles übrige taub wurde . . β 1 . Dankbar fügte der alte Pfarrer und Theologe in seinen Lebensbericht ein: „Du aber, mein Herr und Gott, hast dich deines Knechtes erinnert und ihn, der durch sein elendes Tun verlorenging, durch deine gnadenreiche Erbarmung gerettet." 62 Weithin wird die Klage über den „genius saeculi" von den Polemikern nur unangemessen artikuliert; sie empfinden das Neue als etwas in der Christenheit Unerhörtes, als etwas das Christentum schlechthin Bedrohendes, und sie beginnen, mit den Vertretern des neuen Geistes ihre ersten Erfahrungen zu machen. Aber sie sind ζ. T. nicht in der Lage, sich von ihrem Gegner ein klares Bild zu verschaffen; sie vermögen ihn nicht einzuordnen in das bisher Dagewesene. Deswegen wird die Anekdote zum Mittel, das Neue wenigstens von seiner äußeren Erscheinungsweise her zu beschreiben und zu erfassen. b) Die Sprache der 1. Anekdotisches

Anekdoten

über atheistische Versammlungen

und Bücher

D a ß es Atheisten gibt, „solches lehret die Erfahrung und die alten nebst den neuern Geschichten geben uns desfals auch gewisse Versicherung", bemerkt Walch in seiner „Einleitung in die Religions-Streitigkeiten... außer der Evangelisch-Lutherischen Kirche" 63 . Diese „Geschichten" haben das Bild der Atheisten in den Augen ihrer Gegner anfangs wohl stärker geprägt als die persönliche Begegnung. Es lief eine Unzahl von Geschichten über sie um, wahre Schauergeschichten über ihr schmähliches Leben und ihr schmachvolles Sterben. Man erzählt sich von den geheimnisvollen atheistischen Zusammenkünften in Paris: „Ja es ist dahin gerathen in der Welt / daß man mitten in der Christenheit / Schulen und Versammlungen der Atheisten hat / wie denn eine solche / als sie zu Pariß befunden worden / ein gelehrter Mann beschrieben . . ." 6 4 . In einem kleinen Gemach wird da ein unscheinbares Licht angezündet, das kaum heller ist als der Mond, so daß keiner der Teilnehmer den anderen richtig erkennen kann; 60

61 62 Ebd. S. 47. Ebd. S. 47 f. Ebd. S. 48. «3 Bd. I, Cap. VII, § 2, S. 672; 1733. 64 Chr. Scriver, Seelen-Schatz (1701), Teil IV, 5. Predigt, § 22; Bd. 2, S. 114 f. Scriver beruft sich dazu auf Petrus Firmianus, Saeculi genius, 1663, S. 182 f. Auch Spizel versäumt nicht, auf diese Versammlungen hinzuweisen: De Atheismo eradicando, 1669, S. 18.

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für Stühle und Sitze ist gesorgt. Ein Mann erhebt sich und beginnt verächtlich von der Unsterblichkeit der Seele und von der göttlichen Vorsehung zu reden, und gottlos vom E r l ö s e r . . . Der Graf von Rochester gesteht, von Gewissensqualen geschüttelt, am Ende seines Lebens: „eins Tages bey einer Atheistischen Versammlung / bey einer sehr fürnehmen Person / da unterstund ich mich diese Sache zu verfechten / und war der fürnehmste Disputant wieder Gott und die Gottseligkeit / und ward durch solche meine Verachtung von der gantzen Gesellschaft gerühmet; Worauf mein Gemühte erschrecklich gerühret w u r d e . . e \ Jeglichen Kontakt zu „Atheisten" oder „atheistischer" Literatur empfindet man als unheimlich. Ein treffendes Beispiel dafür ist die Affäre um Matthias Knutzen, der 1674 in Jena einige Schriften unter reichlich abenteuerlichen Umständen verbreitet hatte 66 und der dann kurzfristig in Altdorf auftauchte. Pfarrer Georg Wilhelm Böhmer von Rasch bei Altdorf schildert die Begegnung des Schulmeisters Stephan Größel und eines Altdorfer Bürgers mit Knutzen wie die Begegnung mit dem Mephisto: Es sei „auf der nahe bey dem untern Thor zu Altdorff gelegenen Wiesen / da man auf Neumarck zugehet / ihnen einer wie ein Studiosus anzusehen / braun gekleidet / entgegen kommen / und hat Sie beede gefraget / welcher unter ihnen lesen könte / als nun der Schulmeister solches von sich bezeuget / gab ihme selbiger anfänglich ein Teutsches / und balden darauf auch ein Lateinisches scriptum, ihn zugleich ermahnend / daß Er jenes für sich selbst lesen / dieses aber einem Studenten in Altdorff zustellen solte / es würde ein gelächter darüber geben. Worauf er nach dem Weg auf Neumarck gefraget / und sehr hurtig und geschwind denselben fortgeeil e t . . ," 67 . Geheimnisumwittert wie Zauberbücher sind die atheistischen Bücher, von denen man munkelt, vor allem das Buch „De tribus impostoribus". Mose, Jesus und Mohammed haben die Welt betrogen — so lautet ein Satz, der im Europa des 13. Jahrhunderts auftaucht, und den man sich bald nur in einem vollständigen Buch ausgeführt denken konnte 68 . Johann Müller bemerkt, ein vornehmer Mann habe es ihm leihen wollen, worauf er 65

Robert Parson, Der bekehrte Atheist, Hamburg 1707, S. 55. Vgl. unten S. 105 f., 141. 67 Musäus referiert diesen Bericht in seiner „Ableinung...", Jena 1674, S. 8 f. Vgl. meinen Beitrag: Der Atheist Matthias Knutzen streift Altdorf, in: ZBKG 39, 1970, Η. I, S. 127 ff. 88 Louis Massignon, La Legende De Tribus Impostoribus et ses origines islamiques, in: Revue de l'Histoire des Religions 82, Paris 1920, glaubt, diesen Satz erstmals in der mohammedanischen Literatur des 10. Jahrhunderts nachweisen zu können. Nach E. Presser, Das Buch „De tribus impostoribus", Amsterdam 1926, S. 5, wäre er über die Kreuzfahrer nach Europa gelangt, nachdem auch erst durch das Erlebnis nichtchristlicher Religionen auf den Kreuzzügen der Boden für sein Verständnis bereitet worden wäre. 60

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aber entrüstet g e a n t w o r t e t habe, er h a b e es nie gesehen, u n d es interessiere i h n auch nicht! V o n e i n e m a n d e r e n S p ö t t e r w i s s e er e b e n f a l l s , d a ß er es in seiner B i b l i o t h e k g e h a b t h a b e ; nach dessen T o d aber h ä t t e n es seine A n g e h ö r i g e n v e r b r a n n t 6 9 . G r o ß w a r das R ä t s e l r a t e n u m d e n V e r f a s s e r 7 0 . E . Presser h a t e t w a 5 0 N a m e n v o n M ä n n e r n g e f u n d e n , die m a n als A u t o r e n dieser Schrift b e z e i c h n e t hat, „in der T a t eine , S y n a g o g a L i b e r t i n o r u m " ' 7 1 . Schon u m d i e W e n d e v o m 17. z u m 18. J a h r h u n d e r t k a m d i e T h e s e a u f , das Buch h a b e gar n i e e x i s t i e r t 7 2 . T r o t z d e m sind u m diese Z e i t eine g a n z e R e i h e v o n A r b e i t e n erschienen, d i e sich a n seinen T i t e l a n l e h n e n 7 3 . C h r i s t i a n Kortholt schreibt in der V o r r e d e seines eigen e n „ D e tribus i m p o s t o r i b u s m a g n i s ü b e r " : O b es dieses Buch g e g e b e n h a b e o d e r nicht, sei unerheblich — j e d e n f a l l s g e b e es Leute, d i e dessen Thesen teilen74! 69

Atheismus devictus, 1672, S. 19. Müller läßt es allgemein in Italien entstanden sein (ebd.). Seine entstehungsgeschichtlichen Probleme werden verhandelt u. a. bei Tobias Wagner, Examen, 1677, S. 8 f; Immanuel Weber, Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 39 if. Weber stellt die verschiedenen Meinungen nebeneinander: Mersenne hält Aretino, Campanella oder Jac. Poggio für den Autor; Rossetus: Vanini; Dannhauer mit Lipsius: Friedrich II.; Thomas Browne: Occhino usw.; Weber berichtet audi über die Schwierigkeit, ein Exemplar dieses Buches aufzutreiben, und fragt: Wer weiß, ob es dieses Buch in Wirklichkeit je gegeben hat? Ebd. S. 43 f. Freilich, Johann Müller habe es gesehen; nach einem anderen Gewährsmann habe man es in Frankreich kaufen können, nach Morhof, Polyhistor, Liber I, Cap. VIII, wäre es sogar ins Deutsche übersetzt worden. 71 A . a . O . S. 23; „wenn auch nicht in dem Sinne, den dieser Ausdruck im Neuen Testamente besitzt," sichert sich Presser ab. 72 Burchard Gotthelf Struve, D i s s . . . . de doctis Impostoribus, Jena 1703, gibt eine lange Liste von Leuten, die das Buch geschrieben (§ 8) oder das Apophthegma geprägt haben sollen ( § 1 2 ff.), und behauptet, erst auf die Nachricht von der Existenz dieses Buches hin sei auch wirklich eines geschrieben worden (§ 11). Denn tatsächlich existiert ein Buch „De tribus impostoribus", datiert 1598 (hg. von Emil Weller, Heilbronn 1876 2 ; abgedruckt auch bei Presser, S. 136 ff.; über die literarkritischen Probleme vgl. ebd. S. 118 ff.). Presser versucht nachzuweisen, daß es erst 1753 erstmals gedruckt (und zurückdatiert) wurde und daß sein Text von Joh. Joachim Müller, einem Enkel von Johann Müller, zwischen 1685 und 1695 verfaßt worden sei; a . a . O . S. 115 ff. An dieser These gefällt Presser besonders, „dasz der Enkel jenes Atheistenfressers das Buch schreiben sollte, das der Groszvater schon samt seinem Autor verdammt hatte" (S. 115). Ob sie auf einer wirklich zuverlässigen Quelle basiert (S. 114), ob ihre Voraussetzung, nämlich die Identifizierung von „De imposturis religionum" mit „De tribus impostoribus" (S. 118 ff.), stichhaltig ist, und ob sie nicht durch Struve, а. а. O., § 11, wo auf eine Mehrzahl von Verfassern hingewiesen wird, in Frage gestellt wird, soll hier undiskutiert bleiben. In jedem Fall stellt Pressers Versuch ein beachtenswertes Stück engagierter Detailforschung dar. 73 Presser, а. а. O. S. 92 ff. 74 1680; S. 2. Er meint dabei seine Gegner Herbert, Hobbes und Spinoza, die „id agunt unice, ut omni Religioni tollendae viam p a r e n t . . .", S. 3. 70

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Auch andere Bücher sind gelegentlich in diesen Geruch gottloser Geheimniskrämerei geraten75. Mit ihnen umzugehen, ist gefährlich und unschicklich, weil unter Umständen „so gar obscoene Sachen darinne begriffen / die man züchtigen Ohren in öffentlichen discoursen nicht gerne vortrüge . . ." 76 . Johann Müller gibt in der Vorrede seines „Atheismus devictus" eine respektable Liste atheistischer Literatur. Neben dem „Leviathan" von Hobbes77 und Spinozas damals noch anonym umlaufenden „Tractatus Theologico-Politicus" 78 sind die bekanntesten und audi sonst am meisten zitierten Werke J. C. Vaninis „Amphitheatrum aeternae providentiae" 79 und Thomas Campanellas „Atheismus triumphatus"80. Dazu kommt ein Buch von Gottfried a Valle mit dem provokatorischen Titel: „De arte nihil credendi" 81 und viele anonyme Schriften. Aber nur selten wird aus all diesem Material zitiert; es scheint mehr durch die Kunde, die man darüber verbreitet hat, gewirkt zu haben als dadurch, daß es wirklich gelesen wurde 82 . Zu Beginn der Diskussion jedenfalls sind direkte Bezugnahmen und Auseinandersetzungen von theologischer Seite relativ spärlich. 2. Anekdotisches über das Auftreten der

Atheisten

Man bekämpft zunächst nicht einzelne Atheisten, sondern „den Atheismus". Aber an den Geschichten, die man sich von einzelnen Atheisten 75 Vgl. Adam Tribbechow, Veritas creatlonis mundi, 1668, S. 3 f.; er berichtet — wiederum von einem weiteren Gewährsmann —, dieser habe ein Buch gesehen, das wegen des Druckverbots mit der H a n d geschrieben war und in dem behauptet wurde, schon vor Adam habe es Menschen gegeben, Henoch, Melchisedek und Elia seien Zauberer gewesen u. a. mehr — „ . . . Et talia quidem monstra seculum nostrum t u l i t . . . " , S. 4. 76 So in dem fingierten Gespräch in Imm. Webers Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 135. Bibliander erbietet sich jedoch, die Schriften, um die es geht, seinem Freund Theophil „privatim nacher (nach) Hause zu communiciren". 77 Amsterdam 1664. 78 Amsterdam (Hamburg) 1670. 79 Lyon 1615. 80 Paris 1636. Bezeichnenderweise nennt Müller auch drei Neuausgaben antiker Schriftsteller: Lucrez, de rerum natura, Frankfurt 1583; Lucian, Opera, Paris 1615; sowie eine Porphyrius-Ausgabe Augsburg 1605. Ebd. 81 Paris 1572. 82 Theophil Spizel beispielsweise schildert, wie er durch eine Epistula nuncupatoria von Joh. Seb. Mitternacht, die einigen historischen Dissertationen vorangesetzt war, von der Existenz eines 1652 ohne Verfasser- und Ortsangabe erschienenen Buches erfuhr, in dem gefordert wurde, die Bibel müsse wie Livius oder der „Froschmäuseier" eklektizistisch gelesen werden, und wie ihn das zutiefst erschüttert habe: „ . . . totus profecto exhorrui, gelidusque coibat formidine sanguis, cum infrunitam hanc pessimorum istorum Theomachorum audaciam imo insaniam primum percepissem." De Atheismo eradicando, 1669, S. 6.

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erzählte, von ihrem Auftreten und von ihren Aussprüchen, machte man sich klar, worum es ging. Atheisten sind in diesem Zusammenhang nicht primär wahnwitzige Philosophen, die in unbegreiflicher Verstiegenheit Gott die Existenz zu bestreiten wagen, sondern durchaus Leute aus dem Volk, der Mann, der zu seinen Tischgenossen sagt: „Discutamus quasi non sit Deus" 83 , jene Leute in Polen, die aus einem bestimmten Anlaß bereit gewesen waren zu beschwören, daß es keinen Gott gibt 84 , oder jener Sterbende, der sagt, er gehe jetzt hin, sich die drei Fragen lösen zu lassen, an denen er sein ganzes Leben herumgezweifelt habe: Ob Gott existiere, ob die Seele unsterblich sei und ob es Himmel und Hölle gebe 85 . In diese Sparte werden diejenigen eingeordnet, die sich leichtfertig über Gottes Wort hinwegsetzen oder es verächtlich machen. Johann Müller berichtet von einer Bibelleserin, zu der einer dieser hochmütigen Burschen gesagt habe, sie solle lieber Reineke Fuchs lesen, und von einem weiteren „Atheisten", der ausgerechnet während der Predigt zum Ärger seines Pfarrers immer den „Alkoran" studiert habe 86 ! Freilich sind es in besonderem Maße die „großen Hansen" 8 7 , die Politiker 88 und „Statisten" 89 , die sich zu atheistischen Meinungen hinreißen lassen. Johann Müller berichtet von einem Gespräch mit einem vornehmen Franzosen, in dessen Verlauf er sich erkundigt habe, von welcher „religio" Richelieu und die Kardinäle in Frankreich seien. Die Antwort habe gelautet: „plane nullius". Auf die weitere Frage, wer sich denn dann Johann Müller, Atheismus devictus, 1672, S. 7 £. J a k o b Daniel Ernst, Bilderhausz, 1702 4 , Bd. I I , S. 5 f . ; sie hielten es dann doch für klüger, das nicht zu tun. 8 5 H . Schmettau, Vorrede von dem Atheismo ( 1 6 8 5 ; nicht pag.). 8 6 Atheismus devictus, 1672, S. 32 f. Solche Dinge werden oft berichtet; so habe ζ. B. Kardinal Bembo Sadolet gegenüber geäußert: Für einen Mann wie ihn schicke es sich nicht, sich mit Albernheiten wie der Bibel abzugeben! Angelo Poliziano habe behauptet, audi er habe einmal die Bibel durchgelesen — „ & tempus nunquam pejus locavi". Lazarus Bonamicus habe ohne weiteres Pindars Oden den Psalmen vorgezogen. Vgl. J . Thomasius, Historia Atheismi (1713), S. 34. Entsprechend wirft man den zeitgenössischen Atheisten vor, sie läsen Hobbes und Spinoza lieber als die Apostel und Propheten, weil dort nichts über Gottes Zorn und die Hölle geschrieben stehe! Chr. Scriver, Seelen-Schatz (1701), Teil I V , 12. Predigt, § 69, Bd. 2, S. 421. 83

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Ernst, Bilderhausz, 1702 4 , Bd. I I , S. 17 f. D i e Begriffe „Politici" und „Athei" werden in mandieir-Gegenschriften zu Beginn der Diskussion geradezu synonym gebraucht; vgl. die Titelformulierungen bei Wilhelm von Assonlevilla: „ . . . a d v e r s u s religionis hostes universos (politicos maxime) . . . " , 1598, oder L.Lessius: „ . . . a d v e r s u s Atheos & Politicos", 1617 2 (der im Gegensatz zu Assonlevilla auf die Politiker kaum mehr zu sprechen kommt). Diesen Sprachgebrauch hat man schon im Lauf der Diskussion bemerkt; so weist ζ. B. Spizel, De Atheismi radice, 1666, S. 30, darauf hin, daß Bernadin Vetweis (siehe Literaturverzeichnis) „voces Athei & Politici pro synonymis habuerit". 87

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Das Anliegen des Johann Lassenius, Arcana Politico-Atheistica, о. O . 1686.

in Frankreich der Religion annehme, habe sein Gesprächspartner geantwortet: „plebs" 9 0 . Es liefen unzählige Anekdoten über freisinnige Italiener um, ja selbst über dem Atheismus nahestehende Kardinäle und Päpste 9 1 . Hier gehen noch eine kleine Weile lang traditionelle konfessionelle Polemik und die Bekämpfung des neuen Geistes H a n d in Hand, und zwar, wie sich zeigen wird, auf beiden Seiten 9 2 . Schon seit Melanchthons Zeiten stehe die Religiosität der Italiener in schlechtem Ruf, so kolportiert man, denn bereits dieser habe gesagt: „Vos Itali vultis disputare, Deum seu Christum esse in Eucharistia, quem non creditis esse in coelo" 9 3 . Eine Zielscheibe für Atheismusbeschuldigungen war häufig der italienische Kardinal Pietro B e m b o ( 1 4 7 0 — 1 5 4 7 ) 9 4 , der sich angeblich über Melanchthon lustig gemacht hatte, weil dieser noch an die Auferstehung glaubte 9 5 . Vielen Renaissance-Päpsten sagte man irgendeine solche Anekdote nach; so habe Julius II. sein Gebetbuch im Zorn in den Kamin geworfen mit der Bemerkung, nun solle der Teufel beten 9 8 ; Leo X . habe die Meinung geäußert, die Uberzeugung, daß es Gott gebe, sei zwar die wahrere, aber die umgekehrte Überzeugung mache „ein frölicher Gesichte" 9 7 . Paul III. schließlich habe an der Unsterblichkeit gezweifelt 9 8 . Obwohl die wackeren Polemiker des 17. Jahrhunderts ihre Eindrücke mit recht zweifelhaften Beispielen belegten, erkannten sie doch beinahe intuitiv, was die Atheismus devictus, 1672, S. 27. Bemerkungen dieser Art finden sich bereits bei Luther; vgl. oben S. 20, Anm. 6. 9 2 Vgl. unten S. 96 ff. Audi Luther gebraucht den Begriff όίθεος im Zusammenhang mit entsprechenden Anekdoten; vgl. W A T R 3, N r . 3702 (1538). Für ihn ist Italien die Heimat des Epikureismus: „ . . . m i n i m a pars Italorum credit resurrectionem mortuorum, estque vulgata v o x in Italia euntium ad templum: Eamus ad communem errorem!" W A T R 5, N r . 6041. D o r t kann man ihn „erlernen"; W A T R 4, N r . 4018. 8 3 Zitiert nach J . Thomasius, Historia Atheismi (1713), S. 147. Anton Reiser, De o r i g i n e . . . Atheismi, 1669, S. 241, weiß einen Gewährsmann zu zitieren, nach dessen Meinung die schlechtesten von allen Christen die Italiener und die schlechtesten von allen Italienern die Römer seien. 90

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Ein humanistischer Gelehrter, Verfasser einer Geschichte Venedigs und sprachlicher Untersuchungen, der im Kardinalshut wohl mehr eine Auszeichnung als einen kirchlichen Auftrag sah. Vgl. E. Hassinger in: R G G ' I, Sp. 1028; M. Santoro, Pietro Bembo, Napoli 1937. 9 5 Ernst, Bilderhausz, 1702 4 , Bd. I I , S. 11 f. Vgl. Johann Müller, Atheismus devictus, 1672, S. 20 ff. 9 8 Ernst, Bilderhausz, 1702 4 , Bd. I I , S. 10. 9 7 Imm. Weber, Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 13. 9 8 Th. Großgebauer, Praeservatif, Vorrede (nicht pag.), kommentiert diese Nachricht grimmig mit dem Hinweis, die Wiederentdeckung des Evangeliums habe den Teufel sehr erregt, und deshalb habe er die Päpste und Kardinäle „zu solchen Atheisten gemacht / die beydes die Autorität der Heiligen Schrifft und der Seelen Unsterbligkeit geleugnet haben." Vgl. zum Ganzen Voetius, Select. Disp., Pars I, S. 216 ff. An anderer Stelle verweist Voet ganz allgemein auf die Papstgeschichten! Ebd. S. 137 f. 94

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Stunde geschlagen hatte. Es gab nun Zeitgenossen, die weder an Gott noch an den Teufel glaubten. Ein gewisser Lucas Orafus habe sich, so berichtet Spizel, auf seinem Sterbebett dem Mächtigeren von beiden empfohlen mit den Worten: „Chi piu puo, piu tiri" — wer mehr kann, möge mehr ziehen " . Besondere Legendenkränze rankten sich um die Gestalten einzelner erklärter Atheisten, wie etwa Giulio Cesare — so der Beiname, den er sich selbst gegeben hat — Vanini (1564—1619) 10°. Noch während seines Prozesses, so erzählte man sich, habe er grauenvolle Gotteslästerungen von sich gegeben. Er habe einen zufällig vor ihm liegenden Strohhalm aufgehoben und daran so scharfsinnig die Existenz Gottes beweisen können, daß sich alle verwundert hätten — und dann habe er das Gegenteil ebenso scharfsinnig „bewiesen" ш . Die Forderung des Gerichtshofs, Gott um Verzeihung zu bitten, habe er abgelehnt mit dem Hinweis, daß er nicht wisse, ob es ihn gebe. Vor der Hinrichtung habe er gesagt: „Allons allons alleigrement en Philosophe, il n'y a Dieu ny Diable" 1 0 2 . Dafür sei er denn auch hingerichtet worden, wie vor ihm Gottfried a Valle (1572) Scrutinium Atheismi, 1663, S. 24 f . Nach einer wohl nicht nur geographischen Odyssee durch halb Europa — Studium in Neapel (Jura) und Padua (Theologie), Aufgabe des Katholizismus in England, kurze Aufenthalte in Italien (1614) und Südfrankreich (Lyon; 1615) — wird er 1619 in Toulouse wegen Gotteslästerung und Atheismus hingerichtet. Vgl. J . R a t h in: L T h K 10, Sp. 6 1 3 ; W . D . Fuhrmann, Leben und Schicksale des L. Vanini, 1 8 7 0 ; J . Toulan, L. Vanini, 1869. Fritz Mauthner, D e r Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Stuttgart-Berlin 1921, Bd. 2, S. 2 0 7 — 2 2 3 , rechnet ihn nidit zu „den Denkern, die bewußt und stark die Befreiung des Menschengeistes förderten", sondern eher zu den „unseligen Flattergeistern, die eine neue Zeit witterten, ihr bald unklug dienten, sie bald klug verleugneten und oft nur wie geblendet in die Flamme des Scheiterhaufens rannten". S. 208. Sicher gehört der Prozeß gegen Vanini zu den Ereignissen in der Kirchengeschichte, deren die Christenheit sich schämen muß. Vgl. dazu Mauthner a . a . O . S. 219 ff.; dort weitere Lit. I n unserem Zusammenhang interessiert jedoch nicht der traurige Sachverhalt als solcher, sondern, was man sich darüber erzählte; dies hatte u. U . letztlich mehr Wirkung als der spröde Tatbestand. Noch ein Jahrhundert später hat das Schicksal Vaninis die Gemüter bewegt: Vgl. die bei Trinius, Freydenker Lexicon s. v. Vanini genannte Literatur. Gottfried Arnold berichtet relativ ausführlich über ihn; er nennt ihn den „Kayser der Atheisten". Vgl. Kirchen- und Ketzerhistorie, 1699, Teil I I . S. 600. V g l . ferner la Croze, Entretiens . . . , 1711, S. 3 3 7 — 3 7 9 . U m diese Zeit hatte Vanini bereits erste Verteidiger gefunden; vgl. dazu Mauthner а. а. O . S. 221 f. 99

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Paul Stockmann, Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, S. 2 1 3 . Mit einer den Heutigen als makaber berührenden Genugtuung stellt Johann Georg Leuckfeld abschließend fest: Seiner Lästerungen wegen „wurde ihm seine verfluchte Zunge erst ausgerissen / darauf lebendig verbrandt / und endlich die Asche von ihm in die Lufft gesprenget." Der verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 78 f. Diese Mitteilung beruht auf der Darstellung des Jesuiten Garasse, L a doctrine curieuse . . . , 1623, Liber I I , Sect. V I . 101

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und nach ihm ein gewisser Lyzinscki Posedeck (1689), den man in Warschau enthauptet und dessen Asche man dann „aus einem Stücke gegen die Tartarey geschossen" habe . . . 1 0 3 . 3. Anekdotisches

über die göttliche Bestrafung von

Atheisten

Man kannte Beispiele genug dafür, daß Gott sich nicht spotten läßt. Das hatten schon die Ketzer der alten Kirche erfahren müssen; Cerinth wurde durch seine über ihm zusammenstürzende Badestube erschlagen und Arius hatte sein Schicksal auf der Toilette erreicht 104 . Schlimmer, als wenn sie von Menschenhand vollstreckt wird — so tröstete man sich in einer Zeit, da man mit Todesurteilen vorsichtiger sein mußte —, fällt die Strafe aus, wenn sie das Numen selbst verhängt: Der Pariser Theologe Simon Tornacus beispielsweise habe, nachdem er den Satz von den drei Betrügern hervorgebracht hatte, die Sprache verloren und nur noch muhen und den Namen seiner Konkubine Alegde aussprechen können 105 . Mersenne berichtet in der Widmung seines GenesisKommentars von dem Verhör eines Bürgers aus Angers „ob Divinum numen pernegatum" im Jahr 1464, bei dem ein Stein von der Decke des Verhandlungsraumes gefallen sei, tags darauf ein Balken — lieber habe das Gebäude zusammenstürzen als die gottlosen Reden von Atheisten und Deisten aufnehmen wollen 106 . Die strafende H a n d des Allmächtigen konnte einen Atheisten jederzeit erreichen. Christian Scriver weist in einer seiner Predigten auf einen liederlichen Adeligen hin, der wohl mehr „praktischer" als „theoretischer" Atheist war und der mit einer Magd vor einem Gewitter unter den Garben Schutz suchte: Der Blitz tötete das Mädchen und riß ihm selber „Nase / Leffzen und Kinn h i n w e g . . . Ich habe ihn mehrmals selbst gesehen . . . " 1 0 7 . Man glaubt zu wissen, daß viele von den Atheisten eines unnatürlichen Todes sterben müssen. David Derodon hat einige getroffen, die die in seinem Buch widerlegten Ausflüchte vorbrachten — der eine sei bald 103

Leuckfeld, а. а. O. S. 83; vgl. la Croze, Entretiens . . 1711, S. 418 ff. Johann Müller, Atheismus devictus, 1672, S. 57 f. Th. Spizel, Scrutinium Atheismi, 1663, S. 131 f. Weitere Beispiele ebd. 106 „ . . . ut ipsae creaturae sensus expertes . . . sui Creatoris providentiae, atque praesentiae firmissimum darent testimonium . . . & ipsa aula . . . testaretur se malle corruere, & in nihilum redigi, quam impios Atheorum, atque Deistarum sermones continere." (Nicht pag.; 3. S.) Voetius, der die Quellen Mersennes untersucht, kann ergänzen, daß die Aula, in der verhandelt wurde, zweimal erzitterte! Select. Disp., Pars I, S. 136. 107 Seelen-Schatz (1701), Teil IV, 12. Predigt, § 81; Bd. 2, S. 429. Vgl. Abb. 7! — Ein hoher Offizier in Westfalen habe immer, wenn die Rede auf die Unsterblichkeit gekommen sei, gesagt: „Ey was Seele / was Seele; die Seele ist nichts anders denn eine Hand voll Windes / ein Pfuh / wenn er aus dem Leibe hinwegfähret / so ists mit dem Menschen geschehen und gar aus." Im Rausch sei er schließlich gestorben, da werde er es schon gemerkt haben! Ernst, Bilderhausz, 1702 4 , Bd. II, S. 14 f. 104 105

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darauf wahnsinnig geworden und gestorben, ein anderer wurde bei einer Rauferei erstochen und ein dritter habe die Pest bekommen 108 . Sterben Atheisten doch unter normalen Umständen, so findet man auch dafür eine Erklärung: Sie müssen unglaubliche Gewissensqualen erdulden 109 . Es zeigt sich schließlich immer, „daß diese Leute alle in's gemein auff ihrem Todt-Bette / oder doch sonst am Ende ihres Lebens ein ander Liedlein zu singen gewohnet seynd" 110 . „Also siehet man / was diese esprits forts, oder tapffere Geister / . . . vor Helden seyn / wenn es nun ans letzte g e h e t . . s c h r e i b t Immanuel Weber triumphierend in seiner „Beurtheilung der Atheisterey" 1 U . 4. Anekdotisches über die Bekehrung von Atheisten Das Sterbebett ist die letzte Gelegenheit zur Bekehrung, wie es die Geschichte des Grafen von Rochester eindrucksvoll darstellen sollte: Nach einem Leben, dessen Sünden offenbar nicht nur im Atheismus bestanden, lesen ihm seine Frau und seine Mutter auf dem Sterbebett Jes. 53 vor, bis er es auswendig kann und es ihm seine Zweifel überwinden hilft. E r entwickelt sich nun zu einem Musterchristen gegenüber seiner Frau, seinen Kindern und seinen Besuchern; er selbst beauftragt den späteren Verfasser seiner Bekehrungsgeschichte, Robert Parson, „öffentlich zu predigen / und allen Menschen wissend zu machen . . . , wie ihn Gott durch seine schlagende Hand wegen seiner Sünden gezüchtiget..." 1 1 2 . los Widerlegter Atheismus, deutsch von Wigand Kahler, Lemgo 1733, S. 2 4 7 f. De Rodon (gest. 1664) war Professor für Philosophie in verschiedenen südfranzösischen Orten. Nachdem eine seiner Schriften, in der man christologische Irrlehren gewittert hatte, in Toulouse verbannt worden war, floh er nach G e n f und trat dort zum reformierten Glauben über. D o r t erschienen 1659 seine Opera philosophica. Vgl. Jodler I I I , Sp. 2163. Überhaupt nicht in dieses „dogmatische" Geschichtsbild paßte die Nachricht, daß Spinoza äußerlich in Frieden gestorben sein sollte. Undereydc erklärt sich das dadurch, daß Spinoza in seiner Sterbestunde offenbar keine Zweifel an Gottes Existenz gehegt habe; Der närrische Atheist, 1722 2 , S. 385 — während J o h a n n Hermann Eiswich, Controversiae de Atheismo recentiores, Wittenberg 1716, S. 19, zugibt, daß Atheisten vielleicht doch nicht unbedingt unter Gewissensqualen sterben müssen; aber, so fügt er an, ins Herz könne man nicht sehen . . . 1 1 0 Theodor Undereydc, D e r närrische Atheist, Bremen 1722 2 (erste Auflage: 1689), 5. 377. Lange Zitate mit erbaulichen Gruselberichten aus den Lettres Sinceres ebd. S. 387 ff. Undereydc ( 1 6 3 6 — 1 6 9 3 ) hat in Utrecht, Duisburg und Leiden — u. a. bei Voetius, Clauberg und Coccejus — studiert; nach seinem Dienst an Pfarrstellen in Mühlheim/Ruhr und in Kassel wirkte er 1 6 7 0 — 1 6 9 3 an St. Martini in Bremen. E r gilt als Begründer des reformierten pietistischen Konventikelwesens. Vgl. E. Mülhaupt in: R G G 3 V I , Sp. 1121. Seine Tätigkeit in Bremen wird geschildert bei O . Veeck, G e schichte der Reformierten Kirche Bremens, Bremen 1909, S. 87 ff. 1 1 1 Ebd. S. 19. 1 1 2 Robert Parson, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: D e r bekehrte Atheist, Hamburg 1707, S. 73 f. In barockem Pathos siegelt der Sterbende am 19. J u n i 1680 in Gegenwart von Anna Rochester und Robert Parson eine Erklärung „Zum besten aller 109

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Aber nicht immer gelingt die Kehrtwendung in letzter Minute. Das möchte ein anderer Lebensbericht herausstellen, demzufolge der Sterbende wohl noch seine Lage erkannte, aber nicht mehr den Glauben zu gewinnen vermochte113. Solche Anekdoten sind nicht einfach sozusagen „fromme üble Nachrede". Abgesehen davon, daß sie im einzelnen historische Wahrheit enthalten können, entspringen sie, wie sich zeigen wird 114 , einer tiefen inneren Uberzeugung: Man konnte es sich weder vorstellen, daß Gott die Bestreiter seiner Existenz straffrei ausgehen lassen würde, noch, daß sich in einem Menschen nicht wenigstens in der Todesstunde das von Gott eingepflanzte Gewissen aufbäumen würde 115 . Die über die Atheisten umlaufenden Anekdoten stellen einen „vorwissenschaftlichen" Versuch dar, das Phänomen „Atheismus" zu umschreiben und zu erfassen. Nicht von der Ratio gesteuert, nur hin und wieder apologetisch zugespitzt, spiegeln sie den Schauder wider, der die Gemeinden und auch ihre Pfarrer und Theologen angesichts dieses unerhörten Neuen befiel. Erst allmählich kamen den Apologeten einzelne Züge ihres Gegners zu Bewußtsein. c) „Notae

Atheismi"

1. „Cyclopismus" und „Crimen laesae majestatis divinae" Als wahnwitzig mußte den damaligen Theologen das Vorhaben der Atheisten erscheinen — als wahnwitzig gegenüber Gott und den Menschen. Man war sprachlos darüber, daß es solche Menschen geben konnte — oder gab es sie in Wirklichkeit doch nicht11®? Es war ja βαρβαρισμός, was die Atheisten betrieben— und selbst diese Bezeichnung war noch zu positiv, denn nicht einmal die Barbaren hatten sich dazu verstiegen, die Existenz eines Numen zu bestreiten 117 ! Ihr Unterfangen hat etwas Prometheisches, Gigantisches: „ . . . plus quam cyclopico ausu summo & aeterno Deo bellum indicunt, eumque vel penitus throno derjenigen, die ich mag durch mein Exempel und Leben in Sünden verleitet haben . . .", (abgedruckt bei Christian Breithaupt, Zufällige Gedancken, Helmstedt 1732, S. 9 ff., Anm. k). Leben und literarische Werke des Grafen zeigen, daß sein „Atheismus" kaum philosophischer Natur war. Vgl. Encyclopaedia Britannica, Ausgabe 1962, Bd. 19, S.362. 113 Nathanael Bacon, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Der verzweiffeinde Atheist, Leipzig 1706. 114 Vgl. unten S. 172ff. 115 Vgl. oben S. 56; zu den Auswirkungen dieser Auffassung auf die gelehrte Diskussion vgl. unten S. 207 f. 118 Viele Autoren äußern sich in langen Erörterungen zu der Frage: „An dentur Athei?" Vgl. unten S. 172 ff. 117 Johann Gerhard Vossius, De Theologia gentili, Amsterdam 1668 (Editio nova), S. 9; das gleiche wird dort für die Bezeichnung Σκυθισμός geltend gemacht.

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deturbare, ejusque memoriam delere, vel illius Imperio sese subducere, & intra claustra coeli eum coercere, ac ab omni mundi hujus commercio removere quovis modo satagunt..." 1 1 8 . Es ist ein „furor cyclopicus", der sie bewegt119. Johann Adam Oslander nennt sie eine „secta Cyclopica" 120 . Pascal weiß, worum es den Atheisten geht; aber er fragt geringschätzig: „Was haben wir denn davon, wenn wir einen Menschen sagen hören, daß er das Joch abgeschüttelt hat und nicht glaubt, daß es einen Gott gibt, der über seinen Handlungen wacht, daß er sich für den einzigen Herrn seiner Lebensführung hält und nur sich selbst darüber Rechenschaft abzulegen gedenkt" 121 ? Ein lutherischer Prediger vom Schrot und Korn eines Christian Scriver kann sich darauf schon eine Antwort denken; er läßt einen Atheisten in fingierter Rede sagen: „Man hat mich in meiner Jugend genug gesch = = mit der Bibel / mit den zehen Geboten / mit der Höllen / ich durffte mich nicht einmal mit sicherm Hertzen vollsauffen / nach kein. H. mich umsehen / muste immer an Gott / an das Gewissen / an die Hölle dencken; Nun aber habe ich ein ander Buch in die Hände bekommen / welches mich lehret / wie man midi genarret h a t . . 1 2 2 . Nach Auffassung der Theologen versuchen diese Leute, den lebendigen Gott loszuwerden, ihn abzuschütteln; sie rebellieren, sie begehen gegenüber Gott das „crimen laesae majestatis". Vom Anfang bis zum Ende der Debatte taucht dieser Gedanke — bei ganz verschiedenen Autoren — immer wieder auf 123 . Spener hält den Atheismus für schlimmer als jede andere Sünde, weil er sich gegen Gott selbst wendet und es wagt, ihn vom 1 1 8 Johann Ulrich Frommann, Atheus stultus, 1713, Vorrede. Vgl. oben S. 30, Anm. 51; Jöcher II, Sp. 784, berichtet, Frommann ( 1 6 6 9 — 1 7 1 5 ) habe in Leipzig studiert, dann Ober- und Niederdeutschland bereist; ab 1711 sei er außerplanmäßiger Professor der Theologie in Tübingen gewesen.

Daniel Tilenus, Syntagma, 1607, Disp. I X , S. 6 9 : „ . . . atheorum execranda vesania, furorque cyclopicus"; audi Spizel spricht davon, daß die Atheisten „Cyclopico more" dem Numen den Krieg ansagen; Infelix Literatus, 1680, S. 352. 1 2 0 Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 89. 1 2 1 Gedanken. Nach der endgültigen Ausgabe übertragen von Wolfgang Rüttenauer, Bremen 1964«, S. 8. 1 2 2 Seelen-Schatz (1701), Teil IV, 12. Predigt, § 6 9 ; Bd. 2, S. 422. 1 2 3 L. Lessius, De Providentia Numinis, 1617 2 , führt seinem Leser vor Augen, was es schon im irdischen Bereich bedeutet, einem König seine Herrschaft oder seine Existenz zu bestreiten; erst recht tut derjenige, der Gottes Existenz bestreitet, Gott in schlimmstem Maße unrecht „estque reus laesae Maiestatis divinae, quamvis ratiunculis aliquibus in hanc opinonem adductus sit. Quid ergo illi aliud expectandum quam gravißima vindicta, si tale Numen extiterit?" Vorrede (nicht pag.; 3./4. S.). Ganz ähnlich Samuel Biermann, Impietas Atheistica, Leipzig 1717, S. 16 f. Wie hoch die Strafe für Atheismus in Relation zu der für politische Rebellion sein müßte, will Biermann nicht entscheiden. 119

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T h r o n zu stürzen. A u c h ein irdischer F ü r s t a h n d e diejenigen Delikte, die sich gegen ihn selbst richten, schärfer als a n d e r e 1 2 4 . V o r allem in volkstümlicher D a r s t e l l u n g u n d in Spottgedichten tobt sich die E n t r ü s t u n g über solch eine M a ß l o s i g k e i t des Menschen aus: „ V e r r u c h t e r E r d e n - W u r m / wie darffstu dich entblöden / Z u läugnen / d a ß ein G o t t / d e r alles schaffet I sey . . . " 1 2 5 . D e r „ E r d e n w u r m " w i r d des ö f t e r e n in seiner unglaublichen A n m a ß u n g e r t a p p t , u n d m a n k a n n sich n u r w u n d e r n : „ D a ß doch ein e r d e n - w u r m sich n u r darff unterstehn / d e m H e r r e n Z e b a o t h sein ' e h r - g e b ü h r zu rauben / u n d d e r unsinnigen vernunfft so viel z u glauben / auch dessen heilig w o r t aus m u t h w i l l zu v e r d r e h n " 1 2 6 ! Scriver,

der P r e d i g e r u n d Seelsorger, sieht all das in einem

größeren

Z u s a m m e n h a n g . D e r Atheismus, k l a g t er, n e h m e so ü b e r h a n d , d a ß ein christliches H e r z blutige T r ä n e n d a r ü b e r vergießen könnte, d e n n : „ D u r c h 124 „Est enim Atheismus peccatum reliquis omnibus eo atrocius, quo fertur in Deum propius, ac in ejus abnegatione consistit; quippe qui ilium quasi a throno suo dejicere sive deturbare audet." Geminum judicum (1703), S. 25. 125 Aus einem Lehrgedicht in: P. Stockmann, Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, S. 270. 126 In der deutschen Ausgabe von Nathanael Bacon, Der verzweiffeinde Atheist (1706): „Eines gewissen vornehmen Freundes hierüber eröffnete Gedancken". Etwas umständlicher formuliert eine Generation früher ein gewisser David Harder aus Greifswald in seiner „Gemüths-Eröffnung" über Theophil Großgebauers Praeservatif, 1661, Großgebauer wisse, „ . . . daß Leute seyn / die jetzt noch toller schwärmen / Dann jener Heiden Grim; Sie stifften an viel Lärmen; Audi stille Büberey. Sie brüten Spinncn-Gifft / Der kräfftig gnug dazu / daß er die Seele trifft. Den Schöpffer leugnen Sie / ohn den sie doch nicht stehen / Nodi jemahln können gehn. Ihr Othem muß verwehen / Wie eine dünne Lufft / wann unser GOTT zubricht / Was er an sie gebaut . . . " .

Ohne speziell auf die Atheisten einzugehen, schildert Jakob Daniel Ernst, Die neue historische Sdiau-Bühne, Leipzig 1702, in seinem Kapitel X X X I I „Der unsinnige Gern-Gott", S. 720 ff. Beispiele dieser Maßlosigkeit, der man die Atheisten bezichtigt hat: So habe etwa Caligula, wenn schlechtes Wetter seine Schauspiele verhinderte, „vor Zorn mit Pfeilen in die Lufft geschossen / und gesprochen: Aut tu me tolle, aut ego te!" Ebd. S. 727. Die „Moral von der Geschieht" wird abschließend in einen Reim gefaßt, S. 737: „Du armer Koth und Staub / du matter Erden-Wurm / Was will ein schnöder Kloß sich wie ein Demant putzen / Der doch wie Spreu zerstiebt im schnellen Wetter-Sturm / Wer sich dem Höhesten will an die Seite schwingen / Den wird / eh' er es meint / der Abgrund bald verschlingen." 59

diesen Gifft und teuffelischen Greuel wird das Erkäntniß / und folgends alle Furcht und Liebe Gottes in menschlichen Hertzen ausgerottet / der Verstand wird verfinstert / der Wille verkehret / die Erb-Sünde / als eine böse Wurtzel / krieget Lufft / und beginnet in mancherley unseligen Früchten auszubrechen . . . " . U n d er scheut sich nicht, einen solchen Atheisten — in einer freilich damals schon etwas überholten Terminologie — einen sichtbaren Teufel zu nennen: Christus habe Judas auch so genanntm.

2. Immanenzverhaftetes Denken Der neue Geist bringt eine völlige Umkehrung, ja Vertauschung der Werke von Gottesreich und irdischem Reich, von Ecclesia und Saeculum, von Pietas und Politik mit sich 128 . Das Ubernatürliche entfällt; übrigbleibt nur, was nicht über die Natur, über die Immanenz hinausgeht — die „causae secundae", wie das im Sprachgebraudi der scholastisch geschulten Atheistenbekämpfer heißt 1 2 9 . Dadurch entstünden dann so merkwürdige Vorstellungen wie die, daß der Mensch gleich den Pilzen aus dem Moder der Erde entsprossen sei und daß seine Gedanken nichts anderes seien als die „An- und Rück-Fälle der kleinsten Theilgen der Materie", die mechanisch wie ein Glockengeläute eine kleine Weile funktionieren und mit dem Tod verwehen 1 3 0 . N u r kopfschüttelnd können die Apologeten über so etwas berichten: Die Freigeister verzichten auf die

127

Seelen-Schatz ( 1 7 0 1 ) , Teil I V , 7. P r e d i g t , § 2 ; B d . 2, S. 1 6 7 f.

128

Spizel,

De

Atheismo e r a d i c a n d o ,

1669,

S. 8.

Luther

hatte

diesen neuen

Geist

charakterisiert unter dem Begriff „Epikureismus". E r v e r s t a n d d a r u n t e r zunächst L e u g nung der P r o v i d e n z Gottes (vgl. W A T R 1, N r . 4 3 2 , N r . 4 6 6 ) oder der T o t e n a u f e r stehung (vgl. W A religiösen

TR

Weltbildes:

5, N r . 6 0 4 1 ) ; darüber hinaus aber Bestreitung des gesamten „Sapientes

h o m i n e s . . . richten

es nach der

ratio,

sine

verbo

D e i . . . H i n c fit, ut t o t a m religionem c o n t e m n a n t et dicant articulum de resurrectione t a n t u m c o n f i c t u m a d t e r r e n d u m vulgus." W A T R 1, N r . 3 5 2 ( 1 5 3 2 ! ) . „Die E p i c u r e r " , saget D . M . L u t h e r , „halten weder v o n G o t t noch v o m T e u f e l e t w a s " . W A T R

6,

N r . 6 8 3 3 (nicht d a t i e r b a r ) . „ E p i c u r i s m u s . . . ducit homines ab aeternitate a d temporalit a t e m . " W A T R 4, N r . 4 1 8 7 ( 1 5 3 8 ) . Z u dem gesamten Problemkreis vgl. W . M a u r e r , Offenbarung u n d Skepsis. E i n T h e m a aus d e m Streit zwischen L u t h e r und Erasmus, i n : Kirche und Geschichte. Gesammelte A u f s ä t z e , B d . 2 , G ö t t i n g e n 1 9 7 0 , S. 3 6 6 — 4 0 2 , bes. S. 3 8 1 f., 3 9 2 ff. D e r Begriff „Epikureismus" h a t eine A r t V o r g ä n g e r f u n k t i o n gegenüber d e m Begriff „ A t h e i s m u s " ; d a z u unten S. 7 2 . i2» f . W a g n e r , E x a m e n , dann

1 6 7 7 , S. 1 2 : „ . . . n i h i l

liegt es in der Konsequenz

admisso, q u o d supra n a t u r a m

dieser Auffassung,

d a ß sie „totius

est";

Christianismi

professionem c u m omnibus articulis fidei e x h o m i n u m cordibus eximere possit". E b d . G u t beobachtet J o h a n n B a r t h o l d N i e m e i e r , d a ß viele seiner Zeitgenossen „sub N a t u r a e nomine & appellatione Atheismum t e g u n t " ; D e Atheismi eversione, pars prior, § 130

60

XXIV. Bentley, Die T h o r h e i t . . . des Atheismi ( 1 7 1 5 ) , S. 2 3 .

1689,

Ewigkeit und jubeln noch darüber — gibt es etwas "Widersinnigeres131? Und dabei kommen sie sich noch besonders klug vor, als Menschen, „die einen großen esprit haben und sich von den einfältigen religionairen nicht lassen hinter das Licht führen" 132 . Die Namen, die sie sich zulegen, wie „Esprits forts" oder „De Grues", geben ein beredtes Zeugnis ihrer Selbsteinschätzung 133. Sie usurpieren Bildung und Wissenschaften; sie erklären die Gebildeten der ganzen Welt zu ihren Gesinnungsgenossen134. Alle Disziplinen der Wissenschaft werden nach und nach von diesem Virus infiziert 135 . Es ist für einen auf dem Boden der alten Dogmatik stehenden Gelehrten völlig unverständlich, wie gerade die Gebildeten für den Atheismus so anfällig sein können; von irgendwelchen Halbmenschen am Rande der Welt hätte man das allenfalls noch für möglich gehalten . . . 1 3 e . Gerade sie, die so viel über diese Welt zu sagen wissen, sehen nicht, daß schlechthin alles auf einen Höchsten verweist 137 ! In den Dschungeln Indiens kennen sie 131

Bentley, ebd. S. 23 ff. Vgl. Pascal, Gedanken, ed. Rüttenauer, S. 8. Johannes Fecht, Historia et examen novae theologiae indifferentisticae, Rostock/ Leipzig 1721, S. 29 (allgemein auf die „Esprits forts" bezogen). Christian Breithaupt, Zufällige Gedancken, 1732, S. 6, urteilt, daß „die Atheisterey von solcher Art und Eigenschafft ist / daß sie sich gar leicht unter dem Schein einer besonderen Scharffsinnigkeit in die Gemüther einzusdileichen pfleget / und daher / wenn sie einmahl eingenistelt / sich desto schwerer ausrotten l a s s e t . . ! 133 „ . . . qui peculiari nomine se vocant De grues, quo scilicet innuunt, se non esse grues, id est non facile falli. Vocantur itidem Esprits forts, quod scilicet confirmati sint ad nihil amplius credendum, sive quod ad perfectionem nihil credendi jam pervenerint." Sebastian Niemann, Atheus refutatus, 1668, S. 5, in Anlehnung an Spizel, Scrutinium, 1663, S. 27, der seinerseits auf die Titelformulierung des Buches von Gottfried a Valle anspielt. De Grues nennen sich diese Leute, führt Weber aus, weil sie sagen: „je ne suis point grüe" — ich ziehe nicht mit dem großen Haufen der „tummen Kraniche"; Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 66. Sie fühlen sich als „Les galans hommes", „Les entendus", „Les sages du siecle"; Grünenberg, De Atheorum religione prudentum, 1701, § 45. Vgl. Johann Adam Oslander, Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 89. 134 Spizel klagt über die Impietas Atheistica „eousque insaniae progressa, ut non tantum Divinitatem inficietur, verum etiam omnes eruditionem profundiorem consecutos, fautores suos m e n t i a t u r . . . " ; Scrutinium, 1663 (Widmung, nicht pag.; 5./6.S.). 135 Zu einem relativ späten Zeitpunkt — also nachdem es bereits dahin gekommen war — schildert das Jakob Friedrich Reimmann in eindrucksvoller Weise: „Scilicet hinc fluxit in Physicam atomismus fortuitus, in Metaphysicam Paralogismus, in Pneumaticam Sadducaeismus, in Mathesin progressus in infinitum, in Ethicam Epicuraeismus, in Politiam Machiavellismus, in Theologiam Pelagianismus, Libertinismus, Indifferentismus, Naturalismus, Antichristianismus, Scepticismus, Neutralismus, Pantheismus, Mechanismus, doctrina de fatali rerum necessitate, mundi aeternitate, animae mortalitate &c." Historia universalis Atheismi, 1725, S. 21. 138 Nicht ganz auf der Höhe der religionsgeschichtlichen Kenntnisse seiner Zeit stehend, denkt Spizel an die Inder; De Atheismo eradicando, 1669, S. 4. 137 Philipp Mornaeus, De veritate religionis diristianae, Leiden 1592, S. 3. 132

61

sich besser aus als in ihrer Seele138. Hochmütig tun sie das als kindisch und einfältig oder als unbrauchbar ab, wovon christliche Theologie und aristotelische Philosophie so lange überzeugt waren 139 . Ihre Vertreter halten Gott und Religion für die Einbildung der Menschen, „int er dum per deum intelligentes id, quod hominibus varie pro Deo fingitur" 14°. Der Mensch schafft sich Gott nach seinem Bilde — das werfen die Aufklärer und deren Gegner einander vor, zweieinhalb Jahrhunderte vor Feuerbach und fast mit seinen Worten 141 . Die Atheisten behaupten, die Vorstellung von Gott gehe auf Eltern und Lehrer zurück, und die Christen kennten sich nur in der Physik zu wenig aus, so daß sie bei der Welterklärung sich zur Gottesvorstellung und zu Wundern flüchten müßten 142 . Im übrigen behindere die Anerkennung eines Numen die Forschung. Sie halten es für klug, „videre modum hujus mundi sine omni opifice". Dadurch haben sie den Atheismus noch mit dem „eleganten 138 Mornaeus ebd., Vorrede (nicht pag.): „Pars hominum hoc saeculo voluptatibus indulget adeo, ut ipsis in semetipsos descendere nunquam vacet, nedum ascendere ad Deum. Peregrini sunt isti magis in sua natura, in sua anima, in ea parte, quae sibi maxime innata, maxime propria; quam in Indicis Sylvis, in ignotis terris, in pelago nondum explorato." 139 Christian Scriver weiß, daß „wir euch zu einfältig / zu Phantastisch / zu Melancholisch / zu schlecht seyn"; Seelen-Schatz (1701), Teil IV, 12. Predigt, § 76; Bd. 2, S. 426. In bewegten Worten klagt Anton Reiser über die vielen Leute, „quibus trita ab antiquis Philosophiae sacratioris & Theologiae Doctoribus via de simplicitate suspecta est, tanta quaevis optima etiam & securissima innovandi prurigine occupatis, ut nihil placere possit, quod non de recenti musto Ingenii, quod sibi ipsis imaginantur, omnium capacissimi & nihil non facili opera superantis, aliquem habeat gustum, caeteris omnibus, quae per tot secula felicissime & maximo cum fructu fuerunt exculta, insolenti & fere intolerabili fastu explosis "; De origine . . . Atheismi, 1669, S. 273 f. Nicht nur die Frömmigkeit, auch die Bildung ist gefährdet! 140 Grünenberg, De Atheorum religione prudentum, 1701, § 43. 141 Petrus Molinaeus schreibt in seinem damals viel beachteten Buch De cognitione Dei, 1625, S. 44: „Nempe cum Deus fecerit hominem ad Dei imaginem, homines vicissim, quasi ad hostimentum, volunt facere Deum ad imaginem hominis." Und das führe viele Menschen zum Agnostizismus. Mersenne läßt die von ihm angegriffenen Atheisten den Glaubenden fragen: „Ubi est Deus tuus? cur alium tibi fingis praeter rationem?" (Widmung, nicht pag.; 2. S.). Umgekehrt wirft Großgebauer den Atheisten vor: „Sie fahen an ihnen selbst einen neuen Glauben / eine neue Religion / einen neuen Gott zu erdichten / welcher mit ihren Begierden ü b e r e i n k o m p t . . P r a e s e r v a t i f , 1661, Vorrede, S. 6. 142 „ . . . ut ignorantes ad Deum & miracula contendant, cum nexum causarum Physicarum non pervideant." Grünenberg, а. а. O. § 47. Diese Vorstellung taucht bereits bei Lucrez auf, aus dessen Buch VI de rerum natura, '54 ff., Johann Barthold Niemeier, De Atheismi eversione, Pars posterior, § C X X V zitiert: „Ignorantia causarum conferre Deorum (Dei) Cogit ad imperium res, & concedere regnum. Quorum operum causas nulla ratione videre Possunt, haec fieri divino Numine rentur."

62

Pallium" der Wissenschaftlichkeit ausgestattet143. Sie sind besessen von einer „ingenii sagacitate atque audacia omnia acutius demonstrandi, & a consuetis doctorum viis abeundi cupida" 144 . Die Universalmethode dabei, legitimiert durch Descartes, war der Zweifel. Der französische Apologet Derodon, selbst an Spitzfindigkeiten nicht gerade uninteressiert, spricht die Atheisten als Leute an, „die von der Kunst an allem zu zweifeln Profession machen"14ä. Der in der Polemik geübte Tobias Wagner differenziert schulmeisterlich: Da gebe es die „Rixosi", die Streitsüchtigen, die die Existenz der Sonne zu bezweifeln bereit sind, auch wenn sie über ihnen steht; die „Profani", denen es nur darauf ankommt, ihre Bildung zur Schau zu stellen; die „Superbi", die mit irgendwelchen aus der Luft gegriffenen Behauptungen aufwarten, und schließlich die „Disputaces", die Geschwätzigen 14e . 3. Zweifelhaftes

Verhalten gegenüber der Gesellschaft

Obwohl sich derlei Leute aus Furcht vor den Gesetzen anfangs kaum ihren nächsten Vertrauten gegenüber zu solchen Problemen äußerten147, rückten sie mit der Zeit doch immer deutlicher mit ihren Thesen heraus. Sowohl ihre Zurückhaltung wie auch ihr offenes Bekenntnis wurde ihnen 143

Grünenberg, a . a . O . § 47: Sie tun, „ac si nullae scientiae Sc artes absque nefando Atheismo possent subsistere, quem singulae creaturae tantopere detestantur." 144 Grünenberg ebd. § 8. 145 Widerlegter Atheismus (1733), S. 248. 146 Examen, 1677, S. 88. 147 Jan Jan Bircherodius, Exercitationes contra Atheos (1660), S. 15 f.; Spizel, De Atheismo eradicando (1669), S. 3; Seckendorf, Christen-Staat, 1685, S. 1 ff. und öfter. Deswegen empfindet man sie oft als unehrlich, bemerkt aber nicht, diese Unehrlichkeit selbst wesentlich mitverursacht zu haben. Vgl. Joh. Ulrich Frommann, Atheus stultus, 1713, S. 20: „Est autem Doctrinae, quam Athei profitentur, arcana dissimulare suum virus, & intima tantum mente submurmurare, non verum librorum suorum frontibus inscribere, vel libere eloqui detestandum illud axioma: Non est Deus." Frommann schließt sich damit den Auslegern an, die Ps. 14, 1 streng dem Wortsinn nach verstehen: Nur in seinem Herzen wagt es der Tor, so etwas auszusprechen; vgl. Birdierodius, Exercitationes (1660), S. 19; Walch, Einleitung, Teil V, 1736, S. 10. So vor allem die katholische Exegese (Bellarmin); Überblick bei Friedrich Ulrich Calixt, De religione idolatrica, Helmstedt 1687, S. 6 ff. Gebh. Theodor Meier, Historia religionum, 1697, S. 14, dagegen meint, der Atheist habe dieses innere „Sagen" als ein „Sich-Einreden" nötig, um sich seine Meinung dadurch selbst zu bestätigen. Ähnlich versteht es Joh. Heinrich Heidegger als Ausdruck der inneren Unsicherheit des Atheisten; Corpus theologiae christianae, 1700, Sp. 66b. Frommann scheint im Gegensatz zu der offenbar unreflektiert übernommenen Auslegung seine wirkliche Ansicht zu äußern: „Nostris temporibus, in quibus pietas succumbit, & Atheismus ubique triumphat; in quibus, quicquid übet, l i c e t . . ., publica Atheismi professio nihil novi est, sed ilia jam familiaria multorum colloquia scatent, ingensque eorum est numerus, qui libere . . . eloquuntur: Non est Deus." A . a . O . S. 24 f.

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von ihren Gegnern verübelt 148 . Man erkannte jedoch durchaus, daß der Widerspruch des aufgeklärten Zeitgenossen oft auch etwas Spielerisches, Modisches — oder soll man sagen: Pubertäres? — an sich hatte. Seckendorf redet von Leuten, „welche aus dem Atheismo eine galanterie machen..." 1 4 e . 4. Zusammenfassende

Charakteristiken

Da der Atheismus zunächst nicht durch ein geschlossenes philosophisches System Verbreitung fand, sondern durch viele „kleine Atheisten", und da damit zugleich eine Geisteshaltung aufgekommen war, mit der die Kirche noch keine Erfahrung hatte, mußte man vorerst einfach durch Beobachtung der äußeren Kennzeichen abzutasten versuchen, um was für ein Phänomen es sich handelte. Deshalb finden sich in den theologischen Darstellungen, beginnend mit Voetius — und oft auf ihn zurückgehend, Zusammenstellungen von „notae" des Atheismus. Etwas schwerfällig zählt Voetius folgende „signa" der Atheisten auf 150 : (1) Sie leugnen alles Ubernatürliche151, (2) sie verdächtigen die Schrift, indem sie deren Widersprüche aufsuchen und sie dann (3) „luce humanae historiae" und mit dem menschlichen Verstand als Maßstab durchforschen152. (4) Sie tun die Theologen als lebensferne und parteiische Fantasten ab, denen ein gerechtes Urteil unmöglich ist. (5) Alles, was einer der Ihren gesagt hat, heben 148

Seckendorf schreibt, es sei „in diesen unsern letzten Zeiten so weit kommen / daß die Heuchler zum Theil die Larve gar abgezogen haben / und der Warheit der Religion öffentlich w i d e r s p r e c h e n . . . " ; Christen-Staat, 1685, S. 71. O b ein Atheist seine Meinung weiterverbreitete, wurde schließlich noch f ü r die Definition des Begriffs „Atheismus" wichtig; dazu unten S. 94. 119 А. а. O. S. 29. 150 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 138 f. Diese Liste wird von den späteren Apologeten leicht systematisiert und gestrafft. Die Punkte 2 und 3 werden zusammengefaßt, Punkt 4 weggelassen. 151 Spizel, D e Atheismi radice, 1666, S. 15, ergänzt hier, daß sie statt dessen alles auf natürliche Ursachen, bzw. Berichte von übernatürlichen Ereignissen auf „peculiaria hominum temperamenta" zurückführen. Meier, Historia religionum, 1697, S. 16, meint das gleiche, wenn er als P u n k t 5 angibt: „omnia viribus hujus vitae circumscribere." 152 „ . . . q u a s i seil. Veritas cum veritate pugnaret", schreibt Voetius a . a . O . S. 138. Der tiefe Glaube an die eine Wahrheit, ob sie sich nun in der Schrift oder im lumen naturae äußerte, war die Hauptwaffe, mit der die gesamte damalige Theologie in den Kampf zog — u n d um die zugleich gekämpft wurde. — Johann Müller berichtet, er habe mit eigenen Ohren gehört, wie jemand in einem Gespräch bei Tisch gesagt habe: „Schrifft ist Schrifft / ich begehre rationes und argumenta"; Atheismus devictus, 1672, S. 38. Großgebauer sagt in der Vorrede seines Praeservatifs, 1661, mit wem er es in seinem Budi zu tun haben werde: „mit Leuten / die in ihrer eingebildeten Klugheit ersoffen / und in ihren weltlichen Begierden verstricket nichts schnöders achten als die Heilige Schriffl / und das Predig Ambt.. .

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sie in den Himmel, auch wenn dies nur mittelmäßig ist 1 5 3 . (6) Sie fühlen sich frei von aller Furcht und leben nach dem Grundsatz: Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot. (7) Mit Pfarrern wollen sie nichts zu tun haben 1 5 4 . (8) Sie referieren eifrig die Meinung ihrer Gesinnungsgenossen und verbreiten ihre Lehre, (9) heucheln dabei aber Rechtgläubigkeit, so lange dies nötig ist. Falls es jedoch nicht nötig ist, (10) üben sie ihre Religion nur spärlich aus 1 5 5 . (11) Schließlich sind sie böse auf alle, die gegen den Atheismus schreiben 156 . Als weiteres äußeres Charakteristikum wird später nur noch zugefügt: Sie lesen lieber heidnische als christliche Autoren 1 5 7 . Alles andere — A u f lösung der christlichen Mysterien, Leugnung von Unsterblichkeit und Providenz — Reduktion der Religion auf das Vernünftige, war in der Beschreibung des Voetius schon impliziert 1 5 8 . E x ungue leonem 1 5 9 ! An diesen Anzeichen konnte man, etwa wenn man ins Ausland fuhr, erkennen, mit wem man es zu tun hatte l e 0 . Für den einfacheren Leser freilich schilderten am eindrucksvollsten die Spottgedichte, was für Leute die Atheisten waren 1 6 1 . Oft wird in solchen Reimgebilden — es waren keine poetischen Glanzleistungen — der In1 5 3 Großgebauer dreht den Spieß einfach um und nennt seine Gegner „Parteyisch", a . a . O . S. 3. 154 Reimmann, Historia universalis Atheismi, ergänzt, S. 17 f., sie diffamierten audi ihre geistlichen Widersacher. Deswegen setzt J a k o b Daniel Ernst, Schau-Bühne, 1702, an das Ende seines Kapitels X L V I über die „von Gott gestrafften Prediger-Feinde" warnend folgendes Gedicht (S. 1106):

„Verachte nicht den Mann / den Jesus zu dir sendet / Er rächet solchen Schimpff / als wär er ihm geschehn / Wer keusches Frauenvolck und treue Priester schändet / Wird / ehe ers vermeynt / nicht ohne Schrecken sehn / Daß der gerechte Gott ihn feindlich wird tractiren / Und / wenn er also bleibt / zum Höllen-Kercker führen." Ein Diktum des H o r a z fällt Voetius in diesem Zusammenhang ein: „Parcus Deorum cultor & infrequens, de se olim canebat Epicuri de grege porcus." А. а. O. S. 139. 156 „Disputationem hanc meam ipsis admodum gravem & molestam fore & ante fuisse certum est." Ebd. S. 139. 157 Ζ. B. Meier, Historia religionum, 1697, S. 16; Reimmann, Historia universalis Atheismi, 1725, S. 18; vgl. oben Anm. 77; unten S. 114. 158 Jenkin Thomasius, Historia Atheismi (1713), S. 61 f., hat die Darstellung des Voetius auf sieben Punkte reduziert. Es ist erstaunlich, wie sich solch ein Schema fast 100 Jahre hindurch halten konnte, obwohl doch jedermann die Möglichkeit hatte, seine eigenen Beobachtungen zu machen! Als Abweichung von Voetius vgl. Joh. Friedemann Schneider, Icon Atheorum, 1698, S. 20 ff. 1 5 9 Joh. Friedemann Schneider, Icon Atheorum, 1698, S. 4: „Ex unguibus cognoscimus leonem: Atheum ex sententiis valde frivolis." 160 So erklärte es sich Spizel, daß sein Freund Meibom auf seinen Reisen so viele Menschen als Atheisten hat erkennen können; De atheismi radice, 1666, S. 14 f. 1 3 1 Vgl. die Gemüts-Eröffnung über Großgebauer oben S. 59, Anm. 126. 155

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halt eines ganzen Buches zusammengefaßt. So heißt es zur Einstimmung in die deutsche Ausgabe von Nathanael Bacons Bekehrungsbericht: „ . . . Wer seinen glauben bloß auf die einbildung gründet / Derselb' ist eben der darinn beschriebne thor / Der frevelhafft und thumm in seinem hertzen spricht / Es wäre gar kein Gott; da ihn doch selbst die Heyden In ihrem blinden wahn von menschen unterscheiden; Im gegentheil ein Christ / der so viel würckung sieht / " — von dem sei das gar nicht zu verstehen und er fahre bald in die Hölle: „Ein schrecklich beyspiel zeigt uns dieses kleine buch / Es stelle männiglich diß bild vor sein gesichte / . . 1 6 2 . Gelegentlich wird auch ein Titelkupfer durch ein Gedicht erläutert, so etwa in der deutschen Ausgabe von Richard Bentley's Predigten über die Torheit und Unvernunft des Atheismus: „Ein Atheist, ein blinder Bauches-Knecht / Der Furien umträget im Gewissen / Tritt Gottes Wort mit Füssen Und hält die Augen zu. Darum geschieht ihm recht / daß er von Gott / deß alle Welt ist voll / Nichts sehen kan / nichts finden / fühlen / hören Und jederman doch trotzig will bethören: Es sey kein Gott. D a er doch selbst ist toll. Der wahre Christ / der treue Gottes Freund / Sieht fleißiglich hingegen in die Schrifft / Des Atheismi Gegen-Giffi: / Und bläset auff den Funcken der Natur / Die im Geschöpft den Schöpffer deutlich weiset. Ist dirs ein Ernst / zu treffen diese Spuhr / So ließ dis Buch. Der Höchste sey gepreiset!" 163 Der verzweiffeinde Atheist (1706), nicht pag. Nicht viel mehr Geist verrät einer anderen „hohen person . . . Pensee" über dieselbe Geschidite: „WEr spricht / es sey kein GOTT / kein himmel / teuffei / hölle / daß er nur leben mög fein täm'sdi in tag hinein; Der dendee nur gewiß / daß er sei ein geselle Deß / der so kläglich sdireyt für schmertz der höllen-pein." Ebd., nidit pag.

162

Hamburg 1715; vgl. Abb. 2. Ein anderes Beispiel findet sich bei Joh. Georg Leuckfeld, Der verführerische Atheisten Hauffe, 1699; vgl. Abb. 3. Hier wird allerdings audi deutlich, was Leudsfeid außer dem Atheismus anzugreifen gedenkt. Die Alle183

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Der deutschen Übersetzung von Derodons Atheismus-Widerlegung hat der Herausgeber einen Kupferstich vorangestellt, der auf eine bestimmte Passage des Buches Bezug nimmt. Denn Derodon glaubt, er habe „in der Welt dreyerley Atheisten angetroffen, nemlich spitzfündige / liederliche und einfältige" 1 6 4 . Und da sieht man sie nun in ihren modischen Kostümen, mit Dreispitz, Perücke und Pluderhose, wie sie mit einem Prediger über die im freien Raum schwebende Weltkugel diskutieren 1β5 . Nicht weniger sprechend ist der Titelkupfer in Michael Berns' „Altar der Atheisten, der Heiden und der Christen". Die drei Altäre werden abgebildet: Der der Heiden ist dem unbekannten Gott geweiht, bekrönt von den Büsten dreier antiker Gestalten; Weihrauch steigt von ihm auf. Der Altar der Atheisten trägt die Inschrift: Es ist kein Gott. Und statt des Weihrauchgefäßes sieht man auf ihm die kahle Weltkugel, auf der wiederum eine Krähe ihr Nest hat, Schlangen züngeln unter ihr hervor, und der ganze rissige Altaraufbau wird gekrönt von den Büsten der drei „Atheisten" Herbert von Cherbury, Hobbes und Spinoza. Uber beiden aber erhebt sich der Altar für den wahren Gott, um den Kruzifixus ziehen Weihrauchschwaden der Verehrung, und an der Stelle, wo bei

gorien sind so überladen und mit so vielen Bibelstellen gespickt, daß man sich da heute kaum mehr durchfindet. In dem begleitenden Gedidit heißt es: „Es ist den Menschen fest ins Herze eingeschrieben, D a ß sey ein wahrer Gott. Die Augen können sich, Wenn sie den Himmels-Lauff / und Erdkreis fleißiglich Mit seiner Zierde ansehn / in dem Erkäntnis üben . . . Ein ander H a u f e nennt und kent zwar Gottes Wesen Bios nach dem Schall und H a l l ; Doch in der Lebens T h a t Bezeugt er daß kein G o t t (er) in dem Hertzen hat / Recht auf der Schweine Arth / wenn sie den Mast auflesen . . . " . Das Gedicht kann auch mit den Titelkupfer kombiniert sein; so bei Paul Stockmann, Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, vgl. Abb. 4. 1 8 4 Die spitzfindigen „sind solche, die einen sdiarffen Verstand und eine böse Philosophie haben, und Raisons suchen, wodurch sie zu leugnen begehren, daß ein G O t t s e y . . . ; befinden sie sich nun in der Gesellschaft honnetter Leute, wissen sie sich so scheinheylig bey denjenigen zu insinuiren, so mit ihnen umgehen, und soldien ihren Gifft, womit sie angesteckt sind, ebenfalls beyzubringen." Die liederlichen Atheisten sind „gemeiniglich junge Leute von fürnehmen Familien entsprossen", die sidi von den spitzfindigen haben verführen lassen, und die einfältigen glauben zwar an einen Gott, aber nur, weil sie „solches von ihren Eltern haben sagen hören", — „weil sie von Leuten gebohren, welche einen geglaubt haben." S . 2 4 6 f F . 165 v g i . Abb. 5. In der Anmerkung auf Seite 246 teilt Wigand Kahler ausdrücklich mit: „Diese dreyerley Atheisten habe ich unter denen dreyen Personen auff dem Kupffer des Titul-Blats vorstellen wollen, als da gegen den ersten, nemlich den spitzfündigen, ein Geistlicher disputirt, und ihn auf dieses Universum, nemlich Himmel und Erde, und auf dessen Ordnung und Absichten verweiset."

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den anderen Altären die Philosophenbüsten angebracht sind, leuchten die Symbole der Dreieinigkeit auf 166 . Das Erscheinungsbild des Atheismus war nunmehr geklärt, der Gegner ausgemacht. Freilich hatte man sich dabei nur an den äußeren Symptomen dieses so ungeheuerlichen, inmitten der Christenheit aufgetauchten Phänomens orientiert. Für die philosophische und theologische Diskussion aber bedurfte es einer klaren Definition. Schließlich war es auch wesentlich, die Ursachen für das Aufkommen eines derart gefährlichen Gegners zu finden und die für die Auseinandersetzung mit ihm adäquate Ebene festzulegen.

II. Das Ringen um die Definition a)

Definitionsschwierigkeiten

Der Begriff „Atheismus" scheint sich Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts rasch als Modewort durchgesetzt zu haben; was aber besagte er genau? Christian Cölbe, einer der frühesten lutherischen Bearbeiter des Problems, teilt zu Beginn seiner Untersuchung in Klammern mit: „hoc unico enim vocabulo omnia in Religione vitia comprehendo" Μ Ein derart weit gefaßtes Verständnis konnte zur Klärung nicht beitragen. Gisbert Voetius beginnt, in dem Bewußtsein der Notwendigkeit einer möglichst klaren Definition, seine erste Disputation über den Atheismus mit der ebenfalls nicht sehr ermutigenden Feststellung: „Athei & Atheismi vox late patet: vel enim catachrestice aut aequivoce dicitur tan tum; vel revera est, idque magis aut minus." 2 Immerhin macht sie deutlich, daß das Wort sinnentfremdet verwendet werden konnte und daß man das auch empfand. 1. Der Wortgebrauch „catachrestice" Der Begriff „Atheismus" eignete sich als Schimpfwort, oder, wie man das vornehm und wissenschaftlich ausdrückte, er ließ sich „catachrestice" gebrauchen. Voetius selbst bringt einige kuriose Beispiele dafür. Daß die katholische Polemik die Protestanten in der Nähe des Atheismus ansiedeln würde, hätte man allenfalls noch erwartet 3 , daß der Begriff ш

Vgl. Abb. 6. De fulcris Atheismi in ecclesia, 1655, S. 1. Bereits Ignatius von Antiochien bezeichnete doketische Irrlehrer als άθεοι; ad Trail. 10. Vgl. A. Harnack, Der Vorwurf des Atheismus in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 1905, S. 7 f. 2 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 115. 3 Vgl. unten S. 97 f. Voetius verweist u. a. auf Possevino, Claudius de Sainctes, Mersenne, Campanella; а. а. O. S. 115. 1

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„Atheismus" eine Häresie, speziell Irrtum in der Gotteslehre, bezeichnen konnte und schließlich zu einem allgemeinen Pejorativ für Irrlehre werden würde, lag nahe 4 , und daß die Politiker, die sich notfalls über alle Grundsätze der Religion hinwegzusetzen bereit waren, von den Theologen durch den Begriff „Atheisten" geächtet werden sollten, ist verständlich 5 . D a ß jedoch katholische Autoren ihre eigenen Glaubensgenossen mit diesem Schimpfwort belegen konnten, nämlich vor allem diejenigen aus dem Bereich der französischen Kirche, „qui nutibus curiae Romanae se non manciparunt", das ist erstaunlich und zeigt, wie leichtfertig man mit dem Begriff Atheismus umging®. Beinahe wäre er noch in den diplomatischen Bereich geraten, jedenfalls soweit Theologen darin eine Rolle spielten. Voetius schreibt: „Sic Athei salutantur ab Hispanicarum partium Theologis, Galli, Veneti, omnesque alii, qui consiliis & conatibus domus Austriacae non favebant." 7 W a r man nicht treu habsburgisch, so hatte das unter Umständen bereits zur Folge, daß man von Vgl. Antonio Possevino, D e sectariorum nostri temporis Atheismis, Köln 1586. Der Lutheraner Cölbe hat dafür Verständnis und verweist auf Possevino; D e fulcris Atheismi, 1655, S. 7. Ein spätes Beispiel aus dem reformierten Raum stellt ein Buch des aus Polen stammenden und weitgereisten Nachfolgers des Coccejus in Franeker, Nikolaus Arnold ( 1 6 1 8 — 1 6 8 0 ) , dar: Atheismus Socinianus a Johanne Bidello Anglo, nuper sub specioso Scripturae titulo o b t r u s u s . . . , Franeker 1659. Der darin attackierte Bidellus redinet selbstverständlich mit der Existenz Gottes, äußert aber Zweifel an der traditionellen Lehre vom Heiligen Geist; er sieht die Behauptung der immensitas der essentia Dei als naturalistisch-pantheistisch mißdeutbar an. Demgegenüber versucht Arnold, ihm zu beweisen, „quod negatio omnipraesentiae Dei essentialis tollat Dei timorem" (S. 32), wobei er die einschlägigen Psalmenstellen (10, 14, 53, 94) dahingehend interpretiert, daß sie einen Menschen als Atheisten bezeichnen, wenn er sich Gott nicht als gegenwärtig vorstellt (vgl. Cap. I I ) . An dieser Stelle geht es also wirklich um „Atheismus"; der Begriff spielt jedoch bei Arnold keine wesentliche Rolle, sondern wird als modisches Schimpfwort verwendet. Als Beispiel aus dem lutherischen Raum ist die gegen den Heidelberger Theologen Abraham Scultetus ( 1 5 6 6 — 1 6 2 4 ) gerichtete Schrift „Scultetus Atheus", Tübingen 1620, zu nennen, in der sich der T ü binger Universitäts-Kanzler Lukas Oslander der Jüngere ( 1 5 7 1 — 1 6 3 8 ) in seinem Eifer gegen Synkretismus und Indifferentismus zu der Behauptung versteigt: „ . . . sciendum, hoc agere Calvinianos Doctores, ut Atheismum quacunque ratione in hominum implantent c o r d i b u s . . S . 7. Vgl. G. A . Benrath (Hg.), D i e Selbstbiographie des Heidelberger Theologen und Hofpredigers Abraham Scultetus ( 1 5 6 6 — 1624), Karlsruhe 1966 (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der evang. Landeskirche in Baden, Η . X X I V ) , S. 84 ff. Gegen den Vorwurf, er habe Calixt einen Atheisten gescholten, verteidigt sich Johann Hülsemann, Calixtinischer Gewissens-Wurm, Leipzig 1654, S. 1339 ff., durch eine ausführliche Definition des Begriffs „Atheismus": E r müsse sie freilich so weit fassen, daß man in gewissem Sinne Calixt doch der άθεότης bezichtigen könne! 4

Vgl. S. l l l f . ; Voetius a . a . O . S. 117. Voetius а. а. O . S. 115 f. (Lit.). 7 Ebd. S. 116. E r zitiert die Behauptung eines gewissen Jeremias Ferrier: „esse proditorem patriae suae, hypocritam, Dei & verbi divini hostem, immo impium, & Atheistam, quicunque non est catholicus status, seu catholicus politicus". Ebd. 5

6

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i r g e n d j e m a n d e m als A t h e i s t g e b r a n d m a r k t w u r d e ! I m K a m p f d e r k o n fessionellen G r u p p e n des 1 6 . u n d 1 7 . J a h r h u n d e r t s k o n n t e b e i n a h e j e d e r j e d e n als A t h e i s t e n bezeichnen, f a ß t e m a n den B e g r i f f n u r g e n ü g e n d w e i t ; v o n e i n e m b e s t i m m t e n P u n k t a n ließ sich jede H ä r e s i e als I r r t u m in d e r G o t t e s l e h r e a u s g e b e n 8 . K a u m eine d e r f ü h r e n d e n G e s t a l t e n des R e f o r m a tionsjahrhunderts

wurde

nicht i r g e n d w a n n

von

irgend jemandem

A t h e i s m u s b e z i c h t i g t 9 . D e r V e r d a c h t fiel schließlich auch a u f

des

Personen

u n d G r u p p e n der Vergangenheit10, er streifte ganze K o n t i n e n t e 1 1 . V o e tius g e h t s o g a r d e r F r a g e nach, o b nicht p r i n z i p i e l l alle M e n s c h e n a u f g r u n d der V e r d e r b l i c h k e i t ihrer N a t u r als A t h e i s t e n z u b e t r a c h t e n sind, s o f e r n sie sich noch nicht b e k e h r t h a b e n 1 2 . 2 . Der

Kampf

gegen

Fehlverdächtigungen

M i t einer d e r a r t w e i t e n D e f i n i t i o n ließ sich n a t ü r l i c h nicht a r b e i t e n . A b e r auch o h n e g e n a u z u wissen, w a s u n t e r d e m Begriff „ A t h e i s m u s " z u v e r stehen w a r ,

empfand man,

d a ß er e t w a s D i s k r i m i n i e r e n d e s h a t t e .

m e h r die A u f k l ä r u n g u n d d e r P i e t i s m u s v o r d r a n g e n , bemühte m a n zeitig mehrten warnten:

sich, solche F e h l v e r d ä c h t i g u n g e n sich die S t i m m e n ,

die v o r

desto

auszuräumen13;

neuen

Je

intensiver gleich-

Fehlverdächtigungen

„ P r o A t h e o e n i m a l i q u e m h a b e r e nihil a l i u d est, q u a m

pro

Das Labyrinth von verwirrenden Möglichkeiten wird deutlich an einer Passage aus Anton Reisers Schrift De origine . . . Atheismi, 1669, S. 231 f.: „Quum enim . . . sine aequivocatione admodum valdeque lata Atheismus intelligitur, quem Papaei strictiores laxioribus, Papaeis adeo indiscriminatim Reformati Sc hi versa vice illis, utrobique Evangelico Lutheranis non multum adeo dissentientibus, Reformati item Vorstio, Remonstratensibus & Socinianis, Sc Anabaptistis, neque hic abnuentibus Evangelico Lutheranis, impingunt, ita nullum est dubium, quin sine omni latitudine aequivocatrice Atheismum Christianis olim impactum gentiles Idolorum cultores voluerint intellectum, hodieque velint intelligi, qui Evangelico-Lutheranos ex parte Pontificiorum hoc crimine solent diffamare. Neque video, cur latius & aequivoce dicendi sint Athei, qui veram Religionem negant aut oppugnant, Sc cur non proprie Muhammedismi, Judaismi Sc Gentilismi sectatores in Atheorum censum referri possint? Quid enim aliud agere videri possunt, qui veram Religionem negant aut oppugnant, quam ut veram Dei notitiam debitumque ex ea Deo cultum animis hominum eximant prorsusque deleant, quod aequivoce saltim Sc in latiori significatione Atheismum dicere, nescio, an consultum sit." • Vgl. Spizel, Scrutinium Atheismi, 1663, S. 4 ff. 1 0 Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit der Antike, S. 114 ff. 1 1 Das geringe Maß an kultischen Formen vor allem bei den Chinesen und Indianern, wovon man gelegentlich durch Reiseberichte erfuhr, gab dazu den Anlaß. Vgl. unten S. 189 f. 1 2 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 167. 1 3 Vgl. Johann Ludwig Fabricius, Apologeticum pro genere humano, Heidelberg 1682 (es war mir leider bisher nicht zugänglich); Johann Christoph Wolf, Atheismi falso suspectos, Wittenberg 1717 2 ; Johann Georg Syrbius, De Atheismi origine, 1720, § X V I I ff. 8

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excremento generis humani eundem reputare", heißt es in einer Disputation von Joh. Ulrich Frommann14. In solchen Urteilen spiegelt sich eine gewisse, durch den aufklärerischen Zeitgeist bedingte Ängstlichkeit, man könnte intolerant erscheinen und einem sonst wirklich ehrenwerten Mann unrecht tun. Am Ende einer Zusammenstellung von „notae Atheismi" weist Gebh. Theodor Meier vorsichtig darauf hin, daß man aus ihnen nur erschließen könne, „quod est atheisticum", nicht aber, wer persönlich Atheist sei 15 . Eine ähnliche Stimmung zeigt sich bei Walch, wenn er empfiehlt, man solle nicht nur die einschlägige Literatur auf ihren wirklich „atheistischen" Gehalt hin prüfen, sondern auch genauestens untersuchen, ob ein Autor aufgrund entsprechenden Verhaltens tatsächlich als Atheist bezeichnet werden müsse 18 . Bibliander, eine der allegorischen Figuren in Immanuel Webers „Beurtheilung der Atheisterey", rät: „Man solte nicht gleidi auß jedem Paradoxo eine Atheisterey machen", da nichts leichter sei, als durch „übel connectirte Consequentien" jemanden in diesen Verdacht zu bringen 17 . Zurückhaltung ist hier mehr am Platz als Übereifer — lieber einen wirklichen Atheisten ungeschoren davonkommen lassen als einen Unschuldigen des Atheismus bezichtigen 18 ! Die ersten Christen hätten es erfahren, schreibt Gottfried Arnold, „wie leicht es sey / bey verwerffung der gemeinen meinungen in das register der Atheisten zu kommen" 1 9 . Man stellt fest, daß frühere Autoren ziemlich freigebig waren in der Verteilung des Namens „Atheist" 2 0 , und man kritisiert das: Die Definition des Begriffs Atheismus bei Mersenne21, Voetius22 oder auch Spizel23 war viel zu weit; sie umfaßt so vieles, daß der eigentliche Atheismus gar nicht 14 Atheus stultus, 1713, S. 16; vgl. Andreas Adam Hodistetter, Collegium Pufendorfianum, Tübingen 1710, S. 193. 15 Historia religionum, 1697, S. 16 f. 18 Einleitung, Teil V, 1736, VII. Kap., S. 30 f. 17 Ebd. S. 94; vgl. J. Thomasius, Historia Atheismi (1713), S. 62. 18 „ . . . Et praestat omnino nocentem in hac causa absolvere quam innocentem condemnare, uno vel altero Criterio suspectum." Reimmann, Historia universalis Atheismi, 1725, S. 18. 14 Kirchen- und Ketzerhistorie, 1699, 2. Teil, S. 598. 20 „valde liberales . . . in imponendo hoc exitioso nomine"; Johann Heinrich Foppius, De Atheismo philosophorum gentilium celebriorum, exercitatio I, Bremen 1714, S. 5. 21 Dorn, Bibliotheca theologica, 1721, S. 488. 22 Foppius a . a . O . S. 5; vgl. Weber, Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 49 f.: Voetius „menget allerley darunter / das eigentlich dahin nicht gehöret". 23 Dorn, Bibliotheca, S. 489; ebenso werden hier Reiser und Johann Müller beurteilt. Dem mit einer völlig unklaren Atheismus-Vorstellung arbeitenden Anton Reiser wirft Johann Georg Syrbius in seiner mit dem Augsburger Respondenten Städelen abgehaltenen Disputation De Atheismi origine, 1720, vor: „ . . . si verum hoc est, omnes profecto homines, per aliquod tempus saltim, si non per vitam omnem, pro atheis theoreticis habendi tandem sunt." Ebd. S. 20.

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in Sicht kommt 24 . Spener schreibt, man müsse vorsichtig sein mit Atheismus-Verdächtigungen, auch abgesehen davon, daß „christliche liebe" und das V I I I . Gebot das erfordern. „Ja wo wir anlaß geben solten, daß der name des Atheismi so vielen u. fast ieglichen irrmeinungen gegeben würde, . . . so sorge ich, es möchte der horror u. grausen, den man jetzund billich hat, wo man nur von Atheisten höret, mehr verringert, und dero sache ehe, ohne daß mans intendiret, befordert werden" 25 . Gottfried Arnold aber bringt eine eigene Vorbemerkung darüber, wer nicht als Atheist anzusprechen ist, „weil wir sonst in diesem seculo ein noch einmal so starckes register von Atheisten setzen müsten" 26 ! 3. Die Synonyma und das Erbe des 16.

Jahrhunderts

Die Definition des Begriffs „Atheismus" mußte den Theologen und Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts zugegebenermaßen schwerfallen; denn zum einen ragte er am Anfang der Debatte bei weitem nicht so markant aus der Reihe seiner damaligen Synonyma heraus wie an ihrem Ende; und zum zweiten verfügte man weder über ein Korrektiv für seine inhaltliche Füllung noch auch über ein klares Bild des Phänomens, das man durch ihn beschreiben wollte, — von den bestehenden dogmatischphilosophischen Vorurteilen ganz abgesehen. Man benannte die Vertreter des neuen Geistes nach ihren hervorstechenden Repräsentanten — „Aretini" oder Machiavellisten, nach antiken Mustern — Epikureer oder „Luciani", nach dem, was man über sie zu hören bekam — Libertiner, Neutralisten und Indifferentsten; sie selbst nannten sich „Esprits forts" oder „de Grues" 27 . In alledem verbarg sich etwas von „Atheismus", aber wie ließ sich das genauer erfassen? Hinzu kamen Namen, die zunächst nur in bestimmten Ländern Bedeutung gewannen, wie der der Deisten in Frankreich, von dem manche antiatheistische Autoren annahmen, er werde nur als besser klingender Deckname für „Atheismus" verwendet28, oder der von Johannes Musäus' „Gewissenern" 29. 24 25 28

Foppius, а. а. O. S. 5. Letzte Theol. Bedencken, 1721 2 , Teil I, Cap. II, Art. I, Sect. I V ; Bd. 1, S. 335 f. Kirchen- und Ketzerhistorie, 1699, 2. Teil, S. 598.

Vgl. S. 61, Anm. 133; eine Zusammenstellung dieser und anderer Namen bei Voetius, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 116 f. 27

28 (Scil.

Deistae) „Reipsa enim Deum tollunt, & tantum ad evitandum odiosum Atheorum nomen, sub Deistarum nomine, quod paulo mitius sonare & minori invidiae obnoxium esse illis videtur, latere volunt." Johann Ulrich Frommann, Atheus stultus, 1713, S. 9 ; vgl. Rechenberg, Fundamenta, 1708, S. 60. 2 9 Vgl. S. 105.

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In welchem Verhältnis zum Atheismus stand insbesondere der Naturalismus? War das nur der positive Komplementärbegriff von „Atheismus" 30 ? Noch Walch geht von der engen „Connexion" zwischen Atheismus, N a turalismus und Indifferentismus aus: Der Atheist wisse in seinem Herzen von keiner Religion, der Naturalist gestalte sie sich nach seiner Vernunft und dem IndifFerentisten sei sie gleichgültig 31 . Die Vergangenheit konnte zur Bestimmung des Begriffs — gleichsam abgesehen von dem durch ihn zu bezeichnenden Phänomen — kaum Schützenhilfe leisten. In der Reformationszeit wurden gelegentlich Wiedertäufer und Antitrinitarier „Atheisten" genannt; diese alte Bedeutung wirkt zuweilen nach, wird aber mit der Zeit völlig ausgeschieden 32 . 4. Die

Schriftaussagen

Es lag den Theologen natürlich nahe, an der Schrift einen Maßstab für das zu gewinnen, was sie als Atheismus anzusehen hatten. Aufgrund ihres Schriftverständnisses jedoch konnten sie nicht erkennen, daß sich das Problem, um das es ihnen ging, außerhalb des Horizonts der biblisdien Texte befand. Sie suchten nach Anspielungen auf ihre Kontrahenten, fanden aber nur Schriftstellen, die den „Gottlosen" (5?EH) des Alten Testaments betrafen, oder die Gottesferne der Heiden darstellten, bevor diese zu Christus fanden. Wenn im Buch Hiob von Leuten die Rede ist, die zu Gott sagten: „Hebe dich von uns, wir wollen von deinen Wegen nichts wissen" 33 , oder: „Was sollte der Allmächtige uns tun können?" 3 4 , so kommt das in den Augen der orthodoxen Theologen dem Benehmen der zeitgenössischen Atheisten schon beachtlich nahe. Man sieht es vorgebildet in den kühnen Reden der Gottlosen von Mal. 3 3ä , und auch das 34

Diesen Eindruck gewinnt man bei Joh. Dieckmann, D e Naturalismo . . . Bodini, Leipzig 1684. Er wendet sich gegen diejenigen, „qui naturam ultra sphaeram suae activitatis ad potentiam supernaturalem in spiritualibus, imo infinitam evehere ausi sunt"; S. 26. Aber auch in diesem Fall wird dann sofort wieder differenziert zwischen Naturalismus subtilis, crassus, crassissimus — ebd. S. 26 ff. 31 Einleitung, Teil I, 1733 3 , Kap. VII, S. 672. 32 Für Charles de Bourgueville bilden die Anabaptisten neben Naturalisten und Indifferentisten die dritte unter den Gruppen, die zusammen den Atheismus konstituieren; die ganze Frage ist hier allerdings stark auf das Problem der Unsterblichkeit der Seele ausgerichtet; L'Atheomachie, 1564, S. 7 f. Nach Voetius ist den Antitrinitariern nur „indirectus aliquis Atheismus" vorzuwerfen, der darin besteht, daß sie verkennen, „quis sit unus verus Deus"; Select. Disp., Pars I, 1648, S. 189. Vgl. ferner Joh. Georg Leuckfeld, Der verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 101 ff. 33 Hiob 2 1 , 1 4 ; Voetius а. а. О. S. 114. 34 Hiob 22, 17; Joh. Adam Oslander, Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 88. 35 Voetius а. а. O. S. 114.

73

„Buch der Weisheit weiß schon von diesen rohen Leuten zu sagen" 36 . Die Kardinalstelle, auf die man sich bezog, war natürlich Psalm 14, 1: „Die Toren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott." 3 7 Man deutete die Torheit des Toren rationalistisch als Unvernunft oder — seltener — auch theologisch als Wahn 38 , immer aber im Gegenüber zu Rom. 1 und 2, im Bewußtsein der Unentschuldbarkeit dieses widersinnigen Vergehens. Zweifellos hat Ps. 14, 1 die Vorstellung der Theologen von einem Atheisten nachhaltig geprägt, — nicht aber die Definition des Begriffs „Atheismus" geklärt. Eher Verwirrung stifteten in diesem Zusammenhang die neutestamentlichen Stellen, die man heranzog und die ausschließlich an Christus orientiert waren: Die Heiden wissen nichts von Gott (l.Thess. 4,5) 39 und dienen falschen Göttern (Gal. 4,8 f.) 40 . Ihr „Atheismus" besteht nach Auffassung der orthodoxen Exegeten nicht darin, daß sie keinen Gott anerkennen, sondern darin, daß sie nicht den wahren Gott kennen, laut Eph. 2,12, der einzigen Stelle des Neuen Testaments, an der der Begriff άθεος erscheint41. Um dieses Verständnis zu stützen, führt Johann Hülsemann zu Eph. 2,12 die Auslegungen von Tertullian, Chrysostomus, Luther, Calvin, Beza u. a. an 42 . Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht (Joh. 5,23) 43 — wer nicht in der Lehre Christi bleibt, der hat keinen Gott (2. Joh. 9) 44 . Christian Cölbe, für den alle diejenigen als Atheisten gelten, die Gott nicht haben, nicht aus Gott sind und nicht unter Gottes Herrschaft und mit seiner Hilfe leben 45 , fragt abschließend: „Nam qui Deum non habet, quomodo Atheus non sit?" 46 38 Scriver, Seelen-Schatz (1701), Teil I, Bd. 1, S. 17, mit Bezugnahme auf Sap. 2. Kortholt verweis: auf Sap. 13, 1 f.; Paganus Obtrectator, Lübedc 1703, S. 439. 37 Man verwies audi auf andere Verse dieses Psalms (4,11), auf Ps. 53, eine Dublette zu Ps. 14, sowie auf die Psalmen 10 und 94. 38 Vgl. unten S. 179 f. Johann Ulrich Frommann exegesiert den „Toren" als den, „qui neque se neque Deum agnoscit vel agnoscere vult, licet in mundanis sapientia satis instructus"; es geht dabei also gerade nicht um geistige Beschränktheit; töricht sind vielmehr diejenigen, „qui insipienter agunt in Divinis"; Atheus stultus, 1713, S. 3. Unter diesem Aspekt kann der Tor für einen pietistischen Autor zu dem Menschen werden, „qui per Spiritum Sanctum ad veram sapientiam & vitam Dei non est regenitus". Ebd. S. 4. Um eine Verhältnisbestimmung von geistiger und geistlicher Torheit hatte sich bereits Mersenne bemüht; vgl. Gn-Kommentar, 1623, Sp. 227. 39 J. A. Oslander, Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 88. 40 Kortholt, Paganus Obtrectator, Lübeck 1703, S. 439; vgl. Apg. 16, 34: Der Kerkermeister von Philippi kommt zum Glauben an Gott; Kortholt ebd. 41 Oslander, Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 91; Reiser, De o r i g i n e . . . Atheismi, 1669, S. 272 ff.; Wedderkopf, De Atheismo, 1665, S. 1. 42 Calixtinisdier Gewissens-Wurm, Leipzig 1654, S. 1341 f. 43 Wedderkopf, а. а. O. S. 1. 44 Calov, Systema, Tomus II, 1655, S. 134; Imm. Weber, Beurtheilung der Atheisterey, 1697, Vorrede (nicht pag.; 11./12. S.). 45 De fulcris Atheismi, 1655, S. 11 ff. 48 Ebd. S. 15.

74

Vielleicht wären die Autoren des 17. Jahrhunderts einer Lösung des Problems ganz nahe gekommen, wenn sie sich noch stärker durch diese Aussagen hätten bestimmen lassen, wenn ihnen Christus selbst die schlechthinnige Autorität und wenn er ihnen nicht nur Teil eines Autorität heischenden dogmatischen und metaphysischen Systems gewesen wäre. Johann Hermann Eiswich ist diesem Gedanken auf der Spur, wenn er sagt, die Heiden hätten nicht verstehen können, daß die Christen Jesus Christus für Gott hielten, und sie deswegen als Atheisten abgestempelt 47 . Statt den Befund des Neuen Testaments genauer zu durchdenken, wertete man ihn als Legitimation f ü r die ohnehin schon zu weit gefaßte Atheismus-Definition 48 . Ein beinahe rührendes Beispiel f ü r den energischen und gerade deshalb mißlungenen Versuch, aufgrund enger Anlehnung an Schriftaussagen zu einer Atheismus-Definition zu kommen, stellt das I. Kapitel in Johann Müllers „Atheismus devictus" dar 4 9 . Es ist von Schriftzitaten durchsetzt; aber gerade die enge formale Bindung an die Schrift hinderte Müller daran, das Phänomen schärfer in den Blick zu bekommen, weil die Fragestellung des 17. Jahrhunderts eben noch nicht im Blickfeld der biblisdien Bücher lag. 5. Definitionen

der Antike und der Alten

Kirche

Wenn die Schrift f ü r die Klärung des Begriffs nichts austrug, konnte man immerhin noch weitere Stimmen der Antike befragen und nach einer Definition in der klassischen griechischen Literatur oder bei den Kirchenvätern suchen. Bei Clemens Alexandrinus fand sich die eindeutige Auskunft: Atheist ist „ ό μ.ή νομίζων είναι Θεόν " 5 0 . Sie konnte sich jedoch nicht ohne weiteres durchsetzen, da sie im Kontext der altkirchlichen Auslegungen von Eph. 2, 12 stand, die denjenigen als Atheisten bezeich47

Controversiae de Atheismo recentiores, Wittenberg 1716, S. 3, unter Bezugnahme auf das Pliniusreskript: „Christo . . . ut D e o canere"! 48 Nach Durchmusterung einiger wesentlicher Schriftstellen wendet sich Gabriel Wedderkopf gegen diejenigen, „qui huius vocabuli significationem ulterius haud extendendam arbitrantur, quam naturalis conceptus prae se fert"; D e Atheismo, 1665, S. 2. Diese Stimme ist allerdings ziemlich früh; gut 30 Jahre später urteilt Imm. Weber skeptischer: Nur von Eph. 2, 12 oder 2. Joh. 9 her dürfe man den Atheismusbegriff weit fassen, nicht aber grundsätzlich; Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 24f. Er stellt damit aber auch zu seiner Zeit noch eine Ausnahme dar. *' 1672; S. 4 ff.: „Worin der Atheismus eigendlich bestehe / und wie mancherley derselbige sey." Für Müller sind Atheisten diejenigen, (1) die die Existenz Gottes leugnen, (2) die Gottes Providenz bestreiten, (3) die den wahren Gott nicht erkennen, nämlich die Heiden, (4) die von Christus nichts halten, (5) die Gott nicht so dienen, wie sein Gebot es erfordert, (6) die die Unsterblichkeit der Seele leugnen, (7) die die christliche Religion und ihre Vertreter verspotten, (8) die sich auf ihr Geld und Gut verlassen, (9) die Gott nur mit dem Munde bekennen. 50 Stromat. Lib. VII; Kortholt, Paganus Obtrectator, 1703, S. 437; Reimmann, Historia universalis Atheismi, 1725, S. 5.

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neten, „Qui Deos fictitios loco veri Numinis colit" 51 . Bei der Beschäftigung mit der Alten Kirche stieß man auf die Tatsache, daß die Christen von den Heiden als „Atheisten" beschimpft worden waren, und führte dies auf den Mangel an äußeren Kultformen und Kultbauten zurück; auch daraus ließ sich ein Wesensmerkmal des Atheismus ableiten*2. In der profanen Literatur des Altertums war die Ausbeute freilich ebenfalls gering: Reimmann, der dieser Frage einige Aufmerksamkeit zuwendet, stellt fest, in homerischen Zeiten sei der Begriff überhaupt nicht bekannt 53 ; erst vom 5. Jahrhundert an werde er häufiger, in der Zeit nämlich, in der „& nomen & omen Atheismi apud Graecos mirum quantum invaluit" 54 . Eindeutige Definitionen sind allerdings auch in der „großen" Zeit des Atheismus rar55. 6. Der

Wortsinn

Es bleibt also nur der Wortsinn des Begriffs άθεος, auf den gelegentlich verwiesen wird, ohne daß man freilich Konsequenzen daraus zieht 56 . 51

Joh. Caspar Suicer, Thesaurus ecclesiasticus, e patribus graecis..., 17463, Bd. 1, Sp. 109 f.; dort Verweis auf Theodoret, Theophylakt und Clemens Alexandrinus. 52 Vgl. Kortholt, Paganus Obtrectator, 1703, S. 405 ff., sowie unten S. 119. Weitere Stellen aus der altkirchlichen Literatur, die den Begriff Atheismus „catachrestice" gebrauchen, bei Suicer, а. а. O. Sp. 110. 53 Historia universalis Atheismi, 1725, S. 1 f.; statt dessen verweist er auf Stellen, wo etwas wie „Atheismus" der Sache nach vorkomme: Odyssee, Lib. X X I I , ν. 39, ist von Menschen die Rede οδτε Θεούς δείσαντες, οΐ ουρανί)ν εύρύν ϊχουσι; Hector gelte dem Odysseus als Atheist: ούδέ τι τίει Άνέρας ούδέ Θεούς, Lib. IX, ν. 238; vgl. die Cyclopenstelle, Lib. IX, v. 271 (vgl. dazu oben S.57f.); ebd. S.3ff. Damit lenkt er den Blick auf Wendungen, die, religionsgeschichtlich betrachtet, den aus dem Alten Testament herangezogenen Belegen entsprechen dürften: Hier wie dort geht es um die vermessene Mißachtung der Gottheit, nicht aber um die Bestreitung ihrer Existenz. 54 Von Griechenland aus habe er sich dann über ganz Europa verbreitet und dort Bürgerrecht erhalten; а. а. O. S. 2. 55 Nach Plato, Apologie 26 C, bezeichnet wohl άθεος denjenigen, „qui nullos esse Deos putat", worauf sich die orthodoxen Polemiker gelegentlich beriefen; aber sie standen stark unter dem Eindruck des Sprachgebrauchs bei Plutarch und Lucian, wo der Begriff άθεος in die Nähe des sittlich Ruchlosen gerät; vgl. Stephanus, Thesaurus Graecae Linguae, Neudruck 1954, Bd. 1, Sp. 817 f. Joh. Friedemann Schneider bringt eine Definition aus Plutarchs Schrift „de superstitione" bei: „Atheismus est Stupor quidam eorum, qui Deum non sentiunt, nec summum esse bonum agnoscunt." Icon Atheorum, 1698, S. 8. Vgl. die spärlichen weiteren Angaben im Thesaurus Linguae Latinae, Leipzig 1900, Bd. 2, s. v. „atheos", Sp. 1033 f. 59 Calvin geht offenbar vom Wortsinn aus; denn er wundert sich darüber, daß Paulus die Epheser als άθεοι bezeichnet, „quum ille proprie sit άθεος, qui nullum divinitatis sensum habet, et omne numen, qualecunque sit, ridet"; im Zusammenhang der von ihm behandelten Stelle Eph. 2,12 entschließt er sich dann aber doch für eine christologische Interpretation des Begriffs „Atheismus". Commentarius in Epistolam Pauli ad Ephesios, CR L X X I X , Sp. 169. Charles de Bourgueville schreibt am Anfang seiner Atheo-

76

Einen seltenen Fall stellt die Auskunft Joh. Barthold Niemeiers dar: „Atheum esse eum, qui negat, vel non admittit, Deum existere, ipsa vox indicat." 5 7 h) Die

Distinktionsschemata

Da sich eine scharfe Definition des Begriffs „Atheismus" nicht finden ließ, mußte man versuchen, durch Distinktionen näher an das Problem heranzukommen. Mindestens zu Beginn der Auseinandersetzung wurde das nicht als Nachteil empfunden, denn an der scholastischen Methode geschult, arbeitete man ja auch sonst nicht mit eindeutig bestimmten Einzelbegriffen, sondern mit Begriffspaaren, deren Glieder sich gegenseitig erläuterten und durch immer neue Distinktionen näher bestimmt werden konnten. Dadurch entstand ein Begriffssystem, das man einem Mobile vergleichen könnte und das alle Spannungen und Differenziertheiten anzugeben in der Lage war. Welche negativen Begleiterscheinungen das immer haben mochte: Angesichts des Atheismus-Problems schien es am Platze zu sein; denn man empfand sich einer Vielzahl von untereinander abgestuften Gruppen und Parteien gegenüber, die man nicht auf einen Nenner zu bringen vermochte, an denen man aber doch etwas allen Gemeinsames beobachtete, eben das, was man „Atheismus" nannte. Ganz zu Beginn der Diskussion schreibt Wilhelm Damasus Lindt: „Istius Atheismi abominandaeque impietatis quot habeat factiones Diabolus, difficillimum fuerit affirmare." 5 8 Die Theologen der kommenden eineinhalb Jahrhunderte haben sich dieser Schwierigkeit nicht versagt; denn nur ihre Lösung konnte die Möglichkeit einer wirkungsvollen Gegenargumentation eröffnen. 1. Voetius und spätere

Distinktionsschemata

Die Distinktionsschemata zum Atheismusproblem gehen nahezu alle auf Voetius zurück und halten sich, von einigen Modifizierungen abgesehen, in ihren wesentlichen Punkten bis zum Ende der Auseinandersetzung durch 59 . Die Grunddistinktion, von der Voetius in seiner ersten Atheismusmachie, 1564, S. 6: „ A T H E O S est un terme Grec, lequel tourne en Franjois vault autant ä dire comme un homme qui ne cognoist Dieu, infidele, ignorant, ou deniant Dieu, qu'on appelle Atheiste, ou denie-Dieu." Aber er rechnet dann doch Naturalisten, Indifferentisten und sogar Anabaptisten zu den Atheisten, ebd. S. 7 f. Reimmann verweist auf das ά-privativum und erklärt die Wortbildung analog zu „amens"; Historia universalis Atheismi, 1725, S. 2 f. 57 De Atheismi eversione, Pars prior, 1689, § X X I V . 58 Dubitantius, 1565, S. 233. 59 Ein Schema, das dem Voet'schen sehr ähnlich ist, sich aber nicht durchsetzen konnte, bietet Johann Gerhard an. Er unterscheidet zwei Klasssen von Gottesleugnern: „quidam enim id negant immediate, idque vel directe.. . (wie Diagoras u. a.). Vel

77

Disputation ausgeht, spielt allerdings bereits in der zweiten Disputation keine Rolle mehr, weil sie sich als unwesentlich herausstellt: Sie unterscheidet zwischen „Atheismus proprius" und „participatus" und betrifft damit mehr den „Atheisten" als den „Atheismus" e o . Der eigentliche Atheismus jedoch zerfällt f ü r Voetius in einen „direkten" und in einen „indirekten". Der direkte ist die schlimmste Stufe: „cum quis omnem cognitionem, sensum & fidem numinis, in corde suo quantum in se est exstinguere conatur; adeo ut άπιστίαν contendat, immo ad eam aliquando pervenisse & sibi & alliis persuasum velit" β 1 . Demgegenüber besteht der indirekte Atheismus darin, daß jemand aufgrund einer falschen Anschauung „per necessariam consequentiam" zur Leugnung der Existenz Gottes geführt wird, und das wiederum kann auf praktischem oder theoretischem Wege geschehen. Als Vertreter des „praktischen" Atheismus werden diejenigen bezeichnet, die den äußeren Gottesdienst ablehnen (dazu gehören neben den „Epicurei" auch die Enthusiasten), die eine Religion pro forma bekennen, aber sie nur sehr nachlässig ausüben, und diejenigen, die durch ihr Reden und Verhalten zeigen, daß sie nicht ernstlich mit der Existenz eines Gottes rechnen. Hierher zu rechnen sind natürlich die Neutralisten, Indifferentsten, Machiavellisten und ähnliche Leute. „Adde gulae mancipia, quorum Deus v e n t e r . . . " , die nach dem Motto leben: Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot 8 2 . Hinsichtlich des theoretischen Atheismus differenziert Voet zwischen zwei Graden: „primarius" und „secundarius". Der erste Grad liegt vor, wenn die Gottesleugnung in unmittelbarer Konsequenz aus einer Fehlmeinung folgt, „ex. gr. si quis neget omnem Dei providentiam, is proxima Sc immediata consequentia negat Deum" 6 3 . Dieser Gesichtspunkt gibt jedoch erheblichen Spielraum; er läßt sich sowohl bei Bestreitung anderer Attribute Gottes — wie der Gerechtigkeit oder der Allwissenheit — zur Geltung bringen wie auch bei der Bestreitung der Schriftautorität, so jedenfalls nach Auffassung. Voets. Den zweiten Grad sieht er gegeben, wenn die Konsequenz „non tarn proxima & evidens" erscheint, etwa bei Irroblique . . . (wie Protagoras und andere A g n o s t i k e r ) . . . Quidam vero mediate et indirecte Deum n e g a n t . . . " , — nämlich die Bestreiter der Providenz. Vgl. Loci theologici, ed. Preuss, Berlin 1863, Bd. 1, S. 267. 60 Voetius, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 117 f. Den „Atheismus participatus" beschreibt er folgendermaßen: „quando quis consilio, permissione, imperio, aut quocunque alio modo, quo quis particeps fit alieni peccati, atheismum promovet. Excellit autem inter alios ille modus, quando quis curiosis & malesanis disputationibus contra proprium sensum alteri persuadet Atheismum, idque ut aliquid ab aliis impetret, quod alio modo se non posse consequi cedit; aut ut subtilis, doctus & disertus supra alios appareat." S. 118. Obwohl sich Voetius der Problematik dessen bewußt ist, bereits in diesem Fall von Atheismus zu sprechen, trifft er die Distinktion in Analogie zu „idolatria aut Magia participata", ebd. S. 118. 111 62 63 A . a . O . S. 118. S. 119. S. 119 f.

78

lehren hinsichtlich der Weise der immensitas Dei oder der Unsterblichkeit der Seele 64 . In seiner zweiten Disputation fächert Voetius dann audi den direkten Atheismus noch auf in einen, der sich in Widerspruch und Leugnung nach außen zeigt, und einen, der in innerer Unwissenheit, Unsicherheit und Zweifel besteht 65 . Nimmt man alle Bestimmungen und Differenzierungen zusammen, so ergibt sich folgendes Schema 66 : contradictio externe

participatus

negatio directus

Atheismus

interne

proprius

practicus indirectus

ignorantia dubitatio opinio certitudinis affectatio Primarius

theoreticus secundarius

Wie wenig grundsätzlich und „weichenstellend" es gemeint war, zeigt sich daran, daß Voetius gleich im Ansdiluß daran weitere Distinktionsschemata vorschlägt 67 . Er sieht allein vier Möglichkeiten, die Distinktion „Atheismus directus / indirectus" anders aufzuteilen und zwar: (1) „Ex causis": Manche Menschen gelangen aufgrund ihrer Lebensführung, manche durch den Einfluß von anderen oder von Gruppen, manche durch bloße Neugier oder durch ihren Ehrgeiz zum Atheismus. (2) „Ex subjecto": Manche Atheisten sind „magis theoretici" — wie Ärzte, Philosophen, Rhetoren, Dichter, Grammatiker, Mathematiker — andere wieder „magis practici", wie Politiker, Juristen, Militärs, Kirchenführer® 8 . (3) „Ex adjunctis, statibus & vocationibus hominum". (4) „Ex quantitate 65 ·« S. 120. S. 142 f. ββ Es wird vereinfacht abgedruckt ebd. S. 142. Spätere Generationen hatten für diese Art von Systematik nicht mehr viel übrig und machten durch ihre Kritik auch auf die echten Schwierigkeiten einer solch umfassenden Definition aufmerksam. J. Thomasius, Historia Atheismi (1713), S. 65, schreibt: „Apud Voetium tot divisiones, subdivisiones, tot gradus Atheismi, atque species, ut omnes mortales in una harum classe vel altera tantum non recensendi veniant." Vgl. oben S. 71 f. · ' S. 120 ff. 68 Interessante Aufzählung von Berufen, die man für besonders vom Atheismus bedroht hielt!

79

tum intensive tum extensive": D e r Atheismus ist bei seinen verschiedenen Vertretern sehr unterschiedlich ausgeprägt 6 9 . A u ß e r d e m k ö n n t e V o e t sich denken, daß m a n unterscheidet zwischen Atheismus „crassus", „subtilis & palliatus" und „subtilissimus": D e r krasse Atheismus bestünde dann in der groben Leugnung der Existenz und P r o v i d e n z Gottes sowie in der Verweigerung des Kults: „ H u e refer brutalem rerum divinarum ignorantiam; adhaec cyclopicum ac ferocem contemtum" 7 0 . Bei dem „verdeckten" Atheismus ließen sich auch Juden und Mohammedaner unterbringen; der „subtilissimus" Atheismus müßte freilich in weitere „Atheismen" differenziert w e r d e n 7 1 : athei externi s. orales

collective considera" — P « modum sectae singulatim conside, rati —• Einzelirrtümer

athei secreti & interni

formati & cum victoria informes & absque . victoria

indirectus Atheismus subtilissimus partieipatus

Trotz dieser reichen A u s w a h l an Möglichkeiten hatte nur das erste Voetsche Schema Zukunft. N e b e n seiner Kompliziertheit u n d Dehnbarkeit ließ an ihm freilich v o r allem die Einordnung des „praktischen" 69 „Sic alii sunt Athei in fieri, alii in facto esse; alii integri & perfecti, seu totales, alii partiales..., alii magis verecundi aut moderati, alii aperti, audaces & graviter nequam; alii ductores & seductores, alii seducti; alii specie & simulatione religionis aut sectae alicujus peculiaris, alii absque ulla tali palliatione; Alii qui nominatim & perpetuo in impugnatione hujus aut illius articuli..., alii contra universaliter rerum divinarum & naturalium τό άγνωστόν praetendunt." S. 121. 70 S. 122. 71 S. 122 f. Hier wird noch einmal eine ausführliche Beschreibung des Atheismus participatus vorgetragen: „Qui causam veritatis & pietatis male agendo, aut non bene agendo sive prudentes sive imprudentes atheismum promovent, atheismi suo modo participes fiunt: non minus ac medicus... laesae sanitatis ac vitae reus est, quamvis non volens & sciens, sed per meram ignorantiam & άπειρίαν ferociter contemtis tritis aliorum consiliis ac remediis, novam ac periculosam medendi methodum praeter & contra artem secutus, homines perdiderit." S. 125. Diese Passage könnte auf Descartes anspielen, vgl. oben S. 22. Formal ähnlich differenziert Christian Cölbe „inter bina ea Atheorum crassiorum subtiliorumve genera"; De fulcris Atheismi, 1655, S. 10. Erstere gibt es nach seinem Verständnis innerhalb der Kirche nicht; deswegen konzentriert er sich ganz auf die Darstellung der letzteren Arten von Atheismus: „ . . . dimisso tarnen illo, vulgo sie dicto, Atheismo, in quem Ethnici plerique ruerunt praeeipites, de eo nunc perquam subtili, & in Ecclesia DEI obversante, atque in nullis non haeresibus exstante Atheismo, illiusque hinc inde conquisitis fulcris, ut, in pauca tarnen tractationis puneta, rem totam contraham, meum erit." Ebd. S. 21.

80

A t h e i s m u s u n b e f r i e d i g t . D a s e m p f a n d z u e r s t Calov: die

Unterscheidung

distinktion

„Atheismus

practicus

/

Er machte d e s w e g e n

theoreticus"

u n d ließ alle übrigen Bestimmungen,

zur

d i e er e t w a s

Grundverein-

f a c h t e , v o n i h r e m z w e i t e n G l i e d a b h ä n g e n . D a d u r c h e r g a b sich f o l g e n d e s Schema72: externus directus internus

practicus proprius

Atheismus theoreticus

/ disputantium l negantium

I

ignorantium dubitantium opinantium

Deisten Epicuraei Luciani Beza indifferentes*

indirectus (interpretativus) participatus

* (Libertiner, Machiavellisten, N e u t r a l e s , Ecebolii, V e r t u m n i , Samaritani. Sceptici, Politici) 7 3

Hermaphroditae,

D i e D i s t i n k t i o n „Atheismus proprius / participatus" entfiel zunächst. Z u eigenartigem

Nachleben

wurde

sie,

allerdings

wohl

ohne

sich d e s s e n b e w u ß t w a r , z u e i n e r Z e i t e r w e c k t , i n d e r d e r längst

über

die Sphäre

grundsätzlicher

Entscheidung

daß

man

Atheismus

hinausgewachsen

w a r . D a s G e s e t z d e r „ z w e i t e n G e n e r a t i o n " , d i e d i e E n t s c h e i d u n g e n der V ä t e r nicht m e h r i m eigenen R i n g e n g e w i n n t , sondern ererbt, gilt o f f e n -

' 2 Systema, Tomus 2, 1655, S. 132 f. O h n e Abstriche übernimmt dagegen das Voet'sche Schema Joh. Hülsemann, Calixtinischer Gewissens-Wurm, Leipzig 1654, S. 1349. 73 Zur Erklärung der in dem Schema auftauchenden N a m e n : Die Deisten gelten in diesem Zusammenhang als Leugner der Providenz, die Epikureer als Bestreiter der Unsterblichkeit, die „Luciani" als die Spötter über jedwede Religion. Beza hatte vor allem in katholischen u n d lutherischen Kreisen den Ruf eines ganz schlimmen Häretikers und Spötters, vgl. P. Stockmann, Elucidarius haeresium, 1697 2 , S. 110 f., sowie S. 98 unten. Die „indifferentes" w u r d e n mit den verschiedensten N a m e n belegt: Die Bezeichnung „Vertumni" bezieht sich auf den römischen G o t t Vertumnus, den Gott der sich wandelnden Jahreszeiten und des Wandels überhaupt; vgl. PaulyWissowa, II. Reihe, 16. H a l b b a n d , Sp. 1679 ff. Den „Pseudo-Politikern" werfen die orthodoxen Theologen beispielsweise vor, sie wechselten ihre Rollen wie in der K o mödie je nach B e d a r f ; vgl. Spizel, D e Atheismi radice, 1666, S. 28. Der N a m e „ H e r m a p h r o d i t a e " möchte als Hinweis auf die androgyne Zwittergestalt des H e r m a phroditos etwas Ähnliches zum Ausdrude bringen; vgl. Pauly-Wissowa, Bd. X V , Sp. 714 ff. Zu den übrigen N a m e n vgl. S. 72 f. Solche mehr oder weniger glücklichen Deskriptionsversuche sind Anzeichen f ü r die Hilflosigkeit der zeitgenössischen Theologie, mit dem Phänomen der Moderne fertig zu werden. Die Einordnung in längst vorhandene Begriffe der Bibel bzw. der Antike gibt eine erste Basis d a f ü r ab, die neuen Bewegungen geistig in den Griff zu bekommen. 81

bar auch für den Atheismus. Deswegen differenzieren viele Autoren von der Wende zum 18. Jahrhundert an zwischen Atheisten, die „wissentliche und vorbedachtsame" -Э-εομάχοι, und anderen, die nur „unwissend und unbedachtsam" sind 74 . „Einige sind muthwillige Atheisten / andere nicht", schreibt Christian Breithaupt, ein Nachzügler der Atheismus-Diskussion; diese letzteren seien nur durch den bösen Geist und eigentlich wider ihren Willen auf atheistische Gedanken verfallen 75 . Joh. Ulrich Frommann sieht neben den Atheisten, die, von Gott verlassen und unter dem Einfluß des Teufels stehend, wirklich Gottes Existenz bestreiten, andere, die aus Trägheit oder opportunistischen Gründen den Atheismus vertreten 76 . Für die Erkenntnis, was Atheismus eigentlich sei, konnte diese Unterscheidung freilich nichts austragen. Als Grundelemente der Definition des Atheismusbegriffs blieben bis ans Ende der Debatte bestehen die Voetschen Distinktionen zwischen „praktischem" und „theoretischem" und zwischen „direktem" und „indirektem" Atheismus. Spizel77 und Sebastian Niemann78 gehen in enger Anlehnung an Voetius vor. Johann Adam Oslander ist sich zwar über die Vielfalt der Atheisten im klaren 79 , glaubt aber doch die „Athei speculative tales" als geschlossene Gruppe verstehen zu können, die er von den „praktischen" Atheisten absetzt 80 . Grapius arbeitet sich durch die Distinktionen „theoreticus / practicus" und „directus / indirectus" an die Gruppe heran, um die es ihm geht: die „Athei theoretici directi" 81 . Die Einzelelemente des Voetschen Schemas sind allenthalben bekannt und finden überall Verwendung; man fügt sie nach Belieben zusammen; bei Johann Georg Syrbius, dem wohl letzten, der sich um die Erstellung eines solch komplizierten Distinktionsschemas bemüht, nimmt das geradezu die Form einer intellektuellen Spielerei an. Er geht von der Unterscheidung zwischen praktischem und theoretischem Atheismus aus, mischt aber die 7 4 Undereyck, Der närrische Atheist (1722 2 ), S. 13 fi. Die zweite Gruppe berührt sich für ihn allerdings mit dem „praktischen Atheismus". 7 5 Zufällige Gedancken, Helmstedt 1732, S. 7. Ähnlich Weber, Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 2 9 f. 7« Atheus stultus, 1713, S. 10 f. 7 7 Scrutinium Atheismi, 1663, S. 11 f. 7 8 Atheus refutatus, 1668, th. VIII. 70 „ . . . m a g n a occurrit Atheorum varietas"; Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 89. 8,1 Ebd. S. 90 ff. 8 1 Theologia recens controversa (1710 2 ), Cap. I, Qu. VI, S. 27 f. Beim direkten Atheismus unterscheidet er ferner zwischen „per ignorantiam invincibilem, vel vincibilem talem", sowie zwischen einem „affektierten" und einem wirklichen Atheismus; ebd.

82

Elemente der verschiedenen Voetschen Schemata und kommt dabei zu folgendem Bild 8 2 :

practicus

e securitate respectu originis ·{ eximpatientia et suspicione directus respectu formae / l r e I indirectus indi

Gradus: crassior / subtilior

Atheismus

theoreticus

externe &

apertus & professus

interne

dissimulatus & occultus

Inzwischen hatte allerdings Budde dem System eine neue Note gegeben, die noch mehr deskriptiver Art war. Unter der Überschrift „Atheismus quid et quotuplex" geht auch er von der Unterscheidung zwischen „Atheismus practicus" und „Atheismus theoreticus" aus, differenziert bei diesem allerdings zwischen „theoreticus rudior" — also dem „PopularAtheismus" des beginnenden 18. Jahrhunderts — und „philosophicus", beim „philosophischen" Atheismus zwischen einem skeptischen und einem dogmatischen, und letzteren teilt er auf in Atheismus Aristotelicus, Stoicus, Epicuraeus und Spinozianus. Schematisch dargestellt sieht das so aus f practicus rudior

Atheismus theoreticus

scepticus philosophicus dogmaticus

2. Die Distinktion

Aristotelicus Stoicus Epicuraeus Spinozianus

„Atheismus practicus / theoreticus"

Eigenartig ist, daß Voetius mit einem Griff eine Distinktion gefunden hat, die für ein Jahrhundert bestimmend bleiben sollte, eben die von De Atheismi origine, 1720, S. 7 ff. Theses, 1717, Cap. II, § 6 ff. Diese von Ralph Cudworth stammende Rückführung des dogmatischen Atheismus auf vier Grundtypen hat sich dann bei den späteren Autoren durchgesetzt; vgl. Joachim Lange, Caussa Dei et religionis naturalis, 1723, S. 33 ff. (dort noch ausgebaut); Walch, Einleitung, Teil I, 1733 3 , S. 676 ff. Siehe unten S. 94 f. 82

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„praktischem" und „theoretischem" Atheismus 84 . Sie hat allen protestantischen Autoren auf Anhieb eingeleuchtet und mit dem Zunehmen der pietistischen Kritik noch besonders engagierte Fürsprecher gefunden. Offenbar war es den Zeitgenossen klar, daß der Glaube eine „theoretische" und eine „praktische" Seite hat: Entsprechend mußte es sich beim Unglauben verhalten. Aber nicht Luthers Bewußtsein „tota nostra operacio confessio est"®5 steht hier Pate, sondern die scholastische — und das heißt in diesem Falle: rationalistische Trennung von „intellectus" und „voluntas". Voetius diskutiert ausführlich die Frage, ob die Unterscheidung von „Atheismus practicus" und „Atheismus theoreticus" gerechtfertigt sei. Er beruft sich dabei auf „die Scholastiker" sowie speziell auf Thomas von Aquin 8 6 , weiter auf die Distinktion zwischen „idolatria speculativa" und „practica", die er ebenfalls auf die Häresie zu übertragen versucht, gestützt auf einen Ausspruch Augustins: „Haereticus disputat contra fidem, malus Christianus vivit contra fidem." 8 7 So problematisch diese letzten Manöver auch sein mögen, sie entsprechen dem Bedürfnis, Dinge des Glaubens, des Mißglaubens und des Unglaubens in das Verhältnis von „Theorie und Praxis" einzuordnen, wie es besonders bei den reformierten Theologen vorlag. Die Durchsetzung der Distinktion „Atheismus theoreticus / practicus" war für die philosophische Diskussion gewiß wünschenswert. Im Rahmen der theologischen Auseinandersetzung bedeutete sie eine Überfremdung des lutherischen Ansatzes, der die Theologie als „praktische Wissenschaft" verstanden wissen wollte und von dem aus eine Trennung zwischen „theoretischer" und „praktischer" Gottesunkenntnis unmöglich geworden wäre®8. Selbstverständlich sieht man von Anfang an eine starke Wechselwirkung zwischen den beiden „Atheismen": Der „praktische" setzt eine falsche Theorie voraus, und die falsche Theorie führt zu einer verkehrten Praxis®9. Beide Auffassungen fanden eifrige Verfechter; die einen malten 8 4 V g l . Spizel, Scrutinium Atheismi, 1663, S. 12 f. (in starker Anlehnung an Voet'sche F o r m u l i e r u n g e n ) ; v a g e bleibt sie freilich i m m e r ; vgl. G r a p i u s , T h e o l o g i a recens controversa (1710 2 ), S. 2 8 : „ Q u a n d o itaque magis in v e r b o r u m negatione consistit Atheismus, tum v o c a t u r theoreticus, q u a n d o vero magis in vitae p r a v i t a t e , vocatur practicus." 8 5 W A 57c, 137, 5 (Hebräerbrief-Vorlesung). 8 6 Select. Disp., P a r s I, 1648, S. 166 f. 8 7 E b d . S. 166. 8 8 Z u m scholastischen H i n t e r g r u n d und zur zeitgenössischen Auseinandersetzung über den praktischen b z w . theoretischen C h a r a k t e r der Theologie vgl. E . Weber, D e r Einfluß der protestantischen Schulphilosophie auf die orthodox-lutherische D o g m a t i k , Leipzig 1908, S. 37 ff. 8 9 „ S i c nullus est practicus Atheismus, qui non p r a e s u p p o n a t a l i q u a m corruptionem theoriae seu judicii mentis; & nullus speculativus, qui non p r o c e d a t a d corruptionem p r a x e o s ; sunt enim sibi mutuo c a u s a e ; p r o u t in aliis omnibus intellectus & v o l u n t a s . . . " ; Voet, а. а. O . S. 166.

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grauenhafte Zukunftsbilder an die Wand und sahen furchtbare Konsequenzen f ü r Staat und Gesellschaft voraus f ü r den Fall, daß atheistische Theorien weiter um sich greifen sollten 90 ; die anderen, die unter dem Eindruck von Rom. 1 f. die Existenz von theoretischen Atheisten ohnehin für fraglich hielten, und vor allem diejenigen, die von der pietistischen Kritik angehaucht waren, sahen in der „That-Atheisterey" die Wurzel allen Übels 91 . Für Syrbius ist der theoretische Atheismus die zur Lehre erhobene „impietas"; die faktische Gottesleugnung verdirbt audi das theoretische Nachdenken über Gott 9 2 . „Dieser atheismus theoreticus ist endlich die betrübte frucht des practici, und eines der letzten gerichte des erzürnten Gottes" 9 3 , klagt Spener. Obwohl der theoretische Atheismus dabei gelegentlich noch als Steigerung des praktischen zu stehen kam, konnte auch in dieser Sicht der „Atheismus practicus" ein bedrohliches und die saubere Diskussion störendes Ubergewicht bekommen. Schon Voetius beruft sich auf die zahllosen Klagen der Prediger — im Lauf der Zeit sollten sie noch zunehmen. Die „Lebens-Atheisten" seien den „LehrAtheisten" gegenüber weit in der Uberzahl, klagt Immanuel Weber, diese Art von Atheismus sei heute „durch offenbahren und allgemeinen Gebrauch gleichsam privilegiret" 9 4 . Heinrich Schmettau äußert sich in seiner „Vorrede von dem Atheismo" in der gleichen Richtung: Man brauche kaum über die Gasse zu gehen, da gellten einem schon die Ohren von Fluchen, Lästern, Schwören und „ S c h a n d i r e n " 9 5 . . . O b dem nun so war oder nicht — jedenfalls ließ sich durch Einbeziehung eines so beschaffenen „Atheismus" die Definition des eigentlichen, theoretischen Atheismus im heutigen Sinn nicht vorantreiben. Trotzdem konnten die protestantischen Theologen des 17. Jahrhunderts nicht von dem absehen, was ihnen tagtäglich an Gleichgültigkeit gegenüber Gott begegnete, besonders die vom Pietismus erfaßten nicht. So geht es Johann Georg Leuckfeld um „solche Persohnen, die da gantz ohne Gott in der Welt dahin gehen" ββ . 90

Vgl. unten S. 137 ff. Vgl. Leuckfeld, Der verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 114 ff.; P. Stockmann, Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, Vorrede (Anfang). D a die Gotteserkenntnis dem Menschen allzutief eingewurzelt ist, so argumentiert Undereyck, schafft sich der Teufel „praktische" Atheisten, die ohne Gott leben — vielleicht sogar unter dem Schein der Frömmigkeit; Der närrische Atheist (1722 2 ), Widmung (nicht pag.; 37.—39. S.). 92 De Atheismi origine, 1720, S. 7 f. Der Atheismus theoreticus wird daher beschränkt auf „atheismum docere", ebd. S. 8. Gleichwohl sieht Syrbius auch grundsätzlich die Zusammenhänge, ebd. S. 9 f.: „Quamvis igitur toto coelo differat atheismus theoreticus a practico, permagna tarnen utriusque cognatio est, ut non solum utrumque genus simul impiorum inficere possit animos, sed et unum ab altero ducat originem." 93 Theologische Bedencken (1712 ff.), Teil III, Cap. VI, Art. I, Dist. III, Sect. X X I I X , S. 452. 94 Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 147 f. 95 In: Matthaeus Haie, Der erste Anfang . . ., 1685; nicht pag. 96 Der verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 55 f. 81

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Es fragt sich auch, ob unsere heutige Atheismus-Definition mit der Eliminierung dieses Faktors nicht ein wenigstens f ü r die theologische Diskussion wesentliches Moment verloren hat. 3. Die Distinktion

„Atheismus directus / indirectus"

Die zweite Grunddistinktion, die im Anschluß an Voetius unzählige Male wiederholt wurde, war wohl eher eine Verlegenheitslösung, nämlich die von „Atheismus directus" und „indirectus". Was „indirekter Atheismus" war, blieb auch nach der Ausscheidung des „praktischen" 97 durch Calov reichlich unklar. Wohl konnte man sich darauf einigen, daß indirekter Atheismus dann vorlag, wenn jemand „mediate, mediante periculoso quodam dogmate" Gottes Existenz bestritt 9 8 oder „per necessariam consequentiam" zur Leugnung Gottes geführt wurde 9 9 . Wie aber hatte man die Schlüssigkeit der Folge zu beurteilen? Das Problem war nur um eine logische Stufe verschoben, denn nun stand die „consequentia" zur Debatte, „an sit remota, remotior, remotissima, an prona pronior, pronissima; an mediata, an immediata; an necessaria, an non necessaria; an evidens, an obscurior &c." 10°. Calov hatte noch den ganzen Schwärm aufklärerischer Gruppen im Begriff „atheismus indirectus" untergebracht 101 ; für Samuel Biermann gehörten selbst die „Antiscripturarii" indirekt zum Atheismus 102 , wohingegen Joh. Christoph Wolf die Legitimität des Schlusses auf Atheismus über die Konsequenz grundsätzlich bestreitet; es sei nicht erlaubt, „ex conceptu vel imperfecto, vel objecto prorsus non respondente, ad ipsam obiecti negationem argumentari" — wo solle man sonst die ungebildete Masse des Volkes einordnen, die mit völlig inadäquaten philosophischen Begriffen arbeite 103 ! Die Argumentation mit der Konsequenz eröffnet die Möglichkeit, mindestens den „Atheismus indirectus" so weit zu fassen, wie es dem jeweiligen Autor beliebt. Um zu größerer Klarheit zu kommen, geben deswegen manche Apologeten in einer Art Verzweiflungstat an, was alles nicht zum Atheismus gehört 104 . 87

88 Vgl. oben S. 80 f. Grapius, Theologia recens controversa (1710 2 ), S. 27. Voet, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 119. — Budde ersetzt die Distinktion „Atheismus directus / indirectus", ändert damit aber nichts an der Sache: Nach seiner Definition lehnen die „athei primi ordinis" die Existenz Gottes ab, während die „athei secundi ordinis" ein „systema" konstruieren, „quod, si non directe, saltem per consequentiam quandam, aut a creatione ac gubernatione mundi Deum removet, aut eum omni übertäte privat, vel omnino cum natura ipsa c o n f u n d i t . . T h e s e s , Vorrede (nicht pag.; 17./18. S.). 100 101 Meier, Historia religionum, 1697, S. 13 f. Vgl. oben S. 81. 102 Impietas Atheistica, 1717 (!), S. 13; vgl. ab S. 9. 108 Atheismi falso suspectos..., (1717 2 ), S. 8. 104 Immanuel Weber führt aus, daß nicht für Atheisten zu halten seien Bestreiter der Trinität, Spötter über die Bibel, „geistliche Wetterhähne", die oft ihre Konfession 98

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4. Distinktionsvorschlage

neben

Voetius

Trotz der Schwierigkeiten im Definitionssystem des Voetius hat man keine echten Alternativlösungen gefunden. Die wenigen Vorschläge, die ζ. T. vor ihm, ζ. T. neben ihm gemacht worden sind, lassen sich entweder auf die Distinktion „Atheismus directus / indirectus" zurückführen, oder sie waren von vornherein so breit angelegt, daß sie nicht zur BegrifFsklärung beitragen konnten. Um die Vielgestaltigkeit des Atheismus einigermaßen in den Griff zu bekommen, hatte man zunächst versucht, Einteilungsschemata zu gewinnen, die dann notwendig den Charakter von Definitionen annahmen und sich weiter differenzieren ließen. Das wohl früheste entstammt der Erklärung Bezas von Eph. 2, 12: Er nennt drei Gruppen von Atheisten, nämlich diejenigen, die überhaupt keinen Gott anerkennen, zweitens die, die falsche Götter statt des wahren Gottes verehren, und zum dritten die, die den richtigen Gott anerkennen, aber in der Weise, wie sie sich ihn vorstellen 105 . Diese Gliederung wird leicht modifiziert von Joh. Gerh. Vossius, dem das Problem allerdings von der Themastellung seines Buches „De Theologia Gentilium" 1 0 8 nicht sehr nahe liegt. Alle Abweichungen von der rechten Religion sind für ihn Aberglaube oder Atheismus 107 . Entspredaend weit gefaßt muß bei ihm die allgemeine Atheismus-Definition ausfallen 108 ; er beschreibt vier Arten der άθ-εότης, „aliud alio nequius": Die erste besteht darin, daß man Gottes Existenz leugnet, die zweite darin, daß man sich allenfalls vor Gott als dem Stärkeren beugt, aber nichts von ihm erwartet; die dritte Art besteht darin, daß man sich Gott als über die Probleme der Menschen erhaben vorstellt, also die Providenz leugnet, und die vierte Art von Atheismus sieht Vossius darin, daß man Gott nur um eigener Ziele willen verehrt nach dem Motto: Do, ut des 109 . Bei dieser Anlage der Definition wechseln, Bestreiter der E x i s t e n z von Engeln und Gespenstern, B e k ä m p f e r des Atheismus wie Descartes (hierin ist sich Weber allerdings nicht g a n z sicher), Politiker, die den G l a u b e n im Interesse der S t a a t s r ä s o n mißbrauchen, obwohl Machiavelli dennoch indirekten Atheismus p r o p a g i e r e ; Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 31 ff. 1 0 5 Zitiert u. a. bei J o h . Christoph W o l f , Atheismi f a l s o suspectos (1717 2 ), S. 6. 1 0 6 H i e r zitiert nach der A u s g a b e A m s t e r d a m 1668. 1 0 7 N ä m l i c h Versündigung „vel defectu, qui est divini numinis contemtus; vel excessu ejus, qui est D e i cultus superfluo q u o d a m v i t i a t u s . " S. 8 f. 1 0 8 " Ά θ ε ό τ η ς igitur dicitur nobis, q u a n d o c u n q u e non agnoscitur D e u s , & Providentia ejus erga singulos, & in hac vita, & f u t u r a . " S. 9. 1 0 9 „ P r i m o committitur illa, siquis eo furoris deveniat, ut, ad tempus saltern, q u i a non videt D e u m , eo in a n i m u m suum inducere possit, nec esse D e u m . D e i n d e si non colitur, vel saltem nonnisi ob n a t u r a m p r a e s t a n t e m ; non vero, quia quis o p e m a b eo, vel g r a t i a m exspectet; q u i p p e qui neminem amet, neminem c u r e t . . . E x i n d e si existimeretur . . . Deos caelestes de procerum rebus laborare, non spectare illas homull o r u m . . . Denique si Deus solum colatur, ut remunerator in hac v i t a : q u a e S a d d u c a e o r u m mens e r a t " ; S. 9. Diese Position w i r d mit geringen Veränderungen wiederholt

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entspricht jeweils das erste Glied dem „Atheismus directus" des Voetius, während sich die übrigen Glieder mehr oder weniger gut in seinen „Atheismus indirectus" einordnen lassen. Einen völlig eigenständigen Vorschlag legt Bircherodius in Kopenhagen vor: Er geht davon aus, daß die Gotteserkenntnis teils natürlich, teils übernatürlich ist und daß sich deswegen auch die Unwissenheit über Gott nach beiden Richtungen hin auswirken muß. Deswegen gibt es für ihn zwei „genera" von Atheisten: die einen, die diejenige Gotteserkenntnis leugnen, die „lumine naturali" gewonnen werden kann, und die anderen, die alles verwerfen, was die Schrift zu diesem Thema zu sagen hat. Aber die Definition wird dadurch nur erschwert, denn neben den Bestreitern der Existenz und der Providenz Gottes — „Miserum hominum genus"! — rücken nun auch Juden, Mohammedaner und andere Heiden in die Reihen der Atheisten ein n o . Einen weiteren originellen Versuch macht August Varenius in Rostock 111 . Er richtet seine Bemühungen von vornherein nicht auf den Atheismus, sondern auf die „Atheologie", die er als Gegensatz zur „Theologia Vera Thetica" versteht und die deswegen alle die „subjecta" umfaßt, „circa quae vera Theologia versatur" 112 . Er gliedert sie folgendermaßen: „Prima pars negative tollit quae Dei sunt, Deoque conveniunt, quaeque de Deo docenda: Secunda privat Deum cultu & honore secundum Voluntatem Dei ei debito: Tertia positive insuper profert erroneas & blasphemas de Deo doctrinas, quas ei attribuit" 113 . Diese Beschreibung ist freilich gegenüber Atheismus und Idolatrie offen. „Negative" beinhaltet die Atheologie den Unglauben oder mindestens die Skepsis gegenüber Gott. „Privative" beraubt sie Gott seiner adäquaten Verehrung und damit seiner Ehre — in heidnischer Religiosität oder Irreligiosität. „Positive" bei Friedrich Ulrich Calixt, De religione i d o l a t r i c a . . . , 1687, S. 9 ff. Fr. Ulr. Calixt ( 1 6 2 2 — 1 7 0 1 ) , der Sohn Georg Calixts, wurde nach umfangreichen Reisen durch Böhmen, Österreich, Ungarn, Italien und Frankreich „von seinem Vater zum Doctore Theologiae creiret"; er wirkte als Professor in Helmstedt, stand aber offenbar immer im Schatten seines Vaters. Mit dem Atheismus-Problem hat er sich nur am Rande beschäftigt. Vgl. Jöcher I, Sp. 1565 f.; H . Schüssler, Georg Calixt, Wiesbaden 1961 (siehe Register s. v. Calixt, Friedrich Ulrich). 1 1 0 Exercitationes contra Atheos (1660), S. 8 ff. Bircherod denkt besonders an diejenigen Religionen, die mit einer leichten Versöhnlichkeit der Götter rechnen; aber im Grund sind alle heidnischen Religionen von seinem Verdikt betroffen. 1 1 1 Varenius ( 1 6 2 0 — 1 6 8 4 ) hatte studiert in Hamburg, Königsberg und Rostock, wo er von 1643 an tätig war, zunächst als Professor für Hebräisch, dann für Theologie. Seine Atheismus-Disputation paßt sich gut in seine vielen exegetischen Arbeiten ein; vgl. Jöcher IV, Sp. 1448 f.; A D B 39, S. 4 8 6 f.; O. Krabbe, Heinrich Müller und seine Zeit, Rostock 1866, siehe Register s. v. Varenius. 112 113

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Remedium therapeuticum Atheologiae, 1680, th. X . Ebd.

endlich führt sie horrende Irrlehren über Gott ein 114 . Abgesehen davon, daß auch hier wieder Juden und Mohammedaner zu den Atheisten gezählt werden und daß die Abgrenzung zwischen dem „Atheismus theoreticus" und dem „Libertinismus credendi" schwer zu vollziehen ist, verunklärt der Versuch des Varenius eher die schon durch Voetius gewonnene Definition, so viele Schwierigkeiten diese auch in sich haben mochte. Weitere Distinktionsschemata konnten sich nur dadurch ergeben, daß man das Problem unter anderen Perspektiven betrachtete. So läßt sich der Atheismus nach Johann Adam Oslander darstellen „ratione Objecti, aut ratione gradus, aut denique ratione durationis" 115 . Bei der Untersuchung des Atheismus „ratione Objecti" differenziert Oslander jedoch ganz parallel dem Voetschen Schema zwischen Bestreitung der Providenz, der er den Atheismus practicus als Konsequenz zuordnet, und der Bestreitung der Existenz Gottes, die er als den eigentlichen „spekulativen" Atheismus versteht 11β . Auch dieser Ansatz konnte nicht über Voetius hinausführen. c) Die Bestreitung von Providern 1. Das Objekt der

und Existenz

Gottes

Gottesleugnung

Die bei dem Versuch einer Definition des Atheismus auftretenden Schwierigkeiten offenbarten eine Unklarheit, oder besser eine Unentschiedenheit in der Gottesdefinition. Inwieweit war Gott, abgesehen von seiner Offenbarung, denkbar — mußte nicht derjenige, der Gottes Offenbarung in Frage stellte, eo ipso auch den wahren Gott leugnen? So fragten sich die protestantischen Polemiker am Anfang der Auseinandersetzung, und weil sie Gott nicht von seiner Selbstoffenbarung in der Schrift trennen wollten, schwoll für sie die Zahl der „indirekten Atheisten" so ungeheuer an. Als die Unterschiede der einzelnen „Atheismen" zurücktraten, stellte man fest — wovon die katholische Atheismus-Polemik in ihrer geringeren Sdiriftbindung bereits ausgegangen war —, daß die ganze Definitionsfrage darauf hinauslief, ob man nur die Leugnung der Existenz oder auch die der Providenz Gottes als Atheismus zu bezeichnen hatte. Audi die katholischen Autoren sahen anfangs beides als untrennbar an. So schreibt 114

„Prima introducit Atheismum Theoreticum, tarn vulgarem, quam Philosophorum & Ethnicorum . . . Theologiam Philosophicam: Secunda Atheismum Practicum, idolorum cultum, inculcat, & Theologiam Ethnicorum fabulosam Poeticam, Civilem vel Politicam: Tertia inter Christianos, Judaeos & Turcas mutat Atheismum TheoreticoPracticum in Religionem & Theologiam Judaeorum, Turcarum, Haereticorum, Artem dubitandi de Verbo Dei..., propagat & suggerit Libertinismum credendi, vivendique, quod est Mors spiritualis & Morbus lethalis." Ebd. th. X. 115 Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 89. 116 Ebd. S. 89 ff. 89

Gabriel Prateolus in seinem Referat über die Atheisten: „Athei sunt, qui nullum esse Deum credunt, caeci & excordes, quique Dei providentiam e rebus humanis tollunt, omnia utique agi fato, animasque una cum corporibus interire arbitrantes" 117. Aber dieser Gedanke steht bei den katholischen Autoren in einem anderen Kontext als bei ihren protestantischen Kollegen. Aus der Leugnung der Providenz, führt Theophil Raynaud SJ aus, ergibt sich leicht die Bestreitung der Schöpfungslehre 118 und nicht nur das: Die Konsequenz der Vorsehung, die sich ja in diesem irdischen Leben nicht in Form einer ausgleichenden Gerechtigkeit aufweisen läßt, ist die Vergeltung nach dem Tode; Unsterblichkeit und Jüngstes Gericht zu leugnen, ist daher der erste Schritt zur Bestreitung der Providenz; rührt man das System des Übernatürlichen an irgendeinem Punkt an, so steht das gesamte „Jenseits" auf dem Spiel 119 . Wenn also ursprünglich bereits die Leugnung der Providenz als Atheismus galt, dann deswegen, weil hier ein Dogma aufgegeben wurde, ohne das die „dignitas & maiestas numinis" nicht unangefochten bleiben konnte 1 2 0 . Diese „dignitas" lag aber f ü r die katholischen Polemiker eher in einem statischen, von der griechischen Philosophie her geprägten Gottesbild. Wohl konnten audi sie sich zunächst Gottes Sein nicht denken, ohne damit ein bestimmtes Sosein zu verbinden; Leonhard Lessius SJ fragt: „Qualis enim esset ille Deus qui ignoraret etiam ea quae nobis sunt perspicua? aut cui mens est adeo debilis & angusta, ut ad omnia, quae fiunt in mundo, attendere nequeat?" 1 2 1 Von dem Nachdenken über das Sosein Gottes zu dem über das bloße Sein Gottes war der Schritt jedoch kürzer als von der Überzeugung von dem handelnden Gott, der sich in bestimmten Aktionen festgelegt hatte, wie in der Selbstoffenbarung durch die Schrift, zu dem Gedanken an die bloße Existenz Gottes, wie ihn die protestantischen Autoren zu gehen hatten. Deswegen konnte bereits ein Mersenne ein 117 De vitis . . . Haereticorum (1581), Sp. 71 b. Er belegt das an der Antike: Epikur habe wohl die Existenz eines Gottes anerkannt, von diesem aber behauptet, er sei „in seipsum conversum", kümmere sich um nichts und wolle audi nicht, daß sich jemand um ihn kümmere; ebd. 118 „ . . . qui enim Deum improvidum statuit, Deum negat, quia vel amore operum suorum, vel potestate illis prospiciendi, vel cognitione indigentiae eorum, privare Deum censendus est, sed ei curam adimens rerum, quas condidisse fatetur: aut eas certe non ab illo, sed ab alio quopiam editas, vel ex seipsis sine causae ullius beneficio enatas, arbitretur necesse est, quorum unumquodque, compendiaria est ad Atheismum via." De bonis ас malis libris, 1653, S. 21. 118 Ebd. >2° Ebd. 121 2 De Providentia Numinis (1617 ), S. 3 f . Er beruft sich dabei auf ein Wort Augustins: „confiteri esse Deum, & negare praescium futurorum, apertissima insania est", und folgert: „Itaque vel admittenda est Providentia, vel penitus Divinitas e medio tollenda." S. 4.

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bemerkenswert klares Bild des Atheismus im eigentlichen Sinne haben: Atheismus bedeutet für ihn — jedenfalls in seinem Genesis-Kommentar — eindeutig „Deum negare" 122 ; seine gesamte Argumentation mit ihren 35 Gründen richtet sich auf nichts anderes als auf den Nachweis, daß Gott ist 123 , und er bewährt seine Definition von Atheismus in der Abgrenzung gegen die von Deismus, wenn er am Ende seiner Quaestio I schreibt: „Hactenus de Dei existentia, & essentia satis contra Atheos, deque illius Providentia, & caeteris attributis adversus D e i s t a s . . 1 2 4 . So weit waren die protestantischen Autoren noch lange nicht. Bereits 1540 hatte Curione, die neue Zeit vorahnend und sie teilweise selbst repräsentierend125, in seinem Buch über die Spinne als Beispiel für Gottes Vorsehung gesagt: „ablata aDeo Providentia, saxum nobis ex Deo feceris" 12e . Ohne an die Tiefe reformatorischer Aussagen heranzureichen, hatte hier doch ein erster Kämpfer gegen die aufkommende neue Geisteshaltung etwas ausgesprochen, was auf Jahrhunderte hinaus von allen seinen protestantischen Nachfolgern festgehalten wurde und sie an einer scharfen Atheismus-Definition — hindern sollte. Die Leugnung der Providenz kam für sie der Leugnung der Existenz Gottes gleich. „Deus enim . . . est tale Ens, quod habet curam rerum omnium", heißt es in Verquickung aristotelischer und biblischer Gedanken in einer Disputation von Sebastian Niemann127. Noch schärfer formuliert Frommann: „Deus enim est Ens Imperans. Ergo, qui negant Deum curam gerere hominum, negant Deum esse Deum"128. Was wäre ein Numen „absque Providentia Sc justitia", fragt Gabriel Wedderkopf, ein Moment zur Geltung bringend, das nur selten Verfechter fand 129 . Johann Heinrich Heidegger macht in seinem Corpus Theologiae Christianae die Rechtfertigung zu einem Konstitutivum der Gotteslehre: Der Glaube, daß Gott ist — „quod simpliciter existat" — reiche nicht aus; vielmehr müsse man nach der ganzen Fülle 1 2 3 Vgl. unten S. 255 f. А. а. O. Sp. 225. Gn-Kommentar, 1623, Sp. 674. 1 2 5 Coelius Secundus Curione ( 1 5 0 3 — 1 5 6 9 ) gab wegen seiner Sympathie für die Reformation 1538 eine philosophische Professur in Pavia auf und floh 1542 in die Schweiz; Lehrtätigkeit in Lausanne und Basel; Verbindungen mit Castellio und nach Polen. Vgl. E. Hassinger in: R G G 3 I, Sp. 1890 f. m Araneus, seu de Providentia D e i . . . , Basel o. J. (Vorrede datiert Venedig 1540), S. 37. 1 2 7 Atheus refutatus, 1668, S 9, vgl. S. 12. S. 90 heißt es: „ . . . quicunque Deum sine Providentia fingit, is contradictionem in adjecto admittit, cum Deus tale sit ens, quod omnium creaturarum sit Creator, Gubernator & Conservator." So habe schon Laktanz gegenüber Epikur argumentiert, worauf auch Reiser hinweist, De origine . . . Atheismi, 1669, S. 29. 1 2 8 Atheus stultus, 1713, S. 8 (im Anschluß an Christian Thomasius). 1 2 9 De Atheismo, 1665, S. 23. 122 124

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seines Namens fragen, und d.h. in erster Linie: an den rechtfertigenden Gott glauben130. Was die Theologen gemeinhin an diesem Punkt gegen Ende der Auseinandersetzung dachten, und was sie wohl auch den Gemeinden plausibel zu machen verstanden, stellt Immanuel Weber in seiner „Beurtheilung der Atheisterey" so dar: „es kommet allerdings auf eins hinauß / ob man Gott völlig verleugnet / oder / ob man ihn zwar bekennen / hingegen aber seine Providenz und die Regierung derer Geschöpfe in Zweiffei ziehen / und ihn also zu einem entweder ohnmächtigen oder müssigen Zuschauer seiner Wercke machen wolte" 1S1 . So wenig „man sich ein Feuer ohne Gluth / und ein brennendes Liecht ohne Schein einbilden kan", so wenig läßt sich Gott ohne Allgegenwart und „Activität" vorstellen132. Hier war freilich auf Kosten einer größeren Klarheit in der AtheismusDefinition, aber nicht ohne Folgen für die Argumentation gegen den Atheismus — etwas von dem reformatorischen Gotteserlebnis durchgehalten. Ein Mann, dem die spezifische Eigenart und Schwierigkeit der theologischen Atheismus-Definition zu Bewußtsein gekommen war, hat deswegen gegen Ende der Auseinandersetzung die Unterscheidung eines „theologischen" von einem „philosophischen" Atheismus vorgeschlagen: Die Theologen dürften den Begriff — etwa nach Eph. 2, 12 — umfassender verstehen, und in dieser Gestalt sei der Atheismus auch viel häufiger anzutreffen; der theologische „Atheismus" müsse nicht unbedingt den „philosophischen" zur Folge haben, wenngleich umgekehrt der „philosophische" immer den „theologischen" Atheismus mitenthalte 133 . 2. Die „scharfe"

Atheismus-Definition

Trotzdem hatte die Theologie von Anfang an auch den Atheismus im heutigen Sinn im Blick: Das Wissen um den „Atheismus directus" gab ihr dazu die Möglichkeit134. Sie weigerte sich zwar, ihn isoliert, ohne alle seine Vorstufen und Abstufungen, zu verstehen, aber sie war sich darüber im klaren, daß sie in ihm die Spitze dieser Pyramide satanischer Möglichkeiten zu sehen hatte. Auch bei Autoren, die den Begriff „Atheismus" sehr weit faßten, wird die Leugnung der Existenz Gottes an erster Stelle 1 3 0 А. а. O. Sp. 3 b. Trotzdem erscheinen die Atheisten bei ihm nicht als solche, die die Rechtfertigung bestreiten, vgl. die а. а. O. folgenden Sätze. Weder für die Analyse des Phänomens „Atheismus" noch auch für die Gegenargumentation hat Heidegger seinen verheißungsvollen Ansatz fruchtbar gemacht. 1 3 1 S. 20. 1 3 2 S. 20 f.; vgl. Jakob Daniel Ernst, Schau-Bühne, 1702, S. 1128. 1 3 3 Joh. Herrn. Eiswich, Controversiae de Atheismo recentiores, 1716, S. 4. 1 3 4 Vgl. oben S. 86.

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genannt 135 . Nur war die „Leugnung" Gottes von vornherein nicht in dem Maße als intellektueller Vorgang aufgefaßt wie bei uns Heutigen 136 . Freilich machte manch ein Theologe einen schneidigen Anlauf zu einer eindeutigen Definition, die er dann aber doch nicht durchhalten konnte und die ihm gleichsam unter der Feder doch wieder zu einem komplexen Gebilde geriet. So definiert Joh. Friedemann Schneider in seiner „Icon Atheorum": „Proprie & stricte dictus est Atheus, qui omnem Dei cognitionem & cultum, directe aut indirecte sibi vel aliis animo evellere, ore aut opere c o n a t u r " w . Trotzdem bestand der „Atheismus theoreticus directus" nach allgemeiner Überzeugung prägnant in der Bestreitung der Existenz eines Numens. „Durch die Atheisterey verstehen wir diejenige verkehrte Beschaffenheit des Gemüths, wodurch der Mensch sich zu überreden bemühet ist, es sey kein Gott", schreibt Walch schon mit dem Abstand des Historikers am Ende der Auseinandersetzung138. Man kann nicht einmal sagen, daß die Atheismus-Definition im Laufe der Zeit schärfer geworden wäre: höchstens, daß die krasse Gottesleugnung unter Abblendung aller damit zusammenhängenden Probleme den späteren 135 Yg] Johann Müller, oben Anm. 49, oder Gebh. Theodor Meier, der ebenfalls die Bestreitung der Schriftautorität und Irrtümer in der Gotteslehre in die AtheismusDefinition hineinnimmt und trotzdem ausführt: „Summus atheismi gradus, in directo & theoretico atheismo quaerendus, in eo consistit, ut quis Deum serio neget, supra naturam, & naturales causas, superiorem non agnoscens, atque in id laboret, ut cognitionem ac sensum de Deo ex suo & aliorum animis extinguat." Historia religionum, 1697, S. 14. 136 So schreibt August Pfeiffer in seiner Einladung „Ad lectiones privatas Anti-Atheisticas" (1689), unter Atheisten verstehe er diejenigen, „qui sive τό οτι, Existentiam Dei; sive τό τί, providentiam puta ejusdem, omnipotentiam &c. sive τά του θεοΰ, divinam revelationem in Scriptura contentam, immortalitatem animorum, praemia & poenas post hanc vitam &c. sive directe, sive indirecte. . . negant." Die Atheisten hätten nicht alle den gleichen Grad an Gottlosigkeit erreicht, — „idem tarnen omnino fixus est scopus, isque Atheisticus, quo pariter collineant, sc. ut omnem exuant atque excutiant Numinis reverentiam, conscientiam perterrefacientem supprimant atque occidant, ex sua denique libidine sine omni formidine vi van t." (nicht pag.)

S. 6. Einen ähnlichen Eindruck macht selbst die Definition Buddes. Unter Atheisten versteht er „primo eos, qui aperte & citra ambages Deum esse negant, deinde eos, qui talia docent, quibus directe natura & existentia Numinis evertitur . . . " ; Theses, 1717, S. 5. Das entspricht seiner Distinktion „primi / secundi ordinis"; vgl. S. 207 ff. „Athei, quinam tales sint, facile patet", beginnt P. Stockmann zuversichtlich seine Auskunft: „scilicet tam illi, qui plane esse Deum negarunt vel adhuc negant . . . Quam alii quoque, qui SS. Trinitatem inficiantur & d i v e l l u n t . . . & caeterum omnes, qui vita sua epicuraea testantur, se Deum non credere . . . " — damit sind wieder alle Unschärfefaktoren Inbegriffen! Elucidarius haeresium (1697 2 ), S. 90 f. 1 3 8 Einleitung, Teil I, 1733 3 , Cap. VII, S. 673 f. Er lehnt sich damit an die Formulierung bei Budde, Theses, 1717, S. 207, an. Für Undereyck sind diejenigen „theoretische", also eigentliche Atheisten, die sich nicht scheuen, „ihnen selbst und anderen weis zu machen, daß kein Gott sey. . . " ; Der närrische Atheist (1722 2 ), Widmung (nicht pag.; 37. S.). 137

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Polemikern deutlicher zu Bewußtsein kam, wobei ihr Eingehen auf die isolierte Fragestellung nach der bloßen Existenz Gottes schon ihr Versagen ankündigte. Den früheren Kämpfern war dagegen klar, daß auch die direkte Bestreitung von Gottes Existenz in einen größeren Rahmen gehörte. Sebastian Niemann etwa definiert: „Nos hoc loco intelligimus per Atheum hominem ejusmodi, qui omnem cognitionem, sensum ac fidem Numinis in corde suo, quantum in se est, extinguere conatur, supra secundarias causas nihil esse credit, omnia miracula aut falsa esse, aut naturaliter contigisse, impudenter affirmat; sive directe id fiat, sive indirecte" 139 . Nach Johann Adam Oslander können die spekulativen Atheisten so weit gehen, daß sie zugleich mit der Leugnung von Gottes Existenz all das angreifen, „quicquid de Deo vel scitur vel creditur" 1 4 0 , eine Selbstverständlichkeit, die sich aber die damalige Theologie erst klarmachen mußte. Zudem hatte der Atheismus für sie eine sozusagen anthropologische Seite; mit der Bestreitung der Existenz Gottes mußte f ü r sie die Niederhaltung des dem Menschen angeborenen Wissens um Gott verbunden sein. Atheisten waren demzufolge diejenigen, „in quibus, quae adest de Deo sive ingenita, sive adquisita cognitio, supprimitur, vel obruitur" ш . O b und inwieweit das möglich sei, wurde ausführlich diskutiert 1 4 2 ; eine besonders vorsichtige Definition beschränkte sich deshalb darauf, daß Atheismus dann vorliege, wenn die Nichtexistenz Gottes behauptet bzw. gelehrt wird 1 4 3 . 3. Die Gestalten des „dogmatischen"

Atheismus

Auch die scharfe Atheismus-Definition konnte noch unterschiedlich gefüllt werden, denn es gab ja verschiedene Weisen, die Elimination eines Numens vorzunehmen und die Welt ohne die „Hypothese Gott" zu erklären. Ralph Cudworth, das H a u p t der Philosophenschule von Cambridge, hat diese Ansätze folgendermaßen systematisiert: Auf Anaximander führt er das „hylopathische" System zurück, demzufolge sich die Welt von den Eigenschaften und Fortwirkungsmöglichkeiten der Materie her verstehen läßt; das „atomische" geht auf Demokrit zurück und deutet die Entstehung der Welt von einer zufälligen Begegnung kleinster Einzelteilchen her; das „kosmoplastische" System der Stoiker nimmt die Existenz einer „natura plastica" ohne Geist vor der heute bestehenden 139

Atheus refutatus, 1668, S. 4. Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 92, unter Bezugnahme auf Mornaeus und Jacob Batelier. 141 Grünenberg, De Atheorum religione prudentum, 1701, § 15; vgl. Joh. Christ. Wolf, 1,2 Atheismi falso s u s p e c t o s . . . , (171 Г2), S. 10. Vgl. unten S. 172 fF. 143 Bei denjenigen also, „qui certa quaedam doctrinae systemata adornarunt, quibus eventus omnes ita explicare intenderint, ut nulla caussa prima efficiente opus esse putaverint"; Joh. Georg Syrbius, De Atheismi origine, 1720, S. 20. 140

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Welt an, und das „hylozoische" System des Strato schließlich schreibt der Materie ein lebendiges und schöpferisches Wesen zu 144 . Hieraus hat wohl Budde seine Idee von den vier Gestalten des „dogmatischen" Atheismus geschöpft, durch die sich das Phänomen des Atheismus in seiner damaligen Ausformung zweifellos besser erfassen läßt: Der „aristotelische" Atheismus geht von der Ewigkeit der Materie aus; der „stoische" vertritt den Glauben an die Unabänderlichkeit des Schicksals und der N a t u r gesetze; der „epikureische" formuliert die Atomtheorie Demokrits nach und der „spinozistische" identifiziert Gott mit der Natur 1 4 5 . Freilich lassen sich diese Spielarten des Atheismus nicht scharf gegeneinander abgrenzen. Sie haben gemeinsam, daß in ihnen allen in irgendeiner Weise die N a t u r die Rolle übernimmt, die man zuvor Gott zugeschrieben hatte. In der durch die Mythologie diktierten und von deren Gegnern abgelehnten Sprache klagen die Polemiker deswegen häufig darüber, daß die Atheisten die N a t u r f ü r Gott halten, daß sie sagen: „Jehova ist kein Gott / sondern die Welt ist G o t t . . . " 1 4 e . So erscheint oft die spinozistische Gleichsetzung von Gott und N a t u r als der Atheismus schlechthin 147 . In Wahrheit bedeutete diese Gleichsetzung Ersetzung; f ü r Gott blieb nichts mehr zu tun, und somit wurde er überflüssig. Was die Alten dem Schöpfer oder sonstigen übernatürlichen K r ä f t e n zugeschrieben haben, das erklärt man nun „Deo non supposito, nec ad ratiocinandum assumto" 1 4 8 . Man kann also wirklich aus der Perspektive des Jahrhunderts mit Joh. Christ. Wolf sagen, wenn es je eine „vox obscuritatibus involuta, et variis impedita acceptationibus" gegeben habe, dann sei es die des Atheismus gewesen 149 . Zugleich muß man feststellen, daß der Begriff nur 144

The True Intellectual System of the U n i v e r s e . . . , London 1678, Book I, Chap. I l l , § 30, S. 134 f. (referiert bei Joh. Christ. Wolf, Atheismi falso suspectos, 1717 s , S. 7). Über Cudworth (1617—1688) vgl. Η. Knittermeyer in: RGG 3 I, Sp. 1888, sowie vor allem Ernst Cassirer, Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, Leipzig 1932, passim, und Ε. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 1964 3 , Bd. 1, S. 188 f. 145 Theses, 1717, S. 225 ff.; vgl. Walch, Einleitung, Teil I, 1733 3 , Cap. VII, S. 676 ff. N a d i Walch versuchen diese Hypothesen alle, die Welt zu erklären, „ohne daß man nöthig habe, einen GOTT... zu zulassen." Ebd. S. 675; vgl. außerdem die ausführliche Darstellung in Teil V, 1736, Cap. VII, S. 83 ff. 146 Undereyck, Der närrische Atheist, 1722 2 , S. 20; dort als Paraphrase von Ps. 14, 1. 147 Vgl. Tribbechow, Historia naturalismi, 1700, S. 50 ff. („De Naturalismo Atheistico"); Joh. Christ. Wolf, Atheismi falso suspectos, 1717 2 , bringt seine gesamten Ausführungen unter dieser Perspektive; Spener, Geminum judicium (1703), Consilium posterius, S. 14, sieht Atheismus dann gegeben, wenn nur mehr „natura naturata", nicht aber „natura naturans" anerkannt wird; vgl. Heidegger, Corpus theologiae christianae, 1700, Sp. 107a ff. 148 So Leibniz in seiner am Ende von Spizels Schrift De Atheismo eradicando, 1669, anonym abgedruckten „Confessio naturae contra Atheistas", S. 126. 149 Atheismo falso suspectos, 1717 2 , S. 4.

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„verdunkelt" und unscharf war, nicht aber falsch. Von den zeitbedingten Definitionsschwierigkeiten abgesehen150, lag das Hauptproblem in dem theologischem Ansatz, von dem aus man den Gegner anging: In der Gottesvorstellung, die sich nicht ohne weiteres auf das bloße „Sein" Gottes beschränken ließ, und im Vertrauen auf das dem Menschen angeborene Wissen um Gott, das die Existenz von Atheisten im Grunde ausschloß. In vielen antiatheistischen Schriften wird die Frage verhandelt: „An dentur Athei" 151 ? In dem Bemühen, über ihren Gegner ein klares Bild zu gewinnen, fanden es die Polemiker des siebzehnten und beginnenden achtzehnten Jahrhunderts schließlich hilfreich, den Wurzeln der neuen Bewegung nachzugehen und ihre Ursachen zu klären. Die Entstehungsgeschichte des „Atheismus" mußte auch über das Phänomen selbst etwas aussagen152.

III. Die Frage nach den Ursachen a) Das Urteil der konfessionellen

Polemik

Nur selten hat sich ein Theologe damaliger Zeit, dem der Atheismus zum Problem geworden war, mit der Feststellung begnügt, die Kirche sei eben schon immer schweren Angriffen ausgesetzt gewesen 1 . Man weiß das. Theophil Großgebauer schreibt in seinem Praeservatif: „Nun ist zwar von des Herren Christi Zeit anzurechnen kein mangel an Spöttern und Atheisten gewesen / an Lucianis, Caligulis, Pliniis, Gnosticis, Anastasiis, 150

Vgl. oben S. 68 ff. Zacharias Grapius hat eine eigene Disputation darüber abgehalten; Theologia recens controversa, 1710 2 , S . 2 6 f f . Vgl. unten S. 172 ff. 152 Die polemische Literatur gegen die „Dogmata, quae cum Atheismo coniuncta sunt, aut ad eum ducunt" (Budde, Theses, 1717, Cap. I I I , Überschrift) — wie Bestreitung der Providenz, der Schriftautorität oder der Unsterblidikeit der Seele — kann hier nur gestreift werden und bedarf eigener eingehender Untersuchungen. 1 Wilhelm von Assonlevilla weist in seiner Atheomastix, 1598, darauf hin, d a ß ja Christus selbst das schon erfahren habe; er bietet eine lange Reihe von Beispielen aus der gesamten Kirchengeschichte auf, bevor er auf die — seiner Meinung nach — verheerenden Verhältnisse seiner eigenen Zeit zu sprechen k o m m t (S. 28—58). Burcher de Voider, ein stark von Descartes beeinflußter Philosoph, vgl. unten S. 210, stellt eine Ausnahme dar, wenn er sich f ü r H e r k u n f t und Geschichte des Atheismus prinzipiell nicht interessiert. O h n e damit ein Urteil über die Kirchengeschichte zu verbinden, meint er, es habe eben schon zu allen Zeiten Menschen gegeben, „qui nescio qua animi perversitate Divini Numinis agnitionem sive superstitioni 8t v a n o hominum terrori, sive etiam Politicorum technis, non verae & sanae ascripserunt rationi." Disputationes philosophicae omnes contra Atheos, 1685, S. 4. Zu überprüfen, welche Philosophen der Antike etwa Atheisten gewesen seien, hält er f ü r überflüssig, einmal, weil es f ü r die Sache nichts austrage, zum anderen, weil es schwierig sei, etwas Eindeutiges darüber auszumachen: „ Q u a m rem i n q u i r e r e . . . hominis foret suo otio abutentis." Ebd. S. 5. 151

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von des Herren Christi Zeit anzuredinen kein Mangel an Spöttern und Atheisten gewesen / an Lucianis, Caligulis, Pliniis, Gnosticis, Anastasiis, Fridericis, Alphonsis &c." 2 Aber man empfindet, daß nun noch einmal etwas Neues auf den Plan getreten ist; Großgebauer fährt fort: „Dennoch hat der Feind diß Unkraut am aller dicksten gesäet von etwa hundert Jahren h e r . . . " 3 . U n d man ist sich darüber im klaren, daß es dabei nicht nur um eine Steigerung der Quantität von Schwierigkeiten für die Kirche geht. Deswegen finden sich in so gut wie allen Arbeiten zum Thema Atheismus, sofern sie sich nicht sofort an die Widerlegung machen, Abschnitte, in denen die „causae" erörtert werden 4 . Der Atheismus war kein konfessionelles Problem; Theologen und Philosophen verschiedener Konfessionen setzten sich gegen ihn zur Wehr. Alle aber waren sie gewohnt, sich gegenseitig für die Mißstände in der Christenheit verantwortlich zu machen: Was lag also näher, als auch die Ursachen 1. Die katholische

Polemik

Den ersten Schritt taten die Katholiken; nicht weil die Protestanten zimperlicher gewesen wären in ihrer Polemik, sondern weil der neue Geist den katholischen Theologen eher zu Bewußtsein kam als ihren protestantischen Kollegen 5 . Mit Schriften gegen den Atheismus der Protestanten trafen sie gleich zwei Fliegen auf einen Schlag®. Manchmal blieb es hier 2

1661; Widmung, nicht pag. Das Praeservatif erschien 1661! Grimmig bemerkt Valentin E. Löscher, Justin habe seinen Appion und Augustin seinen Cresconius gehabt; heute freilich hätten die Theologen an die hundert Cresconii. . .; Praenotiones, 1713 2 , Praefatio. 4 Voetius verwendet einen wesentlichen Teil seiner ersten Disputatio de Atheismo d a r a u f ; Select. Disp., Pars I, 1648, S. 125 ff. Großgebauer bringt ein eigenes Kapitel (I): „ A u ß welcher Kirchen der Atheisten ihre Meinung herfleust." Praeservatif, 1661. Ebenso Johannes Müller, Atheismus devictus, 1672 (Kap. I I I ) : „Was die Ursachen des Atheismi seyn und woher derselbige entspringe." Theophil Spizel hat ein eigenes Buch D e Atheismi radice v e r f a ß t , 1666; audi die Geschichten des Atheismus wollen auf ihre A r t zur Klärung dieser Frage beitragen. 5 Abgesehen vielleicht von den R a n d g r u p p e n des Protestantismus — den Sozinianern und Arminianern. 6 Klassisches Beispiel d a f ü r ist das Buch des Jesuiten Antonio Possevino: De sectariorum nostri temporis Atheismis, Köln 1586. Possevino (1533—1611), der Schul-Stratege der Gegenreformation, der sich eine Kette katholischer Kollegien vom Baltikum bis Siebenbürgen erträumte und unter dessen Einfluß J o h a n n I I I . von Schweden heimlich zum katholischen Glauben zurückgekehrt war, w a r in seinem Denken zu sehr festgelegt, als daß er das Problem des Atheismus scharf in den Blick hätte bekommen können. Immerhin ist er möglicherweise bei seinem A u f e n t h a l t in Polen 1581/82 „echten" atheistischen Tendenzen begegnet. An vielen Stellen seines Buches scheint f ü r ihn der Begriff „atheismus" nur Pejorativ f ü r Häresie zu sein, nicht einmal streng auf die Gotteslehre bezogen. Bei diesem Verständnis mußte natürlich die „Atheismorum Colluvies" von Luther u n d den anderen Reformatoren ausgelöst erscheinen (Kap. X I I ) . Zu Possevino vgl. G. Maron, in: R G G 3 V, Sp. 476 f. U m so höher ist es Wilhelm von Assonlevilla anzurechnen, d a ß er zwischen Häresie und Atheismus scharf differenziert — nur zwölf J a h r e nach Possevino; vgl. oben S. 43. 3

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für die Entstehung und das rapide Umsichgreifen des Atheismus jeweils der anderen Konfession zur Last zu legen? auch bei rein konfessioneller Polemik. Die katholischen Autoren behaupten freilich nicht ohne Grund, daß die konfessionelle Vielfalt das Glaubensgut jeder Konfession relativiere, so daß manche Leute schließlich überhaupt nichts mehr glauben7. Der Straßburger Mitreformator Hedio, so weiß man, habe über seine eigenen Glaubensgenossen geklagt: Katholiken würden zuerst Lutheraner, dann Zwinglianer, schließlich Schwenckfeldianer, und dann würden sie am Ende „Atheisten" oder „Epikureer" 8 . Verläßt man die Autorität der Kirche, schreibt der Jesuit Leonhard Dazu beruft man sich auf Stimmen aus dem evangelischen Lager. So habe Hedio an Melanchthon geschrieben, „Sathanam callidum hue mukös agitare, ut dum summa in constantia iam hoc, iam illud credant, posthac nihil prorsus credant, & evadant in populum Asotiorum." („Asoti" ist abgeleitet von δσωτοι). So nach Wilhelm D a masus Lindt, Dubitantius, 1565, S. 233 (nicht im C R ) . 7

Lindt ebd. Über Hedio hat er weiter zu berichten: „ . . . conqueritur emergentibus tot erroribus, ut si quis (inquit) numeret, fere 128 inveniat, istos suos syneuangelicos in Atheismum relabi." Ebd. S. 315. Lindt legt es als Bestätigung für die Verbreitung des Atheismus unter den Evangelischen aus, wenn P . Viret, D e origine, continuatione, usu, a u t o m a t e , atque praestantia ministerii verbi D e i . . . , (Lausanne) 1554, Lib. I I , S. 23 f. (vgl. Lib. I V , S. 39 ff.), seiner Sorge über gewisse „Ludimagistri" Ausdruck verleiht, die — frei nach Vergil — denjenigen glücklich preisen, der 8

„Metus omnes & inexorabile fatum Subiecit pedibus, strepitumque Acherontis avari." Dubitantius, S. 234. Lindt referiert Unterstellungen, denen zufolge Beza mit Recht den Beinamen άθεος trage — aufgrund seiner Lebensführung — und in deren Zusammenhang offenbar altgläubige Kollegen hinsichlich seiner Abendmahlslehre sagten, „an mirum, inquiunt, eum a sacra exturbare Christum Eucharistia, qui Deum non credit esse in coelo?" Ebd. S. 234 f. (Die Evangelischen legten diese Wendung Melanchthon im Hinblick auf die katholischen Italiener in den Mund; vgl. oben S. 53). Vorwürfe, welche die streitenden Parteien innerhalb des Protestantismus gegeneinander erhoben, und vor allem auch selbstkritische Äußerungen werden von Lindt schamlos ausgebeutet. Ein Teil des bei ihm zusammengestellten Materials wurde von Gabriel Prateolus, D e v i t i s . . ., (1581), s. v. „Athei", übernommen. Darüber hinaus weist Prateolus besonders auf die Freigeisterei der sogenannten italienischen Kirche in Genf hin, wo man wesentliche Dogmen des Katholizismus, wie ζ. B. die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, über Bord geworfen habe; ebd. Sp. 72 a. Hier, Sp. 71 b, auch die merkwürdige Nachricht, daß die Protestanten zehnmal täglich „suum daemonem Deum (o coelum о terra)" anriefen . . . ! D e Providentia Numinis, 1617 2 (Widmung, nicht pag.; 2. S.). Deswegen „muß" der Atheismus audi am weitesten verbreitet sein „apud haereticos, quorum plurimi de toto Religionis negotio dubitant". Ebd. Ohne die Kirche gerät alles ins W a n k e n ; das erkennen vor allem die „prudentiores, majoreque praediti ingenio" unter den Häretikern (а. а. O . S. 4). Hauptrepräsentant des neuen Geistes ist ihm jedoch Machiavelli, — ein Katholik! Lessius ( 1 5 5 4 — 1 6 2 3 ) , Schüler des Suarez, von 1 5 8 5 — 1 6 0 0 Lehrer am Jesuitenkolleg in Löwen, in zahlreiche Kontroversen mit seinen Ordenskollegen verwickelt, hatte ein Empfinden für die apologetischen Probleme seiner Zeit; vgl. R . Bäumer i n : L T h K 6, 9

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Lessius, so bleibt einem „nihil firmi", man wechselt die Religion und endet schließlich im Atheismus 9 . Das gleiche Bild von der Sache hat Theophil Raynaud, wenn er in seinem Buch „De malis ac bonis libris" 1 0 die atheistische Literatur nach der häretischen bespricht, da der Atheismus logischerweise aus der Häresie folge 1 1 . Relativ selten haben die katholischen Polemiker deswegen eine einzelne Häresie oder einen einzelnen Reformator für das Aufkommen des Atheismus verantwortlich gemacht: Trennung von der Kirche ist für sie in jedem Fall ein erster Schritt in Richtung Atheismus 12 . 2. Die protestantische

Polemik

Mit der Behauptung, daß Trennung von der Kirche zum Atheismus führt, hatten sich die protestantischen Apologeten von Anfang an auseinanderzusetzen; sie war ihnen im Grunde nicht unsympathisch, nur gingen sie natürlich von ihrer Lehre und deren Mitte aus, wobei dann das katholische Dogma als Häresie zu stehen kam. Calov verweist in diesem Zusammenhang auf 2. Joh. 9 : W e r nicht in der Lehre Christi bleibt, hat keinen Gott 1 3 . Nicht sehr häufig differenziert man hier daSp. 681 f. D e Providentia Numinis wurde nachgedruckt in Paris 1880. Vgl. P . Türks, Das Gottesbild des Leonhard Lessius (Diss., masch.), München 1957. 1 0 Lyon 1653. 1 1 Raynaud beruft sich dabei auf ein Diktum des Clemens von Alexandrien, wonach der Atheismus das „sedimentum haereseos" sei (S. 17). E r empfiehlt Lindts Dubitantius; dort könne man nachlesen, „Quam multos huiusmodi clancularios Atheos nuperi Euangelici intulerint o r b i . . . " ; S. 21. Tiefer sieht die Dinge überraschenderweise Mersenne, für den die Häresie deswegen einen sehr breiten Weg zum Atheismus darstellt, „quod haeresis, 8c Atheismus eandem originem habeant, incredulitatem videlicet, quae ex superbia, atque nimia proprii iudicii aestimatione proficiscitur"; Gn-Kommentar, 1623, Sp. 231. 1 2 Es ist eine Ausnahme, wenn sich Mersenne in seinem Gn-Kommentar lang und breit mit dem „Atheismus" des Flacius auseinandersetzt (Art. I V , erster und Haupteinwand der Atheisten, Sp. 235 ff.), da dieser die notitiae naturales und damit die natürliche Gotteserkenntnis durch den Sündenfall beeinträchtigt sieht. Flacius kommt von dem gerade entgegengesetzten Ansatz her zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Sozinianer, die teilweise ebenfalls die Erkennbarkeit Gottes durch das lumen naturale bestreiten — und deswegen von den lutherischen und reformierten Theologen als Atheisten gebrandmarkt werden. Vgl. die Kontroverse über Franciscus Cuperus: Literatur hin weise bei J o h . Ulrich Frommann, Atheus stultus, 1713, S. 26. 1 3 Systema, Tomus I I , 1655, Cap. I I , S. 134. 14 Ansatzweise tut es Voetius, wenn er Select. Disp., Pars I, 1648, S. 180 die Gefahr des Atheismus besonders im Fall einer falschen Schriftlehre und einer irrtümlichen Gotteslehre sowie bei Einführung neuer Glaubensobjekte gegeben sieht. E r kommt noch einmal auf das Problem zu sprechen in einer am 3. April 1652 abgehaltenen Disputation über die Gotteslehre (Select. Disp., Pars V , 1669, Probl. de Deo, pars prima, I I I . Probl.). D o r t führt er aus, man müsse unterscheiden zwischen „haeresis formalis" und atheismus directus bzw. indirectus „in communione haereticorum haerens". Manche Häretiker hätten ihre Irrlehren tief in sich hineingefressen, während andere sie nur oberflächlich übernommen hätten. Außerdem gebe es Häresie „magis

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hingehend, daß es eben darauf ankomme, in welchen Stücken eine H ä resie irrt 1 4 . Den Vorwürfen aus dem katholischen Lager stellt man sich bereitwillig, um alsbald zum Gegenangriff überzugehen 15 . Tobias Wagner, der zahlreiche Streitschriften mit katholischen Gegnern gewechselt hat und erst im hohen Alter auf das Problem des Atheismus gestoßen ist, bringt ein eigenes Kapitel über „Papistarum intolerabilis audacia, quia Canonicam Scripturae authoritatem in subsidium Atheorum elevant" 1 6 . Wie die katholischen Theologen im Autoritätsverfall der Kirche die Wurzeln f ü r den Atheismus sehen, so sehen ihn ihre protestantischen Kollegen im directe & aperte" — wie das bei den Manichäern oder Marcioniten der Fall gewesen sei —, andererseits „minus directe & aperte" — wie etwa bei den Photinianern. Ein weiterer Unterschied bestehe darin, d a ß eine Häresie entweder auf die generalia axiomata Christianismi bezogen sei oder nur auf einige axiomata fidei — wie bei den Katholiken. I m R a h m e n dieser Distinktionen sei der Anteil einer Häresie an der E n t stehung einer der Formen von Atheismus zu bestimmen; ebd. S. 50. Wenig konkreter a n t w o r t e t Gabriel Wedderkopf in seiner Dissertatio de Atheismo . . . praeprimis Socinianorum, 1665: Indirekten Atheismus oder die Wegbereitung dahin sieht er gegeben bei christologischen u n d soteriologischen Irrlehren, bei Irrtümern in der Trinitätslehre, bei falscher Einschätzung der Vernunft, bei falscher Schriftlehre, audi bei Bestreitung wichtiger Einzellehren (§ 19 ff.). Grundsatz dabei ist ihm: „ . . . q u u m extra Christum non sit salus" (§ 20). Für die Häresie selbst bleibt bei solch einer Auffassung jedoch nur ein kleiner Spielraum; im G r u n d e f ü h r e n ihr zufolge alle Häresien zum Atheismus. 15 Voet, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 189: „IV. Problem. A n aliquo scientiae aut conscientiae colore aut minima verisimilis specie Pontificii passim nostrae religioni Atheismi originem adscribunt, immo Sc non nulli Atheismum in f o r m a . " Es folgt ein langes Referat über die einschlägige Literatur; diejenigen, die dem Protestantismus die Entstehung des Atheismus anlasten, bittet er dann, „ut secum habitent, & coram Deo in conscientia statuant, utri potius occasionem dederint Atheismo, Pontifices cum curia Romana, & clero irreformabili: an vero nostri, qui abusus Sc corruptelas tam in cultu publico q u a m in moribus postulante ita conscientia sua & salute ecclesiae detexerunt, Sc q u a n t u m in se est sustulerunt." Gegen diejenigen aber, welche den Glauben der Protestanten des Atheismus selbst bezichtigen, bringt Voetius keine Argumente v o r : „Posteriores cum responso archangeli Michaelis demittere possemus: Increpet te 18 Deus, о Satan." Ebd. S. 191. Examen, 1677, S. 94 ff. 17 D e origine . . . Atheismi, 1669, S. 305 ff. Die Behauptung, d a ß falsches Schriftverständnis zum Atheismus führe, w u r d e gelegentlich auch ohne konfessionelle Seitenhiebe vorgebracht. So schreibt Charles des Bourgueville (bei Jödier I, Sp. 1306, leider keine genauen Lebensdaten), L'Atheomachie, 1564, A u Lecteur (datiert 6. 7. 1563), er hoffe von seinen Bemühungen, „que les esmotions en ladicte religion, peuvent apporter a l'endroict d'aucuns mal fondez ü l'intelligence de l'escripture saincte de t r o p grandes libertez, voire jusques a tourner ä une eversion, liberte, Sc contemnement de toutes choses & consequemment en Atheisme: non pas a cause de la doctrine ou esctiptures sainctes, mais p a r la malice de ceulx qui les contemnent ou tournent en mal." (Nicht pag.). Theophil Spizel hält, ohne an ihre Konfession zu denken, diejenigen Literaten f ü r gefährlich u n d dem Atheismus nahe, „qui summorum . . . etiam Doctorum e f f a t a suis ratiociniis accomodare, Sc curiosae novitatis (pudendae elationi sociatae) glaucomate penitus occaecati, ipsam Theologiam, ipsamque Scripturam sacram, secundum philosophica, & obscuratae plurimumque exerrantis suae rationis

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Autoritätsverlust der Schrift. Anton Reiser gerät bei der Darstellung dessen so in Fahrt, daß er den Atheismus fast aus dem Auge verliert 17 . Die Jünger Roms haben es zu verantworten, „daß sie den Atheisten das Messer in die H a n d geben", schreibt Theophil Großgebauer18. Sie verbieten dem einfachen Volk, die Schrift zu lesen — was könne dem Atheismus förderlicher sein 19 ! Sie lassen an der Schrift nur gelten, was mit der Ratio übereinstimmt, und kommen damit den Tendenzen derer entgegen, die die Religion auf das Natürliche beschränken wollen 20 . D a durch, daß sie den Papst als „Numen quoddam visibile" verehren, tun sie der wahren Gotteslehre Abbruch 21 . Durch die zweifelhafte Moral der Jesuiten — wie etwa die Erlaubnis der reservatio mentalis — tragen sie zur Verflachung des religiösen Ernstes bei 22 und durch die Behauptung fingierter Wunder liefern sie den Atheisten nicht geringe Argumente 23 . Wie stark solche Gedanken die Überlegungen der protestantischen Theologen geprägt haben, zeigt vielleicht am besten, daß selbst Spener, dem man ja nicht gerade Katholikenhaß nachsagen kann, davon überzeugt ist, daß „die principia Papaea gar leicht selbst zu dem Atheismo führen, wo sie von scharfsinnigen Leuten genau erwogen werden . . . " , „wie es von vielen jähren allezeit meine gedancken gewesen (also daß ich Gott so vielmehr zu dancken gehabt, daß er midi in der Evangelischen kirchen hat lassen erzogen werden, indem ich nicht sehe, dogmata flectere conantur, omnem tandem explodentes authoritatem . . ; Infelix literatus, 1680, S. 354. Bei Valentin Ernst Löscher, Praenotiones theologicae, 17132, Prolusio, erscheint als eine unter vielen anderen Ursachen für den Atheismus die verwirrte Schriftauslegung durch reformierte Theologen! 18 Praeservatif, 1661, S. 16. Vgl. Wedderkopf, De Atheismo, 1665, § 27, 35. 19 Wagner, Examen, 1677, S. 98. 20 Vgl. Gerhard Titius, D i s p u t a t i o . . . de insufficientia religionis mere naturalis, Helmstedt 1667. Das konnte man freilich audi einigen protestantischen Gruppen vorwerfen — was Titius auch zugibt. Er wendet sich in seiner Disputation besonders gegen Herbert von Cherbury. August Varenius erkennt als Vorstufe zur „Atheologia Naturalistarum" den Pelagianismus; Remedium therapeuticum Atheologiae, 1680, Th. X X I . Ein interessanter Beleg für die Hilflosigkeit der Atheisten-Bekämpfer, die das neue Phänomen dadurch in den Griff zu bekommen versuchten, daß sie es auf eine vergangene Häresie retrojizierten, — aber auch für jene gewisse Sicherheit im Urteil, die dieses Verfahren ihnen verlieh. Vgl. unten S. 163 f. 21 Bircherodius, Exercitationes (1660), S. 15. 22 Wedderkopf, De Atheismo, 1665, S. 48. J. Thomasius weist in diesem Zusammenhang auf die Lehre von der „probabilitas" hin; Historia Atheismi (1713), S. 57. Vgl. A. Tribbechow, Historia Naturalismi, 1700, S. 44 f. 23 Spizel, Scrutinium Atheismi, 1663, S. 105 ff. Hierher gehört alles, was im Katholizismus nach Aberglauben aussieht: „Atheisticis etenim hominibus nostro tempore nihil magis solenne est, quam ingenti zelo adversus superstitionem declamare quamplurimum, ut eadem opera veram religionem quoque deprimant"; J. Thomasius, Historia Atheismi (1713), S. 30. 24 Theologische Bedendcen (17123 ff.), Teil III, Cap. VI, Art. I, Dist. II, Sect. X X V I I I , S. 228. Spener kann das jedoch audi in einem größeren Zusammenhang sehen: Wie ein 101

wie ich ohne göttliches wunder in der Papistischen kirdien mich des atheismi hätte entbrechen können)" 24 . Noch 1725, zu einer Zeit, da man längst weitere und wesentlichere Ursachen des Atheismus erkannt hat, weist Jac. Friedr. Reimmann darauf hin, „quam facilis e Papismo in Atheismum sit transitus"25. Man glaubt, diese Theorie durch die Fakten belegen zu können. Die Prinzipien der römischen Kirche machen den Menschen unsicher: „Dahero auch unter den Papisten unvergleichlich mehr Atheisten seyn, als unter uns, wie groß sich auch deroselben anzahl bey uns belauffen mag", schreibt Spener2f>. Italien ist ein „rechtes Atheisten-Nest" 27 ; in Frankreich blüht der Atheismus 28 . Die ersten Denker, die man des Atheismus oder mindestens eines sehr freien Geistes bezichtigt, haben italienische Namen: Angiolo Poliziano, Cardano, Aretino, Pomponazzi, Cremonini, schließlich Campanella und Vanini 29 . Dazu kommt das, was man von Machiavelli wußte und was man sich von der Kurie erzählte 30 . So ergab sich, was Voetius als erster aussprach und was viele Protestanten empfanden und ihm nachsprachen: „Ex Italia & curia Romana tanquam impietatis arce, omnisque atheismi foecunda matre in universam Europam (ut olim Gentiiismus ex Aegypto in totum orbem) diffudit se hoc malum . . ." 31 . Vanini verkörpert in seiner Person dieses Übergreifen des Atheismus auf weitere Länder; mit zwölf Genossen — zum atheistischen AntiMohammedaner durch die Fantastereien seines Korans dazu veranlaßt werde, an allem zu zweifeln, so ergehe es möglicherweise auch einem Juden, der den Propheten nicht mehr glaube, weil der Messias noch immer nicht gekommen sei — und einem Katholiken, wenn er keinen rechten Zugang zum Wort Gottes finde. Geminum judicium (1703), S. 16 f. 25 Historia universalis Atheismi, 1725, S. 16. 28 Theologische Bedenken, Teil III, Cap. VI, Art. I, Dist. II, Sect. XXVIII, S. 228. Aber auch bei den Reformierten entdeckt er bereits mehr Atheisten als bei den Lutheranern (ebd.)! 27 Paul Stockmann, Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, Vorrede; freilich habe es auch in Frankreich, Holland und England „von dergleichen Geschmeisse einen großen Uberfluß" gegeben; ebd. 28 Das führt Spizel darauf zurück, daß die Schrift in der katholischen Kirche nur lateinisch und von Laien überhaupt nicht gelesen werden darf; er verweist in diesem Zusammenhang auf ein Buch des Kardinals Perron „de insufficientia scripturae" (vgl. Jöcher III, Sp. 1403); Scrutinium Atheismi, 1663, S. 77 ff. 29 Vgl. unten S. 121 ff. 30 Vgl. S. 53, 111. 31 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 218. Ganz ähnlich Theophil Großgebauer in der Widmung seines Praeservatifs, 1661. 32 Für Johann Adam Oslander gehört er zu den Leuten, die „vel omnem e mente eradicare Numinis sensum annituntur; vel aperte negant, esse aliquod Ens summum; vel etiam plausibilibus quibusdam rationibus & speciosis argumentis Dei existentiam evertere, Sc Atheismum Professione publica stabilire laborant"; Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 89. Zur Legende von den zwölf atheistischen „Aposteln" vgl. Mauthner Bd. 2, S. 209 f. 102

christus stilisiert — sei er ausgezogen, um seine Botschaft zu verbreiten Frankreich erscheint deswegen als das zweitproduktivste Land an Atheisten 3 3 ; Μ erserines Schauernachrichten mußten diesen Eindruck hervorrufen 34 , und man hatte auch weitere Berichte, die dieses Bild bestätigen 35 . Viele Arbeiten gegen den Atheismus und vor allem die „Geschichten des Atheismus" gehen die Länder Europas der Reihe nach durch; fast immer Vgl. Voetius, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 218 f. Voet nennt allerdings nodi einen anderen Weg, auf dem der Atheismus nach Frankreich gelangt sein könnte: „ N e g a r i . . . non potest, quin a tempore Francisci I. Gallicam aulam & inde totum regnum magis ac magis omnis impietas & atheismus inundarint." (Ebd.). Vgl. J o h . Christ. W o l f , Atheismi falso suspectos, 1717 2 , S. 14. Zur Verbreitung des Atheismus in Frankreich vgl. ferner Anton Reiser, D e o r i g i n e . . . Atheismi, 1669, S. 264 ff.; J . Thomasius, Historia Atheismi (1713), S. 1 7 7 f f . ; Budde, Theses, 1717, Cap. I , § 2 5 ; Reimmann, Historia universalis Atheismi, 1725, S. 3 8 2 — 4 3 0 . 3 4 Voet schreibt, als er auf die Bekämpfer des Atheismus zu sprechen kommt: „ . . . inter quos Mersennus in hac palestra ob tantam in Gallia Atheorum frequentiam exerc i t a t u s . . . " ; Select. Disp., Pars I, 1648, S. 147. 3 5 Vgl. Reimmann, Historia universalis Atheismi, 1725, S. 383 f. 3 6 In der Beurteilung der Spanier ist sich Voetius unsicher; sie scheinen ja, im Eifer für die päpstliche Religion alle anderen Nationen überbieten zu wollen: „An propter hunc praetextum minus athei sint dicendi, alii disquirant." Select. Disp., Pars I, 1648, S. 218. Grundsätzlich hält er es für möglich, „telum hoc (seil, atheismum) ab Hispanicis & Austriacis in Gallos emissum"; ebd. Auch in Spanien muß es zahllose Atheisten geben, — so befiehlt es die Sicht der Dinge, die man hat. W e r weiß, was sich da zeigen würde, wenn es nicht in Spanien die Inquisition gäbe, schreibt Johann Adam Osiander, Deus in lumine naturae repraesentatus 1665, S. 96. 3 7 Zwischen dem Aufkommen — oder fast möchte man sagen: Eintreffen — atheistischer Ideen in England und in den Niederlanden wird i. a. chronologisch kein Unterschied gemacht; hier spielten konfessionelle Gesichtspunkte für die Erklärung des Phänomens kaum eine Rolle. Streng „konfessionsgeographisch" geht Gebh. Theodor Meier in seiner Historia religionum, 1697, v o r : Kaum Atheisten gebe es in der griechischen Kirche; am zahlreichsten dagegen seien sie bei den Katholiken, am zweithäufigsten bei den Reformierten, am seltensten bei den Lutheranern. Die Katholiken machten aus der Religion eine Sache des Pomps, die Reformierten zögen der Heiligen Schrift den V e r stand v o r : „Lutherana religio nihil talium novit aut admittit" — deswegen sei sie auch bisher relativ verschont geblieben. Genau dem konfessionellen Bestand entspricht nun die Quantität der Atheisten in den verschiedenen Ländern Italien, Frankreich, Niederlande, England — und Deutschland. Ebd. S. 19 f. Unter den Niederländern fehlte es jedoch von Anfang an nicht an selbstkritischen Stimmen: „Belgium nostrum, tanquam commune Libertinorum r e c e p t a c u l u m . . n e n n t Voetius seine Heimat, а. а. O . S. 220, und er hält die etwa aus Frankreich kommenden Literaten und Politiker — „ad libertatem Batavicam confugientes" — für suspekt; ebd. S 219. Spizel, Scrutinium Atheismi, 1663, S. 41 ff., bezieht sich wohl nur auf das Urteil des Voetius. Selbstkritische Äußerungen einer Konfession werden oft von der anderen schamlos ausgeschlachtet, natürlich auch innerhalb des Protestantismus. So schreibt der Lutheraner Hieronymus Kromayer mit sichtlicher Befriedigung in seinen Loci Anti-Syncretistici, 1668, S. 3 1 3 : „ . . . Q u a m ob causam Gallia Belgica monstrorum in religione Africa non nemini ex Reformatis hodie vocatur." 3 8 Das allgemein herrschende Geschichtsbild drückt Johann Petrus Grünenberg, D e Atheorum religione prudentum, 1701, S. 34, zusammenfassend so aus: „Prorepsit enim 33

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ist dabei die R e i h e n f o l g e : I t a l i e n — F r a n k r e i c h — derlande, E n g l a n d 3 7 —

(Spanien)36 —

Nie-

Deutschland38.

Gelegentlich w e r d e n auch sozusagen v ö l k e r p s y c h o l o g i s c h e G e s i c h t s p u n k t e zur Geltung gebracht: Die Franzosen während

es die A r t

seien v o n N a t u r aus

wendig39,

d e r S p a n i e r sei, z ä h a m Ü b e r k o m m e n e n

festzu-

h a l t e n 4 0 ; die D e u t s c h e n w e r d e n dabei z w i e s p ä l t i g b e u r t e i l t 4 1 . F ü r die deutschen L u t h e r a n e r jedenfalls steht f e s t : D e r A t h e i s m u s k o m m t aus d e m A u s l a n d , u n d z w a r aus d e m a n d e r s g l ä u b i g e n A u s l a n d . I n I t a l i e n e n t s t a n d e n , h a t er n u n „ a u c h die A l p e s ü b e r s t i e g e n " 4 2 . N u n d a r f m a n nicht m e h r „in G e d a n c k e n stehen / o b f ü n d e n sich dergleichen A t h e i s t e n n u r in F r a n c k r e i c h u n d a n d e r e n P a p i s t i s c h e n O r t h e n . . . " 4 3 . A b e r es h a t schon e t w a s V e r b l ü f f e n d e s , w e n n m a n e t w a die Geschichten des A t h e i s m u s d u r c h b l ä t t e r t ; k l a n g v o l l e N a m e n findet m a n d a f ü r alle Länder

aufgeführt,

die g r o ß e n A u f k l ä r e r

Descartes, Hobbes,

Spinoza

u n d a n d e r e w e r d e n d i r e k t o d e r i n d i r e k t d e n A t h e i s t e n zugerechnet, u n d w e n n d i e R e d e a u f D e u t s c h l a n d k o m m t , d a n n sind d a eigentlich n u r z u illa i m p i e t a s . . . ex Italia, indeque Galliam, Angliam, Belgium incessit, nec Germaniam tandem aliasque regiones intactas r e l i q u i t . . . " . Selten hört man von Atheismus in den Randländern Europas: gar nichts über Skandinavien, wenig über Polen; vgl. Reimmann, Historia universalis Atheismi, 1725, S 435—437; Spizel, Scrutinium Atheismi, 1663, S. 44; sowie oben S. 55. 3 9 Man beruft sich dabei oft auf einen Satz des Petrus Firmianus: „Naturale est Gallis, saepe mutari"; vgl. ζ. B. Reiser, De origine . . . Atheismi, 1669, S. 264. 4 0 „ . . . a novitatibus abhorrent Sc pertinaces sunt in conceptis opinionibus"; Gebh. Theodor Meier, Historia religionum, 1697, S. 25. 4 1 Selbstgefällig stellt Gebh. Theodor Meier а. а. O. S. 25 fest: „Germanorum autem haec est indoles, ut secundum se religionis sint amantissimi." Nach Grünenbergs Meinung tut das jedoch der Verbreitung des Atheismus unter den Deutschen keinen Abbruch: „Fatendum pro dolor! est, licet habiti sint semper non pietatis tantum, sed vel superstitionis tenacissimi Germani, nihilominus venenum hoc Vaninianum plenis phialis illorum quoque animis nunc interfusum e s s e . . . " ; De Atheorum religione prudentum, 1701, § 37. a Heinrich Schmettau, Vorrede von dem Atheismo (1685; nicht pag.). In seiner Schrift De Atheismo eradicando, 1669, bringt Theophil Spizel den Wunsch zum Ausdruck, „Utinam vero ilia DEO atque veritati inimica impietas in nostro pariter ac peregrino solo non tantas radices ageret.. so daß Deutschland nicht, wie jemand befürchtet habe, an diesem Punkt zu einem zweiten Italien oder Frankreich werde! S.18. Eine glatte Gegendarstellung, die aber nirgends Zustimmung gefunden haben wird, bringt Filippo Maria Bonini, L'Ateista convinto, 1665, S. 33: Die bösen Calvinisten machten nur deswegen die Katholiken für das Aufkommen des Atheismus verantwortlich, um ihre eigene Schuld zu vertuschen! Bonini läßt seinen „Filastrio" erläutern: „Sono questi concetti contratti in Francia; & imparati da Calvinisti, i quali per coprire le loro iniquitä, predicano, che in Roma si vive da Ateista; e non sanno, che il peggio de costumi nasce dalla peste, che ci portano i Forastieri." 4 3 Joh. Georg Leuckfeld, Der verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 77. 4 4 Wie wenig man ein Maß für die Proportionen hatte, zeigt das Thema einer Dissertation von Valentin Greissing: Exercitatio academica prior de Atheismo, opposita inprimis Renato des Cartes et Matthiae Knutzen, Wittenberg 1677. 104

nennen — ein gewisser Matthias Knutzen und ein Student aus Glückstadt 44 . Knutzen hatte im Jahr 1674 — am 5. und 6. September — die Gemeinden, die Universität und die Behörden von Jena in Aufregung versetzt: In der Kirche waren zwei Schriften von ihm entdeckt worden, die in Gesprächsform zum Ausdruck brachten, daß es weder Gott noch Teufel gebe, daß die Bibel Fabelwerk sei wie der Koran und daß man sich einzig von seinem Gewissen leiten lassen müsse 45 . Eine der beiden Schriften fand der Buchführer Neuenhahn bei sich zu Hause mit dem Hinweis, er solle sie sofort veröffentlichen „oder durch eine Windbüchse auf öffentlicher Strasse schlaffen geleget werden" 4 6 . Knutzen, der behauptet hatte, in allen Hauptstädten Europas Anhänger zu besitzen, allein in Jena 700, verschwand wieder, „ohnerachtet diese Satanische Fleder-Mauß noch hin- und wieder in Teutschland mit ihren Scartequen herum geflattert" 4 7 ; aber Johann Musärn, um den Ruf seiner Universität besorgt, fühlte sich bemüßigt, eine „amtliche" Darstellung der Ereignisse herauszugeben: „Ableinung Der ausgesprengten abscheulichen Verleumbdung / Ob wäre in . . . Jena eine neue Secte der so genanten Gewissener entstanden . . ." 4 8 . Knutzen war also gewiß kein deutsches „Äquivalent" zu Descartes oder Spinoza. Der atheistische Student aus Glückstadt in Holstein hieß Joachim Gerhard Ram. Er erhängte sich 1687 und hinterließ eine Grabinschrift, die er für sich selbst aufgesetzt hatte. Sie erregte die Gemüter, obwohl sie eher auf den gestörten psychischen Zustand ihres Verfassers rückschließen läßt als auf ausgemachten Atheismus 49 . Mauthner sagt mit Recht, daß Leute wie Knutzen, wie also auch dieser unglückliche Student Ram, Gute Darstellung der Ereignisse und der Knutzenschen Ideen bei Mauthner, Bd. 3, S. 161 ff. Vgl. ferner meinen Aufsatz: Der Atheist Matthias Knutzen streift Altdorf, in: ZBKG 39, 1970, Η. I, S. 1 2 7 f f . 48 Imm. Weber, Beurtheilung der Atheisterey, S. 142; vgl. Musäus, Ableinung, S. 2. 47 Weber, а. а. O. S. 144 f. 48 Jena 1674. Vgl. J. Thomasius, Historia Atheismi (1713), S. 245 ff.; la Croze, Entretiens, 1 7 1 1 . S. 400—417 sowie passim; P. Stockmann, Elucidarius, 1697 2 , s. v. Knuzius. Vgl. Mauthner Bd. 3, S. 168. Sie ist abgedruckt bei Joh. Georg Leuckfeld, Der verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 84 ff. In ihr heißt es u. a.: 45

„ . . . Anima namque nostra mortalis est, Religio ad vulgus pertinet, Inventa scilicet ad decipiendos homines, eoque melius regendum mundum. Neque vero sie sentiens iure videor vocari Athens." Gleichzeitig berichtet sie aber, ihr Verfasser habe unter strömenden Tränen Gott angerufen!

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dadurch zur Gottesleugnung kamen, „daß sie durch einen der umherfliegenden Keime angesteckt worden waren" 50 . Es lag etwas in der Luft, und die These, daß der Atheismus durch eine bestimmte Konfession ausgelöst worden sein sollte, widerlegte sich von selbst. In dieser Schärfe war sie audi nur von den frühen katholischen Polemikern ausgesprochen worden; die Protestanten bezogen von Anfang an andere Faktoren mit ein. 3. Die pietistische

Kritik

Gegen Ende der theologischen Auseinandersetzung mit dem Atheismus war allerdings neben Katholizismus und Protestantismus gleichsam eine „dritte Konfession" aufgekommen, die ebenfalls das Christentum selbst für die Entstehung des Atheismus verantwortlich machte. Bereits Spizel, vom Frühpietismus erfaßt, stellt den Atheismus als Entsprechung zu dem „Pseudo-Christianismus noster" dar 51 und weiß sich darin mit Spener einig, der u. a. kritisiert, daß die Prediger „nicht nach allem vermögen exemplarisch... leben", sondern den Eindruck erwecken, sie nähmen ihre Sache selbst nicht ernst52. Ein nun schon verstorbener Doktor der Theologie, erinnert sich Spener, habe deswegen sogar eine Schrift „de atheismo Theologorum" schreiben wollen; er, Spener, habe ihm aber abgeraten53. Am lebhaftesten bringt die pietistische Kritik Johann Georg Leuckfeld54 in seinem Buch über den verführerischen Atheistenhaufen vor; als „Hauptuhrsache der heutigen Atheisterey" geißelt er neben dem „Hoff-Leben" 55 und dem „Kriegsleben"5® das „Universitäts Leben" 57 , wobei der Lebenswandel und der Arbeitsstil der Lehrenden und cler Lernenden sowie das Verhalten der Geistlichen auf über 450 Seiten gebrandmarkt werden. Der Atheismus gerät dabei streckenweise völlig außer Sicht; als die eigentlich Angegriffenen erscheinen vielmehr TheologieStudenten, Theologie-Professoren und Pfarrer. In die gleiche Kerbe, allerdings mit mehr Urteilskraft auch über weitere Wurzeln des Atheismus, schlägt Gottfried Arnold. Er beklagt den „verderbten Zustand der clerisey" und schreibt: „Diese kaltsinnige und elende Lehrart hat klugen А. а. O. Bd. 3, S. 167. Budde, Theses, 1717, S. 198 ff., berichtet zudem über eine um das Jahr 1694 in Berlin aufgetauchte Sdirift „Concordia rationis & fidei", und über einen ähnlichen atheistischen Text, der auf einer Kanzel in Magdeburg gefunden worden sei. 5 1 De Atheismi radice, 1666, S. 59. 5 2 Letzte Theologische Bedencken, Teil I (1721 2 ), Cap. II, Art. I, Sect. IV, Bd. I, S. 336 f. 5 3 Ebd. Nach Blaufuß, Gottlieb Spizel, S. 274, handelt es sich um Anton Reiser! 5 4 Leudcfeld ( 1 6 6 8 — 1 7 2 6 ) war ab 1702 Pastor in Groningen bei Halberstadt und hat sich hauptsächlich mit historischen Problemen befaßt; vgl. Jöcher II, Sp. 2402 f.; A D B 18, S. 481 f. 5 e S. 209 5 7 S. 228 ff. 55 S. 161 ff. ff. 50

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gemüthern freylich nicht schmecken / noch satisfaction geben können / welche so fort nach etwas anders gegrübelt" 5 8 . Ein eigenartiges Argument bringt A d a m Rechenberg bei: Vielleicht sei das Evangelium zu uneingeschränkt jedermann jederzeit angeboten worden 5 9 ? Die Orthodoxie ihrerseits kann jedoch den Pietismus als Wegbereiter des Atheismus bezeichnen, da er — wie das D o g m a der katholischen Kirche — die Autorität der Schrift erschüttere eo . b) Die religiöse 1.

Gleichgültigkeit

Indifferentismus

Wenn sich die christlichen Konfessionen und Gruppen gegenseitig die Schuld für das Aufkommen des Atheismus zuschoben, so sprach sich darin auch eine richtige Beobachtung aus, die freilich keine von ihnen einzeln betraf. Die Tatsache, daß sich die Christenheit in verschiedene Gruppen hatte zerschlagen lassen, die nun alle für sich den Anspruch der Unfehlbarkeit und absoluten Geltung mehr oder minder deutlich erhoben, mußte die Standpunkte relativieren 6 1 . Francis Bacon hält, von einem über die konfessionellen Streitereien erhabenen Standpunkt aus, nicht das D o g m a der einen oder anderen Denomination für eine Ursache des Atheismus, sondern grundsätzlich das Faktum der „Divisiones" in der Christenheit 6 2 . Kirdien- und Ketzerhistorie, 1699, Bd. 2, S. 611. Mit Leuckfeld setzt sich Paul Stockmann auseinander, Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, S. 257 f.: Wohl beeinträchtige der Lebenswandel der Prediger deren Verkündigung, aber Gottes Wort werde deswegen nicht kraftlos, und darum dürfe man ihn nicht ohne weiteres als Ursache des Atheismus bezeichnen. Man solle vielmehr daran denken, daß es audi Fromme gebe, „dergleichen doch noch über all anzutreffen"; S. 258. 5 9 (Neben vielen anderen auch sonst genannten „causae":) „gratiae divinae omnibus induratis ad extremum vitae halitum semper paratae promissio"; Fundamenta verae religionis, 1708, S. 71. 9 0 Atheismus und Enthusiasmus, schreibt Johann Christoph Dorn, — »licet inter se toto differant coelo, conveniunt tarnen in oppugnanda scripturarum auctoritate, ille quidem apertius, hic cum quibusdam ambagibus"; Bibliotheca theologica, 1721, S. 492. 6 1 Man muß sich allerdings darüber im klaren sein, daß diese Relativierung audi deswegen das Christentum in seiner Gesamtheit bedrohte, weil es zu eben dieser Zeit erste intensivere Kontakte mit anderen Religionen bekam. N u n wurde es nötig, die Wahrheit der christlichen Religion apologetisch abzusichern. Hugo Grotius verfaßt seine Schrift De veritate religionis christianae, 1627 (ich zitiere nach der mit Anmerkungen versehenen Ausgabe Leiden 1640) mit dem Ziel, seine zur See fahrenden Landsleute für eine Begegnung mit den fremden Religionen in China, Persien oder Guinea zu rüsten: „ . . . ut recte armati sint nostrates, & qui ingenio praestant, incumbant pro virili devincendis erroribus: caeteri saltern id caveant, ne ab aliis vincantur." S. 7 f. 6 2 Sermones fideles (1685), S. 66 (Sermo X V I ) . Diese Stelle wird oft von den Apologeten zitiert und natürlidi auch korrigiert; vgl. Th. Spizel, D e Atheismi radice, 1666, S. 33 ff., der das Problem nicht bei der Verschiedenheit der Gruppen als soldier sieht, sondern bei der durch sie entstehenden Verwirrung, bei Konfessionswechsel oder simu58

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Man kennt ein ganzes Spektrum von -ismen, durch das man das nun überall zu erkennende Phänomen der Relativierung christlichen Glaubensguts zu umschreiben versucht: D a stehen auf der einen Seite „Samaritanismus" und „Syncretismus" als Prozesse der Religionsvermischung®3, die freilich nicht so direkt zum Atheismus führen wie „Puccianismus" e 4 , lierter Übernahme der Konfession des Landes. Unbesehen macht sich Gebh. Th. Meier die Meinung Bacons zu eigen: Die Vielzahl christlicher Gruppen führe zum Libertinismus, den er als „foecunda mater atheismi" bezeichnet; Historia religionum, 1697, S. 18 f. 6 3 Calov urteilt: „Samaritanismus est mixtura quaedam religionum, qua via sternitur ad Atheismum; quum πολυ-9-εότης sit άθεότης." Systema, Tomus I, 1655, Cap. I I , S. 122. Samaritanismus und Synkretismus gelten ihm als „Atheismus inchoatus" (ebd.). Uber Samaritanismus klagt bereits Johann Wigand in seinen bissigen Ausführungen über die „Turbatores omnium maximi", — nämlich die Theologen, die sich mit Gleichgültigkeit in Lehre und Leben nicht zufrieden geben; vgl. D e arguendis falsis dogmatibus et doctoribus, о. O . 1580, S. 1 7 6 f f . Gegen den Synkretismus wendet sich in bildhafter Rede J o h a n n Conrad Dannhauer. Synkretismus ist ihm „Mixtur oder Mischmasch"; denn „ob wohl der General concept eine Einigkeit von sich scheinen lasset / so stecken doch unter demselben Trojanischen Pferde vil aequivocationes, die zwar nicht ein jedes Auge alsobald mercket / doch das Luxauge penetriren kan." Die Erstgeburt dieser „großen Religion" ist der Atheismus! Dannhauer hat freilich eine sehr unscharfe Vorstellung von „Atheismus". Reformirtes Salve, 1658, S. 755. Anton Reiser beteuert, in Deutschland, wo durch Luther der apostolische Glaube wiederhergestellt worden sei, sollte der Atheismus nur schwer Eingang finden; D e o r i g i n e . . . Atheismi, 1669, S. 2 9 0 ; aber neben dem „Atheismus practicus" sei hier besonders der Synkretismus schon gediehen, ebd. S. 300. Zum Problem des Synkretismus insgesamt vgl. O . Ritsehl, Das orthodoxe Luthertum im Gegensatz zu der reformierten Theologie und in Auseinandersetzung mit dem Synkretismus (Dogmengeschichte des Proestantismus, Bd. 4), Göttingen 1927, S. 231 ff. (bes. S. 423), sowie den sehr instruktiven Aufsatz von M . Geiger: Evangelische Theologie im Zeitalter der Hochorthodoxie, i n : Evang. Theologie 1949, H . 2. Zur Auseinandersetzung mit dem Synkretismus innerhalb der lutherischen Theologie vgl. A . Schleiff, Selbstkritik der lutherischen Kirchen im 17. J a h r hundert, Berlin 1937, S. 45 ff., sowie besonders H . Schüssler, Georg Calixt. Theologie und Kirdienpolitik, Wiesbaden 1 9 6 1 ; für den reformierten Raum vgl. M . Geiger, Die Basler Kirche und Theologie der Hochorthodoxie, Zollikon-Zürich 1952. D e r Zusammenhang zwischen den synkretistischen Bestrebungen innerhalb der Kirchen mit den indifferentischen Tendenzen des Jahrhunderts würde eine genauere Untersuchung verdienen. So genannt nach Franciscus Puccius (gest. um 1600), der, ursprünglich katholisch, sich den Reformierten zuwandte, eine Zeitlang die Partei der Sozinianer ergriff und schließlich nadi einem innerlich und äußerlich ruhelosen Leben — Florenz, Lyon, O x f o r d , Basel, London, Holland, Polen und R o m sind die Stationen — wieder katholisch wurde. Vgl. Jöcher I I I , Sp. 1802. Puccianismus bezeichnet die innere Haltung, in der man meint, jeder könne nach seiner F a j o n selig werden; vgl. Calov, Systema, Tomus I, 1655, S. 123. Es ist schon erstaunlich, wenn bereits Kilian Rudrauff in seiner Protheoria theologica 1677 die Frage verhandeln m u ß : „An quisque in sua quacunque Religione salvari possit?" S. 89 ff. 64

108

„Gallionismus" 65 , „Ecebolismus" 6e , „Libertinismus" 67 und „Neutralismus" als indifferentistische Erscheinungen 68 auf der anderen Seite. Man ist der ewigen unerquicklichen Kontroversen überdrüssig; vergeblich bemühen sich einige unermüdliche Mahner bei den synkretistischen Streitigkeiten im lutherischen und reformierten Raum, eine Geisteshaltung zu retten und zu bewahren, die unaufhaltsam im Schwinden begriffen ist. Wie man nach den Häresien der ersten Jahrhunderte „des Katzbalgens" müde geworden sei und im Koran eine Mischung von christlichen, jüdischen und mohammedanischen Elementen vorgenommen habe, klagt Dannhauer in grandioser kirchengeschichtlicher Unkenntnis, so werde es 63

Der Gallionismus h a t seinen N a m e n von dem römischen Prokonsul Gallio in Korinth (vgl. Apg. 18,12 ff.), — „auff Teutsch Milchmaul", kommentiert Joh. C o n r a d D a n n h a u e r , der in seinem Buch „Reformirtes Salve", 1658, eine umfassende D a r stellung dieses Phänomens gibt: Gallionismus ist „ein solcher arg Politischer Fund / da man auß G o t t - und sorglosem trägem und ungerechtem Gemüth / und falscher Einbildung einer sonderbahren Tugend / der Religion-Streitigkeiten sich entschläget / dieselbe(n) u n e r k a n d t und unerörtert auff der w a g hengen lasset / die ohren d a f ü r verstopffet / u n d also den Religion-frieden hindert." S. 630. Im einzelnen kritisiert D a n n h a u e r an Gallio folgende P u n k t e : „Amelia Atheistica, die G o t t - und sorglose Trägheit / d a ß er jhme unbekandte Sachen nicht wollen bekandt machen / und eine solche schöne G e l e g e n h e i t . . . nicht bey den v o r d e m harlocken e r g r i f f e n . . . " ; S. 627; „Pseudophantasia", nach der er meinte, ein Religionsstreit gehöre nicht vor sein Gericht: „Es ist jhme dem Römer die Politische Theologia im Kopff g e s t e d c e t . . . " , wäre das Evangelium in Rom damals bereits angenommen worden, so hätte er bestimmt wie später des „Constantini H o f f s d i m a r u t z e r " sich dem Kaiser „accomodirt"; S. 628. „Pilatus w a r eben deß humors, da er hönisch gefragt / was ist warheit?" — ebenso Festus! S. 630. Ausführlich schildert D a n n h a u e r im folgenden die „Gallions-larv"; S. 631 ff. An diesem Beispiel läßt sich wieder gut beobachten, wie die damaligen Theologen die Probleme ihrer Zeit durch Retrojektion auf Schriftaussagen zu bewältigen versuchten. Vgl. oben A n m . 20; unten S. 163 f. 66 Ecebolus galt als der klassische Oberläufer der Alten Kirche; nach dem Wechsel der Religionspolitik durch Kaiser Julian zog er sofort die Konsequenzen; vgl. J o h a n n Müller, Atheismus devictus, 1672, S. 45 ff. 67 Zum Libertinismus vgl. D a n n h a u e r , Reformirtes Salve, 1658, S. 6 4 2 f . : M a n werde verschiedener Feuersbrünste in einer Stadt doch auch nicht dadurch H e r r , d a ß man sie sich austoben lasse, u n d m a n erreiche H a r m o n i e in der Musik nicht dadurch, d a ß man jedem „in seinem T h o n " zu singen erlaube: „ G o t t der H e r r ist ein Zelotes u n d gerechter Eiferer / u n d kein Hurengauch / wie der Sathan der rivales neben sich leiden kan." Hieronymus Kromayer urteilt in seinen Loci Anti-Syncetistici, 1668, S. 299 ff.: Mit dem Schwärmertum der Reformationszeit und der arminianischen Forderung der „libertas p r o p h e t a n d i " habe es begonnen; heute aber heiße die Losung der Libertiner: „Nihil scire tutissima fides." 68 Breit werden diese Dinge ausgeführt etwa bei Valentin E. Löscher, Praenotiones theologicae, 1713 2 , S. 149ff.; Gottlieb Fecht, Brevis et nervosa de indifferentismo religionum commentatio, Wittenberg 1716; Johannes Fecht, Historia et examen novae theologiae indifferentisticae, Rostode und Leipzig 1721. Das am häufigsten zitierte W e r k auf katholischer Seite stammt von dem Ingolstädter Jesuiten Laurentius Forer, w ä h r e n d sich auf reformierter Seite am meisten der Professor in Saumur, Amyrault, um dieses Problem verdient gemacht hat.

109

auch jetzt gehen: „wehe der armen Posterität" 8 9 ! Anton Reiser stellt in seinem Buch über den Ursprung des Atheismus traurig fest, daß die militante Theologie nur noch wenige Vertreter habe und daß viele den Frieden mehr lieben als den Staub der Arena 7 0 . Wenn das schon unter den Theologen so ist, dann erst recht unter den Laien. So gibt es denn „fast noch eine dritte Art der Leute zwischen denen Gottesfiirchtigen und Atheisten", schreibt Seckendorf: nämlich diejenigen, die sich um religiöse Dinge überhaupt nicht kümmern 71 , oder Leute, die je nach Opportunität „religiös" sind: „A la mode Christen" nennt sie Leuckfeld1-. Ihr Grundsatz lautet: „Qualis regio, talis religio" 73 — eine beinahe zwangsläufige Folge aus den Augsburger Beschlüssen von 1555. „Romae si fueris, Romano vivito more", sagt man sich augenzwinkernd 74 . Die antiatheistischen Autoren wissen wohl, daß sich diese Geisteshaltung nicht zu einem grundsätzlichen und fundierten Atheismus auswachsen muß, aber sie sehen in ihr doch den Wurzelboden, in dem er prächtig gedeihen kann 75 . 69

Reformirtes Salve, 1658, S. 637 f.

70

D e origine . . . A t h e i s m i , 1 6 6 9 , S . 2 9 2 : „ . . . non p a u c i T b e o l o g i a e B e l l a t r i c i s taedio

a d f e c t i m a l l e n t in p a c e , v e l si m e n t e m e o r u m apertius e x p l i c a r e fas est, in t u r p i otio, q u a m in p u l v e r e & a r e n a v i v e r e . . . " . V a l e n t i n E . Löscher z ä h l t es ebenfalls zu den U r s a c h e n des Atheismus, d a ß m a n theologische K o n t r o v e r s e n als „ l o g o m a d i i a s , v a n o s i n g e n i o r u m lusus SC d o c t o r u m f r a u d e s " a b t u t und alle K o n f e s s i o n e n als gleichwertig anerkennt;

Praenotiones,

17132, Prolusio.

Umgekehrt

behaupten

die dem

Pietismus

nahestehenden A u t o r e n , gerade „super kluge S c h o l a s t i c i " , „viel Zancksüchtige

Theo-

l o g i " u n d die L i e b l o s i g k e i t in theologischen K o n t r o v e r s f r a g e n h ä t t e n das C h r i s t e n t u m u n g l a u b w ü r d i g gemacht u n d das A u f k o m m e n des Atheismus g e f ö r d e r t ; so L e u c k f e l d , D e r verführerische A t h e i s t e n H a u f f e , 1 6 9 9 , S . 2 5 2 , 3 1 5 ff. D i e „ T h e o l o g o r u m d i g l a d i a t i o n e s " b r i n g e n es d a h i n , d a ß die A u ß e n s t e h e n d e n — „ p r o f a n i " — zu f r a g e n b e g i n n e n : „ U b i est vester D e u s ? " J . T h o m a s i u s , H i s t o r i a A t h e i s m i ( 1 7 1 3 ) , S . 3 7 ff. 71

Christen-Staat, 1685, S. 55.

72

D e r verführerische A t h e i s t e n H a u f f e , 1 6 9 9 , S. 1 4 3 .

73

G r ü n e n b e r g , D e A t h e o r u m religione p r u d e n t u m , 1 7 0 1 , § 8.

74

G r ü n e n b e r g , ebd. § 4 3 .

75

Zunächst w i r d der Indifferentismus natürlich als A u f w e i c h u n g der eigenen L i n i e den

a n d e r e n christlichen D e n o m i n a t i o n e n u n d G r u p p e n gegenüber e m p f u n d e n . E i n

gutes

Beispiel f ü r diese Besorgnis findet sich in der N a c h r e d e v o n V a l e n t i n E . Löschers Schrift „Abgewiesener dernden

D e m a s , Z u r Ü b e r z e u g u n g der P ä b s t l e r , U n d der den A b f a l l

Frey-Geister",

Leipzig

1713. D o r t

erscheint

beför-

der Indifferentismus w o h l

„der b r e i t e unselige H ö l l e n - W e g , auff welchen i e t z o nicht n u r das P a b s t t h u m

als

unter

einem prächtigen W e l t - P u r p u r , sondern auch der C a l v i n i s m u s u n t e r einem liebreichen U n i o n s - M a n t e l , u n d das schwärmerische W e s e n u n t e r einem heiligen S c h a f s - K l e i d zu uns eindringen w i l l . " (S. 2 0 2 ) . D e s h a l b ruft Löscher z u einer energischen inneren A b w e h r a u f , je m e h r „der Genius Seculi zur F r e y - G e i s t e r e y r e i t z e t " (S. 2 0 3 ) . A l s die g r ö ß e r e G e f a h r sieht er a b e r den K a t h o l i z i s m u s , u n d er fürchtet, d a ß der „ c o m m o d e Indifferentismus"

(S. 2 0 3 ) den P r o t e s t a n t i s m u s innerlich aushöhlen und dem K a t h o l i -

zismus unterlegen machen k ö n n t e .

110

2.

Machiavellismus

Eine besondere Ausprägung mußte der Indifferentismus in der Politik gewinnen. Konfessionswechsel aus politischen Gründen war seit der Reformationszeit gang und gäbe. Pseudopolitiker, schreibt Spizel, wechseln ihre Religion wie die Komödianten ihre Rollen 7 e . Aber in großer Übereinstimmung führen die antiatheistischen Autoren aller Konfessionen den Indifferentismus im politischen Bereich nicht auf ein allgemeines Nachlassen des religiösen Ernstes zurück, sondern auf einen Mann, der seine Thesen schon verkündet hatte, bevor noch die Christenheit in Konfessionen zerfallen war: Machiavelli. Vor allem die katholische Polemik hat sich auf das Problem des Machiavellismus gestürzt und diesen anfangs als Variation des Atheismus verstanden 7 7 . Wenn die Religion gegenüber politischen Bedürfnissen zurückzutreten hat, dann doch wohl audi Gott selbst? Diese theoretische Frage stellt Wilhelm von Assonlevilla „nostris Politicis (ne dicam Atheis)" 78 . Auch viele protestantische Autoren kommen irgendwann im Lauf ihrer Erörterungen auf „unsere heutige(n) Atheistische(n) Statisten" zu sprechen 79 , verstehen den Machiavellismus aber in zunehmendem Maße nicht bereits als eine Spielart des Atheismus 80 , mindestens nicht des atheismus speculativus, sondern eher als eine Haltung, die leicht zum Atheismus führen kann. Freilich laute die Losung der Machiavellisten: Religionem colito, sed nullam habeto 8 1 ! Auf die originellste Weise setzt sich Johann Lassenius mit diesem Problem in seiner Schrift „Arcana Politico-Atheistica" 82 auseinander. Philalethes, eine der in ihr auftretenden allegorischen Gestalten, berichtet, er habe seine Stellung verloren, weil er mit den „neulichst erst formirte(n) Staats Regulen" in Konflikt gekommen sei, als er nämlich „auff der Warheits Geigen öffentlich zu streichen begunte" 8 3 . Als er von seinem Freund Philostoreon über einen Jahrmarkt geführt wird, begegnen den beiden weitere allegorisch ausstaffierte Männer: Der eine trägt eine Brille mit der Aufschrift „INTERESSE", der andere einen Mantel, auf dem zu lesen steht „ D E F E N S I O " , es gibt „Estats-Hüte", auf denen die Worte ™ De Atheismi radice, 1666, S. 28. 77 Vgl. Theophil Raynaud, D e malis ac bonis libris, 1653, S. 27 f.; dort die wesentliche kath. Literatur. 78 Atheomastix, 1598, S. 73; vgl. S. 68—120. '» Scriver, Seelen-Sdiatz (1701), Teil IV, 12. Predigt, § 69, S. 421. Vgl. Johann Müller, Atheismus devictus, 1672, S. 47ff.; Spizel, Scrutinium Atheismi, 1663, S. 85 ff.; Reiser, De origine . . . Atheismi, 1669, S. 319 ff. 80 Vgl. Voetius, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 189, der die Politiker für die im Augenblick zahlreichsten Vertreter des Atheismus hält, diesen aber auch die Würdenträger der katholischen Kirche zurechnet. 81 Leuckfeld, Der verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 142. 82 О. O. 1686; gewidmet „Dem Auffrichtigen / Frommen und weitberühmten Herrn Herrn Nemo von Allerhausen . . 83 S. 32 f.

111

„REPUTATIO" und „RELIGIO" angebracht sind, und ein gewisser „Mustaphus", der die für jeden Regierenden notwendigen Requisiten feilbietet, erklärt sich bereit, ein Rezept für alle Politiker, über das er verfügt, zu erläutern . . . Das Buch ist zur Zeit der Höhe absolutistischen Machtstrebens geschrieben, als ein tapferer kirchlicher Protest, der sich freilich zugleich gegen weite Kreise der offiziellen evangelischen Kirche richten muß, „welche über ihrem verfluchten unnd vermaledeyeten stillschweigen oder überhinsehen / oder vielmehr Theologischen Simulation und Discretion, fast zu Grunde g e h e t . . . " 8 4 . Angebahnt hatten sich diese Dinge freilich längst vorher; auch der komödiantenhafte Mustaphus des Lassenius beruft sich schließlich auf Machiavelli. Protestantische Autoren nennen in diesem Zusammenhang oft Daniel Clasen, den sie als eine Art „protestantischen Machiavelli" verstehen 85 . Am besten zusammengefaßt hat die einschlägige Literatur wieder Johann Albert FabriciusM\ man gewinnt an ihr unschwer einen Eindruck von dem starken Zustrom säkularen Geistes, der von Machiavelli an die absolutistisch regierten Jahrhunderte zu erfüllen begann und tatsächlich im Atheismus seine letzte Konsequenz haben konnte 87 . 3. Der Dreißigjährige

Krieg

Eine Bemerkung ist hier noch zu machen hinsichtlich der Auswirkungen des 30jährigen Krieges auf die religiöse Lage in Europa. Gewöhnlich nimmt man an, der „Glaubenskrieg" habe die innere Kraft der um ihren Anspruch und ihre Geltung kämpfenden Nationen und Konfessionen derart erschöpft, daß nur Erschlaffung und religiöse Gleichgültigkeit die Folge sein konnten 88 . Aber die Theologen, die den Atheismus bekämpften, rechneten diesen Krieg nur selten zu seinen Ursachen, und wenn sie es taten, dann ganz anders, als man es erwarten möchte. Theophil Großgebauer, fast der einzige, der in diesem Zusammenhang auf den Krieg S. 89. Gegenüber dem Einwand, er sei zu solchen Äußerungen nicht berufen, fragt Philalethes, ob er denn warten solle, bis die Unterdrücker der Wahrheit ihm „vocation geben" werden; S. 90. 85 De religione politica liber unus, Serwest 1681 2 . Clasen (1622—1678) wirkte an verschiedenen Schulen in Magdeburg und Lüneburg, ab 1669 als Professor der Jurisprudenz in Helmstedt; vgl. Jöcher I, Sp. 1936. 86 Delectus, 1725, Cap. IX, S. 317—324. 87 Eine „Ausgewählte Bibliographie" der Sekundärliteratur zum Werk und zur W i r kunstgeschichte Machiavellis gibt Bd. 2 der „Klassiker der Politik", Niccolo Machiavelli, Politische Betrachtungen über die alte und die italienische Geschichte, Köln und Opladen 1965 2 (herausgeg. von E. Faul), S. 355—367. Wesentliches über den Kampf gegen den Machiavellismus in unserem Zeitraum bringt Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson ( = Werke, Bd. 1), München 1957, S. 57—301. 88 Vgl. K . Holl, Die Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus, in: Ges. Aufsätze zur Kirchengeschichte Bd. III, Der Westen, Tübingen 1928, S. 302 ff., bes. S. 3 1 4 ff. 84

112

zu sprechen kommt, verdammt ihn, weil er aus dem Egoismus entspringe und die Menschen verrohe und in Sünden führe, in denen sie sich wohl fühlen; was haben sie nun, fragt er, „für einen nähern Weg in ihren Sünden zu beharren / und dabey einen guten frölichen Muth zu haben / als daß sie sich fest einbilden / die Heil. Schriffl sey Menschengedicht / das Gewissen sey Melancholey / die Hölle sey ein Kinderspiel. Da haben wir einen vollkommenen Atheismum, und eine Verlästerung der Heil. Bibel" 89 . So hätte er von jedem anderen Krieg aus auch argumentieren können. Vielleicht empfand man den 30jährigen Krieg damals nicht so sehr als konfessionellen Krieg wie heute 90 ! Religiöse Gleichgültigkeit konnte von wachen Gemütern eher als Ursache denn als Folge des Krieges verstanden werden 91 . Als Reflex auf die religiöse Gespanntheit der Kriegsjahre allein ließ sie sich jedenfalls nicht erklären. Das wird einem unwiderlegbar daran deutlich, daß die ersten Klagen über beginnenden Indifferentismus und Atheismus nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte vor dem Beginn des 30jährigen Kriegs geäußert und gedruckt worden sind 92 . Der Krieg hat nur Tendenzen forciert und radikalisiert, die latent schon lange vorher vorhanden waren. Der Atheismus mußte also andere wesentliche Wurzeln gehabt haben als die konfessionelle Vielfalt, und seine Bekämpfer wußten das. 8 9 Praeservatif, 1661, S. 21. I m folgenden werden auf fast 20 Seiten die Prediger, die den Krieg biblisch legitimiert hatten, für die Entstehung des Atheismus verantwortlich gemacht; Großgebauer warnt sie eindringlich, dies zu wiederholen: „Sonst machet ihr eben durch diese Unbedachtsamkeit heimbliche Atheisten / welche / nach dem sie in den Kriegen ihr Gewissen abgebrand / läugnen sie auch die göttliche Autorität der H . Schrifft / dieweil sie ihr Leben verdammet." E b d . S. 39. Diese Sicht ist für damalige Verhältnisse ganz außergewöhnlich, angeregt vielleicht durch Großgebauers Beschäftigung mit den Quäkern. m Nicht anders erscheinen die Dinge bei Johann Georg Leuckfeld, bei dem ebenfalls die allgemeine innere Verrohung als Ursache des Atheismus zu stehen kommt, nicht aber der konfessionelle Faktor des Krieges. E r illustriert sie an Anekdoten, ζ. B. einer aus Grundmanns Geschichts-Schule übernommenen Geschichte von einem hohen Militär, der behauptet habe, wenn er schöne Trompeter, eine schöne T a f e l und schöne „Dames" habe, könnten die Pfaffen lange von der Hölle und den Teufeln predigen! Der verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 2 2 7 f . ; vgl. ab S. 2 0 9 ; ferner J o h . Müller, Atheismus devictus, 1672, S. 4 2 f. 111 Das ist der Tenor von Christian Hoburgs Schrift „Heutiger / Langwieriger / verwirreter Teutscher K r i e g . . L ü n e b u r g 1644. Hoburg ( 1 6 0 7 — 1 6 7 5 ) gehörte allerdings zu den „radikal kirchenkritischen" Geistern, die mit ihren Vorwürfen eher auf die Kirche abzielten als auf die W e l t ; vgl. M . Schmidt, in: R G G 3 I I I , Sp. 373 f. 9 2 Vgl. die Vorreden der schon genannten Bücher von Bourgueville, 1564, und Assonle villa, 1598; den Artikel „Athei" bei Prateolus (1581), die Disp. I bei Vorst, 1598, und die Disp. I X im Syntagma des Tilenus, 1607 — um nur das Wesentlichste zu nennen; vgl. ferner die Auseinandersetzung um Puccius oder Cardanus, schließlich auch das Werk Mersennes, oder man denke an den Aufruf J o h a n n Wigands ( 1 5 2 3 — 1587), des Kampfgenossen Flacius', sich gegen Zerfallserscheinungen energisch zur Wehr zu setzen: D e arguendis falsis dogmatibus et doctoribus, 1580.

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с) Der Einfluß der Antike 1. Die Antike als Arsenal der Atheisten Trotz der durch die konfessionelle Polemik entstehenden Verzerrungen hatten die antiatheistischen Autoren oft audi einen erstaunlich klaren Blick für das, was uns heute als eine wesentliche Wurzel des Atheismus erscheint93. Voetius charakterisiert es markant durch zwei Nebensätze: „Renascentibus bonis literis . . . Resuscitata philosophia Graeca . . . " 9 4 . Die Atheisten haben Autoritäten, auf die sie sich berufen können 95 , und sie haben einen Deckmantel, unter dem sie ihren Ideen nachgehen können 96 . Wir brauchen uns durch ihre Argumente nicht imponieren zu lassen, meint Mersenne, denn wir wissen, woher sie stammen 97 . Spizel rügt die Leute, „qui frequenter volvunt Gentilium libros", ohne sie freilich deswegen gleich als Atheisten auszugeben98, aber das Erbe der Antike beginnt sich unter der Hand als äußerst gefährlich zu erweisen. Eine ernsthafte Untersuchung darüber wird notwendig, welche Philosophen 93

Fr. Bacon formuliert es so: „Secula erudita, praesertim cum Pace, & rebus prosperis conjuncta . . . " ; Sermones fideles (1685), S. 66. 94 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 216 f. Ebenso Christian Kortholt, De tribus impostoribus magnis, 1680 (Vorrede, nicht pag.; 8. S.). Vgl. das instruktive Kapitel „The Revival of Greek Scepticism in the 16th Century" in: R. H . Popkin, The History of Scepticism, 1960, S. 17—43. Gelegentlich deuten die Apologeten an, wie es ihrer Meinung nach zu dieser Entwicklung gekommen sei. Reimmann verweist auf die Florentiner Akademie, Historia universalis Atheismi, 1725, S. 352 ff. Joh. Christ. Wolf auf die Flucht griechischer Gelehrter nach der Einnahme von Konstantinopel, Atheismi falso suspectos, 17172, S. 14. Paradoxerweise nennt Jean Hardouin die Atheisten „Paganismi.. . reliquias"; Athei detecti, Praefatio, in: Opera varia, 1733. Er denkt dabei aber offenbar nur an das antike Heidentum; denn von nichts distanzierten sich die Aufklärer so sehr wie von Heidentum und Aberglauben. 95 In einigen wenigen treffenden Sätzen umreißt Voetius а. а. O. S. 217 hervorragend den Sachverhalt: „Sic cum Aristotele de Dei Providentia, de supernaturalium ad naturales causas revocatione, cum Galeno de animae essentia, cum Averroe de intellectu universali, & mundi aeternitate, cum Avicenna de miraculis Sc prophetia per corporis temperamentum &c. suaviter άθείζουσι, imprimis philosophi & Medici in Italia . . . " . 96 Statt des Evangeliums regieren „Machiavellisten, Epicurer und Athei unter dem schönen Schein der Lateinischen und Griechischen Sprache / der Poeterey / der Rechte / und der Philosophey" die Schulen, schreibt Großgebauer in der Dedicatio seines Praeservatifs, 1661 (nicht pag.). Er versteht nicht, daß sich diese Leute darüber ereifern, ob „intelligo oder intellego" die korrekte Form sei, — „die da ehe einen Spruch aus Seneca oder Euripide zu erzehlen wissen / als aus dem Paulo oder Esaia"; dadurch werde ganz gewiß dem Atheismus die Bahn bereitet (ebd.). 97 Gn-Kommentar, 1623, Sp. 715: „ . . . n e q u e forsitan ullis Atheis ingenio cedimus, quod si Avicennae, Averrois, Pythagorae, Caballistarum, Democriti, Anaxagorae, Piatonis, Aristotelis, & aliorum Arabum, Graecorum vel Latinorum philosophorum placitis & opinonibus animum suum vel a tenellis unguiculis imbuerunt & addixerunt, illas opiniones non ignoramus, & facile veras a falsis seponere possumus." 98 De Atheismi radice, 1666, S. 18. 114

des Altertums atheistische Gedanken vertreten haben und welche nicht. In barocker Weitschweifigkeit und enzyklopädistischer Gelehrsamkeit wird sie durchgeführt. Zunächst zählt man einfach die N a m e n der Verdächtigen a u f " . In den „Geschichten des Atheismus" weiten sich die knappen Listen zu langen und langatmigen Kapiteln aus 1 0 0 . Während man anfangs die Atheisten der Antike für Einzelerscheinungen hielt 101 , gewinnt man später den Eindruck, daß es von ihnen damals geradezu gewimmelt habe 1 0 2 . Man untersucht den Atheismus der Antike in gelehrten Einzelarbeiten 1 0 3 und unternimmt andererseits auch einiges, um die antike Philosophie von diesem Vorwurf zu entlasten 1 0 4 . U m eine ZusamGabriel Prateolus, De y i t i s . . . (1581), nennt u. a. Diagoras, Theodor aus Kyrene, der in der Wende vom 4. zum 3. vorchristlichen Jahrhundert die dortige Philosophensdiule mitgeprägt hat und wie Diagoras schon in der Antike den Beinamen ό άθεος erhalten hatte (vgl. Pauly-Wissowa Bd. 10, Sp. 1825 ff.), Euhemeros von Tegea, der die Götter für verherrlichte Heroen der Vorzeit hielt, Callimachus, Prodikus, Plinius, Lucian und Lucrez. Immer schon suspekt war natürlich Epikur (Sp. 71 b). 99

J . Thomasius, Historia Atheismi (1713), Cap. I V — V I , S. 72—142; Reimmann, Historia universalis Atheismi, 1725, C a p . X V — L X I , S. 109—302; vgl. auch Budde, Theses, 1717, Cap. I, § 9—22; Grünenberg, De Atheorum religione prudentum, 1701, § 27 ff. 1 0 1 Petrus Molinaeus, D e cognitione Dei, 1625, behauptet, manchmal habe es in einem Jahrhundert nicht einen einzigen Atheisten gegeben, wenngleich er zugeben muß, daß die Leugnung der Providenz häufiger vorkam, S. 34 f. 1 0 2 So sei etwa die Insel Melos „mit Atheisten gantz angefüllet gewesen"; Weber, Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 10. Melos war die Heimat des Diagoras! 1 0 3 Ζ. B. Joh. Heinrich Foppius, Disp. de Atheismo philosophorum gentilium celebriorum, Bremen 1714. 104 So Joh. Ludwig Fabricius in seinem Apologeticum pro humano genere contra Atheismi calumniam, Heidelberg 1682 (der Titel ist zitiert nach J . A. Fabricius, Delectus, 1725, S. 311; das Original war mir noch nicht zugänglich); Joh. Christoph Wolf, Atheismi falso suspectos, Wittenberg 1717 2 . Der originellste Versuch in dieser Hinsicht ist vielleicht Johann Philipp Treuners Theologia Athei seu qui ita injuste audit, Luciani, Jena 1697. Allenthalben werde Lucian des Atheismus verdächtigt, so daß „Lucianus" schon zu einem Synonym für „impius" geworden sei; „cum in Deos Gentilium aliquanto liberius inveheretur, a Deorum istorum patronis communiter pro atheo & blasphemo habebatur. Atque haec opinio totum ferme orbem eruditum est pervagata" (Praeloquium). Er, Treuner, habe sich Lucian nun einmal etwas genauer angesehen und fühle sich dadurch veranlaßt, die Theologie des Lucian aufzuweisen. Er unternimmt das nach dem Sdiema des damaligen Theologiebegriffs und handelt in der Sectio I des 1. Teils „de Deo, ut fine objectivo": Gottes Existenz habe Lucian (a) durch die am gleichbleibenden Lauf der Natur ersichtliche Providenz, (b) durch den consensus gentium, (c) durch den Verweis auf Orakel aufgezeigt, — ganz ähnlich also wie ein orthodoxer Theologe des 17. Jahrhunderts! (Th. I I I ; vgl. unten S. 263 ff., 183 ff., 297 ff.). Auch von Gottes Attributen wie unitas, simplicitas, aeternitas oder justitia habe er durchaus eine konkrete Vorstellung gehabt (Th. V I I I ff.). In der Sectio II wird unter der Oberschrift „de fine formali" Lucians Lehre vom Weltende und von der Seligkeit abgehandelt. Im 2. Teil geht es „de subjecto operationis", um den homo peccator, und im 3. Teil „de causis et mediis consequendae beatitudinis", um Gottesverehrung und soziale Pflichten des Menschen. — Soll man sich bei solch 100

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menfassung der einschlägigen Literatur bemüht sich wiederum Joh. Albert Fabricius105. Die Gültigkeit der Philosophie des Altertums wurde sicher auch im Gespräch der Gebildeten diskutiert 108 . Ein konkretes Beispiel dafür, wie sie einen Menschen zur Gottesleugnung führen konnte, bietet der schon zitierte Abschnitt aus der Selbstbiographie des Junius107. Junius schreibt, er erinnere sich, wie er auf den Rat eines gewissen Aneau Ciceros Schrift „de natura deorum" durchgearbeitet und Erklärungen dazu gesammelt habe 108 . „Damals kam ein Mann zu mir und begann, jene von Cicero im ersten Buch zitierten Worte Epikurs, nach denen Gott sich um niemand und nichts kümmere, ausführlich und eindringlich zu bekräftigen." Dieser Mann habe ihn infolge seiner Autorität und seines Scharfsinns nach und nach zu seiner Ansicht hinübergezogen 109 . Bei der Diskussion der antiken Philosophie ging es daher, sofern es sich nicht um gelehrten Leerlauf handelte, nicht um die Antike, sondern um die Gegenwart. Die Atheisten der Gegenwart waren „in der Schule des spöttischen Luciani erzogen" n o ; man nannte sie deswegen auch „Luciani" oder Epikureer 1 U . Wenn sich die Atheisten unter dem Deckmantel antiker Philosophie versteckten, so griffen ihre Gegner sie unter diesem gleichen Deckmantel an. Ohne auf gegenwärtige Vertreter eines solchen Denkens zu sprechen zu kommen, konnte man sie dadurch bekämpfen, daß man ihre antiken Gewährsleute widerlegte 112 . Ralph Cudworth, der hervoreinem Ansatz fragen, wie christlich Lucian war — oder wie heidnisch die damalige Theologie sein konnte? Treuner vermochte sich nicht durchzusetzen; Lucian blieb der Inbegriff des aufgeklärten Spötters über alles Heilige. 105 Delectus, 1725, S. 301 ff. 106 Einen Eindruck davon geben Teile des Dialogo I in Filippo Maria Bonini, L'Ateista convinto, 1665. 107 Vgl. oben S. 47 f. 108 Es handelt sich um „de natura deorum" und nicht um „de legibus", wie im Text der Autobiographie steht, was aus dem folgenden ersichtlich wird; vgl. Benrath, Die Selbstbiographie von Franz Junius, S. 47, Anm. 4. 109 Ebd. S. 47 f. 110 Michael Berns, Althar der Atheisten, 1692, Vorrede (nicht pag.; 5. S.). in Vgl. oben S. 72 f. Bekanntlich hatte schon f ü r Luther der Epikureismus keineswegs der Vergangenheit angehört: „Ego olim putabam sectam Epicureorum longe esse extinctam, at iam floret." WA TR 4, Nr. 4187 (1538). Im Gegenteil: „Es wirdt noch besser werden; der epicurismus wirdt mit gewalt auffkommen. N a m ille mundus verbi contemptor nihil aliud est quam praeparatio epicurismi ante extremum diem, qui neque Deum neque aliam vitam credit." WA TR 3, N r . 3683 (1538). 112 Ein frühes Musterbeispiel für dieses Vorgehen stellen manche Kapitel des Buches De perenni philosophia, 15422, von Augustin Steuchus dar. Hier geht es natürlich nur verdeckt um „Atheismus"; aber deutlich werden Gegenwartsprobleme anhand antiker Fragestellungen diskutiert; vgl. ζ. B. in Liber VIII (de creatione mundi) Cap. X X I I : „Dissolvuntur vanae Lucretii contra mundi creationem, rerumque ordinem, calumniae." Auf der Höhe der Diskussion argumentiert nach dieser Methode Christoph Franck, Atheus convictus, 1672. 116

ragende Vertreter der Schule von Cambridge, führt seinen Kampf gegen den Atheismus im Gewand einer Auseinandersetzung zwischen „theistischen" und „atheistischen" Philosophen der Antike 1 1 3 . Zur Illustration zeigt der Titelkupfer der Londoner Ausgabe, wie sich am Altar der Religion, auf dem die Flammen lodern, „Theists" — nämlich Aristoteles, Sokrates, Pythagoras — und „Atheists" — Strato, Epikur und Anaximander — gegenüberstehen. Über den Theisten verkündet eine Aufschrift „Victory", über den Atheisten „Confusion" 1 1 4 . Noch gegen Ende der Auseinandersetzung kommt Joh. Franc. Budde beinahe mit den Kategorien der Antike aus, um das Phänomen des Atheismus zu beschreiben. Von Ralph Cudworth übernimmt er modifiziert die Einteilung des „dogmatischen" Atheismus 115 in die vier Grundtypen: „Aristotelicus", „Stoicus", „Epicuraeus" und „Spinozianus" n e ; jeder vertritt ein bestimmtes System, „per quod quisque naturae phaenomena secluso Deo explicare annititur" m . Walch, der das Schema ebenfalls referiert, bemerkt offenbar den Stilbruch, der darin besteht, daß an letzter Stelle plötzlich ein moderner Name auftaucht, und ersetzt den spinozianischen Atheismus durch das „Eleatische System"; bereits von Xenophanes sei die Einheit von Gott und N a t u r propagiert worden 1 1 8 . Mit alledem kam ein Phänomen zum Durdibruch und der christlichen Theologie zu Bewußtsein, dessen Wurzeln Jahrhunderte zurückreichten: die Emanzipation antiken Gedankenguts von der christlichen Überfremdung. Bereits Melanchthon hatte sich mit den Weltdeutungen Epikurs und der Stoa auseinandergesetzt 119 und auch Aristoteles' Argumente für die „aeternitas mundi" ausführlich diskutiert 120 ; der Vorrede nach zu schließen, verstand er seine „Physik" ausdrücklich als Beitrag zu der Auseinandersetzung mit der neuen Zeit, in der so alte Theorien plötzlich wieder aktuell wurden 1 2 1 . Die antiatheistischen Polemiker befanden sich in einer schwierigen Lage. 113 Th e True Intellectual System of the Universe . . . , 1678.

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Vgl. Abb. 8.

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Budde gibt zusammenfassend folgende Charakteristik: „Fundamentum atheismi. . . dogmatici generale est, materiam semper fuisse, & ad eius essentiam pertinere existentiam necessariam; Aristotelici, mundum, prout nunc est, semper extitisse; Stoici, Deum cum materia arctissimo vinculo esse coniunctum; Epicurei & Stratoici, mundum ex fortuito atomorum concursu coaluisse; Spinoziani, unam tantum esse substantiam." Theses, 1717, S. 236 f. 116 117 Vgl. oben S. 94 f. Theses, 1717, S. 225. 118 Einleitung, Teil I, 1733 3 , Cap. VII, S. 676 ff. 118 Vgl. CR XIII, Sp. 191 f., 203 f., 206, 363 f.; audi seine Erörterung von „casus" und „fortuna" ebd., Sp. 318 ff., sowie die von „fatum", ebd. Sp. 329 ff., gehört in diesen Zusammenhang (Initia doctrinae physicae, 1549). 120 Ebd. Sp. 221 f., 376 ff. 121 Melanchthon hält besonders die Arbeit derer für wichtig, „qui, cum multi audacissime corruperint simplicem doctrinam, ut Democritus, Epicurei, Stoici, Pyrrhonii,

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2. Die antike Aufklärung im Kampf gegen den Aberglauben Man stand der Philosophie der Antike zwiespältig gegenüber, nicht nur weil sie jahrhundertelang bei den christlichen Theologen Kredit genossen hatte, sondern auch von der Sache her: Die Kritik der antiken Aufklärer an der griechischen Mythologie und an der heidnischen Religiosität teilte man völlig — hatten doch diese frühen Atheisten nichts anderes getan als später die Christen, nämlich die Lächerlichkeit des heidnischen Aberglaubens aufgezeigt! Diagoras, der eine hölzerne Heraklesfigur bei den Beinen packte und ins Feuer schleuderte mit den Worten, da habe er nun seine 13. Arbeit; solch ein Mann war einem sympathisch122. Und einem Anaxagoras, der sich weigerte, die Sonne als einen Gott anzuerkennen und sie statt dessen für eine feurige Masse hielt, bezeugte man unverhohlen sein Wohlwollen 123 . Christen und Atheisten waren mit ihren aufklärerischen Zielen insofern plötzlich auf eine Ebene gerückt! Bei den historischen Nachforschungen ergab sich ja sogar, daß die Christen selbst deswegen in den ersten Jahrhunderten von ihren heidnischen Gegnern als Atheisten bezeichnet worden waren! Die alte Kirche hat mit den aufklärerischen Tendenzen des Hellenismus paktiert. Arnobius, der grimmige Bekämpfer der alten Götter, sagt ganz ähnlich wie der aufgeklärte Plutarch, es sei immer noch besser, überhaupt keine Götter anzuerkennen, als ihnen derart scheußliche Dinge zuzuschreiben, wie die griechische Mythologie es wagte 124 . Nicht ohne Grund hat bei den Christenverfolgungen in Smyrna die Menge in den Amphitheatern geschrien: αίρε τούς ά·9·έους125. Christian Kortholt geht in et horum similes, monitores sunt iunioribus, ut vitent monstrosas opiniones . . ; CR VII, Sp. 476. Audi Calvin war dieser geistige Horizont nicht fremd; vgl. seine Bemerkungen über Epikureismus, Institutio christianae religionis, Liber I, Cap. V, sect. 12; cap. XVI, sect. 4, und über die Stoa, ebd. cap. V, sect. 12, cap. XVI, sect. 8 (CR X X X , Sp. 49 f., 147 f., 151 f.; Ausgabe 1559). Er rechnet ebenso wie Luther mit einer Zunahme der Gottesleugner, deren Haltung er an Beispielen der Antike illustriert; vgl. ebd. Liber I, cap. III, sect. 2 f. (CR X X X , Sp. 36 ff.). Die unterirdischen Kanäle, die spätestens vom Hochmittelalter an antikatheistisches Gut führten und es gelegentlich an die Oberfläche spülten, können im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht werden. Das Problem ist faktisch seit der systematischen Übernahme antiken Geistes durch die Scholastik latent vorhanden; man denke insbesondere an Vertreter des Averroismus wie Siger von Brabant (gestorben 1284); ausführliche Literaturhinweise finden sich bei Fliche-Martin, Histoire de l'Eglise depouis les origines . . . , Bd. X I I I , Paris 1951, S. 265—285. 122 p e t r u s Molinaeus, De cognitione Dei, 1625, S. 34. 123 v g l . Johann Andreas Schmidt, De Deo et attributis divinis, Jena 1690, § 1. 124 Christian Kortholt, Paganus Obtrectator, Lübeck 1703, S. 435 ff. 125 Martyrium Polycarpi, cap. 3; 9. Vgl. ThW III, S. 122, sowie A. Harnack, Der Vorwurf des Atheismus in den drei ersten Jahrhunderten, Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur. N F X I I I , H . 4, Leipzig 1905, bes. S. 8—16. Vgl. ferner Kortholt а. а. O. S. 423 f., der auch den Aufruhr der Schmiede von Ephesus (Act. 19) in diesen Zusammenhang bringt. 118

einem Kapitel seines „Paganus Obtrectator" ausführlich den Gründen nach, die die Heiden dazu veranlaßt haben, die Christen als Atheisten zu bezeichnen — als Atheisten κατ' εξοχήν12β. Man empfindet durchaus die Parallelität der Fälle 1 2 7 , und bis zum Ende der Auseinandersetzung ist die Frage nicht ausdiskutiert, ob sich die „atheistischen" Philosophen der Antike nur über den Aberglauben ihrer Umwelt hinweggesetzt oder ob sie wirklich kein Numen anerkannt haben 1 2 8 . 3. Aristoteles — ein Atheist? Konnte man gegenüber unbedeutenderen Vertretern der antiken Philosophie sich vor einer klaren Entscheidung drücken, so forderte ihre für die Theologie des 17. Jahrhunderts zentrale Gestalt zu einer eindeutigen Stellungnahme heraus: Aristoteles. D a die Atheisten, die man bekämpfte, Gott aufgrund ihrer Weltentstehungslehre auszuschalten trachteten, mußte auch der so lange gefeierte Stagirite suspekt werden, denn die Gegner zitierten ihn: E r habe ja die Ewigkeit der Welt gelehrt — für die damalige Auseinandersetzung so etwas wie der articulus stantis et cadentis atheismi 1 2 9 . D a ß Aristoteles immerhin mit einigen seiner Anschauungen in die Nähe des Atheismus gehören könnte, hielt man zunächst für eine glatte Unterstellung: Tycho Brahe hatte das auf dem Gewissen 130 . Trotzdem wurde offensichtlich, daß man den Gegner mindestens nicht mehr durch Aristoteles beeindrucken konnte; bereits Μ ersenne möchte den Jüngern Campanellas, Giordano Brunos und Galileis zeigen, daß die Ebd. S. 406 ff. Alte „patrii mores", durch Gesetz und Herkommen geheiligte V o r stellungen, wurden von den Christen in Frage gestellt, Tempel, Götterbilder und O p f e r völlig abgelehnt; ebd. S. 410 ff. Leider behandelt Kortholt das Problem nur auf religionsphänomenologisdier Ebene: Das frühe Christentum hatte viele der Kennzeichen nicht, die zu einer Religion traditionellerweise gehörten; vor allem hatte es anfangs keinen Tempel — das veranlaßt Kortholt zu langen Ausführungen über die Entstehung des Kirchengebäudes, S. 418 ff. 127 Y g j Tobias Pfanner, Systema theologiae gentilis, Basel 1679, S. 36 f. 128 Voetius, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 196 f., meint, beides sei der Fall, und dürfte damit den Sachverhalt erfaßt haben. Wesentlich positiver beurteilt Calov die des Atheismus verdächtigen Philosophen; skeptisch schreibt er: „Verisimilius est, Atheos vocatos esse a Christianis, Justino, Epiphan(io), August(ino), quia sic apud gentiles legissent", Systema, Tomus 2, 1655, Cap. I I , S. 111. Foppe, De Atheismo philosophorum gentilium, 1714, läßt die Frage offen. 1 2 9 Vgl. J o h n Η . Randall, J r . , Aristotle, N e w Y o r k I 9 6 0 , S. 156 f . ; O l o f Gigon, Grundprobleme der antiken Philosophie, Bern-München 1959, S. 180 f.; H . Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Berlin 1966, Bd. I, S. 2 9 2 ff. Ungenügend wird der antike Hintergrund beachtet in der für die Problemstellung interessanten Arbeit von Anton Antweiler, Die Anfangslosigkeit der Welt nach Thomas von Aquin und K a n t , Trier 1961 (Textband). 1 3 0 So Voetius, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 123 unter Berufung auf Claromontius, De universo, lib. 15, cap. 20. 12β

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katholischen Theologen nicht nur auf ihn eingeschworen sind 131 . Wie schwer man sich im Luthertum von ihm lösen konnte, zeigt die etwas einfältige Argumentationsweise Anton Reisers, der darauf hinweist, daß Aristoteles an vielen Schulen und Universitäten die führende Rolle spielt — was völlig unmöglich wäre, falls man ihn wirklich des Atheismus bezichtigen müßte 132 . Die einfachste Methode, ihn zu retten, bestand darin, den Gegnern vorzuwerfen, sie hätten ihn falsch interpretiert133. Oder man relativierte ihn dadurch, daß man erklärte, er stehe ja mit seiner Meinung schon innerhalb der antiken Philosophie allein da; „excepto Aristotele" lehre sie ganz anders134. Sehr vorsichtig formuliert Budde, Aristoteles lasse sich auch so interpretieren, „ut rerum omnium creator, sive Deus, in eo locum inveniat" 135 . Erst spät und nur vereinzelt bemerkt man, wie stark man sich nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich vom aristotelischen Denken abhängig gemacht hatte. Atheistisches Gedankengut konnte damit auf sozusagen völlig legalem Weg in die Christenheit eindringen 13e . Es kostete die damalige Theologie sichtlich Mühe, sich an Luthers Wort von dem „schalkhaftigen Heiden Aristoteles" zu erinnern. Die tragenden Prinzipien des eigenen theologisch-philosophischen Denkens mußten damit ins Wanken geraten. Die Verworrenheit der Lage läßt sich durch nichts besser illustrieren als dadurch, daß Johann Barthold Niemeier in seiner Schrift über die Beseitigung des Atheismus noch 1689 131

Gn-Kommentar, 1623, Praefatio (nicht pag.; 1. S.); die Begründung lautet eigenartigerweise: „enimvero Theologi nunquam ulli authori assentiuntur, si ratione careat, quippe qui soli Deo, ut supremo veritatis authori, firmiter a d h a e r e n t . . D i e s e innere Distanz zu Aristoteles ist erstaunlich, begegnet aber um diese Zeit schon des öfteren; vgl. P. Gassendi, Exercitationum paradoxicarum adversus Aristoteleos libri Septem . . . (I. Buch, Grenoble 1624). 132 De o r i g i n e . . . Atheismi, 1669, S. 323. Wie problematisch dies jedoch damals bereits war, zeigt die dort genannte Literatur. 133 So schreibt Adam Tribbechow in seiner Historia Naturalismi, 1700, S. 14, die Atheisten, Araber und Italiener — welch eine Zusammenstellung! — hätten ihn mißbraudit. Zur Aristoteles-Interpretation der italienischen Humanisten vgl. S. 121. 134 Wagner, Examen, 1677, S. 42fF.; Stockmann, Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, S. 54 ff. 135 Theses, 1717, S. 226. 136 Joh. Heinrich Foppe schreibt mit Verweis auf eine theologische Äußerung aus Wittenberg in De Atheismo philosophorum gentilium celebriorum, 1714, S. 4: „Ex Aristotele atheismum non modo hauserunt Philippus Carnotanus, Caesar Craemoninus, Nicolaus Taurellus, Vaninus & inprimis Pomponatius, sed impune etiam satis diu tulerunt hoc impium scelus, quoniam βδελύγματα sua Stagiritae effatis corroborare allaborarunt, de cujus orthodoxia tum temporis dubitare nemini fere erat integrum...". Noch schärfere Worte findet Imm. Weber, Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 48 f.: Selbst die Inquisitoren hätten sich durch die Autorität des Aristoteles blenden lassen!

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von dem „divinus Philosophus" spricht, während Zacharias Grape wenige Jahre später in Rostock die Frage disputieren ließ: „An Aristoteles fuerit atheus" 137 ? 4. Die italienischen Humanisten

als Schrittmacher

des

Atheismus

Diese Entwicklung war nicht zufällig, und die antiatheistischen Polemiker des 17. Jahrhunderts wußten darum. Sie kannten die Männer der italienischen Renaissance, deren Denkarbeit nun schon seit einiger Zeit ihre Früchte zu tragen begonnen hatte: D a war Angiolo Poliziano ( 1 4 5 4 — 1 4 9 4 ) , der Hofdichter und Erzieher bei Lorenzo Medici 1 3 8 , den man mindestens des „Luciano-neutralismus" verdächtigte 1 3 9 ; Pietro Aretino ( 1 4 9 2 — 1 5 5 6 ) , der formgewandte Günstling zweier Päpste und Freund Tizians 1 4 0 , den Voetius als „magnus atheismi doctor" bezeichnet 141 und den er mit Mersenne für den Autor des Buches „de tribus impostoribus" hält; Pietro Pomponazzi ( 1 4 6 2 — 1 5 2 5 ) , der scharfsinnige Professor für Philosophie in Padua, Ferrara und Bologna, der gegen die Vergewaltigung der griechischen Philosophie durch die christliche Interpretation protestiert, durch Bestreitung der Unsterblichkeit den Menschen auf seine Aufgaben im Diesseits verweist und durch Streichung des Lohn- und Vergeltungsgedankens der Ethik eine größere Tiefe und innere Würde verleihen möchte 1 4 2 ; Hieronymus Cardanus ( 1 5 0 1 — 1 5 7 5 ) , der Lehrer 1 8 7 Zum Schicksal der aristotelischen Philosophie im 17. Jahrhundert vgl. W . Risse, Die Logik der Neuzeit, Bd. 1, 1 5 0 0 — 1 6 4 0 , Stuttgart-Bad Canstatt 1964, S. 4 4 0 f f . ; P. Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921, S. 2 5 9 ff.; besonders ab S. 324. S. 4 1 4 — 4 1 7 bringt Petersen einen eigenen Abschnitt: „Der Atheismus des Aristoteles"; dort einige weitere Titel des 17. und 18. Jahrhunderts. Die genannte Disputatio von Grape konnte ich noch nicht auffinden; sie wird aufgeführt bei Jöcher I I , Sp. 1132. 1 3 8 Vgl. Η . K . Weinert i n : L T h K 8, Sp. 591. 13» Vgl. Voet, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 2 0 6 ; J . Thomasius, Historia Atheismi (1713), S. 150 ff. 1 4 4 Vgl. H . Liebing i n : R G G 3 I , Sp. 5 9 1 ; G . P e t r o c c h i , Pietro Aretino tra Rinascimento e Controriforma, Mailand 1948. Sehr ungünstig beurteilt ihn W . Götz in: R G G 2 I , Sp. 5 2 2 ; er kritisiert seine „Schonungslosigkeit auch den Besten gegenüber (ζ. B. Michelangelo), die Unanständigkeit und Käuflichkeit seiner Feder, den raschen Wechsel zwischen Schmeichelei und Verleumdung, sowie die frivole Grundsatzlosigkeit seines Denkens". 1 4 1 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 205 f ; vgl. J . Thomasius, Historia Atheismi (1713), 5. 165 ff.; Reiser, D e origine . . . Atheismi, 1669, S. 243 ff. Als besonders frivol empfand man seine Grabsdirift:

„Condit Aretini cineres lapis iste sepultos, Mortales atro qui sale perfricuit. Intactus Deus est illi; Caussamque rogatus, hanc dedit: Ille, inquit, non mihi notus erat." Ebd. Vgl. Spizel, Infelix literatus, 1680, S. 111. 1 4 2 Vgl. G. Patzig i n : R G G 3 V , Sp. 459 f. und in E. Behler i n : L T h K 8, Sp. 604 f . ; ferner G. Saitta, II Rinascimento, Bologna 1950, S. 2 4 9 — 3 2 3 ; E. Cassirer, Individuum

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der Geometrie, der Mathematik und der Medizin an verschiedenen oberitalienischen Hochschulen, dessen Werke 1663 in Lyon in zehn Bänden herauskamen143; Cesare Cremonini (1550?—1631), der Nachfolger Zabarellas, bei dem Gott durch die Naturordnung verdrängt zu werden droht 144 ; der unglückliche Tommaso Campanella (1568—1639), der mit der Inquisition in Konflikt gekommen war und 27 Jahre lang gefangen gehalten wurde, ein mystischer Denker, der vielleicht „frömmer" war als manche seiner Gegner 145 und dem man nachsagte, er hätte in seinem „Atheismus triumphatus" 146 den Atheismus mehr gefördert als widerlegt 147, und schließlich Julius Caesar Vanini, der Apostel des Atheismus 148 . und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1963 (siehe Register; zu Pomponazzis Aussagen über das Ende des christlichen Glaubens vgl. S. 114 f.). Voet äußert sich über ihn а. а. O. S. 197 f., J. Thomasius а. а. O. S. 152 f. 143 Jöcher I, Sp. 1668 f., berichtet über ihn ausführlich allerlei Merkwürdigkeiten: Er habe sich zu Tode gehungert oder sei an Gift gestorben; er „hatte . . . ein recht contradictorisch und absurd Temperament, rühmte sich, einen spiritum familiarem zu besitzen, welches er aber nachmals leugnete . .., besaß einen ungemeinen und sehr lächerlichen Hochmuth, wolte ein Eclecticus seyn und viel neues in der Philosophie erfunden haben, war dabey auch überaus geitzig." Derartige Nachrichten sind interessant, insofern sie das „Image" zeigen, das solch ein Mann im 17. und 18. Jahrhundert besaß; vgl. Voet a . a . O . S. 198f., J. Thomasius, Historia Atheismi (1713), S.161 f. — und daneben Überweg III, S. 41 f., oder Saitta, a . a . O . S. 157ff.! 144 Vgl. N . Picard in: LThK 3, Sp. 92; Überweg III, S. 34 f.; Saitta, а. а. O. S. 422 ff.; dazu Voet а а. О. S. 206; Reiser а. а. О. S. 254. 145 Vgl. Η . Knittermeyer in: RGG 3 I, S p . l 6 0 4 f . ; J.Kvacala, Thomas Campanella. Ein Reformer der ausgehenden Renaissance, Berlin 1909, sowie Bruno Italiener, Die Gotteslehre des Thomas Campanella. Inaugural-Diss., Peine 1904. 146 Rom 1630; Paris 1636. 147 v g i . v o e t a . a . o . S. 200 ff. Audi Spizel meint, Campanella gebe stärkere Gründe für den Atheismus an als gegen ihn; De Atheismo eradicando, 1669, S. 44 ff. Einigermaßen sachlich setzt sich Johann Adam Oslander mit ihm auseinander; Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 93 f., 98, Th. XIV, X X I , während ihn Tobias Wagner sogar zu den echten Gegner des Atheismus rechnet, wenngleich er seinen Weg ablehnt; Examen, 1677, S. 19. Jak. Wilhelm Feuerlein, De genuina r a t i o n e . . . , 1717, wirft ihm nur vor, er habe nicht konsequent genug gedacht und den Atheismus nicht mit den üblichen Mitteln bekämpft, deswegen sei er jedodi kein Atheist! (§ 1). Ähnlich Budde in seinen Theses, 1717, S. 132. Walch meint schließlich, ohne sich darüber noch zu ereifern, Campanella habe zwar die Existenz Gottes nicht bestritten, aber „ein profanes Gemüth gehabt und wenig von der Religion gehalten"; Einleitung, Teil I, 17333, S. 694 (Anm.). Ein eindrucksvolles Bild von dem literarischen Nachleben Campanellas gibt die Bibliographie von L. Firpo, Campanella nel Settecento, in: Rinascimento, Anno quarto, Numero 1, Juni 1953, S. 105 ff. Vgl. ferner: J. Kvacala, Protestantische gelehrte Polemik gegen Campanella, Juriew 1909. Über Campanella existiert eine reichhaltige Literatur, die sich freilich zu einem wesentlichen Teil auf seine politisch-utopischen Anschauungen bezieht. Vgl. die Angaben bei Überweg III, S. 631 f. 148 Vgl. oben S. 54. Zu Vanini vgl. Überweg III, S. 35, sowie die S. 630 f. genannte Literatur. — Die Liste läßt sich noch ganz gehörig erweitern, vgl. Voetius, Select. Disp., Pars I, 1648, S. 197ff.; Reimmann, Historia universalis Atheismi, 1725, S. 355 ff. Einen guten Eindruck davon, welche Männer man des Atheismus beschuldigte und wie 122

Schon Reiser meinte, alle des Atheismus verdächtigen Italiener zu nennen, bedeutete „numerum Atheistarum alias satis prolixum augere" 149 . Die Apologeten des 17. Jahrhunderts gaben diese Namen an, um sozusagen zu zeigen, woher der Wind wehte. Sie setzten sich jedoch nicht im einzelnen mit ihnen auseinander; viele von ihnen werden nicht eines der angegriffenen Opera gelesen haben. Eine solche Haltung ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, daß es ihnen nicht so sehr um die historische Genese wie um die Bekämpfung des Atheismus ging 150 . Der Einfluß der antiken Philosophie und besonders auch des Aristoteles war jedenfalls als Teilursache des Atheismus erkannt 151 . d) Die neue Wissenschaftlichkeit Damit, daß eine bestimmte Philosophie sich als für den Atheismus förderlich erwiesen hatte, war die Philosophie auch grundsätzlich diskriminiert 152 . Obwohl man noch unter dem Eindruck des Weltbildes von der man das für ein gehobenes Publikum auf eine fast belletristische Weise tat, vermittelt Theophil Spizel, Infelix literatus, 1680, S. 97 ff. Vgl. im übrigen Don Cameron Allen, Doubt's Boundless Sea, wo im 2. K a p . Pomponazzi, Cardano und Vanini als „Three Italian Atheists" und im 3. Kap. Montaigne, Charron und Bodin als „Three French Atheists" dargestellt werden. 1 4 9 De origine . . . Atheismi, 1669, S. 264. 150 j 3 j e Literatur zur Auseinandersetzung mit einzelnen Vertretern der Philosophie der italienischen Renaissance erreicht man am schnellsten, indem man in Trinius' Freydenker-Lexicon unter dem jeweiligen Namen nachschlägt. 1 5 1 Man hat audi andere „Philosophien" des Altertums auf atheistische Tendenzen hin durchforscht, die der Chaldäer, Hebräer, Ägypter, Perser usw.; das Material ist am bequemsten zugänglich über Reimmanns Historia universalis Atheismi, 1725. B e sonders erregten dabei die Phantasie die sogen. „Zabii" oder „Sabaei" (abgeleitet von K 3 X , „zum Krieg ausziehen", seil, gegen Gott), angeblich Vertreter einer vorsintflutlichen „Philosophie des Atheismus", von denen man über Maimonides erfahren haben wollte; vgl. Adam Tribbechow, Historia Naturalismi, 1700, S. 5 f.; J o h . Christ. W o l f , Atheismi falso suspectos, 1717 2 , S. 25 ff.; Budde, Theses, 1717, Cap. I, § 7. Direkte Einwirkungen auf das Denken der Gegenwart hielt man — vor allem in der Auseinandersetzung mit Spinoza — von der K a b b a l a aus für möglich; vgl. J o h . Christoph W o l f , а. а. O. S. 2 2 ; J o h . Georg Syrbius, D e Atheismi origine, 1720, S. 21 ff., sowie besonders J o h . Franc. Budde, Diss. phil. de Spinozismo ante Spinozam, Halle 1701. Andererseits sieht man aber auch den Spinozismus in vielen philosophischen Systemen der Antike vorgebildet und vorweggenommen; das veranschaulicht gut die Diss. Buddes über den Spinozismus, sowie die Exerc. I I bei J o h . Heinrich Foppe, De Atheismo philosophorum gentilium celebriorum, 1714. Doch waren die Kombinationsmöglichkeiten fast unbegrenzt: Audi die „amoralische" Mythologie der Antike, gegen die sich gewisse aufklärerische Tendenzen der damaligen Philosophie gewandt hatten, konnte als Wurzel des Atheismus dargestellt werden; vgl. J . Thomasius, Historia Atheismi (1713), S. 22 f. 1 5 2 Spizel weist warnend darauf hin, daß Hieronymus die Philosophie als „Speise der D ä m o n e n " bezeichnet habe, und zitiert beschwörend Kol. 2, 8 : L a ß t euch durch die Philosophie nicht verführen! D e Atheismi radice, 1666, S. 52.

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E i n h e i t der W a h r h e i t , o b sie n u n durch das l u m e n n a t u r a l e o d e r durch die O f f e n b a r u n g g e w o n n e n w u r d e , ü b e r z e u g t w a r , u n d o b w o h l m a n auch m i t d e m n e u e n , i m S i n n e der A u f k l ä r u n g sich g e s t a l t e n d e n W e l t b i l d nach d e n G e m e i n s a m k e i t e n v o n V e r n u n f t u n d G l a u b e suchte — der Bruch, der d e n T h e o l o g e n selber bitter l e i d tat, l i e ß sich nicht m e h r g a n z vertuschen. D a ß die ratio nicht m i ß b r a u c h t w e r d e n d u r f t e , d a v o r h a t t e n sie z u v o r schon g e w a r n t 1 5 3 ; n u n aber b r i n g e n sie e i n m o r a l i s i e r e n d e s M o m e n t ins S p i e l u n d w e r f e n ihren a u f g e k l ä r t e n Z e i t g e n o s s e n v o r , sie n ä h m e n sich z u v i e l heraus, sie d e g r a d i e r t e n ihre „libertas" z u r „ l i c e n t i a " 1 5 4 . Bereits Mersenne

w e n d e t sich g e g e n diejenigen, „qui d o n n e n t t r o p d e licence ä

leur l a n g u e , & a leur e s p r i t " 1 5 5 . D a s h e u t i g e D e n k e n , so sagt m a n , d r o h t das M a ß z u verlieren, es k e n n t seine G r e n z e n n i c h t 1 5 6 . V i e l e v o n d e n e n , d i e sich h e u t e u m p h i l o s o p h i s c h e E r k e n n t n i s u n d

Wissenschaftlichkeit

b e m ü h e n , ü b e r t r e i b e n 1 5 7 . S i e g e b e n sich nicht m i t d e n S c h r a n k e n z u f r i e den, d i e d e m menschlichen W i s s e n a u f dieser E r d e g e s e t z t s i n d 1 5 8 . „ W e n n doch solche L e u t e ihre stattlichen I n g e n i a a n Menschlicher W e i ß h e i t zerbrächen / u n d d i e G l a u b e n s - S a c h e n u n g e h u d e l t Hessen — w ü n s c h t sich 153 Johannes Musäus' Schrift De usu principiorum rationis et philosophiae, Jena 1644, ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel. 154 Budde skizziert den Beginn des Atheismus in Italien folgendermaßen: „Cum bonae literae, quae hactenus densa velut caligine oppressae iacuerant, iterum efflorescerent, ut veterum simul philosophorum, cumprimis Aristotelis, scita resuscitarentur, sentiendi hinc orta libertas apud multos in licentiam degeneravit, magnamque in Italia cumprimis impiorum hominum produxit cohortem . . ."; Theses, 1717, S. 109. 155 L'Impiete des D e i s t e s . . . (Bd. 2), Paris 1624, Vorrede (nicht pag.; 8. S.). 156 „Quos libertatis coepit Studium, saepe labuntur. Modum in hoc servare, admodum d i f f i c i l e . . . Ita crescit insatiabile libertatis desiderium, donec abierit in licentiam." Joh. Friedem. Schneider, Icon Atheorum, 1698, Vorrede. 157 Mersenne redet von „inordinatum Studium nimiaque sollicitudo, qua nonnulli rebus naturalibus incumbunt"; Gn-Kommentar, 1623, Sp. 230. Sie haben „novorum atque difficiliorum appetitum", findet Theophil Spizel, „qui belluarum instar solis sensibus credunt, praeter quorum objecta caetera omnia quae ad divina atque spiritualia pertinere dicuntur, chimerica & phantastica existimant." Scrutinium Atheismi, 1663, S. 51 f. In seinem Büchlein über die Wurzel des Atheismus stellt er heraus: Einer der Hauptfehler der Atheisten „Curiositas est, sive immodica (supra quam solita nominum solertia admittit) sciendi agendique sitis . . 1 6 6 6 , S. 24. 158 Christoph Matthäus Pfaff, der sich nicht groß mit dem Problem beschäftigt hat, darf gerade deswegen als Repräsentant der communis opinio gelten. Er kommentiert seinen kurzen Bericht über die antiatheistische Literatur: „ . . . facile in scepticismum hunc labitur, quicunque lumine divino haud floret, sed soli suo acumini naturali inhiat, qui & ex pigritia quadam in ignorantiam veritatum praestantissimarum cadit, quas nec nosse desiderat, etsi pruritu omnia carpendi laboret, qui et summum istum convictionis gradum quaerit, qui in hac vita non datur." Introductio in historiam theologiae literariam, 1720, Liber III, S. 132.

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Immanuel Weber in seiner „Beurtheilung der Atheisterey" 159 . „Wir stehen zwar itzo in dem Seculo, da die Weißheit fast ihre höchste Stuffen erreichet hat", aber sie ist mit Arglist gepaart, klagt Michael Berns16°. Valentin E. Löscher charakterisiert die Situation, die „Epikureismus", seiner Meinung nach aber auch „Enthusiasmus" auslösen kann, so: „Regnat hodie nescio quis ingeniorum οργασμός . . . , incendium quoddam ingeniorum phaenomenon in Historia animae & literarum copulata non adeo frequens, nunc observamus...". Verbunden damit beobachtet er ein „Apotheoseos . . . Studium", „amor paradoxorum" und „hypothesiomania" ш . Mit einer bemerkenswerten Nüchternheit stellt er fest: „Ita enim tempus t u l i t . . . " 1 β 2 . Die Leitworte dieser neuen Haltung heißen Kritik, Zweifel, Skepsis. Deswegen ist Descartes ihr gefeierter Patron. Man hält ihn nicht gerade selbst für einen Atheisten; manche Theologen diskutieren sogar, ob nicht er einen neuen Gottesbeweis geliefert haben könnte 163 . Aber durch seine Anweisung, alles und jedes in Zweifel zu ziehen, hat er nach Meinung einiger seiner Gegner viele Zeitgenossen zum Atheismus verleitet 164 . Man wird sich heute kaum vorstellen können, was für ein Hochgefühl das gebildete Europa damals beflügelt hat. Auf allen Wissensgebieten 158

1697, S. 121. U m g e k e h r t w a r f m a n ihnen a u d i vor, d a ß sie sich m i t nebensächlichen D i n g e n abgaben, s t a t t sich u m das z u k ü m m e r n , w a s heilsnotwendig ist; so Bircherodius, Exercitationes, 1660, S. 1. D a s betrachtete m a n als G e f a h r auch f ü r die Wissenschaft: „Disciplinas & scientias c o r r u m p u n t , qui vel in supervacuis rebus acumen i r r i t u m exercent, . . . vel qui incertas eas esse a s s e r u n t . . . " ; ebd. 160 A l t a r der Atheisten, 1692 (Vorrede, nicht p a g . ; 1. S.). Ähnlich urteilt J o h . C h r i stoph D o r n in seiner Bibliotheca theologica, 1721: N i e m a l s sei die Z a h l der Atheisten größer gewesen als heute, „ q u o d recentior haec aetas p a l m a m reliquis p r a e r i p i a t in eo, q u o d meliores scientiae" — Physik, Medizin, M a t h e m a t i k , J u r i s p r u d e n z — „ a d culmen fere ascenderint; sic, ut, si antecedentia t e m p o r a cum recentioribus compares, idem foret, ас si p l u m b u m cum g e m m a . . . conferres." S. 506. A b e r das h a b e sich eben d a h i n g e h e n d a u s g e w i r k t , d a ß m a n die D i n g e n u n alle als natürlich e r k l ä r e n k ö n n e — u n t e r d e m H i n w e i s : „hoc f a c i t n a t u r a " (ebd.). tei Praenotiones, 1713 2 , Prolusio (nicht pag.). 162 193 Ebd., P r a e f a t i o (nicht pag.). Vgl. u n t e n S. 213 ff. 164 v g l . J o h . H e r r n . Eiswich, C o n t r o v e r s i a e de A t h e i s m o recentiores, 1716, S. 11. Wider E r w a r t e n ausfällig w i r d an diesem P u n k t T h e o p h i l Spizel: „ P e r v e r s a denique Sapientiae N a t u r a l i s m e t h o d u s viaque a d A t h e i s m u m certissima m e r i t o n u n e u p a t u r Methodus Cartesiana, seu potius r e n a t u s ille a R e n a t o des C a r t e s Scepticismus, p r a e t e n s a q u e libertas p h i l o s o p h a n d i , i m o tollendi i n q u e d u b i u m v o c a n d i o m n i a N a t u r a l i s Luminis p r i n e i p i a a t q u e a x i o m a t a , hactenus c o m m u n i C h r i s t i a n o r u m & e x t r a n e o r u m p h i l o s o p h a n t i u m consensu r e e e p t a ; nec n o n stolida illa de no vis i n a u d i tis & a d m i r a n d i s methodis gloriatio, & i m p e r a t a o m n i u m n o t i o n u m a t q u e d o g m a t u m p r a e c o n c e p t o r u m deletio, oblivio, & p r a e s e n t a n e a erasio, omnisque scientiae fideique abjectio." Scrutinium Atheismi, 1663, S. 115 f. A m E n d e seiner diesbezüglichen A u s f ü h r u n g e n schreibt Spizel, Descartes m a g ja viel geleistet haben, „in hoc tarnen negotio, in ista n o v a m e t h o d o , A t l a n t e m a u t a l t e r u m q u e n d a m E l i a m sese e r u d i t o O r b i n e u t i q u a m praestitit, v e r u m scepticismum ejusque Individuum comitem A t h e i s m u m r a t i o n e ista plenis velis i n t r o d u x i t " . E b d . S. 120.

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machte man fabelhafte Fortschritte dadurch, daß man das Überkommene in Frage stellte, daß man sich von Jahrhunderte, ja Jahrtausende alten Traditionen nicht mehr binden ließ 165 . Die Prediger mußten damit rechnen, daß dieser neue Geist etwas Verführerisches, Faszinierendes hatte. Christian Scriver beschwört seine Gemeinde: Der Satan „beut seinen Gifft und Greuel-Suppe zutrincken den Einfältigen dar / nicht In irrdenen schmutzigen Töpfen / sondern in güldenen Bechern: Lasset euch diß nicht irren und blenden . . . " 1 β β . e) Der Atheismus als „Bewegung" Mit dem neuen Geist zusammen hatte auch der Atheismus etwas Ansteckendes; seine Bekämpf er nannten ihn einen Virus 167 , eine Pest, ja schlimmer als die Pest 168 . Sie verstanden ihn als Bewegung im geistigen 169 und im geographischen Sinn. Durch die 1453 von Konstantinopel geflüchteten Gelehrten nach Italien eingeschleppt und dort verbreitet, wurde er von Vanini und seinen Gesinnungsgenossen nach Frankreich gebracht, mit den in den Niederlanden Asyl suchenden Freigeistern dort angesiedelt, und von da nach England übergesetzt und nach Deutschland eingeschleust — das ist in wenigen Strichen das Bild, das man sich von 165

Etwas von diesem Pathos schlägt gelegentlich in der Darstellung von Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg o. J., durch. 166 Seelen-Schatz (1701), Teil I, 2. Predigt, § 23, S. 18. 167 „ . . . mirandum atque dolendum simul est, pestilentissimum hoc virus & ad eos, qui se de Christo nominari volunt, serpsisse.. ."; Valentin Greissing, Exercitatio prior, 1677, Einleitung (nicht pag.). A. Pfeiffer spricht von „typhus"; Ad lectiones.. . antiatheisticas, 1689 (nicht pag.). 168 In diesem Bild ließ sich sehr schön das Motiv der Ansteckung mit dem der Lebensgefahr verbinden. Gemeinschaft mit Atheisten sei gefährlicher als die mit Pestkranken, schreibt de la Serre, Atheisten Grab (1674), S. 28. Äußerste Vorsicht ist ihnen gegenüber am Platze — wie an einem Ort, an dem die Pest herrscht, auch diejenigen, die über gute Arznei verfügen, darauf achten müssen, „daß sie nicht aus angesteckter luft etwas an sich ziehen, so ihnen auch künftig an ihrer gesundheit schädlich seyn m ö c h t e . . . " ; die Seelen befinden sich in nicht geringerer Gefahr, „als in contagionszeiten die leiber stehen" — so Spener, Letzte Theologische Bedencken, 17212, Teil II, Cap. V, Artie. I, Sect. X X V I I I , Bd. I, S. 320 (datiert Dresden, 30. Jan. 1689). 168 Er entspricht einer satanischen Konzeption, welche die Menschheit über Polytheismus und Antitheismus zum völligen Atheismus führen soll. In diesem Zusammenhang nennt ihn Gebh. Theodor Meier ein „vitium latenter serpens", Historia religionum, 1697, S. 15. Spizel beobachtet ein stufenweises Anschwellen der Gottlosigkeit, die im krassen Atheismus enden soll nach dem Plan des Teufels, der freilich seine Leute „ad hoc impietatis fastidium non volando, sed gradatim adscendendo pervenire v o l u i t . . . N a m si in tanta Veritatis revelatae luce subito prorupissent agmina Doctorum ejusmodi maleferiatorum, qui christianam fidem nugis, & Scripturae Sacrae oracula fabulis pudendis duxissent accensenda, aures forsitan nullas invenissent, quae execrabiles ad eo blasphemias t o l e r a r e n t . . . Dum vero de gradu in gradum adscendendo, conatu suo antitheistico fuit velificatus, intra annos non ita multos, stupenda vidit nequitiae suae incrementa . . . " ; Infelix literatus, 1680, S. 352 f. 126

dieser Bewegung machte 170 . Sie pflanzt sich fort durch das geschriebene und das gesprochene Wort. Anonyme Schriften, wie sie in der Vorrede von Johann Müllers „Atheismus devictus" aufgezählt werden, verbreiten ihre Ideen; Gottfried a Valle, Campanella oder auch Descartes tun literarisch ihre Wirkung: „Ubi experientia testis est, in quos labyrinthos studiosa Juventus his opinionum Maeandris impedita sese praecipitet...", klagt der Tübinger Polemiker Tobias Wagner171. Ubersetzungen können eine wichtige Rolle spielen 172 . Die Bedeutung solcher aufklärerischer Bücher lag jedoch vielleicht gar nicht darin, daß sie bestimmte Ideen verbreiteten, sondern eher in der Autorität, die sie als gedrucktes Material besaßen 173 . Freilich sicherte ihnen schon die Neugier zahlreiche Abnehmer. Drastisch schreibt Johann Müller in Hamburg: „Wer kan alle Scharteken erzehlen / die aus H o l land zu uns kommen / darinnen ein hauffen Atheistische / Epicurische / Gottslästerliche Lehren gefunden werden . . . So bald eine neue Schartecke ankommet / fället man darauff wie die Fliegen auff ein todes Aaß . . 1 7 4 . Den Katechismus kennen diese Leute nicht, aber in solchen Schriften schnüffeln sie herum, „ziehen die Gifft an sich / stoßen hernach beym Trunck alles a u s . . . " 175. Mindestens ebenso große Bedeutung für die Verbreitung des Atheismus hatte nach Ansicht seiner Bestreiter die persönliche Begegnung mit „Atheisten" 176. Nichts war dazu mehr geeignet als das Studium im Ausland 1 7 7 . 170

Siehe oben S. 102 ff. D a m i t verband sich die „Bewegung" im historischen Sinne, wie sie aus den Geschichten des Atheismus oder den entsprechenden Partien allgemeiner Atheismus-Darstellungen ersichtlich ist. Diese aber w u r d e letztlich im Beginn der Menschheit, bei Kain oder im Sündenfall verankert, siehe unten S. 133 f., und damit grundsätzlich als innere Bewegung der Menschheits-Geschichte a u f g e f a ß t . 171 Examen, 1677, S. 78. N a m e n werden aufgezählt, Listen zusammengestellt — es entsteht etwas wie ein „gesamtchristlicher" Index. 1,2 Dies w a r vor allem f ü r den Schritt des Atheismus von Italien nach Frankreich von Bedeutung. Gebh. Theodor Meier schreibt in seiner Historia religionum, 1697: „Incrementa atheismus in Gallia sumsit, a tempore Francisci I. ex conversione & traductione librorum q u o r u n d a m Italicorum in sermonem Gallicum." S. 24. Ähnlich schon Spizel, Scrutinium Atheismi, 1663, S. 28. Das Französische w a r dann der Schlüssel zu ganz Europa, je mehr das Lateinische zurücktrat. 173 In diesem Sinn schreibt Mersenne, die Atheisten f ä n d e n eben immer wieder Bücher, auf die sie ihre Meinung stützen könnten; G n - K o m m e n t a r , 1623, Sp. 232. 174 Atheismus devictus, 1672, S. 30, 34. Z u den mannigfachen politischen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen zwischen H o l l a n d und Norddeutschland vgl. R u t h Eisner, Die-öffentliche Meinung in Deutschland gegenüber H o l l a n d nach 1648, I n a u gural-Diss., M a r b u r g i. H . 1914, sowie E.Baasch, H a m b u r g und H o l l a n d im 17. und 18. J a h r h u n d e r t , in: Hansische Geschichtsblätter, 1910, Bd. X V I , S. 45 ff. 175 Atheismus devictus, 1672, Vorrede (nicht pag.; 4. S.). 176 In diesem Zusammenhang kann dann sogar vom „Zeugnis" der Atheisten die Rede sein; vgl. Mersenne, Gn-Kommentar, 1623, Sp. 231. 177 Die Arbeit von H e i n z Schneppen, Niederländische Universitäten u n d deutsches Geistesleben von der G r ü n d u n g der Universität Leiden bis ins späte 18. J a h r h u n d e r t ,

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Die deutsche Oberschicht schickt ihre Jugend zum Studium nach Frankreich, Italien und Spanien, wettert Theophil Großgebauer; dort lesen die jungen Leute allerlei auf: „Diese Blümlein bringen sie uns denn mit zurück in Deutschland". 50 000 Atheisten gebe es nach Mersennes Auskunft allein in Paris, und wer dort als Gelehrter gelten will, der kann es sich nicht leisten, noch an Gott zu glauben: „Solche Welsche und Frantzösische Lufft hat auch die Teutschen angewehet..." 1 7 8 . Wie sich vor Zeiten die Abgötterei von Ägypten aus in alle Länder verbreitet habe, „also ist die heillose Atheisterey von dem heiligen Rom in Franckreich / und von dannen in unser armes Teutschland mit grossem Geld / reisen und Unkosten abgeführet worden . . 1 7 9 . Denn man muß ja nicht gleich im Ausland studieren, auch eine Reise genügt180. Es mutet beinahe grotesk an, wenn Spener einen Fürsten, der im Begriff ist, nach Italien zu reisen, eindringlich vor der Gefahr des Atheismus warnt, die dieser dort antreffen werde: Er werde „nun in ein solches land kommen, in welchem fast mit gleicher macht die schändliche abgötterey, aberglauben und päpstische greuel, so dann der fast nicht mehr subtile, sondern grobe Atheismus und die weltliche Üppigkeiten dermassen regieren, daß darinnen kein anders dasselbe . . . übertreffen mag". Wie vor der Pest solle er sich vor dem Atheismus hüten 181 ! Es gibt viele Möglichkeiten, mit dem Atheismus in Berührung zu kommen. Seckendorf kennt Leute, „die etwan auff Reisen / oder in schädlichen Büchern etwas erschnappet hatten / womit sie die Gottesfurcht und religion in disputat zu ziehen vermeinten . . ." 1 8 2 . Es ist auch gar nicht unbedingt nötig zu reisen. Das atheistische Frankreich wird durch Landfahrer nach Deutschland gebracht183. Neben den atheistischen Schriften, die „mit hauffen aus den benachbarten Landen in diese örter geschleppet" werden, sorgen für die Verbreitung des Atheismus „die vielen reisenden / welche aus Welschland / Franckreich / Engeland / Holland / alhier ankommen / und mit ihren Atheistischen Discursen viel Münster 1960, gibt einen Eindruck von dem enormen Bildungsstrom, der damals ungeachtet der politischen Grenzen Europa durchzog. Vgl. auch H . Schöffler, Deutscher Osten im Deutschen Geist. Von Martin Opitz zu Christian Wolf, Frankfurt am Main 1940, S. 47 ff. 178 Praeservatif, 1661, S. 13 f. 1 7 9 Ebd., Widmung. 1 8 0 Jöcher berichtet jeweils explizit über die Reisen der von ihm behandelten Gelehrten; die Reise war damals ein ungemein wichtiger Bildungsfaktor. 181 Letzte Theologische Bedencken, 1721 2 , Teil II, Cap. V, Artie. I, Sectio X X I I I , Bd. I, S. 3 2 0 ; vgl. oben Anm. 168. 1 8 2 Christen-Staat, 1685, Vorrede (nicht pag.; 3. S.); vgl. P. Stockmann, Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1 7 0 1 : E r kritisiert an den Deutschen, „daß viele ihr deutsches Geld in besagte Länder verreisen / und dafür solchen Seelen-verderblichen Gifft einsammlen und mit zurücke bringen". Vorrede (nicht pag.; 7. S.). 1 3 3 Tobias Wagner, Examen, 1677, S. 76 f. 128

fromme Christen einnehmen / ergern und verführen" 1 8 4 . Die Deutschen fallen natürlich prompt darauf herein, grollt Christian Kortholt, „exoticarum rerum admiratores Uli Teutones" 185 ! So erklärt es sich, daß atheistische Gedanken unter dem Beifall der Jugend von berühmten Lehrern „inspiciente tota Germania, intra & extra Academias" doziert werden können, wie Valentin E. Löscher vorwurfsvoll vermerkt 1 8 6 . Auch unter den Deutschen haben nun Sozinianismus, Naturalismus, Deismus und Atheismus Fuß gefaßt: O b sich der Orbis nicht wundert, „tarn cito se tot pestibus occupatum fuisse" 187? f ) Geistliche

Gesichtspunkte

1. Der Griff nach der „licentia" Die Theologen des 17. Jahrhunderts waren ernsthaft genug, zu erkennen, daß der Atheismus nicht nur ein geistiges Problem war, sondern daß er geistliche Wurzeln hatte. Leider ließen sie sich dadurch verleiten, ihre Widersacher gelegentlich persönlich zu verunglimpfen. Die alte Taktik der Ketzerbekämpfung, dem Abweichler unlautere Motive zu unterstellen, führte man auch in der Auseinandersetzung mit der Aufklärung fort. Dazu kam die Ratlosigkeit, mit der die Apologeten ihren neuen Gegnern gegenüberstanden. Z w a r konnten sie sich vorstellen, daß jemand aus irgendeinem Grunde auf eine Irrlehre verfiel: D a ß aber ein Mensch die Existenz Gottes leugnete, war ihnen schlechthin unverständlich. Ein Atheist mußte doch Gründe dafür haben, eine solch wahnsinnige Meinung zu vertreten, und letztlich konnten sie sich nur einen Grund denken: Ehrgeiz, Selbstgefälligkeit, das Bedürfnis, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder, wie man damals das alles zusammenfaßte: φιλαυτία 1 8 8 . „Philauty" hat Vanini auf den Scheiterhaufen und Hobbes ins Exil gebracht, urteilt Michael Berns189. Von Anfang an wirft man den Gegnern Neuerungssucht vor, sie werden von der ambitio umgetrieben 190 . Nach Spizel ist es neben der „Curiositas" die „pestifera carnalis Singularitatis affectatio" 1 9 1 . Für ihn rückt der Atheismus auf eine 184

Johann Müller, Atheismus devictus, 1672, Vorrede (nicht pag.; 1. S.). 185 £) e tribus impostoribus magnis, 1680, Vorrede (nicht pag.; 12. S.). 186 Praenotiones, 1713 2 , Prolusio. 187 Gottlieb Wernsdorf, Brevis et nervosa de indifferentismo religionum commentatio, 1716, S. 374. 188 Vgl. Mersenne, Gn-Kommentar, 1623, Praefatio (nicht pag.; 4. S.). 189 Altar der Atheisten, 1692, S. 9 f. 190 Charles de Bourgueville schreibt 1566 in seiner Atheomadiie: „Neantmoins le malheur de ce siecle est devalle en telle eclipse & obscurite de foy, que grand norabre des hommes, ou par curiosite, novalite, Sc indomptable opiniastrete, taschent ensepuelir ceste doctrine." S. 7. Vgl. Budde, Theses, 1717, S. 308 ff. Diese Anschuldigung hielt sich durch die ganze Diskussion hindurch! 191 De Atheismi radice, 1666, S. 26.

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Ebene mit dem unsinnigen Versuch des Daedalus zu fliegen oder mit den Bemühungen um die Erfindung des perpetuum mobile 192 ! Der moralisierende Ton dieser ewig sich wiederholenden Anklagen stört den Leser beträchtlich und hat sicher auch damals die Auseinandersetzung nicht gerade gefördert. Es hat etwas Groteskes, wenn der doch recht bescheidene Geist Gottlieb Spizel aus Augsburg von Spinoza gleichsam mit erhobenem Zeigefinger feststellt: Er wäre größer gewesen, wenn er hätte kleiner sein wollen 193 ! Vielleicht darf man den Apologeten des 17. Jahrhunderts nicht zu böse sein, denn ihre Gegner benahmen sich wohl wirklich anmaßend und arrogant. Aber die Vorwürfe gingen ja auch tiefer: Diese Leute, schreibt Wilhelm von Assonlevilla, streben nur danach, die Lizenz für ihre Taten zu bekommen „atque ita, instar brutorum animantium, sine Deo, sine fide & lege v i v a n t . . . " 1 9 4 . Hundert Jahre später sekundiert der Lutheraner Gebhard Theodor Meier: „Nemo enim Deum non esse credit, nisi cui Deum non esse expedit" 195 . Und der Anglikaner Richard Bentley predigt in London, nicht die Glaubensartikel störten die Atheisten, sondern ihre schuldige Pflicht; weil sie nicht nach der Richtschnur der Religion wandeln wollen, können sie auch den Verheißungen nicht glauben — sie schaffen sich durch Atheismus ein ethisches Alibi, sie greifen nach ihm wie nach O p i u m . . . 1 9 e . Die Freiheit betört sie. Ein bißchen von oben herab und schulmeisterlich sagt Johann Friedemann Schneider am Ende seiner Disputation über den Atheismus seinem Respondenten Heinrich Balthasar Seelman: „Altius se figit (seil, atheismus) in corde humano, quia Übertäte blanditur... Malis esse Dei servus, quam atheorum libertus" 197 . Freilich, fragt Joh. Georg Pritius geringschätzig, was haben sie schließlich von ihrer Freiheit: Sie können wohl nach Belieben handeln, aber dann essen sie beispielsweise so viel, daß sie sich dadurch bestimmte Krankheiten zuziehen; sie braudien auf niemand Rücksicht zu nehmen, aber dadurch machen sie sich auch bei jedermann unbeliebt198! Jedenfalls ist es die „male agendi libido", die sie treibt 199 . Sie können keinen Gott brauchen, der ihnen ständig über die Schulter schaut, der Zeuge und Richter aller ihrer Taten ist 200 . Sie leugnen Gott, um ihn nicht fürchten zu müssen201. 193 Infelix literatus, 1676, S. 361. Ebd. 195 Historia religionum, 1697, S. 14. Atheomastix, 1598, S. 60. 1 9 8 Die T h o r h e i t . . . des Atheismi, (1715), S. 28, 33 f. 197 Icon Atheorum, 1698, S. 24. 1 9 8 De Atheismo et in se foedo et humano generi noxio, 1695, Art. X I . 1 9 9 Grünenberg, De Atheorum religione prudentum, 1701, § 80. 2 0 0 Christoph Franck, Atheus convictus, 1672, S. 65 f.; vgl. Seckendorf, Christen-Staat, 1685, S. 11. 201 Mornaeus, De veritate religionis christianae, 1592, S. 14. Umgekehrt werfen die Atheisten — mit einem H o r a z zugeschriebenen Diktum — den Glaubenden vor, nur die Furcht habe sie zur Annahme der Existenz eines Gottes gebracht. Damit setzt sich Johann Daniel Kiesling auseinander: An primus in orbe Deum fecerit timor? Leipzig 1714. Vgl. unten S. 210. 192 194

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An dieser Stelle berührt sich, was man damals als „atheismus practicus" ansah, mit dem, was man unter „atheismus theoreticus" verstand 202 ; in diesem Zusammenhang wird der Begriff „impius" das lateinische Äquivalent von άθεος, und „atheistisch" heißt auf deutsch in seiner vollen moralischen Bedeutung „Gottloß" 203. Insofern versteht man den Atheismus als eine Sache des Wollens204. Die Atheisten postulieren einfach, daß es keinen Gott gibt 205 . In diesem Sinn versteht man auch Ps. 14, 1: Das „Sprechen" des Toren ist sein geheimes Wünschen 206. Das „Cogitare non esse Deum" wird identisch mit „scire illud non velle" 207. Und man glaubt, genau den Grund dafür zu kennen: Der Tor des 14. Psalms wünscht von Herzen, „ut nullus existat Deus omnipraesens, omniscius & Justissimus scelerum vindex" 208. Voetius bringt ein Epigramm bei, das seiner Meinung nach den Sachverhalt kurz zusammenfaßt: „Insipiens in corde suo, non est Deus, inquit, Dixit; at hoc nullus credidit insipiens. Insipiens negat esse Deum si nemo, quis ergo Atheus est? Nullum qui velit esse Deum."200 2. Geistliches Unvermögen Obwohl die Theologen des 17. Jahrhunderts hinlänglich von der Böswilligkeit und Halsstarrigkeit ihrer Gegner überzeugt sind, sehen sie doch auch, daß der Atheismus in vielen Fällen durch ein geistlidies Unvermögen verursacht ist. Die Leute, die sie bekämpfen, haben ganz einfach keinen Blick mehr für das, was über die Natur hinausgeht — so wird die Unsichtbarkeit Gottes zu einer Wurzel des Atheismus210! Gott ist den Sinnen unzugänglich; dagegen steht die stets sich gleichbleibende und alles Siehe oben S. 83 ff. 203 Vgl. ζ. B. Andreas Hagemann, Kurtze Anweisung, 1685, Vorrede, S. 4. 204 Vgl. z в Gebh. Theodor Meier, Historia religionum, 1697, S. 32. 205 Mersenne bezeichnet es als eine der Ursachen des Atheismus, „quod ita iudicent homines, prout affecti sunt, ac prout rem illam, de qua iudicium ferunt, sese habere vellent;" Gn-Kommentar, 1623, Sp. 228. 206 Johann Ulrich Frommann, der seine ganze Disputation Atheus stultus, 1713, auf einer Analyse von Ps. 1 4 , 1 aufbaut, exegesiert: „hoc est tacite secum loquitur, intra se meditatur, sibi persuadere conatur, vult, optat, desiderat, licet aliud quandoque vel verbis vel gestibus simulet exterius." S. 3. 2 0 7 August Pfeiffer, Difficiliorum Scripturae locorum centuria prima, in: Opera omnia, Bd. I, Utrecht 1704, S. 300. In seiner Evangelischen Christen-Schule, 1710, erklärt er das psychologisch: „quae cupimus, facile credimus . . . " ; S. 35. 208 Hollaz, Examen theologicum, 1707, S. 83; vgl. Calov, Systema, Tomus II, 1655, S. 95. 208 Zitiert Select. Disp., Pars I, 1648, S. 145, aus Epigrammatum Ioannis Oweni, Breslau 1658 (deutsch von Valentin Löber, Jena 1661), Liber III, 16. 2 1 0 Vgl. Bircherodius, Exercitationes contra Atheos (1660), S. 28. 202

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regelnde Ordnung der N a t u r ständig jedermann vor Augen 211 . Viele der Polemiker nennen solche Gesichtspunkte als Argumente der Atheisten, die sie alsbald widerlegen 212 . Manche sehen sie jedoch auch als objektive Ursachen des Atheismus an 2 1 3 . Einen Mittelweg geht Voetius: „Idem naturae tenor; & recurrentes ас stabiles omnium naturalium vices" — das kommt bei ihm als causa atheismi externa impulsiva proprie dicta zu stehen, freilich nur per accidens 214 . Die Begrenztheit des menschlichen Verstandes, die von Jugend an schon durch die Ausbildung geforderte Konzentration auf die natürlichen Dinge, das Versäumnis des Menschen, auf „Seelen-Bewegungen" zu achten — das alles kann schließlich dazu führen, daß einer nicht mehr an die Existenz eines Gottes glaubt 215 . Oder er vermengt den Gottesbegriff mit falschen Vorstellungen: „als mit dem leiblichen Bilde eines alten Mannes / oder mit der N a t u r / oder mit dem Geist der Welt / oder mit dem Vago Fortunae oder dem U n g e f e h r . . Und auff diese / wegen dieser ungebührlichen Vermischung entstehende Dunckel- und Undeutligkeit / bauen dann die Atheisten ihre Gotts-Verleugnung . . ." 21β . Neben die Erfahrung der Ordnung in der N a t u r als Ursache des Atheismus tritt die Erfahrung des Bösen und des Leids. Mitunter werden ganz persönliche Schicksale einen Menschen, der keine geistliche Kraft hatte, damit fertig zu werden, zur Leugnung der Existenz Gottes geführt haben. Mersenne erzählt von einem Atheisten oder Deisten („Deistatheus"), der ihm gestanden habe, daß er über einer schweren Krankheit und dann nach dem Tode seiner Frau in Zweifel über Gott geraten sei 217 . Das veranlaßt Mersenne, die Ungeduld der Menschen für eine Wurzel des Atheismus zu halten: Sie sind nicht fähig, Leid zu ertragen 218 . Manchmal spielen die Atheisten das zum theoretischen Argument hoch: Die Existenz des 211

Mersenne, Gn-Kommentar, 1623, Sp. 230: Ein Grund für den Atheismus sei für die Menschen die Tatsache, „quia vident rerum naturalium ordinem semper eodem modo, atque tenore sese habere, quapropter nullum esse rectorem existimant, sed res suopte genio hos, & illos cursus peragere . . . " . 212 Bircherodius, а. а. O. S. 28: Alles, was geschieht, lasse sich auch ohne Gott, durch „pauciora principia" erklären, behaupteten die Atheisten; die Widerlegung erfolgt S. 31. Treffend formuliert Budde bei der Erläuterung des Atheismus Aristotelicus: „Si enim nulla alia praeter naturam datur substantia, sique cuncta naturae phaenomena hac ratione explicari possunt, Deo nec locus, nec eodem opus est." Theses, 1717, S. 229. 213 Yg] Mersenne, der jedoch ohnehin die Behandlung der „causae" und die der „Atheorum obiectiones" in seinem Art. III zusammenzieht; Gn-Kommentar, 1623, Sp. 225 ff. So auch Valentin E. Löscher bei seinem Hinweis auf die Wiederherstellung der „Mechanica Philosophia"; Praenotiones, 1713 2 , Prolusio. 214 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 130; vgl. unten Anm. 237. 215 Michael Berns, Altar der Atheisten, 1692, S. 257 ff. 216 217 Ebd. S. 313. Gn-Kommentar, 1623, Sp. 230. 218 „Deinde ubi se viderint in iis quae nolunt diu detentos, parum illud dogma intra se confirmant, & in suis cordibus ita decernunt: non est D e u s . . . " ; Gn-Kommentar, 1623, Sp. 229; vgl. Bircherodius, Exercitationes contra Atheos (1660), S. 29. 132

Bösen vertrage sich nicht mit der Existenz Gottes 219 ; aber f ü r viele mag ein echtes Lebensproblem dahinter stehen. Gabriel Wedderkopf stellt lapidar fest: „ . . . non nulli ob res adversas in hoc Atheismi barathrum abripiuntur" 2 2 0 . Die Welt in ihrer Ordnung und in ihrer Unordnung vermag dem Menschen den Blick auf Gott zu verstellen. 3. Der Sünden fall Was immer also im einzelnen den Anlaß abgeben mag — der Drang nach Freiheit und Selbstbestätigung, das Verhaftet-Sein an das Irdische oder die Unfähigkeit, mit Leid fertig zu werden —, die eigentliche Ursache des Atheismus, so schließen seine Bestreiter, muß im Wesen des Menschen begründet sein. Dem Teufel ist es, schreibt Theodor Undereyck, insofern ein Leichtes, Atheisten zu schaffen, „als alle und jede Menschen von N a t u r Atheisten / und von dem Leben das aus Gott ist / und von der wahren Liebe zu Gott / loß und entfrembd gebohren werden . . ." 221 . Die eigentliche Wurzel des Atheismus ist der Antitheismus 222 , wie er sich im Sündenfall offenbart hat; „alle Atheisterey" ist „von Adam entsprungen", urteilt Undereyck 223 . Viele der Autoren kommen in diesem Zusammenhang auf den Fall zu sprechen 254 ; am intensivsten hat Anton Reiser diesen Gedanken verfolgt; über den Sündenfall hinaus geht er sogar bis auf den Fall Satans zurück: Der Teufel habe sich gegen Gott aufgeworfen, „postque tentatum infeliciter Antitheismum factus est passive atheus" 225 ; daraufhin habe er die Menschen, die doch hätten „prothei" sein sollen, dazu verführt, „apothei" zu werden22®. Gott verbannte sie aus dem Garten Eden 2 2 7 ; Adam wird damit zum ersten Atheisten 228 ; Kain wird zu einem profilierten Vertreter 219

220 Vgl. unten S. 272ff.; 275ff. De Atheismo, 1665, S. 9. 2 Der närrische Atheist (1722 ), Widmung (nicht pag.; 36. S.). Michael Berns bringt ein eigenes Kapitel über die Natur des Menschen (II), in dem er in barocker Deutlichkeit u. a. diejenigen schildert, die „mit dem Viehe viehisch / vergnügen sich mit dem / was die Sinne erlustiget". S. 10. 222 Manchmal wird bereits in den Titelformulierungen beides nebeneinander genannt; vgl. Anton Reiser, De origine, progressu, et incremento Antitheismi, seu Atheismi, 1669. 223 A . a . O . S. 41. 224 Johann Müller, Atheismus devictus, 1672, S. 35 f.; Birdierodius, Exercitationes (1660), S. 11; Spener, Geminum judicium (1703), S. 15; Spizel, Scrutinium Atheismi, 1663, S. 49. 225 228 De origine . . . Atheismi, 1669, S. 17. Ebd. S. 24. 227 „At e Paradiso quidem eliminatus erat Atheismus, non item ex corde humano, ubi semel malum hoc semen radices egit, nunquam plane & omnino eradicandum, quin potius propagandum & ab istis statim Protoplastis in posteros propagatum . . . " ; ebd. S. 25. 228 Auch Undereyck hat diese Meinung geteilt; Der närrische Atheist (1722 2 ), S. 52. Grünenberg, De Atheorum religione pudentum, 1701, beginnt seine historischen Reminiszenzen (ab § 22) jedoch offenbar bewußt nicht mit Adam. 221

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mindestens des indirekten Atheismus; Reiser beruft sich auf das Targum Jonathan, demzufolge Kain zu seinem Bruder Abel gesagt hatte: „Non est judicium, & non est judex, & non est seculum aliud . . ," 229. Nach dem Verschlechterungsschema, das schon die Genesis anwendet, sieht Johann Barthold Niemeier dann die Gefahr des Atheismus lawinenartig zunehmen 230 . Der Sündenfallbericht eignete sich schließlich auch deswegen besonders zur Verankerung der Geschichte des Atheismus, weil in ihm die Kardinalfrage des kritischen Menschen gestellt wurde: „Seine Sprache verräth ihn: Ja solte Gott gesagt haben? sprach die Schlange . . ," 231 . 4. Selbstkritische

Äußerungen

Die Theologen des 17. Jahrhunderts, die orthodoxen sowohl wie auch später die pietistischen, wiesen nicht auf den Sündenfall hin, um die Atheisten ihrer geheimen Komplizenschaft mit dem Teufel zu überführen: Trotz aller Einseitigkeit und Verständnislosigkeit ihrer Polemik fehlte es nicht an selbstkritischen Stimmen, die zu erkennen gaben, daß die Auseinandersetzung mit dem Atheismus auch zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Herzen werden kann. Unter deutlicher Bezugnahme auf den Sündenfall schreibt Undereyck, auch die Frommen müßten zugeben, daß sie mit atheistischen Gedanken zu kämpfen haben 232 . Glaube und Unglaube, bekennt Seckendorf, sei oft in der Brust eines einzigen Menschen anzutreffen, mit wechselnder Stärke, während der „atheismus practicus" ohnehin allen Menschen anhänge 233. Johann Petrus Grünenberg meint, frei nach Luther könne man sagen, daß der Mensch „suo sub pectore atheum circumferre"; mancher seiner Leser werde bezeugen, daß es gewisse Stunden der Anfechtung gebe . . . 234 . Man müsse den Atheismus bekämpfen, urteilt Spener in einem seiner „Bedencken", „weil wir alle von natur bereits den saamen des atheismi in unsrer verderbnus bey uns tragen..." 2 3 5 . Dies ist aber keineswegs pietistische Selbstkritik; Calov schreibt am Ende einer Reihe von Argumenten gegen den Atheismus, er habe das alles nicht nur gegen die Angriffe der Atheisten vorgebracht, sondern auch zur Stärkung der Glaubenden, wenn sie 229

Leuckfeld, Der verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 60, Anm. d); Reiser, а. а. O. S. 27 ff. Ohne auf den Inhalt des Targums näher einzugehen, ließ August Pfeiffer darüber disputieren: Diatribe philologica de colloquio Kaini & Abelis . . . , Wittenberg 1671. Der „Targum" wurde bald in seiner Echtheit angefochten; vgl. Joh. Anton Syrbius, D e Atheismi origine, 1720, § X I ; Joh. Hermann Eiswich, Controversiae de Atheismo recentiores, 1716, S. 8. 230 j ) e Atheismi eversione, pars prior, 1689, § VI. 231 Großgebauer, Praeservatif, 1661, Vorrede; vgl. Sedsendorf, Christen-Staat, 1685, 5. 74 f.; Scriver, Seelen-Sdiatz (1701), Teil I, 2. Predigt, § 23, S. 18. 232 233 Der närrische Atheist (1722 2 ), S. 57. Christen-Staat, 1685, S. 5 ff. 234 De Atheorum religione prudentum, 1701, § 17. 235 Letzte Theologische Bedenken (1721 2 ), Teil I, Cap. II, Art I, Sect. IV, Bd. I, S. 334.

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von Zweifeln daran geplagt würden, ob Gott s e i . . . M 6 . Man mußte also dem Atheismus begegnen, aber mit welchen Mitteln 2 3 7 ? 2 3 6 „ H a e c ergo, & huiusmodi alia plurima e Scripturis menti nostrae p r o p e infigenda, & dubitationibus de D e o propriis non minus, quam atheorum D e u m negantium impietati opponenda sunt, cum in gravibus tentationibus quandoque etiam ipsorum fidelium mentes solicitentur, num sit D e u s ! " Systema, Tomus II, 1655, C a p . II, S. 111; ähnlich Wilhelm Bajer, Compendium theologiae positivae, J e n a 1691 2 , S. 187: „ . . . non solum cum Atheis; verum etiam alias ob corruptionem naturae, cum dubitationibus mentium nostrarum decertandum est; ideo non sunt negligenda, quae existentiam Dei p r o b a n t . " 2 3 7 Anhangsweise sei noch das komplizierte System von Ursachen des Atheismus mitgeteilt, das Gisbert Voetius in der ersten seiner Atheismus-Disputationen a u f b a u t (Select. Disp., P a r s I, 1648, S . 125 ff.). D a s O b e r m a ß an Distinktionen ist dem heutigen Betrachter fremd, die daraus zu ersehende gedankliche Durchdringung des Problems jedoch beachtlich, wenn man etwa die teilweise assoziativ aneindergereihte Folge von causae bei Mersenne, G n - K o m m e n t a r , 1623, S p . 225 ff., z u m Vergleich heranzieht.

aversio a Deo lapsus praesentium Sc antiquorum fastidium (a) / communiores: novorum appetitus (b) causae principales: Mensch, Teufel als impulsor

magis speciales (c)

in intellectu: Agnostizismus Skeptizismus ex parte voluntatis: iactata panSophia, Ehrgeiz, Verachtung des Überkommenen ex parte actionum: Securitas, Religionswechsel, nat. Weltbetrachtung

causae atheismi

proprie dictae: apostasiae, contentiones, conficta miracula

I

causae impellentes & adjuvantes

ч f

V externae

(e)

improprie dictae: ungenügende apologetische Lit., Scheinwiderlegungen des Ath., Mißbrauch der Naturwissenschaften

instrumentales: Lehrer, Bücher, Gespräche Tarnung atheistischer Lit., libertas philosophandi

Im einzelnen ist an Voets Darstellung folgendes interessant (die Buchstaben beziehen sich auf das beigegebene Schema): (a) Der Überdruß am Althergebrachten und die Begeisterung für das N e u e werden mit dem F a l l zusammengesehen (S. 125). (b) Auch für Agnostizismus und Skeptizismus werden Gründe angegeben: „ p a r t i m invidia alienae scientiae, partim desperatio p r o p r i a e " (S. 126). „ Q u a n d o q u i s . . .

135

IV. Die Ebenen der Auseinandersetzung α) Die

Rolle

der

Staatsgewalt

T r o t z gelegentlicher — i m G r u n d e v ö l l i g i n k o n s e q u e n t e r —

selbstkriti-

scher Ä u ß e r u n g e n w a r d e n T h e o l o g e n des 1 7 . J a h r h u n d e r t s die E x i s t e n z G o t t e s eine S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t , die keines B e w e i s e s b e d u r f t e . W e r n u r die A u g e n ö f f n e t e u n d d i e P r i n z i p i e n d e r V e r n u n f t richtig g e b r a u c h t e , m u ß t e sie z u g e b e n . D a ß die A t h e i s t e n a b e r gegen allen A u g e n s c h e i n u n d gegen jegliche V e r n u n f t G o t t e s E x i s t e n z b e s t r i t t e n , d a s m a c h t e sie in d e n A u g e n ihrer Gegner unheimlich u n d gefährlich. C o n t r a principia negant e m n o n est d i s p u t a n d u m , s a g t e m a n sich — w i e sollte m a n i h m b e i k o m m e n ? M i t t e n in seinem A r g u m e n t a t i o n s g a n g schreibt P e t r u s Molinaeus

in

seinem T r a k t a t „ D e c o g n i t i o n e D e i " : „ N e q u e v e r o h a e c eo p e r t i n e n t u t p r o b e m esse D e u m , q u e m ipsi d a e m o n e s c o n f i t e n t u r ; Q u e m qui n e g a t nimio & impatient! scientiae ardore in abdita Sc abstrusa quaeque fertur", verwirrt er sein eigenes Wissen und das Gewissen anderer: „Causa huius naufragii est, quod noluerint alicubi ingenium suum sistere, captivare, & docta Ignorantia pascere." (S. 126.) Der Skeptizismus führt leicht zum Atheismus, weil dem „Nil admirari" das „nil credere" entspricht (S. 126) und weil die Bestreitung bestimmter logischer Prinzipien (wie: Nihil potest simul esse & non esse) jede Argumentationsbasis auflöst (S. 127). (c) Das Streben nach einem möglichst vollkommenen Wissen ist gepaart mit der Verwerfung bisheriger Ergebnisse, „ut seil, miraculosum ipsorum ingenium instar rasae tabulae solummodo inventis & observationibus propriis inscribendis idoneum reddatur" (S. 128). Der Sensualismus, der nicht von eingeborenen Ideen, sondern von äußeren Eindrücken ausgeht, kommt bei Voetius als ein dem Sündenfall entstammendes Prinzip zu stehen, vgl. oben (а)! (d) Bei der Erläuterung der Naturgesetze, an denen Übernatürliches nicht gemessen werden darf, weist Voet besonders auf den Magnetismus hin (S. 129). Zu den causae externae impulsivae improprie dictae rechnet er neben der sichtbaren und in sich geschlossenen Naturordnung auch Probleme der Theodizee sowie die göttliche permissio peccatorum (S. 130)! (e) Das Moment der Tarnung wird ganz besonders stark herausgestellt: Der Atheismus kann die libertas philosophandi und die libertas prophetandi für sich in Anspruch nehmen (S. 131) und unter dem Schein des Unerhörten und der Wissenschaftlichkeit sich verbergen (S. 132), — ja sogar unter dem Vorwand, Häresien und selbst den Atheismus zu bekämpfen (S. 133). Das Schema war zu kompliziert, als daß es sich hätte viele Freunde schaffen können; eine derart starke Differenzierung hinsichtlich der causae hielt man zudem weithin für überflüssig. Um eine eigene Darstellung des Ursachengefüges bemüht sich gegen Ende der Auseinandersetzung Johann Georg Syrbius, De Atheismi origine, 1720, S. 48 ff. Im übrigen begnügt man sich meist mit der Feststellung, daß der Atheismus seinen Ursprung teils im Willen, teils im Intellekt habe, und leitet alle weiteren Ursachen davon ab; vgl. Joachim Lange, Caussa Dei et religionis naturalis adversus Atheismum, 1723, S. 31 f.; C. Neumann, Trutina religionum (1731 2 ), S. 16 f. (dort wird zusätzlich die desertio Dei genannt). 136

dignior est tortore qui cruciet, quam Philosopho qui doceat" l . Diese Gegenüberstellung von Philosoph und Henker ist noch oft wiederholt worden, auch noch zu einer Zeit, in der sie aufgrund der geistesgeschichtlichen Weiterentwicklung nicht mehr tragbar und einfach sinnlos geworden war 2 . Sie bringt eher die Hilflosigkeit als die Gewalttätigkeit der Kirche gegenüber ihren neuen Gegnern zum Ausdruck. Die wachen Zeitgenossen sahen etwas heraufkommen, das Kirche und Staat in gleicher Weise zersetzen konnte, das an der Wurzel gefaßt und wieder beseitigt werden mußte. In der Widmung seines Genesiskommentars wünscht Mersenne seinem Erzbischof Johannes Franciscus de Goridy von Paris, er möchte seine Diözese frei bekommen von jedem Häretiker, Atheisten und Deisten. In seiner Schrift über „L'Impiete des Deistes...", die er dem königlichen Rat und Procureur General Möns. Messire Mathieu Mole widmet, fordert er diesen auf, ein zweiter Herkules zu werden und Frankreich, ja das Universum zu reinigen von diesen ungeheuerlichen Menschen3. Ließ sich der Atheismus nicht mehr zurückdrängen, so mußte man doch wenigstens versuchen, seine weitere Verbreitung zu stoppen. Die Kirche selbst verfügte dazu über keine geeigneten Mittel; ihr fehlte jede Möglichkeit, die atheistische Propaganda wirksam einzuschränken. Wenn nun die Theologen das Eingreifen der staatlichen Behörden für geboten ansahen, war das keine Verlegenheitslösung: Sie glaubten die Fundamente der staatlichen Ordnung und des menschlichen Zusammenlebens durch den Atheismus direkt bedroht. 1. Die Folgen des Atheismus für Staat und Gesellschaft Von Anfang an weisen die Apologeten auf diese Gefahr hin. Für Wilhelm von Assonlevilla steht es außer Frage, „religionem velut praecipuam Reipublicae basim constitui oportere" 4 : Schon die Heiden seien sich darLeiden 1625, S. 32. Molinaeus (du Moulin; 1 5 6 8 — 1 6 5 8 ) , als Knabe der Pariser Bluthochzeit knapp entkommen, hatte in Sedan, Paris, Cambridge und Leiden studiert. In Leiden wurde er Professor der Philosophie; dort gehörte Hugo Grotius zu seinen Hörern. 1599 Prediger in Paris, dann Hofkaplan der Katharina von Bourbon, wieder Prediger in Paris, dort durch die Gehässigkeit des Pöbels bedroht; kurzer Aufenthalt in Cambridge; wieder in Frankreich, wegen einer bevorstehenden Verhaftung Flucht nach Sedan; Einladung Jakobs I. nach England, schließlich aber 1625—1658 Theologie-Professur in Sedan: Einen Abriß dieses bewegten Lebens gibt Jödier III, Sp. 592 ff; vgl. A D B 22, S. 105 f.; La France Protestante 15, Sp. 798 ff. г Vgl. ζ. B. Joh. Andreas Schmidt, De Deo et attributis divinis ex principiis naturae cognoscibilibus, 1690, S. 1 ff. 3 „ . . . vous voyant, dis-je, Monseigneur, comme un autre Hercule purger courageusement L'Univers de ces monstres infames, ie me suis senty saisir d'une honte toute saincte, de voir qu'en cette mesme France les doctrines libertines eussent parmy nous un sort plus favorable que leurs auteurs." (Widmung, nicht pag.; 2./3. S.). 4 Atheomastix, 1598, S. 25. 1

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über im klaren gewesen; einen Diagoras, der die Existenz der Götter bestritt, hätten die Athener verbrannt, und Cicero führe in seinem Buch „de natura deorum" 5 aus, daß ohne pietas gegenüber den Göttern die societas der Menschen Schaden nehme und die Gerechtigkeit verfalle; wie konstitutiv die Religion f ü r ein Staatswesen sei, könne man zudem am Alten Testament sehen, am Beispiel eines Josia, aber auch aus Sätzen des Neuen Testaments, wie Mt. 6, 33, lasse sich das ableiten 6 . Ausführlich wird dieses Problem verhandelt in Joh. Georg Abicbts Disputation „De Damno Atheismi in Republica" 7 . Er geht davon aus, daß „dogmata mala" die sittliche Haltung des Menschen beeinflussen 8 und „unanimo Doctorum consensu" dem Atheismus entspringen 9 . Schaden f ü r den Staat verursache dieser dadurch, daß er die Aussicht auf die Unsterblichkeit und damit die Hoffnung auf die Seligkeit beseitige 10 und so die nun ihres Trostes beraubten Menschen „ad sua gerenda" verführe; nun würden sie unruhig und um ihre eigenen Dinge besorgt, weil sie nicht mehr auf eine höhere ausgleichende Gerechtigkeit hoffen könnten 1 1 . Jetzt meiden sie nach Abichts Meinung Mühe und Verantwortung und gefährden das staatliche Leben durch ihre Privatinteressen 12 , handeln unsozial und schaffen die Barmherzigkeit ab 1 3 . Darüber hinaus versuchen sie, die Religion auszuschalten, die doch das „omnium actionum humanarum vinculum" darstelle 14 . D a ß die Gegner gerade deswegen die Religion als „politische" Erfindung abtun, wird nur mit Bedauern zur Kenntnis genommen 15 ; eine auf Absprache beruhende gesellschaftliche Ordnung wird als Imitation heidnischer Vorstellungen gewertet, die ungenügend begründet und darum letztlich wertlos sei 16 . Schließlich beseitigen die Atheisten nach Abichts Auffassung auch die Gerechtigkeit, weil sie den wahren Maßstab für das Rechte, nämlich den Willen Gottes, verloren haben 1 7 . Weil ihnen das klar ist, greifen diese „Atheistici Rerumpublicarum Architecti" auf die „ N a t u r " zurück, obwohl sie doch andererseits bestreiten, daß die „ N a t u r " irgend jemanden zu irgend etwas ver5

β Liber I, cap. 2. Atheomastix, 1598, S. 21 ff. Leipzig 1703. Abicht (1672—1740) hatte in Jena und Leipzig studiert, war in Leipzig ab 1702 Professor für Hebräisch, ab 1716 für Theologie, ging infolge von Schwierigkeiten mit dem Dresdener Hof nach Danzig und wurde 1729 zum Nachfolger Wernsdorfs nach Wittenberg berufen. U. a. hat er mehrere Schriften gegen Leibniz verfaßt. Vgl. Jöcher I, Sp. 23 f.; ADB 1, S. 20 f. 8 § I; er versteigt sich — zwar mit Absicherungen — zu der für seine Zeit ungewöhnlichen Meinung, „conscientiam dogmatibus formari"; ebd. Vgl. unten S. 208, 210. 10 11 » § II. § VIII. § IX. 12 13 § X. § XI. 14 „Religionis tanta est vis ac efficacia, ut animos de eius veritate convictos, multis stimulis pungat & impellat, quo divinas & humanas leges, magna cum fiducia & alacritate exequantur, ex quo Reipublicae tranquillitas magnum incrementum recipit." § XII. 15 16 17 § XIII. § XIV. § X V f. 7

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pflichte 18 ! Nach ihren Grundsätzen muß auch die Treue entfallen 19 , die des Beamten und des Bürgers. Wenn sie darauf hinweisen, daß sie den Menschen von der Furcht befreien, so müsse man fragen, ob nicht die Beseitigung der ewigen Hoffnung größere Furcht auslöse 20 . Die soziale Zuordnung der Menschen zueinander reiche nicht aus zu einer Erklärung der Entstehung von Gemeinschaften: „Qualis enim est ilia societas, quae mero humano artificio absque religione coaluit?" 2 1 Die staatliche und sittliche Ordnung sei doch nicht die Erfindung von Fürsten, vielmehr müßten sich diese auch ihr einordnen und beugen. Der Hinweis auf eine höhere denn irdische Gewalt halte gerade sie in Schranken 22 . Abidit macht keine Vorschläge, wie sich der Staat dieser Gefahr erwehren solle. Seine Ausführungen klingen eher deprimiert und münden aus in dem Nachweis, daß der Atheismus die Moral im ganzen zerstöre 23 . Wenn der Mensch keine Vergeltung mehr zu fürchten hat, sind der Zügellosigkeit Tür und Tor geöffnet 24 . Volkstümlich derb bringt diese communis opino Jacob Daniel Ernst in seiner „Historischen SchauBühne" zum Ausdruck 25 : „ . . .Also wenn die Gottlosen sich bereden / es sey kein Gott im Himmel / der die Boßheit straffen werde und wolle / so ist ihnen keine Sünde zu viel / sie huren / buben / brechen die Ehe / sie rauben / morden und stehlen / kurtz / sie thun alles was sie nur wollen und können / und sprechen dabey: Wo ist der Gott / der da straffet? Mal. II, 17". Daß katholische wie auch protestantische Autoren derart von der Verankerung der Moral im Vergeltungsdenken überzeugt sind, stimmt betrüblich, einerseits, wenn man sich den ethischen Ansatz Luthers vergegenwärtigt, andererseits, wenn man sich daran erinnert, daß bereits Pomponazzi eine gerade darin hochstehende Ethik zu schaffen versuchte, daß er das Handeln des Menschen nicht an dogmatischen Aussagen irgendwelcher Art orientierte 26 . Gleichwohl — ohne Furcht vor dem Gesetz, sei es ein irdisches oder ein ewiges, ohne Angst vor Schande und schlechtem Ruf konnte man sich eine Ethik eben nicht vorstellen 27 . Gelegentlich strich man später, selbst 1 9 § X I I X f. § XVII. 2» § X X I I . 22 Ebd. § XXIII. 2 3 § X X I V , gegen Bayle. Hin und wieder zieht Abidit Hobbes als Beleg der gegnerischen und Pufendorf als Beleg der eigenen Meinung heran (besonders § XIII). 2 4 Vgl. Lessius, De Providentia Numinis, 1617 2 , Vorrede (nicht pag.; 1. S.): „ . . . si semel constiterit nullum esse Numen, a quo istud Universum & res humanae gubernentur, sed omnia vel naturae quodam impetu, vel fortuito causarum concursu evenire; magno futurorum metu soluti, libere secureque poterimus agere, quidquid animo fuerit collibitum." 25 In der Beispielgeschichte Cap. X V : »Der wunderlich zur Straffe gezogene Jungfrauen-Rauber", S. 344 f. 2 8 Vgl. oben S. 1 2 1 , sowie die dort angegebene Literatur. 27 Vgl. Joh. Petr. Grünenberg, De Atheorum religione prudentum, 1701, § 11 f. 18

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schon aufgeklärt, das pädagogische Moment der Angst und fragte nur noch: Woher sollte ohne einen obersten Gesetzgeber ein oberstes Gesetz kommen? Etwas umständlich formuliert Walch: „An sich selbst kan bey einem atheistischen Systemate keine Moral statt haben, indem, wenn kein Gott seyn soll, audi kein Gesetz; mithin keine Moralität statt haben kan." 2 8 Jedenfalls mußte der Atheismus Konsequenzen für das menschliche Zusammenleben auf allen Ebenen haben. Kein Atheist, verkündete Richard Bentley, könne „ein aufrichtiger Freund / ein geneigter Verwandter I oder ein getreuer Unterthan seyn" 2 9 . Nicht nur die staatliche Ordnung, sondern die sozialen Beziehungen des gesamten Menschengeschlechts stehen also auf dem Spiel. Voetius empfindet es als Selbstverständlichkeit, wenn er sagt: „neque enim societas hominum, aut bonum civile consistit sine cultu & metu numinis" 3 0 . Menschen, die keinen Gott verehren, „nihil in humanis sanctum habebunt", urteilt Daniel Georg Morhof31. Wer sich für deren Bekämpfung einsetzt, macht sich um das ganze Menschengeschlecht verdient 3 2 . Besonders die durch das landesherrliche Kirchenregiment ohnehin stark auf die weltliche Obrigkeit angewiesenen lutherischen Autoren mußten hier eine Gefahr für die bestehende politische Ordnung wittern. Johann Clausen in Kiel widmet die Dissertation „Atheus convictus" seinem Landesherrn Christian Albrecht von Schleswig-Holstein 83 . Man fühlt sich beim K a m p f gegen den Atheismus im Verein mit der politischen Obrigkeit 3 4 . 2 8 Einleitung, Teil V , 1736, K a p . V I I , S. 83; vgl. ebd. S. 125 ff., wo die Moral der Atheisten gegen Hobbes als eher für die unvernünftigen Tiere denn für den Menschen 2 9 Die T h o r h e i t . . . des Atheismi (1715), S. 57. geeignet abgetan wird. 3 0 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 1 8 8 ; vgl. Gebh. Theodor Meier, Historia religionum, 1697, S. 3 1 ; Adam Rechenberg, Fundamenta verae religionis prudentum, 1708, S. 6 1 ; Budde, Theses, 1717, S. 343. 3 1 Polyhistor, Tomus I (1708), S. 168. 3 2 „praeclare de societate humani generis merentur, qui eiusmodi impietatem immanitatemque omni studio r e p r i m u n t . . . " ; Christian Gottl. Schwarz in seiner Vorrede zu J . Thomasius, Historia Atheismi 1713 (nicht pag.; 1./2. S.). 3 3 Praeses: Christoph Franck; Kiel 1672. Christian Albrecht ( 1 6 4 1 — 1 6 9 4 ; vgl. A D B 4, S. 188 ff.) hatte 1665 die Universität Kiel gegründet, doch wohl nicht so sehr als H o r t der Rechtgläubigkeit gegen die Aufklärung, sondern als geistiges Bollwerk gegen die Nachbarländer Schweden und Dänemark, mit denen er in langwierige Auseinandersetzungen verwickelt war. Zur Entstehungsgeschichte der Kieler Universität vgl. Rodenberg-Pauls, Die Anfänge der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Neumünster 195'5, sowie K . Jordan, Christian-Albrechts-Universität Kiel 1 6 6 5 — 1 9 6 5 , Neumünster 1965, S. 7 ff. 3 4 In der Widmung heißt es im Anschluß an eine Bemerkung über Gottes Feinde: „ . . . Quos cum Tu, ceu nocentissima daemonum, quos non credunt, mancipia, quae ubique caput etiam cum applausu seculi efferunt, immortali odio prosequaris: non amare pietatem nostram non poteris, qua pro virili insanientem illorum sapientiam impugnatum imus." (Nicht pag.).

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Ein Beispiel für die gute Zusammenarbeit von staatlichen und kirchlichen Behörden gibt der Fall Knutzen in Jena ab 3δ . Die strittigen Flugschriften waren sofort „an hiesige Fürstl. Regierung gebracht" worden 36 , und, sobald „dem Durchlauchtigsten . . . Regierenden und hier residirenden Landes Fürsten und Herrn / hievon gebührende Eröfnung geschehen", wurde der eine zur Debatte stehende Dialog dem Rektor der Universität übergeben, „auf dero Durchl. gnädigste Verordnung... mit gnädigsten Befehl / genaue inquisition anzustellen..." 3 7 . Nachdem man eine steckbriefliche Beschreibung des Delinquenten angefertigt hatte — kleine, hagere Statur, schwarzbraune Haare, enger brauner Rock, brauner Mantel — „hat man in den Gasthöfen forschen lassen / ob eine reisende Person in solcher Gestaldt am 4. September und folgenden Tagen darin gewesen / oder noch sey . . ." 38 . Nun hatte sich Knutzen tatsächlich auch gegen die Obrigkeit gewandt, und es ist aus damaliger Warte sicher gerechtfertigt, wenn Musäus in diesem speziellen Fall die Begriffe „atheistisch" und „aufrührerisch" nahezu synonym gebraucht39. Aber man hätte sich daran auch dann nicht gestoßen, wenn die Sachlage nicht so eindeutig gewesen wäre. Man malte sich die chaotischen Zustände eines Kampfes aller gegen alle aus, den man für den Fall entbrennen sah, daß ein Staat nur mehr aus Atheisten bestünde40. Krasser Egoismus wäre das Gesetz des Handelns für die Regierenden wie für die Bürger 41 . Lüge, Meineid und Bestechung wären an der Tagesordnung; das Geschick des einzelnen wäre ohne den Anker der Providenz rückhaltlos dem Zufall ausgeliefert 42 . Ein charakteristisches Beispiel für diese Sicht geben die Ausführungen von Johann Barthold Niemeier™. Die Religion ist für ihn die Grundlage des 36 Musäus, Ableinung, 1674, S. 3. Vgl. oben S. 105 f. 38 Ebd. S. 7. 39 Ebd. S. 1 , 1 2 . Ebd. S. 5. 40 „Fac societates omnes, ac Respublicas ex meris Atheis constare; cujusque bona, facultates, vita denique ipsa in maximo semper discrimine versabuntur. Furtis, rapinis, caedibus manifestis, occultis, prout res ferent, omnia implebuntur. Quisque propemodum, ad turbas paulo proclivior, in quemque involabit, quem injuriis suis opportunum aestimaverit: & impotentior quivis in praedam cedet potentiori, plane sicuti in sylvis ferarum imbecilliores a valentioribus discerpuntur ac devorantur. Quo vis aperta perrumpere nequit, fraus Sc insidiae obrepent, & clam fiet, quod palam non licet. Nulla promissis Veritas, nulla pactis fides, nulla foederibus firmitas. Juramentum nil nisi ludus jocusque . . . " ; Christoph Franck, Atheus convictus, 1672, Vorrede, S. 4. 41 „Quotusquisque enim suo contentus non viret, alienis inhiabit." Ebd. S. 5. 4 2 „Usque adeo quicquid vel natura concessit, vel industria paravit, vel alia quadam singulari felicitate homini contigit, inter casuum incerta fluctuabit, instar navis, quae exasperato fluctibus mari vento rapitur, nisi communi de divina Providentia consensione, veluti anchora quadam, figatur firmeturque." Ebd. S. 5. 43 De Atheismi eversione, pars prior, Helmstedt 1689, pars posterior, Anfang 1690. Niemeier (1644—1708) studierte in Helmstedt und wurde dort Professor der Metaphysik (1675), der Logik (1690) und später der Theologie (1698); er hat sich stark mit der Gotteslehre beschäftigt; vgl. Jöcher III, Sp. 938, und ADB 23, S. 676 f. 35 37

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menschlichen Z u s a m m e n l e b e n s ; sie h a t d a h e r d i e erste S o r g e eines S t a a t e s z u sein — so h a b e bereits A r i s t o t e l e s d i e Sache b e u r t e i l t 4 4 . D i e R ö m e r h ä t t e n nach d i e s e m G r u n d s a t z g e h a n d e l t 4 5 . E i n e H ä r e s i e b e z i e h e sich nur a u f geistliche D i n g e , a b e r d e r A t h e i s m u s bringe d e n S t a a t d u r c h e i n a n d e r 4 i : „Atheismus secum fert άναρχίαν quandam"47. Ein Eingreifen des Staates schien also w i r k l i c h v o n der Sache h e r g e b o t e n . G e g e n diese m o r a l i s c h e V e r d ä c h t i g u n g d e r A t h e i s t e n h a t a m energischsten Pierre Bayle protestiert. I n der „ C o n t i n u a t i o n " seines K o m e t e n b u c h e s t r ä g t er, w i e M a u t h n e r sie f o r m u l i e r t , d i e T h e s e v o r : „ A t h e i s t e n k ö n n e n g u t s e i n . " 4 8 D i e T h e o l o g e n h a b e n sich w i e d e r h o l t m i t ihr a u s e i n a n d e r g e s e t z t u n d sie durchweg abgelehnt49. Relativ viel Verständnis für Bayle entwickelt u n t e r d e n L u t h e r a n e r n J o h a n n G e o r g Pritius50; er versucht i h n aber d a n n m i t dessen e i g e n e n W a f f e n z u schlagen: B a y l e kritisiere, d a ß auch d i e R e l i g i o n e n n u r sehr bescheidene E r f o l g e in d e r M o r a l ihrer G l i e d e r h ä t t e n erzielen k ö n n e n ; aber w e n n es n u n schon d i e C h r i s t e n nicht z u h ö h e r e r Sittlichkeit brächten, w i e sollte das d a n n d e n e n g e l i n g e n , es besser z u machen, d i e v o n n e g a t i v e n P r i n z i p i e n a u s g e h e n 5 1 ? 44

Ebd. § IX. Neben vielen anderen Belegen wird der Ausspruch eines Valerius Maximus angeführt: „Omnia post religionem ponenda semper civitas nostra duxit." Ebd. § X. Eine vorgefaßte Meinung hat den Blick für die historische Wirklichkeit hier gründlich getrübt! Niemeier folgert: „Hinс nullum est dubium, quin Majestas religionem suis civibus possit imperare, omnia vero ac singula, quae cum eadem pugnant, prohib e r e . . . " ; § X I ; vgl. X I I ff. 48 „At vero ή άθεότης, quo ipso nullum agnoscit Deum, eo ipso solvit societatis civilis vinculum, legum Sc magistratus autoritatem conculcat, nullique non flagitiorum generi latam aperit portam, eoque omnem opplet civitatem." § L X X I I I . 47 § L; zitiert nach Alexander Rossaeus, Der gantzen Welt Religionen..., Amsterdam 16682 (mir lag nur diese Ausgabe vor); vgl. Sectio XII, qu. 1 ff. Vgl. auch Joh. Petr. Grünenberg, De Atheorum religione prudentum, 1701, § 14: „Concedam autem omnem quodammodo religionem, omnem sectam in republica tolerabilem esse, quousque Deum docet: Atheismum . . . omni reipublicae ac maiestati fatalem, atque ita intolerabilem censeo...". 48 Der Atheismus, Bd. 2, S. 265 ff. 49 Zum Kampf zwischen Bayle und Pierre Jurieu vgl. ebd. S. 279 ff., sowie Walter Rex, Essays on Pierre Bayle and Religious Controversy, The Hague 1965, passim. Zu Bayles grundsätzlicher philosophischer Stellung vgl. das Standardwerk von Elisabeth Labrousse, Pierre Bayle, Tome II, Heterodoxie et rigorisme, La Haye 1964. 50 Pritius (1662—1732), der seine Ausbildung in Leipzig empfangen hatte und nach dem Dienst an verschiedenen Pfarrstellen 1708 zum Professor der Theologie nach Greifswald und 1710 zum Senior Ministerii nadi Frankfurt/Main berufen werden sollte, hatte während seiner 1705 angetretenen Bildungsreise durch Deutschland, Holland und England Gelegenheit, u. a. auch Bayle persönlich kennenzulernen. Vgl. ADB 26, S. 206 ff. 51 De Atheismo, 1695, Art. X X : „ . . . si omnes homines libenter se patiuntur auferri a suis cupiditatibus, quae sunt Auctoris ipsius dogmata, quid obstabit amplius, quo minus atheus cuncta sibi indulgeat, & quae grata sibi sunt, omni opera & industria. . . consectetur?" Vgl. Art. XVI. 45

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Audi ein Mann wie Christian Thomasius, selbst des Atheismus verdächtigt 52 , behauptet, davon überzeugt zu sein, daß ein Atheist das „ . . . fundamentum omnis moralitatis" zerstöre 53 . Gegen die Beispiele von tugendhaften Atheisten, auf die Bayle verweist, kommt man freilich nur dadurch an, daß man ihre Glaubwürdigkeit bezweifelt 54 , die Ehrlichkeit der betreifenden Leute in Frage stellt 55 oder von einer dogmatischen Konzeption des „Guten" aus argumentiert 56 . Eine weitere Möglichkeit besteht noch darin, daß man den Atheisten Inkonsequenz nachsagt, wenn sie ehrenwerte Leute sind. Seckendorf schreibt im „Christen-Staat": „der Mensch der sich ohne Scheu vor einen Atheisten außgiebt / und doch recht thut / und sich Menschlicher Gesellschaft wohl verhält / der ist nicht so arg / als es seyn will" 5 7 . Es komme gelegentlich schon einmal vor, meint Joh. Petr. Grünenberg, daß ein Atheist „melius vivat, quam permittit atheismi dogma" 5 8 . Eine Zusammenfassung der communis opinio unter den zeitgenössischen Theologen zu diesem Punkt gibt Zacharias Grapius in seiner Disputation: „An Atheismus necessario ducat ad corruptionem morum" 5 9 . Er bejaht diese Frage ohne Zögern, sofern der „direkte" Atheismus gemeint ist 60 . Die von Bayle heraufbeschworene Vision einer atheistischen Gesellschaft wird gleichwohl, jedenfalls gedanklich, nicht von allen Theologen als unmöglich abgetan: Reimmann stellt sidi in seiner „Historia Universalis Atheismi" vor, sie würde von vielen Kontroversen erfüllt sein, in einen „orthodoxen" und einen „häretischen" Atheismus zerfallen, sie würde neue Symbole schaffen, vielleicht einen unfehlbaren Pontifex an ihrer V g l . die Dissertatio prooemialis in seinen Institutiones J u r i s p r u d e n t i a e D i v i n a e , F r a n k f u r t und L e i p z i g 1688, § 31, S. 30. 6 3 Vgl. ebd. Liber I, C a p . I I I , § 88, S. 115, ferner §§ 87, 8 9 — 9 2 . 5 4 Pritius, D e Atheismo, 1695, A r t . X X I I . 5 5 Pritius e b d . ; Valentin E . Löscher, Praenotiones theologicae, 1713 2 , p r a e n o t i o I V . δ β Pritius ebd.: „ S i dixerit Baylius, honestatem atheos sequi posse a b s q u e cognitione Dei, tum id de vera, & q u a e cum ratione conveniat, negamus, cum c o m p e r t u m sit saepius, tarn splendide honestos, sed honestatem a d gloriae magis c u p i d i t a t e m metientes, q u a m a d n o r m a m a Creatore constitutam, plus nocuisse aliis, q u a m p r o f u i s s e ; praesertim ubi p r i m a r i u m a f f e c t u m exerendi a d f u i t o c c a s i o . " 57 Additamentum, S. 3 9 ; zitiert bei G r a p i u s , T h e o l o g i a recens controversa, 1710 2 , S. 41. V g l . J o h . Herrn. Eiswich, C o n t r o v e r s i a e de Atheismo, 1716, S. 46 ff. 58 D e A t h e o r u m religione p r u d e n t u m , 1701, § 7 8 ; vgl. Samuel Biermann, Impietas Atheistica, 1717, C a p . X I I I , S. 139 ff. 5 8 Sie w u r d e 1697 abgehalten und ist gedruckt in: T h e o l o g i a recens controversa, 1710 2 , S. 36 ff. 6 0 E r hat d a f ü r folgende G r ü n d e : (1) „ S u b l a t a f o r m a tollitur res i p s a . " (2) „ Q u a l i s causa, talis & effectus." (3) „ Q u i c q u i d per se d a m n u m i n f e r t Reipubl(icae) ac p r o p terea etiam a S u m m o M a g i s t r a t u t a n q u a m S u m m i N u m i n i s vicario, juste gravissimo supplicio punitur, illud omnino corruptionem a l i q u a m m o r u m necessario i n f e r t . " (4) Es lasse sich schließen „ A b absurdo ac periculoso contrarii." E b d . S. 38 ff.; es f o l g t eine Auseinandersetzung mit B a y l e . V g l . B u d d e , Theses, 1717, S. 346 ff. 52

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Spitze haben und nicht ganz ohne Inquisition auskommen . . . β 1 . Daß die bestehenden Staaten durch den Atheismus in Mitleidenschaft gezogen würden, stand jedoch bei allen theologischen Autoren fest, und konsequenterweise auch, daß der Staat Gegenmaßnahmen zu treffen habe. 2. Vorschläge für staatliche

Gegenmaßnahmen

Unter den „Problemata magis practica" verhandelt Voetius in seiner vierten Atheismus-Disputation die Frage: „An Athei, profitentes seil. & spargentes Atheismum, in Rempubl. sint admittendi aut in ea tolerandi?" 62 Das Kriterium des Bekennens und Ausbreitens einer Lehre wird aus der Rechtsprechung des 16. Jahrhunderts gegenüber den Separatisten übernommen. Wie zu erwarten, verneint Voetius die von ihm gestellte Frage hinsichtlich des „Atheismus speculativus" ohne Zögern — unter dem Hinweis auf 1. Kor. 15, 33: Böse Geschwätze verderben gute Sitten. Entsprechende Schritte erwartet er vom Magistrat; im einzelnen müßten die Juristen die Strafen festsetzen; Voetius verweist auf einige juristische und vor allem kanonistische Literatur. Freilich entstehen in diesem Zusammenhang weit mehr „praktische Probleme": Noch war das Wort „Atheist" ja kein eindeutig festgelegter Begriff, und die Gerichte hätten alle Hände voll zu tun gehabt, wenn sie auf jede Atheismus-Verdächtigung hätten eingehen wollen. Voetius verhandelt solche und ähnliche Fragen ausführlich63; er ist sich dabei der Schwierigkeiten und vor allem des Unterschieds von politischem und kirchlichem Forum voll bewußt: Der Atheismus ist kein „crimen capitale" und daher auch nicht durch Todesstrafe zu ahnden; eigentlich gefährlich wird er seiner Meinung nach für den Staat erst, wenn sich Aufstand oder Landesverrat mit ihm verbinden64. Natürlich liegt auch Voetius an einer Aufdeckung und Bloßstellung des Atheismus. Wer eine Atheismus-Verdächtigung ausspricht, „is minime infamat, nec injuriam infert". Trotzdem wird der Kampf gegen den Atheismus zunächst als Aufgabe der Pastoren und Doktoren und erst in zweiter Linie als Sache der Magistrate angesehen65. Obwohl es der Reformierte Derodon ist, der es im Eifer des Gefechts für gut hält, wider die „spitzfindigen" Atheisten „eine Spanische Inquisition durch die gantze Welt anzuordnen"ββ, zeigen sich die Lutheraner im allgemeinen weit entschlossener, ein hartes Durchgreifen gegen den Atheismus zu fordern. Theophil Spizel geht ganz selbstverständlich davon aus, daß Atheisten durch Abschneidung der Zunge oder Todesstrafe zu bestrafen sind, trotzdem will er ihnen auch eine literarische Widerlegung 61 83 65 66

6 2 1648; S. 179. 1725; S. 22. 6 4 S 184; РгоЫ. I X . Ebd. S. 181 ff.; Probl. V I — X V . S. 186 f.; Probl. X V (diese Ziffer erscheint zweimal). Widerlegter Atheismus (1733), S. 249.

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widmen67. Auch eine Perforation der Zunge hält er für möglich. Mit Recht sei ein Vanini verbrannt worden, wie schon von den Heiden Protagoras — dessen Schriften habe man übrigens einem Vulkan anvertraut; oder man denke an das Schicksal des Diagoras. Weit schlimmer sei noch die Strafe, die Gott der Herr selber verhängt 68 ! Voll Oberzeugung fordert Gebh. Theodor Meier (16971), daß ein Atheist nicht von der menschlichen Gesellschaft geduldet werden darf, und daß er eigentlich nicht nur lebendig zu verbrennen, sondern noch schwerer zu bestrafen wäre 69 ! Nachrichten über solch kurzschlüssige und lieblose Ansichten von frommen und klugen Menschen stimmen einen traurig; aber man wird nicht vergessen, daß diese Männer im Eifer für die vermeintliche Sache Gottes handelten und sich dazu noch auf das Reichsrecht berufen konnten 70 . Eine geschlossene Begründung für das harte Vorgehen der staatlichen Gewalt gegen den Atheismus legt Joh. Barthold Niemeier mit der Pars prior seiner Disputation „De Atheismi eversione" vor. Daß die Obrigkeit in ihrem eigenen und im Interesse des menschlichen Zusammenlebens überhaupt gegen den Atheismus vorzugehen hat, ist ihm Ausgangspunkt seiner Überlegungen71. Obwohl sie auch Mittel der Erziehung und Belehrung einsetzen soll, kann sie auf die Anwendung von Gewalt nicht verzichten. Einen wesentlichen Sinn der gegen den Atheismus erschienenen Schriften sieht Niemeier darin, daß diese die Obrigkeit auf das Problem aufmerksam machen und zum Einschreiten veranlassen könnten 72 . Er ist sich natürlich darüber im klaren, daß sich der Intellekt durch Zwang schwer beeinflussen läßt und daß die religiöse Entscheidung frei sein sollte73. Er sucht nun, seine Auffassung zu rechtfertigen durch die Behauptung, es mache einen Unterschied, ob man jemanden zu einer bestimmten Religion zwinge, oder ob man eine die Religion betreffende Vorschrift erlasse. Letzteres werde durch Gesetz geregelt, das erstere sei eine Sache der „prudentia" 74. Außerdem sei der Wille grundsätzlich 6 8 Ebd., S. 130 ff. Scrutinium, 1663, Vorrede (nicht pag.; 2 . / 3 . S.). „ . . . ne sit amplius in natura rerum, qui naturae auctorem negat, rationi est convenientissimum. Nec video, quomodo alias majestas civilis, vicaria Dei potestas principalis, sui autoritatem salvam tueri posset." Historia religionum, 1697, S. 31. 70 Spizel, Scrutinium, 1663, S. 130; auch Oslander teilt es nur als Selbstverständlichkeit mit, daß die Doktoren beider Rechte für Atheismus Zungenabschneiden oder Todesstrafe vorsehen; Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, Exerc. V, Th. X I I . Vgl. unten Anm. 85. 71 Sie haben sich alle Mühe zu geben, „ne lues haec pestifera Rempublicam inficiat, aut, si jam tum serpere incipiat, dispiciendum erit, quanam ratione inde amoveatur, ac ipse Atheismus, 8c quicquid istuc pertinet, enervetur, ac tollatur, imo mature, antequam vires sibi acquirat, in herba supprimatur atque penitus evertatur". § X X I I I . 72 § X X V . 73 § X X X I I . 74 „Deinde & hoc sciendum est: aliud esse cogere aliquem ad religionem, aliud vero vel ipsam religionem, vel aliquid ad religionem pertinens imperare ac praecipere." § XXXV. 67

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insofern beeinflußbar, als die ihm vorausgehende Erkenntnis immer nur teilweise klar ist und ihm einen gewissen Spielraum lasse 75 . Trotzdem solle niemand mit Gewalt dazu gebracht werden, etwas gegen seine Einsicht zu glauben — den ersten christlichen Kaisern Roms habe es auch genügt, die heidnischen Tempel zu schließen und die Opfer zu untersagen 7e . Natürlich müsse man dem Atheisten auch Argumente gegen seine unmöglichen Ansichten vorlegen, und zwar solche „ex Philosophiae principiis", keineswegs biblische 77 ! Weigert er sich, auch diese anzuerkennen, dann sei der Zeitpunkt gekommen, sich „convenientes poenas" zu überlegen 78 . Grundsätzlich solle man aber dabei vorsichtig sein; spricht ein Atheist seine Meinung nicht öffentlich aus, dann brauche man ja überhaupt nicht gegen ihn vorzugehen 79 . Gewährt ein Land Religionsfreiheit, sei der Atheist davon jedoch nicht betroffen, da er ja jegliche Religion ablehne 80 . Wenn man von der Todesstrafe absehen wolle, die allerdings viele Staaten als adaequat erkennten 81 , so gebe es Beispiele für die mildere Strafe des Exils oder der Deportation; geringer dürfe die Strafe nicht bemessen sein, vor allem, wenn der Staat bereits durch die neue Bewegung erschüttert sein sollte 82 . Niemeier denkt an langjährige Gefängnisstrafen, Arbeitslager oder die Galeere 83 . Generell lasse sich das freilich nicht festlegen, da sowohl die staatlichen Verhältnisse wie audi die Arten der Atheisten stark variierten 84 . Obwohl die Todesstrafe durchaus angebracht sei, besonders, wenn die Atheisten suchten, ihre Mitbürger „ab obsequio Dei & magistratus cives abstrahere", dürfe sie allenfalls als irdische Rechtsentscheidung ausgesprochen werden und nicht so etwas wie die Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts darstellen wollen 85 . 7 5 § X X X I I X . Religion ist also in der Weise zu befehlen, „ u t voluntas p a r t i m intellectum ad rerum honestarum cognitionem & ab inhonestis f a c i e n d a m discriminationem exstimulet, p a r t i m ipsa sponte ea sequatur, quae intellectus vero judicio b o n a & honesta esse c o g n o v i t . " § X L . 78 § X L V . 78 § X L V I I , *> § X L I . " § XLIV. LIII. 81 § L X V f . 82 § e« § L I V . LXVIIf. 8 3 „ . . . impiis ejusmodi hominibus perpetuos licebit a e d i f i c a r e carceres, vel in ergastulis laboribus continuis eos exercere, vel a d triremes d a m n a r e , ut vel hoc p a c t o criminis sui a l i q u a m luant p o e n a m , vel q u o t i d i a n a ejus admonitione impietatem dediscant 84 § atque ad meliorem mentem cum tempore r e d u c a n t u r . " § L X X . LXXI. 85 § L X X I I . Niemeier verweist auf das Ius civ. R o m a n u m , N o v . L X X V I I , cap. I, sowie auf den Reichstagsabschied v o n 1548, T i t e l : V o n den Gotteslästerungen. Z u r damaligen R e c h t s a u f f a s s u n g in dieser F r a g e vgl. J o h a n n Althusius, D i c a e o l o g i c a e libri tres, totum & universum J u s , q u o utimur, methodice c o m p l e c t e n t e s . . ., F r a n k f u r t 1618, Liber I, c. 101: „ D e crimine laesae majestatis divinae, primi generis", a. 30 f., S. 3 8 3 ; J o h . B r u n n e m a n n , D e J u r e Ecclesiastico tractatus p o s t h u m u s . . . , Wittenberg, editio n o v a 1721 (Vorrede datiert 1681), Lib. I, C a p . V I , M e m b r u m I, a. 12, S. 80 f., und Lib. II, C a p . X V I I I , a. 58, S. 562 f . ; ferner Christian Thomasius, F u n d a m e n t a J u r i s N a t u r a e et Gentium ex sensu communi d e d u c t a . . ., H a l l e und L e i p z i g , editio q u a r t a , 1 / 1 8 , Lib. II, C a p . I, S. 202 ff. Diese drei Voten kennzeichnen gut die f o r t schreitende Liberalisierung des Ketzerstrafrechts. Vgl. L . Villinger, D i e Religions-

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Einen ähnlich harten Standpunkt vertritt Joh. Petr. Grünenberg in seiner Dissertation „de Atheorum religione prudentum" (1701) 8 e . Der Magistrat habe jedenfalls gegen mündliche oder schriftliche Verbreitung atheistischer Meinung einzuschreiten 87 ; es sei gefährlich, einen Atheisten im Land zu haben, noch gefährlicher aber, ihn in ein anderes Land auszuweisen, von dem aus er dann u. U . ungehindert Propaganda treiben könne. Ein christlicher Magistrat sündigt nicht, wenn er ihn einkerkert oder, falls er unverbesserlich fortfährt, seine Lehren zu verbreiten, ihn hinrichtet 88 . Joh. Hermann Elswicbm spricht sich noch 1716 in seinem Buch über die „Controversiae de Atheismo recentiores" für die Todesstrafe aus, falls ein Atheist seine Ansichten propagiert oder auch, wenn er „absque ulla emendationis spe, quantum in se est, (seil, atheismum) tueri conatur" 90 . Nicht ganz auf der Höhe der Diskussion seiner Zeit, beruft er sich auf die Reformatoren, die die Todesurteile für Anabaptisten gebilligt hätten — sogar ein Melanchthon, „mitissimi alioquin ingenii Theologus" 91 . Negativ wirkten sich in diesem Zusammenhang die unklaren Vorstellungen der Theologen von der Theokratie aus: Inwieweit durfte ein Landesherr des 17. oder 18. Jahrhunderts alttestamentliche Gesichtspunkte geltend machen? Hatte Gott nicht auch ihm die Bestrafung der Ungläubigen übertragen, die er nicht selbst vornehmen wollte — und verwirklichte dieser nicht gerade durch sie das alte Gerechtigkeitsideal des „suum cuique tribuere" 92 ? Delicte in historisch-dogmatischer Darstellung mit besonderer Berücksichtigung des schweizer. Rechtes, Inaugural-Diss., Zug (Bern) 1894, S. 4—14; G. Webersinn, Die geschichtliche Entwicklung des Gotteslästerungsdelikts, Diss., Ohlau in Schlesien 1928, bes. S. 39—47, sowie M. Honecker, C u r a Religionis Magistratus Christiani. Studien zum Kirchenrecht im Luthertum des 17. Jahrhunderts, insbesondere bei J o h a n n Gerhard, München 1968 (Jus Ecclesiasticum, Bd. 7), S. 121 ff. In das Spannungsverhältnis der auf O f f e n b a r u n g sich berufenden protestantischen Gruppen des 16 und 17. J a h r hunderts w i r d das Toleranzproblem hineingestellt bei Johannes Kühn, Toleranz und Offenbarung, Leipzig 1923 (vgl. bes. S. 59 ff.). 86 Grünenberg (1668—1712) w a r nach seinem Studium in Helmstedt und Kiel und einer Reise nach H o l l a n d und England Rektor in O t t e r n d o r f , dann in H a r b u r g ; er wurde Feldprediger, 1698 Dr. theol. und bald danach Theologieprofessor in Rostock; vgl. Jöcher II, Sp. 1212 f. 87 „ . . . quamvis propter sententiam quamdiu non est cognita, male sentiens puniri non queat, prohibere tarnen magistratus debet, nequis suspectus aut verbo, aut scripto sententiam atheam ullibi p r o p o n a t . . . " ; § 84. 88 Ebd. § 84, mit Verweis auf alttestamentliche Belege; vgl. § 14. 89 Eiswich (gest. 1721), ausgebildet in Rostock, Leipzig, Jena und Wittenberg, versah nach kurzer akademischer Tätigkeit in Wittenberg (1712 A d j u n k t der philosophischen F a k u l t ä t und Lie. theol.) ab 1717 ein P f a r r a m t in Stade. Vgl. A D B 6, Sp. 73. 80 91 S. 67. S. 68. 92 S. 68 ff. Wenn Bayle in seinem Kometenbuch, § C L X X X I I , darauf hinwies, daß es also auch Märtyrer des Atheismus gebe, erwidert ElswiA g e k r ä n k t : Nicht die Todesstrafe als solche, sondern ihre Ursadie entscheide, wann der Fall eines Martyriums gegeben sei; S. 70.

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Nun klingen solche Stimmen martialischer, als sie faktisch sein konnten; um diese Zeit gab es in Mitteleuropa kaum eine Obrigkeit, die einen Atheisten hätte hinrichten lassen können. Der m. W. letzte und immer wieder durch die zeitgenössische Literatur geisternde Fall ist der des Lyzinscki Posedeck, der — allerdings noch 1689 — in Warschau enthauptet wurde. Wenn die Apologeten mit einem gewissen behaglichen Schaudern 93 davon berichteten, so wollten sie doch eher dadurch abschrecken, als im eigenen Lande solch ein Beispiel Schule machen lassen. So ruft „Theophil" in Immanuel Webers „Beurtheilung der Atheisterey" aus: „O daß sich doch solche verruchte Leute durch das irrdische Feuer dahin bewegen liessen", dem höllischen entkommen zu wollen 94 . Johann Müller ist davon überzeugt, daß die fadenscheinige und böswillige Argumentation der Atheisten „billig mit ernsten Straffen solte widerleget werden" 95 , aber in seiner Aufzählung der „Waffen" gegen den Atheismus sieht er als zivile Maßnahme nur die Verweigerung von hohen Amts- und Ehrenstellungen vor 98 . Er protestiert zwar nicht gegen die Verbrennung von Atheisten, rät aber — interessanterweise — nicht zur Wiederholung von Verbrennungen, sondern nur dazu, daß man die Erinnerung an solche grausamen Hinrichtungen wachhalten solle97! Wenn Heinrich Schmettern von einem alten Mönch erzählt, er habe dafür gehalten, daß zwei Gefängnisse ausreichen für alle Übeltäter der Erde, ein „Inquisitions-Haus" für die Leugner der Existenz Gottes und ein „Tollhaus" für diejenigen, die Gottes Existenz zwar anerkennen, aber nicht entsprechend leben, dann spricht sich darin mehr Resignation aus als machthungrige Aggressivität 98 . 3. Stimmen für die Toleranz Die Einstellung zum Atheismus und das Problem der Gewaltanwendung war auch eine Frage der Zeit und der weiteren geistesgeschichtlichen Entwicklung. Zu den unglaublichen Ansichten, die das vorige Jahrhundert aufgebracht habe, schreibt Joh. Christ. Wolf 1717, gehöre auch die, daß „de Atheis mitius judicandum et sentiendum benignius esse"99. Aber, mochte man das begrüßen oder bedauern, diese Auffassung setzte sich durch, auch unter den Theologen. Aufklärerische und pietistische Ideale reichten einander die Hand; man suchte nach Abwehrmaßnahmen, die vernünftig waren und der christlichen Liebe entsprachen. Das Einkerkern 93

84 Vgl. oben S. 55. 1697; S. 66. Atheismus devictus, 1672, S. 100. 96 97 Ebd., Vorrede (nicht pag.; 9. S.). Ebd. (10711. S.). 88 Vorrede von dem Atheismo (1685, nicht pag.; 7. S.). 99 Atheismi falso suspectos, 1717 2 , Exerc. I, § 1; vor allem Bayle habe da ein Übriges getan; „vel ab ingenii acumine, vel ab infinitae fere lectionis apparatu destitutus" sei er oft selbst diesen gefährlichen atheistischen Meinungen verfallen.

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von Atheisten konnte immer noch als staatspolitische Notwendigkeit erscheinen, aber man verstand es doch als Notlösung, die eigentlich durch eine echte Bekehrung des Gegners überflüssig werden sollte 10°. Das Vorgehen gegen Vanini oder Posedeck empfand man als mittelalterlich und katholisch: „das sind papistische proceduren / welche sie ihrer Gewohnheit nach / mit denen irrigen also vornehmen / an statt / daß sie aus Gottes Wort dieselben überweisen und dero Bekehrung suchen solten / welche wir ihnen demnach zu verantworten überlassen" 101 . Der alte Groll gegen den Katholizismus, unter dem ja auch die eigenen Leute zu leiden gehabt hatten und noch litten, konnte sich auf diese Weise Luft machen: Sehr rasch habe die Inquisition Unschuldige unter dem Vorwand des Atheismus verbrannt: „Es konten die ungelährten Esel / die Mönche und Pfaffen durchauß nicht vertragen / wenn sich ein trefflicher Kopff hervor t h a t . . 1 0 2 . D a ß man eine innere Überzeugung hinsichtlich des christlichen Glaubens oder der Schriftautorität niemandem aufzwingen kann, weder einem anderen noch sich selbst, das wird gerade den pietistischen Autoren klar 1 0 3 . Andererseits sind sich manche Apologeten so der Vernünftigkeit ihres Anliegens sicher, daß sie Gewaltanwendung f ü r einfach überflüssig halten. So bemerkt der Herausgeber des „Widerlegten Atheismus" von Derodon10i, Wigand Kahler: „Es braucht also keiner Spanischen Inquisition, dann der modus die Leute zu überführen gilt heutiges Tages nicht mehr auf dem Philosophischen Schau-Platz, sondern die Vernunft" 1 0 5 . Voll „Sanfftmuth" zeigt sich Christian Breithaupt in seinen 1732 erschienenen „Zufällige(n) Gedancken über die Methode, wie ein Atheist von 100 Vgl. die vorsichtige Formulierung, in der A d a m Redienberg seine Überzeugung zum Ausdrude bringt, „caritatis diristianae regulis convenientius fore, conversionem eorum tentare, ac, ne interea venenata atheismi semina ab iis latius spargantur, praestare, eosdem custodiae maneipare eosque informare, & expectare, an forte Deus iis abundantiorem & extraordinariam conversionis gratiam largiri velit"; F u n d a m e n t a verae religionis prudentum, 1708, S. 67. 101 Paul Stockmann, Der verkehrte u n d bekehrte Atheist, 1701, S. 214. Aus a u f klärerischer Perspektive nimmt la Croze den Fall Posedeck (Lyzinscki) zum Anlaß, die Todesstrafe f ü r Atheisten zu geißeln; Entretiens, 1711, S. 427. Ein Eingreifen des Staates zum Schutze der Gesellschaft mag ja geboten sein: „Mais c'est alors aux Magistrats ä agir, & non pas aux Ecclesiastiques, qui deshonorent leurs fonetions, & leur caractere . . S . 428. юг Weber, Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 68 f. юз Vg] Spener, Geminum judicium (1703), Cons, prius, S. 2: „Si quis animo vel suo vel alterius imperare velit, m Christianam fidem p r o optima ac Scripturam pro verbo Dei habeat, nihil proficiet. N o n enim mens nostra p r o lubitu arripere potest, quae vult, sed quorum lumine p e r f u n d i t u r . . . non possumus tarnen cuiquam imperare, ut, quos habet oculos, prius claudat, quam ipsi alii & interiores fuerint aperti. Itaque existimo, hanc rem alia plane via perficiendam esse." 101 105 Lemgo 1733. Anm. S. 249.

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der Existenz Gottes, und der Wahrheit der heiligen Schrifft zu überzeugen . . E s habe keinen Sinn, wenn man die Religion jemandem „ohne wahre / und einem Christen höchstanständige Gemüths Moderation durch Scheit-Worte / Drohungen / Landes-Verweisung oder auch andere dergleichen gewaltsame Mittel auffdringen will" 1 0 6 . In einer Anmerkung wendet sich Breithaupt gegen die „hefftigen Invectiones auff den Cantzeln, und die schändlichen Bey-Nahmen, als Schwärmer, P h a n t a s t e . . . " 1 0 7 . O b etwa ein Hirtenjunge einem verlorenen Schaf einen Prügel nachwerfe, statt es auf den Schultern heimzutragen! Man solle es den ersten Christen gleichtun: Diese hätten „mehr eine Leutseeligkeit als eine Strenge gegen die Heyden blicken lassen" 108 . Die Staatsgewalt schied in zunehmendem Maße als Hilfsmittel im Kampf gegen den Atheismus aus, nicht nur, weil sie sich selbst der Rolle des Religionshüters immer mehr versagte, sondern auch, weil die Apologeten erkannten, daß mit Gewalt dem neuen Geist nicht beizukommen war. Die Auseinandersetzung mußte auf einer anderen Ebene geführt werden — das erforderte der gegnerische und schließlich auch der eigene Standort! b) Die geistige 1. Das Bildungsprogramm

Auseinandersetzung

im Kampf gegen den

Atheismus

D a ß man den Kampf gegen den Atheismus nicht einzelnen und mehr oder weniger zufälligen antiatheistischen Schriften allein überlassen durfte, war den Polemikern von Anfang an klar. Man suchte nach einer breiteren Basis, auf der man dem Widersacher beikommen konnte, seine Einflußmöglichkeit mußte begrenzt oder unschädlich gemacht werden. Bereits Voetius lenkte daher den Blick auf Schule und Universität. Unter seinen „prophylactica & antidota, tum publica, tum privata" nennt er an erster Stelle die Kindererziehung 109 . Akademische Dozenturen, und zwar 106

107 S. 13 f. Nicht „Atheist"! Anm. m), S. 14. S. 16. Breithaupt berichtet, die Lektüre der Selbstbiographie des Franz Junius, vgl. oben S. 47 f., habe ihn vor die Frage gestellt, ob nidit Milde und Nachsicht der beste Weg sei, einen Atheisten zurückzugewinnen: Der Vater des Junius hatte nämlich, obwohl er um die innere Haltung seines Sohnes wußte und sorgte, keinerlei Gewalt anzuwenden versucht; ein Neues Testament, das er zufällig im Raum hatte liegen lassen, sollte dann die entscheidende Wirkung ausüben. Vgl. Benrath, Die Selbstbiographie von Franz Junius, S. 49 f. Breithaupt hat zweifellos die Toleranz des alten Junius mehr imponiert als die unerwartete Wirkung des Wortes Gottes. Zum Problem der Toleranz in diesem Zeitraum allgemein vgl. Josef Feiner, Gewissensfreiheit und Duldung in der Aufklärungszeit, Leipzig 1919, und vor allem Roland H . Bainton, The Travail of Religious Liberty. Nine Biographical Studies. Philadelphia 1951. 109 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 209. 108

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gerade diejenigen außerhalb der theologischen Fakultäten, seien mit frommen Männern zu besetzen, hier sei man bisher zu großzügig gewesen110. Antike Texte, die „Epikureismus" enthalten, sollten aus dem Stoffplan gestrichen oder doch sorgfältig so interpretiert und widerlegt werden, „ut semper cognitio Dei nostri & religio Christiana triumphet" m . Man müsse darauf achten, daß die Jugend nicht ganz allmählich und unbemerkt von dem atheistischen Geist dieser Literatur erfaßt werde: „Talia enim cum dicuntur, docentur" 112 . Man habe auf die bescheideneren Gemüter Rücksicht zu nehmen, die den Einwänden der Atheisten nicht gewachsen seien113. Es folgt ein ganzer Lehrplan, in dem die Schrift an erster Stelle steht, mit besonderer Erklärung der schwierigen Stellen, der sodann die „scientia universalis universalium" mit Metaphysik, Pneumatik, Physik, einschließlich Astronomie, Geographie, Optik, Tonlehre usw. vorsieht114 und mit der „notitia particularium", wie Alte und Neue Geschichte, abschließt115. Außerdem werden Schriftsteller der Alten Kirche empfohlen, die das Christentum gegen die Heiden verteidigt haben, sowie die in diesem Zusammenhang akzeptablen Philosophen der Antike samt ihren Kommentatoren, dazu die zeitgenössischen Autoren, — eine „bibliotheca contra Atheos" 11β . Die lutherischen Polemiker haben hier eifrig sekundiert: Nicht die antiken Autoren, sondern die biblischen Bücher sollen den Unterricht bestimmen, fordert Theophil Großgebauer111. Als Waffe gegen den Atheismus wünscht sich Johann Müller eine bessere Ausbildung in Theologicis, fromme Lehrkräfte und verstärkte Kirchenväterlektüre; außerdem sollten die anstehenden Probleme nicht vor die Einfältigen und vor die Jugend gebracht werden 118 . Auch abgesehen von Ausbildung und Erziehung, meint Müller, nur Berufene sollten sich mit atheistischer Literatur befassen, wie man das Gift aus der Apotheke ja auch nur verständigen Ärzten anvertraue119. Überwachung der Druckereien, Verdammung der " · „Hinc factum, ut Athei, Epicurei, sive Machiavellistici, sive naturalistae, Iuris, Politices, Medicinae, Matheseos, Philosophiae, Literarum cathedras non raro insederint, qui nullam prorsus pietatis aut religionis formam profiterentur." Ebd. 111 S. 209 f. 1 1 2 S. 210. 113 „Idiotae & infirmi cerebri quamvis fidei suae retinendae, Atheisticis tarnen sophismatis refellendis non ita sufficiunt. Requiritur enim hic peculiaris άγχίνοια, & multarum rerum scientia." S. 210. 114 Hier ist wohl ein Einfluß der antiatheistischen Argumentationsweise Mersennes zu beobachten, vgl. unten S. 255 f. 115 Ebd. S. 210. 119 S. 210 f. 117 Praeservatif, 1661, Widmung (nicht pag.). 118 Atheismus devictus, 1672, Vorrede (nicht pag.; 10. S.). Mersenne fordert sogar, daß die Diskussion nur von kompetenter Seite, also am besten nur an theologischen Schulen geführt werde; „ . . . mais il faut que cela se fasse avec prudence, & discretion, & en presence de ceux qui peuvent respondre a toutes sortes de difficultez;" L'impiete, 1624, Preface (nicht pag.; 6.17. S.). 1111 Atheismus devictus, 1672, Vorrede (nicht pag.; 9. S.). 151

entsprechenden Bücher120 und Einschränkung der Meinungsfreiheit liegen in der Konsequenz dieses Ansatzes m . Nicht nur durch Verbote und Einschränkungen wollte man jedoch die atheistische Propaganda eindämmen; man versuchte audi, ihr etwas Positives entgegenzusetzen. Das berühmteste Unternehmen in dieser Richtung stellen wohl die Vorlesungen dar, die der englische Naturwissenschaftler Robert Boyle (1627—91) gestiftet hatte 122 : In jährlich acht Predigten sollten von Januar bis Mai und von September bis November jeweils am ersten Montag des Monats Ungläubige aller Art — Atheisten, Deisten, aber auch Juden und Heiden — widerlegt werden 123 . Unter den im Lauf der Zeit abgehaltenen Vorträgen befanden sich viele, die das AtheismusProblem direkt betrafen; indirekt wurde es auch in den meisten anderen berührt124. 120

Ebd. Vgl. Theophil Raynaud, De bonis ас malis libris, 1653, Erotema IV: „Athei, & nullius religionis libri, num improbandi"; S. 17 ff. Raynaud (1587—1663) war als Professor für Theologie und Philosophie hauptsächlich in Lyon tätig; die Gesamtausgabe seiner Werke (Lyon 1665—69) umfaßt 20 Bände. Auf den Atheismus kommt er nur am Rande zu sprechen. Vgl. B. Schneider, in: LThK 8, Sp. 1025 f. 121 „Cum enim omnibus promiscue vaga praedicandi Libertas publice concedatur, hinc fit, ut multi ex plebe, quibus aliqua verborum & Rerum copia est, in medium procedant, ac (ut loquuntur) dona e x e r c e a n t . . . " ; deswegen habe der Atheismus in England so große Erfolge, ereifert sich Spizel; Scrutinium, 1663, S. 39. 122 Vgl. K.Kinkel, in: RGG 3 I, Sp. 1375; G. Lechler, in: RE 3 3, S. 350; Encyclopaedia Britannica 3, Sp. 992 f.; ferner F. Masson, Robert Boyle, A Biography, 1914; L. Т. More, Life and Works of the Honourable Robert Boyle, 1944. 123 Vgl. Richard Bentley, Die T h o r h e i t . . . des Atheismi (1715), Vorrede; mit Bentleys Predigten war die Vorlesungsreihe eröffnet worden. Trotz mancherlei technischer Schwierigkeiten — für das Haus, aus dessen Vermietung die Besoldung der Prediger finanziert werden sollte, fand sich lange kein Mieter u. a. m. — konnte der Plan über Jahrzehnte hin verwirklicht werden. Vgl. W. Derham, Physicotheologie, Hamburg 1730, Vorrede Derhams; ferner O. Zöckler, Geschichte der Apologie des Christentums, S. 379 ff., der Boyle primär im Rahmen der antideistischen Apologetik versteht, sowie Sally Mosessohn, Robert Boyle als Philosoph und seine Beziehungen zur zeitgenössischen englischen Philosophie. Ein Beitrag zur Gcschichte des Empirismus im 17. Jahrhundert, Würzburg 1902; dieser knappe Abriß vermag deutlich zu machen, wie stark Boyle dem Denken seiner Gegner selbst verhaftet war. 124 Eine Übersicht über die Vorlesungstätigkeit von 1692—1726 findet sich nach der Zuschrift Derhams zur deutschen Ausgabe seiner Physicotheologie, Hamburg 1730, S. LI ff.; zahlreiche dieser Vorlesungen wurden in mehrere europäische Sprachen übersetzt. Hier die in unserem Zusammenhang besonders interessierenden Titel: 1692 Richard Bentley, Die Thorheit und Unvernunfft des A t h e i s m i . . . (deutsch 1715; lateinisch 1696). 1697 Franciscus Gastrell, Von der Gewißheit und Nothwendigkeit einer Religion . . . 1698 Johann Harris, Widerlegung der Einwürffe, welche die Atheisten machen wider Gottes würckliches Wesen und Eigenschaften. (deutsch 1716). 1704, 1705 Samuel Clarke, Demonstration, daß ein Gott sey . . . (deutsch: Altdorf 1713; franz.: Amsterdam 1717; holländisch: Leiden 1718). 152

Auch auf dem Kontinent wurden solche Unternehmen gestartet. Im Jahr 1689 gab August Pfeiffer in Leipzig eine Einladung „Ad lectiones privatas anti-atheisticas" an seine Studenten heraus, in der er die Dringlichkeit seines Vorhabens aufzuweisen sucht. Nun seien die Prophezeiungen des Neuen Testaments in Erfüllung gegangen; die Zeit, da der Menschensohn keinen Glauben mehr findet, wenn er wiederkommt (Lk. 18, 8), sei da — man brauche nur an Mersennes furchtbare Nachrichten zu denken. Die jungen Theologen müßten mit diesen Problemen vertraut gemacht werden, um später ihre Gemeinden schützen zu können. Pfeiffer zeigt die verschiedenen Spielarten des Atheismus auf und nennt einiges aus der einschlägigen Literatur. Schließlich skizziert er kurz die Art und Weise, wie man Atheisten gegenüber argumentieren müsse. Angefügt wird ein detailliertes Programm der Vorlesung. Pfeiffers Einladung stellt ein schönes Beispiel dafür dar, wie ein von der Zeit gestelltes Problem in den theologischen Lehrbetrieb aufgenommen wurde 125 . In Speners „Letzten Theologischen Bedencken" wird ein Schreiben abgedruckt „An einen Professor Theologiae von der nothwendigkeit eines collegii antiatheistici" 12e . Der Adressat war offenbar drauf und dran, sich infolge irgendwelcher Schwierigkeiten von seinem Vorhaben, ein antiatheistisches Kolleg zu halten, wieder abbringen zu lassen. Aber Spener bestärkt ihn: Dies sei eine „nothwendige materie", wenn sie auch mit der nötigen Umsicht und christlichen Liebe angepackt sein wolle. Sicherlich sind manche der entsprechenden Vorlesungen den Studenten mit dem Hinweis auf die Zeitumstände angekündigt worden121. Man wollte die jungen Theologen ausrüsten mit Argumenten gegen die Zweifel anderer und ihre eigenen128; mit der Zeit setzte sich die Auffassung durch, daß auch die Laien für das Gespräch mit den „Atheisten" gewappnet sein müssen. Einen interessanten Vorschlag macht in diesem Zusammenhang Joh. Lassenius: Im Anhang seiner Schrift „Besiegte Atheisterey" stellt er eine Art Katechismus von Fragen zusammen, wie sie der 1706 Johann Hancocke, Proben, daß ein Gott sey, und Beantwortung der Einwürfe . . . 1 7 1 1 , 1 7 1 2 William Derham, Physicotheologie... ( 1 7 2 7 : 7. Auflage!; franz.: Rotterdam 1726; holländisch: Leiden 1 7 2 7 ; deutsch: Hamburg 1730; eine italienische Ausgabe erschien in Florenz). 125

Sie umfaßt 30 Seiten (ohne das Programm) und ist nicht paginiert.

Teil I, Cap. II, Art. I, Sectio IV, Bd. I, S. 333 ff. 1 2 7 Ein spätes Beispiel im Blick auf den Indifferentismus findet sich bei Joh. Fecht, Historia et examen novae theologiae indifferentisticae, Rostock/Leipzig 1721: „ . . . Omnium nunc ora Indifferentismum crepant, quorsumcunque delaberis, de hoc argumento, tanquam seculo nostro proprio, audiuntur discursus, quid aequius, quid utilius est, quam animum adversus novum veritatis monstrum solide instruere . . ; aus der Ankündigung Fedits über den Wiederbeginn seiner Vorlesungen gegen den Indifferentismus vom 26. 3 . 1 7 0 2 , abgedruckt in der Praefatio Editoris, S. VII. 128

Vgl. Spener, а. а. O. S. 336.

153

a u f g e k l ä r t e Z e i t g e n o s s e d e m noch g l ä u b i g e n v o r l e g t e 1 2 9 . E i n e n K a t a l o g ähnlicher F r a g e n bietet, systematisch g e o r d n e t , Pfeiffers Vorlesungsprog r a m m 130 . 2. Der

literarische

Kampf

A m i n t e n s i v s t e n w u r d e d i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g natürlich literarisch g e f ü h r t , o b w o h l m a n c h e P o l e m i k e r g e r a d e hierbei S k r u p e l h a t t e n . S o l l t e m a n d i e A t h e i s t e n ü b e r h a u p t einer W i d e r l e g u n g w ü r d i g e n , s o l l t e m a n ihre N a m e n nicht lieber t o t s c h w e i g e n 1 3 1 ? W i e m a n d i e persönliche A u s e i n a n d e r s e t z u n g scheute, so h i e l t m a n t e i l w e i s e auch d i e literarische B e s c h ä f t i g u n g m i t d e m A t h e i s m u s f ü r g e f ä h r l i c h o d e r e i n f a c h u n n ö t i g . A l l e i n der D i s p u t a t i o n v o n G l a u b e n s d i n g e n h a f t e t schon ein „ v i t i u m " an, dadurch, d a ß m a n m i t V e r s t a n d e s a r g u m e n t e n d e n G e g n e r z u b e z w i n g e n versuchen m u ß : „ N o s v i t i o a l i e n o in v i t i u m quasi c o a r c t a m u r . " 1 3 2 D a s Beste w ä r e 129

Z.B.: Ob Adam der erste Mensch gewesen sei (1); woher Kain seine Frau hatte (8); warum Gott den Fall nicht verhindert habe (9); ob die Schlange vor dem Fall aufrecht gegangen sei (11); wie die wilden Tiere nach der Sintflut nach Amerika gekommen seien (19); ob jemals Riesen in der Welt gewesen seien (53); dazu Fragen über Teufel und Gespenster (40 f., 43 f.). Lassenius nahm die Gelegenheit wahr, allerlei Probleme aufzugreifen, die in der Luft lagen, auch sofern sie mit „Atheisterey" nichts zu tun hatten. 130 „Anti-Atheismi Delineatio", 2. Teil der Einladung „Ad lectiones privatas AntiAtheisticas" (nicht pag.). An diesem Programm ist zu erkennen, wie die gesamte christliche Dogmatik f ü r den Atheisten in Frage stand und wie man sie ihm gegenüber apologetisch neu zu formulieren versuchte. Nach einer grundsätzlichen Besinnung „De Atheismo in genere" handelt Pfeiffer „De existentia Dei" (Tit. II), „De religione" (Tit. III), „De revelatione divina et scriptura sacra" (Tit. IV), „De Deo triuno" (Tit. V), „De creatione et gubernatione universi" (Tit. VI), „De Angelis" (Tit. VII), weiter über den Menschen, über Christus, „De lege et evangelio" (Tit. X ; hier wird u. a. das Naturrecht, die Offenbarungsfunktion Moses und das Problem der Analogie heidnischer und alttestamentlicher Kultgesetze angeschnitten), über Sakramente, den Glauben und die guten Werke, die Kirche und ihr Amt, über die weltliche Obrigkeit und die Ehe (hier geht es um gewisse von den Atheisten vertretene libertinistische Tendenzen), über des Menschen Tod und seinen Stand danach (Tit. XVI), schließlich „De Novissimis reliquis". Alle Titel sind in einzelne Quaestiones aufgelöst; in der Antwort wird nur eben angedeutet, gegen wen sich die betreffende Quaestio richtet. Selten wurden die anstehenden Probleme in einer derart umfassenden Form vorgelegt. Zur Biographie Pfeiffers (1640—1698): Studium in Hamburg und Wittenberg, dort 1668 Professor für orientalische Sprachen. Nach Predigerdienst im Schlesischen und in Meißen wird er 1677 Dr. theol. in Wittenberg. Ab 1681 lehrt er in Leipzig; ab 1689 wirkt er als Superintendent in Lübeck. Vgl. Jöcher III, Sp. 1490 ff. 131 Diesen Gedanken äußert Spizel bei der Aufzählung niederländischer „Atheisten": „ . . . Plurima ejusmodi monstra Belgica recenseri possent, ni tenebris potius aeternis nomina ilia essent sepelienda, quae publica judicum sententia, aut scriptis propriis Orbi neutiquam innotuerunt." Scrutinium Atheismi, 1663, S. 43. 132 Gebh. Theodor Meier, Historia religionum, 1697, S. 26. 154

es, die Gesellschaft und das Gespräch mit Atheisten zu meiden 133 oder den Theologen und Politikern zu überlassen134. Die Auseinandersetzung sei in jeder Hinsicht sorgfältig und gründlich und daher am günstigsten nur von Fachleuten zu führen 135 . Hat man einen Atheisten erst einmal als solchen erkannt, dann soll man ihn fliehen, bevor es zu spät ist 136 . Wer besorgen muß, dem Gegner mit Vernunftgründen nicht gewachsen zu sein, „der mag lieber gerade zu sich mit dem Schilde des Glaubens vertheidigen / vor solchem losen Geschwätze die Ohren verstopften / und alle Spötter und Atheisten vor die rechten Thoren und Ertz-Narren halten / wie sie dann die Heilige Schriftt also n e n n e t . . . " — auch die ersten Christen seien für halsstarrig und unvernünftig gehalten worden 137 ! Tobias Wagner befürchtet, die atheistischen Argumente könnten selbst nach ihrer Widerlegung noch gefährlich werden 138 ! Nun war die Ansteckungsgefahr in der literarischen Auseinandersetzung nicht ernsthaft zu fürchten; aber die antiatheistischen Autoren glaubten sich rechtfertigen zu müssen gegenüber manchen Leuten aus dem eigenen Lager, die davon ausgingen, daß in diesen höchsten göttlichen Dingen ein Beweis ohnehin nicht am Platze sei 139 . Zudem war es umstritten, ob der Theologe das, was als „naturaliter notum" gelten durfte und daher in den unteren Disziplinen verhandelt wurde, auf Grund eigener Prinzipien beweisen oder nur voraussetzen solle 140 ; oder man war grundsätzlich der 183

„Satius proinde & tutius colloquium & convictum athei omni modo aversari & fugere, quam se cum eo committere. Unde maior mali est metus, quam spes b o n i . . . Ut morborum, ita & scelerum sunt contagia." Ebd. 134 „Multa theologum & politicum nosse oportet, directionis causa, quae vulgus ignorare oportet, ut eo facilius dirigi possit." Ebd. S. 27. 135 Den praktischen Atheisten müsse man natürlich mit allen Mitteln angreifen, meint Tobias Wagner, „Atqui Speculativum quod concernit, q u i . . . quasi άυτόχειρ animam suam, abnegando Deum, jugulat, & affectati acuminis insolentia argumenta άλυτα in animis curiosorum relinquere gestit, hunc cautius & pio zelo tam secundum scientiam, quam conscientiam non, nisi in Scholis Academicis aggrediendum, anatomice tractandum, atque argumentis, quae vere sunt άλυτα, refutandum, & in angustias agendum esse c e n s e m u s . . E x a m e n , 1677, S. 7. 138

„ . . . fugiat quisque vestigia seductoris, sed in tempore. Sero etiam hic paratur remedium." Joh. Friedem. Schneider, Icon Atheorum, 1698, S. 4. 137 Seckendorf, Christen-Staat, 1685, I. Buch, S. 72 f. Vgl. Adam Rechenberg, Fundamenta, 1708, S. 69: „Hominis igitur prudentis animaeque suae salutem amantis est, cavere sibi omni modo ab hac peste, ne afflatu eius inficiatur." Rechenberg warnt ebd. auch vor der Gefahr der literarischen Ansteckung. 138 „Quia argumenta impietatis Atheisticae tutius nesciantur, quam ut, fortissime licet refutata, curiosis ingeniis innotescant"; Examen, 1677, S. 6. и» Vgl. Bircherodius, Exercitationes contra Atheos (1660), S. 17. no Vgl. die Auseinandersetzung um Punctum III des Consensus repetitus, ζ. B. Justus Christoph Schomerus, Collegium novissimarum controversiarum, Rostock 1703, S. 52. — Aus ganz anderer Warte hält auch der Holländer Gerard de Vries eine ähnliche Entschuldigung hinsichtlich seiner „Exercitationes rationales de Deo, divinisque 155

Meinung, daß man um die Atheisten „nicht viel Wesens und disputirens machen solle" 141 . Undereyck weiß von den Frommen zu berichten, die angeblich selbst nie Zweifel hinsichtlich der Existenz Gottes oder der Gültigkeit der Schrift haben und die sich so etwas überhaupt nicht vorstellen können, „ja die audi darumb verdrießlich seynd / daß wider die Atheisterey geprediget oder Bücher dargegen geschrieben werden / weil sie es vor ein unnöthig Werck halten" ш . Solch eine Haltung mußte nicht auf Selbstsicherheit begründet sein, sie konnte sich auch auf die Bibel berufen: Waren doch die Atheisten schlimmer als die Dämonen, die nach Jak. 2, 19 an Gottes Existenz nicht zweifelten 143 ! Man braucht also bei dem Kampf gegen den Atheismus in seinem Eifer nicht zu weit zu gehen: „Veruntamen ne dum invigilamus huic studio, ipsa sedulitate Deum offendamus cavendum est." 144 Das Für und Wider in der Frage einer persönlichen oder literarischen Auseinandersetzung, wie es der Durchschnittstheologe um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert empfunden haben wird, schildert August Pfeiffer in seiner Evangelischen Christen-Schule: Es sei zwar eine Schande, unter Christen „die Frage auffzuwerffen / oder allererst zu beweisen / daß ein Gott sey", man habe es durchaus nicht nötig, sich mit den Leuten, die das bezweifelten, „in einen disputat einzulassen" und es wäre im Grunde „zu wünschen / daß man mit solchen Leuten nicht umgienge / und also von diesem Peche unbesudelt bliebe; Allein 1 weil der Satan mit dieser Brut ley der! fast alle Lande besaamet / so müste man / wenn man ihrer gäntzlich müßig gehen wolte / die Welt räumen / wie Paulus redet I. Cor. V, 10". Leider sei es daher eben doch nötig, daß man sich für die Auseinandersetzung mit ihnen „gebührend gefast mache" und zu diesem Zweck die Frage erörtere: „Wie man sich gegen Atheistische Spötter / welche nidht erkennen wollen / daß ein Gott sey / gebührend verwahren solle?" 145 Für viele Theologen war es aber audi eine Selbstverständlichkeit, daß man sich den neuen Problemen stellte. Andreas Hagemannn schreibt, audi perfectionibus" für angebracht: „Nec enim fas esse arbitror, in Problema dialecticum convertere veritatis per se notae Axioma; quod uti omni luce existit clarius, omni explicatione notius, ita creaturae cuivis rationali non tarn anxie est probandum, quam nude potius supponendum." А. а. O. (ich zitiere nach der Ausgabe Utrecht 1695), S. 9 f. E r rechtfertigt sein Vorhaben durch den Hinweis auf die Atheisten und die Sozinianer, die beide die natürliche Gotteserkenntnis bestreiten. 1 4 1 Breithaupt, Zufällige Gedancken, 1732, S. 7. Breithaupt selbst meint hinsichtlich der „muthwilligen" und überzeugten Atheisten, „daß man sich mit solchen Bösewichtern in keinen Streit einlassen / sondern sie dem göttlichen Gerichte überlassen solle." S. 8. E r mache seine Vorschläge nur im Blick auf die „angehenden" Atheisten. 1 4 2 Der närrische Atheist, 1722 2 , S. 55 f. 1 4 8 Dieser Hinweis taucht erstmals bei Petrus Molinaeus, De cognitione Dei, 1625, S. 32, auf und wurde, da ihn auch Voetius aufgenommen hatte, später oft zitiert. 1 4 4 Molinaeus, а. а. O. S. 141. 1 4 S S. 30 f.

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in Deutschland habe man nun „wider Atheisten zu disputieren und zu schreiben vor nöhtig befunden / wovon man vorher die Jugend zu unterrichten nicht bedurfft" 14e . Uber Landes- und Konfessionsgrenzen hinweg ist man sich darin einig. Im Kampf gegen den Atheismus wird es einzelnen Theologen bewußt, daß gegenüber den Anwälten des neuen Geistes die christliche Theologie mindestens der drei großen Konfessionen eine gemeinsame Streitmacht darstellte 147 . Filippo Maria Bonini versichert in der Widmung seines „Ateista convinto" dem Herzog Johann Friedrich von Braunschweig, „die la mia penna ad altro non aspira, che a fulminare il miscredente" 148 . Hier habe die Theologie doch wirklich noch etwas zu leisten und auszurichten, schreibt Theophil Spizel; es gebe kein Gebiet, in dem sie „vere ac sincere θεοφιλής se & seculo hocce dignius operetur, quam quod Atheis in viam revocandis impenditur" 149 . Der Streit über andere Kontroversen tritt in den Hintergrund; traditionelle Streitpunkte auch mit der katholischen Kirche können in diesem Zusammenhang abgeblendet werden 150 . Die „impietas, quae Deum tollit" muß ans Licht gebracht werden, schreibt der Jesuit Jean Hardouin: „Ecquod enimervero dignius esse argumentum potest, in quo vir Christianus & Catholicus Theologus stilum exerceat?" 1 5 1 Angesichts der Verwirrungen des Jahrhunderts könne man doch nicht einfach still sitzen, sagt Joh. Conrad Schwartz in der Vorrede seiner „Demonstrations Dei": „nefas esse putavi otiosum sedere, nec de remediis malorum cogitare . . . " 1 5 2 . Man dürfe doch nicht einfach kapitulieren, Kurtze Anweisung, 1685, S. 4. Adelung I I , Sp. 1723, vermerkt über Hagemann ohne Angabe näherer Daten, daß er in Helmstedt Magister geworden sei, als Prediger in Osterode gewirkt und eine Schrift über die Sünde wider den Heiligen Geist geschrieben habe. 1 4 7 Tobias Wagner schreibt: „Hinc illa nubes Clarissimorum Virorum ex omnigena Professionis Classe, tam Pontificiae et Reformatae, quam Evangelicae Ecclesiae, qui his nocentissimis pestibus Reipublicae Christianae suos libros & calamorum monumenta, quasi stimulos & clavos in altum defixos tempestativo zelo o p p o s u e r u n t . . ; Examen, 1677, S. 11; vgl. das Votum Speners oben S. 43. 1 4 8 1 6 6 5 ; nicht pag. 1 4 9 D e Atheismo eradicando, 1669, S. 25. 1 5 0 „ . . . Quod hac rerum tempestate & seculi impietate magis necessarium duxi, quam de aliis controversiis, quae nunc cum verae orthodoxiae & pietatis dispendio saepe agitantur, scribere . . . " ; aus der Widmung Adam Redienbergs an Adam Ernst Senft; Fundamenta, 1708 (nidit pag.; 5./6. S.). Gottlieb Wernsdorf, Brevis et nervosa de Indifferentismo commentatio, 1716, S. 141, lobt einen katholischen Autor, „si thesin ab hypothesi Religionis Papaeae abstraxeris". 1 5 1 Athei detecti (1733), Vorrede. Hardouin hatte allerdings eine völlig einseitige Vorstellung von „Atheismus". 1 5 2 1 70 8 (nicht pag.). Schwartz ( 1 6 7 7 — 1 7 4 7 ) übte nach seinem Studium in Jena, Halle und Leipzig verschiedene Funktionen am Gymnasium Casimirianum in seiner Heimatstadt Coburg aus. Stark philologisch interessiert, wurde er in Altdorf zum D r . theol. promoviert, 1732 in Coburg Professor der „Gottesgelahrtheit, Vernunft-Lehre und morgenländischen Sprachen"; vgl. Jöcher I V , Sp. 403 ff.; A D B 33, S. 239. 149

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die Ehre Gottes stehe auf dem Spiel, schreibt der Lutheraner Eiswich153. Falsche Bescheidenheit und Zurückhaltung seien hier völlig fehl am Platz, findet der Reformierte de la Serre154. Mit allen Mitteln arbeite der Teufel darauf hin, die Sekte der Atheisten zu stärken: Deswegen sei es wohl der Mühe wert, gegen sie zu schreiben, meint der Jesuit Lessius ganz zu Beginn der Auseinandersetzung155. Im Bewußtsein, zur Vermehrung der Ehre Gottes unter den Menschen berufen zu sein, macht sich Christoph Franck an die Abfassung seiner Schrift gegen den Atheismus156. Noch in seinem 80. Lebensjahr wendet sich der Tübinger Universitätskanzler Tobias Wagner der neuen Aufgabenstellung zu; als „Professor Controversiarum" fühle er sich dazu verpflichtet, den Atheisten die Larve herunterzureißen157! Von vielen dieser Polemiker kann man sagen: „justo zelo animati calamum strinxerunt" 158 , ob sie sich mit dem Atheismus insgesamt oder mit einzelnen Atheisten einließen159. Neben diesem gelegentlich freilich auch ein wenig professionellen Eifer stand bei vielen Autoren die Sorge um die Gemeinde. Daß man Atheisten bekehren könne — dieser Hoffnung gab man sich ohnedies nur selten hin. Die Konversion eines Atheisten sei noch unvergleichlich viel schwieriger zu bewerkstelligen als irgendeine andere, bemerkt Spizel: „non enim hic ex principiis, sed . . . de iisdem . . . disputatur" 16°. Sollte man auch bei den Atheisten nicht mehr ausrichten können, als sie „schamroth zu machen", so mußte man doch versuchen, die Schwachen im Glauben zu stärken und den Predigern apologetisches Rüstzeug zu verschaffen161. Paul Stockmann schreibt in erster Linie für die ihm anvertrauten Seelen; er ist Pfarrer in Beyer-Naumburg162. Bescheiden merkt er an: Im Kriege kämpften audi nicht nur Generale und Obristen, sondern ebenso UnterControversiae de Atheismo recentiores, 1716, S. 56 f. Atheisten Grab (1674), S. 28. 1 5 5 De Providentia Numinis, 1617 2 , Widmung (nicht pag.; 4. S.). 1 5 6 „ . . . Cujus indignitate rei permotus, a nefandis istis calumniis divini Numinis honorem, ad quem promovendum hominem me natum esse intelligo, scripto hoc contra Atheos asserere in animum induxi." Atheus convictus, 1672, S. 6. 1 5 7 Examen, 1677, S. 4, 72. 158 Vorrede von Adam Rechenberg zu Samuel Biermanns Impietas Atheistica, 1717 (S. 26). 159 Michael Berns führt in der Vorrede seiner Schrift gegen Herbert, Hobbes und Spinoza aus, diese hätten sich wie Absalom eine Säule aufgerichtet, um sich einen Namen zu machen; da habe er mit seinem Buch „einen Steinwurff thun wollen; zur Bezeugung / daß auch ich ihre Thaten und Schrifften verfluche / als die Rebellisch wider G o t t " . Altar der Atheisten, 1692 (Vorrede, nicht pag.; 13. S.). 1 6 0 De Atheismo eradicando, 1669, S. 25 (gesperrt von Spizel). 153 154

Großgebauer, Praeservatif, 1661, Vorrede, S. 11 f. Vgl. Johann Müller, Atheismus devictus, 1672, Vorrede (nicht pag.; 8. S.). 162 £> e r verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, Vorrede (nicht pag.; 10./11. S.). 161

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Offiziere und Gemeine; ebenso verhalte es sich in den Kriegen des Herrn; daher wage er es, sich zu beteiligen 163 . Das Kampfziel, das man verfolgt, ist einmal der Aufweis der Unhaltbarkeit der gegnerischen Position 164 , zum anderen die Festigung der eigenen Stellung 165 . Ein großes Schreiben und Abschreiben beginnt. Schriftlich machen müsse man es ja, meint Michael Berns, da die Atheisten nur selten zur Kirche kommen, sich Predigten höchstens zur Belustigung anhören „und Gottes und ihrer eigenen Wolfarth spotten" 166 . Viele Autoren berichten in ihren Vorworten, wie es zur Entstehung ihrer Schriften gekommen sei. Großgebauer berichtet, er habe „etliche Früestunden daran gewand" 1 6 7 , und Seckendorf erzählt, wie er ursprünglich seinem Fürsten immer aus Pascal vorgelesen habe, wie er später eine Zusammenfassung der Pascal'schen Überlegungen einem Skribenten diktiert, aber das Manuskript dann doch wieder zerrissen habe, bis ein Freund mit seinem guten Rat dazwischen gekommen sei — so sei nach und nach der erste Teil des „Christen-Staats" entstanden 168 . Gelegentlich entschuldigt sich ein Autor auch dafür, daß sein Werkchen so und nicht anders ausgefallen sei. Ursprünglich habe er nur einen ersten Teil geplant, teilt Undereyck in seinem Vorbericht „an den Christvernünfftigen Leser" mit, durch den Ausbau hätten sich nun infolge seines schlechten Gedächtnisses 163

Ebd. (16./17. S.). Manchmal mag sich hinter derartigen Bemerkungen audi selbstgefällige Tiefstapelei verbergen; dennoch geben sie das Bild der Wirklichkeit treffend wieder. Ein wenig schulmäßig stellt Johannes Fecht die Gründe zusammen, die ihn veranlaßt haben, gegen den Indifferentismus zu schreiben. D a sie auch f ü r die antiatheistische Literatur exemplarische Bedeutung haben, seien sie hier kurz a u f g e f ü h r t : (1) Der Wille Gottes, sein W o r t rein zu erhalten; (2) die Verpflichtung gegenüber den lutherischen Bekenntnisschriften; (3) der Respekt gegenüber dem Kaiser, der in Deutschland nur drei „Religionen" erlaube; (4) die durch den Landesfürsten übertragene Professur; (5) die Sorge um die Studenten; (6) „Honestus & Christianus ardor, informandi eos, qui aliquando ad officia ecclesiastica a d s p i r a n t " ; (7) das Bedürfnis, den Gebildeten in der Kirche, besonders den P f a r r e r n , zu dienen; (8) Ermahnungen von Politikern und auswärtigen Professoren; (9) „Amor in amicos"; (10) „commune Christianorum debitum", die Irrenden auf den rechten Weg zu bringen. Historia et examen novae theologiae indifferentisticae, 1721, Prooemium, § 4. 164 Joh. Friedem. Schneider rät, darauf hinzuarbeiten, „ut ope luminis naturalis (1) tollantur praejudicia illorum, (2) refellantur objectiones, (3) luculenter etiam demonstretur falsitas & pernicies erroris." Icon Atheorum, 1698, S. 23. 165 Spizel sieht einige H o f f n u n g auf Erfolg „expositis passim profanis quorundam sententiis atque dogmatibus, atheismo hodie t a n t u m non ubique portas atque fenestras omnes aperientibus, ostensisque repagulis atque pessulis obicem mascule ponentibus"; Scrutinium Atheismi, 1663, Vorrede. Vgl. aus der Widmung von Buddes Theses (1717; nicht pag.; 9. S.): „Atheismi nimirum seu impietatis, dum solide, ut puto, destruxi f u n d a m e n t a , christianae simul religionis . . . adstruxi veritatem." 166 Altar der Atheisten, 1692, Vorrede (nicht pag.; 20. S.). Er teilt hier seine weiteren literarischen Pläne f ü r die Auseinandersetzung mit dem Atheismus mit. 167 Praeservatif, 1661, Vorrede (nicht pag.). 168 Christen-Staat, 1685, Vorrede (nicht pag.; 475. S.).

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manche Wiederholungen eingestellt169. Ein bißchen wichtig macht sich Spizel mit dem freundschaftlichen Verhältnis zu seinem ehemaligen Leidener Studienkollegen Heinrich Meibom 170 , der sich lobend über sein „Scrutinium Atheismi" geäußert habe; genüßlich zitiert er die wohlwollende Kritik des Freundes 171 und bedauert nur, daß nicht alle Leser seine Schrift so günstig aufgenommen hätten. Das war einesteils Stil der Zeit, Benimm des Gebildeten, andererseits kam es auch der Sache zugute, wenn die Autoren einander gegenseitig deckten und empfahlen. Immer wieder werden auch die antiatheistischen Schriften von ganzen Kränzen wohlmeinender Empfehlungsgedichte eingerahmt 172 . Man bestätigt dem Verfasser die Rechtgläubigkeit173 oder ermuntert ihn, seine Sache gut zu machen 174 . Bekämpfer des Atheismus auch verschiedenen Stils mögen sich durch ihren Eifer gegenseitig angefeuert haben 175 . Sicher wiesen auch die Prediger gelegentlich auf antiatheistisches Schrifttum hin 176 . Der närrische Atheist, 1722 2 (Vorrede, nicht pag.; 2./3. S.). „Quamvis iucundissimam ex ea, quae Tecum mihi quondam Lugduni Batav. (cum sub eodem contubernio viveremus) constituta est consuetudine, acceperim voluptatem; haud leviorem tarnen felicitatem non adeo pridem Tuae illae gratissimae attulerunt literae, quae coeptam olim amicitiae nostrae telam instaurarunt, Sc in eam studiorum partem me rapuerunt, unde consulto jam diu pedem r e t u l e r a m . . D e Atheismi radice, 1666, S . 3 f . Vgl. dazu D. Blaufuß, Gottlieb Spizel, S.286. l n „Tuus de Atheismo Liber placuit omnibus, ne de me quid dicam, qui non parum ejus pretium & in Academia & in Aula excandefeci. Legerunt eum plurimi . . ; ebd. S. 5. 172 Am Eingang von Johann Müllers Atheismus devictus, 1672, finden sich derartige Poeme von Martin Geier, Abraham Calov (vgl. oben S. 37), Daniel Ludemann, Caspar Müller, Hieronymus Müller und Michael von Oppenbusch (vgl. oben S. 41). Vgl. die „Gemüths-Eröffnung" von Daniel Harder über Theophil Großgebauer am Ende von dessen Praeservatif, 1661 (siehe oben S. 59, Anm. 126). 173 Ein Empfehlungsgedicht über Immanuel Weber von Petrus Müller schließt: 133 170

„ . . . Die Schrifft bezeugt der Welt / Er sey ein guter Christ. Hier lieset seinen Greul ein frecher Atheist." Beurtheilung der Atheisterey, 1697, Anfang. 174 Mersenne, L'Impiete, 1624, nach der Widmung (nicht pag.): „Brave Mersenne entrez en lice, Combatez la noire malice De ces Libertins obstinez; Emportez dessus eux une belle victoire, Qu'elle oste de l'Enfer, & l'espoir, & la gloire De les tenir un iour au nombre des d a m n e z . . . " . 175 Vgl. Mersennes Widmung seiner Sdirift L'Impiete des Deistes, 1624, ferner die Epistola dedicatoria des Joh. Clausen an Christian Albert von Schleswig-Holstein, in: Christoph Franck, Atheus convictus, 1672; dazu oben S. 140. Vgl. Christian Scriver, Seelen-Schatz (1701), Teil I, 2. Predigt, § 20, S. 17 — gemeint ist Johann Müllers Atheismus devictus, 1672 — : „Es hat sich neulich ein berühmter Lehrer unser(er) Kirchen mit ihnen eingelassen / und ihnen das Maul aus Gottes Wort und mit andern überflüssigen Beweißthum gestopffet." 179

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D a ß bei einem so riesigen literarischen A u f w a n d nicht alles Gold sein konnte, was da produziert wurde, versteht sich von selbst 1 7 7 . Den heutigen Leser stört besonders, was audi den damaligen Zeitgenossen bereits aufgefallen war und wessen sich die Apologeten ζ. T. auch bewußt waren: D a ß man unwahrscheinlich vieles von anderen Autoren entlehnte. Besonders intensiv hat das Spizel getrieben, der ζ. B. seine Voet'sche Vorlage manchmal wortwörtlich abschreibt 178 . Johann Friedemann Schneider bemerkt unschuldig in der Vorrede seiner „Icon Atheorum": „Mella stipant apes, e vario florum genere" — wer werde es ihm also übelnehmen, wenn er das in übertragenem Sinn ebenso gemacht habe 1 7 9 ? Manche Autoren sind unglücklich über die Leichtfertigkeit, mit der einige ihrer Kollegen gerade an dieses schwierige Thema herangingen 1 8 0 . Es fehlte nicht an mancherlei Ungeschicklichkeit und auch Hochnäsigkeit auf Seiten der Atheistenbestreiter. Stolz berichtet Joachim Lange181 in der Vorrede seiner „Caussa Dei et religionis naturalis adversus Atheismum", wie er mit einem Mann umgegangen sei, der unter dem schönen N a m e n Alethophilus krasse atheistische Ideen vertreten und ihm, Lange, entsprechende Manuskripte zugesandt habe. Lange habe ihm geraten, er solle seine Einwürfe an den Büchern „pro veritate religionis revelatae" überprüfen und angeben, welches davon er für das beste halte, und dieses zu widerlegen suchen; darüber wolle er, Lange, dann zu gegebener Zeit mit ihm diskutieren. Er solle ferner Lange einen kurzen Abriß seiner Logik, seiner Ethik und seiner natürlichen Theologie zugehen lassen, Lange werde das überprüfen. Im übrigen solle er nicht in der Zwischenzeit unschuldige Gemüter mit seinen Ideen verderben. „ A d haec postulata mea V g l . oben S . 27 ff. Vornehm drückt er das in D e Atheismi radice, 1666, so a u s : „ . . . & cum H i s t o ricum praecipue Atheismi scrutinium meditatus fuerim, aliorum & p r o b a t o r u m quidem authorum vestigiis potius insistere, q u a m temere q u i c q u a m in tanti momenti negotio asserere v o l u i . " S. 8. 177

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1 7 9 Schneider w u r d e 1703 D r . jur. und lehrte ab 1705 Philosophie und L o g i k in H a l l e . Vgl. Jöcher IV, S p . 314. 180 „ U t i n a m m o d o omnes, qui in istas se immittunt controversias, debitam semper industriam, animum veritatis amantem, et, q u o d magis est, ingenii, iudiciique acumen a f f e r r e n t . N o n n u l l i namque, q u o d αυτοψία docet, non pollent ingenio, aut iudicio, sine q u o nemo istas feliciter controversias persequetur, alii ingenio quidem valent, sed non eam curam, aut Studium, q u o d decebat, adhibent, alii tandem cum ingenio iungunt Studium, sed, suis nimium confisi viribus, ac simplici, q u a m vetustiores a m a b a n t , demonstrandi ratione offensi, novis et sententiis, et demonstrationibus indulgent, quae ingenii n o n n u n q u a m satis, soliditatis p a r u m , habent." J o h . Herrn. Eiswich, C o n t r o versiae de Atheismo recentiores, 1716, S. 57 f.

Joachim L a n g e ( 1 6 7 0 — 1 7 4 4 ) , mit Spener befreundet, ein Polemiker des Pietismus, w a r a b 1709 Professor der Theologie in H a l l e . Vgl. E . Beyreuther in: R G G 3 I V , Sp. 226, sowie die dort angegebene Literatur. 181

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siluit praetumidus ille Alethophilus." 182 Auf der Ebene der Gemeinden wiederholte sich dieser Stil des Vorgehens sicher öfter, als das literarisch faßbar ist. In Johann Melchiors „Christlichem Glaubensgrund" 183 klagt „Romanus" darüber, daß seine Seelsorger ihm gesagt hätten, es sei gefährlicher, an einem Baum zu rütteln, als es einfach zu glauben, daß dieser tiefe, wenngleich verborgene Wurzeln habe . . . 1 8 4 . Oft wurde wohl auch so kurzschlüssig argumentiert, daß der Gegner leichtes Spiel hatte. Spener warnt davor, irgendwelche Dinge als große Wunder zu verkünden, die der Atheist vielleicht ohne Schwierigkeit auf natürliche Ursachen zurückführen könne 185 , er belegt das daran, wie etwa manche Theologen die Kometen deuten und sich dadurch vor den Atheisten nur lächerlich machen: „Daher ich mich allezeit so viel fleißiger vor denjenigen meinungen hüte, dero Schwachheit ich erkenne, um der Wahrheit nicht durch schwache argumenta verdacht zuzuziehen." 186 Andererseits war die Unterschiedlichkeit des Niveaus dieser Schriften auch eine Folge davon, daß die Auseinandersetzung mit dem Atheismus nicht das Steckenpferd einiger besonders begabter Geister geblieben war, sondern daß sie in breiter Front auch von Mittelmäßigen und bescheideneren Gemütern geführt wurde. Alle Christen sollten sich an dem Kampf beteiligen. „Quibus conveniat invigilare adversus atheismos", heißt eine bei Voetius gestellte Frage. Antwort: „Omnibus, qui veritatem & pietatem amant" 187 . Für den Zeitgenossen ging es dabei nicht nur um ein Anliegen der Kirche: Das Menschsein stand auf dem Spiel, die Fundamente des menschlichen Zusammenlebens waren bedroht; jeder, der weiterhin als Mensch unter Menschen leben wollte, war zum Kampf gegen den Atheismus verpflichtet 188 . „Ab omnibus Dei causa agenda est: quia omnium conditor est, & conservator." 189 1β2

1723 (Vorrede, nicht pag.; 4. S.). 184 Frankfurt 1671. s , g. 185 Theologische Bedenken, Teil IV, Cap. VII, Art. I, Sectio X V I , S. 83. 186 Ebd. Sectio XVII, S. 86. 187 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 187. Schon eine Generation vorher hatte Johann Wigand zu einer Generalmobilmachung gegen die Irrtümer der Zeit aufgerufen; Kirche, Magistrat und Gericht, Eltern, Lehrer und jeden einzelnen fordert er zur „reprehensio", zur Widerlegung der Irrtümer auf. Er ist davon überzeugt: „Non tantum senes, verum etiam pueros, de notoriis & grassantibus erroribus, atque ipsis falsis Doctoribus, non solum in genere, sed in specie quoque, tum ore, tum stylo, instituendos & monendos esse . . De arguendis falsis dogmatibus et doctoribus, 1580, S. 73 ff.; vgl. S. 25. 1,3 Vgl. oben S. 137ff.; unten S. 172ff. In juristischer Kühle formuliert Samuel Pufendorf: „Caeterum ex hacce obligatione, qua omnes homines tenentur ad obsequium Deo praestandum, etiam promanat obligatio omnium hominum adversus quoslibet homines, qua tales, per quam agere vitam socialem invicem tenentur." De jure naturae et gentium; zitiert nach der Ausgabe Frankfurt / Leipzig 1744, Bd. I, S. 362. 189 Joh. Friedem. Schneider, Icon Atheorum, 1698, Vorrede (nicht pag.). 183

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3. Stadien der

Argumentationsweise

Zunächst befanden sich die Bestreiter des Atheismus in einer gewissen Hilflosigkeit — in der Hilflosigkeit des Überlegenen. Gottes Existenz beweisen zu sollen, das war für die christliche Theologie in der Tat etwas Neues: Was gab es da zu beweisen190? Soll man die Sonne mit der Laterne suchen, fragt Valentin Greissingш. So erklärt es sich, daß einige Theologen den neuen und unerwarteten Gegnern statt Beweisketten und Schlußfolgerungen eher Unverständnis entgegenbrachten. Nach welchen Argumenten sollte man greifen? Die Welt war ja voll von Argumenten für Gottes Existenz! Durch die Ausführungen antiatheistischer Autoren bricht immer wieder der Ton der „proscriptio" hindurch; statt des Nachweises, warum, er Unsinniges denkt, bekommt der Atheist zu hören, daß er Unsinniges denkt. Ein Musterbeispiel für dieses Vorgehen stellt das umfangreiche Werk des Jesuiten Garasse über „La Doctrine curieuse des beaux esprits de ce temps" dar 192 , wo im II. Buch der Atheismus der Gegner einfach durch eine Aneinanderreihung der Voten von Kirchenvätern, von antiken Philosophen und von zeitgenössischen französischen Theologen „widerlegt" wird 193 . Ähnlich geht noch ein halbes Jahrhundert später Christian Kortholt in seinem Buch gegen Herbert von Cherbury, Hobbes und Spinoza vor. In der Conclusio schreibt er explizit, er habe weniger seine Gegner widerlegen als die Gefährlichkeit dieser Atheisten aufzeigen wollen 194 . Aus dieser Haltung ergibt sich der oft beschwörende Ton, in dem manche Autoren ihren imaginären Gegner persönlich anreden. Durch die ganze Abhandlung Samuel Biermanns über die „Impietas Atheistica" 195 zieht sich die beschwörende, manchmal freilich auch etwas gönnerhaft klingende Anrede „mi Athee"! Der französische Reformierte de la Serre redet im Wechsel Gott und seinen Gegner „per du" an 196 . Das Moment des kopfschüttelnden Nicht-Verstehen-Könnens begleitet die Auseinandersetzung bis an ihr Ende. Ein erster Schritt in Richtung auf eine sachliche Diskussion bestand darin, daß man die neue Bewegung mit alten Häresien in Verbindung brachte und am Urteil der Kirche gegenüber diesen die eigene Meinung bildete. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß die „Gottesbeweise" der Scholastik von ihren Vertretern nicht als apologetische Demonstrationen verstanden wurden, sondern als selbstverständliche und dem Menschen vorfindliche Erkenntniswege, deren Darstellung eher doxologischen als polemischen Charakter hatte. Vgl. R . Slenczka: Gottesbeweise. Eine theo-logische Studie, in: KuD 14, 1968, besonders S. 92 f. und S. 97 ff. 1 9 1 Im Anschluß an einen Vergleich des Aristoteles; Exercitatio prior, 1677, Einleitung. m 1(13 Livre II, Section I-III, S. 103 ff. Paris 1623. 1 9 4 De tribus impostoribus magnis, 1680, S. 214 f. 1 8 5 Leipzig 1717. ""> Atheisten Grab, deutsch: Frankfurt 1674.

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Die katholischen Autoren taten das in ihrer Weise dadurch, daß sie den neuen Gegner an die Seite der Reformatoren zu stellen versuchten; die protestantischen Autoren griffen auf Gegner und Häretiker der Alten Kirche zurück. Kortholt sieht Herbert von Cherbury in einer Linie mit Celsus, Trypho, Julian und anderen Widersachern der damaligen Christenheit 197 ; Hieronymus Cardanus lehnt er unter Verweis auf die Irrlehren des Apollinaris von Laodicea ab 198 . August Varenius kennzeichnet Pelagianismus und teilweise auch die Theologie der Scholastiker als Vorstufen von Naturalismus und Atheismus, insofern hier wie dort die Möglichkeiten des Menschen und die Begrenztheit der Ratio überschätzt werden 199 . D a ß es mit solchen Rekursen nicht getan sein konnte, soviel richtige Beobachtung sich darin auch unter Umständen aussprechen mochte, war jedoch den Autoren selbst klar. Allerdings vermochten sie die Erfahrungen der Kirchengeschichte und bestimmte eingefahrene Denkgeleise manchmal nur mit Mühe zu verlassen. Um sich die gegnerischen Argumente vor Augen zu führen, mußten sie diese gelegentlich in ihr eigenes Denkschema umgießen — wodurch sich dann auch gleich die Widerlegung ergab. Das Problem der Ewigkeit der Materie bewältigt beispielsweise Samuel Biermann dadurch, daß er es im Schema von „Substanz der Essenz" und „Motus" darstellt: Wie erklären sich die „modificationes materiae", wenn nicht durch den äußeren Anstoß eines „motus"? Wie aber kommt es zu der in dieser Welt vorfindlichen Ordnung, wenn „materia" und „motus" ewig sind? D a ß der Substanz der Essenz von allein eine Modifikation entspringt, wäre gleichbedeutend mit einer productio e nihilo. Die Modifikationen können nur als Auswirkungen von Akzidentien, diese aber wieder nu~ in Verbindung mit Substanzen erfaßt werden. Folglich müssen die Vi 'nderungen, die sich laufend ereignen, auf „proprietates substantiae immaterialis" zurückgeführt werden. Deshalb kann die Materie nicht ewig sein, es muß eine immateriale Substanz geben 200 . D a ß die Vertreter des neuen Geistes sich von einer derartigen Beweisführung nicht beeindrucken ließen, versteht sich von selbst; wenn die Theologen mitunter trotzdem in dieser Weise argumentierten, dann war das freilich nicht böser Wille, sondern Unvermögen, auf das Denken des Gegners einzugehen oder es gar nachzuvollziehen. Das ist um so bedauerlicher, als man ja grundsätzlich bereit war, dem Gegner auf dessen Feld zu begegnen. Der unerschütterliche Glaube der Theologen an die eine Wahrheit, die sich hier wie dort, in der natürlichen wie in der übernatürlichen Offenbarung zum Ausdruck brachte, ließ es als ohne weiteres möglich erscheinen, die eine Spur weiter zu verfolgen, 197

198

19

200

De tribus impostoribus magnis, 1680, bes. S. 59 ff. » Remedium Atheologiae, 1680, Th. XXI, X X V .

164

Ebd. S. 286 ff. Impietas Atheistica, 1717.

wenn sich der Gegner der anderen versagte: Jede von beiden würde untrüglich zum Ziel führen — zu der Erkenntnis, daß Gott ist 201 . Ja, im Kampf gegen den Atheisten schien das sogar geboten; man mußte doch den Bereich aufsuchen, den man mit ihm gemeinsam hatte! Das war eine alte Regel der Apologetik. Philipp Mornaeus führt aus, gegen den, der die Prinzipien leugnet, sei ohnehin nicht zu disputieren: Dem Juden sei mit dem Evangelium nicht beizukommen; man müsse dazu vielmehr das dem Juden und dem Christen gemeinsame Prinzip aufsuchen, das Alte Testament 202 . Der Heide oder der Philosoph lache vielleicht über beide Testamente: „At est Ethnico perinde ac Iudaeo Natura communis . . .*'203. So lasse sich die Wahrheit des christlichen Glaubens stufenweise aufzeigen, zunächst von der mit allen Menschen gemeinsamen Basis aus, dann von der mit den Juden her. So ergebe sich gleichsam aus verschiedenen Linien ein Beweis von nahezu mathematischer Exaktheit 204 . Wenn auch in diesem frühen Stadium die Methode apologetischer Argumentation selten so grundsätzlich betrachtet wurde, schien es doch den Zeitgenossen eine Binsenweisheit zu sein, daß man den Gegner an der Stelle packen müsse, wo er schlechthin nicht ausweichen könne, nämlich bei der Natur und den aus ihr ableitbaren Prinzipien. Die Atheisten hören weder auf die Heilige Schrift noch spüren sie etwas von der Kraft des Heiligen Geistes, schreibt Conrad Vorst: „ne frustra videamur contra negantes principia disputare, ipsa rerum Natura nobis hic in subsidium vocanda est" 205. 201

Conrad Vorst hält es für nötig, gerade am Ende seiner Disputation de Deo, in der er Gottes Existenz gegen deren Bestreiter nachzuweisen sucht, einen Appendix „de Usu Rationis humanae in rebus Theologicis" anzufügen. Darin wird der eben angesprochene Glaube an die Einheit der Wahrheit so ausgedrückt: „Una est Veritas in re qualibet: sive ea per Naturam in Philosophia, sive per Scripturam in Theologia patefiat. Quod igitur in hac falsum est, in illa verum esse non potest: nisi Deum ipsum, veritatis omnis auctorem, secum pugnare velimus." Tractatus (1610), S. 8. 202 „ . . . At est praeterea Christiano Sc Judaeo commune principium & fundamentum, Testamentum vetus." De veritate religionis christianae, 1592, Vorrede (nicht pag.; 4.S.). 203 Ebd. 201 „ . . . Hoc autem quid est, nisi idipsum quod Geometrae & Logici solent, quando ex duabus lineis aut ex duabus propositionibus seu enunciationibus, notis, communibus, certis, aut tertiam proportionalem aut enunciationem tertiam, id est conclusionem eliciunt, incognitas istas prius & controversas, & in illarum potentia latentes, nunc autem, ex iis eductas, productas evidenter & necessario probatas? Eiusmodi vero sunt nostra plerumque adversus Atheos argumenta . . e b d . (5. S.). 205 Tractatus (1610), Disp. de Deo, S. 3. Daniel Tilenus sekundiert: „Quia vero ad caelestium oraculorum fulgorem caligant, auresque obturant ad sacra haec carmina virulentissimi serpentes isti; Ex naturae principiis, mundique, in cujus coeno serpunt, adspectu, stupor eorum est revincendus; ipsa natura satis firmas rationes, tanquam amentatas hastas, nobis subministrante, quibus hos Dei naturaeque hostes confodamus." Syntagma, 1607, S. 70. Joh. Mich. Lang stellt in der Vorrede seines Buches „Fructus praecipuus Philosophiae Naturalis", Jena 1688, die apologetische Relevanz eben dieser Philosophie heraus. 165

Dazu kam das Bedürfnis, den Gegner mit dessen eigenen Waffen zu schlagen. Wigand Kahler bewundert an Derodons Buch gegen den Atheismus, das er, über sechzig Jahre nach dem ersten Erscheinen, noch 1733 ins Deutsche übersetzt, daß nirgends sonst so geschickt „der Atheisten ihre eigenen Pfeile" wieder auf sie zurückgelenkt würden 20e. Freilich wird gelegentlich, ausgesprochen oder unausgesprochen, auch eine gewisse Skepsis gegenüber einer allzu bebenden Handhabung philosophischer Argumente spürbar; man fürchtet, dem Gegner gerade durch philosophische Subtilität in die Hände zu arbeiten207. Aufs Ganze gesehen aber hielt sich die Uberzeugung, man müsse mit Hilfe des menschlichen Geistes weiterkämpfen, wo dem Heiligen Geist kein Erfolg beschieden zu sein schien, durch die gesamte Diskussion hindurch. Daran, daß dieser Grundgedanke nicht umzubringen war, liegt es wohl, daß sie gescheitert ist. Die Devise lautete: „Etsi enim S. scripturae nolint credere & veraci Dei verbo, credant saltem rationi n a t u r a l i . . . " ; so formulierte es der Franziskaner Bernardin Vetweis208. Dabei fühlte man sich nicht als Verräter der Heiligen Schrift, sondern gerade in ihrem Gefolge; auch Paulus hatte doch den „profani" gegenüber so argumentiert 209 . Die Apologetik des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts verstand den menschlichen Geist als eine hervoragende Waffe gegen den Atheismus, die Gott selbst ihr geliehen hatte. Sie hat diese Waffe nach Kräften eingesetzt, freilich ohne sich immer darüber im klaren zu sein, daß sie nur mit der Waffe ihres Gegners kämpfte, und daß sie mit ihr allein diesem nicht beikommen würde. Dabei wußten die Theologen etwas von der geistlichen Problematik ihres Vorhabens, aber sie scheuten sich, dies in ihre rationalen Überlegungen einzubauen. c) Das geistliche

Ringen

Die Theologen des 17. Jahrhunderts, die den Atheismus bekämpften, wußten, daß sie nicht nur in einer geistigen Auseinandersetzung standen und daß ihr Kampf nicht nur eine Sache von Argumenten und Gegenargumenten war. Man hielt es für ein gefährliches und auch geistlich riskantes Unternehmen, sich mit Atheisten einzulassen. Ein Mann von 208 David Derodon, Widerlegter Atheismus, Lemgo 1733, Nadiridit an den Leser (nicht pag.; 2. S.). 2 0 7 Der Augsburger Anton Reiser etwa sieht diese Gefahr beim Kampf gegen den Atheismus, „cuius profunda alii quoque non sine numero curiose rimari sunt conati, quamvis eo ut plurimum eventu, qui caeteros omnes eadem agitantes de subtiliori ratione Religionum Mysteria tractandi consilia merito absterrere poterant Sc debebant"; De origine . . . Atheismi, 1669, S. 274. 2 0 8 Speculum verae Ecclesiae C h r i s t i . . . , 1664, S. 95. Vorst, Tractatus (1610), Disp. de Deo, S. 3.

166

gewiß geistig wie geistlich nicht geringer Kapazität wie Spener schreibt: „So ists auch mit solchen leuten so leicht nicht umzugehen / als man sich bey einer so guten und gewissen sache / wie wir wider sie haben / einbilden solte. Welches ich in mehrmaliger belehrung und conferenz mit einem sehr scharfsinnigen atheo dermassen erfahren / daß ich nichts bey ihm ausgerichtet / sondern vielmehr Gott dem Herrn davor danck zu sagen gehabt habe / daß derselbe mich durch seines heiligen Geistes gnade kräfftiglich vor soldier gefährlicher Verführung bewahret und erhalten hat. Massen die gefahr nicht gering ist / und ich jedem lieber rathen wolte / sich vor solcher zu hüten / als mit willen aus vertrauen auf sich selbst / darein zu gehen. Es ist kaum zu glauben / wie scheinbar die leute aus der verderbten vernunfft / alles was aus der philosophie und vernunfftlehr ihnen entgegen gehalten zu werden pfleget / abzulehnen wissen / daß mir alle tela u. argumenta gegen sie in dem ernstlichen kampff fast unbrauchbar worden sind: Dahero ich sorge / ob andere auch hierinnen fertiger wären . . ." 21 °. Bei manchen Theologen entsteht daraus die Meinung, man solle auf atheistische Reden überhaupt nicht eingehen; wer sich von Berufs wegen mit atheistischer Literatur auseinandersetzen muß, dem wird geraten, bei der Lektüre dieser Schriften allezeit zu Gott zu seufzen: „Ach Gott du wollest mich doch bewahren rein / vor diesem Argen Geschlechte und laß mich doch dir befohlen seyn / das sichs in mir und meine Seele nicht flechte.. ." 2 U . Man hört regelrecht die Waffenrüstung des Atheistenbekämpfers klirren, wenn man bei Gebh. Theodor Meier liest: „Ne autem temere quis cum Atheo disputet, opus est, ut bene instructus, ac probe confirmatus, & Dei singulari praesidio, quod precibus obtinet, fretus, pio zelo in arenam descendat" 212 . Die erste Reaktion, die aus soldi einer inneren Haltung resultiert, ist die Forderung nach Abstand, nach Ausschluß aus der Kirche 213 — keine Diskussion, kein „ave": Ein Atheist hat Gott verlassen und Gott hat ihn verlassen; die Kirche kann nun nur noch die Weisungen des Neuen Testaments befolgen und den alten Sauerteig ausfegen 214 . Theologische Bedendsen, Teil III, Cap. VI, Art. I, Dist. III, Sectio X X I I X , S. 451 f. (datiert 7. 4. 1681). 211 Joh. Georg Leuckfeld, Der verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 110. 812 Historia religionum, 1697, S. 27. 213 Grünenberg, De Atheorum religione prudentum, 1701, § 83, fordert die Exkommunikation, allerdings im Bewußtsein dessen, daß sie auf den Atheisten wohl keinen großen Eindruck machen wird. 814 „ . . . Est hic incorrigibilis, cum atheus sit absque Deo, sit absque ratione; qui autem Deum deserit, quemque Deus deserit, ilium & nos deserere, nec ave ei dicere, multo minus cum tali disputare oportet, quod talis ratione sua non uti, sed abuti satagit. Utinam abscindantur, qui nos inquietant, precamur cum Paulo ad Galat. 5. v. 12. Cujus etiam hoc habemus praeceptum: ejicite fermentum . . . " ; Gebh. Theodor Meier, Historia religionum, S. 32; Verweis auf 1.Kor. 5,6; 2 . T i m . 2 , 1 7 .

167

Es ist deprimierend zu sehen, wie sich die Kirche dem neuen Geist von vornherein als unterlegen vorkommt. Kaum einer der Apologeten rechnet damit, daß man wenigstens einzelne Atheisten zurückgewinnen werde, vom Atheismus als Gesamtphänomen ganz zu schweigen215. Dieses Minderwertigkeitsgefühl steht in auffälligem Kontrast zu der Selbstsicherheit, mit der die Apologeten ihre angeblich so eindeutige Sache manchmal präsentieren. Sie verfügen über eine ihrer Meinung nach einsichtige und unwiderlegbare Theorie, müssen aber feststellen, daß sie faktisch mit ihr nur wenig erreichen. Tobias Wagner fordert zwar das Gebet darum, daß der Atheist „aut conversione, aut eversione" von Gottes Existenz überzeugt werde 216 und Theophil Spizel meint, man müsse eine Bekehrung eines Atheisten nicht für völlig ausgeschlossen halten 217 , aber im ganzen ist der Kampf der Theologen gegen die Atheisten doch auf Defensive eingestellt. Eine gewisse Ausnahme mag man in zwei „Bedenken" Philipp Jakob Speners sehen: „Zurechtweisung eines in einigen Atheismum verfallenen" 218 und „Was zur wahrhaftigen bekehrung eines von langer Zeit in dem Atheismo, Verleugnung Gottes und seiner Wahrheit / auch andern groben sünden / gesteckten sünders erfordert werde" 219 . Aber abgesehen davon, daß es in ihnen oft mehr um den Menschen ohne persönliches Gottesverhältnis als um den Atheisten geht, erscheint auch hier die Bekehrung als eine seltene und äußerst schwierige Angelegenheit220. An anderer Stelle spricht Spener seinen Wunsch, die Atheisten möchten wieder zu Gott finden, in einem Vergleich aus, der gut die Größenverhältnisse erkennen läßt, wie sie wohl manchem zeitgenössischen Theologen erschienen: „Der Herr erbarme sich solcher armen blinden leute / und rüste einige tapffere Davides aus / so diesen ungeheuren G o l i a t h . . . siegreich bestreiten mögen" 221 . Nach menschlichem Ermessen ist der Christ dem Atheisten weit unterlegen. Einzig durch ein Wunder kann es 215

Bekehrungsberichte wie der des Grafen von Rochester waren Tendenzliteratur, siehe oben S. 56. Sie zeigten — entgegen ihrer Absicht — gerade, wie selten ein Atheist zur Kirche zurückfand. Nicht alle Atheisten kämen noch auf dem Totenbett zum Glauben an Gott wie John von Rochester, mahnt Christ. Matth. Seidel in seiner Vorrede zur deutschen Übersetzung von Bentleys „Thorheit und Unvernunfft des Atheismi" (datiert Stendal 1712). 216 Examen, 1677, S. 82. 217 „ . . . de ea tarnen haud prorsus desperandum esse existimo"; De Atheismo eradicando, 1669, S. 26. 218 Theologische Bedencken, Teil I, Cap. I, Art. I, Sectio X I , S. 38 ff. (datiert 1692; nicht vollständig abgedruckt). 218 Ebd. Sectio XII, S. 45 ff. (nicht datiert); beides in lateinischer Übersetzung von Joachim Lange ersdiienen als Geminum de Athei conversione judicium, Halle 1703; ich zitiere hiernach. 220 Vgl. oben S. 166 f. 221 Theologische Bedencken, Teil III, Cap. VI, Art. I, Dist. III, Sectio X X I I X , S. 452. 168

dem Apologeten gelingen, seinen Gegner zu überwältigen: Oft wendet er sich daher nur zum Schein an die Atheisten, in Wirklichkeit aber an die Gemeinde. Den meisten antiatheistischen Schriften liegt vielmehr daran, die eigenen Reihen zu stärken, und zu diesem Zweck zählen sie nicht nur ihre mehr oder weniger guten Argumente auf, sondern sie weisen audi auf die N o t wendigkeit einer geistlichen Abwehr des Atheismus hin. Voetius nennt einen doppelten paränetischen „Nutzen" seiner Ausführungen über den Atheismus: den Aufruf zum D a n k dafür, daß „wir" keine Atheisten sind, und zum Einsatz, uns mit allen unseren Kräften und Möglichkeiten dem Atheismus entgegenzustellen 222 . Als Mittel, das letztere zu erreichen, gibt er an: „Assidua oratio", daß der Heilige Geist unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu bewahren wolle, „Reverentia Scripturae", in der wir unsere Ratio den Schriftaussagen unterordnen, rechten Gebrauch des von Gott gegebenen Lumen naturale und schließlich „Amor & honor veritatis agnitae" 223. Die späteren lutherischen Autoren haben das gleiche Anliegen: Vor allen Dingen muß man seiner eigenen Sache gewiß sein 224 . In einer Predigt über die Emmausjünger arbeitet Andreas Hagemann heraus: „Wie ein Christ sich in der Warheit seiner religion also gründen könne und solle / daß Ihn niemand leicht irre machen werde." Die Predigt sei ihm der Anstoß gewesen, seine „Kurtze Anweisung / wie den heutigen Atheisten und Naturalisten zu b e g e g n e n . . . " zu verfassen 225 . Die Predigt wird zur Waffe im Kampf gegen den Atheismus 226 , nicht jedoch durch direkte Diskussion der anstehenden Probleme auf der Kanzel, sondern durch die Verkündigung des Evangeliums 227 . Die Liebe zum Wort Gottes, wie sie der 1. Psalm beschreibe, sei eine Grundvoraussetzung für die Abwehr des Atheismus, führt Johann Georg Leuckfeld 222

„ . . . I. ad gratiarum actionem, quod per Dei gratiam (per quam sumus quod sumus) non simus tales. II. ad conatum, ut totis viribus refugiamus, avertamus, & praeveniamus illos furores, toto corde detestemur usque ad minimam illorum speciem aut occasionem: contra verae & salutari cognitioni, fidei ac cultui Dei nostri magis studeamus." Select. Disp., Pars I, 1648, S. 208. 223 Ebd. 224 Wagner, Examen, 1677, S. 82 ff. (der es nicht lassen kann, an dieser Stelle gegen den zum Katholizismus konvertierten Tübinger Juristen Besold zu polemisieren). 225 Osterode 1685, Vorrede, S. 5. 226 Tobias Wagner versteht seine gesamte 52jährige Predigttätigkeit als Kampf gegen den Atheismus practicus; Examen, 1677, S. 70 f. 227 Homiletische Lehrbücher verhandeln jedenfalls die Frage, ob man in der Predigt auf atheistische Meinungen eingehen solle. Adam Rechenberg, Schediasma de prudentia et decoro Ecclesiasten in suggestu decente, Leipzig 1715, S. 82 f., fürchtet, die Hörer könnten dadurch verwirrt werden: „Id tarnen prudentiae est, eorum improbas & blasphemas opiniones ac voces coram rudiore plebe reticere, ne animis forte inhaerescant, fidemque turbent aut obnubilent, ac diabolo cooperante extinguant." Der Prediger freilich müsse Bescheid wissen.

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aus228. Johann Müller möchte vor allem die Jugend zu täglicher Schriftlektüre ermuntert wissen229. Pietistische Autoren weisen auf die Notwendigkeit der inneren Uberzeugung hin: Nicht eine formale Verteidigung von Glaubensartikeln, sondern Gottesfurcht, die Herz, Willen und Verstand erfassen müsse, gebe einem Halt im Kampf gegen den Atheismus, schreibt Seckendorf™, und Spener befürwortet eine Haltung, in der „alles vielmehr dahin gehet, Gott nicht nur in einer müßigen speculation zu erkennen, sondern in einem solchen stände zu stehen, da sein geist in uns wircken möge. Welche lebendige erkäntnüß aus der krafft des geistes allein dem Atheismo wehren kan" 231 . Als wesentliche Hilfe für die Auseinandersetzung wird immer wieder das Gebet genannt. Johann Müller fordert öffentliche Gebete in allen Kirchen, daß dem „Atheisten-Teufel" gewehrt werde 232. In den antiatheistischen Schriften wird das Gebet jedoch nicht nur empfohlen, sondern es wird da wirklich gebetet; viele von ihnen schließen mit einem — manchmal einige Seiten langen — Gebet 233 . Andreas Hagemann bringt am Ende seiner „Kurtzen Anweisung" die Liedverse: „O Herr / laß die bekehren sich / Die noch im Irrthumb gehen / Und steure denen mächtiglich / Die dir / Gott / widerstehen. Laß niemand zu / daß er dein Wort Und seinen LaufF mög hindern / Erhalt es lauter fort und fort Nach uns auch unsern Kindern!" 234 Besonders die pietistischen Autoren betonen die Wichtigkeit des Betens. In einem der „Bedenken" Speners heißt es: „Absonderlich die handlung mit Atheisten anlangend, läßt sich deroselben fleischliche vernunfft weißheit am wenigsten mit menschlichen waffen überwinden, sondern gebet und krafft des Geistes muß das meiste thun." 235 Grundsätzlich war man sich darüber natürlich auch vorher im klaren, wenngleich man den Unter228 j ) e r verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 1 0 9 f. Atheismus devictus, 1672, Vorrede (nicht p a g . ; 9. S.)· Vgl. T . Wagner, E x a m e n , 1 6 7 7 , S. 9 0 ff. 2 3 0 Christen-Staat, 1685, S. 18 ff. 2 3 1 Theologische Bedencken, Teil IV, C a p . V I I , A r t . I, Sectio X I V , S. 73. 2 3 2 Atheismus devictus, Vorrede (9. S.). Andererseits r ä t er ebd. wenig später, man solle täglich darum beten, nicht mit Atheisten in Berührung zu kommen! 2 3 8 Vgl. Lessius, D e Providentia Numinis, 1 6 1 7 2 , S. 3 4 7 — 3 5 1 (siehe Anm. 2 3 6 ) ; Leuckfeld, D e r verführerische Atheisten Hauffe, 1699, S. 6 9 5 — 6 9 8 . 2 3 4 1 6 8 5 ; S. 60. 2 3 5 Letzte Theologische Bedencken, Teil I, C a p . II, A r t . II, Sectio III, Bd. I, S. 358 (datiert 28. 3. 1 6 9 9 ) . 22,1

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schied zwischen „geistlichen" und „menschlichen" Waffen nicht genügend im Blick hatte: Die Orthodoxie aller Konfessionen sah den menschlichen Geist mit Gottes Geist gemeinsam gegen den Atheismus kämpfen. Das vielleicht schönste Gebet in diesem Zusammenhang findet sich bei dem Jesuiten Leonhard Lessius. Bitte und Anbetung, Argumentation und Meditation durchdringen sich hier gegenseitig 236 . In diesen Gebeten äußert sich die ganze Fassungslosigkeit der Christen dem Atheismus gegenüber, aber auch ihre Gewißheit, daß niemand anders den Kampf erfolgreich führen kann als Gott selbst. Mersenne schreibt, er wolle die Atheisten so eindeutig widerlegen, daß ihnen keine Ausflucht mehr bleiben werde — „Deo iuvante & pro seipso dimicante" 237, was bei ihm vielleicht eine fromme Redensart, f ü r viele seiner Kollegen aber tief ernst ist. Gott, der Wasser aus dem Felsen zwingen könne, schreibt de la Serre in einer uns Heutigen fremd gewordenen bildhaften Redeweise, werde auch in der Lage sein, die steinernen Herzen der Atheisten zu Bußtränen zu bewegen 238 . Gisbert Voetius hält es f ü r das Tröstliche, das seinen Atheismus-Ausführungen zu entnehmen sei, daß Gott seine kleine Herde gegen so viele Angriffe von atheistischer Seite erhalten habe und auch weiter erhalten werde 2 3 9 . Die Ebenen der Auseinandersetzung mit dem Atheismus, wie der Theologe des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts sie kannte, sind damit abgeschritten. Was hat sich auf ihnen ereignet? Staatliche Gewaltmaßnahmen erschienen schon früh nicht mehr möglich und sinnvoll. Geistliches Ringen hat sicher die Mühe vieler Apologeten begleitet. Aber der Hauptkampf tobte auf der Ebene des Geistes. Vom mensdilichen Geist hielten die Atheisten und ihre Widersacher viel. Hier suchten beide die Entscheidung — und fanden sie nicht. 238

Ausgehend von der Erfahrung der Allgegenwart Gottes, wie der 139. Psalm sie zum Ausdruck bringt, formuliert der Beter, De Providentia Numinis, 1617 2 , S. 347 ff.: „ . . . Caelum & terram imples, & tarnen a plurimis non agnosceris: omnibus intime praesens ades, & ignoraris. Omnia creas, formas, nutris, preficis, sustentas, gubernas; & te horum omnium fontem & auctorem negant. Omnibus das esse, & te esse non credunt...". 237 238 Gn-Kommentar, 1623, Sp. 15/16 . Atheisten Grab (1674), S. 3. 23 » Select. Disp., Pars I, 1648, S. 209.

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В) M O D E L L E D E R

GEGENARGUMENTATION

I. Natürliche Theologie gegen den widernatürlichen Atheismus et) Die Widernatürlichkeit

des Atheismus

Die natürliche Theologie erschien den Apologeten des 17. Jahrhunderts als das breite und unerschütterliche Fundament aller ihrer Unternehmungen gegen den Atheismus. Auf dieser Ebene glaubten sie des Sieges über ihre Gegner von vornherein sicher zu sein; nur wenige von ihnen wurden gewahr, daß der Kampf ja auch um das Schlachtfeld selbst geführt wurde. Die natürliche Theologie Schloß die Möglichkeit des Atheismus von ihren Prämissen her aus; wenn es eine allgemeine und mindestens in Ansätzen jedem Menschen zuteil gewordene göttliche Offenbarung gab, dann konnte es nicht gleichzeitig die grundsätzliche Möglichkeit des Atheismus geben. Der natürlichen Theologie mußte der Atheismus als widernatürlich erscheinen, ja als unmöglich. Den Theologen standen zwei Wege offen, dies zum Ausdruck zu bringen: Entweder sie folgerten, daß der Mensch grundsätzlich nicht Atheist sein könne, oder sie postulieren, daß ein Atheist ein Konstitutivum für das Menschsein verloren haben müsse und also nicht im Vollsinne als Mensch angesprochen werden dürfe. Doch ging es bei diesem Postulat nicht darum, dem Atheisten das Menschsein abzuerkennen, sondern um den Nachweis, daß er Atheist im letzten Sinne, gerade weil er Mensch war, nicht sein konnte. Die Frage „An dentur Athei?" begleitete die Auseinandersetzung bis zu ihrem Ende. 1. Die These von der Nichtexistenz der Atheisten Wollte man trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten bei einem prinzipiell von der natürlichen Theologie her verstandenen Menschen etwas wie „Atheismus" aufweisen, so konnte man das auf eine doppelte Weise tun: Entweder man definierte „Atheismus" so, daß er im Rahmen einer natürlichen Theologie denkbar blieb, oder man analysierte den Vorgang der religiösen Bewußtwerdung im Menschen dahingehend, daß Atheismus auch in seiner schärfsten Definition für ihn nur bis zu einem gewissen Grade oder innerhalb eines bestimmten Zeitraums möglich wurde. Gisbert Voetius kennt beide Möglichkeiten. Auf die Frage, ob es 172

denn Atheisten gebe, antwortet er mit einer zunächst verblüffenden Eindeutigkeit: Daran zweifle doch niemand — das Problem bestehe vielmehr darin, um welche Art von Atheismus es sich dabei handle 1 ! Zur Klärung bringt er ein Definitionsschema bei 2 und arbeitet daran heraus, daß es allenfalls einen „Atheus directe interne certitudinem affectans" geben könne; dies jedoch sei die äußerste Grenze atheistischer Gedanken und Versuche: „ulterius enim ire eum non sinunt trabales illi luminis & dictaminis naturalis . . . " 3 . Der Augsburger Pfarrer Gottlieb Spizel, in Atheismusfragen Voets treuer Gefolgsmann, weist darauf hin, daß die Schrift eher die indirekten Atheisten im Blick habe: Sie bezeugt die Existenz solcher Leute, „Sc tristis confirmat experientia" 4 . Spizel geht also, vielleicht auf Grund seiner Augsburger Erfahrungen, nicht einmal so weit wie Voetius. Die Meinung, daß es wohl indirekte, nicht aber Atheisten „sensu propriissimo & strictissimo" geben könne, hat noch spät Anhänger gefunden 5 . Eher gangbar schien den meisten Autoren doch der zweite Weg. Das Gewicht der Realität war zu stark, als daß man es durch spitzfindige Definitionen hätte wegdisputieren können; man kannte zu viele Atheisten. Bereits Voetius muß seine Behauptung verteidigen, einen radikalen und auch innerlich überzeugten Atheisten könne es nicht geben. Anonyme remonstratensische Gegner halten ihm die Argumente vor, denen die weitere Diskussion sich stellen mußte: Die Schrift selbst, so sagen sie, rechnet mit Leuten, die Gottes Existenz bestreiten (Ps. 14, l ) e . Außerdem wisse niemand als der betreffende Mensch selbst, was in ihm vorgehe: Wie könne man also sicher sein, daß nicht jemand doch im Vollsinne des 1

„Esse Atheos nemo dubitat. Sed quae sit Atheismi illius ratio, propius explicandum e s t . . S e l e c t . Disp., Pars I, 1648, S. 141. 2 3 Vgl. oben S. 79. А. а. O. S. 143. 4 Scrutinium Atheismi, 1663, S. 11. 5 Vgl. Johann Ulrich Frommann, Atheus stultus, 1713, S. 9 f.: „ . . . q u i ore non tantum negant existere Deum, sed & in corde plene absque metu contrarii firmiter Sc constanter ad finem vitae usque credunt. ..", — solche „monstra" gebe es, gegen die Meinung von Locke und Bayle, nach Auffassung der lutherischen und reformierten Theologen nicht. 6 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 155. Voetius zieht sich damit aus der Affäre, daß er behauptet, in diesem Fall müßten — was ausgeschlossen sei — alle gottlos Lebenden (Ps. 94, Rom. 3) und außerdem alle Heiden (Eph. 2) in der Schrift als direkte spekulative Atheisten verstanden werden. In Ps. 14, 1 gehe es vielmehr nur um indirekte und nur um praktische Atheisten, „quaerentes & hoc agentes, ut quiete credere possint non esse Deum; non vero tales, qui hoc assecuti sint." Dieser Meinung seien alle Ausleger; nicht umsonst laute die chaldäische Paraphrase, der Gottlose behaupte: „non est potestas Dei in terra"; auch nicht ohne Grund stehe hier im Hebräischen „Elohim" statt „Jahwe": Damit sei Gott als „gubernator" und „judex" gemeint. Lyra habe hier nicht die grundsätzliche Leugnung jedweden Gottes, sondern nur die Bestreitung des Gottes Israels gefunden. Ebd.

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Wortes Atheist sei 7 ? Die Remonstranten berufen sich weiter auf die tagtägliche Erfahrung 8 , auf die aus der Geschichte bekannten Beispiele; sie weisen darauf hin, daß die Theologen selbst sich eifrig gegen die Atheisten bemühen, daß die Existenz des Wortes „Atheist" doch wohl zu der Vermutung berechtige, damit sei auch etwas Reales gemeint; sie fragen, ob der Mensch nicht in seinen Irrtum so tief verstrickt werden könne, ob Gott ihn nicht so weit verstocken könne 9 . Die Remonstranten, die wie teilweise die Sozinianer die natürliche Theologie ablehnten, konnten sich der Wirklichkeit leichter öffnen 10 . Aber nicht als Vorwürfe einer kleinen häretischen Splittergruppe wurden ihre Fragen bedeutsam, sondern als Probleme, die das Jahrhundert allen Theologie treibenden Zeitgenossen stellte. Zu ihrer Beantwortung schien es günstiger, die Möglichkeit des Atheismus in seiner vollen Schärfe einzuräumen, sie aber psychologisch oder temporal zu begrenzen. Auch dazu hatte bereits Voetius den Weg gewiesen. Voetius unterscheidet einmal zwischen äußerer, in Worten vorgebrachter Gottesleugnung und der inneren Zustimmung von Wissen und Gewissen dazu 11 ; er differenziert ferner zwischen einem auf bestimmte Zeit beschränkten Zweifel und der grundsätzlichen Gottesleugnung, die sich auch nicht nur auf einzelne Eigenschaften Gottes, sondern auf Gottes Existenz bezieht, und er sieht schließlich einen Unterschied zwischen einem „Anflug" von Zweifel und dessen voller Übernahme: Eine „volatica cogitatio" könne ja noch nicht als grundsätzliche Uberzeugung ange7 Voetius muß zugeben, daß er hier nicht wie seine „modernen" Zeitgenossen phänomenologisch vom einzelnen Menschen ausgeht; er beschwört vielmehr die traditionelle Philosophie, die einem die Existenz Gottes bestreitenden Menschen „universalem experientiam, rationem, scripturam opponeret"; S. 156. 8 Voetius fragt seinen Gegner, wieso er „furioso & mendacissimo Atheo" Glauben schenke: N u r gegen sein Gewissen könne ein Mensch zu atheistischen Aussagen kommen, „si inter homines aliquando tale monstrum inveniatur . . S . 158 f.

S. 159 ff. Das Verhältnis der Sozinianer und der von ihnen beeinflußten Gruppen zur natürlichen Theologie ist komplex und würde u. U . eine eigene Untersuchung lohnen. Vgl. Kl. Scholder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert, 1966, S. 3 4 f f . (2. K a p . : „Die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft, Schrift und Dogma bei den Sozinianern") und die dort angegebene Literatur, sowie A. Ritsehl, Geschichtliche Studien zur christlichen Lehre von Gott, in: Ges. Aufsätze, Neue Folge 1896, S. 25 ff., Teil I I I : Sozinianer und die antisozinianische Polemik. Zu dem Verhältnis der Sozinianer zu den Remonstranten vgl. Ε . M. Wilbur, A History of Unitarianism. Socinianism and its Antecedents, Cambridge, Mass. 1947, S. 547 ff. 9

10

E r behauptet: „Exteriorem Dei negationem, & malitiosam ac hypocritam protestationem, quae verbali contentione peragi solet, non esse eandem cum interiori scientiae & conscientiae n e g a t i o n e . . S e l e c t . Disp., Pars I, 1648, S. 148. 11

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sehen werden 1 2 . Nach weiteren Differenzierungen zwischen „dubitatio" und „certitudo", zwischen „notitia habitualis" und „notitia actualis" sowie zwischen dem Fehlen einer bestimmten Uberzeugung und dem Vorhandensein einer Gegenüberzeugung 13 wendet sich Voet der Klärung der aktualen Unkenntnis Gottes zu; er bestimmt sie dreifach: als „negativa", wenn man zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht an Gott denkt; als „privativa", wenn einer aus Nachlässigkeit oder Bosheit über längere Zeit hin Gott aus seinem Denken verbannt; schließlich als „contraria", sofern einer Gottes Existenz in Worten („contraria exterior") oder in Gedanken leugnet („contraria interior"). In diesem letzteren Fall kann es sich wiederum entweder um ein intellektuelles Verlangen, einen „actus intellectus inquirens", oder tatsächlich um eine „cogitatio formata" handeln 14. Damit kommt Voetius zu dem Ergebnis, das er in der Unterscheidung von „voluntas" und „effectus" zum Ausdruck bringt: Der Mensch könne wohl versuchen, Gott zu leugnen; grundsätzlich und auf Dauer werde ihm das jedoch nie gelingen 15 . Möglichkeiten bestehen f ü r den Atheismus von vornherein nur im Raum der aktualen, nicht aber der habitualen Erkenntnis, auch da jedoch nur in begrenztem Umfang 1 6 . Calov wendet zwar in der Fragestellung seine Aufmerksamkeit der Möglichkeit eines „positiven" Atheismus zu 1 7 ; er unterstreicht aber an Voets Ausführungen die bleibende innere Unruhe, die es dem Atheisten niemals erlaubt, auf seinem Standpunkt gleichsam ohne Anfechtungen zu beharren; im übrigen referiert er Voetius 18 . Bis zum Ende der Auseinandersetzung bemühen sich alle Autoren herauszuarbeiten, daß es jedenfalls Atheisten von N a t u r aus nicht geben könne. Mit Emphase legt August Pfeiffer in diesem Sinne den 1. Vers des 14. Psalms aus: Ein absolutes Nichtwissen um Gottes Existenz und Autorität ist keinem Menschen möglich — das war nie der Fall und das 12

„Aliud est tentatio, suggestio diaboli & carnis: & aliud ejus receptio"; ebd. 14 S. 149 f. S. 151. 15 S. 151 f. Könnte man das Leben und Verhalten von Atheisten genauer untersuchen, so würde sich zeigen „illos ab internis stimulis & testimoniis non fuisse omnino immunes, quidquid externe simularent." Ebd. le Voet formuliert: „Concludimus ergo nullos dari Atheos speculativos proprie dictos; qui seil, certo persuasi sint non esse Deum 1. nec quod ad άγνωσίαν τοΰ θεοΰ aut άθεότητα habitualem seu consuetam, eamque aut negativam, aut privativam, aut contrariam . . . 2. Nec etiam quod ad actualem ά γ ν ω σ ί α ν . . . si non mere privativam, saltern cortrariam interiorem, per firmatam seil, cogitationem, Sc assensus certitudinem." S. 153. 17 „An dentur Athei speculativi, sensu omni divinitatis non destituti tantum, sed etiam habitui contrario imbuti?" Systema, Tomus 2, S. 97. 18 Ebd. S. 97 ff. 13

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wird nie der Fall sein 19 . Es gibt weder Menschen, die „actu primo" ohne jegliche Gotteserkenntnis wären, urteilt Johann Christoph Wolf gegen Ende der Debatte, noch auch solche, die „actu secundo" ihren Atheismus durchhalten könnten, ohne irgendwelche Gewissensbisse und innere Unsicherheit; die gängigen, erbaulich und apologetisch ausgeschlachteten Beispiele von Atheistenbekehrungen wie etwa die des Grafen von Rochester sollen das belegen 20 . Zacharias Grapo, der in Rostock um die Wende zum 18. Jahrhundert einige Disputationen über den Atheismus durchführen ließ 21 , darunter eine über die Frage: „An dentur Athei theoretici", weiß auf Grund seiner Erfahrung über viele indirekte theoretische Atheisten zu berichten22. Aber unter Berufung auf Rom. 1,19ff., aus der Unentschuldbarkeit des Menschen, aus dem Zeugnis des Universums und des Gewissens schließt er: „Atheus theoreticus directus per ignorantiam invincibilem talis пес actu datur, пес dari potest" 23 . Die Schrift und das theologische Argument werden gegen den äußeren Augenschein aufgeboten. Dennoch bedurfte auch dieser einer Erklärung. Das Stichwort hatte bereits Voetius genannt, und in der Formulierung von Joh. Hülsemanns oft aufgelegtem dogmatischem Lehrbuch fand es weiteste Verbreitung: Es gibt Atheisten „auf Zeit" 24 . Diese Auskunft empfahl sich als Lösung, die 19

„Atheismum p r i v a t i v u m utique dari поп dubitamus, at negamus dari negativam & absolutam ignorantiam divinae existentiae Sc auctoritatis, unde omnia pendent. Talis nulla fuit, est, vel erit, in ullo mortalium; nulla gens u n q u a m tam immansueta aut fera fuit, quae omni divinitatis sensu careret, licet cultum ejus verum nesciret. N e m o поп debet nosse Deum, a d id enim creatus est: nemo поп potest nosse vim 8С n a t u r a m Numinis, etiam recusanti obviam . . D i f f i c i l i o r u m Scripturae locorum centuria prima, in: O p e r a omnia, Bd. I, Utrecht 1704, S. 299. P f e i f f e r macht geltend die Distinktionen „ignorantia habitualis"/„actualis", „ignorantia simplex"/„affectata", sowie diejenigen zwischen „cogitationes volaticas Sc plenum assensum" und die zwischen „conscientiam ad tempus stupefactam Sc vigilantem". E r wiederholt die üblich gewordene Auskunft, der Atheismus sei nicht auf einen „defectus notitiae", sondern auf einen „affectus malitiae" zurückzuführen; mit Calov versteht er das Reden des Gottlosen als Reden „in corde", nicht aber „ex corde". S. 299 f. 20

Atheismi falso suspectos . . . , 1717, S. 10 f.; dort weitere Literatur. Grapius (1671—1713) hatte studiert in Rostode, Greifswald und Leipzig. A b 1699 versah er in Rostock die Professur f ü r Physik und Metaphysik (!) sowie eine P f a r r stelle an St. J a k o b . A b 1704 w i r k t e er als Professor der Theologie. Vgl. Jöcher II, Sp. 1131 f.; A D B 9, S. 584. 22 „ . . . ex ipsa quotidiana experientia, quae infinitos nobis istiusmodi sistit homines." Theologia recens controversa, 1710 2 , S. 28. 23 Ebd. 24 Extensio Breviarii Theologici, H e i l b r o n n 1667 5 , S. 20: Die durch das Buch der N a t u r und die Stimme des Gewissens dem menschlichen Geist geschenkte Gotteserkenntnis k a n n so sehr vernichtet werden, „ut possibile sit, dari ad tempus quosdam speculative atheos, поп per naturam, sed per excoecationem." 21

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sowohl dem Anliegen der natürlichen Theologie wie auch der Erfahrung der Wirklichkeit gerecht zu werden schien25. Daneben wurde — oft von den gleichen Autoren — eine andere Erklärung angeboten, die ebenfalls von Voetius bereits vorweggenommen worden war 2 6 : Vielleicht dachte der Atheist etwas ganz anderes, als was er sagte27? Und vielleicht sagte er das nur, weil er das wünschte, weil er wollte, daß es sich so verhalte? In diesem Sinn legte man Ps. 14,1 aus: Der Gottlose spricht in seinem Herzen — das bedeutet: Er wünscht sich das 28 . Heinrich Schmettau vermutet in seiner „Vorrede von dem Atheismo", die Atheisten aller Zeiten hätten wohl „mehr Voto, als Conscientia, mehr dem Wundsche / als dem Gewissen nach Gott verleugnet" 29 . Diese den Atheisten von vornherein moralisch disqualifizierende Erklärung konnte nicht durchschlagen; sie diente den Theologen als teilweise Antwort auf die Frage nach den Wurzeln des Atheismus30; andererseits brachte freilich auch sie zum Ausdruck, daß man das Vorhandensein von Atheisten im Vollsinn des Wortes für unmöglich hielt. Die Existenz Gottes und die Existenz von Atheisten schlossen sich gegenseitig aus: Entweder gab es Atheisten, dann konnte es Gott, jedenfalls wie ihn die natürliche Theologie zeichnete, nicht geben — oder es gab diesen Gott, dann konnte es keine Atheisten geben. Pointiert formuliert Johann Friedemann Schneider in seiner „Icon Atheorum" von 1698: „Parum abest, quin mihi persuadeam: Atheum esse Entheum . . . " 3 1 . Alle Beispiele von Atheisten, die sich beibringen lassen, urteilt Johann Georg Syrbius zwei Jahrzehnte später, reichen nicht dazu aus, „ut quemquam mortaQuenstedt berief sich auf Voet und auf Hülsemann bei der Feststellung: „Aliud est ad tempus aliquod & in paroxismo furoris interiori scientia & conscientia persuasum esse, Deum non esse gubernatorem universi, & aliud semper in mente sua certo esse persuasum, non esse Deum . . . " ; Theologia didactico-polemica, 1691, Pars I, Sp. 259b. Eine spätere Ausformulierung dieser Lösung findet sich bei Johann Georg Neumann, Theologia aphoristica, 1718 2 , S. 189 f. 2 8 Vgl. oben S. 78. 27 Quenstedt unterscheidet а. а. O. Sp. 259 b „inter negationem DEI exteriorem, quae ore fit, 8c interiorem scientiae & conscientiae, quae fit corde; Multi externe negant Deum, qui tarnen internis stimulis & testimoniis non omnino immunes sunt." Vgl. Anm. 15! 2 3 August Pfeiffer, vgl. oben S. 131, belegt reich mit exegetischer Literatur, daß das hebräische Wort 4ÜN hier wie oft im Alten Testament den Affekt bezeichne; Difficiliorum Scripturae locorum . .., S. 300. Joh. Ulr. Frommann, der seine ganze Schrift über den törichten Atheisten als Exegese von Ps. 14,1 aufbaut, urteilt, die Atheisten leugneten Gottes Existenz, „non quod firmiter credant aut certo sibi persuasum habeant, non esse Deum, sed quia hoc desiderant, Optant, in votis habent.. ., cum illis expediat non esse Deum, vitae male transactae scelerumque vindicem. Dicunt enim non ex corde, sed in corde: dicunt, non probant: Dicunt, sed neque sibi neque aliis persuadent: dicunt non juxta, sed contra Conscientiam: Dicunt non ex animo, sed ex voto: Non est Dem." Atheus stultus, 1713, S. 5. 2 9 1 6 8 5 (nicht pag.; 11. S.). 3 0 Vgl. oben S. 130f. 31 S. 12 f. 25

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lium . . . extra omnen sensum Numinis proiectum fuisse credamus . . 3 2 . N u r äußerst selten wird diese Position aufgeweicht, sofern man von den Sozinianern absieht. Jacob Wilhelm Feuerlein in Altdorf, der die Lehre von der notitia Dei insita modifiziert 33 , äußert sich kritisch gegenüber den Lösungsversuchen seiner Kollegen 34 . Hier und da beginnt jedoch die Erfahrung, sich gegenüber vorgefaßten dogmatischen Meinungen zur Geltung zu bringen. Gebhard Theodor Meier kennt die Diskussion um das Problem, ob es Atheisten geben könne oder nicht. Für ihn selbst steht es außer Frage 35 . Ebenso rundheraus urteilt Johann Petrus Grünenberg: D a ß es Menschen gibt, die im theoretischen Sinn direkt Gott leugnen, „ad solis claritatem liquet" 3 6 . Jakob Friedrich Reimmann, der Verfasser einer Universalgeschichte des Atheismus, bezieht sich einfach auf die Fakten: „Et declarabit universa haec, quam molimur, Historiae Atheisticae idea, dari omnino A t h e o s . . ." 3 7 . Doch diese Urteile kamen zu spät und blieben zu selten, als daß sie für die Diskussion noch hätten ins Gewicht fallen können. Die natürliche Theologie hat den Theologen ein klares Erfassen der gegnerischen Position unmöglich gemacht. Die ungenügende Diagnose mußte einen unvollkommenen Einsatz von Gegenmitteln zur Folge haben. 2. Die These von der Unvernunft

der

Atheisten

D a ß Gott existiere, war f ü r die Vertreter der natürlichen Theologie eine Sache absoluter Selbstverständlichkeit — „omni luce clarius, omni interpretatione notius" 3S . Allein ein Problem daraus zu machen, allein Beweise dafür zu suchen, mußte unter diesen Umständen als dem Sachverhalt inadaequat und gefährlich erscheinen 39 . Justus Lipsius bringt am Beginn seines bereits mehrfach zitierten Briefes an Berchemius in unzweideutigen Worten seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, daß sein Brieffreund ihn nach Beweisen f ü r Gottes Existenz frage: „Quid hoc est 32

33 De Atheismi origine, 1720, S. 12. Vgl. unten S. 192. „ . . . concedo, violentiam quandam requiri, qua instinctus iste reprimatur & aboleatur: impossibile vero id esse, nego atque pernego, inprimis cum experientia contrarium testetur." An existentia Dei sit Veritas indemonstrabilis, 1717, S. 10. 35 „Nobis compertissimum est & fuisse & esse, qui directe, Deum esse, negant." Historia religionum, 1697, S. 13. Er rechnet sogar mit der Existenz ganzer atheistischer Völker, relativiert jedoch S. 17 f. seine Aussage. 36 De Atheorum religione prudentum, 1701, § 21. 37 Historia universalis Atheismi, 1725, S. 8. 38 Philipp Mornaeus, De veritate religionis christianae (1592), S. 1. Von daher legt sich der Begriff der „Selbst-Verständlichkeit" nahe, wie ihn С. H . Ratschow vorschlägt: „Zu den ,Selbst-Verständlichkeiten' dieser Zeit gehört es, daß Gott aus der Wirklichkeit der Welt, als Natur wie als Geschichte, vernommen wird." Gott existiert, S. 28. Gott selbst wird zur „Selbst-Verständlichkeit"! 39 Vgl. oben S. 155 f. 34

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Berchemi? rogare te ut asseram, & rationibus evincam, Deum esse? Sanus es?" 40 N u r der Wahnsinnige kann solch eine Frage stellen! U m nachzuweisen, daß ein Mensch Atheist nicht sein könne, hatte Voet sein Verständnis der cognitio Dei congenita erläutert: Sie ist ihm eine natürliche Fähigkeit, die, sobald sie ihrem Objekt begegnet, nicht anders kann, als dessen Wahrheit einzugestehen, wie beispielsweise das gesunde Auge sein Objekt, wenn dieses sichtbar ist, nicht nicht sehen kann 4 1 . Obwohl Voetius diese „facultas" mit dem Gewissen in Zusammenhang bringt, versteht er sie doch stark als rationale Möglichkeit des Menschen. Calov, durch die Auseinandersetzung mit Flacius gewitzigt, kritisiert an Voetius, daß er die natürliche Gotteserkenntnis als Funktion der Ratio zur Essenz des Menschen rechne und folgere, daß ein Mensch, der ohne natürliche Gotteserkenntnis sei, auch der ratio verlustig gehe 42 . Aber dieser — schwache — Protest verhallte ohne Echo; die natürliche Gotteserkenntnis wurde im Laufe der Diskussion immer stärker mit dem rationalen Vermögen in eins gesetzt. Anfangs warf man den Atheisten nur Mißbrauch oder unvollkommenen Gebrauch der Vernunft vor; nicht im „ratiocinari" bestehe ihre Sünde, schreibt Mornaeus, sondern in ihrem ungenügenden „ratiocinari" 4 3 . Bald aber lautete die Anklage der Theologen auf Unvernunft; den formalen Anlaß dazu bot ihnen wiederum der viel strapazierte erste Vers des 14. Psalms, den inneren Grund das Pathos eines „vernünftigen" Zeitalters. Mersenne erläutert die Bedeutung des hebräischen Begriffs Va]: Es bezeichne einen vom Verstände Verlassenen, einen Menschen ohne Gehirn 4 4 ; der Musikwissenschaftler erinnert an die „Naula", ein Instrument, das durch seine Hohlräume Klang hervorbringe. Während Mersenne noch einigermaßen vorsichtig die rhetorische Frage stellt, wie denn einer, der den Verstand mißbrauche, Gott 40

Datiert 1597; in: Epistolarum selectarum chilias, S. 585. Lipsius (1547—1606), Sekretär des Kardinals Α. P. de Granvella, wurde nach einer kurzen Gastrolle an der Universität Jena reformiert und schließlich wieder katholisch; er lehrte Latein und Geschichte (in Löwen 1592—1606) und vertrat einen Humanismus erasmianischer Prägung. Vgl. M. Dierlickx, in: LThK 6, Sp. 1072, sowie besonders M. Saunders, Justus Lipsius, The Philosophy of Renaissance Stoicism, N e w York 1955. 41 „Consistit autem haec facultas, seu vis, seu aptitudo facultatum rationalium, seu lumen naturale in eo, quod intellectus veritatem principiorum potest sine ullo labore, praevio studio aut ratiocinatione comprehendere, & positis ponendis . . . de facto sie comprehendit, ex naturali quadam necessitate & insito sibi pondere in hunc veritatis sensum atque assensum delatus & i n c l i n a n s . . . " ; Select. Disp., Pars I, 1648, S. 141. 42 Systema, 1655 ff., Tomus 2, S. 97. Auch Calov konnte sich natürlich nicht vorstellen, daß es einen Menschen ohne cognitio Dei naturalis gebe; seine Kritik an Voetius klingt insofern theoretisch und schulmeisterlich; dennoch äußert sich in ihr ein berechtigtes Anliegen. Vgl. unten S. 198. 43 „. . . qui ratiocinando proprie non peccant, sed ratiocinandi defectu; non quia abutantur ratione, sed quia non utantur p r o r s u s . . . " ; De veritate religionis christianae, 1592 (Praefatio, nicht pag.; 1. S.). 44 „. . . significat ratione destitutum, cerebro carentem"; Gn-Kommentar, 1623, Sp. 226 179

solle erkennen können 45 , versichert hundert Jahre später der Coburger Professor Johann Conrad Schwartz, die Schrift selbst behaupte ja, daß die Atheisten unsinnig seien — was also dürfe man von ihnen erwarten 46 ? Je vernünftiger einer ist, desto unerschütterlicher steht ihm Gottes Existenz fest. In Anlehnung an ein Wort Bacons formuliert Johann Friedemann Schneider: „Quanto enim quisque Philosophus melior fuit, tanto minus de Deo dubitavit." 47 Gott existiert: „Die gesunde Vern u n f t lehret es / und die scharfsinnigsten Philosophi habens mit ihrem studieren bewiesen." Mit diesem Satz faßt Theodor Undereyck die Meinung der Allgemeinheit zusammen 48 . Der etwa gleichzeitig mit ihm schreibende Johann Georg Syrbius versteigt sich sogar zu der Behauptung, daß es dann keinen Atheismus gäbe, wenn sich die Menschen nur an das hielten, was ihnen evident ist 49 ! Wenn dem so war und die Vernunft des Menschen, ob sie wollte oder nicht, Gottes Existenz anerkennen mußte, blieb ja tatsächlich nichts anderes übrig, als denjenigen, der Gottes Existenz leugnete, der Unsinnigkeit zu zeihen. Diese Unsinnigkeit war aber dann so grundsätzlicher Natur, daß sie das Wesen des Menschseins beeinträchtigte: Jemand, der sich über ein derart elementares Konstitutivum des Menschseins wie die Ratio hinwegsetzte, durfte dann gar nicht mehr im Vollsinne des Worts als Mensch bezeichnet werden. Er höre auf, Mensch zu sein, behauptet Philipp Mornaeus ganz zu Beginn der Debatte, und er zieht weitere böse Folgerungen aus diesem Sachverhalt 50 ; der Gottesleugner, sagt er, entbehre nicht nur der „mens", sondern auch des „sensus"51, er vergesse sich selbst, seine Bestimmung und sein Wesen 52 . 45

„. . . quomodo enim Deum. ille cognoscet, qui ratione non utitur, sed potius abutitur?" Ebd. S. 227. 46 „Insaniunt Athei Scriptura teste: E x insanis igitur quam tandem exprimas sapientiam?" D e usu et praestantia daemonum . . . , 1715, S. 5. 47 Icon Atheorum, 1698, S. 17. In der Vorrede schreibt er: „Quamdiu prudentes erunt, tamdiu Dei cultores." 48 D e r närrische Atheist, 1722 2 , S. 240. 49 „Iam, ut totius dissertationis istius scopum et rationes exhibeam in summa: si omnes homines bono vero operarentur sincere, neque verum putarent, aut venditarent, quod ipsis non est evidens; nullum haberemus atheismum." D e Atheismi origine, 1720, S. 25. 60 Das „Principium, quod Deus est" sei eindeutig, „quod qui negare, aut in dubium vocare ausit, ut homo esse desinit, ita ex hominum consortio sit propellendus." D e veritate religionis christianae, 1592, S. 3. 51 Belegt durch ein mit Ps. 14, 1 kombiniertes Zitat aus Avicenna: „Qui Deum, inquit, negat, & providentiam eius in omnibus & singulis non videt, non caret m o d o mente, sed & sensu"; die Begründung hierfür ist Mornaeus eine Selbstverständlichkeit: „nimirum quia mundus, quam late patet, sensus omnes D e i cognitione implet, quatenus uno eodemque intuitu universum ex tot tamque variis rebus coagmentatum, consideramus, quae & singulae ad singulas, & universae ad unum referuntur." Ebd., Widmung (nicht Pag·)· „. . . miseri & perditi illi, qui D e u m obliviscendo, se sui oblitos non vident, quia formam naturamque & essentiam suam, quantum in se est, obliterarunt." Ebd. S. 3.

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Theodor Undereyck, am Ende der Auseinandersetzung stehend, unterscheidet sich an diesem Punkt von seinem französischen Vorgänger im Kampf gegen den Atheismus nur durch die Wortwahl: Der Atheist, schreibt er, „handelt wider seine Menschliche Natur", er „verleugnet sein edelstes Wesen" 53 . Wenn der Atheist das klare Zeugnis der Vernunft ablehnt, was unterscheidet ihn dann vom Tier? Die Ratio und die dieser zukommende Gotteserkenntnis wird von den antiatheistischen Polemikern als das unterscheidende Merkmal des Menschen gegenüber der gesamten übrigen Kreatur verstanden. Jedenfalls kommen die Atheisten in ihrer Gotteserkenntnis nicht über das „Wissen" der Tiere hinaus 54 . Der stark aristotelisch argumentierende Lutheraner Valentin Greissing bestreitet dem Atheisten die Bezeichnung „Mensch", weil dieser hinter der Erkenntnis der Tiere und selbst der Teufel zurückbleibe55. Etwa zur gleichen Zeit bedenkt Andreas Hagemann die ethischen Konsequenzen, die der Atheist aus seiner Leugnung der Vernunft und der ihr entsprechenden Gotteserkenntnis ziehen müsse: Solch ein Mensch lebe „wie ein brutum und unvernünfftiges Viehe. Daß wo es müglich were/ daß etwas ein brutum rationale seyn könte / so würde es an einem Atheisten und nach allen fleischlichen Lüsten lebenden Menschen nur am ersten zutreffen / der der Natur nach vernünfftig / dem Leben nach aber brutal und unvernünfftig wird oder werden kan. Denn was ist eben der Unterscheid eines Viehes und eines Menschen als daß der Mensch nicht allein Vernunfft hat / sondern audi nach der Vernunfft und ihrer Vorsdirifft alß ein Mensch leben muß / und nach dem er in moralibus handelt / ihm auch etwas gut oder böse gethan bey gemessen wird / welches dem Viehe nicht geschiehet.. ." 5 e . Johann Musäus, der sich mit dem atheistischen Programm der „Gewissener" auseinanderzusetzen hat, wirft seinen Gegnern vor, sie hörten nicht auf ihr Gewissen, „sondern schlagen gleich den unvernünfftigen Thieren / Ochsen und Eseln / das Mornaeus (Philippe Duplessis-Mornay; 1 5 4 9 — 1 6 2 3 ) wirkte nach einer Reise durch Italien, Deutschland, die Niederlande und England, Heinrich von N a v a r r a nahestehend, als Staatsmann (ab 1589 als Gouverneur von Saumur). Sein apologetischer Traktat, der 1581 französisch erschien, erlebte mehrere Auflagen und Obersetzungen (ins Lateinische, Italienische und Deutsche; ich benutze die Ausgabe Leiden 1592). Vgl. R. Nürnberger, in: R G G 3 II, Sp. 2 8 6 f.; Zöckler, Geschichte der Apologie des Christentums, S. 314 ff. 53 Der närrische Atheist, 1722 2 , S. 2 4 0 f. 5 4 „ . . . certe si quid supra bestias homines isti saperent, nunquam tale quidquam de Deo cogitarent." Vorst, Tractatus (1610), S. 130. 5 5 E r fragt nach dem Subjekt des Begriffs „Atheist": „Illud est homo profanus, rectius forte non hominem vocaveris: sed ne ita digno satis nomine eos appellabis, qui non bestiis tantum . . . sed & Daemonibus deteriores sunt." Die biblische Begründung für diese Beobachtung findet er in Hiob 12, 7 — 9 bzw. Jak. 2 , 1 9 . Exercitatio . . . prior de Atheismo, 1677, § 4. 59 Kurtze Anweisung, 1685, S. 14.

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Gesicht hernieder zur Erden und sagen das / was nicht Menschen / sondern Ochsen oder Esel / wenn sie reden künten / sagen würden / nemlich / es ist kein Gott! Das ist ja Blindheit und Unvernunfft!" 57 . Wenn die Theologen zu solch drastischen Vergleichen aus der Tierwelt greifen, tun sie es nicht aus Geistlosigkeit oder um einer primitiven Polemik willen 58 . Es ist das Menschenbild, die einzigartige Würde des Menschen gegenüber der gesamten übrigen Schöpfung, was sie dadurch retten wollen. Nicht wie Schafe sollen wir nur auf äußere Eindrücke reagieren, meint Jan Jan Bircherodius, sondern wie geistbegabte Menschen sollen wir die Natur um uns her betrachten und unsere Schlüsse daraus ziehen59. Die Theologen befürchten, die Atheisten verwischten den Unterschied zwischen dem Menschen und dem unvernünftigen Vieh auch an anderer Stelle: Sie gestatteten dem Menschen, wie ein Tier nur seinen Begierden zu leben, und schließlich leugneten sie die Unsterblichkeit der Seele 60 ! Der französische Apologet de la Serre bedauert, daß der Atheist elend sterbe „wie ein Vieh / in dem er glaubet / es sey zwischen seiner und eines Pferdes Seele kein Unterschied" 61 . Und der englische Physikotheologe William Derham urteilt, man könne einen Atheisten nur „für ein rechtes Monstrum, Mißgeburt und Ungeheuer unter den vernünfftigen Geschöpffen halten" e2 . Aus all diesen Überlegungen folgerte man, daß es einen wirklichen Atheisten wohl doch nicht geben könne, oder daß es sich dabei mindestens um ein sehr seltenes Exemplar des Menschengeschlechts handeln müsse, dessen Bedeutung man keinesfalls überschätzen dürfe. Wo käme man hin, wenn man von den wenigen Verrückten, die es gibt, ausgehend, die allgemeine Gültigkeit der menschlichen Vernunft in Frage stellen wollte 63 ! Wenn auch der Blinde die Sonne nicht sehen kann, so wäre es doch verfehlt, ihr Vorhandensein deswegen zu leugnen64. In zwei gewaltigen, universalen "

Ableinung, 1674, S. 30.

Mauthner, Der Atheismus, Bd. 3, S. 165, zu der eben zitierten Stelle der „Ableinung": „Als letzte Antwort hat Musäus nur die Schelte, höchstens Ochsen oder Esel könnten sagen, es sei kein Gott." 5 9 „ . . . nec ut pecora sensus saltem externos in illis (seil, die Naturphänomene) figimus, sed ut homines mente p r a e d i t i . . E x e r c i t a t i o n e s contra Atheos, (1660), S. 22. E r wendet sich gegen diejenigen, „qui more pecorum in exteriori naturae aspectu tantum h a e r e n t e s . . . rationem ad superiora extendere n o l u n t . . . " ; ebd. S. 31. 8 0 Der Leipziger Theologe Johann Georg Pritius kommt zu dem Ergebnis: Wenn man den „animus" des Atheisten untersuche, „manifestum erit, eundem cum animantibus ratione destitutis fere convenire in omnibus. N a m & ipse in praesentem vitam se ratus esse editum, sibi suisque cupiditatibus addictus est, & quae genio leocinari possunt, studiose prosequitur; caeterum de vera hominis felicitate, de animi sui tranquillitate nunquam sollicitus." De Atheismo, 1695, Art. X . 8 1 Atheisten Grab (1674), S. 26. 8 2 Physicotheologie (1730), S. 1038. 8 3 Johann Müller, Atheismus devictus, 1672, S. 106. 6 4 „Non dubitamus de sole per solem demonstrando, licet eum coecus non v i d e a t . . . " ; Joh. Petr. Grünenberg, De Atheorum religione prudentum, 1701, § 75. 58

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Beweisgründen glaubten die Theologen ihre Behauptung bestätigt sehen zu können: im „consensus omnium" und im Zeugnis des Gewissens bei jedem einzelnen Menschen. b) Der Consensus

Gentium

1. Die These Die Annahme, man könne Gottes Existenz durch den „consensus gentium" in dieser Frage beweisen, geht auf die Stoa zurück. Viele antiatheistische Autoren berufen sich darauf, daß bereits Cicero der Auffassung gewesen sei, ein Volk, das nicht irgendwelche Götter verehrt habe, gebe es nicht 65 . Sie übernehmen diese Aussage zunächst nicht, weil sie einer objektiv nachprüfbaren Feststellung entsprochen hätte, sondern aus einer gewissen Autoritätsgläubigkeit der Antike gegenüber: D a ß bereits Cicero sich geirrt haben könnte, kommt ihnen nicht in den Sinn. Zudem ließ sich Cicero wunderbar mit Paulus kombinieren, der Rom. 1 , 1 9 ff. das gleiche zu behaupten schien. Die Tatsache einer allgemeinen Offenbarung, von der audi die heidnische Religiosität lebte, war nicht erst in der Auseinandersetzung mit dem Atheismus zum Postulat erhoben worden; sie diente vielmehr als selbstverständliche und scheinbar unerschütterliche Ausgangsbasis in diesem Kampf, in dessen Verlauf sie freilich Modifikationen und die grundsätzliche Infragestellung erfahren mußte. Mit dem Pathos des Unwiderlegbaren fordert Philipp Mornaeus seine Leser auf, den Erdkreis und alle Jahrhunderte zu durcheilen und in den Lagern und Hütten selbst der Wilden nachzuforschen, wie es dort mit der Religion bestellt sei — wo immer er Menschen antreffen werde, werde er auch Gebete und heilige Riten vorfinden, sichere Anzeichen dafür, daß audi hier mit der Existenz eines Numen gerechnet werde M . Und mit dem gleichen Aufwand an Rhetorik formuliert er sein Ergebnis: „Itaque concludamus tandem, cum doctis & indoctis, Graecis & Barbaris, hominibus & brutis, sensibilius & insensibilibus, universo & partibus, Quod Deus est"*7. Der Consensus der Völker und der Jahrhunderte ist umschlossen von dem „Consensus" der gesamten Schöpfung der sichtbaren und der unsichtbaren D i n g e D e r Jesuit Leonhard Lessius nimmt seinen 85

De natura deorum, I, 17. „Percurre enim Orbern, ab ortu ad occasum, a Septemtrionibus ad Austrum: perlustra mente, quotquot antecesserunt saecula: quotquot viguerunt regna, ipsa demum scrutare Barbarorum sive Lustra, sive Mapalia; ubicumque homines inveneris, ibi continuo Religionem & Numinis cultum, ibi Sacrorum ritus, preces denique & sacrificia invenies." De veritate religionis christianae (1592), S. 12. " Ebd. S. 17. 68 Konrad Vorst sieht den Consensus gentium ebenfalls in einem größeren Zusammenhang, wenn er beteuert, der Atheist könne doch nicht ablehnen „& Sensum, Sc Rationem, & totius mundi historiam, & Consensum Universalem . . T r a c t a t u s (1610), S. 3. 69

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ersten Beweisgrund gegen die Atheisten „ex gentium & sapientum confeßione" ββ . Die Behauptung, es gebe keinen Gott, stellt ein Abweichen „a communi hominum sensu" dar 70 . Der Jesuit und der Humanist sind sich in diesem Punkt einig; Justus Lipsius bringt seine Auffassung in dem Wortspiel zum Ausdruck: „alia alibi religio est, ubique aliqua" — wie will sich ein einzelner der Uberzeugung des gesamten Menschengeschlechts widersetzen71? Der Reformierte Heinrich Schmettau scheint dem direkt zu sekundieren, obwohl er seine „Vorrede von dem Atheismo" fast 90 Jahre später geschrieben hat: „Denn ist es nicht eine unbegreifliche Vermessenheit dem zu widersprechen / was alle Menschen / an allen Orten und zu allen Zeiten / unter allen Völckern geglaubet haben" 72 . Besonders die eben aufkommenden ersten „Religionsgeschichten" gehen davon aus, daß es kein Volk ohne eine bestimmte Religion gebe; „tota Religionum Geographia" bezeuge die Existenz Gottes, urteilt Tobias Pfanner zu Beginn seines „Systema Theologiae Gentiiis" 7S . Audi hinsichtlich bestimmter Völkerschaften bringt man das zum Ausdruck. Man nehme nur nicht an, rät Abraham Roger bei der Beschreibung des Gottesdienstes und des Glaubens der Brahmanen, daß „diese Leute insgesamt dem unvernünftigen Vieh gleich wären / und weder von Gott / noch irgend einem Gottesdienst etwas wüssten". Das Gegenteil sei der Fall, unsere Schiffahrt habe das erwiesen, „daß kein Volck so wild und thierisch / aller Vernunft beraubt / auf Erden lebe / das nicht wisse / daß ein Gott s e y . . ," 7 4 . Kilian Rudrauff, der auf diese Frage nur nebenbei zu sprechen kommt, bemüht zwar wie die meisten seiner Kollegen zum Erweis des consensus die einschlägigen Voten der Antike 75 , beruft sich aber nicht auf diese allein: „Accedit experientia" — in der Heiden weit wimmle es geradezu von Göttern 78 . Bei denjenigen Völkern, bei denen man Schwierigkeiten hat, Belege für einen Gottesglauben zu finden, „ O M N E S gentes tarn barbarae quam litteris cultae, omnibus saeculis, quantum ex historiis constare potest," — sie alle haben ihre Tempel, religiöse Zeremonien usw.; De Providentia Numinis, 1617 2 , S. 10 f. 7 0 So Theophil Raynaud, De bonis ас malis libris, 1653, S. 18. E r folgert daraus, daß man sich mit jeglicher Philosophie befassen dürfe, nur nicht mit dem Atheismus (in Anlehnung an ein Diktum des Gregor Thaumaturgos). 69

7 1 Nicht nur in der Alten Welt, „sed in rudi illo novo . . . quis angulum adhuc repperit, quem religio & numen non vindicaret? . . . Universum genus humanum hoc dicit, Sc dixit: quis tu unus alterve es, qui opponis?" Epistolarum selectarum diilias (1597), S. 586.

1685 (nicht paginiert; 17. S.). . Basel 1679, S. 3 4 ; die Formulierung ist von Thomas Browne übernommen. 7 4 Offne Thür zu dem verborgenen H e i d e n t h u m . . . , Nürnberg 1663, S. 218. Zu den Zweifeln, die der Herausgeber in den Anmerkungen dazu äußert, siehe unten Anm. 94. 7 5 Protheoria theologica, 1677, Quaestiones de religione, Qu. I, § 2. 7 » Ebd. § 3, S. 85 f. 72

73

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möchte man wenigstens „gradus huius notitiae" finden77. Immanuel Weber sieht diese Auffassung bestätigt durch die, „so noch heutigen Tages in America zu denen schier gantz viehischen und tummen Völckern in Madagascar / Gusaratte / Brasilien und dergleichen Orthen gekommen"; mindestens den „Schein" eines „Gottesdienstes" hätten auch sie entdecken können 78 . Darüber hinaus suchte man den Consensus auch auf einzelne christliche Glaubensinhalte hin zu spezialisieren. Bereits Charles de Bourgueville weist darauf hin, daß audi die Barbaren, die Juden, Türken, Syrer, Perser, Meder und selbst die Tartaren an die Auferstehung glaubten 79 , und Adam Tribbechow stellt die Übereinstimmung aller Völker im Glauben an eine Weltschöpfung durch Gott monographisch heraus 80 . Paul Stockmann weiß zu berichten, daß die „Amerikaner" bereits vor Columbus die Sintflutgeschichte gekannt, und daß die „Souricosier" (?) in ihren Gesängen sogar das Wort „Halleluja" gebraucht hätten 81 . Alle diese verschrobenen Ideen sollten mittelbar oder unmittelbar die Religiosität der Heidenwelt und die Anerkennung, die Gott in ihr erfuhr, herausarbeiten. Der „Glaube" der Heiden wurde polemisch gegen die Atheisten ins Feld geführt: „Du wirst dich schämen müssen / daß die Heiden in ihrer Finsterniß mehr und besser von Gott gegläubet und geredet haben 1 als du bey so hellem Licht des göttlichen W o r t s . . . " 8 2 . Daß die Vielfalt der heidnischen Religionen ihrerseits den Anspruch des christlichen Glaubens bedrohen konnte und mußte, wurde kaum von einem der Autoren erkannt. Eine rühmliche Ausnahme bildet der Tübinger Theologe Johann Adam Osiander83. Aber seiner Meinung nach Vgl. Gabriel Wedderkopf, De Atheismo, 1665, § 14, S. 16. Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 2, offenbar eine wahllose Zusammenstellung von exotisch klingenden Ländernamen. 7 9 Atheomachie, 1566, S. 151. 8 0 Veritas creationis mundi . . . ad convincendos Atheos, 1668. Hier wird allerdings eine Erklärung notwendig, wie die Heiden, die ja nur ein allgemeines Wissen um Gottes Existenz besitzen, zu konkreten Glaubensinhalten gelangen. Tribbechow stellt zunächst das hohe Alter des Schöpfungsglaubens — er verweist auf Plato und Aristoteles — wie audi seine weite Verbreitung heraus — er denkt an die Druiden und Brahmanen; S. 5 ff. D a die ersten Weltbewohner nodi nidit über eine Schrift verfügten, habe ihnen Gott unmittelbar oder durch Engel das Nötige mitgeteilt; diese Auffassung lasse sich sowohl aus der Edda wie auch aus den Veden erheben; S. 7 f. Daß audi die Heiden die Notwendigkeit einer Offenbarung anerkannten, schließt Tribbechow aus den vielen bei ihnen zu findenden heiligen Schriften, S. 9. Als das Wort Gottes freilich einmal schriftlich fixiert gewesen sei, da hätten die Heiden begierig nach der Wahrheit gegriffen; die Rede von Plato als dem „Moses Attice loquens" (S. 14) kann in diesem Zusammenhang nicht fehlen; S. 9 ff. — Wie das Consens-Argument in der Apologetik hinsichtlich einzelner durch die Aufklärung angegriffener Lehrstücke des christlichen Glaubens eingesetzt wurde, kann hier nicht weiterverfolgt werden. 77

78

81 82 83

Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, S. 92 f. Stodkmann ebd. S. 88 f. Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 118 f.

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gehen die religiösen Auffassungen der Heiden so weit auseinander, daß ihr gemeinsames Festhalten an der Existenz eines Numen wirklich zu einem Argument werde 84 . Johann Petrus Grünenberg findet, gerade angesichts der Vielzahl der Religionen müsse man nach der wahren Religion fragen; im übrigen hätten die Atheisten erst einmal zu lernen, „in genere esse religionem" 85 . Das bezeichnendste Beispiel in dieser Hinsicht liefert Johann Musäus in seiner „Ableinung" der Gewissener86. Er bemüht sich, den Unterschied zwischen dem Naturalismus, wie er ihn bei Herbert von Cherbury repräsentiert sieht, und dem Atheismus, der ihm aus dem Programm der „Gewissener" entgegenschlägt, herauszuarbeiten. Dabei kommt er zu folgendem überraschenden Ergebnis: „Jener / der Naturalisten / fünf Articul sind zwar alle der gesunden Vernunfft gemäß / die unsere wahre und allein seeligmachende Christliche Religion als gewisse und aus dem Licht der Natur allen Menschen bekante Lehren annimt / und für unstreitig hält". Zur Seligkeit reichten sie freilich nicht aus, das habe er, Musäus selbst, nachgewiesen. „Dieser so genannten Gewissener erzehlete Articul aber lauffen wieder die gesunde Vernunfft und eines iedwedern verständigen Menschens Gewissen / und sind allen / so bey gesunder Vernunfft sind / so abscheulich anzuhören / daß schwerlich zugläuben / daß vernünfFtige Menschen denenselben solten beypflichten." 87 Der Deismus mit seinem Postulat einiger religiöser Grundwahrheiten war vernünftig, während der Atheismus jeglicher Vernunft widersprach! Spätestens als solche Überlegungen auftauchten, hätten die Theologen dessen gewahr werden müssen, daß sie auf dem Weg über die Vernunft dem Atheismus nicht beikommen konnten. 2. Die

Verteidigung

Nicht nur die inneren Schwierigkeiten des Gottesbeweises e consensu gentium erwiesen sich als hinderlich: In zunehmendem Maße bedurften die Voraussetzungen, die dem Beweis dienen sollten, selbst des Beweises ihrer Gültigkeit. Je mehr Europa durch Forschungs- und Handelsreisen die Welt eroberte, desto häufiger tauchten in der Heimat Reiseberichte und Abhandlungen über ferne Länder auf, in denen neben anderen Sitten und Bräuchen auch die religiösen Gepflogenheiten der beschriebenen Völker geschildert wurden. In China oder bei den Indianern Nord- und Südamerikas trafen die europäischen Autoren nicht die Form von Reli84 Ebd. S. 121 f. Im übrigen sei aber auch im Heidentum eine Tendenz zum Monotheismus und sogar eine unausgesprochene Affinität zur Trinitätslehre zu beobachten! Ebd. S. 122 f. 85 De Atheorum religione prudentum, 1701, § 75 Ende. 60 87 Vgl. S. 105. 1674; S. 23 f.

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gionsausübung an, die sie vom christlichen Abendland oder von ihrer Kenntnis der Antike her erwartet hatten: Daraus schlossen sie, in den betreffenden Gebieten gebe es offenbar überhaupt keine Religion, dort herrsche „Atheismus". Besonders den Ausführungen eines Jesuiten, der lange Jahre in Peru gewirkt hatte, Jose de Acosta 88 , und der Reisebeschreibung des Jan Huyghen van Linschoten89 entnahm man Andeutungen in dieser Richtung 90 . Theologisch — bzw. gegen die zeitgenössische Theologie — ausgewertet wurden derartige Mitteilungen in vollem Umfang erstmals von Pierre Bayle91 und von John Locke91. Einer umfangreichen Auseinandersetzung war damit der Anstoß gegeben 93 . Doch schon bevor Bayle seine spitze Feder angesetzt hatte, waren sich einzelne Autoren der Problematik einer objektiv an den Phänomenen zu gewinnenden Aufweisbarkeit des Consensus gentium bewußt geworden 94 . Im übrigen hatte theoretisch bereits Fausto Sozzini mit der Existenz von atheistischen Völkern gerechnet95. Die Theologen waren drauf und dran, eines ihrer schönsten Argumente zu verlieren, und mußten sich wehren; sie mußten die geographische und religionsphänomenologische Horizonterweiterung, die ihnen ihre Zeit bescherte, notgedrungen nachvollziehen und logisch wie theologisch ver88

De natura novi orbis et de procuranda Indorum salute, Salamanca 1588. Zu Acosta (1540—1600) vgl. L. Kilger, in: LThK 1, Sp. 113. 89 Linschoten (1563—1611) hatte Reisen nach Indien und in dieKarasee unternommen, die Linschoten-Inseln sind nach ihm benannt. 80 Unter den in diesem Zusammenhang häufiger genannten Reiseberichten befanden sich „Die mittagländischen Schiffahrten" und „Die nassauisdie Reise"; beides konnte von mir noch nicht bibliographisch ermittelt werden. 91 Vgl. besonders Oeuvres diverses, Tome III, La Haye 1727, S. 308—316 (Continuation des Pensees diverses, § 83—88). 92 Essay concerning Human Understanding, 1690, vgl. in der deutschen Ausgabe „Uber den menschlichen Verstand", Berlin 1962, Bd. I, 1. Budi, 4. Kap., § 7ff. (S. 83 ff.). 83 Literatur dazu ist zu finden besonders bei Zacharias Grapo, Theologia recens controversa, 17102, Qu. VI, § I, IV, sowie bei Joh. Christ. Wolf, Atheismi falso suspectos, 1717, S. 17 f. Eine Untersuchung dieser Literatur würde interessante Einblicke in die Geburtsstunde der „Religionsgeschichte" gewähren. Vgl. G. Mensching, Geschichte der Religionswissenschaft, 1948, S. 39 ff. 94 Eine Anmerkung zu Abraham Rogers Beschreibung der Religiosität in der indischen Region „Chormandel" stellt fest: „Wofern die vorhergehenden Wort ins gemein zu verstehen wären von allen und jeden Völkern / auch ausser der Landschafft Chormandel; so solte diß fast etwas zuviel geredt seyn . . . " . Viele Reiseberichte behaupteten das Gegenteil, das der Glossator offenbar auch durch die Zustände innerhalb der Christenheit belegt sieht; er schreibt: „Im übrigen wäre zu wünschen / daß heutiges Tags / audi selbst in der Christenheit / keine mehr gefunden würden / die solcher Meinung zugethan." Offne Thür, 1663, S. 218 f. 95 Praelectiones theologicae, cap. 2; vgl. O. Fock, Der Socinianismus, Kiel 1847, S. 307 f. 187

arbeiten 96 . Wie konnte der Consensus gentium in der Gottesfrage angesichts so handfester Bestreitungen festgehalten werden? Die einfachste Lösung bestand darin, daß man den angeführten Quellen gegenüber Skepsis zeigte. Tatsächlich urteilten ja die auf dem Markt befindlichen Reiseberichte nicht einhellig. Johann Müller belegt seine Überzeugung, daß auch die Wilden in Amerika von Gottes Existenz wüßten, durch ein langes Zitat aus Joh. de Lerys Expeditionsbericht über Brasilien und Tobias Wagner weist darauf hin, daß durchaus nicht alle Autoren die Meinung Acostas teilten; er nennt als Beispiel die Historia Indiae occidentalis von Hieronymus Bentzo (Benzoni) 98 . Die Theologen brachten der mehrfach verbürgten Auffassung Ciceros mehr Vertrauen entgegen als irgendwelchen schwer zu überprüfenden Abenteurergeschichten. Einen guten Einblick in diese Auseinandersetzung und ihre Tragik vermittelt wiederum die „Ableinung" des Musäus. Der Repräsentant der theologischen Fakultät Jena geht darin auf das von Knutzen unter die Leute gebrachte Gespräch zwischen einem Feldprediger und einem Münsterschreiber ein, in dem die atheistischen Artikel der Gewissener entwickelt werden". Der Feldprediger verweist hier, um seinem Gegner die Existenz Gottes nahezulegen, auf Ciceros Consens-Argument; der den Gewissener repräsentierende Münsterschreiber läßt sich dadurch jedoch nicht beeindrucken und antwortet: „Ich halte nicht / daß Cicero an allen Orten gewesen . . . " ; er bezieht sich auf einen gewissen Richerius, der das antarktische Gallien bereist und dort Leute gefunden habe, die nichts von einem Gott gewußt hätten 10°. Ein vorgefaßter und durch Antike oder Christentum legitimierter Grundsatz hat als solcher keine Autorität mehr, wenn er sich nicht durch die Fakten belegen läßt; nicht 96

Gottlieb Spizel allerdings beschränkt sich bei seiner Untersuchung der Verbreitung des Atheismus auf die europäischen Nationen und entschuldigt das mit der Frage: „ . . . quid enim ad nos, qui extra sunt?" Scrutinium Atheismi, 1663, S. 17. Er hat diesen Standpunkt jedoch nicht immer innegehabt; vgl. seinen Commentarius de re litteraria Sinensium, Leiden 1660, sowie D . Blaufuß, Gottlieb Spizel, S. 30—33. 97 Atheismus devictus, 1672, S. 92 ff.: Histoire d'un voyage fait en la terre du Bresil, autrement dite A m e r i q u e . . . , La Rochelle 1578 (es existieren zahlreiche Ausgaben und Übersetzungen; vgl. British Museum General Catalogue 135, Sp. 587 f.). Lery war reformierter Prediger, den es im Zusammenhang mit den Wirren der Gegenreformation in die Neue Welt verschlagen hatte. Vgl. G. Fr. Ochsenbein, Ein Flüchtling der St.Bartholomäusnacht (Jean de Lery), Bern 1885. 98 Examen, 1677, S. 50 f.: La Historia del mondo n u o v o . . . , Venedig 1565 (lateinisch Genf 1578, holländisch Haerlem 1610; französisch Genf 1579; deutsch Basel 1579; von allen Übersetzungen existieren diverse Nachdrucke; vgl. British Museum General Catalogue 15, Sp. 119 ff.). Nach Jöchers Angaben bereiste der Mailänder Benzoni die Neue Welt von 1541—1556; vgl. I, Sp. 979. Die Titelangabe der Reisebeschreibung Benzonis läßt die Reise nur 14 Jahre dauern. — Vgl. ferner Eiswich, Controversiae, 1716, S. 16 f.; Joh. Christ. Wolf, Atheismi falso suspectos, 1717, S. 18 f. 99 100 Vgl. oben S. 105, unten S. 209. Ableinung, 1674, S. 31. 188

das Prinzip erklärt mehr die Phänomene, sondern die Erklärung der Phänomene hilft, wenn überhaupt, das Prinzip zu erkennen. Interessant ist aber nun, wie Musäus darauf antwortet. Er schildert zunächst, wie dumm die Entgegnung des Münsterschreibers sei, da die Römer ein alle damals bekannten Länder umspannendes Weltreich gehabt hätten, muß aber zugeben, daß das antarktische Gallien nicht dazu gehört habe. Dann fährt er fort: „Ich w i l aber itzo n i c h t . . . untersuchen / ob Richerius, der in Gallia Antarctica nicht lange sich aufgehalten / auch des Volcks Sprache / wie er selber gestehet / nicht kundig gewesen / genugsam habe erforschen können / ob nicht etliche / viel oder wenige / von Gott gew u s t . . . " ш . Das heißt: Musäus stellt an Richerius genau die gleichen Fragen, die sein Gegner an Cicero gestellt hatte — er steht mit seinem Widersadier auf derselben Ebene der positivistischen Überprüfung axiomatisch erscheinender Urteile, ohne freilich dessen gewahr zu werden, daß er sich auf ihr nicht würde halten können. Argumente, wie sie Musäus vorgebracht hatte, wurden oft genannt; sie sollten die schmale Basis der gegnerischen Behauptungen aufzeigen: Waren die Autoren der Reiseberichte lange genug im Lande gewesen, um sich solche Urteile erlauben zu können 1 0 2 ? J . A. Oslander nimmt einen gewissen Thomas Herbert aufs Korn. Sollte er sich in den 19 Tagen, von denen er schreibt, die Sprache der Eingeborenen so weit angeeignet haben, daß er über ihr Inneres etwas in Erfahrung bringen konnte 1 0 3 ? Johann Christoph Wolf fragt skeptisch, ob von den Seefahrern überhaupt alle Sorgfalt zur Erforschung religiöser Fragen angewandt worden sei 104 , und Zacharias Grapo hält es jedenfalls für schwierig, die innere Einstellung eines ganzen Volkes zu überprüfen 1 0 5 . Noch Walch ist der Meinung, daß man den Reisebeschreibungen nicht ohne weiteres trauen dürfe l o e . Trotzdem — aliquid haerebat. Mehr und mehr fanden denn die Theologen auch Erklärungen dafür, weshalb es vielleicht tatsächlich schwierig war, bei den Barbaren eine konkrete Gottesvorstellung zu entdecken. Vom Fehlen der äußeren religiösen Geste her dürfe man noch nicht auf das Nichtvorhandensein einer Gottesidee schließen, warnt Oslander107. Bei den amerikanischen „Canisii" etwa gebe es eindeutig die Idee eines höchsten Wesens, aber trotzdem Kult weder für eine Gottheit noch für Dämonen, sekundiert Johann Christoph Wolf. Deshalb sei der Schluß „ex cultus neglectione ad Dei colendi negationem" nicht zulässig 108 . Audi Ebd. S. 32. J. A. Oslander, Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 119 f. 1 0 3 Allgemein auf die Verständigungsschwierigkeiten verweist auch Zach. Grapo, Theologia recens controversa, 1710 2 , S. 32. 104 Atheismi falso suspectos, S. 18 f. 1 0 5 А. а. O. S. 32. 1 0 6 Einleitung, Teil V, 1736, Cap. VII, S. 22. 1 0 7 Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 119. 108 Atheismi falso suspectos, S. 19. 101

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die Chinesen hätten weder Tempel noch heilige Statuen — mit eben dieser Begründung habe man einst die Christen als Atheisten bezeichnet, daran erinnert Johann Georg Syrbius1"9. Vielleicht konnten die Primitiven ihre Gottesanschauung nur nicht formulieren 110 ; war aber dies der Fall, so wurde gerade für sie die Möglichkeit eines theoretischen Atheismus schwer vorstellbar 111 . Auch diese Erklärungsversuche konnten jedoch noch nicht befriedigen. Die Theologen brachten Argumente bei, die den consensus gentium retten sollten trotz der Tatsache, daß es vielleicht hier und da ein paar Wilde gab, bei denen man Gotteserkenntnis schlechterdings nicht finden konnte. Schon angesichts der aus der Antike überlieferten Beispiele von Atheisten mußte man sich dieser Frage stellen. Das erste, was die auf das Universale und Allgemeingültige bedachten Theologen aller Konfessionen beizubringen wußten, war der Hinweis darauf, daß die wenigen Atheisten, die es in der Antike gegeben haben und die es bei den Wilden heute geben mochte, zahlenmäßig doch nicht ins Gewicht fielen. Der Jesuit Leonard Lessius wirft den Atheisten der Antike vor, sie hätten ihre private Ansicht der Überzeugung des gesamten Erdkreises vorgezogen112; schließlich sei nichts so absurd, daß nicht irgend jemand es sich als wahr und vernünftig einbildete113. Noch hundert Jahre später weist der lutherische Theologe Adam Rechenberg auf die „paucitas" der Atheisten hin 114 und Johann Albert Fabricius hält sich darüber auf, daß Bayle nicht mehr Beispiele von Atheisten auf die Beine bringen konnte 115 . Den „Athei" stehen „tot Enthei" gegenüber116; in diesem Sinne kann August Pfeiffer sagen: Selbst, wenn es unter den Barbaren einige atheistische Gruppen geben sollte, „so würde eine Schwalbe noch keinen Sommer / und ein Land der gantzen Welt noch kein Praejuditz machen" 117. 1 1 0 Joh. Christ. Wolf, а. а. O. S. 19. De Atheismi origine, 1720, S. 36. „ubi non moris erat, theorias condere atque per demonstrationes deducere: ne quidem locus esse potuit atheismo theoretico." Syrbius а. а. O. S. 40. 1 1 2 „Cuius ergo vel amentiae vel arrogantiae fuerit, ob leves aliquas coniecturas contra sentire? hoc enim nihil est aliud quam iudicium privatum iudicio totius Orbis & omnium saeculorum anteponere, Sc seipsum omnibus sapientiorem & perspicaciorem facere." De Providentia Numinis, 1617 2 , S. 14 f. 1 1 3 „Nihil enim est adeo absurdum, quod huic vel illi, corrupto mentis sincero (ut sie dicam) palato, Sc perversa Imaginatricis nativa dispositione, verum Sc rationi consonum videri non possit." Ebd. S. 13. 1 1 4 Fundamenta, 1708, S. 11. us Delectus, 1725, S. 299. „Per bene multas centurias, imo millenarios annorum, quam pauca exempla atheorum, veluti monstrorum quorundam in omni veterum memoria annotantur . . e b d . 1 1 6 Biermann, Impietas Atheistica, 1717, S. 112. 1 1 7 Evangelische Christen Schule, 1710, S. 36. Zur zahlenmäßigen Verbreitung des Atheismus vgl. oben S. 36 ff. 109

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Hinsichtlich der Wilden konnte man zudem einen Gesichtspunkt geltend machen, der zur Deutung des antiken Atheismus nichts abwarf: Es waren eben Wilde! Wie mag sich der gewissenlose Gewissener auf das Beispiel der barbarischen gallischen Antarktiker berufen, fragt Musäus, die doch gerade nach der Beschreibung des Richerius „Vihische Unmenschen und Menschen-Fresser" sind 118 ! Zwischen solchen Leuten und den unvernünftigen Tieren bestehe fast kein Unterschied; das Beispiel sei daher als Argument gegen den Consensus gentium völlig ungeeignet119. Die These von der Unvernunft des Atheisten120 wird hier umgedreht; aus dem Satz, der Atheist sei unvernünftig, folgt hier, der Unvernünftige könne Atheist sein. Wenn die Barbaren wirklich keine Gottesvorstellung haben, schließt Valentin E. Löscher, dann ist das nicht ein Zeichen für ihren Atheismus, sondern für ihre „barbaries" m . Man argumentiert mit der Quantität und mit der Qualität der Zeugen für eine allgemeine Gotteserkenntnis; bereits bei Konrad Vorst ist die Intention der Voten vieler späterer Autoren zusammengefaßt: Er schreibt, in der Gottesfrage bestehe ein Consensus „ . . .totius orbis terrarum, aut saltern maximae & nobilissimae partis generis humani.. ," 122 . Ob es sich jedoch bei den Wilden um Atheismus oder Barbarei handelt, die Theologen gehen in der „Erklärung" dieses Sachverhalts noch einen Schritt weiter: Waren diese barbarischen Völkerschaften nicht letztlich selbst an ihrem Zustand schuld? Quenstedt schreibt in Auseinandersetzung mit Sozzinis Behauptung, es gebe atheistische Nationen: „Si verum est, esset hoc ex suppressione, non absentia luminis naturae". Andernfalls wäre der Mensch ja — gegen Rom. 1,20 — unter Umständen entschuldbar 123 ! Zweifellos läßt sich die Gotteserkenntnis vernachlässigen124 oder unterdrücken; Johann Hermann Eiswich meint sogar „eam per intervalla redire" 125 . Gerhard Voss stellt fest, die Heiden hätten es in ihrer Gotteserkenntnis nicht so weit gebracht, wie es auf Grund des lumen naturale an sich möglich gewesen wäre; besonders negativ fallen ihm an diesem Punkt die Peruaner auf . . . 1 2 e . 1 1 8 Ebd. S. 34. 1 2 0 Vgl. oben S. 178 ff. Ableinung, 1674, S. 32 f. „Sint barbari homines, qui pauca, imo fere nihil loquantur & faciant, quod ad sensum cultumque Numinis spectet; id equidem non Atheismo ipsorum, sed barbariei est adscribendum & voluntario neglectui omnium, quae a sensibus distant." Praenotiones, 1713 2 , S. 9 f. 1 2 2 Tractatus, 1610, S. 128. Ebenso konnte gegenüber einzelnen atheistischen Philosophen das Zeugnis der Väter ausgespielt werden; vgl. Joh. Barthold Niemeier, De Atheismi eversione, pars posterior, 1690, Th. CLXII. 1 2 3 Theologia didactico-polemica, 1691, Pars I, Sp. 260 a. Dementsprechend kann es sich nach Tobias Wagner in Ps. 14, 1 nur handeln um „actuosa suppressione habitualis, cordi hominis subjective inhaerentis de Deo notitiae"; Examen, 1677, S. 52. 1 2 4 Vgl. das oben Anm. 121 mitgeteilte Votum von Valentin E. Löscher. 1 2 5 Controversiae, 1716, S. 18. 1 2 6 De Theologia gentili (1668), S. 11 ff. 1,8

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Trotz der vielen Rettungsversuche des Consens-Arguments haben einige Autoren es zu relativieren für nötig angesehen. Samuel Parker äußert sich skeptisch hinsichtlich seiner Beweiskraft 127 ; Burcher de Voider, der dem cartesianischen Ansatz verschworen ist, hält es für wertlos: Es lasse sich leicht bestreiten und schwer beweisen; bereits Seneca habe gesagt „pessimi argumentum esse turbam", und Bacon sei der Meinung gewesen, die Menschen könnten auch dann übereinstimmen, wenn sie alle zusammen verrückt wären 128 . Im deutschen lutherischen Raum ist man nur zögernd bereit, das Ungenügen dieses Arguments einzusehen. Valentin Ernst Löschers Behandlung der Frage verrät einige Distanz 129 ; Wigand Kahler, der Herausgeber von Derodons Atheismus-Buch, merkt an, daß „wir" das Consens-Argument „nicht für das stärckste halten, denn wir haben weit kräftigere" 130 . Um seine Neubewertung bemüht sich monographisch Jacob Wilhelm Feuerlein in der Disputation „De genuina ratione probandi e consensu gentium existentiam D e i . . . " 1 S 1 . Er bringt eine Menge Literatur bei, um über den Stand der Diskussion zu informieren, und erörtert den Kontext des berühmten Cicero-Zitats; er differenziert zwischen „Offenbarungen" und deren möglichen Mißverständnissen und Uberwucherungen; als einer der ersten in diesem Raum wird er sich der Verfahrenheit der Situation bewußt. Er erkennt, daß der Atheist dem Glaubenden ebensoviele Gegenbeispiele vorweisen kann wie das umgekehrt der Fall ist, daß er sogar den Schein der Überlegenheit haben und den Glaubenden der „Petitio principii" verdächtigen kann 132 . Mit dem Consensus gentium als solchem ließ sich nichts beweisen; alles kam darauf an, wodurch dieser Consensus begründet war. 3. Das Problem des

Naturrechts

Durch die ganze Debatte hatte sich jedoch, wenngleich deutlich nebengeordnet, ein weiteres Argument hindurchgehalten. Die Apologeten Disputationes de Deo, 1678, S. 546 ff. 1 2 9 Praelectiones, 1713 2 , S. 4 ff. Disputationes philosophicae, 1685, S. 8. 1 3 0 David Derodon, Widerlegter Atheismus (1733), S. 2 3 2 ; gleichwohl lehnt er Bayles Einwürfe ab. 1 3 1 Altdorf 1717. Jakob Wilh. Feuerlein ( 1 6 8 9 — 1 7 6 6 ) , Sohn des Joh. Conr. Feuerlein, studierte in Altdorf, Jena und Leipzig; nach verschiedenen akademischen Tätigkeiten in Altdorf wirkte er ab 1737 als Theologe in Göttingen. Vgl. A D B 6, S. 753 f. 1 3 2 „Quid si Atheus hisce paucis tuis divinitatis Testibus totidem opponat Atheos, hosque sapientiores reliquis omnibus, a praejudiciis liberiores adeoque fide digniores statuat? Regeris Atheos omnium insipientissimos esse & absurdissimos. Verissime regeris, initium enim sapientiae est timor Domini; sed contra regulas accuratae disputationis impingis: ita enim supponere debes, Deum existere, qua tarnen de re inter te & Atheum adhuc disputatur: hinc argumentatio tua vitiosus circulus vel petitio ejus, quod erat in principio, ab Atheo appellabitur." S. 14. 127 128

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glaubten, nicht nur einen dogmatischen Minimalconsensus aller Völker, nämlich den Glauben an die Existenz eines Numen, sondern auch eine ethische Mindestübereinstimmung aller Menschen feststellen zu können. Theologen aller Konfessionen waren sich darin einig, daß der Mensch über еше moralische Urteilsfähigkeit zwischen „turpe" und „honestum" verfüge, die ihm als Regel f ü r sein Verhalten diene 133 . Wo immer es Menschen gab, schien dieses Gesetz in Gültigkeit zu sein: „non scripta sed nata lex, ad quam non docti sed facti, non praeceptis instituti, sed a natura imbuti sumus." 134 Man postulierte das nicht nur, sondern meinte, es durch die Fakten belegen zu können. Selbst ein Mann wie Hugo Grotius, der kein Interesse daran hatte, irgendeiner Orthodoxie Schützenhilfe zu leisten, weist darauf hin, daß es überall auf der Erde bestimmte Sitten und Bräuche gebe, etwa im Zusammenhang mit der Heirat, und daß überall ein gewisser „pudor circa res Veneris" anzutreffen sei 135 . Einige lutherische Autoren betonen es besonders, daß dem Menschen doch ohne irgendeinen äußeren Zwang klar sei, was als ehrenhaft und was als schändlich gelten müsse 136 . Dieses allenthalben in Geltung stehende Naturgesetz erfordere aber nun auch die Existenz eines Gesetzgebers 187 ; entsprechend setze das moralische Empfinden 1 3 8 den voraus, der alle von ihm erwarteten perfectiones selbst besitze 139 . Belegt werden solche Erwägungen durch einen trotz mancher Varationen in dieser Frage zu beobachtenden „mirus consensus" aller Nationen 1 4 0 , durch die „universalitas" der Sätze des Naturrechts 141 . Selbstverständlich konnten gerade auch solche Behauptungen nicht unbestritten bleiben. Der Sozinianer Franz Cuper bringt die Einwände zum Ausdruck, die der aufgeklärte Zeitgenosse auf Lager hatte: Der Mensch verfüge von sich aus nicht über Maßstäbe dafür, daß er das eine tun und 133

Vgl. Gabriel Prateolus, De vitis . . . (1581), Sp. 73 a. 134 p e t r u s Molinaeus, De cognitione Dei, 1625, S. 5. 135 £) e veritate religionis christianae, 1640, S. 26 f. 136 Johann Barthold Niemeier erläutert, die Kraft, die das Naturrecht im Menschen zur Geltung bringe, sei „directiva", insofern sie im das Naturrecht übertretenden Menschen zur Beunruhigung des Gewissens führe, und „coactiva", insofern sie ihm eine Strafe vor Augen stelle. De Atheismi eversione, pars posterior, 1690, § C X L V I f f . 137 „Atque sie cognitione legis naturae in cognitionem ipsius Dei d e d u e i m u r . . N i e meier ebd. § CL; bereits in der Antike habe man auf diese Weise vom Gesetz etwa auf den Gott Jupiter geschlossen; § C L I I f . Vgl. die bei Gabriel Wedderkopf auftauchende Formulierung: „suggerit natura legislatorem, quia legem habet impressam"; De Atheismo, 1665, S. 18. 138 „Annon enim sua cuique dictat ratio, natura Sc per se rectum aequumque esse, Parentes honorari, aeeeptorum insignium beneficiorum memorem esse gratumque." Franck, Atheus convictus, 1672, S. 14 f. 139 Franck ebd. S. 15 f. 140 Vgl. Justus Christoph Sdiomerus, Collegium, 1703, Cap. I, S. 3. 141 Gerard de Vries, Exercitationes rationales, 1695, S. 23.

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anderes lassen sollte; er finde sich vielmehr mit seinen Leidenschaften vor, deren Beurteilung durch Gott ihm nicht von sich aus bekannt sei 142 . Es falle uns doch sichtlich schwer, Gottes Gebote zu halten — wie sollten sie uns dann schon von der Natur mitgegeben sein 143 ? Zudem seien die Menschen verschieden, mancher sei von Natur aus gern bereit zu helfen, durchaus aber nicht jeder 1 4 4 ! Audi unter den verschiedenen Völkern zeigten sich erhebliche Unterschiede, etwa in sexualethischen Fragen, wenn man beispielsweise an das Problem der Vielweiberei denke 145 ! Die These vom moralischen Minimalkonsens der Menschheit wurde ebenso an der phänomenologisch faßbaren Wirklichkeit gemessen wie die von der Universalität des Gottesglaubens; das sollte an einer Detailfrage besonders deutlich werden. Die antiatheistischen Autoren hatten gelegentlich die Allgemeinheit des Naturgesetzes illustriert am Beispiel der Staatenbildung, die überall zu beobachten sei. Daran, daß es allenthalben zur Bildung von Staaten gekommen sei, argumentiert Lipsius, erkenne man die durchschlagende Kraft des Naturgesetzes, die sich ohne Gott schlechthin nicht erklären lasse 146 . Mersenne weist darauf hin, daß es kein Haus ohne Hausvater und kein Land ohne Fürsten gebe; er sieht die Ordnung unter den Menschen vorgebildet in der Ordnung, die sich auch in der übrigen Welt der Kreatur nach festen Gesetzen vollzieht: „Age vero Athee, solas apes tibi objicio..."147. Die meisten Theologen, die gegen den Atheismus schrieben, verwiesen auf das Moment der staatlichen Ordnung in ganz anderem Zusammenhang 148 ; deswegen ließen sie sich durch die Einwände Hobbes' an diesem Punkte kaum erschüttern149. Christian Kortholt, der Hobbes zu den „drei großen Betrügern" rechnet, stellt erstaunt fest, wie wenig sein Gegner der Vernunft und dem Consensus zutraut 150 . Ebenso überrascht zeigt er sich darüber, daß Hobbes die Entscheidung in Religionssachen den jeweiligen staatlichen Behörden zuteilt; er folgert, daß Hobbes, hätte er in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten gelebt, ja wohl die Christen hätte Arcana Atheismi, 1676, S. 251. 1 4 4 Ebd. S. 254. Ebd. S. 253. 1 4 5 Ebd. S. 259. D a z u kommen für Cuper spezifisch sozinianisdie Einwände: Wird nicht auch nach der Schrift erst durch das Gesetz erkannt, wann menschliches Verhalten Sünde ist? Ebd. S. 252. Cuper kann sich in diesem Zusammenhang nur ein speziell offenbartes Gesetz denken. Wenn die Natur bereits lehre, was der Mensch zu tun habe, wozu habe dann auch Christus Gebote vorgetragen? Ebd. S. 254. 1 4 6 „Atqui falsa aliqua opinatio nec tarn efficax, nec tam diuturna unquam sit: est igitur reipsa Numen." Epistolarum selectarum chilias, S. 586 (1597). 1 4 7 Gn-Kommentar, 1623, Sp. 108. 1 4 8 Vgl. oben S. 137ff. 1 4 9 Zur Auseinandersetzung mit Hobbes vgl. die bei Trinius, Freydenker Lexicon, S. 309 ff. genannte Literatur; ferner J . Bowle, Hobbes and his Critics, London 1951. 150 D e tribus impostoribus magnis, 1680, S. 99 f. 142

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verfolgen müssen, da damals die Kirche als „plebs rebellis" und ihr Glaube als „seditiosa opinio" gegolten habe 151 : Wären bereits den ersten Christen die Theorien des Herrn Hobbes bekannt gewesen, hätte sich mancher unter ihnen das Martyrium sparen können 152 . Schließlich stellt Kortholt ironisch die Frage, ob sich Hobbes selbst seiner englischen Regierung gegenüber an die von ihm aufgestellten Spielregeln halte 153 . Ob Religion und Gesetz überhaupt nur aufgrund „staatlicher" Entscheidung entstanden sein könnten, wird gar nicht erst diskutiert154. Noch Johann Hermann Eiswich meint, der Problematik von Hobbes' Thesen dadurch Herr zu werden, daß er sie analysiert und interpretiert 155 . Wohl erkennt man, daß die Religion damit letztlich aufgehoben werden würde, wenn sie sich nur aus der Anordnung einer Regierung erklärte15®, aber das sei schließlich noch kein Beweis dafür, daß sich die Entstehung der Religion tatsächlich auf diese Weise ableiten lasse. Manche Autoren begnügen sich auch mit der Wiederholung der von ihnen vorausgesetzten Postulate: Jedenfalls könnten nicht alle Gesetze durch die menschliche Gesellschaft gemacht sein, behauptet Johann Ulrich Frommann: „Adam enim ante Evam conditam non fuit exlex." 157 Ungefähr gleichzeitig mit ihm führt Johann Georg Neumann als „probatio" gegen die Hobbes'sche These an: Das Gewissen sei eben nicht dem Magistrat unterworfen, auch erhielten Gottes Gebote ihre Gültigkeit nicht erst durch den Magistrat, und schließlich habe Gott diejenigen Regenten, die die Religion politisch ausnützen wollten, des öfteren grausam bestraft, etwa Jerobeam 158 . Solchen Beweisführungen gegenüber nicht ungeschickt argumentiert Joh. Barthold Niemeier, wenn er die Naturgesetze nicht auf die Politik, sondern darauf, daß der Mensch ein „politisches" Wesen sei, zurückführt: Der Mensch könne nicht für sich allein leben, für das Zusammenleben mit anderen müsse es aber gewisse Voraussetzungen geben159. Johann Georg Pritius fragt an, ob nicht der von Hobbes postulierte Urzustand des Kampfes aller gegen alle gerade dann eintreten würde, wenn seine atheistischen Voraussetzungen einträfen. Müßten nicht die Atheisten sogar dann, wenn es keinen Gott gäbe, wünschen, daß es Unter Berufung auf Prudentius ebd. S. 118 ff. 1 5 3 Ebd. S. 134 ff. Ebd. S. 125 f. 1 5 4 Vgl. auch Michael Berns, Altar der Atheisten, 1692, Vorrede. iss Wenn beispielsweise die Unterordnung unter den, dem ein Mensch seine Existenz verdankt, also Eltern oder Staat, für eine religiöse Entscheidung maßgebend sein soll, erscheint ihm das reichlich kurzsichtig, — und andere ähnliche Argumente mehr: Controversiae de Atheismo, 1716, S. 27 ff. 1 5 8 Vgl. S. Parker, Disputationes de Deo, 1678, Disp. I, Sectio X X V I I I , S. 89 ff. 1 5 7 Atheus stultus, 1713, S. 38. 1 5 8 Theologia aphoristica, 1718 2 , S. 70 f., Aphorisma X V I I I . 1 5 9 De Atheismi eversione, Pars posterior, 1690, § C L V I I f f . 151

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ihn gäbe160? Wäre die Ethik wirklich nur aus menschlichen Nützlichkeitsund Bequemlichkeitserwägungen entstanden, dann dürften Liebe und Barmherzigkeit nicht in ihr vorkommen, schließt Justus Chr. Schomerus ш. Das Naturgesetz war nicht weniger umstritten als die natürliche Religion. Weder das eine noch das andere ließ sich ohne weiteres als Beweis für Gottes Existenz anführen; beides mußte zuvor selbst bewiesen werden. Es stand zur Debatte, ob schlüssig nachgewiesen werden konnte, daß ein allgemeingültiges Prinzip hinter den religiösen und moralischen Äußerungen der Menschheit stand, das sich dann auf Gott zurückführen oder mit Gott identifizieren ließ. 4. Die Auswertung des

Consens-Arguments

Wie war der allgemeine Consensus der Menschheit zu erklären? Mußte man ihn als Ergebnis von Gottes Offenbarung an Adam verstehen, die von den ersten Eltern an über viele Generationen hin an die heutigen Erdenbewohner tradiert worden wäre? In diesem Sinn urteilt Grotius. Nur so kann er die keinesfalls auf das menschliche Urteilsvermögen zurückzuführende Tatsache deuten, daß sich an den erst jüngst entdeckten Küsten ebenso wie in den längst bekannten Ländern Gottesvorstellungen finden, wo immer „aliquid est humanitatis" 162 . Die Traditionshypothese enthielt freilich zahllose Schwierigkeiten: Wie war die Tradition beispielsweise nach Amerika gelangt? Noch ein Mann wie Johann Lassenius ließ sich durch diese Frage nicht in Verlegenheit bringen: Bereits Salomo habe Amerika gekannt; zweifellos sei den „Amerikanern" in irgendeiner Weise der christliche Glaube gepredigt worden; denn sie glaubten an die Auferstehung! Damit sei zugleich der Vorwurf entkräftet, Christus habe niemanden zur Mission in diese Länder ausgesandt, sondern sie „in der äußersten Finsternis und Blindheit sitzen lassen" 163 ; wahrscheinlich seien die Einwohner Amerikas erst in der Zeit nach Christi Geburt dort eingewandert, und schließlich seien auch sie Nachkommen Adams 164 ! Ähnlich weist in anderem Zusammenhang Paul Stockmann darauf hin, daß Gott die Welt dreimal umfassend informiert habe: durch Adam, durch Noah und schließlich durch Christus. Daß die Mission durch die Apostel ιβο PHtius hält mit vielen seiner Zeitgenossen die Religion für das „firmissimum societatis humanae vinculum", vgl. oben S. 137 ff., „ . . . Adeo quidem, ut si vel Deus nullus existeret, Atheis tarnen optandum sit, ut ens ejusmodi esset, quale Deum esse dicimus, cujus imperio atque metu hoc quicquid est humanae universitatis colligetur, saltem ut mitioribus ingeniis imbuantur homines, & efferatos alias mollior vitae consuetudo permulceat." De Atheismo, 1695, Art. X V . 161 Collegium, 1703, S. 3. 162 De veritate religionis christianae, 1640, S. 9 f. 1 6 3 Besiegte Atheisterey, 1693, S. 84. 1 6 4 Ebd. S. 1 5 2 f f . Literatur über Herkunft und Religion der „Amerikaner": S. 157ff.

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nur beschränkte Reichweite gehabt hat, weiß er zu entschuldigen: „wohin ihr Fuß nicht gekommen ist / dahin ist doch ihr Gerüchte kommen." Er beruft sich mit dieser Meinung auf Hieronymus, ohne zu bedenken, daß sich die Geographie seither um einiges verändert hatte 1β5 . Die Traditionshypothese ging unter in der Problematik, in die die Entdeckung Amerikas die Theologen gestürzt hatte, und in den Streitigkeiten um die „Präadamiten" 1 β β . Sie war ohnehin nur eine Randlinie gewesen. Die Mehrzahl der Theologen berief sich auf das dem Menschen angeborene Wissen um Gott, um den Consensus verständlich zu machen. Wie sollte etwas, das über alle Sprachverschiedenheiten hinweg allgemeine Anerkennung erlangt hatte, auf Erfindung oder Betrug eines einzelnen beruhen 167 ? Sollten die Menschen so töricht sein, daß sie sich auf Dauer so etwas vormachen ließen 168 ? Im Sinne einer physikalischen Gesetzmäßigkeit führt der Sozinianer Crell aus, etwas Widernatürliches könne sich nicht so lange durchhalten; zieht man Wasser von seiner Hitzequelle ab, so kehrt seine Temperatur unweigerlich wieder zu dem vor der Erhitzung innegehabten Stand zurück 169 . Den Einfluß politischer Gewalt schließt er aus, weil gerade sie Martyrien provoziert und dadurch indirekt die Religion gefördert habe. Außerdem liege einer Obrigkeit nicht am Glauben an eine Gottheit schlechthin, sondern an der Durchsetzung einer bestimmten Religion 170 . Ließ sich der Consensus auf einen natürlichen Instinkt zurückführen 171 ? Die Sozinianer lehnten diese Auskunft im allgemeinen ab. Franz Cuper legt seinem Misalethes die Beobachtung in den Mund: „naturalis ratio non dictat existere Mundi Creatorem, sed potius contrarium" — und folgert, daß der Consensus gerade deswegen um so erstaunlicher sei 172 ! c) Die Cognitio Dei Insita 1. Der

Ansatz

Die Apologeten beantworten die Frage nach der Herkunft des consensus gentium in weitgehender Ubereinstimmung mit der Behauptung einer „cognitio Dei naturalis", die jedem Menschen als solchem mitgegeben oder eingepflanzt sei (notitia Dei acquisita) 173 . In Auseinandersetzung mit dem Atheismusproblem verteidigt Voetius diese Position gegen Fla165

Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, S. 90 ff. Einen ersten Einblick in die einschlägige Literatur vermittelt Trinius, Freydenker Lexicon, S. 389 ff. 167 Joh. Georg Pritius, De Atheismo, 1695, Art. I. 168 Bircherodius, Exercitationes contra Atheos (1660), S. 30. 169 170 Liber de Deo, o. J., Sp. 49. Ebd. Sp. 49 f. 171 172 „naturae instinctus", ebd. Sp. 48. Arcana Atheismi, 1676, S. 231. 173 Vgl. С. H . Ratschow, Lutherische Dogmatik, Teil II, S. 29 ff. 1ββ

197

cius einerseits und die Sozinianer bzw. Remonstranten andererseits, in Ansätzen auch bereits gegen den frühen Sensualismus. Dabei konzentriert sich die Debatte zunächst auf die Frage der „cognitio Dei naturalis congenita", wie er sie nennt 174 . Er wirft Flacius vor, daß er in seiner Stellungnahme „pro corruptione naturali, contra praetensum liberum arbitrium" sich gelegentlich so ausdrücke, daß er die „notiones impressae" zu leugnen scheine175. Eine Andeutung über das Ungenügen der angeborenen Gotteserkenntnis findet Voetius auch bei Molinaeus170. Er untersucht ferner sowohl die sozinianische Anschauung, daß es eine solche angeborene Gotteserkenntnis nie gegeben habe, wie auch die remonstratensische, daß jedenfalls einige Menschen sie verloren hätten 177 . All diesen Einwänden gegenüber stellt er die Behauptung auf, es gebe eine „cognitio Dei congenita", die freilich nicht immer „actualis" sei (ζ. B. beim Kind), die auch nicht mit dem intellektuellen Vermögen des Menschen identifiziert werden dürfe, sondern am besten als eine habituelle Fähigkeit zu verstehen sei und die, sobald ihr die Begriffe eines gültigen Prinzips vorgelegt würden, ganz von selbst, ohne Beweisführung notwendig zu dessen Anerkennung gebracht werde 178 . Er begründet diese seine Behauptung durch den „Ausweis" der Absurdität der Konsequenzen, die sich aus der gegnerischen Position ergäben: Erstens widerspräche das dem Zeugnis der Schrift; zweitens müßte es dann Menschen ohne Gewissen geben, was ausgeschlossen ist; drittens wären die Menschen in diesem Fall den Teufeln unterlegen, die ja nach Jac. 2 , 1 9 Gotteserkenntnis besitzen; viertens spreche die „experientia universalis" und der „consensus gentium" dagegen; fünftens wäre der Mensch dann entschuldbar, was Rom. 1,19 ff. widerlegt; sechstens würde das nur Wasser auf die Mühlen der Atheisten bedeuten; siebtens würde das die Auseinandersetzung mit den Sozinianern schwieriger gestalten179! Durch dieses Konglomerat von Argumenten soll zunächst allgemein die Grenze markiert werden, die dem Atheismus durch die natürliche Gotteserkenntnis gesetzt ist. Select. Disp., Pars. I, 1648, S. 140. Ebd. Das hatte Mersenne dem Flacius in einer über viele Seiten hin sich erstreckenden Erörterung so stark angekreidet, daß er ihn zum Atheisten erklären konnte; GnKommentar, 1623, Qu. I, Art. IV, Sp. 235 ff., wie auch viele, besonders lutherische, Autoren aus ähnlichem Grunde die Sozinianer zu Atheisten stempelten, siehe Anm. 52 zu S. 4 6 ; vgl. Gabriel Wedderkopf, De Atheismo Socinianorum, 1665, § 3 f. J. W. J ä ger, Franciscus Cuperus . . ., Tübingen 1710. 1 7 6 А. а. O. S. 140. Dieser behauptete nämlich, Gottes Existenz sei nicht im gleichen Maße evident wie andere Prinzipien; wie ζ. B. der Satz, daß das Ganze größer sei als sein Teil; De cognitione Dei, 1625, S. 33. 1 7 7 А. а. O. S. 145. 1 7 8 Ebd. S. 141. Voetius vermag nicht, die „potentia intellectiva", die er von der „cognitio congenita" abhebt, genügend abzugrenzen gegen die „aptitudo facultatum rationalium", als die er die angeborene Gotteserkenntnis versteht, ebd. Das hat ihm 1 7 8 Ebd. S. 143 f. die Kritik Calovs eingebracht; vgl. oben S. 179. 174

175

198

Im Laufe der Disputation wendet er sich auch seinen sozinianischen und remonstratensisdien Gegnern im einzelnen zu. Die sozinianische Position lehnt er ab: Erstens, weil sich der Intellekt aus dem Menschsein nicht ausklammern lasse und Gotteserkenntnis eben damit gegeben sei, zweitens, weil aus seinem Ansatz folgt, daß ein Mensch ohne Gotteserkenntnis zum Tier degeneriert werde, und drittens, weil er der Berufung der Sozinianer auf ihr subjektives Gewissen nicht zustimmen kann: In diesem Falle gebe es ja keinen Weg mehr, die Gültigkeit angeborener Prinzipien zu beweisen 180 . Den Remonstranten, die der Meinung sind, Gott lasse sich nur durch die Offenbarung des Alten und Neuen Testaments als existent nachweisen, hältVoetius vor: Erstens verzichteten sie damit auf wesentliche Hilfsmittel im Kampf gegen den Atheismus 181 , sie verspielten damit „totam fere methodum probandi Deum" 1 8 2 . Sie übergingen zweitens Prinzipien, ohne deren Hilfe ein Beweis gegen Atheisten nach Meinung aller antiatheistischen Apologeten nicht möglich sei, und sie könnten drittens mit der Bibel denen gegenüber nichts ausrichten, die dieser die Anerkennung von vornherein versagten 183 . Durch den Einspruch der Remonstranten sieht Voetius besonders die cognitio Dei acquisita gefährdet, während er doch die von Dionysius empfohlene via causalitatis als Gottesbeweis bestätigt findet „automate & exemplo spir(itus) s(ancti)", nämlich durch eine ganze Reihe von Schriftstellen, „in quibus ipsum Deum, prophetas, apostolos hac methodo disputantes audies" 184 . Außerdem hätten viele Atheistenbekämpfer diese Methode mit Erfolg angewandt. Die natürliche Gotteserkenntnis 185 , eine sonst scheinbar friedliche und beschauliche Provinz der Theologie, wird hier mit zäher Energie verteidigt und polemisch ausgebaut zu der entscheidenden Stellung gegen die Angriffe des Atheismus. Die Auseinandersetzung der reformierten und lutherischen Theologen mit den Sozinianern kann hier nur interessieren, soweit sie im Rahmen der Atheismus-Bekämpfung geführt wurde 186 . Auch die Sozinianer haben ihre Position auf den Kampf gegen den Atheismus zugespitzt. Franz Cuper zeigt von seinem Ansatz und seiner Erfahrung her Ebd. S. 146 f. „Ita difflatur & süperbe contemnitur, quidquid omnium Theologorum, Philosophorum, Philologorum ingenia hactenus comportarunt." Ebd. S. 170. 1 8 2 Ebd. S. 169. 1 8 3 Ebd. S. 170. 1 8 4 Ebd. S. 172. 1 8 5 Knapp und übersichtlich wurde die Darstellung der „naturhaften Gotteskenntnis" in der orthodoxen Dogmatik zuletzt wiedergegeben von С. H . Ratschow, Gott existiert, S. 30 ff. 1 8 6 Zur Lit. vgl. Valentin Greissing, Exercitatio posterior, 1677, Sectio II, Probl. I, § 1; Quenstedt, Theologia didactico-polemica, 1691, Pars I, Sp. 255 b f.; vgl. außerdem H . - W . Gensichen, Die Wittenberger antisozinianische Polemik. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung von Humanismus und Reformation, Göttingen 1942 (masch.), S. 99 ff. (Dort weitere Lit.). 180 181

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die Haltlosigkeit vieler üblicher Argumente auf, um herauszustellen, was sich wirklich theologisch gegen den Atheismus vorbringen läßt 1 8 7 . Die Vertreter des Sensualismus, die sich als Apologeten gegen den Atheismus betätigen, versuchen ebenfalls, ihren Ansatz als den in der T a t zulässigen Grund gegenüber der Gefahr des Agnostizismus herauszuarbeiten 1 8 8 . J . Thomasius möchte seine sensualistische Erkenntnislehre ebenso an Rom. 1 und 2 exegetisch decken wie Cuper seine Ablehnung jeder natürlichen Theologie im Sinne eines Beweises 189 . W o stand der Theologe in seinem Kampf gegen den Atheismus auf wirklich unerschütterlichem Fundament: auf dem Boden des gesunden Menschenverstandes, der natürlichen Gotteserkenntnis, der Schrift? Die Lutheraner glaubten, hier keine Alternativen sehen zu müssen. Im Gegenteil, die Alternativen mußten vermieden werden. Die Frage konnte nicht lauten, ob sich Gott aus der übernatürlichen oder der natürlichen Offenbarung, und hier wieder, ob er sich aus einer angeborenen oder erworbenen Erkenntnis heraus beweisen lasse: Die Wahrheit war eine! Man berief sich also besten Gewissens auf Paulus 1 9 0 ; Tobias Wagners gesamtes „ E x amen" gibt sich als Auslegung von Rom. 1 ш . Die Schrift und die Väter 1 9 2 , Um sich Raum für sein eigenes Vorgehen freizuschießen, macht er den Vertretern der natürlichen Theologie die biblische Begründung ihres Ansatzes streitig: Ps. 19, 2—7 wende sich an die bereits glaubenden Juden; nur ein Zeichen für den Ruhm Gottes, nicht aber ein Beweis für seine Existenz werde hier genannt. Act. 17, 26 f. wende sich gegen den heidnischen Aberglauben, nicht gegen den Atheismus; w o Gott ist, werde hier angezeigt, nicht, d a β er ist. Rom. 1, 20 f. gehe es ebenfalls um Menschen, die Gott kennen: Gottes Gottheit und Macht sollten sie aus der Schöpfung erschließen. Ebenso spreche Paulus Rom. 2 , 1 4 f., 26 f. Menschen an, die bereits an Christus glaubten. Arcana Atheismi, 1676, S. 244 ff. 1 8 8 Wenn man sich in der Villa Hortensii aufhalte, dürfe man eben tatsächlich annehmen, daß man sich in Rom und nidit in Puteoli befinde, wie es denn für das tägliche Leben recht wichtig sei, seinen Sinnen zu trauen und nicht zu verwechseln, ob man sich auf dem Meer oder auf dem Land befinde; Sam. Parker, Disputationes de Deo, 1678, S. 499 ff.; vgl. Disp. VI, Sectio I V — V I I I . 189 Historia Atheismi (1713), S. 2—12. Gottes Name und Gottes Attribute seien „a rebus creatis" genommen; ebd. S. 11. 1 9 0 „ . . . qui tum ex innata notitia, tum ex acquisita per contemplationem mundi pariter atque hominis nobilissimae in terris, creaturae divinitatem quandam deducit." G. Wedderkopf, De Atheismo, 1665, S. 17. 191 Laßt uns beweisen, dazu ruft er auf, „quae sic manu ducente nos Apostolo, de Deo ex mundi fabrica contra Atheos probanda v e n i u n t . . . " ; 1677, S. 25. Als Disposition seiner Beweisführung ergibt sich für ihn aus Rom. 1 (ebd.): 187

„1. 2. 3. 4. 5. 192

Ex Ex Ex Ex Ex

finitate Mundi, Dei existentia. magnitudine Mundi, Dei Omnipotentia. ordine & pulchritudine Mundi, Dei investigabilis sapientia. conservatione Mundi, Divina Providentia. perfectione, divinae bonitatis inexhausta affluentia."

J . A. Oslander, Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 106 ff.

200

„recta ratio" u n d Schrift 1 9 3 rechtfertigen dieses V o r g e h e n . A r g u m e n t e der natürlichen T h e o l o g i e u n d der Schrift stehen friedlich n e b e n e i n a n d e r , w o b e i d i e P r ä v a l e n z der Schrift f o r m a l g e w a h r t bleibt: S i e a r g u m e n t i e r t ja selbst a n m a n c h e n S t e l l e n i m S i n n e der natürlichen T h e o l o g i e 1 8 4 . W i e w i r d d i e natürliche T h e o l o g i e n u n i m e i n z e l n e n g e g e n d e n A t h e i s m u s eingesetzt und formuliert? 2. Das Lumen

Naturale

W i e G o t t der g e s a m t e n S c h ö p f u n g in allen ihren E i n z e l h e i t e n u n v e r k e n n bar sein Meistersiegel a u f g e p r ä g t h a t 1 9 5 , h a t er i n s b e s o n d e r e d e m M e n schen eine V o r s t e l l u n g v o n der E x i s t e n z seines S c h ö p f e r s e i n g e g e b e n 1 9 6 : D a s ist, v o n d e n S o z i n i a n e r n abgesehen, d i e g e m e i n s a m e U b e r z e u g u n g der T h e o l o g e n des 17. J a h r h u n d e r t s , die sich bis ans E n d e der A u s e i n a n d e r s e t z u n g d u r c h g e h a l t e n h a t 1 9 7 . D i e P r e d i g e r b r i n g e n es in der Sprache der G e m e i n d e z u m A u s d r u c k : „Es w i s s e n alle M e n s c h e n v o n N a t u r d a ß ein g e w a l t i g e s grosses W e s e n sey / welches w i r ehren / l i e b e n u n d fürchten sollen / o b sie gleich nicht w i s s e n / w a s u n d w e r es eigentlich sey." 198 I n d i e s e m S a t z des H a m b u r g e r P f a r r e r s J o h a n n Müller s c h w i n g e n noch beide E l e m e n t e m i t , die i m L a u f e d e r eigentlichen t h e o l o g i s c h e n D i s k u s sion i m m e r stärker a u s e i n a n d e r t r e t e n s o l l t e n , das des V e r s t a n d e s u n d d a s 193

Bircherodius, Exercitationes contra Atheos (1660), S. 31. Nach Joh. Petr. Grünenberg, De Atheorum religione prudentum, 1701, lehrt uns die Schrift, Gott zu beweisen I. „in genere ex totius naturae sensibilis observatione" (§ 66), II. „in specie ex rerum quarundam invisibilium necessitate", auf Grund der Phänomene von Zauberei und Besessenheit (§ 67), III. „ex iis, quae non tantum invisibilem, sed Sc simpliciter Divinam naturam arguunt", wie Wunder oder Prophezeihungen (§ 66), IV. „Ex ipsius tandem hominis natura, Sc circumstantiis..." (§ 69). Alle diese Argumente werden reich mit Schriftstellen belegt. Da die Offenbarung dem Christen höchste Autorität ist und da die unverfinsterte menschliche Vernunft Gott zeigt „quasi manu tangendum in natura", sind die Argumente, die die Schrift uns zur Erwägung vorlegt, so beschaffen, daß sie den Gegner „ad humanitatis, quam exuisse videtur, jura revocare possint, non ut semper eo adigatur atheus, ut ea sibi sufficere confiteatur, quis enim non facile queat veritati verba opponere? sed ut semper convincatur, nullam in doctrina sua de Deo negato esse veritatem, aut certitudinem, sed e contrario Deum necessario requiri." (§ 69, 2. Nennung). 195 „ . . . vestigium, Sc quendam majestatis suae είκονισμόν impressit", in einer weit evidenteren Weise, als das etwa Phidias gelingen konnte, urteilt Daniel Tilenus, Syntagma, 1607, S. 70. 196 J. A. Oslander rühmt die Vorsehung Gottes, „qua Deus vult nobis inesse quendam de sui existentia typum, Sc conservat etiam sub Tyrannide, sub captivatione, sub cineribus legem aliquam, primitus cordibus nostris inscriptam . . D e u s in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 92. 197 Joh. Friedem. Schneider stellt in der Vorrede seiner Icon Atheorum, 1698, gelassen fest: Ein Baum falle nicht nach einem Schlag, viel weniger lasse sich durch den einen oder anderen Versuch die „notitia Dei" auslöschen — „menti humanae alte impressa". S. 3 f. Immerhin stimmt einen der Vergleich mit dem Fällen des Baums bedenklich! 198 Johann Müller, Atheismus devictus, 1672, S. 68. 194

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des Gewissens. Man empfand von Anfang an, daß das Wissen um Gott eine rationale und eine „metarationale" Seite haben mußte. Anfangs konnten diese beiden Gesichtspunkte noch als einander stützend aufgefaßt werden. Der Jesuit Leonhard Lessius beispielsweise meint, der Satz von der Existenz Gottes sei der Vernunft so einleuchtend, daß der Mensch gleichsam instinktiv seine Wahrheit zugeben müsse199. Bald aber stehen der Befund des Verstandes und das Zeugnis des Gewissens parallel nebeneinander. Bereits Vorst, der die notitia Dei insita ablehnt, teilt seine Argumente ein in „Rationes", für ihn die Schöpfungswerke (Gottes „opera mansueta") und die Wunder (Gottes „opera extraordinaria"), und in „Auctoritates", für ihn das Gewissenszeugnis und der Consensus gentium 200 . Wenn die Atheisten Gott leugnen, dann können sie das nach Voet nur tun „reclamante ipsorum animo & obluctante conscientia" 201 . Die Trennung wird immer pointierter ausgesprochen; alles was die natürliche Theologie zu sagen hat, läßt sich schließlich unter diesen beiden Aspekten zusammenfassen 202 ; „Scientia" und „Conscientia" werden zu den beiden Blättern des „Liber Naturae", die Gottes Existenz eindeutig darlegen 203 . Das eine wie das andere reichte für sich genommen ohne weiteres dazu aus, die Existenz Gottes nachzuweisen. Daß dies eben auch für das „lumen naturale" allein zutraf, schien den Atheistenbekämpfern des 17. Jahrhunderts besonders wichtig204. Zur Charakterisierung des anthropologischen Ortes der „notitia Dei insita" waren von den Polemikern verschiedene Begriffe gebraucht worden — mens, animus, ratio, lumen naturale. Sie wären an sich dazu angetan gewesen, einen platten Rationalismus in der Gottesfrage fernzuhalten. Dennoch fielen die Theologen in ihrem Bestreben, den atheistischen Fragestellungen gerecht zu werden und ihre eigene Position unangreifbar zu machen, dem rationalistischen Ansatz ihrer Gegner zum Opfer. Auf die Intellektualisierung des Vernunftbegriffs bei Voetius ist bereits hingewiesen worden 205 . Für Voetius lag die Behauptung, daß Gott sei, auf der Ebene anderer Prinzipien, die „absque discursu aut demonstratione" gal199

„. . . ita tarnen lumini rationis est consentanea, ut & ex ipsis terminis statim appareat verosimilis, & mens in eius assensum inclinet, & lingua in eius confessionem erumpat occulto quodam i n s t i n c t u . . . " ; De Providentia Numinis, 1617 2 , S. 13. 200 201 Tractatus, 1610, S. 120. Select. Disp., Pars I, 1648, S. 144 f. 202 Deurn vero esse in rerum natura, sufficienter probant duo potissimum argumenta, ex quibus reliqua, quae forte adduci possent, fluunt. Primum sumitur ex mundi machina . . . Alterum vero ex propriae conscientiae dictamine." Paul Slevogt, Disputationes academicae, Jena 1679, S. 1223. 203 J. A. Scherzer, Systema Theologiae, 1698, S. 35 f. 204 Aus der Sicht der Apologeten ist „natürliche Theologie" also durchaus ohne das „Zugleich" der „Offenbarungserkenntnis" denkbar; vgl. dagegen Ratschow, Gott existiert, S. 52. 205 Vgl. oben S. 198.

202

ten, ja sie war solchen universalen Sätzen gegenüber nur eine Partikularaussage 206! Deswegen muß die Aussage, daß Gott sei, fortan konkurrieren mit der Feststellung, daß das Ganze größer sei als sein Teil 207, daß etwas nicht zugleich sein und nicht sein könne, daß ein Kreis einen anderen Kreis in einem Punkt tangiere208. Die Atheisten, die sich gegen diese Vereinfachung verwahren, argumentieren „frömmer" als ihre theologischen Gegner: Gott, wenn es ihn gäbe, sei dann doch jedenfalls der, „quo majus cogitari non potest" 209. Man entgegnete ihnen gelegentlich mit der alten scholastischen Unterscheidung zwischen dem, was „per se" und dem, was 206

Select. Disp., Pars I, 1648, S. 141 f. Das Prinzipienschema, in das der Satz von Gottes Existenz bei Voet unter Berufung auf scholastische Traditionen eingestellt wird, lohnt die Vergegenwärtigung: Die von vornherein schlechthin einsichtigen Prinzipien sind teils „theoretica", teils „practica". Die theoretischen gliedern sich unter in „universalia" (wie: Nichts kann zugleich sein und nicht sein) und „particularia"; nämlich: „primo primum: Deus est. Secundo primum: creator est, gubernator est, judex est." Die entsprechende Untergliederung gilt für die „praktischen" Prinzipien: Das „universale" ist hier: „bonum est faciendum, malum fugiendum"; die „particularia" lauten: „primo primum, Deus recte colendus est: Secundo prima, quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris & c." Ebd. S. 142. Graphisch dargestellt, sieht das so aus: universalis: metaphysische Elementarbestimmungen

, theoretica

I

L

primo primum: Deus est

{

secundo primum: Deus est creator & с.

Principia universale: moralische Elementarbestimmung practica . , . / ria I particularia

primo primum: Pflichten gegenüber Gott secundo prima: Pflichten gegenüber dem Nächsten

An diesem Schema wird deutlich, daß nicht der Satz von der Existenz Gottes die Prinzipienlehre organisiert, sondern daß umgekehrt die Prinzipenlehre den Satz von der Existenz Gottes bestimmt. D a ß Gott ist — charakteristisdierweise getrennt von der Bestimmung, wer er ist! — diese Aussage erscheint wohl irgendwann im Verlauf des Verfahrens, aber es ist keineswegs dessen Ausgangspunkt. Eine Prinzipienlehre, die von Gottes Sein ausgegangen wäre, hätte statt dessen von hier aus verschiedene Weisen des Seins in den Blick bekommen können. Aber dieser Gedanke taucht kaum je auf; vgl. Philipp Mornaeus, De veritate religionis christianae (1592), S. 3 f., sowie unten S. 283. 207 Vgl. Mornaeus ebd. S. 1; der Gottesleugner wird damit ganz von selbst zum „principia negans", gegen den man nicht disputieren kann. 208 „Pari modo", führt Gerard de Vries aus, sei dem Menschen der Satz „Deus existit" einsichtig, wenn er nur verstanden habe, was die einzelnen Termini beinhalten; beide Aussagen seien von gleicher „conditio"; Exercitationes rationales, 1695, S. 22 f. 209 Vgl. Sebastian Niemann, Atheus refutatus, 1668, S. 12. Vgl. Anm. 176.

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„quoad nos" bekannt ist 2 1 0 . Das an sich Bekannte läßt sich ihrer Meinung nach ohne Schwierigkeiten auch in die aktuale Kenntnis des einzelnen Menschen einbringen, da jeder Einsichtige es zugeben muß, sobald er sich nur den Sachverhalt vergegenwärtigt hat. Auch ohne durch jemanden darüber unterrichtet zu sein, muß es ein Mensch anerkennen 2 1 1 — wenn er von außerhalb der Welt käme, müßte er es auf den ersten Blick eingestehen 212 . Hinsichtlich der Existenz Gottes geht es also um eine Frage, zu deren Lösung man nicht des Heiligen Geistes bedarf 2 1 3 . Insofern ist die Annahme, daß es Gott gibt, eine Sache des gesunden Menschenverstands und strenggenommen keine geistliche Erkenntnis; sie trägt ja auch noch nicht zu unserem Heile bei 2 1 4 . Logisch freilich ist die Existenz Gottes so eindeutig und selbstverständlich, daß sich für einige Theologen das Problem erhebt, ob sie überhaupt bewiesen werden könne. In diesem Falle müßte man ja ein Argument suchen, das uns noch näher und einleuchtender wäre als Gottes Existenz selbst, die dadurch bewiesen werden sollte 215 . Die Atheisten leugnen, „quod darum, evidens, et certum est"; einen Beweis erst anzutreten, erscheint dem späten Tübinger Atheistenbekämpfer Johann Ulrich Frommann als überflüssig und in gewisser Weise unrecht21®, aber um seiner Gegner willen stellt er sich ohne Zögern dieser Aufgabe, zumal es seiner Meinung nach Argumente für Gottes Existenz in Hülle und Fülle gibt 2 1 7 . Eine „veritas indemonstrabilis" könnte Gottes Existenz nach Jakob WilVgl. Sebastian Niemann, a . a . O . S. 13; J . W . Jäger, Theologia naturalis, 1684, S.3ff. 2 1 1 Nach Gabriel Wedderkopf ist Gottes Existenz so klar, „ut citra ullum discursum admittatur ab eo, . . . cujus intellectus antea vel institutione parentum aut praeceptorum cognitione huius propositionis non fuerit imbutus." De Atheismo, 1665, S. 21. 2 1 2 Niemann, Atheus refutatus, 1668, S. 18. 2 1 3 Paul Slevogt löst sie im Rahmen der Erwägung, „quid & quantum homo sibi relictus Sc a Spiritu sancto non illustratus, ex sese, solo naturae lumine, in divinis rebus . . . assequi vel intelligere valeat." Disputationes academicae, 1679, S. 222. 2 1 4 Quenstedt Theologia didactico-polemica, 1691, Sp. 2 6 0 b : „Non omne, quod de rebus divinis scitur, est res spiritualis, sed ea, quae ad nostram conversionem Sc salutem conquiruntur. . . Ergo Dei existentia & aeternitas &c. stricte loquendo non sunt res spirituales." 2 1 5 Nur „quoad nos" sei das möglich, führt J . W. Jäger aus, bevor er sich dann doch auf Argumentation einläßt: „Intelligimus demonstrationem per aliquod praedicatum Deo intrinsecum nobis notius quam sit ipsa Existentia Dei (quid enim erit illud? vel qua via magis nobis innotescere potuit, quam ipsa Existentia D e i ? ) . . . " ; Theologia naturalis, 1684, S. 8, Vgl. oben S. 155. 2111 „Hinc operose veritatem hanc, quae propria luce radiat, velle demonstrare, supervacaneum foret, & tantum non cum aliqua lectorum injuria conjunctum; poenis enim potius compescendus, quam argumentis refellendus, qui adeo nullam rationis rationem habet, ut ipsam quoque primam rationem ejuret." Atheus stultus, 1713, S. 25. 2 1 7 „Multa enim, imo infinita fere sunt argumenta, quae pro Existentia Summt Entis militant, eamque invicte demonstrant. Nihil enim tarn exiguum, nihil tam excelsum, quod Deum non doceat." Ebd. S. 26. 210

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helm Feuerlein höchstens insofern sein, als sie nicht bewiesen werden dürfte™. Die Gotteserkenntnis wird so sehr eine Sache der Vernunft, daß Vernunft und „Religion" immer mehr zusammenfallen. Bereits Voetius hatte behauptet: „Theologia illa enim congenita non magis potest abesse ab homine, quam intellectus rationalis." 219 Der Weg von dieser Gleichstellung zur Gleichsetzung konnte nicht weit sein, und auch die lutherischen Autoren haben das Ihre auf dieser Strecke beigetragen 220 . Die Aufklärer hatten den Theologen vorgehalten, „daß Gott zweifeis ohn nicht von Gänsen sich wolle gedienet haben / sondern von vernünfftigen Menschen" 221 , und die Theologen, die doch wahrhaftig keinen Grund gehabt hätten, sich angesprochen zu fühlen, antworteten mehr oder weniger prompt: „alles aber, was uns die gesunde Vernunfft lehret, das befiehlet uns auch die Religion, drum wäre es ja unvernünfftig, wenn man die Religion verwerfen wolte" 222 . Die Loslösung von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und seinem Evangelium mußte notgedrungen dazu führen, daß die Erkenntnisse der Vernunft zur „Offenbarung" erhoben wurden. Die Aufklärer und die Theologen trugen beide, obwohl sie gegeneinander kämpften, auf verhängnisvolle Weise zu diesem Prozeß bei. Die Aufklärer wandten sich von der in der Schrift geoffenbarten Wahrheit ab und den immanenten Möglichkeiten der Vernunft zu, weil sie nicht mit einer Offenbarung Gottes rechneten, während ihre Gegner diesen Schritt nachvollziehen zu dürfen meinten, gerade weil sie an die Offenbarung Gottes auch im Bereich des Natürlichen glaubten! 3. Das

Gewissen

Neben dieser einen Linie, die mit der Einsetzung der Vernunft für den Glauben begonnen und mit der Gleichsetzung von Vernunft und Glauben geendet hatte, gab es eine zweite, die freilich am Anfang ebenfalls im Sinne eines rationalen Belegs verstanden wurde: die Argumentation mit dem Gewissen. Daß der Mensch kein Gewissen haben sollte, schien den Theologen schlechthin ausgeschlossen223. Sie erfaßten das Gewissen zunächst jedoch in Relation zum Naturrecht und insofern nur indirekt in Beziehung zur Frage nach der Existenz Gottes. Das Gewissen, das durch seine Reaktionen die Gültigkeit eines Naturrechtes bezeugte, mußte den Menschen zur Anerkennung der Existenz eines höchsten Rich219 219 220 221 222 223

An existentia Dei sit Veritas indemonstrabilis, 1717, S. 4. Select. Disp., Pars. I, 1648, S. 143. Vgl. die lutherischen Voten in dem Abschnitt oben S. 178 ff. So „Romanus" bei Johann Melchior, Christlicher Glaubens-Grund, 1671, S. 8. J . P . T . , Der überwundene Atheist, 1715, S. 4 9 ; vgl. S. 58 ff. „Quod absurdum est", stellt Voetius lapidar fest; Select. Disp., Pars I, 1648, S. 143.

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ters bringen, der die Übertretungen ahnden würde. Die Beunruhigung des Gewissens setzte bereits die Anerkennung des Richters voraus, denn wodurch sonst sollte sie sich erklären lassen224? Johann Adam Oslander formuliert den Schluß: „Quicunque naturale quoddam habet judicium de bene vel male factis, ille quoque habet legis alicujus & judicis Cognitionen!. . ." 225 . Zunächst ist das Gewissen nur davon überzeugt, daß gute und böse Taten ihre Vergeltung finden werden; erst mittelbar ergibt sich daraus der Schluß, daß nur Gott es sein könne, der diese Vergeltung ausrichten wird 226 . Hier glaubte man, auf festem Grund zu stehen: „De Conscientia (res) tarn est certa, quam certissima" 227. Man brauchte auf das Gewissenszeugnis nur zu verweisen; die Schrift und mancherlei „Historien" bestätigten es228. Ihr Gewissen werden die Atheisten nicht los, weil sie es „nicht zugleich mit ihren alten Kleidern weglegen können" 229. Sie wissen das ganz genau, daher müssen sie so viel von ihren neuen Ansichten reden, um vor anderen und vor sich selbst Bestätigung zu finden230. Am Beispiel eines Nero oder eines Caligula meint man, die Unaustilgbarkeit der Gewalt des Gewissens einleuchtend belegen zu können 231 . Man malt sich aus, welche Angst Nero nach dem Mord an seiner Mutter Agrippina ausgestanden haben müsse, obwohl die römischen Honoratioren ihm zu dieser Tat gratuliert hatten; Caligula habe zwar die Götter verachtet, sei aber gleichwohl so furchtsam gewesen „daß / wenn sich nur das Wetter ein wenig gekühlet / er die Augen zugeplintzt / und das Haupt verhüllet habe / bey großen schweren Gewitter(n) aber habe er sich unter die Decken versteckt / indem nehmlich sein Gewissen ihm einen starcken Druck und Puff gegeben / Gott sey da / und werde mit Donner und Blitz drein schlagen . . . " 232. Unter der Hand hatte das Gewissen eine neue Funktion bekommen: Es registrierte nicht mehr nur die guten und bösen Taten des Menschen unter 224

Vgl. Konrad Vorst, Tractatus (1610), S. 5, sowie oben S. 193. Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 115. 226 „ . . . quisque hominum semina ab ortu suo habet cognoscendi Deum, dum evidenter sentit, esse aliquid in rerum natura, quod bene operantibus conferat praemia, malis econtra poenas . . . " ; Paul Slevogt, Disputationes academicae, 1679, S. 1216. 227 Valentin Greissing, Exercitatio posterior, 1677, Sectio II, § 3. 228 Joh. Müller, Atheismus devictus, 1672, S. 367 ff.; vgl. David Derodon, Widerlegter Atheismus (1733), S. 233 f. 229 Großgebauer, Praeservatif, 1661, S. 4. 230 Christian Scriver, Seelen-Schatz (1701), Teil I, 2. Predigt, § 25, S. 19, vgl. 5. Predigt, § 27, S. 59. 231 Vgl. Petrus Molinaeus, De cognitione Dei, 1625, S. 5 f.; J. A. Oslander, Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 116; Seb. Niemann, Atheus refutatus, 1668, S. 20 f. 232 August Pfeiffer, Evangelische Christen-Schule, Leipzig 1710, S. 34 (in Anlehnung an Darstellungen Suetons). 225

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der Perspektive zukünftiger Vergeltung, sondern es bezeugte Gottes Existenz selbst: „Insita unicuique existit supremi Dei conscientia." 233 Das Gewissen rückt damit in die Nähe der „notitia insita". Auf sein Gewissen hin kann man jeden Menschen und somit auch den, der Gott leugnet, ansprechen: Er wird nie in der Lage sein, sich von der „formido oppositi" freizumachen234. Christoph Franck fordert seinen Gegner auf, er solle nicht ihm glauben, sondern sich selbst, seinem eigenen Gedächtnis, seinem Gewissen 235 . Es ist nach Überzeugung der Apologeten ausgeschlossen, daß die Meinung eines Atheisten in dessen „Gemüth keinen Widerspruch findet" 236; über einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad kommen die Gottesleugner nicht hinaus; den Verdacht, es könnte doch alles anders sein, werden sie nicht los 237 . Christian Scriver fragt seine Gegner, ob ihnen denn nie der Gedanke komme: „Wie / wanns wahr wäre?" Er wirft ihnen vor, sie glaubten nicht an Gespenster, und doch graute ihnen manchmal des Nachts; „ihr leget euch mit großer Sicherheit / ohn Gebet / ohn Andacht des Abends nieder / und dennoch träumet euch zuweilen vom Teuffei / ihr fahret auff im Schlaff / und schreyet / als wol er euch jetzt davon führen" 238. Besonders, so glaubte man, werde sich das Gewissen in Erinnerung bringen, wenn ein Mensch in unvorhergesehene Schwierigkeiten und Gefahren gerate 239 ; dann erwachten plötzlich wieder die „sensus Numinis". Das Kardinalbeispiel ist für die Apologeten die Situation des herannahenden Todes 240 . Zacharias Grapo weiß eine ganze Reihe von Fällen aufzu233

Gerard de Vries, Exercitationes rationales, 1695, S. 21. Chr. Franck, Atheus convictus, 1672, S. 66. 235 „Non mihi credite, sed memoriae vestrae. Hanc examinate, & rimamini diligentissime, annon istam opinionem in animo vestro praecesserint semina malitiae? Si annuet, (annuet autem profecto) agnoscite fraudem, & emendatis mature moribus, imposterum cautius mercari discite. Ne errate, Deus non irrideturl" Ebd. 23β ту Kahler in der Anmerkung zu Derodons Widerlegter Atheismus (1733), S. 247. 237 „ . . . imo nec Atheismi sectatores quoquo modo possunt se ab vindictae suspicione liberare. Contendant enim, licet argumenta non esse demonstrativa, quibus summi Numinis essentia affirmatur, hoc tarnen maxime verisimile esse, mundum non sine Numine consistere, neque ipsi dubitant. Neque enim ipsi contrarium, Deum scilicet non esse, quacunque rationis specie possunt obtendere: Suspicio igitur, apud impios ultionis insecuturae nequit non commorari; ex suspicione solicitudo, metus, anxietas, & quaecunque animi serenitatem & gaudia plurimum interturbant." Robert Sdiarokkius, De officiis secundum ius naturale, 1667, S. 29 f. 238 Seelen-Schatz (1701), Teil IV, 12. Predigt, § 76, S. 426. 239 Dann könne man beobachten: „illi, qui omnem Numinis sensum ex animo delevisse, atque erasisse videbantur, in subitas erumpunt p r e c e s . . D a n i e l Tilenus, Syntagma, 1607, S. 73. 240 „Evigilant enim tandem, ubi aliquod irae divinae se profert judicium; nec ad ictum modo, sed ad levissimum quandoque strepitum crepitumque trepidant, ас cohorrescunt; finemque & exitum, non quem somniarunt, sed quem meruerunt, cum fremitu experiuntur." Tilenus, ebd. S. 78. 234

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zählen, wo Atheisten vor ihrem Ende doch noch von ihrem Gewissen überführt worden seien; sie hätten „terrores intensissimos" auszuhalten gehabt 241 . Er zieht aus seinen Beobachtungen die abenteuerlichsten Schlüsse: Machiavelli sei es so ergangen, er habe sich aber damit getröstet, daß er lieber mit Aristoteles und Alexander dem Großen in der Hölle sein wolle als mit den einfältigen Leuten im Himmel — woraus man folgern könne, daß er also auf dem Totenbett doch das Vorhandensein von Himmel und Hölle zugegeben habe 242 ! Gelegentlich hat man audi die letzten Aussagen von „Atheisten" vor der Hinrichtung schamlos in dieser Weise ausgewertet. Immanuel Weber läßt eine seiner allegorischen Gestalten darauf hinweisen, daß in Frankreich ein Atheist auf dem Scheiterhaufen gestöhnt habe: „Ah mon Dieu! Mon Dieu!" und daß die Geistlichen das als Bekenntnis des überführten Gewissens gedeutet hätten 243 ! Doch waren die Theologen auch an diesem Punkt nicht so unangefochten, wie sie sich gaben. Bereits Lipsius hielt es für nötig, das Gewissens-Argument gegen die saloppe Mitteilung des Statius zu verteidigen, derzufolge „die Furcht die Götter gemacht" habe 244 . Lipsius streitet die Zusammenhänge nicht ab, meint aber, daß die Furcht in diesem Falle auf etwas wirklich Existentes aufmerksam mache und es zu Bewußtsein bringe 245 . Eine Schwierigkeit, die innerhalb der Theologie auftauchen mußte, bestand darin, daß sich ja auch die Heiden auf ihr Gewissen berufen konnten, aber dabei zu völlig andersartigen Ergebnissen gelangten. Konnte das Gewissenszeugnis dann wirklich ein so gewichtiges Argument darstellen? Man fand die Ausflucht in einem Bild: Dem Fiebernden sei eben alles bitter, einschließlich des wirklich Bitteren — ähnlich machten sich die Heiden Gewissensbisse hinsichtlich vieler unnötiger religiöser Vorschriften und Vorstellungen, unter denen freilich auch das wirklich Gültige sich zu Wort melde246. Ein Sozinianer wie Franz Cuper nahm aber auch die grundsätzliche Anfrage des Gegners ernst, ob das Gewissen denn wirklich so evident bei allen Menschen vorhanden sei; man müßte es erst einmal auch bei denen nachweisen, die weder Gott noch Teufel fürchteten, — bei den anderen sei die Erklärung ja einfach! Gerade die größten Verbrecher zeigten oft sehr wenig davon, daß sie ein Gewissen hatten! Und wenn tatsächlich jeder Mensch ein Gewissen hätte, könnte 241

Theologia recens controversa, 1710 2 , S. 29. Ebd. S. 29 f. — Der Gedanke, daß die Hölle dem Himmel vorzuziehen sein könnte, taucht bereits im Hochmittelalter auf; vgl. die dem 13. Jahrhundert zugehörende „Geschichte von Aucassin und Nicolette", Insel-Bücherei Nr. 14, о. О. o. J., S. 15. 243 Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 16 ff. 244 Thebais 3, 661; meist als Wort des Horaz oder des Lucrez zitiert. 245 „etsi non fecit, sed aperuit & ostendit"; Epistolarum . . . chilias (1597), S. 587. 24β v g i . j. A. Oslander, Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 117 f.; Seb. Niemann, Atheus refutatus, 1668, S. 26 f. 242

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das ja immer noch zu seiner natürlichen psychischen Ausstattung gehören, ohne daß man zu dessen Deutung eine Gottheit bemühen mußte 247 . Damit war das Gewissen mindestens als Träger moralischer Funktionen für die antiatheistische Argumentation entwertet. Im lutherischen Raum mußte die Problematik des Gewissensarguments besonders durch Knutzens „Gewissener" deutlich hervortreten: Sie erklärten das Gewissen zu ihrer obersten Instanz, die ihnen Bibel und Magistrat ersetzen sollte 248 . Johann Musäus entgegnete ihnen mit einer Analyse dessen, was er unter „Gewissen" verstand: Er hält es für ein Urteil des Intellekts über etwas, das geschehen oder unterbleiben soll, bzw. etwas, das bereits geschehen ist 249 . Es ist ihm unerfindlich, wie Knutzen mit diesem Gewissen seine fünf Artikel in Einklang bringen kann 250 , die nicht nur die Existenz Gottes und des Teufels bestreiten, sondern auch der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit die Autorität absprechen, sexuelle Freiheit propagieren und die Vergeltung für das Verhalten des Menschen in einem zukünftigen Leben leugnen 251 . Musäus bezweifelt also bereits die Urteilsfähigkeit eines nicht an Gott orientierten Gewissens, hält aber vor allem seine innere Kraft für ungenügend. D a er es ganz intellektualistisch versteht, vermißt er besonders die Instanz, die das vom Intellekt Erkannte in die Tat umzusetzen fähig ist: „Womit kan es den Menschen zu dem / waß es als recht fürschreibet / verbinden / wenn kein Gott / keine Obrigkeit ist / so es bey unausbleiblicher Straffe zu thun erfordert"? 2 5 2 Damit war klar, daß das Gewissen, das nur in Abhängigkeit von Gott Gewicht hatte, nicht seinerseits Gottes Existenz beweisen Arcana Atheismi, 1676, S. 237. Musäus zitiert in seiner „Ablehnung", 1674, aus einer Schrift Knutzens: „Haec enim Conscientia, quam benigna mater natura omnibus indidit hominibus, nobis potest esse loco Bibliorum . . . loco Magistratus . . . & loco Sacerdotis: docet namque honeste vivere, neminem laedere, & suum cuique tribuere." S. 17 f. 2 4 8 Gewissen ist entweder „judicium intellectus practicum de eo, quod fieri vel omitti debet" oder „judicium intellectus speculativum de eo, quod bene vel male factum est"; ebd. S. 25. 2 5 0 Vgl. ebd. S. 27. 2 5 1 Musäus bespricht sie ebd. S. 20ff.; im einzelnen lauten sie: (I) „Non esse D e u m " ; (II) „Non esse Diabolum"; (III) „Magistratum nihili aestimandum, templa contemnenda, Sacerdotes rejiciendos"; (IV) „Loco Magistratus, & loco Sacerdotum esse scientiam & rationem, cum conscientia conjunctam, quae docet honeste vivere, neminem laedere, & suum cuique tribuere"; (V) „Conjugium a scortatione nihil differre"; (VI) „Unicam esse vitam, post quam nec praemium nec poena datur." Diese Systematisierung entspricht offensichtlich den fünf Grundartikeln Herberts von Cherbury, die Musäus kurz vorher referiert (S. 19 f.) und mit denen er sich in einer eigenen Schrift auseinandergesetzt hatte; vgl. De luminis naturae ei innixae theologiae naturalis insufficientia ad salutem dissertatio, Jena 1667. Daraus geht hervor, daß Musäus Knutzen für eine Art deutschen Herbert von Cherbury hält, — nur noch radikaler und gefährlicher; vgl. oben S. 186. 247

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Ebd. S. 29.

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konnte. Tobias Wagner, der die Affäre aus dem Abstand wenigstens einiger Jahre betrachtete, stellte fest, daß die Atheisten das Gewissensargument für eine petitio principii halten und daß sie es unter Umständen, wie der Fall Knutzen gezeigt habe, sogar gegen die Glaubenden ausspielen können 253 . Jakob Wilhelm Feuerlein hat die Intention Knutzens nicht verstanden, wenn er sagt, nicht einmal er habe es gewagt, das Gewissen als letzte Instanz zu beseitigen254. Das Gewissensargument verliert im Lauf der Diskussion seine rationale Beweiskraft. Zu einer Zeit, als Johann Daniel Riesling noch die schon im 16. Jahrhundert verhandelte Frage disputierte, „an primus in orbe Deum fecerit timor" 255, hat Christian Wolff das Gewissen bereits als Ergebnis der Erziehung gedeutet: Auch darauf antwortet man noch mit dem Verweis auf Nero und Caligula 258 , aber die Kraft des Arguments ist gebrochen. 4. Descartes' Idee Von unerwarteter Seite bot sich den Theologen im Kampf gegen den Atheismus Hilfe an: Descartes, der neue Stern am Philosophenhimmel — Tobias Wagner nennt ihn „ novae Philosophiae Dictator" 257 —, hatte einen eigenen Weg vorgeschlagen, Gottes Existenz nachzuweisen258. Aber die Apologeten reagierten skeptisch, gereizt, ablehnend; sie waren trotz dieser nicht erbetenen Schützenhilfe eher bereit, Descartes auf der Seite der Gegner zu sehen. Sein Ansatz ist kaum gegen den Atheismus ausgewertet worden; der Versuch des niederländischen Philosophie-Professors Burcher de Voider stellt eine Ausnahme dar 259 . De Voider erstrebt einen Gottesbeweis von mathematischer Evidenz. Sollte er nicht gelingen260, würden die Einwände nie verstummen. Die gängigen Gottesbeweise werden durchgemustert mit dem Ergebnis: Nur 253

254 Examen, 1677, S. 20 f. De genuina ratione, 1717, S. 29. Leipzig 1714. 258 Vgl. Christian Breithaupt, Zufällige Gedancken, 1732, S. 39 ff. 257 Examen, 1677, S. 20. 258 Pijr Descartes war der Atheismus kein apologetisches, sondern ein philosophisches Problem. Wie er im Rahmen seiner Fragestellung zu „Gottesbeweisen" kam und wie diese aussahen, kann hier nicht erörtert werden. Vgl. dazu besonders W. Rod, Descartes. Die innere Genesis des cartesianischen Systems, München/Basel 1964, S. 51 ff., 101 ff., 107 ff.; sowie Gerhart Schmitt, Aufklärung und Metaphysik. Die Neubegründung des Wissens durch Descartes, Tübingen 1965, S. 128 ff. 259 Disputationes philosophicae omnes contra Atheos, Middelburg, 1685. De Voider (1643—1709), Arzt, Mathematiker und Philosoph, wirkte ab 1670 als Professor der Philosophie in Leiden, ab 1681 ebd. als Professor der Mathematik; er war ein eifriger Verteidiger des Cartesianismus. Vgl. Jöcher IV, Sp. 1704 f. 260 „ . . . Nisi enim ea evidentia Dei demonstremus existentiam, qua ullae liquere possunt Mathematicae veritates, idque ex principiis ita per se cognitis, ut nulli Geometrarum cedant a x i o m a t i . . ; ebd. S. 7. 255

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das Denken selbst könne der nicht bezweifeln, der alles bezweifelt 2 6 1 . Läßt der Gegner nur die „cogitationes" gelten, so muß man sich zum Nachweis des „Dari Deum" 2 6 2 auf diese beschränken 283 . N u n könne man nach nichts fragen, wovon man nicht bereits eine Vorstellung, eine Idee habe. Für die Gotteserkenntnis ist die „idea Divinitatis" deswegen von fundamentaler Bedeutung 264 . D a ß die Gottes idee vorhanden ist, steht außer Frage; es zeigt sich daran, daß der Mensch, dem ich das Wort „Gott" nenne, mehr aufnimmt als den Klang dieses Wortes 265 . Hätten wir keine Vorstellung von Gott, so bliebe nur eine Möglichkeit: „de D e o nihil aut affirmandum aut negandum." 266 Aber das ist ja nicht der Fall. N u n lasse sich beobachten, daß eine Sache in der Vorstellung dieselben Eigenschaften habe wie in der Wirklichkeit 267 . Für ein vorgestelltes Dreieck gelten die gleichen Eigenschaften wie für das wirkliche Dreieck 268 . Zur Idee Gottes gehöre aber notwendig die Existenz Gottes 269 . In der Vorstellung eines nicht existierenden Gottes 270 liege deswegen eine contradictio in adiecto vor wie bei dem Begriff der Quadratur des Kreises; Gott zu leugnen, heiße dann „affirmare rem sua natura existentem non existere.. ," 271 . Niemand zweifle daran, daß die Allmacht eine notwendige Eigenschaft Gottes ist, wieso mache man nicht das gleiche audi für die Existenz Gottes geltend 272? Obwohl schon so rasch zu dem erstrebten Ergebnis geführt, untersucht de Voider noch einmal ausführlich das Verhältnis zwischen einer fingierten Idee und der Gottesidee. Eine fingierte Idee entstehe durch willkürliche 281

Ebd. S. 9 f. Diese Wendung, kursiv gedruckt, taucht des öfteren in de Volders Schrift auf. 283 „Hisce autem cum solis assentiantur, illis quoque solum utendum erit, si quidpiam illis demonstratum volumus." S. 12. 264 S. 14. De Voider erläutert, was er unter „Idee" versteht: Nicht „imaginem rei corporeae oblatam menti", sondern „quodlibet genus conceptuum, cujus objectum quidpiam est a mente diversum, quocunque etiam modo id a nobis concipiatur, sive sensuum, sive imaginationis, sive denique intellectus vi & efficacia." Ebd. 265 Sollten sich irgendwelche Bestreiter dieses Sachverhalts finden, „age, quaeremus ex istis Deum cum me dicentem audiunt, nihilne aliud percipiant, quam vocis istius sonum, quem & percipit ille, qui linguae, qua utor, imperitus est omnino." S. 18. 266 267 268 S. 19. S. 24. Vgl. S. 20, 23 f., 28. 26(1 „Quid itaque absurdius, quid a ratione alienius, quam enti summe perfecto denegare existentiam . . . " ; S. 26. 270 271 „in conceptu Dei non existentis"; S. 26. S. 27. 272 Ebd.; de Voider hatte sein Ergebnis, nämlich den Beweis, der seiner Meinung nach von mathematischer Evidenz war, schon in einer Art Zwischenbilanz festgehalten: „sive enim ipsam Dei Naturam contemplemur, manifesto convincimur earn illam esse, quae in se sufficiens habeat existentiae suae, ejusque necessariae Sc aeternae fundamentum; sive ejus effecta respiciamus, & ea quidem, quorum notitia intime mentibus nostris insculpta nullum omnino dubitationi locum r e l i n q u i t . . . ; sive denique quidpiam arripiamus vel quod existat revera, vel quod existere fingamus ille sive vera sive ficta existentia clare patefacit, existere aliquod ens a se." S. 23. 262

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Kombination von Vorstellungen in der Fantasie; das sei bei der Gottesidee ausgeschlossen, da sie ja Gott als die Summe aller „perfectiones" beinhalte, von denen man keine unberücksichtigt lassen könne: Andernfalls wäre Gott ja nicht mehr als Ens absolute infinitum verstanden 273 . Die reale Existenz des so Vorgestellten ist freilich nicht von meinem Denken abhängig 274 . Nicht die Sonne am Himmel, sondern meine Vorstellung von ihr sagt mir, daß sie existiert. Nicht weil ich Gott als notwendig existierend denke, existiert er wirklich, sondern weil er mir diese Vorstellung aufzwingt, denke ich ihn so 275. Daß ich ihn so denke, muß aber auf eine Ursache zurückzuführen sein, wie eben jeder Idee eine causa zugrunde liegen muß. Der Unterschied zwischen den „causae" muß dann freilich ebenso groß sein wie der zwischen den „ideae". Der Unterschied zwischen der Idee eines Endlichen und der Idee des Unendlichen kann folglich nur unendlich sein. Die Idee des Unendlichen kann somit nur auf eine unendliche causa zurückgehen276. Stolz vermerkt de Voider: „Q. D. Ε." 277 Nie kann die Ursache geringer sein als die Wirkung; die Ursache einer Idee muß daher mindestens all diejenigen Eigenschaften enthalten, die in der Idee selbst vorhanden sind 278 . Wenn es nur endliche causae gibt, kann die Idee des Unendlichen nicht auftauchen 279 . Es ist also klar „fieri non posse, ut Idea Dei ab ulla causa oriatur, quae sit Deo imperfectior" 28°. In einem letzten Beweisgang versucht de Voider, die Aseität Gottes logisch zu erfassen. Er geht davon aus, daß bei der „causa" das „effectum" unmittelbar mitgesetzt ist. Wenn wir annähmen, daß die „causa" dem „effectum" vorausgehen müsse, liege das nur an unserem „modus concipiendi" 281 . Die drei Winkel des Dreiecks seien die „causa efficiens" für die Winkelsumme — und doch bestünden sie temporal nicht vor der Winkelsumme 282 . Entsprechend müsse hinsichtlich der Aseität Gottes nicht zwischen der „causa" (dem „esse dans") und dem „effectum" (dem „esse accipiens") unterschieden werden 283 . Was dem zeitgenössischen Metaphysiker als sicherstes Fundament galt 284 , soll in einem Denkspiel als 273 „Quid itaque a Actione distat magis, quid ab arbitrio nostro dependet minus, quam Divinitatis Idea?" S. 30. 274 „Res quidem non minus existent, sive ego de iis cogitem, sive minus, sed tarnen ex solis cogitationibus meis patebit mihi rem existere aut non existere." S. 30. 275 „Neque vero ideo existit Deus, quia ego eum necessario existentem cogito, existeret enim sive de eo cogitarem sive secus, sed ideo eum talem cogito necessario, quia hanc meis cogitationibus necessitatem imponit Deus, qui cum in perfectissima sua natura contineat necessariam & aeternam existentiam . . . " ; S. 31. 278 277 278 S. 40 f. S. 41. S. 45 f. 279 280 281 S. 47 f. S. 49. S. 54. 282 283 S. 53, 55 f. S. 56 ff. 284 Vgl. unten S. 217 S.; de Voider findet, nichts sei einleuchtender, „quam fieri non posse, ut omnia quae sunt, ab alio sint. Daretur enim necessario aliud quidpiam praeter ea omnia quae sunt, id seil, a quo essent omnia." S. 58.

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lächerliche Kleinigkeit bloßgestellt werden: Man fasse alles, was in diesem Augenblick existiert, in einer angenommenen Zahl zusammen: 100. Nun kann eines oder mehreres davon „a se" sein. Wäre es insgesamt aber „ab alio", so wäre damit etwas angesetzt, das die Gesamtheit des Seienden („100") überschreiten würde — was gegen die Voraussetzung wäre 285 . Damit scheint de Voider sein dritter Beweis geglückt zu sein: „Datur igitur necessario ens aliquod, quod est a se, hoc est, datur Deus."28® Bei einem derartigen Verfahren wurden wesentliche Begriffe der traditionellen Metaphysik „umfunktioniert" — aseitas, causa, infinitum —, und es nimmt nicht wunder, daß sich die Theologen auf solch ein Unternehmen nicht einlassen wollten; sie fürchteten, hier über kurz oder lang völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. Cartesianische Gedanken sind kaum in die Argumentation der antiatheistischen Autoren eingedrungen; sie haben allenfalls, aus dem Gesamtsystem Descartes' gelöst, hier und da als Anregung gedient. Sie wurden, sofern sie einem Autor brauchbar schienen, in dessen jeweilige Perspektive eingebaut. So findet der stark psychologisch argumentierende Michael Berns den Satz „cogito, ergo sum" sehr einleuchtend, wertet ihn dann aber nur als Beispiel dafür, daß die Seele des Menschen in der Lage ist, ein Wissen um Dinge zu haben, die sich nicht bildlich vorstellen lassen. Seele und Sinne machten die Realität des Denkens ebenso deutlich wie die Existenz Gottes, die an Gottes Werken und an dem Wissen der Seele erkannt werden könne: Der Atheist sei also wirklich unentschuldbar287! Johann Georg Pritius, der noch in dem klassischen Argumentationsschema von Ursache und Wirkung befangen ist, macht das Zusammenwirken von „res cogitans" und „res extensa" mit der folgenden Überlegung zu einem Beweis für Gottes Existenz: Wie läßt sich das „mutuum hoc agendi commercium" von Leib und Seele anders erklären als durch die Annahme einer „causa potentior", die dann mit Gott zu identifizieren wäre 288 ? Ähnlich geht Budde in seinen Thesen über den Atheismus vor: Der Zweifler müsse ja jedenfalls seine eigene Existenz und von da aus die seiner Umwelt anerkennen. Tut er das, so kann er im Rahmen eines Kausalitätsbeweises auch die Existenz Gottes erschließen289. Die meisten Atheistenbekämpfer lehnen jedoch Descartes grundsätzlich ab. Das hatte bereits in der Auseinandersetzung zwischen Descartes und Voetius seinen Anfang genommen 290 . Ohne seinen Gegner beim Namen 2 8 6 S. 59. S. 58 f. Altar der Atheisten, 1692, S. 251 ff. E r setzt sich später auch ausdrücklich gegen Descartes' Ideenlehre ab: E r rechnet nicht mit einer dem Menschen inhärenten Idee von Gott, sondern mit einer demjenigen Menschen sidi einstellenden Idee Gottes, der sich seiner Existenz in Denken und Gewissen bewußt wird. S. 329. 2 8 8 De Atheismo, 1695, Art. III. 2 8 9 1 7 1 7 ; S. 458 2 0 0 Vgl. oben S. 22. ff. 285

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zu nennen, hatte sich Voet gegen diejenigen gewandt, die im Rahmen eines universalen Zweifels alle Prinzipien und Grundwahrheiten, einschließlich der Frage nach der Existenz Gottes, dem Befinden des menschlichen Geistes anheimstellten 291 . Demgegenüber hält er fest: (1) Der Mensch dürfe sich nicht der Gotteserkenntnis, die ihm doch gegeben sei, gewaltsam entblößen; schließlich werde uns die wahre Gotteserkenntnis im ersten Gebot des Dekalogs aufgetragen. (2) Das Risiko bei diesem Verfahren sei außerordentlich hoch: Es könnte ja sein, daß jemand über den Zweifel nicht hinauskomme, sondern im Gegenteil abgleite „in abyssum desperationis & Atheismi" 292! (3) Zudem erhöhe sich dabei die Gefahr des Atheismus f ü r diejenigen, die ohnehin über die Offenbarung nicht korrekt dächten; die hohe Gabe der natürlichen Offenbarung werde verschmäht und die Argumente gegenüber den Gegnern des christlichen Glaubens würden dezimiert 293 . D a ß diese Methode einem positiven Ziel dienen solle, kann Voetius gar nicht einsehen: Man dürfe doch nicht Schlechtes tun, damit Gutes herauskomme; jemand, der so vorgehe, gleiche jenem einfältigen Philosophen, der sich die Augen herausgerissen habe in der Meinung, dann erst richtig philosophieren zu können 2 9 4 . Die Möglichkeit, daß die cartesianische Methode einen neuen und in den Auseinandersetzungen hilfreichen Gottesbeweis eröffnen könnte, kommt gar nicht in den Blick, weil sie selbst als auf „atheistischen" Prämissen beruhend erkannt und als eine hochmütig über die von Gott angezeigten Bahnen hinweggehende eigenmächtige Erkenntnismöglichkeit des Menschen angesehen wird, die von ihren Voraussetzungen aus auch zu negativen Ergebnissen führen kann. Der gleiche Tenor ist in den Überlegungen des Augsburger Pfarrers Gottlieb Spizel zu hören. Er empfindet deutlich die Ambivalenz des cartesianischen Ansatzes: Nachdem diese Methode sich nun über ganz Belgien und Frankreich verbreitet habe, müsse maq fragen, ob sie „in scientiarum reparationem, an Theologiae ejusque principiorum destructionem" gerichtet sei 295. Ganz abgesehen von Descartes' eigener Intention dabei müsse man feststellen, daß sie einige Zeitgenossen zu Skeptizismus und schließlich Atheismus verleite. Spizel versucht, sich und seinem Leser die Konsequenzen des „universalen Zweifels" klarzumachen, die Voet als selbstverständlich nur angedeutet hatte 2 9 6 . Von sich aus an Gottes 291

„ . . . qui . . . universalem dubitationem de omnibus principiis & veritatibus (inter quas Sc illae, quod sit Deus, quod Deus colendus, quod sit discrimen inter honestum Sc turpe &c.) vanitati humani ingenii persuasum eunt: ut instar rasae tabulae cognitionem omnino novam de novo sibi quaerat." Select. Disp., Pars I, 1648, S. 176. 282 293 294 Ebd. S. 176 f. S. 177. 295 Scrutinium Atheismi, 1663, S. 116. 298 „Si enim omnia, quae minimam dubii speciem habent, ut falsa Sc erronea sunt removenda, annon etiam prima principia sub hoc colore Sc praetextu eliminata viam sternent Libertinismo statuendi quidlibet de quolibet? Si omnes Notiones ex albo 214

Existenz zu zweifeln, das war freiwilliger Atheismus auf Zeit, mochte die Zeitspanne noch so gering sein 297. Außerdem scheint diese Methode, schließlich doch wieder zu einer gesicherten Erkenntnis zu kommen, Spizel wie vielen seiner Kollegen als reichlich diffizil und undurchsichtig 298 , und es leuchtet ihm nicht ein, was an Vorzügen sie bieten sollte; es seien doch nicht „incerta certis praeferenda" 2 9 9 — eine Formel, die den Vorbehalt vieler im Rahmen der alten Metaphysik argumentierender Theologen zusammenfaßt. Einem Tobias Wagner ist es absolut unverständlich, wie man „dubitando" zu einer sichereren Erkenntnis kommen sollte als „intelligendo"; der Zweifel müsse einen Menschen doch zu Skeptizismus und Atheismus führen s0°. Valentin Greissing meint, Descartes nehme sich wohl etwas zu ernst, wenn er denke, vor ihm habe es noch keine ausreichend sicheren Gottesbeweise gegeben 301 . Vor allem also hat die positive Wertung des Zweifels immer wieder Anstoß erregt. Der Zweifel an Gottes Existenz sei keinesfalls erlaubt; dazu beruft man sich auf die Schrift 302 und auf Aristoteles 303. Und man warnt vor den Konsequenzen: Descartes selbst habe doch erst nach zehn Jahren seinen Zweifel überwunden; wie, wenn ein Mensch nun in seinem Zweifel steckenbliebe 304 ? Wie kann Atheismus selbst zur Überwindung des Atheismus führen? Die „principia per se nota" geraten ins Wanken 3 0 5 ! Schließlich differenzieren einige Theologen doch noch hinsichtlich des Problems des Zweifels. Wenn jemand sich zum Ziel setze, an Gott zu zweifeln, dann sündige er damit, urteilt Joh. Friedemann Schneider; zweifle er aber, um eine klarere Gotteserkenntnis zu gewinnen, so gehe es in dieser Frage nicht um Gott, sondern um die Methode, ihn zu ermentis nostrae expungendae, annon illa etiam de Numinis existentia notitia erit subvertenda: annon vis Naturae inferenda, atheismo ad aliquod temporis spatium voluntarie introducto, ut quidem Cartesius admittere non veretur." S. 117. 297 „. . . peccat autem enormiter, qui etiam ad minimum temporis intervallum sensu Numinis sese abdicare voluntarie nititur: injurius est in conscientiam & Deum, praescindit sibi ipsi viam ad infinitum illud bonum, & Diabolo causam atque occasionem sese subigendi . . . abunde subministrat." S. 118 f. 298 „ . . . via & ratio quae obtruditur ex hac abysso ignorantiae emergendi & ad certam cognitionem perveniendi nimis lubrica & invia sit, saltern fatentibus ipsis authoribus obscura & perplexa, ita ut a paucis capi possit." S. 119. 298 300 Ebd. Examen, 1677, S. 20. 301 Exercitatio posterior, 1677, Sectio II, Probl. II, § 2. 302 „ . . . quia ejusmodi dubitatio est temporarius Atheismus, contrarius fidei, quam de Deo habere oportet", — Hebr. 11,6; Justus Christoph Schomerus, Collegium, 1703, Cap. I, S. 3 f. 303 Е г verbiete, daran zu zweifeln, daß Götter zu verehren sind. Darauf verweist noch Joh. Georg Neumann, Theologia aphoristica, 1718 2 , S. 68: „pudeat ergo Philosophum Christianum in asserendo Dei cultu, coeciorem esse homine pagano." 304 Michael Berns, Altar der Atheisten, 1692, S. 294 f. 305 Gerard de Vries, Exercitationes, 1695, S. 34.

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kennen; jedenfalls liege dann nicht Atheismus vor 306 . Es handle sich dann letztlich um Zweifel „non . . . tarn de Deo, quam de nobis", führt Scbomerus aus; man dürfe nicht zweifeln „de consequente", wohl aber „de consequentia"; manchmal ziehe man ja wirklich die falschen Schlüsse aus seinen Prämissen 307 . Aber der von Voetius angedeutete Verdacht, Descartes sei ein geheimer Atheist, bedurfte noch lange Zeit der Widerlegung308. Doch äußerten die Atheistenbekämpfer nicht nur Bedenken gegenüber der Methode Descartes', sondern auch gegenüber der für seinen „Gottesbeweis" fundamentalen Verhältnisbestimmung von Idee und Wirklichkeit. Sie bestritten grundsätzlich, daß man von der Idee eines vollkommensten Wesens auf dessen Wirklichkeit schließen könne. Ein Jahrhundert vor Kants hundert gedachten Talern meint der lutherische Theologe Valentin Greissing, man könne sich wohl allerlei vorstellen, eine Chimäre oder einen goldenen Berg — in der Wirklichkeit existierten diese Dinge deswegen noch lange nicht 309 . Gott existiere, abgesehen davon, auch dann, wenn niemand in seiner „mens" die Idee von ihm forme 310 . Nicht weniger steht es für Tobias Wagner fest, „argumentum a simplici conceptu ad judicium evidens de re aliqua non valere" 311 ; besonders dem Atheisten werde diese Behauptung überhaupt nicht einleuchten312. Etwas mehr als eine Generation später führt Budde aus, die Idee sei ein „actus mentis" und gerade deshalb notwendig unvollkommen 313 . Ein vollkommenstes Wesen könne von der „mens" nur unvollkommen erfaßt werden; umgekehrt könne aber die „mens" sich die Idee eines vollkommensten Wesens selbst zurechtlegen, etwa auf Grund äußerer Eindrücke: Descartes' Behauptung erweise sich somit keineswegs als hieb- und stichfest 314 . Nicht nur die lutherischen Atheistenbekämpfer waren dieser Meinung. Der Sozinianer Franz Cuper läßt seinen „Misalethes" die These, daß ein „Ens perfectissimum" notwendig existieren müsse, als „egregium sophis306

„ . . . sin vero dubitationem proponat, ut medium ad clariorem veritatis cognitionem assequendam, tunc non tam de Deo, quam de medio probandi dubitatio est;" Icon Atheorum, 1698, S. 18. 307 Collegium, 1703, S. 4. зов Vgl J, Thomasius, Historia Atheismi (1713), S. 35 f.; Job. Herrn. Eiswich, Controversiae, 1716, S. 11. 309 „ . . . concipe e.g. Chimaeram, montem aureum, aut quodcunque aliud Ens rationis, & habebis ideam in mente tua, non tarnen illa Entia rationis existent in rerum natura." Exercitatio posterior, 1677, Sectio II, Probl. II, § 2. 310 311 Ebd. Examen, 1677, S. 20. 312 Wagner ebd.; Greissing а. а. O., ebd. 318 „Infinitum enim objectum ab intellectu finito nonnisi imperfecte & inadaequate concipi potest." Theses, 1717, S. 370. 314 „Sequitur itaque ex idea entis perfectissimi non statim colligi posse, ens eiusmodi perfectissimum revera quoque existere." Ebd. S. 371.

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ma" abtun, das bereits von einer vorgefaßten Gottesvorstellung ausgehe 315 . Der reformierte Theologe Gerard de Vries argumentiert an diesem Punkt nicht anders als seine lutherischen Kollegen 316 . Man sah sich allenthalben zurückgeworfen auf das, was die Theologie als natürliche oder übernatürliche Offenbarung formuliert hatte, vor allem auf ersteres, da letzteres für den Kampf gegen den Atheismus nicht geeignet erschien. Die cognitio Dei insita konnte nicht durch Descartes' Ideenlehre ersetzt oder audi nur gestützt werden, sondern sie war durch die cognitio Dei acquisita zu ergänzen, wenn die Auseinandersetzung mit dem Atheismus erfolgreich geführt werden sollte. D a ß Erkenntnis Gottes erworben werden konnte, daß die N a t u r Gottes Buch war, aus dem man sie ablesen konnte, war die breite gemeinsame Basis aller Theologie des 17. Jahrhunderts 3 1 7 . Sie erfuhr Verstärkung durch sensualistisdie Tendenzen, die in die antiatheistische Argumentation gelegentlich Eingang fanden. Samuel Parker höhnt, ob die Existenz der Sonne wohl weniger zu bezweifeln sei als Descartes' Idee Gottes 818 ! Sollte sich an der Wirklichkeit der Schöpfung der Schöpfer nicht noch schlagender beweisen lassen als durch die These von der cognitio Dei insita? Eine sich immer mehr auf den mechanischen Kausalitätsbegriff reduzierende Metaphysik unternahm den Versuch.

II. Metaphysik für Gott a) Das „Achilleische"

Argument

„In Nomine S. S. Trinitatis Amen!" schreibt Sebastian Niemann über seine Atheismus-Widerlegung, und er beginnt den ersten Paragraphen seiner Ausführungen: „Summus Philosophorum Princeps Aristoteles . . ," 1 . Formal brachten die Apologeten ihr Vertrauen zu der „Nähe" 315

Arcana Atheismi, 1676, S. 232. Exercitationes, 1695, S. 13 ff. Vgl. Zach. Grapius, Theologia recens controversa, 1710 2 , Cap. I, Qu. III: „Num notitia Dei naturalis insit per modum ideae?" Zur Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Cartesianismus vgl. Kl. Scholder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik, S. 135 ff. und die dort genannte Literatur. 317 „ — liber omnibus obvius, omnibus apertus, in quo Sc adulti, Deum legere, & infantuli ipsi, ut ita loquar, combinare possint." Mornaeus, De veritate religionis christianae (1592), S. 12. Dieses eine Zitat stehe für die unerschöpfliche Menge ähnlidier Aussagen; die einschlägige Lit. läßt sich leicht finden anhand von Fabricius' Delectus, 1725, und dessen Vorrede zu Derhams Astrotheologie, Hamburg 1728. 318 Disputationes de Deo, 1678, S. 491; eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Descartes findet sich ab Disp. VI, Sectio X V . Vgl. Joh. Herrn. Eiswich, Controversiae, 1716, S. 59 ff. 1 Atheus refutatus, 1668, S. 1. 316

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von Trinität und Aristoteles nur selten so deutlich zum Ausdruck, aber sachlich waren sie sich weithin darin einig: Mit diesen beiden im Bunde würde man das Problem schon meistern. 1. Das Postulat der „prima

causa"

Die Apologetik geht von Anfang an reichlich eklektizistisch v o r ; man ist sich einer großen Fülle von Beweismöglichkeiten für die Existenz Gottes bewußt, greift aber eine einzige heraus: Die Argumentation von der Wirkung auf die Ursache sei die gewichtigste, schreibt Voetius2. Sie empfahl sich durch ihre pädagogische Durchschlagskraft sowie durch die Schriftstellen, die man zu ihrer Stützung beibringen konnte 3 . Hier haben wir es mit dem „efficacissimum argumentum" zu tun 4 , mit dem „Achilleischen" Argument, mit demjenigen also, das den Gegner unwiderstehlich an der Achillesverse verletzt 5 . Beinahe blutrünstig formuliert der Tübinger Streittheologe Tobias Wagner: Der Rekurs auf die „prima causa" sei das Messer, „quem Atheorum gutturi admoveamus" Wenn von allen Möglichkeiten eines metaphysischen Gottesbeweises gerade diese eine so stark ins Spiel gebracht wurde, dann wohl deswegen, weil man sie einerseits für besonders wirkungsvoll, andererseits für biblisch gedeckt hielt. Zum Dritten glaubte man, alle anderen Argumente auf dieses eine zurückführen zu können. Die „Mechanisierung des Weltbildes" 7 vollzog sich in „demonstratio ab effectis ad causam, ab operibus ad opificem & gubernatorem primo tanquam palmaria & universalis..."; Select. Disp., 1648, Pars I, S. 213. 3 „Tutissimam autem, expeditissimam & evidentissimam esse hanc methodum persuadet Christianis doctrina 8c exemplum spiritus s." — Rom. 1, Ps. 19, Act. 17, Jes. 40; ebd. S. 214. Brav sekundiert Spizel: „Si cui vero haec per totius Encyclopaediae campum sese diffundens atheos convincendi convertendique ratio nimis ardua prolixa ac operosa videatur, eam eligat, caeterisque anteponat methodum, quam ipse Sanctus Spiritus in Sacro codice ostendit, ipseque usurpavit, ab effecto nimirum ad causam ..."; Felix Literatus, 1676, S. 186 f. 4 Valentin Greissing, Exercitatio prior, 1677, Th. I X . 5 Joh. Andr. Schmidt, De Deo Sc attributis divinis, 1690, S. 3: „ . . . vulgari quodam, invicto tarnen hactenus Sc prorsus Achilleo per viam causalitatis insurgo argumento...". Gerard de Vries hat ebenfalls vor, den Einwänden seiner Gegner zu begegnen „una hac demonstratione prorsus Achillea. Quodcunque existit finitum Sc imperfectum . .., hoc omne vel a se est, vel ab a l i o . . . " ; Exercitationes rationales, 1695, S. 10. β Examen, 1677, S. 29. Audi Wagner beruft sidi dazu auf Rom. 1: In seinem Kapitel X „De solidißima refutandi Atheos methodo, qua ex effectu causa, ex operibus opifex demonstratur" schreibt er: „Fortiorem Ducem ac promachum in hoc bello non habemus, quam entheatum Gentium Apostolum, Paulum . . . " , S. 22. 7 Dieser Begriff wurde geprägt von Anneliese Maier, Die Mechanisierung des Weltbilds im 17. Jahrhundert, Leipzig 1938, (eine Untersuchung der philosophiegeschichtlichen Bedeutung der „Mechanisierung"), und übernommen von E. J . Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1956 (eine breit angelegte Darstellung des Mechanisierungsprozesses vom Altertum an bis Newton aus naturwissenschaftlicher Perspektive); vgl. bes. S. 319 ff. 2

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einer derart umfassenden Weise, daß sich den Theologen eine mechanistisch vereinfachte Kausalitätslehre als apologetisches Hilfsmittel zum Beweis der Existenz Gottes geradezu anbot 8 . Einige Beispiele aus der lutherischen Apologetik, in der sich dieses Argument besonders hartnäckig gehalten hat, mögen es vorstellen. In schulmäßiger Ausformung, wie sie Valentin Greissing noch 1677 vorlegt, sieht es so aus: „Omne quod fit, ab alio fit. Atqui mundus & quaecunque in eo, velut ejus partes continentur, factus est. E(rgo) Mundus & quaecunque in eo velut ejus partes continentur, ab alio facta sunt." 9 Der Obersatz ist für Greissing ein von vornherein als gültig anzusetzendes Axiom 1 0 ; den Untersatz beweist er „per inductionem omnium rerum, quae in hoc universo velut ejus partes continentur" n . Uberraschenderweise stößt er hier auf Schwierigkeiten: Diese Bestandteile stellen sich ihm dar als teils „corruptibiles", teils „incorruptibiles": Der Himmel, den die Alten nicht ohne weiteres als „Ens materiatum" erkannt hätten, sei von ihnen daher gelegentlich als Gottheit verstanden worden. Diese Hürde wird jedoch mit Verweis auf Aristoteles genommen 12 . Sie kann das Ziel nicht verstellen: Dasjenige, von dem alles geschaffen wurde, ist „Ens a seipso": „E. (Ergo) Deus datur, quod probandum erat." 1 3 Bei diesem Ansatz geht es nicht um die Gültigkeit der Prämisse, sondern um ihren Ausweis an der vorfindlichen Wirklichkeit. Wenn das aus der empirischen Wirklichkeit abgeleitete Gesetz der Physik auf Wirklichkeit außerhalb der empirischen Gegebenheiten angewandt werden darf, wird es zum metaphysischen Gesetz und erlaubt, ja gebietet den Rückschluß auf Gott. 8 Vgl. J. de Vries in: LThK 6, Sp. 96 f.: „Die Mechanisierung des Weltbilds, die sich im 17. Jh. durchsetzte, verdrängte die Stoff-Form-Lehre der Scholastik wie auch ihre theolog. Naturbetrachtung. So blieb von den vier Ursachen des Aristoteles nur mehr die Wirkursache übrig, die jetzt zur ,Ursache' schlechthin wurde." Ferner ders., Geschichtliches zum Streit um die metaphysischen Prinzipien, in: Scholastik 6, 1931, S. 196 ίί.; E. Wentscher, Geschichte des Kausalproblems in der neueren Philosophie, Leipzig 1921, S. 4—9. H . Dolch, Kausalität im Verständnis des Theologen und der Begründer neuzeitlicher Physik, Freiburg i. Br. 1954, stellt die „Thomasische Aussage über Kausalität" (S. 42 ff.) den Aussagen Descartes', Bacons und Newtons über Kausalität gegenüber, geht aber leider kaum auf die Gestalt ein, in der den Begründern der neuzeitlichen Physik der Thomasische Ansatz vermittelt wurde. 9 Exercitatio posterior, Th. IX, § 8. 10 Er verweist dazu auf die ebd. § 3 formulierten Prämissen: „(1) Quicquid fit, ab alio fieri. (2) Circulus in productione rerum est simpliciter impossibilis. (3) In iis, quorum unum fit ab alio, non datur progressus caussarum in infinitum." 11 12 13 Ebd. § 8. Ebd. § 8. Ebd. § 10.

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Fünf Jahre vor Greissing beweist der Kieler Theologe Christoph Franck den Atheisten die Existenz eines „ens non factum, a se & vi suae essentiae existens" auf folgende Weise: Die Entstehung der Gesamtheit der entia könne man erklären (1) durch die Vermutung, eines der entia sei aus sich selbst entstanden, (2) es sei entstanden durch ein außerhalb dieser Gesamtheit Seiendes, (3) durch ein innerhalb dieser Gesamtheit Seiendes, das dann mittelbar oder unmittelbar sich selbst voraus sein müßte, (4) jedes einzelne Seiende sei durch ein anderes innerhalb der Gesamtheit des Seienden bedingt — eine fünfte Denkmöglichkeit gebe es nicht14. Der erste Fall sei unmöglich, schreibt Franck, „juxta canonem: Nihil est causa sui ipsius". Bewirkendes muß bereits Sein besitzen, während das Bewirkte sein Sein eben erst vom Bewirkenden bekommen hat; könnte etwas seiner selbst Ursache sein, so müßte es zugleich sein und nicht sein. Die zweite Möglichkeit ist deshalb ausgeschlossen, weil sie einen "Widerspruch enthält: Ein ens kann es per definitionem nicht außerhalb der multitudo entium geben15. Fall (3) tut Franck ab mit der Frage: „Quod autem existit ante quosvis suos effectus, quomodo id quidem ab iisdem demum produci queat?" 16 Fall (4) wird zurückgewiesen analog Fall (2): Man müßte hier wieder ein ens außerhalb der multitudo entium annehmen — oder einen progressus in infinitum, der unter diesen Denkvoraussetzungen eine logische Absurdität darstellt17. Diese vier Denkvorschläge sind völlig unhaltbar1® und als einzige Lösung bleibt die Annahme eines „Ens non factum" l e . Gott wird als „Ens" — von freilich eigener Qualität — der Kette aller anderen „entia" vorgeschaltet, ein Vorgang, dessen Problematik dem Gegner nicht verborgen bleiben konnte 20 . Sebastian Niemann geht in seiner vier Jahre vor Francks und neun Jahre vor Greissings antiatheistischen Arbeiten gehaltenen Disputation ebenso vor. Man dürfe zwei Prinzipien voraussetzen: (1) Es könne nicht etwas zugleich wahr und unwahr sein, (2) bei voneinander abhängigen Ursachen könne es keinen progressus in infinitum geben. Von den beiden Sätzen: „Omne Ens est dependens. Quoddam Ens non est dependens" könne laut (1) nur einer stimmen, und zwar der, der (2) nicht wider„Si universa entium multitudo esset facta, sequeretur necessario, unum eorum vel esse factum a se ipso; vel esse factum ab alio, quod detur extra universam entium multitudinem, a se prius immediate, sive mediate facto; vel denique quodlibet entium in universa entium multitudine factum esse ab alio intra illam multitudinem, se simpliciter priore, & nullo modo prius a se facto, neque immediate, neque mediate, quod infert progressum in infinitum . . . " ; Atheus convictus, 1672, S. 7 f. 1 5 Dieser Einwand müßte auch Francks Postulat eines Ens non factum treffen, was aber nicht in den Blick kommt. 1 6 Ebd. S. 8. Analog zur Antwort auf (1) müßte etwas dann gleichzeitig vor seinen Auswirkungen bestehen und nicht bestehen. 1 7 Vgl. dazu unten S. 242 f. 18 „ . . . quo nihil dici insulsius, aut excogitari ineptius potest." А. а. О. S. 8. 18 S. 9. 2 0 Dazu unten S. 226 ff. 14

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spricht21. Tobias Wagner kommt von Rom. 4,17 her zu einem metaphysischen Schluß: Das Wesen der Schöpfung „praesupponit potentiam contradictionis а non esse ad esse" 22 . Da die „causa prior" immer „causa posterioris" ist, muß es, wie eben schon die antike Philosophie erkannte, einen Ausgangspunkt für alle Folgeerscheinungen geben23. So stellt sich die metaphysische Argumentation hinsichtlich der prima causa auf der Höhe der Diskussion bei den lutherischen Theologen dar. Sie führen damit eine Tradition weiter, die schon bei den frühesten Atheismus-Bestreitern anzutreffen ist. Das Argument erscheint als eines unter vielen auch bei Mersenne2i. Allerdings spielen solche Gedanken bei ihm eine merkwürdig periphere Rolle; sie werden nur der Vollständigkeit halber genannt, weil die Tradition, vor allem Thomas von Aquin, sie bietet. Für einen Theologen wie ihn, der dem neuen Geist mit Haut und Haaren verhaftet ist, haben sie schon keine Lebenskraft mehr — eine Generation, bevor sie im lutherischen Deutschland noch einmal mit Getöse vorgeführt werden 25 ! Für den Jesuiten Lessius haben sie mehr Gewicht als für Mersenne; aber auch er möchte sich die Sache nicht zu einfach machen. Er weist darauf hin, daß man gerade für die Entstehung der „res corporeae", welche Verbindungen von Form und Materie darstellten, eine Wirkursache annehmen müsse; auch die Elemente, die materia prima, mußten ein principium efficiens zu ihrer Entstehung gehabt haben 26 . Man machte sich freilich nicht klar, wie wenig ein Atheist durch solche Argumente zu beeindrucken war, der je länger je mehr sich aus dem Bann dieses Denkens löste. Nicht ein einzelnes der hier vorausgesetzten Prinzipien war ihm verdächtig, sondern das ganze System. Einen besonders intensiven Ausbau mußte dieses Argument trotzdem bei denjenigen Theologen erfahren, die an anderen Punkten der GegenarguAtheus refutatus, 1668, S. 13 f. Niemann führt seine Demonstration fort bei der Darstellung der Eigenschaften Gottes, deren grundlegende natürlich das Sein ausmacht. Gott kommt dabei nach den üblichen Bestimmungen zu stehen als Ens Entium, Ens reale, Ens primum, Substantia prima, Ens necessarium usw.; S. 29 ff. Die Belege dazu liefern teils Aristoteles, teils die Schrift (das Ens Entium wird dem „Sum qui sum", E x . 3 , 1 3 , parallel geschaltet), teils zeitgenössische Lehrbücher. Vgl. Joh. Barthold Niemeier, De Atheismi eversione, pars posterior, 1690, Th. L X X X I I . 2 2 Examen, 1677, S. 31; darin sieht Wagner zugleich die Allmacht Gottes erwiesen. 2 3 Da die Kette der causae noch im Ablauf begriffen ist, muß der noch stattfindende motus als creatio continua verstanden werden; daraus ergibt sich für Wagner die Begründung der Providenz. S. 37 f. 2 4 E r beweist Gottes Existenz „ex eo, quod necesse sit aliquid esse a semetipso" (GnKommentar, 1623, Ratio III, Sp. 33 ff.) oder „ex eo, quod creaturae sint ens, productum ab alio" (ebd., Ratio I X , Sp. 41 ff.). Derartige Überlegungen treffen sich bei ihm mit Erwägungen zu Physik (Sp. 45 f.) und Mechanik (Sp. 83 ff.), verlieren dabei aber ihren Charakter als metaphysische Argumente. 2 5 Vgl. oben S. 219 f. 2 6 Vgl. De Providentia Numinis, 1617 2 , S. 22 ff. 21

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mentation zurückhaltender waren als ihre Kollegen. Konrad Vorst, der sich später den Arminianern anschloß, glaubte im Gegensatz zu seinen lutherischen und reformierten Kollegen nicht an eine „innata Dei notitia". Wenn es eine natürliche Gotteserkenntnis gab, konnte diese nur von außen kommen, auf dem Weg über die Sinne, aufgenommen und verarbeitet durch die Ratio 2 7 . Vorst betont, von seinem „sensus" her müsse er schließen, daß nichts aus nichts entstehe 28 . Der Rakower Prediger Johann Crell29 möchte denen, die die Autorität der Schrift noch nicht anerkennen, Gottes Existenz nachweisen aus dem „mundi hujus opificio": Daß eine erste Ursache vorhanden sein muß, ist klar, da es ja — logischerweise — keinen progressus in infinitum geben darf 3 0 . Noch eindrucksvoller aber ist für Crell, wie die Materie zu ihrer jeweils einer bestimmten Intention entsprechenden und dienenden „forma" kommt 3 1 . Er erschließt die Existenz Gottes in einer komplizierten, zwischen konkreter Beobachtung und abstrakter Auseinandersetzung mit aristotelischen Axiomen hin- und herpendelnden Gedankenführung, in der ihm bestimmt keiner seiner potentiellen Gegner gefolgt ist. Verzichtet hat keiner der klassischen Apologeten des Christentums jenes Zeitraums auf dieses Argument. Hugo Grotius32 hat es ebenso eingeleuchtet wie Petrus Molinaeus33; Philipp Mornaeus blickt fasziniert auf den minimalen Schritt vom Nichts zum Etwas, der dennoch die Macht des Unendlichen erfordert 34 . Er sieht das Gesetz von Ursache und Wirkung auch dann gegeben, wenn die Einzelheiten nicht durchschaut werden kön„ N o n . . . existimamus, innatam esse nobis aliquam D E I notitiam: quum proprie loquendo, nullius rei cognitio homini videatur innasci: sed universa suo demum tempore, per sensuum & intellectus operationem, acquiri. Hactenus tarnen ita vocari potest, quatenus ope & praesidio solius N a t u r a e , h.e. Rationis naturalis, & hinc exstructae Philosophiae, homines hucusque pervenire possunt, ut saltern D e u m aliquem esse, susp i c e n t u r . . . " ; Tractatus, 1610, D i s p . I, notae, S. 118 f. 2 8 „ N i h i l autem fieri potest a seipso: quia nihil potest simul esse & non esse, simul esse prius & posterius seipso, dinique simul esse caussa & effectum suiipsius." Eine andere causa ist also schlechthin notwendig. „Alioqui sequeretur, aliquando nihil omino fuisse, ac proinde ne nunc quidem aliquid esse: quia quicquid non esse potest, id aliquando non est." Ebd. S. 2 f. 2 9 Johann Crell (1590—1633) aus Helmetzheim in Franken geriet während seines Studiums in A l t d o r f in den R u f eines Kryptocalvinisten; er begab sich nach Polen und schloß sich dort den Sozinianern a n ; als Prediger und theologischer Lehrer wirkte er in und bei R a k o w . Vgl. Jöcher I, Sp. 2184 f.; A D B 4, S. 586. 3 0 Liber de Deo, o.J., Sp. 7. 3 1 Sp. 7 ff. 3 2 D e veritate religionis christianae (1640), S. 8 f. 3 3 D e cognitione Dei, 1625, S. 18 ff. 34 „ I a m , inter N i h i l u m illud, & Aliquid, quantulumcunque id imagineris, spatium infinitum est; nec vero infinitum quisquam, nisi infinitus replere potest. E r g o causam horum effectuum vi Sc potentia infinitam esse oportet: quia vero causae nomen eius dignitati non respondet, hanc Theologico idiomate Deum vocamus." D e veritate religionis christianae (1592), S. 5. 27

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nen: Von den Zweigen eines Baums lasse sich ohne weiteres auf die Wurzeln schließen, vom Strom auf die Q u e l l e 3 5 ; das Bild vom Uhrwerk als System der causae secundae, das auf den Meister als prima causa verweist, soll dem Zeitgenossen einleuchten 36 . Andere Autoren suchen nach anderen Vergleichen. Nichts kann sich selbst erschaffen; das Verhältnis ist unumkehrbar wie die Generationenfolge vom Vater zum Sohn 3 7 . D a s Kausalitätsgesetz durchwaltet die ganze Welt: Wie ein Schiff nicht ohne Rahen und Pflugbaum, ein Flaschenzug nicht ohne Balken, eine Waage nicht ohne Gleichgewicht denkbar ist, so sind diese alle nicht denkbar ohne Gott 3 8 . Weil der Atheist selbst in diesen Kausalitätszusammenhang mit hineinverwoben ist, kann man ihn auch direkt daraufhin ansprechen. Mersenne erhebt die grundsätzliche Frage: Wie kann ein Mensch gegen seinen Schöpfer aufbegehren, ohne den er nicht zu sein, ja diesen nicht einmal zu leugnen vermag 3 9 ! U n d er wendet sie ins „Persönliche": „Agnosce igitur Athee creatorem tuum . . . " 4 0 . Bircherodius in Kopenhagen verweist eine Generation später den Atheisten auf dessen Vorfahren: Irgendwann müsse er doch bei einem ersten Ahnen ankommen, von dem alle anderen abstammten, und dann frage es sich eben, wie dieser zu seinem Leben gekommen sei 4 1 ! J e m a n d müsse ja die Welt geschaffen haben, argumentiert unter einem Pseudonym Christian Neubauer, „sonsten müstestu Atheist hungers sterben" 4 2 . In volkstümlichen Lehrgesprächen bringen die Verteidiger der Existenz eines Numens das Gesetz von Ursache und Wirkung immer wieder als durchschlagendes Argument vor 4 3 . Von der Schwere metaphysischer Diskussion befreit, wird es schließlich zu einer Sache des gesunden Menschenverstands. Der Bremer Prediger Theodor Undereyck gibt „allen vernünftigen Menschen zu bedenken: O b uns nicht die N a t u r lehre / daß S. 15. M o r n a e u s ebd. S. 7 ; vgl. die charakteristische Verschiebung, die es bei der Illustration des „ p r i m u m m o v e n s " erfährt, unten A n m . 51. 3 7 J . W . J ä g e r , Theologia naturalis, 1684, S. 11. 3 8 Mersenne, G n - K o m m e n t a r , 1623, S p . 87. 3 9 „ O miseras hominum mentes, audetne homuncio in suum omniumque rerum authorem, atque servatorem insurgere? eumque negare, sine q u o nequidem loqui, nequidem negare, nequidem esse p o t e s t ? . . . " ; G n - K o m m e n t a r , S p . 84. 4 0 „ . . . qui earn materiam, earn f o r m a m , illas circunstantias, & conditiones, illa denique omnia scivit a d invenire, quae ad t u a m gubernationem c o n c u r r e r u n t . . S p . 124 f. 4 1 „ S i atheus seipsum & sui o r t u m consideret, menteque genealogiam s u a m retro percurrat, quaeso anne in unum aliquem incidet ingenitum?" Exercitationes (1660), S. 23. 4 2 Widerlegung der Atheisten, 1692, S. 23. — Ein C h r . N e u b a u e r w i r d ohne genauere Lebensdaten bei A d e l u n g V, S p . 523, vorgestellt. O b es sich dabei u m den Verfasser der genannten Schrift handelt, ist ungewiß. 4 3 F. M . Bonini, L ' A t e i s t a convinto, 1665, S. 59 ff.; J o h . Lassenius, Besiegte Atheisterey, 1693, T h . V ; I m m . Weber, Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 4. 35

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wir durch alle Ding zu einem ersten Ursprung gebracht werden . . ," 44 . Alles hat eine Ursache gehabt, schreibt Johann Lassenius, und das muß jeder zugeben, der nicht „muthwillig Gottloß und unvernünfftig seyn will" 45 . In seiner „kurtze(n) Anweisung / wie den heutigen Atheisten und Naturalisten zu begegnen" 46 schreibt Andreas Hagemann, man komme doch beim Nachdenken immer auf ein „principium" einer Sache. Frage man nach der Ursache für die Auswirkungen der Sonne, so werde man antworten müssen: Es ist die Sonne. Frage man weiter nach deren „principium" — so werden wir, der Atheist und ich, „beyde sagen müssen / ja sie hatt es an ihrem Schöpffer" 47 . Solche unwissenschaftlichen Einkleidungen logischer Schlüsse machen gelegentlich einen recht naiven Eindruck. Aber sie taten das Ihre dazu, daß Gott im Rahmen des Beweises seiner Existenz nicht zu einer bloßen „causa" abstrahiert wurde, sondern auch als „Schöpfer" im Gedächtnis blieb. 2. Das Postulat des „primus motor" Neben dem Nachweis einer prima causa taucht — ungleich seltener — der Gedanke vom ersten Beweger auf. Für Vorst ist dies wieder eine Erfahrung des Sensus. Er definiert „moveri" als „e potentia in actum deduci" 48 . Nun kann aber nichts zugleich „in actu & potentia" sein, „secundum idem". Daraus folgt, „movens" und „motum" kann nicht identisch sein, sofern es um erste Bewegung geht 49 . Für einige Autoren scheint das Argument aber eher traditionelles Requisit zu sein50. Von den lutherischen Polemikern hat offenbar nur der ohnehin stärker in aristotelischen Kategorien denkende Johann Barthold Niemeier Interesse daran 51 . 44

Der närrische Atheist, 1722 2 , S. 193. Vgl. P. Stockmann, Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, S. 51 ff. (ohne auf die von ihm selbst vorgebrachten atheistischen Einwände einzugehen!). 45 48 Besiegte Atheisterey, 1693, S. 178. Osterode 1685. 47 48 S. 10. Tractatus (1610), S. 3. 49 Ein progressus in infinitum ist auch hier wieder ausgeschlossen: „quum infinita moventia non possint tempore finito ad terminum suum pervenire." Ebd. 50 Vgl. Petrus Molinaeus, D e cognitione Dei, 1625, S. 14 ff.; Bircherodius, Exercitationes (1660), S. 20 f. 51 D e Atheismi eversione, Pars posterior, 1690, § L X X X I I f f . Der motus ist für ihn als Accidens der prima substantia wichtig. Er erkennt die Notwendigkeit der Existenz beweglicher Substanzen, von denen einige corruptibiles sind, andere nicht. Durch viele Aristoteles-Stellen gestützt und umständlich eruiert, ergibt sich schließlich folgendes Resultat: „Quicquid movetur, ab alio movetur." § L X X X V . Vgl. auch Adam Rechenberg, Fundamenta, 1708, Pars I, § 3, und A. Hagemann, Kurtze Anweisung, 1685, S. 12, der Aristoteles am Uhrenbeispiel verdeutlichen will: D a ß „wie die Räder in einer U h r / d a eins von dem andern getrieben w i r d / u n d man endlich eins findet das sie alle treibet / also auch Gott erkant w e r d e . . . " . Gott ist hier nicht mehr der Uhrmacher wie bei Mornaeus, vgl. oben Anm. 36, sondern nur noch ein erstes treibendes Rädchen.

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3. Das Postulat des „ens necessarium" Eine ähnliche Statisten-Rolle spielen Rudimente des ontologischen Beweises, soweit sie nicht durch die Neuwertung Descartes' eigene Bedeutung gewonnen haben 5 2 . So erscheint das ontologische Argument als eines unter anderen bei Konrad Vorst53, bei MolinaeusSi, bei Mersenne55 oder bei dem volkstümlich schreibenden Immanuel Weber™. In einem ausführlichen Schlußverfahren verwertet es zu einem relativ späten Zeitpunkt der Coburger Gelehrte Johann Conrad Schwartz57. Die Argumentation bewegt sich in Definitionen, Axiomen, Propositionen, Scholien und Konsectarien mühsam vorwärts. Gott erscheint dabei als „substantia perfectissima" 58 , deren ewige Dauer von der unendlichen Kraft zeugt, die f ü r die Erschaffung der Welt nötig war 5 9 . Damit gerät das ontologische Argument in die Nähe des kosmologischen; isoliert betrachtet, findet es keine Anhänger. Der alte Tobias Wagner wünscht sich von Anselms Argumentation: „Utinam autem tam solida, quam pia!" 6 0 Aus dem Postulat eines Seins, „quo majus cogitari non potest", ergibt sich dessen reale Existenz noch nicht 81 . Findet der Gedanke von der Unvollkommenheit und Endlichkeit der Welt ernsthafte Verwendung, so wird er in den Dienst des Kausaldenkens gestellt: Endliches kann nicht durch Endliches letzthin begründet sein. In dieser Weise geht Tobias Wagner vor. Einem an der klassischen Metaphysik geschulten Denker kann die Meinung, „finitum quippiam esse omnium Entiumprimum", nur lächerlich erscheinen 62 ; Wagner bedenkt freilich nicht, daß sein Gegner überhaupt nicht in den Kategorien von finitum und infinitum, von causa prima und causae secundae argumentiert. Dem endlich Seienden wird in diesem Zusammenhang das unendliche Sein gegenübergestellt, dem Kontingenten das „absolute necessa52

Vgl. Dieter Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. Tübingen 1960, S. 10 ff. 53 54 Tractatus (1610), S. 4. De cognitione Dei, 1625, S. 16 ff. 55 Gn-Kommentar, 1623, Ratio V, Sp. 35ff.; Ratio VII „ex gradibus entium", Sp. 39/ 40. „Placet etiam Atheis omnes gradus entium, ut alteram Jacobi scalam offerre, qua ad rerum omnium conditorem ascendant." Sp. 40. 56 Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 4: „durch die Stuffen derer Geschöpff-Ordnung". Vgl. Hagemann, Kurtze Anweisung, 1685, S. 18 f. 57 Demonstrationes Dei, quem ratio docet ac Scriptura sacra, Frankfurt und Leipzig 1708. 58 Ebd. S. 9. 58 „Efficere & producere naturam, praesertim tantam, cujus fines nullo humano consilio nec arte pervestigari possint, indeterminatae virtutis est & potentiae." S. 28. 60 Examen, 1677, S. 17. 61 Wir können vom Atheisten nidit erwarten, „ut argumentum ex conceptu nostro, qui κρινόμενον est, ad rerum existentiam admittat" — wir würden das ja umgekehrt auch nicht tun! Ebd. 62

Wagner, Examen, 1677, S. 26.

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rium" 63 . Gott muß per definitionem notwendig sein oder nicht sein 94 ; seine Verteidiger haben freilich die Aufgabe nachzuweisen, daß das notwendige Sein nicht dem kontingent vorfmdlichen Weltall zukommt, sondern Gott®5. Die ontologische Argumentation steht hier vor der gleichen Schwierigkeit wie die kosmologische; die Debatte ist jedoch fast ausschließlich über den Kausalitätsschluß geführt worden 66 . b) Der Kampf um die prima causa 1. Die Frage nach der „causa" für Gott Die meisten der Polemiker, die auf dem Wege über die Kausalität Gottes Existenz nachweisen wollten, waren sich — nicht der Anfechtbarkeit, aber doch des faktischen Angefochtenseins ihrer Position bewußt. Das Argument von der prima causa zog im Grunde nur, solange es in Verbindung mit der biblischen Schöpfungslehre gesehen wurde. Aber welcher Atheist, fragt der alte Tübinger Polemiker Tobias Wagner resigniert, welcher Atheist hält den Schöpfungsbericht des Mose nicht für eine Fabel 67 ? Sobald sich diese Verbindung lockerte, trat eine Menge von Problemen in Erscheinung: War Gott erst einmal in die Reihe der causae eingeordnet, wenn auch als erste, dann erhob sich die Frage, wieso Gott denn nun die erste Ursache sein solle, bzw. umgekehrt, ob nicht gerade die Vorstellung von den causae die einer ersten causa — und heiße sie Gott — unmöglich mache! Ob sie nicht dem Gedanken von der creatio ex nihilo strikt widersprach! Jakob Wilhelm Feuerlein weist am Ende der Debatte in seiner Untersuchung des Axioms „Ex nihilo nihil fit" 68 darauf hin, daß die christliche Schöpfungslehre das Nichts ja gerade nicht als „causa materialis positiva" für die Schöpfung verstehe; der Sinn der Aussage „ex nihilo nihil fit" bestehe nicht in der Behauptung, „nihilum Vgl. J. W . Jäger, Theologia naturalis, 1684, S. 14 f.; Joh. Andreas Schmidt, De Deo, 1690, S. 5 ; G. de Vries, Exercitationes rationales, 1695, S. 61 ff.; „ . . . dubium esse nequit, quin Deus, propter Infinitatem suae Perfectionis, sit Ens necessario existens." Ebd. S. 62. 6 4 „In divinis enim idem est esse actu, & posse esse: non esse actu, & esse impossibile"; Leonard Lessius, De Providentia Numinis, 1617 2 , S. 12. Umgekehrt wird von gegnerischer Seite nicht nur die Existenz Gottes, sondern auch die Möglichkeit der Existenz eines Gottes bestritten; vgl. Undereyck, Der närrische Atheist, 1722 2 , S. 365 f. 6 5 Vgl. Fr. Cuper, Arcana Atheismi, 1676, S. 240 f. 6 8 Eine gewisse Ausnahme macht Chr. Franck, der darauf hinweist, daß das „ens a se mente praeditum" sein müsse, da die causa in ihren Qualitäten nie hinter dem effectus zurückbleibe. Hier wird somit das ontologisdie Axiom auf Grund von kosmologischen Überlegungen aufgestellt, übrigens in Auseinandersetzung mit der antiken These von der Ewigkeit der Materie; dazu unten S. 2 4 2 f f . Vgl. Atheus convictus, 1672, S. 10ff. 6 7 Examen, 1677, S. 18 f. Vgl. Adam Tribbechow, Veritas creationis mundi, 1668, S. 15. 6 8 Altdorf 1732. 83

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positive esse causam sui ipsius, sed de omni ente negatur posse sui ipsius causam esse" ®9. Daß der Begriff „esse" bzw. „ens" in einer solchen Argumentation verschieden gebraucht wurde, je nachdem, ob man ihn auf die causa prima oder auf die causae secundae anwandte, wurde nicht bemerkt. Man bemühte sich um den Nachweis, daß man natürlich nur a posteriori auf Gott schließen könne 70 . Das gebiete schon die Logik; Joh. Petr. Grünenberg zeiht denjenigen der Torheit, „qui Ens per Prius, & Ens a se per Ens ante illud vult probari" 7 1 . An dieser Stelle rückte auch für den orthodoxen Theologen die Transzendenz Gottes ins Blickfeld, die Grenze des Redens von Gott und damit freilich audi die Grenze des Beweisens — was aber nicht zugegeben wurde. Friedrich Ulrich Calixt beruft sich in diesem Zusammenhang auf l . K o r . 13, 12 — wir erkennen nur undeutlich wie in einem Spiegel, „objectum infinitum modo finito" 7 2 . Johann Müller wagt nicht zu entscheiden, ob Gott „a seipso" oder „causa sui ipsius" ist: „Wenn wir eigentlich wüsten was die Ewigkeit sey / und könten es begreiffen / so könten wir auch recht reden von G o t t . . . " 7 3 . Die Formel, auf die man sich einigte, lautete: Die Welt sei zwar „ex nihilo", nicht aber „ab nihilo" geschaffen worden 74 . Daß durch den Grundsatz „ex nihilo nihil" der Allmacht Gottes keine Grenzen gesetzt sind, ließ sich dann rasch nachweisen75. ·» Ebd. S. 26. 7 0 Petrus Molinaeus verweist in diesem Zusammenhang auf die biblische Rede von den „posteriora D e i " . Man könne nicht sagen, was G o t t tun werde, aber wenn er etwas getan habe, erkennten wir daran seine Macht. D e cognitione Dei, 1625, S. 31 f. 7 1 D e Atheorum religione prudentum, 1701, § 71 (Ende). Vgl. Seb. Niemann, Atheus refutatus, 1668, S. 2 6 : G o t t ist nicht positiv causa sui ipsius, das wäre absurd; die Rede von der prima causa besage nicht, daß G o t t sein Sein von sich selbst habe, sondern nur negativ, daß er es nicht von einem anderen Sein hat. Wigand Kahler, der Herausgeber von Derodons Buch gegen den Atheismus, hält es nodi 1733 für nötig zu erläutern, daß der Sdiluß auf G o t t a priori, als ob G o t t audi seinerseits eine Ursache habe, unsinnig sei, und daß man den Begriff der „aseitas" nur negativ, also als Ausdrude der Unabhängigkeit Gottes verstehen dürfe; Derodon, Widerlegter Atheismus (1733), S. 2 f. (Anm.); vgl. ferner J . W . Jäger, Theologia naturalis, 1684, S. 8. 7 2 De religione idolatrica, 1687, S. 12. 7 3 Atheismus devictus, 1672, S. 88. Diese Grenze sieht Seb. Niemann audi dem Nichts gegenüber gegeben. M a n könne, führt er aus, mit dem Nichts nicht argumentieren, als sei es eine Form von Etwas, „Materia & subjectum aliquod, ex quo res possit produci"; denn: „si . . . inter nihil & rem produetam detur ordo aliquis, ille non esset realis, cum ipsum nihil nullam habeat naturam, verum in negatione consistat"; Atheus refutatus, 1668, S. 73 f. 7 4 Vgl. K o n r a d Vorst, Tractatus, 1610, S. 1 3 0 ; G . Vossius, De theologia gentili, 1668, S. 4 : „Nos seimus, ex nihilo factum aliquid: sed aliquid factum esse ab nihilo, id vero absurdissimum putamus." 75

Vgl. Seb. Niemann, а. а. O . S. 73.

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2. Die Frage nach der „causa" ohne Gott Gewöhnlich suchte der Gegner natürlich nicht eine Ursache für die Ursache Gott; das war nur eine logische Spielerei, an der deutlich werden sollte, daß der Kausalitätsbeweis nicht hielt, was sich die Theologen von ihm versprachen. Viel näher lag es, die Kausalreihe „unterhalb" von Gott beginnen zu lassen, Gott von der Kette der Ursachen abzuhängen, um damit zu einem lückenlosen System von einander bedingenden Ursachen zu gelangen. Brachte man den Gedanken von der Kausalität — unter Zerstörung seiner Symbiose mit dem biblischen Schöpfungsbericht — wieder in seine eigentliche Heimat, in den Kontext einer nicht christlich interpretierten antiken Weltentstehungslehre zurück, so schien er seine Wirkung als Argument gegen die Atheisten zu verlieren. Freilich mußten auch diese sich die Frage nach der „causa" gefallen lassen: Sie verwiesen statt einer Antwort auf die Natur. Nicht Gott ist ihrer Meinung nach die erste Ursache, „sed individuum aliquod vagum ac incertum, quod possit esse Natura" 7 6 . Die Schöpfung kann auch „von der gütigen Natur" stammen 77 ; Gott und Natur werden zu austauschbaren Begriffen 78 . Der Atheist mußte sich nun seinerseits gefallen lassen, daß man ihn fragte, was er mit dem Begriff „Natur" meine 79 . Tatsächlich existierte ja noch kein festes Verständnis. Das Hauptproblem dabei war, wie man von den Einzelerscheinungen der Natur zu einem Gesamtbegriff kommen sollte. Daß man die „natura particularis" in keiner Hinsicht an die Stelle Gottes setzen konnte, leuchtete ein 80 . Die Natur mußte also als Gesamterscheinung begriffen werden. Dem hielten jedoch die Theologen entgegen, daß sie jedenfalls nicht als jene „una tantum & simplex . . . substantia" aufgefaßt werden könne, die die Ausgangsbedingung für die Schöpfung darstelle 81 . Franciscus Cupems, im Umgang mit holländischen Atheisten geschult, macht geltend, daß das Universum keine einzige substantia sei — abgesehen davon, daß, wenn sie so von Gott geschaffen worden wäre, das noch nicht gegen dessen Existenz spräche; vielmehr müsse man von vielerlei und wechselnden qualitates reden, wie Farbe, Wärmegrad usw.; die extensio lasse sich nicht als die allen gemeinsame forma verstehen, da sie nie ohne andere proprietates existiere. Umgekehrt 76

Niemann ebd., S. 24. Vgl. Joh. Lassenius, Besiegte Atheisterey, 1693, S. 81. P. Stockmann, Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, S. 4. 78 „Deus illis nihil aliud est quam Natura; per decreta divina intelligunt aeternam & immutabilem causarum naturalium concatenationem . . . " ; Joh. Ulr. Frommann, Atheus stultus, 1713, S. 20. 79 „ . . . interrogare licebit eum, qui haec obiicit, quid Naturae nomine intelligat?" Joh. Crell, Liber de Deo, o.J., Sp. 6. 80 Ein bißdien primitiv argumentiert Crell а. а. O., das Getreide wisse ja nicht, daß es Korn hervorbringen solle; entsprechend sei es bei den Eseln und Schweinen. 81 Vgl. Fr. Cuper, Arcana Atheismi, 1676, S. 201. 77

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sei der einzige denkbare Gegenstand, der nur extensio besäße, die Linie — also keine substantia im Vollsinne 82 . Tobias Wagner löst das Problem auf kürzerem Weg: Wie wollen die Atheisten beweisen, daß die N a t u r mit Gott gleichzusetzen ist? Erde oder Himmel oder andere Teilphänomene seien jedenfalls nicht als prima causa anzusprechen: „Ergo, absurdissime (sc. natura) pro Deo habetur." 8 3 Doch blieb den Theologen noch ein zweiter Einwand: Konnte die „ N a t u r " zur Erklärung des Bestehenden ausreichen, oder mußte man sich diese nicht mindestens als „intellectrix" vorstellen 84 ? Für viele Theologen mag es einfach außerhalb ihres Denkhorizonts gelegen haben, daß die N a t u r aus „eigenen" Kräften sollte schaffen können. Andreas Hagemann „widerlegt" das durch den schlichten Hinweis, daß sie doch nur „Dei potestas in causis secundis" sei 85 , und Leonard Lessius SJ, der sich überraschend gut in das Denken seiner Gegner hineinversetzen kann, sieht auch in dem scheinbaren Eigenwirken der causae secundae einen geheimnisvollen Hinweis auf die göttliche Providenz 8 6 . Für Gott sprechen in Wahrheit all die Argumente, die der Atheist zugunsten der N a t u r vorbringt, behauptet de la Serre in seinem 1674 ins Deutsche übersetzten „Atheisten Grab" 8 7 . Manche Theologen winken gleichsam unwirsch ab; Johann Müller, der durchaus auch sachliche Argumente vorzubringen weiß 8 8 , unterbricht 82

Ebd. S. 213 f. Examen, 1677, S. 47. An anderer Stelle geht er jedoch ausführlich auf die Frage nach der Gesamtheit des Universums ein. Vgl. S. 243 f. 84 Vgl. Sam. Parker, Disputationes de Deo, 1678, S. 208 ff. Wenn alle Künste auf dem Weg über die ratio von der Natur abgeleitet sind, argumentiert Parker, — ist es dann denkbar, daß hinter der Natur selbst keine ratio stehe? 85 Kurtze Anweisung, 1685, S. 18. 86 „Fatcor, quaedam ex istis ita evenire, ut necessitate materiae fieri videantur; hoc tarnen maiorem & sublimiorem providentiae dispositionem indicat, per quam causa eorum universalis (nimirum solis & astrorum) ita est instituta & temperata, ut absque alterius causae effectricis concursu faciat illa suis temporibus & locis, congruentissime rebus gignendis & mortalium commodis, produci & existere. Itaque non sola materiae necessitate, sed causae universalis vario adspectu & applicatione ista proveniunt." De Providentia Numinis, 16172, S. 61 f. Ähnlich antwortet Fr. Cuperus auf das Argument seiner Gegner „omnibus rebus naturaliter inesse facultatem operatricem, necessario operantem": Das schließe ja nicht aus, daß die Dinge diese Kraft von jemandem bekommen haben! Arcana Atheismi, 1676, S. 210 f. 87 S. 8. Er differenziert zwischen „Kreatur" und „göttlicher N a t u r " : „Der Creatur ist weiter nidit(s) erlaubt / als mit stiller Ehrerbietung diese Göttliche Natur anzubeten." S. 9. Auf diesem Wege gelangt er wieder zum Postulat einer prima causa und eines primus motor, S. 9 ff. 88 Er fordert den Beweis durch die Atheisten, weist auf die Wunder als Fälle hin, bei denen Gott sich über die Natur als seine „potestas ordinaria" hinwegsetzt; er sucht den Begriff „Natur" zu klären, fragt nach dem Verhältnis von natura naturans und natura naturata und verweist schließlich auf die faktische kausale Abhängigkeit, die einen primus motor erfordere; Atheismus devictus, 1672, S. 83 ff. 83

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unvermittelt seine logische Gedankenführung: „An Gott glauben wir / wie können wir aber an die Natur glauben?... Für Gott fürchten wir uns У wer fürchtet sich für der Natur? Es ist ein ungereimtes tolles Gewäsch / daß die Natur Gott sey . . . " 8 e . Valentin Ernst Löscher, eine Generation später, behauptet kühn, hier handle es sich um eine Meinung, die es nicht verdiene, widerlegt zu werden 90 ! Einige Theologen urteilen jedoch auch freundlicher; sie kommen ihrem Widersadier entgegen. Wenn nur ein erstes Prinzip anerkannt würde, bekommt man von ihnen zu hören, so spiele der Name schließlich keine Rolle 91 . Wenn das Wesentliche aber eben doch nicht in der Natur liege, sondern an der Weisheit, die sie leite, dann solle man freilich lieber gleich von Gott reden 92 . Würde die Natur verstanden als „primum & independens Ens", so wäre Sebastian Niemann etwa mit seinem Gegner einig; sei das jedoch nicht der Fall, so bleibe für ihn die Frage nach der ersten Ursache ungelöst. Der Mechanismus der klassischen Argumentation läuft dann ohne Wenn und Aber ab 93 . Sogar ein Tobias Wagner sieht in dem Verweis der Gegner auf die „Natur" als Ursache der Schöpfung die Anerkennung eines „aliquod Numen", obgleich er sich natürlich scharf gegen die Identifikation dieses Numens mit der Natur wendet 94 . 88

Ebd. S. 84 f. „ . . . turpissimo errore nititur, neque meretur refutari." Praenotiones, 17132, S. 4. 81 „Hoc enim admisso sive Ens illud dicatur Natura vel Mundus, sive DEUS, nihil derogatur argumento." Joh. Wolfg. Jäger, Theologia naturalis, 1684, S. 10. Ohne sich der damit verbundenen Probleme voll bewußt zu sein, sekundiert zu Beginn des neuen Jahrhunderts Paul Stockmann: Wenn man die Natur als allmächtig, allweise usw. auffasse, dann bekenne man damit Gott, — „ . . . du magst ihn nun benahmen wie du wilst." Der verkehrte und bekehrte Atheist, 1701, S. 65. Damit wurde ein gefährlicher Weg beschritten, den schon der Späthumanist Justus Lipsius gewiesen hatte: Man müsse die Natur verstehen als „intelligens & animata quaedam . . . vis", schreibt er an Hieronymus Berchemius: „Si ita, jam conventio inter nos est: & hoc, quod Naturam sie appellas, ipsa est Deus. De nomine quid litigem?" Epistolarum . . . chilias (1597), S. 590. 82 „Si haec Natura Consilio suo utitur ad ineipiendum aliquid, Ratione ad disponendum, Arte ad efficiendum, virtute ad consummandum, potestate ad Regendum & continendum, cur Natura potius quam Deus nominetur?" J. W. Jäger, Theologia naturalis, 1684, S. 10. 83 „.. . si vero per naturam intelligunt id, quod prineipium movendi & quiescendi in se habet, in quo est primum per se & non per accidens, ut Aristoteles eam definit; tunc negamus. Licet enim natura prineipium movendi & quiescendi in se habeat, tarnen illud ipsum prineipium oritur rursus ab alio prineipio, nempe ab autore naturae, qui est Deus ille magnus. . . . Natura aut est a se aut ab alio; Si a se, tunc semetipsam produxit, quod absurdum, cum nihil sui ipsius sit causa efficiens. Si ab alio, Ergo non erit prima, sed alia erit prior, Q.F.D." Ebd. S. 25. Ähnlich Johann Crell: Wenn die Gegner nur an eine „natura universalis" als Summe der Partikularerscheinungen denken, dann gilt für beides dasselbe Gesetz, nämlich die Notwendigkeit einer ersten Ursache. Nähmen sie jedoch eine substantia außerhalb der Partikularerscheinungen der Natur an, so erkennten sie damit ja die Existenz Gottes an! Liber de Deo, Sp. 6 f. 84 Examen, 1677, S. 46 f. 80

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Bis auf wenige Ausnahmen widerstanden die Theologen der naheliegenden pantheistischen Versuchung. Thomasius rügt die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Natur", bei dem Gott vorausgesetzt oder ausgeklammert werden könne; er nennt das den „fons maximus Atheismi" ®5. Die spinozistische Gefahr war erkannt. Man glaubte, ihr nur durch ein Mittel begegnen zu können, nämlich durch den Nachweis der Endlichkeit der Welt. 3. Das Problem

der „collectio

causarum"

Der Tübinger Johann Wolfgang Jäger™ kennt die Ausflucht der Gegner in den „unermeßlichen Wald" der unzähligen wechselseitig aufeinander einwirkenden causae 97 ; aber dieses Argument seiner Widersacher wird von ihm ebenso unerbittlich in das klassische Schema eingespannt: Die Menge der causae muß entweder geschaffen oder nicht geschaffen sein. Ist sie nicht geschaffen, dann muß in ihr selbst ein ungeschaffenes Ens reale aufzufinden sein. Das ist aber nicht der Fall, folglich muß sie geschaffen sein, folglich muß ein „factor non factus" außerhalb ihrer selbst existieren 98 . Nach diesem Grundschema wird die Argumentation immer neu vorgeführt. Man schließt von der Endlichkeit der Einzelerscheinungen auf die Endlichkeit von deren Gesamtheit und fügt dann — handlich wie das Hebelgesetz — das Kausalitätsargument an. Besonders in Tübingen scheint man dieses Argument ernst genommen zu haben; Johann Wolf gang Jäger argumentiert wie knapp 20 Jahre vor ihm Johann Adam Oslander™. Auf ganz ähnliche Weise versucht der Tübinger Atheistenbestreiter Tobias Wagner mit dieser Schwierigkeit Historia Atheismi (1713), S. 57 f. Jäger (1647—1720), Informator und Reiseprediger der Prinzen von Württemberg, wurde nach verschiedenen Dozenturen in Geographie, Latein, Griechisch, Moral, Logik und Metaphysik 1692 Professor für Theologie und bekleidete in den folgenden Jahren verschiedene ehrenvolle Stellungen in seinem Land (1699 Konsistorialrat in Stuttgart) und an seiner Universität (1702 Kanzler und Stiftsprediger in Tübingen). Sein reiches literarisches Schaffen verrät reges Interesse an den Problemen seiner Zeit. Vgl. Jöcher II, Sp. 1828 f.; A D B 13, S. 651. 97 „Tandem Athei, ut dicti Argumenti vim eludant, in immensam sylvam, multisque ambagibus implexam se recipiunt, scilicet Infinitatis Causarum, vel simul Actu existentium, vel invicem succedentium versus Aeternitatem Theologia naturalis, 1684, S. 13. 98 S 13 f. 99 Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 1 1 0 f. Die collectio entium muß ebenso geschaffen sein wie die einzelnen entia — „aut demum si quatenus collectio est, habet praedicatum essentiale non repertum in entibus particularibus, videlicet esse improductum; ergo & quatenus collectio est ens a se, & rerum cunctarum fons atque scaturigo: igitur tandem deveniendum est ad causam primam aliquam, quae cum necessario & a se existat, & ideo infinitae, & illimitatae sit potentiae, Numen censeatur, a quo universae creaturae recipiant, ut sint & operentur." S. 1 1 1 . 95

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fertig zu werden: Wenn die Einzelerscheinungen endlich seien, dann gelte das audi von deren Summe. Das jeweils existierende Ens könne ebensowenig wie die Summe aller jeweils existierenden Entia identisch sein mit dem „Ens improductum simplex" 10°. Wagner, der sich theoretisch die Welt als infinitum vorzustellen vermag, arbeitet dieser Vorstellung entgegen durch komplizierte geometrische Überlegungen 101 , bei denen freilich das gesamte Weltall doch von vornherein als begrenzt angenommen wird — nur in riesigen Ausmaßen —, und durch die Überlegung des Aristoteles, daß Veränderung, ja Bewegung überhaupt, nur bei Endlichem denkbar sei102. Durch die räumliche Endlichkeit soll die zeitliche Unbegrenztheit, also die Ewigkeit der Welt bzw. der Materie, ausgeschlossen werden 103 . Wenn die Welt nicht ewig ist, muß sie aber eine causa haben — die übliche Argumentation konnte sich anschließen104. Den Theologen kam die Tatsache zu Hilfe, daß auch ihre Gegner noch im mechanistischen Denken verhaftet waren, von dem aus eine Wechselwirkung von causae ohne eine prima causa wirklich kaum denkbar war. Zu welchen grotesken Vorstellungen das mechanistische Denken in diesem Zusammenhang führen konnte, zeigt ein Vergleich, den Johann Adam Oslander anbietet: Man nehme an, die causa „Pferd" kausiere die causa „Löwe" und umgekehrt; das Pferd muß dann seiner Natur und seiner Kausalität nach früher sein als sein effectus causativus, der Löwe; umgekehrt gilt aber genau das Gleiche. Der Löwe bringt also beispielsweise das Pferd hervor, damit aber zugleich sich selbst: „igitur leo foret prior & posterior seipso, prior quoniam causa sui, posterior quia causatus a semetipso..." 1 0 5 . 4. Die Auseinandersetzung mit dem „Spinozismus" Aus alledem läßt sich leicht errechnen, wie die Argumentation der Theologen gegenüber Spinoza ausgesehen hat l o e . Seine Lebensgeschichte konnte der kirchliche Zeitgenosse nicht ohne negative Emotionen anhören, was die Sachlichkeit der Auseinandersetzung natürlich nicht förderte. Schon den Namen nahm man zum Anlaß, um Aversionen gegen ihn zum 100

Examen, 1677, S. 26 f. „In omni quanto corpore datur punctum, ad quod dividitur linea, & linea, ad quam dividitur superficies, quorum utrumque, & punctum & linea, corpus quodcunque & quantumcunque finit & terminat.. ebd. 102 Ebd. S. 28. 103 „Quicquid est finitum, id non est aeternum. Mundus est finitus. Ergo Mundus non est aeternus. In qua praemissa quid desideras, Athee?" Ebd. S. 26. 104 Ebd. S. 28 ff. 105 j ) e u s ; n lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 112. 106 Die theologische Spinoza-Kritik des 17. Jahrhunderts würde eine eigene Untersuchung lohnen; den Einstieg bietet die bei J. A. Fabricius, Delectus, S. 357 ff. genannte Literatur. 101

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Ausdruck zu bringen 107 . Kortholt hält den Tractatus Theologico-Politicus für ein Compendium des Atheismus 108 . Urteilte man anderen großen Denkern der Zeit gegenüber auch im allgemeinen vorsichtiger — hier, glaubte man es offen aussprechen zu dürfen: Spinoza ist ein Atheist. Petrus Poiret nennt Spinozas Irrtümer „genuinus Atheismus" 109. Und Budde erkennt in ihm den Führer der Atheisten seiner Zeit 110 . Besonders waren Spinozas Gegner wohl verärgert über die ihrer Meinung nach schillernde Art seiner Darstellung: Einerseits schien er das Christentum zu verteidigen, andererseits leugnete er die Existenz Gottes als eines selbständigen und von der N a t u r zu unterscheidenden Wesens 111 . Budde nennt ihn einen „homo ex fraudibus & fallaciis totus compositus" 112 , Johann Petrus Grünenberg immerhin einen „pessimae notae Christianus" 113 . Um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert tauchen jedoch auch mildere Urteile auf. Immanuel Weber läßt seine drei Gesprächspartner darüber streiten, ob Spinoza unter die Atheisten zu rechnen sei. Theophil „weiß wohl / daß seiner nirgend vergessen wird / wo man derer Atheisten gedencket", man hält ihn sogar f ü r den schlimmsten unter ihnen 114 . Aber andererseits gibt er zu bedenken: „Einen / dessen gantzes Lehr-Systema sich auff die göttliche Existenz, und dessen vornehmste attributa, alßfern dieselbigen auß dem Liechte der N a t u r zu erkennen seind / gegründet ist / zum Atheisten machen / würde eine offenbahre contradiction geben" U 5 . Theophil beschränkt sich so auf die immer noch hinreichend schlimme Aussage: „Spinosa ist und bleibet ein ruchloser Deist und Spötter . . . " 1 1 6 , während Bibliander einwirft, daß sich Spinoza mit seinem „Atheistischen Mischmasche Gottes und der N a t u r " verraten habe 117 . Gottfried Arnold berichtet in seiner Kirchen- und Ketzerhistorie 107

Vgl. Christian Kortholt, De tribus impostoribus, 1680, S. 139: „ . . . q u e m rectius Maledictum dixeris; quod spinosa e divina maledictione terra . . . maledictum magis hominem, & cujus monumenta tot spinis obsita, vix umquam t u l e r i t . . 108 „ . . . quem Atheismi (strictissime sie dicti) synopsin seu compendium nuneupaveris . . . " ; ebd. S. 147. 109 „. . . ille error Atheismum . . . constituit, qui existentiam Sc realitatem attributorum divinorum essentialium non agnoscit; negatque ea in uno individuo perfectissimo & cogitante subsistere." Cogitationum rationalium de Deo, anima et malo libri quattuor, Amsterdam 1685 2 , S. 80. Er wendet sich speziell gegen Spinoza in seinem Anhang: Fundamenta Atheismi eversa, sive specimen absurditatis Atheismi Spinoziani. . . ; ebd. S. 719 ff. 110 „Ex Cartesii diseiplina Benedictus de Spinoza prodiit, ut a magistri tarnen longissime discederet vestigiis, & in apertum atheismum prolaberetur, pro atheorum nostra aetate principe habendus. N o n alium enim Deum quam ipsam naturam admisit, quod perinde est, ac si diserte, nullum esse Deum, doeuisset." Theses, 1717, S. 163. 111 Vgl. Michael Berns, Altar der Atheisten, 1692, Vorrede (nicht pag.; 14. S.). 112 Theses, 1717, S. 296. 113 De Atheorum religione prudentum, 1701, § 23. 114 Beurtheilung der Atheisterey, 1697, S. 85 f. 116 117 Ebd. S. 84 f. Ebd. S. 85. Ebd. S. 87.

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verständnisvoller über Spinoza 1 1 8 , was ihm von seinen orthodoxen Gegnern auch vorgeworfen wurde 1 1 9 . Doch ist die Kritik der Theologen an Spinoza nicht zu verstehen als Aktion gegen einen einzelnen großen, einsamen Denker, der eben von seiner Zeit nicht verstanden wird. Die Zeitgenossen urteilen über ihn vielmehr im Zusammenhang mit den geistesgeschichtlichen Bewegungen des Jahrhunderts, und der Gedanke der Identifizierung der Natur mit der Gottheit war damals wahrhaftig nicht die verwegene T a t eines Einzelnen. E r war nicht einmal etwas unbedingt Neues: Die in der Geschichte der Philosophie geschulten Apologeten untersuchten Spinozas Denken im Verhältnis zur Kabbala 1 2 0 und zur antiken Philosophie 1 2 1 ; man verstand es vielfach nur als Repristination antiken heidnischen Denkens 1 2 2 . Die Ablehnung Spinozas rückt damit in eine Linie mit dem K a m p f der Theologen gegen verwandte Ideen von Vanini oder Morus 1 2 3 . Obwohl man sehr vieles an Spinoza auszusetzen hat, konzentrieren sich die Vorwürfe seiner Gegner auf die Gotteslehre: Hier offenbart er sich trotz aller sonstigen Scheinmanöver am deutlichsten. Gott sei ihm nicht prima causa efficiens, wirft ihm Christian Kortbolt vor, mit dem Wort ив v g l Teil 11, S. 611 ff. ив Vgl. Johannes Fccht, Historia et examen novae theologiae indifferentisticae. 1721, S. 474 f. 1 2 0 Vgl. J o h . Christ. W o l f , Atheismi falso suspectos, 1717, Sectio I I , Th. I V , S. 20 ff.; J o h . Georg Syrbius, D e Atheismi origine, 1720, S. 21 ff., sowie oben Anm. 151 auf S. 123. 1 2 1 Johann Heinrich Foppe klagt die gesamte antike Philosophie mehr oder weniger explizit des Spinozismus a n : D e Atheismo philosophorum gentilium, Bremen 1714, Exerc. I, S. 13 ff.; vgl. die gesamte Exercitatio I I . 122 Vgl. die Darstellung des spinozistischen Atheismus bei Waldi, Religionsstreitigkeiten, Teil V, 1736, Cap. V I I , S. 101 ff. Charakteristisch ist die Formulierung des Züricher Dogmatikers J o h a n n Heinrich Heidegger: „Fatum isthoc Stoicum . . . ex orco Spinoza r e v o e a v i t . . . " ; Corpus theologiae diristianae, 1700, Sp. 247 a. 1 2 3 Das Tertium, das die Apologeten diesen Leuten allen gemeinsam ankreiden, besteht in dem mehr oder weniger deutlichen Versuch, ein in der N a t u r obwaltendes Prinzip an die Stelle eines von außen her die N a t u r begründenden und erhaltenden Gottes zu setzen. Spizel schreibt im Blick auf Vanini von Leuten, „qui molimine temerario omnia inter naturae terminos compingere, Causasque duntaxat secundas, prima illa neglecta, observare attendereque non verentur; qui item res cunctas suopte genio hos & illos cursus peragere, hanc aut illam suae durationis periodum ex seipsis obtinere, omnia ad aeternam causarum connexionem referenda esse existimant; qui denique rebus naturalibus ita ineumbunt, ut omnes earum motus, opera, proprietates & affectiones causis naturalibus tribuere non dubitant, adeo ut nihil ipsis supra naturam esse videatur . . . " ; D e Atheismo eradicando, 1669, S. 50 f . Heidegger sieht unter diesem Gesichtspunkt Spinoza und Vanini mit der Stoa zusammen; vgl. Corpus Theologiae diristianae, 1700, Sp. 107 a. Aus der gleichen Warte empfindet man auch das „prineipium hylarchicum", das Henr. Morus in seinem „Antidotus adversus Atheismum" entwickelt (vgl. besonders Scriptorum philosophicorum tomus alter, London 1679, S. 152 ff.), als ungenügend. Auf die Diskussion in Kontinental-Europa hatte Mores Ansatz keinen Einfluß.

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„Gott" meine er im Grunde nur die Natur 1 2 4 . Spinozas Vorstellung von Gott als immanenter Ursache alles Seienden entkräfte diesen Einwand in keiner Weise 125 . Gott und N a t u r verhielten sich nach Spinoza wie „totum per aggregationem ad partes, quibus constat" und seien daher austauschbare Begriffe 126 . Kortholt hat von vornherein nicht einmal f ü r den Ansatz Spinozas Verständnis; er kann sich das Denken des Gegners nur im Rahmen seiner Schulphilosophie vorstellen und muß es von daher schon als logisches Absurdum ansehen, das freilich im religiösen Bereich fürchterliche Konsequenzen hätte: das Ende der Vorsehung, die A u f lösung von Gottvertrauen und Gottesfurcht 127 . Johann Heinrich Heidegger kommt in seinem „Corpus Theologiae Christianae" beiläufig ebenfalls auf Spinoza zu sprechen, ohne auch nur ein gutes H a a r an ihm zu lassen; der pantheistische Zug seines Denkens löst in ihm nur groteske Assoziationen aus: Jede Maus und jeder Frosch würde dann „ipse Deus" sein. Gott solle für die Kreaturen nur „causa immanens, non transiens" sein? „Non talis, crede impie Philosophaster, Deus Israelis est; sed Deus tuus est plus quam monstrum horrendum . . . " 1 2 8 . Der Mensch verstehe ja nicht einmal sich selbst 129 . Was aber keine adaequate Erkentnis seiner selbst hat, das könne doch nicht Gott sein! Biblische und philosophische Argumente rangieren dicht nebeneinander. Die Dimension der Zeit wird als Beweis gegen die These von der Ewigkeit der Welt herausgestellt 130 , die Dimension des Raums als Erweis f ü r die Endlichkeit der Welt: Gott habe keine extensio, da diese ja eine Unvollkommenheit in sich begreife; 124 „Etenim Deus, cujus existentiam videri vult agnoscere, non est ei supremum illud Numen, a quo, tamquam a primo auctore, sive prima causa efficiente (ut in scholis loquimur) omnia condita esse, omnia conservari, ac gubernari, Sc Scripturae sacrae adducti auctoritate immota fide nos credimus, & ex lumine naturali evidenter scimus: sed Dei nomine Naturam intelligit, id est, Universum hoc, sive, quidquid ambitu suo complectitur hic mundus, ex se ipso Sc per se ipsum ab aeterno existens, nec ullam sibi causam externam, sive efficientem, sive finalem, agnoscens." De tribus impostoribus, S. 172. 125 128 S. 173 ff. S. 176 f. 127 Spinozas Meinung laufe darauf hinaus: „Creaturas se ipsas fecisse, Coeli & Terrae conditorem nullum dari, providentiam nullam; atque inanem esse omnem cultum, qui ob accepta vel sperata beneficia D e o impendatur, vanumque metum, qui ob eundem offensum concipiatur!" Ebd. S. 181. 128 1700; Sp. 107 a, b. 129 Ohne Verfasserangabe zitiert Heidegger als Beleg: „Cuncta videns oculus sese non respicit ipsum, Nec facile est homini cernere, quid sit homo." Sp. 107 b. 130 Sp. 108 a. Der stark vom Pietismus her argumentierende Theodor Undereyck dagegen hält die Vorstellung von der Ewigkeit der Welt nicht für theologisch undenkbar —als ob „Gott nicht / wan er das jenige ist was er ist / das ist / höchstvollkommen / ewig; von Ewigkeit her zu seiner Verklährung / nicht äußerlich hätte würcken können / wie er als der Vatter innerlich / und in dem einigen Göttlichen Wesen von Ewigkeit her / seinen Sohn gezeuget / ja audi einen Raht über alles gefasset hat." Er lehnt sie aber dann doch aus logisdien Gründen ab. Der närrische Atheist, 1722 2 , S. 197 ff.

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gerade aus diesem Grunde jedoch müsse alles, was extensio hat, von einem vollkommensten Wesen geschaffen sein; der Unterschied zwischen Gott und res extensa sei damit logisch gefordert 131 . An anderer Stelle argumentiert Heidegger von der libertas agendi aus, die er beim Menschen vorfindet und daher für Gott erst recht annehmen muß, die aber bei der spinozistischen Welterklärung nicht gegeben wäre 132 . Ein typisches Beispiel für die zeitgenössische Auseinandersetzung mit Spinoza stellt auch der entsprechende Abschnitt in Buddes „Theses de Atheismo" dar. Budde geht davon aus, daß es erfahrungsgemäß eine Vielzahl von Substanzen gibt, über die man verschiedene Aussagen machen muß, um nicht mit dem Satz vom Widerspruch in Konflikt zu kommen 133 . Aber selbst, wenn man nur eine in sich geschlossene Spezies in Betracht zieht, ergeben sich Schwierigkeiten: Gott dächte beispielsweise in den verschiedenen Menschen nicht nur Widersprüchliches, sondern auch Frevelhaftes 134 . Budde möchte nachweisen, daß cogitatio und materia verschiedenen Substanzen entsprechen, nämlich der des Geistes und der des Körpers, obwohl deren essentia noch nicht genügend geklärt ist135. Weder vom Geist noch von der Materie lasse sich aber beweisen, daß sie ewig seien136. Vielmehr widersprächen die Hauptsätze des Spinozismus, nämlich die Thesen, die Materie sei ewig, sie habe nicht aus nichts entstehen können, bereits der Vernunft 137 . Für Budde zerfallen daher die Fundamente des spinozistischen Denkens in „mera & prorsus quidem puerilia sophismata" 138 ! Das Argumentationsschema war klar. Jacob Wilhelm Schwartz benötigte für seine „Demonstratio Dei contra Spinosam" nicht einmal zwei volle Seiten: Die Welt, die aus begrenzten Dingen und Kräften bestehe, sei nicht unbegrenzt und könne daher nicht mit Gott identisch sein. Sie müsse folglich einen Urheber haben 139 : „Ergo est Deus. Q.E.D." 140

с) Die Niederlage Die Gegner verfügten noch nicht über die Evolutionstheorie, die sie den Theologen mit einem Schlag überlegen gemacht hätte. Aber ein neuer 131

Heidegger а. а. O. Sp. 108 a, b. Dort Weiteres über das Verhältnis von res cogitans und res extensa sowie über die Problematik der Annahme einer einzigen unendlichen Substanz. 132 133 134 135 Ebd. S. 247 a ff. S. 495 ff. S. 498. S. 499 ff. 138 137 138 S. 505 f. S. 504 f. S. 505. 139 Hier schießt ein physikotheologisches Argument ein: Dieser Urheber besitzt „vim efficiendi res mirificae magnitudinis, mirifici ordinis, mirificae durationis, mirificarum proprietatum aliarum"; er ist „virtute maxima . . . & perfectissima." Demonstrationes Dei, 1708, S. 83. 140 Ebd.

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Ansatz ergab sich f ü r sie daraus, daß sie nicht mehr von dem ausgehen zu sollen meinten, was theoretisch sein konnte oder sein mußte, sondern von dem, was sie faktisch vorfanden. Sie kannten immerhin zwei Erklärungsversuche, die ihnen plausibler vorkamen als der der Christen: die Atomtheorie des Demokrit und die Anschauung von der Ewigkeit der Welt bei Aristoteles. Die zeitgenössischen Theologen erkannten, daß die Argumentation der Gegner auf diese beiden Thesen hinauslief. Nach Christoph Franck gibt es zwei Arten von Gottesleugnern, nämlich die, die, um ihre Meinung von der Ewigkeit der Welt zu stützen, einen progresssus causarum in infinitum lehren, und diejenigen, die auf dem Weg über die Atomtheorie die Welt durch den Zufall entstanden sein lassen wollen 141 . Samuel Parker weist darauf hin, daß man beide zusammen sehen müsse, Aristoteles und Epikur 1 4 2 ! Da die antiken Weltentstehungslehren den aufkommenden Atheismus mitbedingt haben, stehen sie in der Auseinandersetzung zwischen Theologie und Atheismus von Anfang an zur Debatte. Schon der vatikanische Bibliothekar Augustin Steuchus aus Gubbio bemüht sich im 7. Buch seiner „Perennis Philosophia" 1 4 3 um eine wirkungsvolle Bestreitung der antiken Theorien über die Entstehung der Welt. 1. Die

Atomtheorie

Die Atomtheorie, die sich zunächst ja noch auf keinerlei naturwissenschaftliche Begründung stützen konnte, erschien ihren Bestreitern einfach absurd. Augustin Steuchus spricht von der „temeritas atomorum" 1 4 4 ; bei Konrad Vorsts Schilderung des atheistischen Einwands spürt man schon an der Formulierung, wie fremd solch ein Gedanke dem Zeitgenossen erscheinen mußte 1 4 5 . Noch aus Walchs Darstellung des „Epicuräischen Systema" spricht Verständnislosigkeit, die sich die Wirkungsweise der Atome nur mechanistisch denken kann: Die Atome sollen wohl durch die Wirkung ihrer Schwerkraft bewegt aufeinanderstoßen und so zur Ent141

Atheus convictus, 1672, S. 21. Disputationes de Deo, 1678, Disp. IV, Sectio X , S. 379 f. In Disp. III nimmt er auch Descartes dazu: Alle drei lehrten sie, daß alles aus Materie entstehe. Optimistisch fügt er an: „Hoc autem triumviratu devicto, atque omnibus eorum copiis profligatis, bellum, ut spero, in omnia secula c o n f e c i m u s . . . " . Ebd. S. 226. Vgl. Jak. Wilh. Feuerlein, De axiomate ex nihilo nihil fit, 1732, Praefatio, S. 3: Die meisten antiken Philosophen teilten diese Meinung, die einen aber, „ut elementorum vel principiorum materialium necessitatem demonstrarent; alii, ut materiae aeternitatem stabilirent.. 143 1540; Basel 1542 2 ; vgl. oben S. 116. 144 De perenni philosophia, 1542 2 , S. 464. 145 Nach Vorst behaupten die Atheisten, es sei die Natur der Materie, „ut pro vaga Sc varia partium cohaesione, seu fortuito atomorum concursu, varias rerum species, velut e sinu suo emittat: certe ad mundi productionem nihil opus erit existentia D e i . . . " ; Tractatus, 1610, S. 130. 142

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stehung von Körpern führen 1 4 6 . Einem Franz Budde erschien die Atomtheorie völlig ungedeckt; zu ihrer Durchführung sei man angewiesen auf „inanes absurdissimasque de eluvionibus aut exustionibus huius universi hypotheses" 147 . Gelegentlich wurde die Atomtheorie jedoch nicht mechanistisch, sondern eher naturalistisch-dynamistisch ausgedeutet. Die Materie war dann nicht als Konglomerat von mechanisch sich einander zuordnenden Quanten aufgefaßt, sondern man sah in ihr keimhaft schöpferische Kraft 1 4 8 . Doch demgegenüber konnten die Theologen darauf aufmerksam machen, daß das dem Begriff des Atoms widerspreche 149 . Aufgrund der noch nicht weiter entwickelten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse konnte die Atomtheorie einfach nicht einleuchten. „Quis enim deliranti Epicuro credat", fragt Adam Reebenberg150, und Johann Lassenius poltert: „Warlich des Epicuri atomi werden eß nicht außrichten und sind sie eine lautere Fabel und G e d i c h t . . . " ш . Ganz besonders grotesk mußte die Atomtheorie erscheinen, wenn man sie auf die Entstehung des Menschen anwandte. Heinrich Schmettau kommt in anderem Zusammenhang darauf zu sprechen, wie „der erste Mensch zufälliger Weise durch die Zusammenrinnung seiner mancherley atomorum oder unzehlbaren Sonnenstäublein entstanden" oder wie „die ersten Menschen aus der Erden gewachsen / und nachmals sich von ihrer Wurtzel g e l ö s e t . . . " 1 5 2 . Die Theologen hatten damit zunächst leichtes Spiel, sofern sie die Unklarheiten in den Vorstellungen ihrer Gegner aufzeigen konnten, die es sich mit dem Hinweis auf den „Zufall" manchmal wohl etwas zu leicht gemacht hatten. Ein nur in den Anfangsbuchstaben seines Namens sich zu erkennen gebender Skribent meint gönnerhaft: „Allein wer noch einen Funcken Verstandes übrig hat, der wird sich wohl durch dieses Ohngefehr wenig blenden lassen. Die Herren Atheisten müssen sich etwas deutlicher erklären, was sie denn eigentlich durch ihr Ohngefehr verstehen." 153 148 Religionsstreitigkeiten, Teil I, 1733 3 , Cap. VII, S. 677 f. Er bemerkt jedoch in Teil V, Cap. VII, S. 97 ff., daß diese These, für sich genommen, noch nicht atheistisch sei, sondern erst dazu werde, wenn man, von ihr ausgehend, schließe, daß es immate147 rielle Substanz nicht gebe. Theses, 1717, S. 469. 148 N a d i Fr. Cuper lautet der betreffende atheistische Einwand: „omnibus rebus naturaliter inesse facultatem operatricem, necessario operantem"; Arcana Atheismi, 1676, S. 210. 149 Nach Christoph Franck wird damit etwas behauptet, „quod fortuito atomorum concursui quam maxime est alienum. N a m semina ad producendum certas formas sunt determinata: atomi vero non magis ad gignendum hunc mundum fuerunt comparatae, quam ad gignendum quemvis alium." Atheus convictus, 1672, S. 25. Die Vorstellung des Atoms dürfe man keinesfalls mit der des Samens zusammenbringen. 150 Fundamenta, 1708, S. 15. 151 Besiegte Atheisterey, 1693, S. 175 (abgeschwächt in der Anm. S. 271). 152 Vorrede von dem Atheismo (1685); nicht paginiert. 153 J.P.T., Der überwundene Atheist, Leipzig 1715, S. 12.

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N u r selten macht sich ein Theologe die Mühe, die Atomtheorie als in sich widersprüchlich aufzuzeigen. Johann Crell etwa weist darauf hin, daß das Moment des Zufalls, auf das man angewiesen ist, wenn man einen „tumultuarium atomorum motum" annimmt, keine genügende Erklärung ermögliche: Der Zufall sei immer nur „ c a u s s a . . . per accidens", nämlich ein Zusammentreffen von causae; wenn ein Steinwurf „zufällig" jemanden verletze, so sei die causa eben nicht der Zufall, sondern die Schwerkraft des Steins 154 . Tobias Wagner hakt ein beim Verhältnis von Wirkung und Ursache: Nach alter Regel kann die Ursache nie von geringerer Qualität sein als die Wirkung 1 5 5 . Von dem derzeitigen Bestand der Welt aus könne man daher nur auf eine höhere Ursache schließen, nicht aber auf eine niedrigere. David Derodon stellt die Frage, woher denn die Atome kämen, vor allem, wie sie zu ihrer forma gelangt seien; denn die Materie allein bringe es nicht zu einer forma, nach dem Grundsatz: „idem, qua idem, semper facit idem". Außerdem ist ihm unklar, wer die Atome aus ihrer Ruhestellung in die Bewegung gebracht habe. N u r Gott kann er sich als Antwort denken, „weil wir durch das Wort Gott nichts anders verstehen, als ein mit Verstand würckendes freyes Wesen, welches die Welt in dem Stand herfür gebracht, worin sie anitzo ist" 156 . Tobias Wagner macht schließlich auch darauf aufmerksam, daß das Problem dadurch noch nicht gelöst ist, daß man eine potentia der Materie annehme, weil die potentia passiva materiae nur durch einen actus zu erklären sei, der zeitlich vor ihr liegen müsse 157 . Alle diese Einwände versuchen, die Atomtheorie durch Rekurs auf das Kausalitätsgesetz ad absurdum zu führen. Selbst Leibnizens „Confessio Naturae contra Atheistas", die Gottlieb Spizel ohne Verfasserangabe am Ende seiner Schrift „De Atheismo eradicando" abgedruckt hat 1 5 8 , läuft darauf hinaus. Leibniz kommt auf die Frage der Atome zu sprechen, indem er grundsätzlich von der N a t u r eines Körpers ausgeht. Er schildert, wie er sich mit dem Problem befaßt habe und inwiefern er mit der neuen bzw. antiken Welterklärung einverstanden sei 159 : Die N a t u r eines Kör154

Liber de Deo, o.J., Sp. 23. „Impossibile est, causam deteriorem esse suo effectu." — „Quicquid est in effectu, praeexistit in causa aeque perfecta, si sit univoca, perfectius, si aequivoca." Examen, 1677, S. 33. 156 157 Widerlegter Atheismus (1733), S. 174 f. Examen, 1677, S. 29. 158 1669; S. 125ff. Vgl. G.W.Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 6. Reihe, l . B d . , S. 489—493. Vgl. ferner Kurt Huber, Leibniz, München 1951, S. 62 f., 104 f., sowie Gottfried Martin, Leibniz, Logik und Metaphysik, Berlin 1967, S. 197 f. 158 „Ac principio hodiernis philosophis, Democriti & Epicuri resuscitatoribus . . . assensus sum, in reddendis corporalium Phaenomenorum rationibus neque ad Deum, neque alium quamcunque rem, formamque aut qualitatem incorporalem sine necessitate confugiendum esse"; а. а. O. S. 127. 155

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pers erkläre sich tatsächlich nicht aus irgendeinem unkörperlichen Prinzip, sondern aus dessen „qualitates". Wodurch aber ergeben sich diese? Sie können nicht ohne die Körper an sich existieren, wie auch „naturalistae nostri" zugeben müssen. Wie kommt ein Körper dazu, rund oder quadratisch oder von irgendeiner bestimmten Ausdehnung zu sein? Wenn man nicht annehmen wolle, daß er seine Gestalt von Ewigkeit her habe, und das könne man von keinem, dann müsse man mit einer causa rechnen, und es ergebe sich eine unendliche Kausalkette. Fazit: „Apparebit igitur ex natura corporum rationem certae in iis figurae & magnitudinis reddi non posse"; immer bleibe die „ratio rationis" offen, und es ergebe sich „dubium sine fine" 1β0 . Auf die gleiche Weise geht er an das Problem der Konsistenz eines Körpers und damit an das der Atome heran 161 . Die Erklärung, daß die Atome aneinander hafteten, weil kein Vakuum dazwischen sei, widerspreche jeglicher Erfahrung und könne nicht die Entstehung eines Körpers verständlich machen; es bleibt also letztlich doch nur die „Ausflucht" auf Gott 162 . Am einleuchtendsten glaubte man die Atomtheorie durch den Verweis auf die in der gesamten Welt und allen ihren Einzelheiten sich aussprechende Theologie widerlegen zu können. Bereits Augustin Steuchus fragt, ob nicht die Natur selbst — „rerum nascentium, crescentium certus ordo, concentus, recta ratio" — den Gedanken an den Zufall verbiete 163 . Lucrez, mit dem er sich auseinandersetzt, müsse die Ordnung der Natur anerkennen und von daher seine Einwände gegen die Schöpfung entkräften lassen164. Hugo Grotius bewundert den Lauf der Gestirne und andere Naturphänomene, in denen sich Ordnung und Gesetzmäßigkeiten ausdrücken, und kommt zu dem Ergebnis: „quis adeo stultus est, ut a casu aliquid tam accuratum exspectet.. ." 165 . In einer ganzen Reihe von Bildern macht man sich und dem Zeitgenossen klar, wie unsinnig die Atomtheorie ist. Um wieviel schwieriger ist es, das große Weltgebäude 160

161 S. 129 f. S. 130 ff. „Recte igitur in reddenda Atomorum ratione confugiemus ad Deum denique, qui ultimis istis rerum fundamentis firmitatem praestet." S. 132. Leibniz fügt an, er wundere sich, daß sich Gassendi diese herrliche Gelegenheit, Gottes Existenz zu beweisen, habe entgehen lassen: „Apparet enim in extrema corporum resolutione Dei auxilio carere naturam non posse." Ebd. 163 „ . . . Ubi temeritas atomorum? Ubi mundi constitutio ex concursu temere cadentium atomorum? Ubi lapsus Sc interitus eiusdem, nullo praeside? Si vult ratione & natura discutiendos esse terrores, vult agi ratione cuncta, Quae maior ratio, quam Deum esse, resque humanas eum scire & attendere? Quae maior ratio, hominumque consensus, quam mundum consiliis unius maxime sapientiae gubernari? Quae natio tam effera, id non confessa est? Quis animus non advertit? Quot argumentis confirmatur? rerum ipsarum testimoniis praedicatur?" D e perenni philosophia, 1542 2 , S. 464. 164 Zur folgenden Bestreitung von Lucrez* Einwürfen hinsichtlich des Theodizee-Pro·· blems unten S. 272 ff. ins j ) e veritate religionis christianae (1640), S. 25. 182

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herzustellen, fragt Mersenne, als nur eine Aula, und doch entstehe auch sie nicht durch Zufall 18 '. Ob etwa die Annalen des Ennius oder die Werke des Livius auf das Spiel des Zufalls zurückzuführen seien, erkundigt sich Leonard Lessius mit einem gebräuchlichen Vergleich, um den Zufallsgedanken als unsinnig zu erweisen167. Ob denn die Welt ohne „rector" und „curator" bestehen könne, wenn das bei einem Schiff auf dem Meer ohne Steuer und ohne Steuermann nicht möglich sei le8 ? Der Lutheraner Christoph Franck argumentiert ähnlich; unter dem Hinweis auf die in der Welt obwaltende Harmonie, auf die Vielfalt und Nützlichkeit alles Vorfindlichen, kann er von der Atomtheorie nicht anders sagen als: „. . . primo pene auditu suam prodit absurditatem." 1M Der Helmstedter Theologe Johann Barthold Niemeier bringt, fast zwei Jahrzehnte später noch dem klassischen Argumentationsschema verhaftet, den Sachverhalt auf die Formel: Wenn man die zufällige Kombination von Atomen zur Erklärung der Weltenstehung gelten lassen wolle, werde das Gesetz von Ursache und Wirkung grundsätzlich bestritten 170 ! Wieso, fragt der von einem völlig anderen Hintergrund herkommende Engländer Samuel Parker, der audi sonst einiges an der Atomtheorie auszusetzen hat 171 , konkreter, wieso entsteht denn der Mensch heute nicht mehr zufällig, wieso entstehen die Menschen nicht im Wasser und die Fische nicht auf dem Lande 172 ? Und er rechnet sich aus, wie viele Zufälle Epikur annehmen müsse, um zur Erklärung nur eines Naturphänomens zu kommen 173 . Die Begrenztheit der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnis wurde bedenkenlos apologetisch ausgenützt; andererseits ließ man sich ihre positiven Ergebnisse nicht entgehen. Gerade durch den Nachweis der Teleologie in allen Bereichen des Mikro- und des Makrokosmos glaubte man, einer rein immanenten, gott-losen Welterklärung entgegenarbeiten m

Gn-Kommentar, 1623, Sp. 147; er bringt diesen Vergleidi unter den „varia absurda", von denen aus er die Unmöglichkeit der Thesen seiner Gegner nachweisen möchte. 167 Vgl. De Providentia Numinis, 1617 2 , S. 20 ff. Er hält es zudem für ausgeschlossen, daß etwas, das so hinfällig ist wie der Mensdi oder andere animantia, den Grund seines Seins in sich selbst haben könne. 1ββ Ebd. S. 173 f. 169 Atheus convictus, 1672, S. 22. „ . . . annon, inquam, extremae dementiae est, nihilominus haec omnia non certo auctore Sc mente aliqua, sed temere casuque credere constituta? Aegre ex hoc campo, in quo exultare posset oratio, revocari nos patimur ad hasce angustias . . e b d . S. 22 f. 170 D e Atheismi eversione, Pars posterior, 1690, § CIX. 171 Es ist ihm unklar, wie Epikur zu seinen Aussagen über die Atome kommt, über ihre Zahl, Geschwindigkeit, Schwerkraft usw.; er beklagt, mit welcher Schwerfälligkeit Epikur die einzelnen Naturphänomene behandelt. Disputationes de Deo, 1678, Disp. III, Sectio III ff. 172 Disp. III, Sectio III. 173 „Hinc ergo cogitate, quot ille in re quaque non modo casus, sed rerum naturae adversos a t t u l i t . . ; es folgt eine Satzperiode mit einem rhetorischen dreidutzendfachen „ q u o t . . . " ; ebd. S. 279 f. 241

zu können, der Atomtheorie so gut wie der Vorstellung von der Ewigkeit der Welt; das Aufkommen der Physikotheologie ist die innere Konsequenz der apologetischen Situation. 2. Die These von der Ewigkeit der Welt Den Gedanken von der Ewigkeit der Materie meinte man zunächst ebenso rasch als unsinnig und logisch absurd abweisen zu können. Von den traditionellen Denkvoraussetzungen aus gesehen, war das durchaus verständlich. Die Gegner der Theologen, die durch den Verweis auf die Ewigkeit der Materie Gottes Handeln in der Schöpfung überflüssig machen wollten, mußten einen progressus bzw. regressus causarum in infinitum annehmen. Das widersprach aber nach den herkömmlichen Regeln jeglicher Logik. Manche Theologen glaubten, das gar nicht erst nachweisen zu müssen; sie arbeiteten mit dieser Voraussetzung als mit einem absolut feststehenden logischen Axiom. Sie hielten die Rede ihrer Gegner vom progressus in infinitum für eine Ausflucht; hatte man ihnen endlich die Notwendigkeit eines „Ens non factum" klargemacht, dann schoben sie dieses Scheinargument vor, weil sie die Existenz Gottes nicht zugeben wollten 174 . Für Voetius gehört es zu den in sich klaren Prinzipien des Lumen naturale, daß es einen solchen progressus nicht geben kann 175 . Ebenso für den Sozinianer Johann Crell, der die Voraussetzung seiner Beweisführung präzisiert: „in causis per se agentibus, quales sunt rectores, progressum in infinitum non dari." 178 Darüber bestand unter den Theologen fast bis zum Ende der Debatte Einigkeit 177 , und damit war in der Tat alles klar; wer diese Denkvoraussetzung teilte, konnte sich nur kopfschüttelnd darüber wundern, daß es jemanden gab, der Gottes Existenz bestreiten mochte. Immerhin hörte man gegen Ende des 17. Jahrhunderts gelegentlich eine Begründung für die Ablehnung des progressus. Gebhard Theodor Meier schreibt, die Vernunft schrecke vor diesem Gedanken zurück 178 . Der Tübinger Theologe Johann Adam 174 „ . . . Tale vero Ens Deum esse, probe intelligunt Athei, qui ad progressum in infinitum hic confugiunt." Chr. Franck, Atheus vonvictus, 1672, S. 10. 175 Sein Arsenal an metaphysischen Waffen besteht aus den folgenden Argumenten, mit denen der Gegner rasch hätte niedergekämpft sein müssen, wenn sie sich als stichhaltig erwiesen hätten: „1. N o n datur in causis processus in infinitum. 2. Nihil est a se ipso; seu nihil est causa sui ipsius. 3. Quidquid movetur, ab alio movetur: & sie tandem deveniendum ad motorem immobilem. 4. In ordine est aliquod primum." 176 Select. Disp., Pars I, 1648, S. 213. Liber de Deo, o.J., Sp. 3. 177 Vgl. Gabriel Prateolus, De v i t i s . . . (1581), Sp. 73 b, Th. 8; Joh. Andr. Schmidt, De Deo, 1690, S. 5. 178 „A progressu in infinitum, in ordine causarum efficientium, veluti absurdo abhorret naturalis ratio"; Historia religionum, 1697, S. 28. Andreas Hagemann begründet die Absurdität des progressus folgendermaßen: „Quicquid excedit humanae rationis captum, ita ut nec per consequentiam id assequatur, id rationi humanae est absurdum." Kurtze Anweisung, 1685, S. 7.

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Oslander stellt, obwohl er sie dann verneint, die Frage, ob die Bestreitung eines progressus in infinitum nicht petitio principii sein könne 179 . D a ß diese Frage so wenig ernst genommen wurde, erscheint dem heutigen Betrachter rätselhaft. Es ist unverständlich, daß man den Zirkelschluß nicht bemerkte: Mit dem Hinweis, daß es einen progressus in infinitum nicht geben könne, begründete man die Notwendigkeit einer prima causa — und durch den Verweis auf die Notwendigkeit einer prima causa glaubte man, die Unmöglichkeit des progressus aufgezeigt zu haben. Bei Oslander wird dieser Zirkelschluß innerhalb von wenigen Seiten vollzogen 180, ähnlich bei Valentin Greissing181, der aber den Eindruck dadurch mildert, daß er ein weiteres Moment geltend macht: Wie f ü r Sokrates nicht nur dessen Vater, sondern auch dessen Großvater usw. Mitursache sei, so sei jede Kreatur essentialiter Gott untergeordnet , 8 2 . Gelegentlich brachte man einzelne weitere metaphysische Argumente bei: Tobias Wagner bemerkt, daß auch die „mutua causalitas", die die Atheisten ins Feld führten, notwendig von einer Ursache herrühren müsse; er erinnert dabei an die Regel, daß niemals ,,τό operari p r i u s . . . suo esse" sein könne 1 8 3 . Franz Caper läßt seinen Philalethes, den Verteidiger der Existenz Gottes, zur Begründung der Behauptung, daß die Welt einen Anfang gehabt haben müsse, auf die Teilbarkeit und Verderblichkeit der Materie hinweisen 184 ; außerdem bestehe die Materie ja aus Teilen, die durch irgendeine Ursache zusammengefügt worden sein müßten, da der Teil immer früher sei als das Ganze 1 8 5 . Joh. Friedemann Schneider erläutert die Anschauung seiner Gegner 186 , behauptet dann aber, aus ihr folge, daß dieselben Dinge von verschiedenem Vollkommenheitsgrad seien, was doch unmöglich ist 187 . Walch weist den Atheisten darauf hin, daß die Materie keine notwendige Existenz habe, wie die zahlreichen Unvollkommenheiten der Dinge zeigten; sie müsse also nicht immer existiert haben, existiere jedoch jetzt: durch Gottes Handeln, dem das notwendige Sein zukomme 188 . Gott und die Welt treten in Konkurrenz zueinander: Wenn die Welt ewig ist, kann Gott ihr dann noch etwas vor179

Deus in lumine naturae repraesentatus, 1665, S. 109. Vgl. ebd. Exerc. V, Th. X X X I V mit Th. XLI. 181 Exercitatio posterior, 1677, § 6. 182 § 6; das wird durch Verweis auf zeitgenössische metaphysische Lehrbücher (Stahl, Martini) belegt, aber nicht gegen die christliche Schöpfungslehre abgegrenzt. 183 Examen, 1677, S. 48 f. 184 Arcana Atheismi, 1676, S. 236 f. Misalethes hält jedoch diesen Einwand hinsichtlich der Himmelskörper oder der Luft nicht für stichhaltig. 185 Ebd. S. 242 if. Misalethes dagegen räumt die Möglichkeit ein, daß die Natur dies aufgrund der ihr innewohnenden Kräfte selbst zustande gebracht habe. 189 „res omnes a se invicem dependere non per modum lineae rectae, sed per modum circuli"; Icon Atheorum, 1698, S. 20. 187 188 Ebd. Religionsstreitigkeiten, Teil I, 1733 3 , S. 680 f. (Anm.). 180

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aushaben? Fr. Cuper189 sieht das nicht als entscheidendes Argument gegen die Ewigkeit der Welt an. David Derodon dagegen ist der Meinung, wenn der als allmächtig gedachte Gott ewig sei, könne die Welt nicht ebenfalls ewig sein190 Dazu kamen Schwierigkeiten mit den Unendlichkeitsbegriff, der teils grundsätzlich, teils als auf eine temporale Funktion beschränkt aufgefaßt wurde. Einen progressus in infinitum könne man nur annehmen, wenn man davon ausgehe, daß entweder innerhalb eines endlichen Zeitraums sich unendliche Bewegungen vollzögen oder daß endliche Ursachen in unendlichen Zeiträumen wirkten — was beides erwiesenermaßen falsch sei191. Tobias Wagner geht bei seinen Überlegungen von einem Wort Augustins aus, demzufolge „ewig" überhaupt nur das sein kann, „quod extra temporis mensuram est constitutum" 192 . Endliches kann demnach per definitionem nicht ewig sein, wobei aber das Problem einer zeitlich unendlichen Abfolge von endlichen Ereignissen noch nicht gelöst ist. Gelegentlich trifft man bei einem der Autoren auf einen verblüffenden Sachverhalt: daß er sich nämlich die Unendlichkeit als endlich vorstellt. So behauptet Johann Georg Pritius, eine unendliche Anzahl von Menschen, Tieren und Dingen sei schon deswegen nicht möglich, weil es keine unendliche Zahl gebe193. Die Zahl der Tage und Nächte sei nicht vorstellbar, wenn man eine unendliche Anzahl von Jahren annehme 194 . Der kühnste Spekulant auf diesem Gebiet ist zweifellos David Derodon: Uber viele Seiten hin setzt er sich in langwierigen Erörterungen mit dem Problem der Ewigkeit auseinander, mit dem Problem des unendlich sich ablösenden Endlichen, der unendlichen Zahl, der kleinsten Teilbarkeit und anderen Teilproblemen mehr; die Welt kann für ihn schon aufgrund seines an der Mathematik orientierten Unendlichkeitsbegriffs nicht unendlich sein195. Auch Richard Bentley hat auf solche Argumente nicht 189

Arcana Atheismi, 1676, S. 200 f. Widerlegter Atheismus (1733), Cap. X , S. 197 ff. Der Übersetzer Wigand Kahler merkt in einer fatalen Formulierung an, hier gehe es darum, „daß wir gegen die Socinianer die Ewigkeit Gottes retten"; S. 218 (nota). 191 „ . . . nisi intra finiti temporis spatium, motus mutationesque infinitas fieri, aut Anitas illas causas, nullo unquam tempore ad finem, terminumque suum pervenire dicamus: quorum utrunque tam manifeste falsum, ut confutatione non e g e a t . . . " ; Syntagma, 1607, S. 71. 192 Examen, 1677, S. 26. 193 „numerus actu infinitus res est contradictione se ipsam interficiens." De Atheismo, 1695, Art. IV. 194 Ebd. Von daher wird für Pritius auch die Ewigkeit Gottes schwer vorstellbar; er postuliert sie dennoch, da die Logik sie erfordere. iss Widerlegter Atheismus (1733), Cap. II—IV. Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Theodor Undereyck, Der närrische Atheist, 1722 2 , S. 197 f. 190

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verzichtet 196 . Innerhalb der antiatheistischen Literatur weist dann erst Johann Conrad Schwartz auf den Unterschied zwischen „innumerabile" und „infinitum" eindrücklich hin 197 . Freilich macht auch er sich über die Absurdität des progressus in infinitum lustig 198 , ohne ein anderes als das traditionelle Gegenargument anbieten zu können 199 . N u r selten rechnet ein Autor damit, daß die alten, aus der Scholastik überkommenen Argumente nicht durchschlagen könnten. Samuel Parker hat durch seine Abkehr von Aristoteles den nötigen Abstand zu ihnen bekommen, um ihre Relativität ermessen zu können 200 . Pascal äußert sich von seinem spezifischen Ansatz her in dieser Richtung 201 . Wiegand Kahler wirft am Ende der Debatte David Derodon, dessen Buch er übersetzt, in einer Anmerkung vor, er gehe davon aus, „progressum in infinitum esse absurdum". Gehe man jedoch nicht davon aus, wie etwa Spinoza, dann entfalle „alle Force dieses Arguments" 202. Bereits Derodon hatte aber, von seinem Ewigkeitsbegriff her, einen weiteren Gesichtspunkt geltend gemacht: Ewigkeit und Bewegung schließen sich per definitionem gegenseitig aus, da alles, was sich bewegt, ein bestimmtes Maß an Zeit braucht, um eben eine bestimmte Bewegung vollziehen zu können: „Mit einem "Wort, zwey Dinge, die von Ewigkeit her sollen gewesen seyn, können solches nicht seyn als zugleich, und folglich kan eines nicht aufs ander erst gefolget seyn, weil das, was ewig ist, nichts vor sich leidet." 203 Allein dadurch, daß ein Mensch das Wort „Seigneur", also zwei Silben hintereinander, ausspricht, widerlege er die Behauptung, daß alles von Ewigkeit her sei, „weil das, was ewig, nicht nach einander ist" 204. Noch Kahler entwickelt f ü r diese Argumentations195 Teilweise decken sie sich mit denen Derodons: So nennt auch er die als endlich festgelegte Entfernung zwischen unserer und der uns unendlich fernen Generation, oder den Unterschied zwischen der unendlichen Zahl von Mensdien und derjenigen ihrer Finger, u. a. m.; Die T h o r h e i t . . . des Atheismi (1715), S. 128 ff. Solche Überlegungen finden sich auch in der Scholastik; vgl. Bonaventura, Sent. Lib. II, Dist. I, P. I, Art. I, Quaest. II, Fund. 1 (Opera omnia, Quaracchi 1882 ff., Bd. 2, S. 20 f.). 197 „Omnino enim nemo est homo, qui numeros perpetuo cumulare velit, ut infinitum tandem quoquo modo consequatur." Demonstrationes Dei, 1708, S. 28. 198 „Miror acumen tam divinum tamque singulare! Imo vero stultitiam & impudentiam miror!" Ebd. S. 26. 1Ю Axiom. I X : „Mundus igitur, qui constat rebus finitis, non habet virtutem infinitam." Ebd. S. 26. 200 Er weist den Scholastikern nach: „neque contra Mundi Aeternitatem, neque contra spontaneum Animantium Ortum quicquam concluserunt." So die Formulierung der Uberschrift von Disp. II, Sect. II, S. 108 ff. im Elenchus. 201 v g l . Gedanken, ed. Rüttenauer, S. 19 f. Seine Kritik trifft aber metaphysische und physikotheologische Argumente ebenso wie solche der Natürlichen Theologie; siehe unten S. 281. 202 Widerlegter Atheismus (1733), S. 25. 203 204 Ebd. S. 9 f. S. 35.

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weise ein gewisses Verständnis, wenn er darauf hinweist, daß es ja ohne Anfang und Ende im Grunde überhaupt keine actio gebe: „Dieser Schluß ist abgeschmackt, weil auf solche Art zwar in denen Causis und bewegenden Ursachen, die bis in infinitum hinaus ausgestrecket werden, eine Actio wäre, die aber vielmehr keine Actio zu nennen, weil sie keinen Anfang, keine Continuation und kein Complementum hat." 205 Der Atheist dagegen argumentiert umgekehrt: Da es jetzt actio gebe, müsse es wohl von Ewigkeit her so sein, was Franz Cuper ablehnt mit dem Hinweis, daß es sich hier ja nicht um „entia" handle 206 . In diesem Falle liegen jedoch einfach verschiedene Begriffe von „actio" vor; dem Atheisten kommt es ja nur darauf an, die Möglichkeit einer unendlichen Abfolge von Ursachen und Wirkungen herauszustellen. Man widerspricht ihm: Justus Christoph Schomerus erklärt seinen Studenten im Kolleg über die jüngsten Kontroversen, der Wechsel der Dinge könne nicht ewig sein, „cum nihil sit praeteritum, quin aliquando fuerit praesens"; man miißte also im Grund jede neue oder auch alte Erscheinung des Wechsels auf ein eigenes Ens aeternum zurückführen, was auf eine Vielzahl von Gottheiten hinauslaufe207! Doch besann man sich auch auf einleuchtendere Begründungen; das Bewußtsein der Zeit lieferte sie; nur wurden sie gelegentlich kombiniert mit traditionellen vorgebracht. Man lebte ja in einem Jahrhundert, in dem man das Gefühl hatte, es gehe voran, es ändere sich tatsächlich etwas, es gebe eine Vorwärts- und Aufwärtsentwicklung. Das mußte einen Sinn für historische Prozesse schaffen; die geschichtliche Entwicklung selbst wies auf einen Anfang hin. Die Geschichte, führt Budde aus, beweise, daß alles, was auf Erden bekannt ist, eine Entwicklung durchgemacht habe und daß folglich auch die Welt insgesamt einen Beginn gehabt haben müsse208. Wenn die Welt ewig sei, möchte Johann Georg Pritius wissen, warum gebe es dafür keine weiter zurückreichenden historischen Zeugnisse209? Franz Cuper läßt seinen Philalethes fragen, warum die Geschichtsschreibung erst vor einigen Jahrtausenden eingesetzt habe, wenn die Welt ewig sei? Misalethes weist auf die Entwicklung in der Natur hin, auf das allmähliche Entstehen der Gestirne, ja der Menschen und später der Wissenschaften, was er aber naturwissenschaftlich nicht belegen kann. Philalethes dagegen traut der zufälligen Entwicklung nicht so viel zu, zumal er etwa am Lauf der Gestirne keine Veränderung zu beobachten S. 25 f. (nota). E r unterscheidet weiter zwischen dem notwendigen motus, also etwa dem Wechsel von Schlafen und Wachen, und eigentlicher actio; Arcana Atheismi, 1676, S. 208. 2 0 7 Collegium novissimarum controversiarum, 1703, Cap. I, S. 2. Mit solchen Argumenten gerüstet, sollten die jungen Pfarrer des beginnenden 18. Jahrhunderts den Atheisten in ihren Gemeinden begegnen! 2 0 8 Theses, 1717, Cap. V, § 9. Vgl. Derodon, Widerlegter Atheismus (1733), S. 239 ff. 2 0 9 De Atheismo, 1695, Art. V. 205 206

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vermag, worüber er auch sehr froh ist, weil andernfalls plötzlich ganz gehörige Verwirrung entstehen könnte. Der als objektiver Schiedsrichter vorgestellte Diatetes hat hier einen der ganz seltenen Fälle des Gesprächs vor sich, in denen er auf Grund des Lumen Naturale Philalethes recht geben muß 2 1 0 . Die Frage spitzte sich natürlich zu auf das Problem der Entstehung des Menschen. Man hatte den Eindruck, daß die Menschen zahlreicher würden und daß das Menschengeschlecht sich ausbreitete. Bereits für Hugo Grotius war das ein Argument 2 1 1 . Mathew Haie schrieb darüber ein großes Buch 2 1 2 . Johann Crell zeigt die logische Unmöglichkeit der Behauptung auf, daß der Mensch trotz des ewigen Bestands der Welt erst zufällig später aufgetaucht sein solle: So lange habe die Welt nicht ihres höchsten finis entbehren können. Außerdem: Wenn die N a t u r schon in einem Zirkel immer das Gleiche wirke, könne der Mensch unmöglich irgendwann nach anderem entstanden sein 213 . Damit ist freilich noch nicht erwiesen, daß der Mensch nicht von Ewigkeit her sein könnte, trotzdem aber ein Argument erbracht, da die Gegner diese These nicht verfechten wollten. Sie beriefen sich vielmehr auf die Möglichkeit, die bereits Andreas Caesalpinus 214 angedeutet hatte, nämlich, daß der Mensch auf Grund immanenter Bedingungen der Materie entstanden sei 2 1 5 . Crell kann sich sogar vorstellen, daß tieferstehende Lebewesen auf diese Weise zur Existenz kommen, nicht aber der Mensch 218 . Franz Cuper läßt seinen Arcana Atheismi, 1676, S. 229 f. Johann Heinrich Heidegger, der in seinem Corpus theologiae diristianae, 1700, nur beiläufig auf die Atheisten zu sprechen kommt, sieht den Beleg für die historische Entwicklung im Rahmen von Weissagung und Erfüllung: „Nam ex praedictionibus, earumque eventu satis constat, Deum mutaturum fuisse tempora, & mutasse etiam secundum ea, quae praedicta ab eo sunt." T o m . posterior, Sp. 717 b. 2 1 1 D e veritate religionis christianae, (1640), S. 26. 2 1 2 D e originibus humani generis ас D e o exinde demonstrando, London 1677, deutsdi von Heinrich Sdimettau: Der erste A n f a n g / O d e r das Ursprüngliche Herkommen des Menschlichen Geschlechts . . ., Breslau 1685. Ähnliche Argumente tauchen auch auf in Richard Bentleys „Thorheit . . . des Atheismi" (1715), Cap. V I , S. 237 ff. 2 1 3 „Sed quicquid tandem dixeris; necesse est generis saltern humani atque animalium aliquem agnoscere opificem ac conditorem, qui eos libere produxerit, si ab aeterno non extiterunt. Id quod nobis ad Dei existentiam demonstrandam satis e s t . . . " ; Liber de Deo, o.J., Sp. 24 f. 2 1 4 1 5 1 9 — 1 6 0 3 ; er lehrte in Pisa und R o m und fungierte als Leibarzt Clemens' V I I I . Vgl. Oberweg I I I (1957 1 4 ), S. 31 ff. 2 1 5 Crell beruft sich auf Quaest. Peripat. liber V, Qu. I, Peripateticarum quaestionum libri V , Venedig 1571, wo Andreas lehre „non necessario hominem ex homine gigni, sed posse, imo solere ex putredine fieri a calore ас motu Solis, in locis temperatissimis, quos in zona torrida, media aeris regione collocant." Liber de Deo, Sp. 26. 2 1 6 „Ignobiliora quidem, atque adeo imperfectiora, videmus ita procreari: sed nobilissima perfectissimaque nunquam v i d i m u s . . . " ; Sp. 27. Derartige Vorstellungen hatten eine lange und komplizierte Geschichte; vgl. Arnobius, adv. nationes I I , 47, und H i e ronymus, in Abacuc, с. I ! 210

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Misalethes die Meinung, daß der Mensch „ab . . . naturali substantia" entstanden sei, durch den Hinweis begründen, selbst nach Aussage der Bibel sei der Mensch aus Erde geschaffen. Philalethes hingegen wundert sich, daß sein Gegner sich vorstellen könne, die Erde bringe einen Menschen hervor, während er an die Existenz Gottes, der das vollbracht habe, nicht glauben könne217. Der unparteiische Diatetes wagt jedoch im Sinne Cupers nicht, auf Grund des Lumen naturale eine Entscheidung zu treffen; trotzdem zeigt der Einwand des Philalethes gut die Mentalität der zeitgenössischen Atheistenbekämpfer. Samuel Parker erkundigt sich, warum die Erde heute keine Menschen im Direktver fahren hervorbringe, wenn sie das doch könne218. Aber nur holländische oder englische, der neuen Wissenschaftlichkeit oder dem Sozinianismus nahestehende Autoren gingen überhaupt auf solche Probleme ein; die deutschen Lutheraner blieben im allgemeinen bei ihren traditionellen Argumenten, in die sie so eingesponnen waren, daß sie die Irrwege neuerer Apologeten gar nicht mitmachen konnten. Ein für die Zeit typisches Argument bestand schließlich noch darin, daß man herausstellte, auf wie wenige Gewährsleute sich die Gegner berufen konnten, ja, daß ihnen im Grunde die ganze Menschheit widersprach. Konrad Vorst meint, wenn behauptet werde, es lasse sich alles bereits durch eine in der Natur steckende „vis Materiae" erklären, dann widerstreite das „& praeceptis omnium Philosophorum, & rationi naturali" 21β . Cuper ist der Auffassung, die Vorstellung von der Ewigkeit der Welt müßte eine „universalis opinio" sein, wenn man ihr mehr Gewicht beimessen sollte220. Breit führt der Lutheraner Tribbechow aus, wie im Gegenteil der Glaube an einen Gott, der die Welt erschaffen habe, allenthalben verbreitet sei, wie er auftrete bei den Philosophen der Antike, bei Druiden und Brahmanen221. Nachdem er die Kongruenz zwischen den biblischen Berichten und heidnischen Voten aufgezeigt hat 222 , belegt er die einzelnen Verse des Schöpfungsberichts durch Verweise auf antike Philosophie, auf die Edda, peruanische Schöpfungsmythen u. a. 223 . Hier wird, wenngleich auf eine sehr merkwürdige Weise, an der Schriftbindung festgehalten. Nicht philosophische Argumente sollen sprechen, sondern „ . . . si credere potes, terram producere posse hominem, mirum est, si non possis credere, Deum aliquem existere, qui istud fecerit." Arcana Atheismi, 1676, S. 239. 2 1 8 Disputationes de Deo, 1678, Disp. V, Sectio III. 2 1 9 Tractatus, 1610, S. 130. 2 2 0 Arcana Atheismi, 1676, S. 272. 2 2 1 Veritas creationis mundi, 1668, S. 5 ff. 2 2 2 Dabei taucht das Wort von Plato als dem „Moses Attice loquens" auf, S. 14; Tribbechow versteigt sich zu der kühnen Behauptung: „ . . . affirmare certe ausim, ne unicam quidem alicujus momenti historiam . . . in sacris scripturis occurrere, cujus transscriptum exemplum in profanis gentilium scriptis non deprehenderim." S. 18. 2 2 3 S. 22 ff. Das Ergebnis läßt sich zusammenfassen in der sdion S. 20 ergehenden Aufforderung: „Erubescite nunc tandem Athei, & quotquot cerbereo dente sacras arrodere scripturas minime veremini, postquam vos etiam a gentilibus relictos videtis." 217

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die in allen Stücken zu belegende Wahrheit des biblischen Berichts — ein gegenüber Cuper oder Parker verblüffend altmodischer Ansatz, der so nur bei einem Lutheraner denkbar war. Jedoch audi bei den lutherischen Autoren war die Argumentation vom biblischen Schöpfungszeugnis her selten. Johann Müller geht bei seiner Widerlegung der These von der Ewigkeit der Welt nicht von naturwissenschaftlichen Erwägungen über Materie und Menschengeschlecht aus, sondern von dem an der Schrift gewonnenen Gottesbild: Gott ist ewig, er ist der erste und der letzte, der, der dem Nichtseienden ruft, daß es sei, der am Anfang die Welt erschaffen hat, der war, ehe denn ein Tag war (Jes. 43, 13)224. Die Schöpfung ist für ihn daher auch nicht primär ein logisch nachzuweisender Verhalt 225 , sondern: „Durch den Glauben mercken wir, daß die Welt durch Gottes Wort fertig i s t . . .' ei ^

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