For the first time, these proceedings from an interdisciplinary and international symposium use a broad foundation of so
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German Pages 626 [628] Year 2012
Table of contents :
Einleitung
I. Phasen der Böhme-Rezeption im 17. Jahrhundert
Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger. Die zentralen Argumente der Streitschriften von ihren Anfängen zu Lebzeiten Böhmes bis zum Ende des 17. Jahrhunderts
Jacob Böhmes polemischer Konflikt mit Gregorius Richter
Böhme’s Student and Mentor: the Liegnitz Physician Balthasar Walther (c.1558–c.1630)
Ein Politiker als Böhmist. Johann Angelius Werdenhagen (1581–1652) und seine Psychologia Vera J[acobi] B[öhmii] T[eutonici] (1632)
Konvergenzen in der ›poetischen‹ Böhme-Rezeption Abraham von Franckenbergs und Daniel Czepkos
Böhme-Rezeption am Hof von Christian August von Pfalz-Sulzbach
Heilsbedeutung und spekulative Alchemie. Böhme-Rezeption bei Quirinus Kuhlmann
Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit
The Reception of Jacob Böhme and Böhmist Theosophy in the Geheime Figuren der Rosenkreuzer
Die Evidenz der mystischen Schau. Pierre Poirets Aufnahme Jacob Böhmes im Kontext der Querelle du pur amour
Böhme-Rezeption in England und deren Rückwirkung auf den frühen deutschen Pietismus. Jane Lead und das Ehepaar Petersen
Jakob Böhmes »göttliche Sophia« und Emanzipationsansätze bei pietistischen Autorinnen
Die Rezeption Böhmes durch den Zürcher Pietisten Johann Heinrich Locher. Eine mikrohistorische Untersuchung über die Bedeutung Böhmes
Jacob Böhmes Rettung. Friedrich Brecklings Anticalovius (1688) als Apologie des mystischen Spiritualismus
Abraham Hinckelmann und die Genealogie von Böhmes »Grund=Irrtum«
Fromme Irrlehren. Zur Böhme-Rezeption bei More, Newton und Leibniz
»Pythagorische Lehrsätze«. Schwärmerkritik und Konsensdenken bei Daniel Colberg, Heinrich Wilhelm Clemm und Friedrich Christoph Oetinger
II. Die Wirkungsgeschichte Böhmes bis an das Ende des 18. Jahrhunderts
Streitbare Irenik. Religiöse Toleranz, poetische Kritik und die Reflexion religiöser Diversität bei Jakob Böhme und Johann Conrad Dippel (1673–1734)
Das Bild Jakob Böhmes im Unterricht Hoher Schulen deutschsprachiger Länder (1670–1740)
»Tanta verborum confusione«. Die Rezeption von Franckenbergs Bericht durch Arnold und Mosheim
Die »große Reinigung« vom »gemeinen Geiste«. Zu den Umständen der Entstehung der dritten Böhme-Gesamtausgabe 1730/31 und zu ihrem philologischen Ertrag
Jacob Böhme in der Historia literaria – mit einem Blick auf Jacob Bruckers kritische Philosophiegeschichte
Die Rezeption des englischen Böhmismus im Leibniz-Wolffianismus (Canz, Ploucquet, Schelling sen.)
Theosophie in der Aufklärung. Friedrich Christoph Oetinger
Jacob Böhme und Karl Philipp Moritz
Gegenaufklärung und Böhme-Rezeption in Frankreich: Louis Claude de Saint-Martin
Abendvortrag
Vernunftdiktatur und Sprachdiktatur. Jakob Böhme bei Gottsched und Adelung
Register
Autorinnen und Autoren
Frühe Neuzeit Band 173
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Offenbarung und Episteme Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert
Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt
De Gruyter
In memoriam Theodor Mahlmann (1931–2011)
ISBN 978-3-11-028823-0 e-ISBN 978-3-11-028861-2 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.
%LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/ Boston Satz: Tiesled Satz & Service, Köln Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
WILHELM KÜHLMANN/FRIEDRICH VOLLHARDT Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
I. Phasen der Böhme-Rezeption im 17. Jahrhundert SIBYLLE RUSTERHOLZ Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger. Die zentralen Argumente der Streitschriften von ihren Anfängen zu Lebzeiten Böhmes bis zum Ende des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . .
7
BO ANDERSSON Jacob Böhmes polemischer Konflikt mit Gregorius Richter . . . . . . . . . . .
33
LEIGH T. I. PENMAN Böhme’s Student and Mentor: the Liegnitz Physician Balthasar Walther (c.1558–c.1630) . . . . . . . . . . . .
47
JOST EICKMEYER Ein Politiker als Böhmist. Johann Angelius Werdenhagen (1581–1652) und seine Psychologia Vera J[acobi] B[öhmii] T[eutonici] (1632) . . . . . . . . . . . . . . .
67
JAN MOHR Konvergenzen in der ›poetischen‹ Böhme-Rezeption Abraham von Franckenbergs und Daniel Czepkos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
ROSMARIE ZELLER Böhme-Rezeption am Hof von Christian August von Pfalz-Sulzbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 HARALD HAFERLAND Heilsbedeutung und spekulative Alchemie. Böhme-Rezeption bei Quirinus Kuhlmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
VI JOACHIM TELLE Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit . . . . . . . 165 THEODOR HARMSEN The Reception of Jacob Böhme and Böhmist Theosophy in the Geheime Figuren der Rosenkreuzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 RALPH HÄFNER Die Evidenz der mystischen Schau. Pierre Poirets Aufnahme Jacob Böhmes im Kontext der Querelle du pur amour . . . . . . . . . . . . . . . . 207 BURKHARD DOHM Böhme-Rezeption in England und deren Rückwirkung auf den frühen deutschen Pietismus. Jane Lead und das Ehepaar Petersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 LUCINDA MARTIN Jakob Böhmes »göttliche Sophia« und Emanzipationsansätze bei pietistischen Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 KASPAR BÜTIKOFER Die Rezeption Böhmes durch den Zürcher Pietisten Johann Heinrich Locher. Eine mikrohistorische Untersuchung über die Bedeutung Böhmes . . . . 259 JOHANN ANSELM STEIGER Jacob Böhmes Rettung. Friedrich Brecklings Anticalovius (1688) als Apologie des mystischen Spiritualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 MARTIN MULSOW Abraham Hinckelmann und die Genealogie von Böhmes »Grund=Irrtum« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 ERIC ACHERMANN Fromme Irrlehren. Zur Böhme-Rezeption bei More, Newton und Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . 313 FRIEDRICH VOLLHARDT »Pythagorische Lehrsätze«. Schwärmerkritik und Konsensdenken bei Daniel Colberg, Heinrich Wilhelm Clemm und Friedrich Christoph Oetinger . . . . . . . . . . 363
VII
II. Die Wirkungsgeschichte Böhmes bis an das Ende des 18. Jahrhunderts
KRISTINE HANNAK Streitbare Irenik. Religiöse Toleranz, poetische Kritik und die Reflexion religiöser Diversität bei Jakob Böhme und Johann Conrad Dippel (1673–1734) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 HANSPETER MARTI Das Bild Jakob Böhmes im Unterricht Hoher Schulen deutschsprachiger Länder (1670–1740) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 CECILIA MURATORI »Tanta verborum confusione«. Die Rezeption von Franckenbergs Bericht durch Arnold und Mosheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 GÜNTHER BONHEIM Die »große Reinigung« vom »gemeinen Geiste«. Zu den Umständen der Entstehung der dritten Böhme-Gesamtausgabe 1730/31 und zu ihrem philologischen Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 DIRK WERLE Jacob Böhme in der Historia literaria – mit einem Blick auf Jacob Bruckers kritische Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 HANNS-PETER NEUMANN Die Rezeption des englischen Böhmismus im Leibniz-Wolffianismus (Canz, Ploucquet, Schelling sen.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 FRIEDEMANN STENGEL Theosophie in der Aufklärung. Friedrich Christoph Oetinger . . . . . . . . . . 513 ALBERT MEIER Jacob Böhme und Karl Philipp Moritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 MARTIN SCHMEISSER Gegenaufklärung und Böhme-Rezeption in Frankreich: Louis Claude de Saint-Martin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
VIII
Abendvortrag
WILHELM KÜHLMANN Vernunftdiktatur und Sprachdiktatur. Jakob Böhme bei Gottsched und Adelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
Einleitung
In der New History of German Literature (2004) wird in einem eigenen Kapitel Jakob Böhme porträtiert, »who came to produce a body of work of enormous intellectual abundance and impressive eccentricity […]. The influence his work exercised in both longevity and breadth is amazing.« Hier wie in vergleichbaren Handbuchartikeln wird neben den Schriften des Autors, die viele Disziplinen berühren (Literatur-, Religions- und Wissenschaftsgeschichte, Theologie, Philosophie), stets auch die gesamteuropäische Bedeutung erwähnt, und dies nicht ohne Grund: Es handelt sich um eine unabsehbare Wirkung, die vom 17. bis weit in das 20. Jahrhundert reicht. Über das 18. Jahrhundert und die Romantik bis hin in die literarische Moderne lassen sich Böhmes Spuren, dabei oft zugleich die des Hermetismus, verfolgen. Während wir über manche dieser Rezeptionsstationen inzwischen wenigstens punktuell gut informiert sind und auch die hermetischen Strömungen der Frühen Neuzeit in den letzten Jahren verstärktes wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen haben, fehlt es an einer Darstellung, welche die verzweigten und konträren Auseinandersetzungen um und mit Böhme genauer erfasst. Der vorliegende Band möchte hier, wenn nicht eine Lücke zur Gänze schließen, so doch einige wichtige Erkenntnisschneisen in ein oft noch unerschlossenes kulturgeschichtliches Dickicht schlagen, dabei auch die ältere verstreute Forschung sichten und aufnehmen. Die hier zusammengestellten Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die vom 21. bis 24. April 2010 in München stattfand. Der erste Abschnitt der Wirkungsgeschichte Böhmes umfasst den Zeitraum zwischen 1620 und ca. 1790; er wird hier erstmals auf breiter Grundlage untersucht und dargestellt. Eine der Leitfragen war dabei, ob Rationalität verschiedene Formen haben kann und wie das Œuvre Böhmes in dieser Hinsicht einzuordnen ist und eingeordnet wurde. Lassen sich unter dem von William James geprägten Begriff des ›Subuniversums‹ geschlossene Sinnwelten beschreiben, deren Geltung völlig unabhängig davon ist, ob sie mit unserem Wissen oder dem Alltagsverstand und seiner Wirklichkeit in irgend einem Zusammenhang stehen? Das betrifft die theoretische Physik ebenso wie die Symbolwelten der Dichtkunst. Für kaum einen Bereich der Literatur-, Wissenschafts- und Religionsgeschichte scheinen diese Überlegungen einen größeren heuristischen Wert zu besitzen als für die magisch-hermetischen Traditionen der Frühen Neuzeit, in denen Böhme steht. Uns geht es dabei nicht um ein aus seinen Werken entwickeltes neues Bild des Theosophen, sondern um eine empirisch-histo-
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Wilhelm Kühlmann / Friedrich Vollhardt
rische Bestandsaufnahme der verschiedenen Denkkonzeptionen, in denen Böhmes Schriften bei diversen Autoren zur Geltung kamen. Hier lässt sich auch zeigen oder zumindest erahnen, welche Bedeutung diese mit der mechanistischen Naturwissenschaft konkurrierende theosophisch-hermetistische Weltsicht für die Entwicklung des modernen Denkens insgesamt hat. Dieser Befund hat zu Kontroversen geführt: Die mit Frances A. Yates verbundene These (»through magic to science«) ist nicht unwidersprochen geblieben. Denn die zu einer – um einen Begriff von Brian Vickers aufzunehmen – »mystical philology« führende Natursprachenlehre Böhmes kann auch, systematisch betrachtet, als Ausdruck einer Mentalität verstanden werden, die von unserer Wissenschaftskultur prinzipiell unterschieden und mit dieser inkommensurabel ist. Lehnt man den Relativismus in der Frage nach den Prinzipien der Rationalität ab, lässt sich eine theoriegeschichtliche Einordnung (und Bewertung) der Böhme’schen Position gewiss in einer vom modernen Rationalismus diktierten Weise vornehmen. Sie läuft allerdings Gefahr, den theoretischen Anspruch und die innere Schlüssigkeit des alternativen Paradigmas zu verkennen. Im Gegenzug ist daher vorgeschlagen worden, die spezifische Erkenntnisleistung des Analogiedenkens zu untersuchen und die Hermetik als eigenen Rationalitätstyp zu klassifizieren. Beide Sichtweisen neigen zur Generalisierung. Zu überlegen ist mit Thomas Leinkauf, ob man dem Denktyp, welchem die Schriften Böhmes zuzuordnen sind, nicht eher gerecht wird, wenn man dessen Intention als eine auf Konsistenz zielende und insofern rationale Form der Selbstverständigung des Menschen in einer von Krisen bestimmten Phase der frühneuzeitlichen Religionsgeschichte zu fassen versucht. Um die verschiedenen Stufen und scharf konkurrierenden Positionen in der Rezeption Böhmes zu beschreiben, mussten auseinanderstrebende Disziplinen und Methoden vereinigt und ein tiefgestaffeltes Quellenmaterial ausgewertet werden. Einer solchen diachronen Synopse sollte das – zunächst einteilige – Tagungsprojekt dienen (eine Fortsetzung ist vorgesehen). Unsere Aufgabe bestand zunächst darin, die kontrastiven und konfliktreichen Rezeptionswege und -modalitäten sowie Positionsnahmen in der Auseinandersetzung mit Böhme in gegenseitiger Beleuchtung und im Œuvre wichtiger kultureller Repräsentanten zu erhellen und in den jeweiligen mentalen, diskursiven, literarischen, medialen und sozialen Konstellationen zu verankern; Kontinuitäten, Diskontinuitäten, wechselnde Rezeptionsinteressen und Affinitäten, auch Abbrüche, Wiederaufnahmen und Erinnerungen nachzuweisen und damit eine Konfliktzone nicht nur der Denk-, sondern auch der Sprach- und Literaturgeschichte (zeitweilig auch der Justizgeschichte) über den deutschen Sprachraum hinaus sichtbar zu machen. Als Organisatoren des Symposions gilt unser Dank allen Beteiligten, die zum Gespräch über die Böhme-Rezeption und die frühneuzeitliche Theosophie (und deren Kritiker) beigetragen haben, darunter auch den Moderatoren, die einzelne Diskussionen in den Sektionen geleitet haben. Für die großzügige Finanzierung der gesamten Tagung danken wir der Fritz-Thyssen-Stiftung sowie dem Sonderforschungsbereich 573 »Autorität und Pluralisierung in der Frühen Neuzeit«. Bei der Vorbereitung des Kolloquiums hat Christine Hott, die Sekretärin im Münch-
Einleitung
3
ner ›headquarter‹, wie stets große Umsicht bewiesen und damit wesentlich zu dem Gelingen der Veranstaltung beigetragen. Die Einrichtung der Manuskripte und die Arbeit am Register lagen in den Händen von Frieder von Ammon und Jost Eickmeyer, denen wir für das – nicht selbstverständliche – Engagement und die Sorgfalt bei der schwierigen redaktionellen Tätigkeit herzlich danken. Schließlich gilt unser Dank Birgitta Zeller und Dr. Ulrike Krauß von der Edition Niemeyer im Verlag Walter de Gruyter sowie den Kollegen von der Frühen Neuzeit, die das Erscheinen des Bandes ermöglicht haben. Gewidmet ist das Buch dem Andenken an unseren Freund Theodor Mahlmann (15. September 1931 – 26. Juli 2011), der nicht allein diese Tagung durch seine quellenkundigen Beiträge zur Theologiegeschichte bereichert und inspiriert hat. Heidelberg und München, im Februar 2012
Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt
I. Phasen der Böhme-Rezeption im 17. Jahrhundert
Sibylle Rusterholz
Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger Die zentralen Argumente der Streitschriften von ihren Anfängen zu Lebzeiten Böhmes bis zum Ende des 17. Jahrhunderts Ein erster Blick auf das Ganze In den Jahren 1621/22 hat Böhme sich erstmals gegen Angriffe von Balthasar Tilcke auf noch ungedruckte Schriften, insbesondere die Aurora oder Morgenröthe im Aufgang und Von der Menschwerdung Jesu Christi, schriftlich verteidigt. Mit dem zu Beginn des Jahres 1624 – Böhmes Todesjahr – anonym erschienenen Weg zu Christo setzte dann eine Flut polemisch-apologetischer Schriften ein, die erst am Ende des Jahrhunderts mit einem letzten großen Streitschriftenensemble, ausgelöst durch den sogenannten Hamburger Revers (1690),1 sowie mit den großen systematisierenden Überblicksdarstellungen Ehregott Daniel Colbergs zum Platonisch-Hermetischen Christentum (1690/91) und mit Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700), die beide die Böhme-Streitschriften aus dem Rückblick auf das Jahrhundert mit einbeziehen, abebbte. Der Görlitzer Primarius Gregor Richter reagierte noch im März 1624 mit einem in lateinischen Versen verfassten, vernichtenden Judicium auf den Weg zu Christo. Wenig später und wohl auf Betreiben Richters, der Unterstützung gegen den ketzerischen Schuster bei den benachbarten Pfarrherren angemahnt hatte, setzte sich Peter Widmann zunächst in einer Predigt noch vor Ostern gegen Böhme zur Wehr, die dann im Sommer als Christliche Warnung/ Für einem new außgesprengeten Enthusiastischen Büchlein […] Mit Approbation der Theologischen Facultet zu Leipzig im Druck erschien. In den 1630er Jahren erfolgt eine deutliche Zäsur im Streitschriftengeschäft – Franckenbergs Theophrastia Valentiniana, die eine subtile Verteidigung Böhmes enthält, wurde erst 1703 anonym im Anhang der Kirchen- und Ketzerhistorie gedruckt –, bis die Polemik dann zu Beginn der 40er Jahre auf holländischem Boden erneut einsetzt, ausgelöst durch einen massiven 1
Zum Begriff ›Streitschriftenensemble‹ und zur Praxis des Refutierens vgl. Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 129), 31 f. – Zum Hamburger ›Revers‹ vom 14. März 1690 vgl. ebd., 48–59. – Wertvolle bibliographische Hinweise verdanke ich dem anlässlich der Ausstellung zum 50-jährigen Bestehen der Amsterdamer Bibliotheca Philosophica Hermetica erschienenen Studienband und Ausstellungskatalog: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007 (Pimander 16), bes. dem Dokumentationsteil (477–529).
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Sibylle Rusterholz
Angriff des orthodoxen holländischen Theologen David Gilbert, den der schlesische Adlige und Böhme-Anhänger Johann Theodor von Tschesch (1595–1649) mit einer Zwiefachen Apologia (1644) zurückweist. Ebenfalls in Amsterdam erscheinen 1643 Christian Becmans, eines reformierten Theologen aus Anhalt Exercitationes Theologicae. Sie enthalten auch ein ausführliches Böhme-Kapitel, das sich aber in erster Linie gegen Angelius Werdenhagen und dessen Kommentar zu seiner lateinischen Ausgabe von Böhmes Viertzig Fragen von der Seelen (1632) richtet, Böhme selbst also meist nur indirekt durch die WerdenhagenBrille wahrnimmt. In den 1650er und 60er Jahren wird es ruhiger um Böhme, bis die Auseinandersetzung sich Ende der 1670er Jahre wieder schwerpunktmäßig nach Deutschland zurückverlagert. Auslöser dieser geographischen Verschiebung dürfte Quirinus Kuhlmanns Schrift Der Neubegeisterte Böhme gewesen sein, mit der er 1674 von Leiden aus bestimmte Vertreter der lutherischen Orthodoxie und sogenannten Reformorthodoxie direkt angesprochen und polemisch herausgefordert hatte, indem er u. a. Böhme-Zitate neben solche des Rostocker Universitätstheologen Heinrich Müller (1631–1675) stellt und so ganz verblüffende Übereinstimmungen hinsichtlich eines von beiden geforderten »Tatchristentums« (gegenüber einem unfruchtbaren »Wortchristentum«) dokumentiert.2 Auf diese Herausforderung reagierte 1684 der bekannte Wittenberger Theologe Abraham Calov mit seinem Anti-Böhmius, in quo docetur, quid habendum de Secta Jacobi Böhmen […], indem er (das zeigt bereits der Titel) Böhme mit den sogenannten Böhmisten, also auch mit den häufig bizarren und überzogenen Äußerungen Kuhlmanns identifiziert und so ein reichlich schiefes Bild von Böhme vermittelt, dessen Einseitigkeit Friedrich Breckling 1688 in seinem Anticalovius zum Teil korrigiert.3 Zwischen 1634 und 1678 waren zahlreiche Böhme-Schriften erstmals in Amsterdam gedruckt worden, und diese ganze Herausgebertätigkeit fand ihre Krönung mit der ersten Gesamtausgabe von 1682, was Erasmus Francisci in seiner 1685 in Nürnberg erscheinenden, rund 800-seitigen gegen Böhme und die »heutigen Böhmisten« gerichteten Schrift Gegen=Stral der Morgenröte […] mit den Worten kommentiert: Diß ist einmal gewiß/ daß die Böhmische Schrifften/ so/ wie sie jetzo/ aus Holland/ eine Zeit hero/ wie die Kröten aus einem Morast/ wieder hervor gekrochen/ nichts anders/ als ein Mißbrauch heiliger Schrifft/ Ausleschung ihres wahren und heilsamen Verstandes/ und rechtes Ertzgifft der Seelen seyn […].4
In dieselbe Richtung ging die 1679 erschienene Schrift des thüringischen Pfarrers Johannes Möller mit dem auf Böhme zielenden Titel Der Fanatische Atheist, die 1685 mit einer anonymen Wolgemeinte[n] Gegen=Erklärung zurückgewiesen wurde. 2 3 4
Vgl. Quirinus Kuhlmann: Der Neubegeisterte Böhme. Hrsg. und erl. von Jonathan Clark. 2 Tle. Stuttgart 1995, hier: Tl. I, 66 f., 70 f. u. ö. Zu Friedrich Brecklings Anticalovius vgl. den Beitrag von Johann Anselm Steiger in diesem Band. Erasmus Francisci: Gegen=Stral der Morgenröte […]. Nürnberg 1685, 759. – Für die ausführlichen Titel vgl. das chronologische Verzeichnis der Streitschriften im Anhang.
Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger
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Der Streit um Böhme wurde ab 1690 im Zusammenhang der zwischen Pietisten und Orthodoxen ausbrechenden Streitigkeiten vor allem in Hamburg ausgetragen. Im weiteren Zusammenhang der Hamburger Unruhen fand 1691/92 ein interessanter Schlagabtausch statt zwischen Johann Christoph Holtzhausen, Freund und ehemaliger Amtskollege Speners in Frankfurt, und dem unter dem Pseudonym Johannes Matthaeus schreibenden württembergischen Pfarrer Johann Jacob Zimmermann, der wegen seines Eintretens für das kopernikanische, heliozentrische Weltbild des Amtes enthoben worden war und in den späten 80er Jahren bis kurz vor seinem Tod 1693 in Hamburg weilte.5 Das 1691 erscheinende Matthaeus/Zimmermann’sche Buch trägt den provokanten Titel: Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae contra Holtzhausium defensa, Das ist: Christliche Untersuchungen der Holtzhäusischen Anmerckungen Uber und wider Jacob Böhmens Auroram […],6 worauf Holtzhausen 1692 mit einem zweiten, über 400-seitigen Traktat mit dem sprechenden Titel konterte: Capistratus Bohmicolarum Rabula, Das ist: Klarer Beweiß/ Daß das jenige Geschwätz/ womit einer unter dem Namen M. Johannis Matthaei verlarveter/ Vorsprecher der Böhmistischer [sic!] Rotte Meine Anmerckungen/ Uber Jacob Böhmens Schrifften/ sonderlich Auroram, jüngst angegrieffen/ so falsch/ gottloß und unverschamt ist/ Daß er von Recht deßwegen für der Christlichen Kirchen und seinem eigenen Gewissen verstummen muß […]. So gingen erklärte Christen miteinander um! Indem man Böhme als Repräsentanten der radikalpietistischen Gruppen betrachtete und mit den separatistischen Tendenzen der sogenannten Böhmisten identifizierte, geriet dieser zunehmend in den Brennpunkt des Interesses, ja avancierte zum eigentlichen Prüfstein der Rechtgläubigkeit. Mit dem Ziel, Klarheit zu schaffen (und hierin von Spener ausdrücklich unterstützt),7 legte der Hamburger Hauptpastor Abraham Hinckelmann 1693 Viertzig wichtige Fragen/ Betreffende Die Lehre/ so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten zu »Christlicher Beantwortung« vor und doppelte noch im selben Jahr mit seiner Detectio Fundamenti Böhmiani, Untersuchung und Widerlegung der Grund=Lehre/ Die in Jacob Böhmens Schrifften verhanden nach, was bis 1696 eine ganze Welle von Antworten und Gegenantworten auslöste. Zeichen der zugespitzten Lage ist, dass alle BöhmeBefürworter ihre Antworten pseudonym respektive anonym veröffentlichten, während die Gegner mit vollem Namen zeichneten – mit zwei Ausnahmen allerdings, einem ungenannten Arzt (E. I. H. M. D.), der 1693 den Theologen mit dem Hinweis auf den verdammungswürdigen Paracelsus als Hauptquelle Böhmes (und entsprechenden Nachweisen) auf die Sprünge helfen wollte und einem Katholiken (dem einzigen!), der unter dem Pseudonym Gerardus Antognossi 1686 eine Schrift veröffentlichte, die Böhmes Lehre mit der der gnostischen Ketzer 5 6
7
Zur Biographie Zimmermanns vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2. verbess. u. verm. Aufl. Stuttgart 1993. Tl. VI, 4344. Matthaeus/Zimmermann bezieht sich hier auf Johann Christoph Holtzhausen: Teutscher Anti-Barclajus, Das ist: Ausführliche Untersuchung Der gantzen Quäckerey und Apologiae Roberti Barclay […] Sampt einem Kurtzen Anhang einiger Anmerckungen Uber Jacob Böhmens Schrifften/ sonderlich seine so genandte Auroram: Zur Warnung und Verwahrung gegen solche falsche Lehre. Franckfurt am Mayn 1691. Vgl. Gierl (Anm. 1), 292 u. Anm. 141.
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Sibylle Rusterholz
gleichsetzte. Bemerkenswert ist diese lateinische Schrift vor allem deshalb, weil der Autor keinerlei direkte Böhme-Kenntnis hat, sondern diese indirekt aus von Tscheschs Zwiefacher Apologia und deren Zitaten aus der polemischen Schrift des Holländers Gilbert bezieht, ein Problem, das auch bei anderen Autoren, die gegen Böhme schreiben, allerdings nicht derart krass, zu beobachten ist. Das Rätsel der Pseudonyme ist bis heute nicht in jedem Fall zweifelsfrei gelöst. Immerhin kann ich wenigstens einiges ausschließen. So tritt der bereits genannte Johann Jacob Zimmermann alias Matthaeus nicht, wie bisher meist angenommen, in unserem Zusammenhang unter zwei weiteren ›Pseudonymen‹ auf: als Liebhaber der Wahrheit, der auf Hinckelmanns Fragen mit mehreren Veröffentlichungen antwortet, und unter den Initialen J. J. M. E. D,8 da es sich – wie eine genaue Lektüre aller Schriften ergibt – bei den Genannten um zwei verschiedene Personen handelt, also nur einer der beiden (wie ich meine J. J. M. E. D.) mit Zimmermann identisch sein kann.9 8 9
So bei Dünnhaupt (Anm. 5), 4344. Dafür sprechen folgende Gründe: a) Gegen die Identität von J. J. M. E. D und dem anonymen Liebhaber der Wahrheit spricht, dass letzterer im Anhang zu seiner Freundliche[n] Antwort ([1694], 58) erklärt, ihm sei noch vor deren Drucklegung, also noch 1693, eine mit den Initialen »J. J. M. E. D.« gezeichnete Entgegnung auf die 40 Fragen Hinckelmanns sowie Hinckelmanns Detectio Fundamenti Böhmiani (beide 1693) zuhanden gekommen. Der Liebhaber der Wahrheit unterscheidet hier also deutlich zwischen sich selbst und J. J. M. E. D., den er im Folgenden dann gegenüber Hinckelmann verteidigt. In dem Zusammenhang erklärungsbedürftig ist insbesondere die Tatsache, dass der Liebhaber der Wahrheit und J. J. M. E. D. auf Hinckelmanns sechste Frage – »Ob Jacob Böhme nicht beständig lehre/ daß alle Dinge aus dem göttlichen Wesen geschaffen seyn« – entgegengesetzte Antworten geben, was der Liebhaber der Wahrheit mit der jeweils unterschiedlichen Perspektive der Antwortenden erklärt (Freundliche Antwort [1694], 58). Dies wiederum nimmt Aletophilus (d. i. Johann Friedrich Mayer) in seinem Send=Schreiben an […] Abraham Hinckelmann (1694) zum Anlass für die Behauptung, dass »die Herrn Böhmisten ihren Vorgänger selbst nicht verstehen« (13). b) Gegen die Identität von Matthaeus/Zimmermann mit dem Liebhaber der Wahrheit spricht deren gegensätzliche Beurteilung eines möglichen Zusammenhangs Böhmes, insbesondere der Qualitätenlehre, mit der Kabbala. Während Matthaeus/Zimmermann Übereinstimmungen zwischen Böhme und der Kabbala sieht, wovon noch ausführlich die Rede sein wird, unterstützt der Liebhaber der Wahrheit in diesem Punkt die Meinung Hinckelmanns, der einen solchen Zusammenhang strikt verneint (vgl. Liebhaber der Wahrheit: Detectio detectionis [1696], 73). Gegen des Liebhabers der Wahrheit Ablehnung von Übereinstimmungen Böhmes mit der jüdischen Kabbala scheint das Argument zu sprechen, die Schriftmäßigkeit der Lehre von den sieben Quellgeistern (das betrifft Hinckelmanns fünfte Frage) sei nicht nur mit Schriftstellen aus dem Neuen Testament (etwa Apoc 1,4 u. 5,6, wo von den »sieben Geistern« die Rede ist) erwiesen, sondern werde auch durch Sacharja 4,10 (»[…] jene sieben, welche sind des Herren Augen, die alle Lande durchziehen«) bestätigt, weil nämlich das hebräische Wort für Auge ( )עיןzugleich Quelle bedeute, womit Böhmes Terminus ›Quellgeister‹ als geradezu kongeniale Bezeichnung erscheint. Dieses scheinbar kabbalistische Argument (die Doppelbedeutung eines Worts verweist auf einen tiefen Sinnzusammenhang) dient dem Liebhaber der Wahrheit jedoch lediglich zum Erweis der behaupteten Schriftmäßigkeit von Böhmes Qualitätenlehre und nicht zum Erweis von Übereinstimmungen zwischen der Qualitätenlehre und der kabbalistischen Lehre von den zehn Sefirot. – Wer aber ist der Liebhaber der Wahrheit, der in mehreren Schriften Böhme gegenüber Hinckelmann verteidigt? Hauptanliegen ist ihm dabei stets, die Übereinstimmung von Böhmes Lehre mit der Schrift und mit der lutherischen Theologie zu erweisen. Soviel lässt sich mit einiger Sicherheit behaupten:
Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger
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Nachzutragen ist noch, dass es auch unter den Böhme-Gegnern einen Aletophilus gibt, sodass der griechisch-lateinische und der deutsche Liebhaber sich im Namen der Wahrheit bekämpfen, wobei allerdings Aletophilus, hinter dem sich der streng orthodoxe Johann Friedrich Mayer (1650–1712) – für alle sichtbar – verbirgt, ohne es zunächst zu merken, eher für als gegen Böhme argumentiert, womit er Hinckelmann, dem er sein Send=Schreiben widmet, einen Bärendienst erweist.10 Denkbar wäre, dass sich so unterschwellige Vorbehalte gegen den deutlich liberaleren Hinckelmann Luft verschaffen, gegen jenen Hinckelmann, der sich 1690 geweigert hatte, den bereits erwähnten, von Mayer mitverantworteten und unterstützten Revers zu unterschreiben, der u. a. eine Verurteilung Böhmes (unter eidlicher Bekräftigung) vorsah.11 Zum Abschluss dieses ersten Überblicks über die Böhme-Streitliteratur des 17. Jahrhunderts ist noch Johann Frik zu nennen, Pfarrer am Ulmer Münster und Lehrer der Logik, der, von Podagra befallen, während Jahren an Haus und Bett gefesselt war und die freie Zeit auf Anraten seiner Vorgesetzten zu ausgedehnter Böhme-Lektüre verwandte. Die Früchte dieser jahrelangen Lektüre, die mindestens bis 1688 zurückreicht (Quirinus Kuhlmann wird als noch lebend erwähnt), wurden am Ende des Jahrhunderts unter dem Titel Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer/ So auß dessen eigenen Schrifften gezeiget/ und auß H. Schrifft widerlegt werden in einem 700 Druckseiten umfassenden Band (ausdrücklich als Fragment!) aus dem Nachlass veröffentlicht. Kaum einer der Böhme-Gegner hatte eine so umfassende Textkenntnis wie der podagrakranke Johann Frik; was er daraus macht, ist dann allerdings eine andere Frage. Was ich hier in einem notgedrungen summarischen Überblick vorgestellt habe, umfasst Texte von mehr als 4 500 Druckseiten, was mich gelegentlich ob der Tollkühnheit des von mir gewählten Themas fast verzweifeln ließ – bis sich mehr und mehr zeigte, dass diese ganze Textmasse sich auf wenige, sich immer
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es muss sich um einen dem Pietismus nahe stehenden lutherischen Theologen mit philosophischem Horizont handeln. Er ist im Übrigen unter den Böhme-Verteidigern der Einzige, der das von diesen so verpönte syllogistische Schlussverfahren gelegentlich anwendet (z. B. Freundliche Antwort [1694], 68 f. u. 72–74), dessen sich sonst die Böhme-Gegner, z. B. Peter Widmann (Christliche Warnung [1624]) und Christian Becman (Exercitationes Theologicae [1643]) ausgiebig bedienen. c) Für die Identität von Matthaeus/Zimmermann und J. J. M. E. D. spricht die Vermutung, dass die Initialen »J. J. M.« (so bezeichnet ihn Hinckelmann in seiner Vorrede zur Detectio Fundamenti Böhmiani und macht indirekt deutlich, dass er dessen Identität kennt) auf Johann Jacob Matthaeus (= Johann Jacob Zimmermann) anspielen, der 1693 in Hamburg weilte und, auch das macht das Vorwort indirekt deutlich, in persönlichem Kontakt mit Hinckelmann stand. Darüber hinaus aber gibt es auch inhaltliche Gründe, insbesondere beider konsequente Einbettung Böhmes in den Traditionshorizont »fortschreitender Offenbarung« (vgl. dazu Anm. 82 u. 83). Vgl. Aletophilus, Send=Schreiben an Abraham Hinckelmann (1694), 20 f., und Anonymus [Liebhaber der Wahrheit]: Eine Abfertigung des Sendschreibens Aletophili (1696), 48–50. Zum Hamburger ›Revers‹ vgl. neben Gierl (Anm. 1) Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen. In: Geschichte des Pietismus. Bd. I: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hrsg. v. Martin Brecht. Göttingen 1993, 281–389, hier 344–352.
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wiederholende und wenig variierte Grundfragen reduzieren lässt. Davon soll nun im Folgenden die Rede sein.
Erleuchtung gegen Quellenabhängigkeit In praktisch allen Schriften der Böhme-Gegner spielt die Frage nach Böhmes Quellen eine große Rolle, und diese Frage ist stets gekoppelt mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit der von ihm selbst und seinen Freunden behaupteten Erleuchtung. Abraham Hinckelmann formuliert den Zusammenhang so: Es spreche dafür, »daß ein Mann nicht aus unmittelbahrer Göttlicher Eingebung schreibe« (was Böhme und seine Anhänger so nie behauptet haben), wenn man beweisen könne, dass dieser seine »meisten Lehren aus einen [sic!] andern Scribenten geholet«, und das »Kalb damit er gepflüget« sei im Falle Böhmes Robert Fludd.12 Andere nennen Paracelsus als Hauptquelle und schließen, Böhmes »himmlische Offenbahrungen« stammten aus des Theophrasti Schriften, seine Lehren seien das Ergebnis der Lektüren eines schwachen Gehirns und »irriger Lehrmeister«.13 Für Francisci hat Böhme seine Lehre aus vielerlei Lesefrüchten »zusammen geklaubt« und seine angebliche Erleuchtung sei als »raptus melancholicus« Frucht geistiger Überanstrengung und damit eher ein Fall für die Mediziner.14 Aletophilus/Mayer schließlich: »In welchen Scribenten Jacob Böhmens/ als eines ungelehrten Mannes/ gebräuchlichen termini und vermeinten Sachen anzutreffen seynd/ aus demselben sind auch die vorgebrachten Lehr=Sätze genommen« – auch er tippt auf Fludd –, um dann mit der abenteuerlichen These aufzuwarten, »es habe derjenige/ der ihm die terminos übersetzet hat/ auch die gantzen Texte erkläret/ und folglich im Anfange die Lehr=Sätze zu Papier gebracht/ so lange/ biß er [Böhme] durch die Übung etwas abzufassen geschickt gemacht worden« – und dieser angebliche Lehrmeister sei Böhmes Arzt Tobias Kober gewesen.15 – Nach 12
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Abraham Hinckelmann: Detectio Fundamenti Böhmiani […] (1693), 61. – Zur Bestätigung seiner These führt Hinckelmann zahlreiche Übereinstimmungen zwischen Böhme und Fludd an (ebd., 61–67), und zwar in der Annahme, Böhme habe direkt aus Fludds lateinischen Werken übersetzt (»vertirt«, 63), und dies alles ohne zu bedenken, dass Fludds mehrfach herangezogene Philosophia Mosaica (z. B. 67) erst 1638, 14 Jahre nach Böhmes Tod, gedruckt worden ist. Auf diese chronologische Unstimmigkeit haben die Böhme-Befürworter prompt hingewiesen (Liebhaber der Wahrheit, Detectio detectionis [1696], 63, und ders., Abfertigung des Sendschreibens Aletophili [1696], 13–15), während Aletophilus [Johann Friedrich Mayer] dem entgegenhält, dass die Fundamente der späteren Werke Fludds in dessen frühen Werken schon enthalten gewesen seien (Send=Schreiben an Abraham Hinckelmann [1694], 5). Dass die vermeintlichen Übereinstimmungen zwischen Böhme und Fludd durch eine gemeinsame Quelle, etwa die Kabbala, bedingt sein könnten, ziehen weder Böhmes Gegner noch seine Verteidiger in Betracht. Anonymus [E. I. H. M. D.]: Der entlarvete Jacob Böhm […] (1693), 22 u. 40. Francisci, Gegen=Stral der Morgenröte (1685), 748 u. 752. Aletophilus, Send=Schreiben an Abraham Hinckelmann (1694), 4 f. – Hier zeigen sich ebenso wie bei Hinckelmann bereits Merkmale jener »Theorie einer kollektiven Autorschaft«, die Johann Christoph Adelung ein knappes Jahrhundert später in seiner Geschichte der menschlichen Narrheit im Hinblick auf Böhme vertreten wird. Vgl. hierzu Friedrich Voll-
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orthodoxer Lehre ist die unmittelbare Offenbarung mit den Aposteln abgeschlossen, weshalb den Böhme-Gegnern so viel daran liegt, Böhmes Lehren mit seinen angeblichen Quellen zu identifizieren und damit die Frage der Erleuchtung im negativen Sinn zu beantworten. Die Frage nach den offensichtlichen Differenzen zwischen den genannten Quellen und Böhmes Lehre wird nicht gestellt, auch nicht von seinen Anhängern, von denen nur einer darauf verweist, dass Böhme an seinen angeblich völlig kongruenten Quellen gelegentlich auch Kritik übt – z. B. an Valentin Weigel.16 Nun gibt es aber auch den umgekehrten Fall: dass nämlich einer der Böhme-Anhänger in zustimmendem Sinn auf eine Quelle verweist. Zimmermann alias Matthaeus erklärt in seiner gegen Holtzhausen gerichteten Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae […] Das ist […] Gründl. Vertheidigung der Alt=Evangel. Lehre des hocherleucht. J. Böhmens: »daß der Grund der Böhmischen Mysterien im Buch Jezirah, welches […] dem heiligen Patriarchen Abraham zugeschrieben wird/ offenbahrlich enthalten« sei.17 Was ist damit gemeint? Das Sefer Jezira – Buch der Schöpfung – beschreibt die Entstehung der Welt aus den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets und den zehn Grundzahlen bzw. zehn Sefirot. Der konvertierte Jude Johann Stephan Rittangel, Orientalist an der Königsberger Universität, hatte 1642 eine lateinische Übersetzung des Sefer Jezira vorgelegt, die er mit einem ausführlichen christlichen Kommentar versah. Die sogenannte christliche Kabbala, im 15. Jahrhundert von Pico della Mirandola und Johannes Reuchlin entwickelt, geht von der Annahme aus, die Kabbala entstamme apostolischer Zeit und stelle eine Art Urchristentum innerhalb des Judentums dar, eine uralte Weisheit, die es neu zu entdecken gelte. Rittangel nun deutet das Sefer Jezira gemäß dieser Prämisse christlich um und verbindet den Beginn des Buchs der Schöpfung mit dem ersten Kapitel des Sohar, dem klassischen Zeugnis der Kabbala vom Beginn des 14. Jahrhunderts, das den absoluten Anfang und die »Theogonie der Gottheit« beschreibt.18 Matthaeus, der sowohl den Sohar wie das Sefer Jezira kennt, entdeckt in den Texten und den Kommentaren Rittangels, die eine ausführliche Darstellung der kabbalistischen Lehre von den zehn Sefirot enthalten, auffallende Parallelen zu den Lehren Böhmes: etwa in der sachlichen und wörtlichen Entsprechung des hebräischen Ensoph (wörtlich: ohne Ende) mit Böhmes Ungrund (»Ein Ding/ so kein Ende hat/ das ist ein Ungrund«).19 Er trifft sich damit mit einem der besten Kabbalakenner des letzten
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hardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin 2009 (DFG Symposion 2006), 89–123, hier: 101 f. Anonymus [J. J. M. E. D.]: Verlangete Christliche Beantwortung Deren Viertzig wichtigen Fragen […] (1693), 53 (unter Hinweis auf Böhmes Sendbrief 12,59 f.). Johannes Matthaeus [Johann Jacob Zimmermann]: Orthodoxia Theosophiae TeutonicoBöhmianae […] (1691), 65. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Das Buch Jezira in der christlichen Tradition. In: Das Buch Jezira. Hrsg. v. Eveline Goodman-Thau u. Christoph Schulte. Mit Nachworten von Moshe Idel u. dems. Berlin 1993 (Jüdische Quellen 1), 45–64, hier: 53. Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 72.
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Jahrhunderts, mit Gershom Scholem, der in seiner deutschen Übersetzung des ersten Sohar-Kapitels unter ausdrücklichem Verweis auf Böhme das hebräische Ensoph mit Ungrund wiedergibt.20 Eine weitere Sinn- und Sachparallele sieht Matthaeus zwischen den obersten drei Sefirot (Keter, Chochma, Binah) und der christlichen Trinität, die er wiederum mit Böhmes drei Principien in Beziehung setzt mit den Worten: »von denen Jacob Böhmens drey Principia deß Göttlichen Wesens herstammen.«21 Analoge Parallelen ergeben sich zwischen den unteren sieben Sefirot und Böhmes Qualitätenlehre bzw. den sieben Quellgeistern, wie sie in der Aurora noch heißen. So ergibt sich eine Art Wechselwirtschaft: Die kabbalistischen Texte verweisen auf Böhme und werden umgekehrt mit spezifisch Böhme’schen Termini erläutert, was sich vor allem dort anbietet, wo Matthaeus Rittangels lateinische Notae ins Deutsche übersetzt.22 Etwas Ähnliches lässt sich rund 70 Jahre später bei Friedrich Christoph Oetinger beobachten, der vielfach kabbalistisches Gedankengut von Böhme her interpretiert, besonders deutlich in seiner Interpretation der Kabbalistischen Lehrtafel der Prinzessin Antonia in Bad Teinach von 1763. Nachdem Matthaeus/Zimmermann vorweg in einem längeren Exkurs dargestellt hat, wie nahe Böhmes »Redens=Art und tieffe Erkäntnüß mit der uhrältesten Theologia eintreffe«, wovon sein Gegenpart Holtzhausen offenbar wenig verstehe, wie er leicht süffisant bemerkt,23 geht er über zur Widerlegung der 77 strittigen Punkte, die Holtzhausen aus der Aurora gegen Böhme zusammengestellt hat, wobei deren »christliche Untersuchung«, wo immer es sich sachlich anbietet, aus der Perspektive christlicher Kabbala erfolgt. Die Reaktion Holtzhausens ließ nicht lange auf sich warten, und sie fiel so heftig aus, wie es der schon zitierte Titel Capistratus Bohmicolarum Rabula erwarten ließ. Weil es Matthaeus in seinem großen »Defensions=Buch« wider ihn an Stoff gemangelt habe, habe er »auß allen dunckeln Winkeln einen Dreck=Hauffen zusammen samlen« müssen.24 Zu Böhmes Verteidigung habe die Bibel nicht ausgereicht, weshalb der »Lügen=Teuffel und Schrifft=Verkehrende Irrgeist« Matthaeus/Zimmermann »die ärgeste Feinde Christi und des Evangelii/ nemlich/ die verstockten Rabbinen/ Cabalisten und Juden« mit ihren »Lügen« habe aufbieten müssen.25 Holtzhausen steigert sich in einen wahren Rausch der Empörung und lässt kein gutes Haar an der Kabbala, womit er nebenbei seine von Matthaeus/Zimmermann behauptete Ignoranz vollauf bestätigt. Obwohl er berichtet, die Jezira-Ausgabe Rittangels ausgeliehen und gelesen zu haben, verstellt ihm sein offensichtlicher Antisemitismus die Einsicht, dass hier ein zum Christentum konvertierter Jude die tiefen christlichen Wurzeln der Kabbala zu 20 21 22
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Gershom Scholem: Die Geheimnisse der Schöpfung. Ein Kapitel aus dem Sohar. Berlin 1935, 79. Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 70. Vgl. etwa ebd. 67 u. 101, wo Matthaeus Böhmes metaphorische Rede vom »unaufflößlichen Band« (welches die Quellgeister/Qualitäten in Gottes ›ewiger Natur‹ verbindet) in die Rittangelsche Darstellung der Sefirotlehre hinübernimmt. Ebd., 78. Johann Christoph Holtzhausen: Capistratus Bohmicolarum Rabula […] (1692), 117. Ebd., 101 u. 100.
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erweisen versucht. Die ganze Sache fand dann insofern ein tragisches Ende, als Holtzhausen unmittelbar vor seinem Tod schwere Gewissensbisse ob seiner unverhältnismäßigen Ausfälle gegen Böhme empfand und, wie Spener berichtet, in mehreren Briefen von ihm habe getröstet werden müssen.26 Es gibt nun aber noch eine zweite, gewichtigere Reaktion auf Matthaeus’/ Zimmermanns Verteidigung der Rechtgläubigkeit Böhmes aus kabbalistischer Perspektive. Abraham Hinckelmann hatte dem Untertitel seiner Detectio Fundamenti Böhmiani als weiteren Programmpunkt hinzugefügt: »worinnen […] der Recht=gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabalae […] entdecket wird«. Und diesen rechtgläubigen Sinn der alten jüdischen Kabbala will er ausdrücklich gegen Matthaeus/Zimmermann verteidigen, der sich »gegen den treuen Knecht GOttes/ meinen lieben Herrn Holtzhausen« mit der These vom Zusammenhang der kabbalistischen Sefirot-Lehre mit Böhmes Qualitätenlehre vergangen habe, während er (Hinckelmann) versichert sei, »daß der Juden sieben Sephirot mit Böhmens Qvell=Geistern/ auch nach der besten Cabalistischen Erklährung sich nicht lassen zusammen reymen.«27 Zum Beweis lässt er über 15 Druckseiten eine kundige Darstellung der Sefirotlehre folgen, wobei er sich von vornherein die Sicht der christlichen Kabbala zu eigen macht, weil doch über die Kabbala »ein Christe/ durch das Licht des Neuen Testaments erleuchtet/ viel besser urtheilen kan/ als alle Juden.«28 Wir haben hier den merkwürdigen Tatbestand, dass sowohl Matthaeus/Zimmermann wie Hinckelmann, der als Orientalist die kabbalistischen Texte im Original lesen konnte, dass also zwei gleichermaßen sachkundige Männer, die sich beide auf Rittangel berufen und mit dessen christlicher Umdeutung des Sefer Jezira identifizieren, hinsichtlich Böhme zu diametral entgegengesetzten Urteilen kommen, und das, obwohl in Hinckelmanns Untersuchung alle wichtigen Belege aus verschiedenen Böhme-Schriften zitiert werden, die die strukturellen Analogien zwischen Böhmes ›System‹ und der Kabbala unübersehbar machen: die Übereinstimmung der Lehre vom »ungeoffenbahrten Gott« (Ensoph) mit Böhmes Lehre vom Ungrund z. B., die Hinckelmann als nicht schriftgemäß vom Tisch wischt (»Wo findet man solch Zeug doch in GOTTES Wort«),29 ohne zu bedenken, dass die Vorstellung vom »ungeoffenbahrten« Gott in der Kabbala wie bei Böhme mit der Sefirot- bzw. der Qualitätenlehre unabdingbar zusammengehört, geht es doch in beiden Fällen um einen innergöttlichen Offenbarungsprozess. Viele andere, kaum zu übersehende, weil mit Böhme-Zitaten bestens belegte Analogien kommen hinzu: die nahezu identische 26
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Vgl. De Vita et Scriptis oder Historischer Bericht von dem Leben und Schriften Jacob Böhmens V: Mehrere Merckwürdigkeiten von J. Böhmens Wohnung und Begräbniß=Platz; von seiner Person und Beruff: nebst umständlicher Wiederholung aller seiner Schriften. In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. X. (21988), 68 f. (mit Originalzitaten Speners). Im Weiteren mit der Sigle »SS«. Vgl. auch Helmut Obst: Jakob Böhme im Urteil Philipp Jakob Speners. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 23 (1971), 22–39, hier: 36. Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 20. Ebd., 20 f. Ebd., 6 u. 8.
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Farbtheologie bei Böhme und in der Kabbala,30 der Christusbezug von Böhmes 5. Qualität und deren Äquivalent in der Sefira Tifereth, in der Hinckelmann einen Hinweis auf den Messias ausmacht,31 und insbesondere die ins Auge springende strukturelle Ähnlichkeit in der Auffassung des Bösen, dessen Ursprung die Kabbala ebenso wie Böhme in der Gottheit selbst grundgelegt sieht – selbstverständlich ohne dass innergöttlich vom Bösen in ethisch-moralischem Sinn gesprochen werden kann, was sowohl bei den Böhme-Befürwortern wie bei den Gegnern allzu oft in Vergessenheit gerät. Insgesamt erhält man den Eindruck, Hinckelmann verstehe viel von Kabbala und zeige wenig Engagement, Böhme zu verstehen – trotz der reichhaltigen Quellenbelege. Grund dafür ist die Schreibsituation. Die Textsorte Streitschrift respektive die theologia elenchtica verlangt nicht abwägendes Verständnis, sondern strikte Widerlegung aller der ›reinen Lehre‹ zuwiderlaufender Äußerungen und nimmt dafür eine polemisch-verengte Perspektive in Kauf.32 Was nun allerdings verblüfft, ist die Tatsache, dass Hinckelmann der angeblich ›rechtgläubigen‹ Kabbala jenen Grundirrtum bescheinigt, den er zum Grundirrtum Böhmes erklärt, aus dem alle übrigen Irrtümer sich herleiten: die Annahme nämlich, »daß alle Dinge aus dem Göttlichen Wesen erschaffen« seien.33 Ist dies nicht ein massiver Selbstwiderspruch? Hinckelmann befand sich insofern in einer Zwickmühle, als er als erklärter Liebhaber der Kabbala34 deren völlig unqualifizierte Aburteilung durch den Freund Holtzhausen zurechtrücken musste, andererseits aber jeden Anschein der Übereinstimmung Böhmes mit der ›rechtgläubigen‹ Kabbala zu vermeiden hatte, wollte er nicht Matthaeus/Zimmermann Recht geben, den es doch zu widerlegen galt. Wohl berufen sich beide, Matthaeus/Zimmermann wie Hinckelmann, auf Rittangel und dessen christliche (Um-)deutung des Sefer Jezira, doch klammert Hinckelmann die ganze Ungrund30
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Ebd., 26 f.– Zu Analogien zwischen Böhmes Farbtheologie und der Kabbala vgl. Sibylle Rusterholz: Elemente der Kabbala bei Jacob Böhme. In: Mystik und Schriftkommentierung. Hrsg. v. Günther Bonheim u. Petra Kattner. Berlin 2007 (Böhme-Studien 1), 15–45, hier: 34 f. u. Anm. 39. Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 31. Vgl. auch 21, 26 u. 29. Zur theologia elenchtica vgl. Gierl (Anm. 1), bes. 60–81. Das Recht zum »Schmähen« wie das der »Gegen-Beschimpfung« war im Rahmen der theologia elenchtica durchaus vorgesehen und erlaubt (ebd., 158). Mit den Pia Desideria (1675) setzte Spener neue Akzente, indem er der »defensiven Aggression der Polemik« eine »progressive Irenik gelebter Frömmigkeit« entgegensetzt, d. h. er mahnt eine Reform des Streitens und der Streitmittel an (ebd., 278), was sich in seiner vorsichtig abwägenden Haltung gegenüber dem Streitobjekt Böhme niederschlägt, durch die ein offizielles Verdammungsurteil von kirchlicher Seite verhindert werden konnte. Vgl. dazu Obst (Anm. 26). Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 36. – Vgl. Hinckelmanns grundsätzliche Überlegungen: »Hier wird der verständige Leser leicht mercken/ warumb ich eben nach der Grund=Lehre forsche. Denn wie ein jedes Hauß seinen Grund hat/ welcher/ wo er zerschüttert wird/ das gantze Hauß zugleich Noth leidet: so ist es mit allen andern Wissenschafften nicht allein/ sondern auch mit denen in der Christenheit entstandenen Secten eben so bewandt/ daß wenn ich den Grund mercken und umbwerffen kann/ das gantze Gebäude zugleich mit hin fällt […]. Daher man mit Recht sagen mag/ daß wer in jedweder Religions=Neuerung nur das Hertze und Grund recht einsehen und heben kan/ der habe der gantzen Sache schon geholffen« (ebd., 4 f.). Er liest in seiner Freizeit kabbalistische Texte, vgl. ebd., 36.
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Problematik aus dem krypto-christlichen Zusammenhang aus und betrachtet sie als sekundäre Überformung »aus der Griechischen/ oder auch einiger Völcker in Orient Philosophie.«35 Er kann dies tun, weil er im Gegensatz zu Matthaeus/ Zimmermann, der an der zeitüblichen Zuschreibung des Sefer Jezira an Abraham festhält,36 dieses für jünger hält (wohl alt, aber nicht von Abraham),37 womit er eine für seine Zeit fortschrittliche Position einnimmt, auch wenn diese sich (noch) nicht wissenschaftlich-aufklärerischem Impetus, sondern streittaktischen Gründen verdanken mag.38 Er liefert damit ein einleuchtendes Exempel für den von Martin Gierl thematisierten »Einfluß der Streitform auf die Genese von Streitinhalten«.39
Das Nichts und die Herkunft des Bösen Der Vorwurf, Böhme mache das göttliche Wesen zur »Materie aller Dinge«,40 steht in engstem Zusammenhang mit der Frage, ob Böhme die orthodoxe Lehre von der creatio ex nihilo verletze oder nicht, und diese Frage wird in nahezu allen Streitschriften pro und contra thematisiert. Das kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werde. Interessant scheint mir vor allem die Diskussion um den Begriff des Nichts, und zwar deshalb, weil sie deutlich macht, wie fremd die Tradition spekulativer Mystik (die ja in der von Luther und Arndt edierten Theologia Deutsch durchaus noch präsent war) am Ende des 17. Jahrhunderts dem orthodoxen Luthertum geworden ist.41 Ein allerdings extremes und in diesem Sinn 35 36
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Ebd. Das Sefer Jezira werde »einhellig von den alten und neuen Rabbinen dem heiligen Patriarchen Abraham zugeschrieben« (Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae [1691], 65). Damit ist dessen nicht zu hinterfragende Autorität garantiert. Vgl. Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 22 u. 75 f. Zur »entschleiernden Historisierung der pseudoepigraphischen Texte« in der frühen Aufklärung, insbesondere des Sefer Jezira, vgl. Schmidt-Biggemann (Anm. 18), 61–64. – Den Beweis der Unvereinbarkeit Böhmes mit der ›rechtgläubigen‹ Kabbala führt Hinckelmann nicht nur anhand des Sefer Jezira, sondern er zieht noch ein von einem gewissen Rabbi Elkana stammendes, angeblich sehr altes kabbalistisches Manuskript bei, das tatsächlich aber erst aus dem späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert stammt. Hier bedient sich also auch Hinckelmann der Beweiskraft angeblicher Anciennität kabbalistischer Texte. Zu Elkana vgl. Martin Mulsow: Den ›Heydnischen Sauerteig‹ mit dem ›Israelitischen Süßteig‹ vermischt: Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann und Johann Peter Späth. In: Scientia Poetica 11 (2007), 1–50, hier: 9 f. Vgl. Gierl (Anm. 1), 169. Mit dieser Formulierung (Detectio Fundamenti Böhmiani [1693], 4) spitzt Hinckelmann die sechste seiner Viertzig wichtige[n] Fragen/ Betreffende die Lehre/ so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten (1693, unpag.) – »Ob Jacob Böhme nicht beständig lehre/ daß alle Dinge aus dem Göttlichen Wesen geschaffen seyn?« – erheblich zu. Schon Peter Widmann hatte (unter Berufung auf Nicolaus Hunnius) die Theologia Deutsch für ketzerisch erklärt und deren Verfasser mit Thomas a Kempis, Schwenckfeld, Weigel und Tauler unter die gefährlichen Schwärmer und Enthusiasten gerechnet (Christliche Warnung für einem new außgesprengeten Enthusiastischen Büchlein [1624], 14). Des unbekannten Autors Rede von der (mystischen) ›Gelassenheit‹ gilt ihm als bloßes ›Geschwätz‹ (ebd., 10).
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nicht zu verallgemeinerndes Beispiel dafür gibt der podagrakranke Johann Frik, dem Böhmes Rede von Gott als »Ungrund« und »Nichts« nur noch Anlass ist für einen entsetzen Kommentar: »Dieses ist nicht nur eine vermessene Verwegenheit/ sondern eine verdammliche Gottlosigkeit/ von dem Majestätischen GOtt zu sagen/ daß er einmahl in der Ewigkeit Nichts gewesen«.42 Und jene berühmte Stelle aus De signatura rerum (6,8), mit der Böhme (allerdings nicht im Sinne historischer Abhängigkeit) die ganze jahrhundertealte Tradition spekulativer Mystik in einem großartigen Paradox zusammenfasst: »Gott hat alle Dinge aus Nichts gemacht und dasselbe Nichts ist Er selber« gilt Frik als Gipfel der Blasphemie und eine verborgene »Anführung zur Atheisterey«.43 Aus der Perspektive polemisch verengter Orthodoxie ist es nur folgerichtig, mit Hinckelmann die Tradition der Theologia mystica in Bausch und Bogen abzulehnen.44 Das orthodoxe Verständnis der creatio ex nihilo als nicht zu hinterfragender Beweis göttlicher Allmacht45 bewahre zudem davor, Gott für die Erschaffung auch des Bösen verantwortlich zu machen.46 Die Thematik des Bösen ist denn auch ein vieldiskutiertes Problem. Zentraler Streitpunkt ist die angebliche »Abtheiligkeit« Gottes in Böhmes Lehre von den zwei ewigen Principien Finsternis und Licht. Die Gegner kontern entweder mit
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Wie sich leicht aus dem Gesamtzusammenhang nachweisen ließe, war die Identität des Verfassers des anonym erschienenen Weg[s] zu Christo Widmann, trotz gegenteiliger Beteuerungen, sehr wohl bekannt. Johann Frik: Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer […] (1700), 296. Ebd., 287. – Zur Bedeutung des ›Nichts‹ im Sefer Jezira mit Ausblicken auf die christliche Tradition der mittelalterlichen Mystik vgl. Gershom Scholem: Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes. In: Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M. 1996 (11970), 53–89. Scholem verweist auf die Umdeutung, die die Vorstellung der creatio ex nihilo im Prozess der Rezeption durch die mittelalterliche Mystik (bis zu Böhme) erfährt: die Schöpfung aus Nichts wird zur Schöpfung aus Gott selber. Vgl. insbesondere 62–74. – Zur Thematik des ›Nichts‹ vgl. auch Alois Haas: Das Nichts Gottes und seine Sprengmetaphorik. In: Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit. Hrsg. v. Henriette Herwig, Irmgard Wirtz u. Stefan Bodo Würffel. Tübingen 1999 (Festschrift für Peter Rusterholz), 53–70. So Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 103. – Dass es neben derart radikaler Ablehnung der mystischen Tradition in der lutherischen Orthodoxie auch Bestrebungen einer »reformationstheologischen Transformation der vorgegebenen mittelalterlichmystischen Traditionslinien« gab, darauf hat Johann Anselm Steiger hingewiesen. Vgl. ders.: Heinrich Varenius’ Rettung von Johann Arndts ›Wahrem Christentum‹. In: Bernhard Varenius (1622–1650). Hrsg. v. Margret Schuchard. Leiden 2007, 27–57, hier: 44 f. – Zur innerprotestantischen Diskussion der unio mystica vgl. die umfassende Darstellung durch Theodor Mahlmann: Die Stellung der unio cum Christo in der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts. In: Unio. Gott und Mensch in der nachreformatorischen Theologie. Hrsg. v. Matti Repo u. Rainer Vinke. Helsinki 1996 (Veröffentlichungen der Finnischen Theologischen Literaturgesellschaft 200/Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft 35), 72–199. Holtzhausen, Capistratus Bohmicolarum Rabula (1692), 261: »Es ist ja bey dem Articul von der Schöpffung sonderlich in acht zu nehmen das fürtreffliche argument, die unendliche Allmacht Gottes zu beweisen/ nemlich/ daß ER ein solcher herrlicher/ Allmächtiger GOtt ist/ der auß nichts etwas/ ja alles machen kan/ und gemacht hat […].« Vgl. Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 17.
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dem zigfach wiederholten Argument: »das sagt die Bibel nicht« oder aber mit dem Hinweis auf die uralte Ketzerei der Gnostiker, die ebenfalls wie Böhme eine »Abtheilung des göttlichen Wesens« und »zween wiederwärtige Götter« gelehrt hätten.47 Zweifellos ist Böhmes Metaphysik des Bösen etwas vom Schwierigsten und zugleich Faszinierendsten seiner Lehre überhaupt. Es verwundert deshalb nicht, dass auch die Böhme-Befürworter sich selten derer abstrakter Dialektik gewachsen zeigen.48 Die klarste Gegenargumentation gegen den Vorwurf, Böhme lehre, der Teufel sei Teil Gottes, findet sich bei Matthaeus/Zimmermann. Ich gebe nur einige Stichworte: Im Ungrund »sind alle Contraria und Contradictoria […] impliciert und verknüpfft« gleichsam als eine »rechte und lincke Hand«;49 es gibt also keine »Abtheilung« und damit auch kein Böses, weil in der »Concordantz« Finsternis und Licht nicht als separate Größen offenbar sind. Dennoch aber ist das Böse (im nicht-moralischen Sinn), ist die Negativität des ersten Princips eine (wie Matthaeus/Zimmermann sagt) »höchst=nothwendige Eigenschafft der ewigen Offenbahrung GOttes«.50 Soweit ich sehe, ist Matthaeus/Zimmermann der einzige, der auf diesen für das Verständnis Böhmes außerordentlich 47
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Vgl. Anonymus [E. I. H. M. D.], Der entlarvete Jacob Böhm (1693), 10 f. – Der ungenannte Verfasser beschließt seine Entlarvung der Böhme’schen Schriften mit der im Wortsinn vernichtenden Aufforderung: »ad vulcanum« (ebd., 45). – In der unter dem Pseudonym Gerardus Antognossi veröffentlichten lateinischen Schrift: Novi Apellis, ne Sutor ultra crepidam […] (1686), die sich durch keinerlei direkte Böhme-Kenntnis auszeichnet, wird als blasphemisch gebrandmarkt, dass Böhme mit seiner ›Principienlehre‹ zwei Götter behaupte und damit die Ketzerei der Gnostik noch übertreffe (»Et quia blasphemum portentum duorum principiorum ad extra, id est, duorum Deorum placet […]«, 32), während Hinckelmann umgekehrt den Skandal darin sieht, dass Böhme die beiden Principien in Gott vereinige: »Aber das ist gewiß/ daß soweit keiner der alten Ketzer gekommen/ die doch von den [sic!] Ursprung des Bösen so viel greuliche Irrthümer auf die Bahn gebracht. Sondern sie dichteten lieber zwo Götter/ einen bösen der in alten Testament kund geworden/ und einen guten der sich in neuen Testament geoffenbahret; als daß sie hätten vorgegeben/ in des dreyeinigen Gottes Wesen wäre das Böse was in der Natur gewürcket wird/ als in seiner eigenen Mutter und Ursprung verborgen.« (Detectio Fundamenti Böhmiani [1693], 76). Eine gewisse Ausnahme bildet Abraham von Franckenberg, der in seiner frühen Schrift Theophrastia Valentiniana […] (1627), die sich der Bitte eines Freundes um ein Urteil über die Lehre des Gnostikers Valentinus, insbesondere über dessen Lehre vom Bösen, verdankt, dem gnostischen Dualismus mit dem Verweis auf den komplementären Zusammenhang von Böhmes beiden ewigen Principien begegnet. Vgl. Sibylle Rusterholz: Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme. Versuch einer Neubestimmung aufgrund kritischer Sichtung der Textgrundlagen. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Bd. I. Hrsg. v. Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), 205–241, hier: 234 f. Die zu Lebzeiten Franckenbergs nicht veröffentlichte Theophrastia Valentiniana ist (u. a.) eine erste subtile Verteidigungsschrift Böhmes, auch wenn sie nach Form und Anlass dem Typus des Elenchus nicht eigentlich entspricht. – Franckenbergs Freund Johann Theodor von Tschesch hingegen, dem es in seiner gegen David Gilbert gerichteten Zwiefache[n] Apologia (1644/1676) darum geht, als Beitrag zu seinem besseren Verständnis Böhme mit Böhme zu erklären und darüber hinaus dessen Konformität mit der Schrift zu erweisen, argumentiert gelegentlich äußerst ungeschickt, insbesondere wenn es um die Dialektik des Bösen bzw. den komplementären Zusammenhang der beiden ›ewigen‹ Principien geht (so etwa 164–167). Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 102. Ebd.
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wichtigen Punkt hinweist: die Notwendigkeit von ›Duplizität‹ und ›Schiedlichkeit‹ für die innergöttliche Offenbarung der ›ewigen Natur‹, die jedoch niemals ›Trennung‹ ist. Da Ewigkeit per definitionem jede zeitliche Sukzession logisch ausschließt, kann es keinen »Wechsel der Finsternüß und Lichts in der Uncreatürligkeit Gottes« geben, das eine bleibt stets im anderen aufgehoben, verbunden mit einem »unaufflößliche[n] Band«.51 In dem folgenden Satz meint man bereits den Schelling der bekanntlich stark von Böhme geprägten Freiheitsschrift (1809) zu hören: »In der Creatürligkeit aber darinnen Trennung geschehen mag/ kan solches wol böse [d. h. moralisch böse] werden.«52 Die Symbolik der rechten und linken Hand macht deutlich, dass Matthaeus/Zimmermann auch im Hinblick auf die Metaphysik des Bösen aus der Perspektive der Kabbala argumentiert in der Absicht, die strukturellen Analogien zwischen Böhme und der Kabbala auch in diesem wichtigen Punkt zu verdeutlichen.53 In den schöpfungstheologischen Zusammenhang der Frage nach der Herkunft des Bösen gehört natürlich auch die Lucifer-Thematik, die die Streitliteratur vor allem auf die Frage nach dem Zeitpunkt der Erschaffung der Engel und des Engelsturzes zuspitzt, während die Freiheitsproblematik im Zusammenhang mit Lucifer kaum thematisiert wird. Abweichend von orthodoxer Lehre ist die in Gen 1 geschilderte Schöpfung der Welt für Böhme Folge des voraus liegenden luciferischen Falls. Das hat notwendig hermeneutische Implikationen, denn offensichtlich lässt sich Böhmes Schriftdeutung nicht so ohne weiteres mit dem orthodoxen Sola-scriptura-Gebot vereinbaren. Demgegenüber verteidigt Johann Christoph Holtzhausen (neben anderen) den absoluten Vorrang des sensus historicus und sieht durch die allegorisch-typologische (figurale) Auslegung die Unfehlbarkeit der Schrift infra51
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Ebd., 102 u. 101. Die Böhme-Gegner weisen diese Argumentation gelegentlich als Schwindel und Ausweichmanöver zurück, das von der Konsequenz, Gott sei Schöpfer des Bösen, ablenken solle: Böhmes »unauflößliches Band« [der Principien in Gottes ›ewiger‹ Natur] sei »das liederliche Band/ damit er seine Augen verbindet/ daß er die Warheit nicht sehen kan« und damit »ein starcker Strick deß Satans« (Frik, Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer [1700], 549). Während Holtzhausen in diesem Zusammenhang von »der erdichteten Schwärmerischen gottlosen distinction/ der ewigen Uncreatürlichkeit/ und Creatürlichkeit« spricht (Capistratus Bohmicolarum Rabula [1692], 323), scheut sich Erasmus Francisci nicht, Böhmes Auffassung des Bösen, die den Teufel zum Teil Gottes mache, als »Zote« zu bezeichnen (Gegen=Stral der Morgenröte [1685], 762). Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 102. – Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. Mit Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Horst Fuhrmans. Stuttgart 1991, 90: »Allein wir haben ein für allemal bewiesen, daß das Böse, als solches, nur in der Kreatur entspringen könne, indem nur in dieser Licht und Finsternis oder die beiden Prinzipien auf zertrennliche Weise vereinigt sein können. Das anfängliche Grundwesen kann nie an sich böse sein, da in ihm keine Zweiheit der Prinzipien ist.« Zu weiteren nahezu wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Böhme und Schelling vgl. Sibylle Rusterholz: Jacob Böhmes Deutung des Bösen im Spannungsfeld von Tradition und Innovation. In: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Hrsg. v. Claudia Brinker u. a. Bern 1995, 225–240, hier: 232 u. Anm. 28 u. 234 u. Anm. 39. Zu Analogie und Differenz zwischen Böhme und Gnostik bzw. Kabbala vgl. Rusterholz, Jacob Böhmes Deutung des Bösen im Spannungsfeld von Tradition und Innovation (Anm. 52), 232 u. 238–240, und dies., Elemente der Kabbala bei Jacob Böhme (Anm. 30), 15–45.
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ge gestellt. Dass das gelegentlich zu erheiternden Ergebnissen führen kann, zeigt seine Argumentation gegen Böhmes Deutung von Gen 1,2: Lucifers Fall hat sich (nach Böhme) auf kosmischer Ebene ausgewirkt als ›Zusammenziehung‹ (compaction) der ursprünglich lichten, nicht-materiellen Schöpfungsnatur zu finster-starrer Materie, »und synd freylich«, wie Matthaeus/Zimmermann erläuternd hinzufügt, »auch hierauß die harte Felsen und Steine geworden/ und haben sich zusammen gezogen.«54 Holtzhausen kontert in grotesk-komischer Verwechslung der Seinsebenen: »[…] daß die Felsen und Steine hart sind/ das ist ihre natürliche und von Gott angeschaffene gute Eigenschafft. Sintemal wir harte Steine und Felsen zum bauen nöthig haben. Was hält man von weichen Steinen?«55
Natursprache und die Frage nach dem ›richtigen‹ Abendmahlsverständnis Einen harten Stein des Anstoßes bildet Böhmes Natursprachenlehre. Die Auseinandersetzung über eine uns heute eher fern gerückte Thematik ist deshalb besonders interessant, weil hier nochmals und in seltener Klarheit jene beiden grundsätzlich verschiedenen Sprachauffassungen aufeinander treffen, die seit Platons Kratylos bestimmend wurden und deren eine im Zuge der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, zumindest im Bereich der Sprachwissenschaft, zunehmend an Bedeutung verliert, auch wenn sie im Bereich der Theologie – etwa bei Oetinger, Baader und Hamann – durchaus noch ein Thema bleibt. Es geht um die Frage, ob (entsprechend der kratylischen Position) zwischen Wort und Ding, Zeichen und Bezeichnetem ein ursprünglich wesenhafter, natürlicher Zusammenhang bestehe (physei), oder aber ob die Verbindung zwischen Wort und Ding eine willkürlich gesetzte sei (thesei). Die Böhme-Gegner plädieren für die letztgenannte, die Böhme-Anhänger verteidigen die erstgenannte Position. Dabei finden sich bei den Gegnern von Böhmes natursprachlichen Auslegungen neben rein emotionalen Verurteilungen (»Alfenzerey«, »Pickelherings-« und »Narrenpossen« u. ä.)56 ernst zu nehmende, zukunftsweisende Argumentationen: Böhmes vom deutschen Einzelbuchstaben, entweder von dessen Form oder von dessen Artikulation ausgehende Auslegungen biblischer Texte (insbes. Gen 1,1: »Am Anfang…«) oder auch einzelner im Zusammenhang seiner Lehre wesentlicher Begriffe (wie etwa TINCTUR) würden, so Aletophilus/Mayer, in anderen Sprachen
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Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 107. – »Steine« wird von Böhme als Metapher und Sammelbegriff für die durch Lucifers Abfall verursachte grobe Materie gebraucht. Vgl. etwa Von der Menschwerdung Jesu Christi I, 2,8. In: SS, Bd. IV, 12: »[…] daß aus der himmlischen Wesenheit sind Erde und Steine worden […]; darauf dann die Schöpfung dieser Welt, als des dritten Principii ist erfolget« – wie sie die Genesis beschreibt. Holtzhausen, Capistratus Bohmicolarum Rabula (1692), 289. Vgl. Frik, Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer (1700), 179, und Johann Christoph Holtzhausen: Teutscher Anti-Barclajus (1691), 1168 u. 1184.
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notwendig zu anderen Ergebnissen führen.57 Dem hält der anonyme Liebhaber der Wahrheit entgegen, die Verschiedenartigkeit der Bezeichnungen eines Dinges rühre daher, dass jedem Ding nicht nur eine, sondern viele Signaturen innewohnten, weshalb dasselbe Ding, je nachdem an welcher inneren Signatur die Sprache sich orientiere, in den verschiedenen Sprachen je unterschiedlich ausgesprochen und bezeichnet würde, was im Übrigen für die Herrlichkeit und den Perspektivenreichtum der Schöpfung spreche.58 Die gegensätzlichen Sprachauffassungen lassen sich anhand zweier Zeugnisse verdeutlichen, die zeitlich relativ weit auseinander liegen und nicht direkt aufeinander Bezug nehmen: an Christian Becmans lateinischen Exercitationes Theologicae (1643) und Matthaeus’/Zimmermanns Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), wobei der letztgenannte mir zudem Gelegenheit bietet, ein kurzes Streiflicht auf die Thematik der media salutis, im Besonderen auf den Streit um die ›richtige‹ Abendmahlslehre zu werfen. – Christian Becman vertritt eine vollkommen rationale Sprachauffassung. Wenn Böhme anhand der einzelnen Buchstaben respektive anhand der Buchstabenteile des Wortes TINCTUR deren sprachtheologisch tieferen Sinn ent-deckt, indem er am Buchstaben T das dreifache I als Hinweis auf den Vater, im Buchstaben I einen Hinweis auf »das geborne I.«, auf IEsus, und im N »das dreyfache I im Geiste« ausmacht, er also die drei ersten Buchstaben auf die Trinität bezieht, während die Sieben-Zahl der Buchstaben des ganzen Worts auf die sieben Qualitäten verweist,59 so kontert Becman mit der Feststellung der Beliebigkeit solcher Auslegung, die sich mit gleichem Recht anhand eines anderen siebenbuchstabigen Wortes mit mehreren dreiteiligen Buchstaben, etwa anhand des Wortes ›FVNCTIO‹ bewerkstelligen ließe, was er dann entsprechend durchexerziert.60 Becman schließt den historisch richtigen, negativ gewerteten Hinweis auf exegetische Methoden der Kabbalisten an, in deren Tradition er Böhme sieht.61 Das führt uns wiederum zu Matthaeus/Zimmermann, der im Gegensatz zu Becman und im Einklang mit Kratylos von einem wesenhaften Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem ausgeht, was sich an einem auf den ersten Blick wenig bedeutsamen Hinweis auf den Böhme-Anhänger Abraham von Franckenberg im Anhang zur Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae able57
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Aletophilus, Send=Schreiben an Abraham Hinckelmann (1694), 11, § 11 u. 12. – Ganz ähnlich argumentiert Frik, Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer (1700), 179. Anonymus [Liebhaber der Wahrheit], Abfertigung des Sendschreibens Aletophili (1696), 29. Christian Becman: Exercitationes Theologicae (1643), 440 f. bezieht sich hier auf Böhmes Tabulae Principiorum in: SS, Bd. IX, 64. Vgl. Becman, Exercitationes Theologicae (1643), 440, Sp. 2–441, Sp. 2. »Non Prophetae, non Apostoli, non alii viri Dei: sed Cabalistæ ita eviscerant voces Hebræas aut Græcas, ut è singulis earum literis vel dictionem, vel sententiam, vel etiam mysterium aliquod procreent.« (ebd., 441, Sp. 1). – Mit der symbolischen Deutung der graphischen Form einzelner Buchstaben nimmt Böhme ein Element kabbalistischer Exegese auf. Allerdings kennt die ›alte jüdische Kabbala‹ die Ausdeutung einzelner Buchstabenteile (mit Ausnahme des hebräischen Jod) nicht, wohl aber die christliche Kabbala. Vgl. hierzu Rusterholz, Elemente der Kabbala bei Jacob Böhme (Anm. 30), 41 f.
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sen lässt. In diesem Appendix oder Anhang diskutiert Matthaeus/Zimmermann verschiedene Vorwürfe, die die Böhme-Gegner ins Spiel gebracht haben.62 Einer dieser Vorwürfe lautet: »Im heiligen Abendmahl empfangen wir nicht den Leib/ sondern nur die Mumia Christi.«63 Dazu sei anzumerken, so Matthaeus/Zimmermann, daß die gute Leute allen anzeigen nach/ in der Meynung seyn/ ob verstünde J. Böhme nur ihre Apotheckerische Mumiam, i. e. verdorretes Menschen=Fleisch/ oder doch die Apotheckerische Specerey die Todten zu salben/ weil sie setzen: nur eine Mumiam […], [während Böhme] durch die Mumiam/ wie Herr Abraham von Franckenberg es aus seinem Ursprung deduciret/ einen solchen Balsam des Lebens verstehet/ der da ist die Menschheit Christi nach seiner Krafft/ und die rechte Mum-IAH oder Gabe Gottes oder himmlisch=ausgeschütte Salbe und Specerey/ wodurch der halbtodte Mensch wieder neue Kräfften krieget und zum ewigen Leben erquicket und gestärcket wird.64
Die Stelle, auf die sich Matthaeus/Zimmermann hier ohne Quellenangabe bezieht, findet sich in Franckenbergs Raphael oder Artzt=Engel (1639/1676), wo von der »allerheilsamste[n] MUM IAH« als der »universal-Tinctur des Lammes« die Rede ist, in welcher allein »das Heil und der Trost unsers Lebens« stehe.65 Die besondere Schreibweise des um einen Buchstaben erweiterten Wortes »deducirt« insofern den Ursprung des von Böhme im Zusammenhang des Abendmahls gebrauchten Wortes »Mumia«, als Franckenberg mit der graphischen Hervorhebung des hebräischen Gottesnamen ›IAH‹ an eine in der ›alten jüdischen Kabbala‹ gebräuchliche exegetische Technik anknüpft.66 Damit ist für Matthaeus/Zimmermann der zugleich göttliche und menschliche, geistliche und leibliche Sinn abgebildet und beglaubigt, auf den Böhme zielt, wenn er Christi Einsetzungsworte so kommentiert: […] Er saß bei ihnen am Tische, und zerriß nicht das gebildete Wesen seines Leibes; sondern er gab ihnen die geistliche Menschheit, als die Kraft seines Leibes und Blutes, seine eigene Mumiam, darinnen die Göttliche und menschliche Kraft verstanden wird; welche Mumia ein wahres menschliches Wesen aus Fleisch und Blute ist, und ein geistliches Fleisch ist, daraus das sichtbare Bilde wächset, und mit dem sichtbaren Bilde gantz Eines ist.67 62
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Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 305–352. Der Appendix ist untertitelt: Anhang einer Summarischen Erinnerung/ Betreffend die andere Widerfechter der Göttlichen und durch das einfälltigste [sic!] Werckzeug/ den J. Böhmen eröffneter Mysterien/ welche nicht ohne Betrübung/ ja Lästerung des H. Geistes/ und dahero erwachsender hoher Seelen=Gefahr zutreten werden. Ebd., Nr. VIII, 343. Ebd., 344 f. Abraham von Franckenberg: Raphael oder Artzt=Engel. Amsterdam 1676, 19. Vgl. Sibylle Rusterholz: Elemente christlicher Kabbala bei Abraham von Franckenberg. In: Christliche Kabbala. Hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Ostfildern 2003 (Pforzheimer Reuchlinschriften 10), 183–197, hier: 194. – Zu den hebräischen Gottesnamen vgl. Johann Maier: Die Kabbalah. Einführung – Klassische Texte – Erläuterungen. München 1995, 19– 23. Jacob Böhme: Von Christi Testament des H. Abendmahls, 3,2. In: SS, Bd. VI, 89. Vgl. auch ebd., 5,7–9 (113), wo Böhme die katholische, reformierte und lutherische Abendmahlsauffassung gegeneinander stellt. Hier wird deutlich, dass er sich vor allem vom lutherischorthodoxen Gedanken der ›Realpräsenz‹ abgrenzen will (§ 5,9), den z. B. Erasmus Francisci
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Damit dürfte deutlich geworden sein, wie unendlich fern sich die beiden Sprachauffassungen stehen. Für Böhme und seine Anhänger beruht Sprache nicht auf menschlicher Setzung, nichts ist zufällig, alles, vom einzelnen Wort bis hin zum Teil des einzelnen Buchstaben ist von Belang, wird zum Gefäß und Abbild göttlicher Geheimnisse, ist doch der Mensch über die Sprache am unmittelbarsten mit dem Schöpfergott verbunden.68 Sowohl der Böhme-Kritiker Becman wie der Böhme-Verteidiger Matthaeus/Zimmermann stellen Böhmes Sprachtheologie in den Zusammenhang kabbalistischer Traditionen – der eine unter negativem, der andere unter positivem Vorzeichen. Die Diskussion um die spezifisch lutherisch-orthodoxen Inhalte wie iustificatio sola fide, imputatio, den rechten Gebrauch der media salutis verläuft in der Streitliteratur oft unbefriedigend, weil (die von Spener beklagte) historisch falsche Gleichsetzung Böhmes mit den »Böhmisten« eine differenzierte Darstellung auf engem Raum nahezu verunmöglicht.69 Allgemein lässt sich sagen, dass es Böhme stets um die lebenspraktisch wirksame Anverwandlung der Glaubensinhalte geht, ganz im Sinne Arndts, der in der Vorrede zum Wahren Christenthum betont, es sei »nicht genug GOttes Wort wissen«, sondern man müsse »dasselbige auch in die lebendige, thätige Übung« bringen.70 Es ist auffallend, dass in der Streitliteratur um Böhme die Themen der spekulativen Mystik die praktischen Glaubensfragen absolut überwiegen. Das dürfte mit der orthodoxen prinzipiellen Ablehnung eklektischer Rezeption zusammenhängen, wonach – entgegen der Devise »Prüfet alles, das Gute behaltet« (1Thess 5,21) – um des möglicherweise
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(Gegen=Stral der Morgenröte [1685], 771) vertritt, der Böhmes Abendmahlsauffassung eine »vermessene und vorwitzig-klügelnde Enthusiasterey« nennt und feststellt: »Empfingen wir/ im H. Abendmal/ nur die Mumiam des Leibs und Bluts Christi; so hätte der HErr nicht gesagt: Das ist mein Leib der für euch gegeben; diß mein Blut/ das für euch vergossen wird. Es ist nicht nur die Mumia oder der geistliche Leib/ sondern der rechte wahre Leib Christi […]/ und sein wahres Blut […].« Es ist dieser Sprachoptimismus, den Böhme mit der Kabbala teilt. Für einmal ist es nicht der Buchstabe, der tötet, es ist der Buchstabe, der lebendigen Sinn schafft. Und das gilt für Böhme wie für Franckenberg nicht mehr nur für die hebräische, sondern ebenso für die deutsche Sprache, was für die Gegner einen weiteren Kritikpunkt darstellt. Vgl. etwa Aletophilus, Send=Schreiben an Abraham Hinckelmann (1694), 12, und die Gegenreaktion vom anonymen Liebhaber der Wahrheit, Abfertigung des Sendschreibens Aletophili (1696), 27: Als »erste Tochter der Natur=Sprache« sei das Hebräische wohl »am kläresten«, jedoch sei nicht allein das Hebräische als motivierte Sprache zu betrachten, sondern – in gradueller Abstufung – jede Sprache. Eine durchaus wünschenswerte gründliche Darstellung der Auseinandersetzung mit den spezifisch lutherisch-orthodoxen Inhalten in der Böhme-Streitliteratur könnte sich den facettenreichen, sehr differenziert argumentierenden Beitrag von Steiger, Heinrich Varenius’ Rettung von Johann Arndts ›Wahrem Christentum‹ (Anm. 44), zum Vorbild nehmen. Johann Arndt: Sechs geistreiche Bücher vom Wahren Christenthum. Schaffhausen 1755 (1. Aufl. der ›Vier Bücher vom Wahren Christenthum‹ 1610), unpaginierte Vorrede, [2]. – Anonymus [J. J. M. E. D. = Johann Jacob Zimmermann] sieht Böhme ausdrücklich im Zusammenhang mit Arndt unter Verweis auf dessen ›Wahres Christentum‹ (Buch I, Cap. 9: »Durch das jetzige unchristliche Leben wird Christus und der wahre Glaube verläugnet«) und zitiert Johann Valentin Andreae, der von seiner Zeit sage, »daß Christum bekennen für Orthodox, ihme aber nachfolgen für Ketzerisch gehalten werde« (Verlangete Christliche Beantwortung deren Viertzig wichtigen Fragen betreffende Jacob Böhmens Lehre [1693], 19).
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»untermengten Guten willen das offenbahre Böse« einer Lehre nicht gut zu heißen sei, wie Holtzhausen betont.71
Können Heiden selig werden? Auf einen viel diskutierten Punkt, der die tiefen Differenzen zwischen den Böhme-Gegnern und seinen Verteidigern noch einmal verdeutlicht, möchte ich zum Schluss noch hinweisen: auf die Differenzen, die sich an der Frage »Können Heiden selig werden?« entzünden. Ein recht=gläubiger Christ darf mit niemand um die Religion streiten: Er streitet nur wieder sich selber, wieder Fleisch und Blut, und trachtet dahin, wie er GOttes Werck in der Liebe des Nächsten möge wircken […].72 Nicht bin allein Ich also; sondern es sind alle Menschen also, es seyn gleich Christen, Juden, Türcken oder Heiden, in welchem die Liebe und Sanftmuth ist, in dem ist auch GOttes Licht.73
Auf diese beiden Böhme-Stellen aus der ersten Schutz=Schrift wieder Balthasar Tilcken und der Aurora beziehen sich die Gegner immer wieder, um Böhme der Ketzerei zu beschuldigen – mit folgenden Argumenten: Böhme leugne die Notwendigkeit des Leidens Christi;74 Christi Genugtuung werde für nicht notwendig erachtet. Entgegen der Meinung der »Herren von der Singularitet und Absonderungsstiffter« (der Böhmisten) sei Seligkeit nur innerhalb der Kirche möglich, betont Francisci,75 und ein anonymer Gegner macht seiner Empörung über die zitierte Aurora-Stelle Luft mit den Worten: »heisset das nicht den Zaun um den Weinberg der Christlichen Kirchen niederreissen/ und den Bund der heiligen Tauffe samt dem Glauben und wahrer Erkenntnis Gottes für unnöthig schätzen«?76 Johann Christoph Holtzhausen geht noch einen Schritt weiter, indem er die Pflicht zur Polemik und den Vorrang der Lehre vor der Liebe betont: »dann es heißt nicht die Liebe/ sondern das Wort bringet ewiges Leben« – wo keine rechte Lehre sei, sei auch keine wahre Heiligung im Leben möglich.77 – Die Böhme-Befürworter verweisen zu seiner Verteidigung auf das Exempel Kornelii
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Holtzhausen, Capistratus Bohmicolarum Rabula (1692), 160. Vgl. auch ebd., 379. – Zur Auseinandersetzung über die Gültigkeit der paulinischen Maxime innerhalb des Pietismus vgl. Gierl (Anm. 1), 501–513 (Eklektik und Pietismus). Erste Schutz=Schrift wieder Balthasar Tilcken, § 89. In: SS, Bd. V, 15. Aurora 22,52. In: SS, Bd. I, 328. Zu diesem von David Guilbertus in seiner Admonitio adversus Scripta Boehmiana (1643) erhobenen Vorwurf vgl. Johann Theodor von Tschesch: Zwiefache Apologia (1676), 167 f. Francisci, Gegen=Stral der Morgenröte (1685), 696. Anonymus [E. I. H. M. D.], Der entlarvete Jacob Böhm (1693), 18 f. Holtzhausen, Capistratus Bohmicolarum Rabula (1692), 141.
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(Apg 10, 34 f.)78 und das Schriftwort: »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet« (Mt 7,1 und Röm 2,1). Die Verdammung aller Heiden widerspreche zudem der Natur des »allgütigsten VATERS«,79 ja einer der Böhme-Verteidiger verneint (in an Lessing gemahnender Weise) den Absolutheitsanspruch jeder Religion mit dem Hinweis, jeder halte nur das für wahr, wohinein er zufällig geboren sei, wodurch das babylonische »Contra=Spiel« sich stets erneuere, während nicht die Religionsformel, sondern allein die Tat zähle.80 Böhme selbst sieht weit in die Zukunft voraus, wenn er in der zweiten Schutz=Schrift wieder Balthasar Tilcken sagt: »Was unsere Väter haben mit Verachten und Spotten eingebrocket, das werden ihre Kinder mit Schwertern und Schlägen ausessen.«81
Argumentationsstrategien und ihre Prämissen Ich möchte abschließend die Argumentationsstrategien der Befürworter und Gegner noch einmal gegenüberstellen und nach den unterschiedlichen Prämissen fragen, die die Befürworter und die Gegner jeweils vereinen. – Die Gegner sind bemüht, eine angebliche ›Erleuchtung‹ Böhmes zurückzuweisen und sie tun dies, indem sie ihn mit seinen Quellen völlig deckungsgleich identifizieren und ihm damit jede Originalität absprechen. Für die Gegner ist mit der Heiligen Schrift die Offenbarung abgeschlossen, die Schrift ist eindeutig, der absolute Vorrang des sensus historicus ist die logische Folge davon. – Die BöhmeAnhänger gehen grundsätzlich von der Wahrheit des im 19. Kapitel der Aurora geschilderten Durchbruchserlebnisses aus, in dem sie die schriftstellerische Tätigkeit Böhmes begründet sehen. Quellenübereinstimmung wird positiv gesehen, sie schließe Erleuchtung nicht grundsätzlich aus. Auf Differenzen zwischen Böhme und bestimmten Quellen wird gelegentlich hingewiesen, aber kein besonderer Wert gelegt. Matthaeus/Zimmermann legt weitreichende Analogien zwischen Böhme und der Kabbala überzeugend dar. Wie aber stellt er sich die Übermittlung vor, eine Frage, die uns heute so brennend interessiert? Das überraschende Ergebnis: Die Frage wird von Matthaeus/Zimmermann nicht gestellt, sie interessiert ihn nicht! Wir erinnern uns an seine Formulierung: der »Grund« von Böhmes Mysterien sei im Buch Jezira »offenbahrlich« enthalten. Diesen ›Grund‹ gelte es vollends sichtbar zu machen, ja die Deutschen hätten Ursache, dem Allgütigen GOtt zu dancken/ daß er uns die allerschönste Geheimnüssen/ welche in der Patriarchen und anderer Hebreer Theologia speculativa und philosophia divina, oder wahrer
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Vgl. etwa Anonymus [J. J. M. E. D.], Verlangete Christliche Beantwortung deren Viertzig wichtigen Fragen (1693), 42. Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 252. Anonymus: Wolgemeinte Gegen=Erklärung (1685), 24 f. Zweyte Schutz=Schrift wieder Balthasar Tilcken, § 317. In: SS, Bd. V, 162.
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Cabala […] Buchstäblich verborgen gelegen/ durch diesen einfältigen Werckzeug/ den Jacob Böhmen/ […] eröffnet hat.82
Anders als den Gegnern geht es ihm nicht um den Nachweis historischer Quellenabhängigkeit. Im Hintergrund steht für ihn der (von der Orthodoxie abgelehnte) Gedanke fortschreitender Offenbarung, eine Prämisse, die er mit sämtlichen Böhme-Anhängern teilt.83 Das hat Konsequenzen für das Schriftprinzip: nicht der sensus literalis wird bevorzugt, sondern der sensus allegoricus, gilt es doch, alte Wahrheiten mit neuen Augen klarer zu sehen. Matthaeus/Zimmermann kann sicher nicht Böhmes Orthodoxie im Sinne der für die Gegner maßgeblichen Confessio Augustana invariata und der Konkordienformel nachweisen, aber er ist derjenige unter allen Verteidigern Böhmes, der dank kabbalistischer Perspektive viel zum besseren Verständnis Böhmes beiträgt. Dabei rücken vor allem jene Aspekte von Böhmes Philosophie in den Vordergrund, die im 18. und 19. Jahrhundert eine breite Wirkung entfalten werden: bei Oetinger, bei Goethe, bei Schelling, Hegel und Schopenhauer. Nach Gershom Scholem hat Böhme »die von den Kabbalisten intendierte Weltschau noch einmal unabhängig entdeckt«.84 Damit bestätigt der rationale Denker des 20. Jahrhunderts – wohl ungewollt – die Sicht der BöhmeAnhänger: den Gedanken fortschreitender Offenbarung.
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Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 65. – Vgl. die sehr ähnliche Argumentation bei J. J. M. E. D. [Zimmermann], Verlangete christliche Beantwortung deren Viertzig wichtigen Fragen (1693), 17 (Satz 26) u. 20 (Satz 34). – Auch der anonyme Autor der Wolgemeinte[n] Gegen=Erklärung (1685) sieht Böhme als Werkzeug für »so wunderweise Aufsiegelungen der in den Prophetischen und Apostolischen Schrifften bis auf diese letzte Zeit verdeckt gebliebene Geheimnüsse« (9). Der ungenannte Liebhaber der Wahrheit nimmt hier eine gewisse Sonderstellung ein (ein weiteres Indiz gegen die Identität mit Matthaeus/Zimmermann, vgl. Anm. 9b), indem er den Gedanken fortschreitender Offenbarung nicht explizit auf den Gesamtverlauf der Geschichte, wohl aber auf die unterschiedlichen »gradûs« der Erleuchtung Böhmes als Einzelperson bezieht, was bedeutet, dass auch der Erleuchtete gelegentlich irren könne; vgl. Detectio detectionis (1696), 83. Scholem, Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes (Anm. 43), 82.
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Anhang
Verzeichnis der Streitschriften Der besseren Übersicht halber in chronologischer Anordnung, zum Teil unter Berücksichtigung der Entstehungsdaten. 1624 Richter, Gregor: Judicium […] de Fanaticis Sutoris Enthusiastici Libris: quorum tituli sunt 1. Morgen Röthe im Auffgange. 2. Der Weg zu Christo. 3. Von wahrer Busse […]. Görlitz: Johannes Rhamba 1624. Widmann, Peter: Christliche Warnung/ Für einem new außgesprengeten Enthusiastischen Büchlein/ dessen Titul/ Der Weg zu Christo/ Dadurch kürtzlich vnd einfeltig/ doch gründlich vnd schrifftmässig erwiesen wird/ wie gedachtes Büchlin gantz verdächtig/ Ketzerisch/ vnd der heiligen Schrifft zu wider. Zuvor öffentlich pro Concione am Sontage JUDICA angestellet/ Jetzo aber vmb der Einfeltigen willen/ vnd der Warheit zu stewer/ in öffentlichen Druck gegeben […]. Leipzig: Abraham Lamberg 1624. 1627/1703 Anonym [Abraham von Franckenberg]: Theophrastia Valentiniana. Das ist: Ein unpartheyischer schrifft- und natur-mäßiger bericht uber ein Fragmentum von der Lehre Valentini, genommen aus einem büchlein, welches durch Gerhardum Lorichium anno 1540 zu Cöln edieret, und Vallum Religionis Catholicae intituliret […]. In: Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie. Bd. 2. Hildesheim 1967 (ND der Ausg. Frankfurt a. M. 1729). Supplementa, S. 1216–1235. Die vermutlich 1627 entstandene Schrift wurde erstmals 1703 in den Supplementa der Kirchen- und Ketzerhistorie gedruckt.
1643 Becman, Christian: Exercitationes Theologicæ […]. Amsterdam: Johannes Janssonius 1643. Darin: Exercitatio XXII: In qua (praemissis nonnullis de usu Logicae ac Philosophiae in sacris, de animâ, deque aliis) candidè judicatur de Jacobi Behmii libris, et nominatim de Psychologiâ, quam Johannes Angelius Werdenhagen è linguâ Germanicâ vertit in Latinam, et recens, unà cum introductione ac paraenesi, edidit: S. 419–459.
Guilbertus, David: Admonitio adversus scripta Boehmiana. Utrecht 1643. Zuerst niederländisch: Christelijke Waerschouwing/ Thegens De Gruwelijcke Boecken Van Jacob Böhmen […]. Amsterdam: Anthoni Tielemans 1643.
Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger
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1644/1676 Von Tschesch, Johann Theodor: Zwiefache Apologia, und Christliche Verantwortung auf die fünf lästerlichen Hauptpuncte Davids Gilberti von Utrecht […] Wider die Person und Schriften des theuren und hocherleuchteten Manns Jacob Böhmens […] getreulich in unsere Hochteutsche Muttersprach übersetzet von einem Liebhaber Göttlicher Geheimnisse. [Amsterdam: Christoph Cunrad] 1676. Im Anhang: Drei Judicia über Böhmes ›Aurora‹ (S. 269–273) sowie zwei Briefe (S. 273– 275). – Zuerst niederländisch: Eerste apologie ende Christelycke voorberecht, op die viif hooft-puncten der lasteringen Dav. Gilberti […] tegen de persoon ende schriften […] Jacob Boehmens. Amsterdam 1644.
Guilbertus, David: Apologia admonitionis […]. Utrecht 1644. Zuerst niederländisch: Eerste Apologia ofte Verantwoordinge der heylighe waerheydt: teghens de Godts-lasteringhen der Behemisten […] door eenen die hem selven noemt Johannem Theodorum von Tschesch. Amsterdam: Anthoni Tielemans 1644.
1679 Wagner, Tobias: Propemticum Judicium Theologicum de Scriptis Jacobi Boehmi […]. Tübingen: Johann-Heinrich Reisl 1679. Wagner verwechselt insgesamt 12 x Böhmes Aurora mit Paul Felgenhauers Morgenröthe der Weißheit (1629), bezieht also wiederholt seine Argumente aus der falschen Quelle.
Möller, Johann: Der Fanatische Atheist, Aus des Ertz=Enthusiasten Jacob Böhmens gottlosen Büchern/ Allen hierdurch etwa gefährten Evangelischen Christen zu heilsamer Verwarnung […]. O. O.: o. Drucker 1679. 1684 Calov, Abraham: Anti-Böhmius, in quo docetur, quid habendum de secta Jacobi Böhmen […]. Wittenberg: Christian Schrödter 1684. 1685 Anonym: Wolgemeinte Gegen=Erklärung über die Theosophische Schrifften/ Des von GOtt hoch=erleuchteten Jacob Böhmens: Aus Veranlassung des unter dem Namen Johann Möllers […] Vor wenig Jahren über dieselbe aus dem Reiche der Finsternuß herfürgegebenen verläumbderischen Urtheils/ der Fanatische Atheist genannt […]. O. O.: o. Drucker 1685. Francisci, Erasmus: Gegen=Stral Der Morgenröte/ Christlicher und Schrifftmässiger Warheit/ Wider das Stern=gleissende Irrlicht Der Absonderung von der Kirchen und den Sacramenten; In gründlicher Erörterung der fürnehmsten Haupt=Fragen und Schein=Sätze heutiger Böhmisten/ wie auch beygefügter Untersuchung/ was von deß Jacob Böhms Schrifften zu halten sey […]. Nürnberg: Wolfgang Moritz Endter 1685.
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Sibylle Rusterholz XVII: Was von dem Jacob Böhmen/ und dessen Schrifften/ zu halten? S. 712–804. – Im Gefolge von Tobias Wagner (1679) macht auch Francisci sich des crimen falsi schuldig, indem er gelegentlich, nicht durchgängig, Böhmes Aurora mit Paul Felgenhauers Morgenröthe der Weißheit (1629) verwechselt.
1686 Pseudonym [Gerardus Antognossi]: Novi Apellis, ne sutor ultra crepidam. Sive novi sutoris Jacobi Bohemi Pseudotheosophia, et pro eodem, Nob. Joan. Theodori Tschesch, Futilis Apologia. […] Frankfurt a. M.: Johann Philipp Andreae 1686. 1688 Breckling, Friedrich: ANTICALOVIVS sive Calovius cum Asseclis suis prostratus et Jacob Bôhmius Cum aliis testibus veritatis defensus. Darin gelehret wird was von D. Abraham Calovii, Pomarii Francisci und anderer falschgelehrten Büchern/ Apologien und Schrifften wider Jac. Böhmen/ Hermannum Jungium, I. C. Charias M. Henricum Amerßbach/ mich und andere Zeugen der Warheit zuhalten sey. […]. [Wesel:] : o. Drucker 1688. 1690/91 Colberg, Ehregott Daniel: Das Platonisch=Hermetische Christenthum begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, Unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer/ Rosencreutzer/ Qväcker/ Böhmisten/ Wiedertäuffer/ Bourignisten/ Labadisten/ und Quietisten […]. Frankfurt a. M./Leipzig: M. G. Weidmanns 1690/91. Kap. VIII: Von Jacob Böhmen Schwärmerey, S. 307–328.
1691 Holtzhausen, Johann Christoph: Teutscher Anti-Barclajus, Das ist: Ausführliche Untersuchung Der gantzen Quäckerey und Apologiae Roberti Barclay […] Sampt einem Kurtzen Anhang einiger Anmerckungen Uber Jacob Böhmens Schrifften/ sonderlich seine so genandte Auroram: Zur Warnung und Verwahrung gegen solche falsche Lehre. Frankfurt a. M.: Johann David Zunner/ Johann Dieterich Friedgen 1691. Anhang: S. 1155–1202.
Pseudonym [Johannes Matthaeus = Johann Jacob Zimmermann]: Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae contra Holtzhausium defensa, Das ist: Christliche Untersuchungen der Holtzhäusischen Anmerckungen Uber und wider Jacob Böhmens Auroram […] Nebens einem Anhang/ worinnen andere Anti=Bömisten kürtzlich beantwortet werden. Frankfurt a. M./Leipzig: H. Wilhelmi 1691 (2. unveränd. Aufl. 1698). Appendix oder Anhang: S. 305–352.
Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger
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1692 Holtzhausen, Johann Christoph: Capistratus Bohmicolarum Rabula, Das ist: Klarer Beweiß/ Daß das jenige Geschwätz/ womit einer unter dem Namen M. Johannis Matthaei verlarveter/ Vorsprecher der Böhmistischer Rotte Meine Anmerckungen/ Uber Jacob Böhmens Schrifften/ sonderlich Auroram, jüngst angegrieffen/ so falsch/ gottloß und unverschamt ist/ Daß er von Recht deßwegen für der Christlichen Kirchen und seinem eigenen Gewissen verstummen muß […]. Frankfurt a. M.: Johann David Zunner/Johann Dieterich Friedgen 1692. 1693 Anonym [E. I. H. M. D.]: Der entlarvete Jacob Böhm/ Oder Gründliche Anzeigung/ wie dessen so genandte Theosophische Schrifften anzusehen/ und woher ihm solche Wissenschafften erwachsen sind/ Nebst angehengeter Dissertation, De Adeptis. O. O.: o. Drucker 1693. Hinckelmann, Abraham: Viertzig Wichtige Fragen/ Betreffende Die Lehre/ so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten/ Allen deroselben Liebhabern zu Christlicher Beantwortung fürgeleget. Hamburg: In Schultzischen Buchladen 1693. Anonym [J. J. M. E. D. = Johann Jacob Zimmermann]: Verlangete Christliche Beantwortung Deren Viertzig Wichtigen Fragen/ betreffende Jacob Böhmens Lehre/ so in seinen Schrifften soll enthalten seyn/ Welche von […] Abraham Hinckelman D. Allen Liebhabern derselbigen sanfftmüthig zu beantworten/ in öffentlichen Druck fürgeleget worden […]. Amsterdam: o. Drucker 1693. Winckler, Johann: Send=Schreiben An Dero HochEhrwürden Herrn Abraham Hinckelmann […] Betreffend Einige Anmerckungen über die Viertzig Sätze/ Welche ein ohnbenamter Liebhaber des Böhmens Zum Grunde der Antwort auff die gedruckte fürgetragene 40 Fragen von Jacob Böhmens Lehr gelegt. Hamburg: Peter Ziegler 1693. Die Schrift reagiert auf die Antwort von J. J. M. E. D. [Johann Jacob Zimmermann], noch bevor Hinckelmann diese zu Gesicht bekommen hatte.
Hinckelmann, Abraham: Detectio Fundamenti Böhmiani, Untersuchung und Widerlegung Der Grund=Lehre/ Die In Jacob Böhmens Schrifften verhanden. Worinnen unter andern der Recht=gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabalae, wie auch der Ursprung alles Fanaticismi und Abgötterey der Welt entdecket wird. Hamburg: Georg König 1693. 1694 Anonym [Liebhaber der Wahrheit]: Freundliche Antwort/ Auff die 10. ersten/ von den XL. Fragen/ […] Herrn Abraham Hinckelmannns/ […] Betreffend die Lehre/ so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten. Gestellet von einem Liebhaber der Warheit. O. O.: o. Drucker 1694. In einem ›Anhang‹ (S. 58–80) nimmt der anonyme Verfasser Bezug auf die 1693 ebenfalls anonym veröffentlichte Schrift von J. J. M. E. D. [Johann Jacob Zimmermann] sowie
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Sibylle Rusterholz auf Hinckelmanns Detectio Fundamenti Böhmiani, d. h. die vorliegende Schrift dürfte bereits 1693 geschrieben worden sein.
Pseudonym [Aletophilus = Johann Friedrich Mayer]: Send=Schreiben An Tit. Herrn Abraham Hinckelmann […] Betreffend den Haupt=Grund der Lehre/ so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten. Leipzig: o. Drucker 1694. 1694/1696 Anonym [Liebhaber der Wahrheit]: Continuatio Der Freundlichen Antwort Auff die andern Zehen Fragen Tit. Herrn Abraham Hinckelmanns/ […] betreffend die Lehre/ so in Jac. Böhmens Schrifften enthalten. Woran loco Appendicis beygefügt ist: I. Detectio detectionis Hinckelmannianae, worinn erwiesen wird/ das vermeynte Fundament: Gott sey die Materi aller Dinge/ sey nicht Böhmens Fundament; Da dann zugleich im Beschluß außgeführet wird auß den fürnehmsten Lehrern/ Auff was Weiß die Welt auß Gott sey. II. Eine Abfertigung des Sendschreibens Aletophili, Gestellt Von einem Liebhaber der Warheit. Frankfurt a. M.: Johann David Zunner 1696. Detectio Detectionis: S. 59–108; Abfertigung des Sendschreibens Aletophili: S. 1–57, d. h. die Reihenfolge des separat paginierten Anhangs entspricht nicht dem Gesamttitel der Schrift, was wohl auf einem Versehen des Druckers beruht. Die dreiteilige Schrift dürfte 1694 entstanden sein.
1699/1700 Arnold, Gottfried: Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie. Frankfurt a. M.: T. Fritsch 1699–1700 (31730; ND Hildesheim 1967). Von Jacob Böhmen: S. 1130–1157.
1700 Johann Frik: Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer/ So auß dessen eigenen Schrifften gezeiget/ und auß H. Schrifft widerlegt werden. Samt einer Vorrede Eliae Veiels […]. Ulm: Ferdinand Mauch 1700. Postum. Die Vorrede von Veiel stammt vom 23. Februar 1697, eine zweite Vorrede der Söhne des verstorbenen Autors ist auf den 9. März 1699 datiert. Die Schrift entstand über viele Jahre hinweg u. wurde noch zu Lebzeiten Quirinus Kuhlmanns begonnen, der 1689 starb.
Bo Andersson
Jacob Böhmes polemischer Konflikt mit Gregorius Richter
Vorbemerkung In einem Sendbrief vom April 1624 an einen anonymen Adressaten charakterisiert Jacob Böhme seinen Konflikt mit dem Görlitzer Oberpfarrer Gregorius Richter auf folgende Weise: »es stürmet Satan wieder Christum und Christus wieder den Satan«.1 Die hier benutzte rhetorische Figur der antimetabole drückt den grundlegenden Dualismus des intensiven Konflikts zwischen den beiden Kontrahenten aus.2 Böhme fordert zur dringenden Stellungnahme auf; der Leser wird aufgefordert, eine Wahl zwischen Böhme und Richter zu treffen, d. h. eine Wahl zwischen Gott und dem Teufel. Konflikte dieser Art, in denen Gegner auf intensive Weise im Sinne eines grundsätzlichen Dualismus Gott vs. Teufel diabolisiert werden, kommen im theologischen Diskurs der Frühen Neuzeit häufig vor.3 Mit Hilfe eines Aktantenmodells werde ich das strukturelle Muster beschreiben, das solchen Konflikten 1
2
3
Jacob Böhme: Epistolae theosophicae, oder Theosophische Send-Briefe (1618–1624). In: Ders.: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961 (im Weiteren mit der Sigle »SS«), hier: Bd. IX, Epist. 59:2. – Im Folgenden wird durch einfache Angabe der Briefe und Abschnitte nach dieser Ausgabe zitiert. Zu Böhmes Gebrauch der rhetorischen Figur der antimetabole, die für sein dialektisches Denken auch eine wichtige Rolle spielt, vgl. Bo Andersson: Jacob Böhmes Denken in Bildern. Eine kognitionslinguistisch orientierte Analyse der Wirklichkeitskonstruktion in der Morgen Röte im auffgang (1612). Tübingen 2007, 453 ff. Zur theologischen Polemik der Frühen Neuzeit vgl. u. a. Birgit Stolt: Wortkampf. Frühneuhochdeutsche Beispiele zur rhetorischen Praxis. Frankfurt a. M. 1974 (Respublica Literaria 8); Barbara Bauer: Die Rhetorik des Streitens. Ein Vergleich der Beiträge Philipp Melanchthons mit Ansätzen der modernen Kommunikationstheorie. In: Rhetorica 14 (1996), 37–71; Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Plancks-Instituts für Geschichte 129); Thomas Gloning: The Pragmatic Form of Religious Controversies around 1600. A Case Study in the Osiander vs. Scherer & Rosenbusch Controversy. In: Historical Dialogue Analysis. Hrsg. v. Andreas H. Jucker u. a. Amsterdam/Philadelphia 1999 (Pragmatics & Beyond, New Series 66), 81–110; Ingvild Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts. Argumentation, Form und Funktion. Frankfurt a. M. 2003 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1855) und Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 104).
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zugrunde liegt und auch den Konflikt zwischen Böhme und Richter prägt. Bevor ich dieses Aktantenmodell diskutiere, gehe ich auf den Begriff Polemik kurz ein.
Theologische Polemik Polemik Polemik ist, wie Jürgen Stenzel in einem wichtigen Beitrag hervorgehoben hat, aggressive Rede.4 Wie er selbst betont, kann jedoch nicht alle aggressive Rede als Polemik bezeichnet werden. Von Beschimpfung unterscheidet sich Polemik z. B. darin, dass man in der Polemik unbedingt argumentieren muss, was in einer Beschimpfung nicht notwendigerweise der Fall ist. Polemik wird von Stenzel so charakterisiert, dass es darin um mehr oder minder gestaltete Rede (in mündlicher oder schriftlicher Form) geht, die Themenbereiche betrifft, die einer Argumentation zugänglich sind (Politik, Wissenschaft, Kunst, Theologie usw.). Polemik muss außerdem öffentlich ausgetragen werden.5 Um die polemische Kommunikation zu beschreiben, entwickelt Stenzel einen Begriff der polemischen Situation, die aus vier Elementen besteht: Polemisches Subjekt ist der Polemiker. Den Angegriffenen nennt er polemisches Objekt. In einer Wechselpolemik tauschen beide die Rollen. Der indirekte oder direkte Adressat polemischer Rede ist die polemische Instanz. Der polemische Prozess handelt von einem polemischen Thema. Dieses Thema muss kontrovers sein und eine ausgiebige Energiequelle für Aggressionen darstellen, es muss also intensive Wertgefühle aktivieren können.6 In einer polemischen Rede soll der Polemiker seine Person und Sache als richtig und wertvoll nach den Maßstäben der polemischen Instanz darstellen; der Angegriffene und seine Sache dagegen müssen als minderwertig erscheinen. Für Stenzel folgt Polemik dem Schema eines säkularisierten Manichäismus, das die Beteiligten in die Extremregionen von Licht und Finsternis auseinandertreibt. Der Rolle des polemischen Subjekts als vir bonus steht der Gegner als vir malus 4
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Jürgen Stenzel: Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik. In: Kontroversen, alte und neue. Akten d. VII. Internationalen Germanisten-Kongresses in Göttingen 1985, hg. v. Albrecht Schöne. Bd. 2: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit, hg. v. Franz-Josef Worstbrock. Tübingen 1986, S. 3–11, 2). Für gute Übersichten über Polemik (mit weiterführender Literatur), vgl. Sigurd Paul Scheichl: Art. »Polemik«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Hrsg. v. Jan-Dirk Müller. 117–120. Berlin/New York 2003, und besonders Hermann Stauffer: Art. »Polemik«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Hrsg. v. Gert Ueding. 1403–1415. Darmstadt 2003. Interessante grundsätzliche Überlegungen zur Polemik, u. a. zu deren öffentlichem Charakter, findet man auch in Wilfried Barner: Was sind Literaturstreite? Über einige Merkmale. In: Literaturstreit. Hrsg. v. Hans-Jürgen Bachorski u. a. 374–380. Bielefeld 2000 (Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 47:4). Stenzel, Rhetorischer Manichäismus (Anm. 4), 5 f.
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gegenüber. In theologischen Polemiken, z. B. in denen der Frühen Neuzeit, ist dieser Manichäismus natürlich nicht säkularisiert. Der vir bonus und der vir malus repräsentieren hier – nach den Voraussetzungen der jeweiligen polemischen Perspektive – Gott bzw. den Teufel. Ich werde jetzt versuchen, diesen manichäischen Charakter der Polemik in einem Modell der theologischen Polemik etwas näher zu erläutern.
Das Aktantenmodell In einer ausführlichen, diskursanalytisch basierten Erörterung vom Unterschied zwischen Ideologie und Theorie hat Peter V. Zima, aufbauend auf der Semiotik von Algirdas Julien Greimas, die These aufgestellt, dass sich eine Ideologie als eine Erzählung mit bestimmten Aktanten beschreiben lässt; dies im Unterschied zu der in der Wissenschaft vorherrschenden Theorie mit einem offenen Wahrheitshorizont7. Diese Aktanten sind nach Greimas’ Werk Strukturale Semantik die folgenden8: Auftraggeber, Anti-Auftraggeber, Subjekt, Anti-Subjekt, Objekt, Helfer und Widersacher. Diese Aktanten – außer dem ›Objekt‹ – lassen sich paarweise anordnen. Ein Aktantenmodell dieser Art kann, wie wir sehen werden, für die Analyse von theologischer Polemik der Frühen Neuzeit sehr fruchtbar sein. Um das Modell vollständig zu machen, möchte ich allerdings ein weiteres Element hinzufügen, nämlich das Anti-Objekt, d. h. das Ziel der Bestrebungen des Anti-Subjekts. Durch die Einführung des Aktanten ›Anti-Objekt‹ wird die paarweise Anordnung der Aktanten konsequent durchgeführt.9 Wenn man als Beispiel für dieses Aktantenmodell eine der zentralen polemischen Schriften Luthers gegen Thomas Müntzer, den Brief an die Fürsten zu Sachsen (1524) nimmt, ergibt sich folgendes Schema:10 Auftraggeber: Gott Anti-Auftraggeber: Teufel Subjekt: Luther Anti-Subjekt: Müntzer Objekt: Religiöse und gesellschaftlich-soziale Zustände im Sinne der lutherischen Reformation Anti-Objekt: Religiöse und gesellschaftlich-soziale Zustände im Sinne von Müntzer Helfer: Die Fürsten von Sachsen, Anhänger der Wittenberger Reformation und der Ordnung Widersacher: Anhänger Müntzers
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Peter V. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik. Tübingen 1989. Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Braunschweig 1966. Das Modell der Aktanten müsste eigentlich noch zusätzlich erweitert werden, indem die verschiedenen Möglichkeiten der Abhängigkeit der Aktanten voneinander beschrieben werden. Martin Luther: Ein Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist [1524]. In: Ders., Studienausgabe. Bd. 3. Hrsg. v. Hans-Ulrich Delius. Berlin (DDR) 1983, 85–104.
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In seinen anti-lutherischen Flugschriften zielt auch Müntzer aus seiner Perspektive auf ›religiöse und gesellschaftlich-soziale Zustände nach den Intentionen Gottes‹; diese erstrebten Zustände unterscheiden sich vor allem in den Jahren 1524/25 wesentlich von den von Luther (und den anderen Wittenberger Reformatoren) angestrebten. Was Müntzers anti-wittenbergische Polemik betrifft, braucht man nur die Plus- und Minuszeichen der Aktanten in den Texten der Gegner umzukehren, um diejenigen zu erhalten, die den theologisch-politischen Diskurs bei Müntzer prägen. Gott ist für Müntzer der eigene Auftraggeber, während Luther für ihn das Anti-Subjekt ist, das die Intentionen des Teufels, des Anti-Auftraggebers, ausführt usw. Das skizzierte Aktantenmodell vermag einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung eines zentralen Aspekts der theologischen Polemik der Frühen Neuzeit zu leisten, und zwar zur Erklärung der darin zutage tretenden außerordentlichen Intensität in der Diabolisierung theologischer Gegner. Nach diesem Modell implizieren sich in theologischer Polemik nämlich die beiden Positionen gegenseitig.11 Es bestehen nur zwei Alternativen: Gott oder Teufel, was bedeutet, dass im Rahmen dieses Modells jede Verteufelung des Gegners ein Argument für die Richtigkeit der eigenen theologischen Position darstellt. Die Möglichkeit, die Wahrheit in einer dritten Position zu finden, existiert in einem dualistischen Universum dieser Art nicht (tertium non datur). Die Negation der Negation ist nach den gegebenen polemischen Voraussetzungen mit der eigenen Position des polemischen Subjekts notwendigerweise identisch.12
Böhmes Konflikt mit Gregorius Richter Das hier skizzierte Aktantenmodell für theologische Polemik in der Frühen Neuzeit bildet eine wichtige Grundvoraussetzung dafür, auf welche Art Böhmes Konflikt mit Gregorius Richter ausgetragen wurde. Dieser Konflikt hatte bekanntlich schon im Jahre 1613 angefangen, als Richter entdeckte, dass sein Gemeindemitglied ein häretisches Buch, also die Morgenröte, verfasst hatte. Böhme wurde von Richter in einer Predigt als falscher Prophet angegriffen, die Morgenröte beschlagnahmt und ihrem Verfasser ein Schreibverbot auferlegt.13 11
12 13
Vgl. zu Argumentationen dieser Art die Ausführungen zu »mutually implicative standpoints« in Frans H. van Eemeren u. a.: Reconstructing Argumentative Discourse. Tuscaloosa/London 1993, 68 ff. Eine weitere Frage im Rahmen theologischer Polemik ist, wie man die Relation zwischen Auftraggeber und Anti-Auftraggeber sieht; diese Frage ist ja gerade das Theodizeeproblem. Über den Streit zwischen Richter und Böhme informiert am ausführlichsten Werner Heimbach: Das Urteil des Görlitzer Oberpfarrers Richter über Jakob Böhme. Eine kultur- und geistesgeschichtliche Untersuchung »Mit Poltern, Pantoffeln und Pasquillen«. In: Herbergen der Christenheit. Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 1973/74 (1975), 97–151 (Beiträge zur deutschen Kirchengeschichte 9). In der Literatur zu Böhmes Biographie und seiner intellektuellen Umwelt finden sich auch mehrere Darstellungen. Vgl. u. a. Herrmann Adolph Fechner: Jakob Böhme. Sein Leben und seine Schriften, mit Benutzung handschriftlicher Quellen dargestellt. In: Neues Lausitzisches Magazin 33 (1857), 408–420; Richard Jecht: Lebensumstände Jakob Böhmes. In: Neues Lausitzisches Magazin 100 (1924), 215–221 u.
Jacob Böhmes polemischer Konflikt mit Gregorius Richter
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Der Konflikt zwischen Richter und Böhme hat sich in Böhmes Todesjahr wesentlich zugespitzt, was vor allem damit zusammenhing, dass Böhmes Buch Der Weg zu Christo in Görlitz anonym erschienen war. Als der Name des Autors bekannt wurde, ließ Richter u. a. seinen bekannten Pasquill herausgeben, der von Böhmes Feder dann eine Antwort erhielt in Briefen an Anhänger, einem Sendschreiben an den Rat der Stadt Görlitz sowie in einer polemischen Schrift gegen Richter.14 Die Argumentation in diesem intensiven theologischen Konflikt soll im Folgenden etwas näher beleuchtet werden.15 Wie in Stenzels theoretischen Ausführungen zur Polemik deutlich wird, findet man in einer polemischen Situation also vier Elemente: das polemische Subjekt, das polemische Objekt, die polemische Instanz und das polemische Thema. Die beiden ersten Elemente sind in Richters Schrift der Oberpfarrer selbst bzw. Böhme, das polemische Thema ist vor allem das der theologischen Autorität. Es stehen in diesem Konflikt nämlich zwei grundsätzliche religiöse Positionen einander gegenüber, die der amerikanische Religionswissenschaftler Bruce Lincoln als Religion des Status quo bzw. Religion des Widerstandes (»religion of the status quo« und »religion of resistance«) bezeichnet hat.16 Richter vertritt als ordinierter Amtsträger eine kirchliche Institution, während Böhme sich auf eine andere Autorität beruft, und zwar auf die unmittelbare Erfahrung der transzendenten Realität.17 Diese beiden Positionen lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Eine wichtige polemische Instanz schließlich ist der Rat der Stadt Görlitz; Richter will zeigen, dass die Stadt wegen des Häretikers Böhme religiös und politisch gefährdet sei und dass der Rat hier eingreifen müsse.18 Gleichzeitig möchte er wichtige Vertreter der Görlitzer Öffentlichkeit für seine Position gewinnen, um dadurch einen noch stärkeren Druck auf den Rat ausüben zu können. Die beiden Kontrahenten versuchen aber auch eine weitere Öffentlichkeit mit ihren Schriften zu erreichen. Wichtige Adressaten für Böhme finden sich beispielsweise im Kreis seiner Anhänger.
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242–247; Will-Erich Peuckert: Das Leben Jacob Böhmes. In: SS, Bd. X, 161–183; ErnstHeinz Lemper: Jacob Böhme. Leben und Werk. Berlin (DDR) 1976, 86–110, und Andrew Weeks: Boehme. An Intellectual Biography of the Seventeenth-Century Philosopher and Mystic. Albany (NY) 1991, 209–212. Einen lateinisch-deutschen Paralleltext findet man in Jecht, Lebensumstände Böhmes (Anm. 13), 242–245. Im vorliegenden Beitrag wird die deutsche Übersetzung nach Heimbach, Das Urteil (Anm. 13), 97–100, zitiert. Für eine ausführliche Diskussion dieses Konflikts vgl. Andersson, Böhmes Denken in Bildern (Anm. 2), 38–65. Bruce Lincoln: Holy Terrors. Thinking about Religion after September 11. Chicago/London 2 1996, 79 ff. Der Frage der rhetorischen Funktion solcher Hinweise auf eigene religiöse Erfahrung wird in Andersson: »Du Solst wissen es ist aus keinem stein gesogen«. Studien zu Jacob Böhmes Aurora oder Morgen Röte im auffgang. Stockholm 1986 (Stockholmer germanistische Forschungen 33), ausführlich nachgegangen. Zur wichtigen Rolle der Öffentlichkeit für die Polemik vgl. u. a. Barner, Was sind Literaturstreite? (Anm. 5), 376 ff.
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Die verschiedenen Teile von Richters Pasquill sind im März 1624 entstanden; sie sind auf den 7., 26. und 27. März datiert.19 Durch die Wahl des Lateinischen kommt deutlich zum Ausdruck, dass sich Richter an die gelehrte Öffentlichkeit der Stadt Görlitz wendet. Weil Böhme, der bekanntlich des Lateinischen nicht mächtig war, bereits Ende März vom Inhalt der von Richter publizierten Schrift weiß und am 10. April seine ausführliche Apologia. Oder Schutzrede beendet, muss er also schon kurz nach Richters Veröffentlichung zu einer deutschen Übersetzung des Textes Zugang gehabt haben. Seine gelehrten Freunde sind ihm dabei sicherlich behilflich gewesen.
Richters Pasquill gegen Böhme In seinem Pasquill gegen Böhme konstruiert Richter seine Polemik nach dem Prinzip eines grundlegenden Dualismus. Das polemische Objekt Böhme soll mit dem Teufel assoziiert werden, was durch mehrere Techniken erzielt wird, während Richter selbst in seiner Rolle als polemisches Subjekt als Diener Gottes hervortreten will. Richter präsentiert sich schon auf der Titelseite der Schrift als »OberPfarrer in seiner Landes-Stadt Görlitz« (›Ministri Ecclesiæ patriæ primarii‹).20 Seine Autorität soll sich hier aus seinem Amt ergeben, denn als ordentlich berufener Geistlicher habe er das Recht und die Kompetenz, geistliche Dinge zu beurteilen, während dies einem Laien wie Böhme natürlich nicht zustehe. Schon durch die Selbstpräsentation als »Ober-Pfarrer« hat Richter eine Position in der Religion des Status quo beansprucht, die ihm Böhme in diesem Rahmen nicht streitig machen kann. Richter als Subjekt handelt also mit Gott als Auftraggeber. Um Böhmes Position zu entkräften, wird auch schon auf der Titelsite angegeben, dass Richters Schrift das Urteil über die fanatischen Bücher des enthusiastischen Schusters enthält, wobei drei Titel erwähnt werden: Morgen-R=the im Aufgang, Der Weg zu Christo und Von wahrer Busse.21 Böhme soll hier in seinem image getroffen und mit Schlagwörtern diffamiert werden, die in der theologischen Polemik der Zeit gegen abweichende Ansichten häufig gebraucht wurden. Böhmes theologische Autorität soll durch den Hinweis darauf zurückgewiesen werden, dass er Schuster ist und also kein kirchliches Amt besitzt und dass er daher kein 19
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Gregorius Richter: Judicium Gregorii Richteri Gorlicii … Fanaticis Sutoris Enthusiastici Libris: quorum tituli sunt. 1. Morgen Röthe im Auffgange. 2. Der Weg zu Christo. 3. Von wahrer Busse … Görlitz 1624. Ebd., Bl. A [1]r. Die beiden letzten Titel beziehen sich natürlich auf Böhmes 1624 in Görlitz erschienene Schrift Der Weg zu Christo, die aus den beiden Teilen Von wahrer Busse und Von wahrer Gelassenheit besteht. Für eine Reproduktion der Titelseite dieses Werkes (wo 1622 fälschlicherweise als Erscheinungsjahr angegeben ist) und Information über die drei davon bekannten Exemplare, vgl. Carlos Gilly: Zur Geschichte und Überlieferung der Handschriften Jacob Böhmes. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam/Stuttgart-Bad Cannstatt 2007 (Pimander 16), 39–54, hier: 40 f.
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Recht habe, sich zu theologischen Fragen überhaupt zu äußern. Stattdessen beruft er sich auf eigene religiöse Erfahrung. Die Schlagwörter »enthusiastisch« und »fanatisch« beziehen sich gerade auf diesen Anspruch der (falschen) theologischen Autorität durch die angebliche Erfahrung des Göttlichen und haben in der evangelischen Kirche Tradition seit den Konflikten mit dem sogenannten Linken Flügel der Reformation.22 Schon auf der Titelseite seines Pasquills versucht also Richter zu etablieren, wer seines Erachtens der Auftraggeber bzw. Anti-Auftraggeber im Konflikt mit Böhme ist. Er selbst handle im Auftrag Gottes, der Auftraggeber seines Gegners sei der Teufel. Bei Richter wird dies nicht explizit ausgedrückt, sondern eher angedeutet. Jeder zeitgenössische Leser, der mit den Einstellungen der Religion des Status quo sympathisierte, konnte jedoch ohne weiteres verstehen, dass der Oberpfarrer die wahrheitsbezogene Position des von Gott in das kirchliche Amt ordentlich Berufenen vertrat und dass die Schlagwörter »enthusiastisch« und »fanatisch« auf den teuflischen Charakter des Auftrages zu beziehen waren, den Böhme – das polemische Objekt der Schrift – angeblich ausführt. Richters Gebrauch von Andeutungen ist interessant, da eine solche Technik ein wichtiges rhetorisches Mittel der vituperatio, also des Tadels, ist. Wie Unterstellungen in der Polemik eingesetzt werden können, behandelt u. a. Melanchthon in seiner Rhetorik unter diesem Begriff. Zu den Techniken der vituperatio gehört für Melanchthon beispielsweise die calumnia, die die Entstellung und Verdrehung von untadeligen Äußerungen und Handlungen betrifft, »durch die etwas, das zu Recht gesagt oder geschehen ist, schlecht gemacht wird«.23 So kann der Redner z. B. von einem Sachverhalt aus auf dessen Grund oder Ursache schließen, und auch die beste Tat kann als fragwürdig und negativ erscheinen, wenn dem Handelnden böse Absichten unterstellt werden.24 Den zweiten Teil des Pasquills leitet Richter mit den Worten ein, dass der Schuster der Antichrist sei (Sutor Antichristus), was eine explizite Verteufelung des Gegners darstellt. Der Rest dieses Teils ist antithetisch aufgebaut; den positiven Pol bildet Christus, den negativen Böhme. Die rhetorische Technik Richters ist hier die evidentia, das Vor-Augen-Führen, das stark auf die emotionale Beeinflussung des Lesers ausgerichtet ist.25 Christus und Böhme werden als ge22
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Zum polemischen Konflikt zwischen den Wittenberger Reformatoren und Thomas Müntzer, vgl. u. a. Bo Andersson: Bilden av motståndaren som djävulens redskap. Philipp Melanchthons polemiska pamflett mot Thomas Müntzer (1525). In: Ordets makt och tankens frihet. Hrsg. v. Rut Boström Andersson. Uppsala 1998, 43–52. Philipp Melanchthon: Elementa rhetorices. Grundbegriffe der Rhetorik. Hrsg., übers. und komm. von Volkhard Wels. Berlin 2001 (Bibliothek seltener Texte in Studienausgaben 7), 263. Welche Möglichkeiten in der Frühen Neuzeit bestanden, identische oder fast identische menschliche Handlungen grundverschieden einzuschätzen, und zwar als göttlich oder teuflisch bewirkt, beleuchtet Peter Dinzelbacher: Heilige und Hexen. Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit. München 1995. Es handelt sich hier um eine außerordentlich wichtige rhetorische Technik. Vgl. dazu u. a. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. 2 Bde. München 21973, §§ 810– 820, und Gerard Paul Sharpling: Towards a Rhetoric of Experience. The Role of Enargeia in the Essays of Montaigne. In: Rhetorica 20 (2002), 173–192.
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genwärtig dargestellt und mit der rhetorischen Frage angesprochen, wem man glauben solle: »dir/ du wahrhaftiger HErr Christe? oder dir Schuster und deinem Drecke?« (›tibi, veracißime CHRISTE? An tibi Sutori, stercorisbusque tuis?‹).26 Wie bei allen rhetorischen Fragen ist die Antwort schon in der Formulierung der Frage gegeben, obwohl an das Urteilsvermögen des Publikums appelliert wird. In der antithetischen Gegenüberstellung von Christus und Böhme setzt Richter seine vituperatio des Gegners fort. Christus sei beispielsweise vom Heiligen Geist mit Öl gesalbt worden; den Schuster habe der Teufel mit Dreck besudelt. Christus habe die Menschen auf das Wort und die heiligen Sakramente gewiesen; der Schuster weise auf Verzückungen und Träume hin, die die gläubigen Herzen des wahren Glaubens berauben. Christus habe das Volk öffentlich gelehrt; der Schuster pflege heimlich in finsteren Winkeln zu stecken. Christus habe nicht königliche Ehre gewollt; der Schuster wollte, wenn er nur könnte, wohl ein König und Gott sein. Weiter wird u. a. Böhmes angebliche Trunksucht getadelt. Die Gegenüberstellungen münden im Schluss, dass man Böhmes Bücher als Teufelsdreck und äußerste Raserei meiden sollte. Christus wird darum gebeten, dass er die Werkzeuge des Satans steuere und sein Wort nicht verdunkelt werden lasse. Die hier angedeuteten Argumente in der Gegenüberstellung von Christus und Böhme sind von Richter sorgfältig gewählt, indem sie deutliche Indices für den teuflischen Auftrag Böhmes enthalten und wichtige Mittel der vituperatio des Gegners sind. Seine »Träume und Verzückungen« könnten nur vom Teufel herstammen, da sie religiöse Unwahrheit verbreiteten; sie beraubten gläubige Menschen des wahren Glaubens. Die Vermeidung der Öffentlichkeit, das Stecken »heimlich in finstern Winkeln« (›Sutor in obscuris clàm solet esse locis‹)27 ist ein Argument, das schon von Luther in seiner Polemik gegen Müntzer benutzt wurde.28 Die Vermeidung der Öffentlichkeit sei ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Gegner nicht im Auftrag des Heiligen Geistes handele, denn zu den Früchten des Geistes gehöre gerade der Freimut; wem ein solcher Freimut fehle, der müsse nach dem Tertium-non-datur-Prinzip ein Vertreter des Teufels sein. Schließlich suggeriere Böhmes angebliches Streben nach hohen Titeln, dass er von der luziferischen Sünde par excellence, der superbia, betroffen sei.29 Richter hat also auf geschickte Weise Beispiele ausgewählt, die seinen Gegner als einen im teuflischen Auftrag Handelnden ausweisen. Der Hinweis auf ausgewählte Zeichen wird hier als rhetorische Argumentationstechnik benutzt, wobei diese als Indiz für eine bestimmte Sachlage eingesetzt werden.30 Je stärker die Verteufelung des
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Richter, Judicium (Anm. 19), Bl. A ijv. Ebd., Bl. A iijr. Vgl. Andersson, Du Solst wissen (Anm. 17), 55 f. Dies ist eine in zeitgenössischer theologischer Polemik traditionelle Argumentation: »Der superbia-Vorwurf gegen Ketzer ist am Ende des 16. Jahrhunderts längst zum Topos geronnen« (Bremer, Religionsstreitigkeiten [Anm. 3], 279). Für die Argumentation mit Indizien, vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. 2 Bde. Hrsg. u. übers. von Helmut Rahn. Darmstadt 1972–1975, V,9,5. Vgl. auch Melanchthon, Elementa rhetorices (Anm. 23), 79 ff., und Lausberg, Handbuch (Anm. 25), §§ 358 ff.
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Gegners glaubhaft gemacht werden kann, desto kräftiger wird die Unterstützung für die Wahrheit der eigenen theologischen Position des Görlitzer Oberpfarrers. Wer sind im Aktantenmodell aber die Helfer und Widersacher? Bei der Analyse dieser Aktanten sind weitere Aspekte des Pasquills zu beachten, nämlich die (impliziten) Schlüsse, die sich aus der theologischen Argumentation ziehen lassen, denn hier treten die sozialen Komponenten der Schrift hervor: Theologische Unordnung führe zu sozialer Unordnung.31 Besonders deutlich wird diese Botschaft in der letzten Zeile der Schrift, wo der Leser auf die Geschichte der Jahre 1525 und 1535 hingewiesen wird (›Videantur historia Annorum 1525. & 1535. [&]c.‹).32 Die erste dieser beiden Jahreszahlen spielt natürlich auf den Bauernkrieg an, vor allem auf das Wirken Thomas Müntzers, während sich die zweite Jahreszahl auf das Täuferreich zu Münster bezieht. In beiden Fällen handelt es sich um bedeutungsträchtige Beispiele dafür, zu welchen sozialen und politischen Unruhen angeblich teufelsinspirierte Lehren führen können. Auch hier begnügt sich Richter mit einer Andeutung; der Leser muss selbst die Schlüsse ziehen. Damit die Gefahren der gegnerischen Position eindringlich vor Augen geführt werden können, bedient sich Richter der Metapher des Schiffbruchs. Dieses Bild impliziert allerdings auch, dass die Gefahren nicht unbedingt zum Untergang führen müssten; sie ließen sich durch geschicktes Handeln vermeiden. Das Bild deutet hier eine Situation an, die man sich so vorstellen muss, dass der Oberpfarrer auf die gefährliche Klippe zeigt – Jacob Böhme –, damit der Steuermann des Schiffes – der Rat der Stadt Görlitz – begleitet von den intensiven Ermahnungen von Seiten der Passagiere und der übrigen Besatzung – der Görlitzer Bürger – einen Kurs wählt, der den sonst unvermeidlichen Schiffbruch verhindern kann. Im Rahmen des Aktantenmodells geht es also darum, die Görlitzer zu Helfern im Kampf gegen die Böhme’sche Häresie zu machen. Für Richter ist die Lösung klar: Böhme und seine Anhänger müssen der Stadt Görlitz verwiesen werden. Dies ist die ausdrückliche Konklusion seines Pasquills gegen Böhme. Das Aktantenmodell in Richters Pasquill hat somit folgende Gestalt: Auftraggeber: Gott Anti-Auftraggeber: Teufel Subjekt: Gregorius Richter Anti-Subjekt: Jacob Böhme Objekt: Verbreitung der wahren christlichen Lehre, soziale Ordnung Anti-Objekt: Die von Böhme vertretenen Lehren des Teufels, soziale Unordnung Helfer: Aktuelle und potentielle Anhänger Richters Widersacher: Anhänger Böhmes, und diejenigen, die ihn dulden
Das rhetorische Ziel Richters besteht also darin, die Helfer in ihrer Überzeugung zu stärken und zum Handeln gegen Böhme zu veranlassen. Den Widersachern 31
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»The defence of the ecclesiastical order was closely linked, it was indeed identical, with the defence of the social and political order. Enthusiasm, which was tantamount to individual ›inventions‹, was perceived as a serious threat to that order.« (Michael Heyd: »Be Sober and Reasonable«. The Critique of Enthusiasm in the Seventeenth and Early Eighteenth Centuries. Leiden/New York/Köln 1995 [Brill’s Studies in Intellectual History 63], 41). Richter, Judicium (Anm. 19), Bl. A [4]v.
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steht die Möglichkeit des Übertritts zur »richtigen« Seite offen; wenn sie diesen Schritt aber nicht unternehmen wollen, müssen sie das Schicksal des Anti-Subjekts teilen und die Stadt Görlitz verlassen. Der Görlitzer Oberpfarrer Gregorius Richter ging in seiner Polemik gegen Jacob Böhme also von einer Aktantenkonstellation aus, die ihm als ordiniertem Theologen hohe Autorität im kirchlich-theologischen Diskurs der Zeit verlieh. Von dieser Position aus versucht er, Böhme zu disqualifizieren. Die diskurstheoretisch und rhetorisch interessante Frage, die sich im Hinblick auf Böhme ergibt, ist, wie er sich gegen diese Angriffe des Oberpfarrers verteidigen konnte. Welche Möglichkeiten bestanden für Böhme, Richters Argumentation zu entkräften? Dieser Frage soll in den folgenden Ausführungen näher nachgegangen werden.
Jacob Böhmes Verteidigung gegen Richters Angriffe In Briefen an Anhänger, in einer schriftlichen Verantwortung an den Rat von Görlitz und in einer umfangreichen Apologia. Oder Schutzrede hat sich Böhme mit Richters Angriffen auseinandergesetzt und sie zurückzuweisen versucht. Eine Gruppe bilden dabei die Briefe und die Apologia, wo die argumentative Strategie darin besteht, den Gegner intensiv zu verteufeln und seine Autorität in Frage zu stellen, während Böhme im Schreiben an den Rat sich der Technik bedient, sich selbst als unschuldiges Opfer darzustellen, das ungerechterweise vom wütenden Oberpfarrer der Stadt angegriffen worden sei. Der teuflische Auftrag des Gegners wird von Böhme im Schreiben an den Rat nur leise angedeutet, da eine allzu intensive Verteufelung des Gegners zur behaupteten Demut und Passivität des zu Unrecht Angegriffenen hier sicherlich schlecht passen würde. Auf den pragmatischen Kontext und das Anliegen des jeweiligen Textes ist bei der Analyse der Argumentation und der rhetorischen Techniken stets zu achten.33 Der umfangreichste einschlägige Text ist Böhmes Apologia. Oder Schutzrede, die auf den 10. April 1624 datiert ist.34 Böhme bedient sich darin der Technik der refutatio und baut seine Schrift so auf, dass er die Angriffe Richters Zeile für Zeile aufgreift, um sie zu widerlegen; die Disposition der drei Teile folgt genau der Einteilung in Richters Schmähschrift.35 Ich werde im Rahmen meiner 33 34 35
Für eine ausführliche Analyse von Böhmes Polemik gegen Richter vgl. Andersson, Denken in Bildern (Anm. 2), 49–65. Die Edition von Böhmes Handschrift findet sich in Jacob Böhme: Die Urschriften. 2. Tl. Hrsg. v. Werner Buddecke. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, 251–280 Dies ist eine traditionelle polemische Technik: »The body of a text of a pamphlet is typically arranged into different points or articles. A point typically consists of two components: the rendering or quotation of the opponents view and the retort« (Gloning, The Pragmatic Form [Anm. 3], 89). Böhme folgt hier interessanterweise einer Textpraxis, die ihren Ursprung in der universitären und juristischen Tradition hat: »It [die Einteilung in Artikel oder Punkte] can be found in the university disputationes as well as in different forms of legal disputes. Around 1600, this form of organization was customary in quite different communicative domains« (Ebd., 91).
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Ausführungen auf dieses umfangreiche Werk nicht näher eingehen, sondern konzentriere mich auf einen der polemischen Sendbriefe, und zwar auf den Brief, den Böhme wohl am 5. April an Martin Moser gerichtet hat.36 In diesem kurzen Text tritt deutlich zutage, wie Böhme das hier behandelte polemische Aktantenmodell aktualisiert; im Vergleich zu Richters Pasquill jedoch mit umgekehrten Vorzeichen. In seinem Brief an Martin Moser tritt Böhme mit dem Anspruch auf, dass ihn Gottes Hand bisher geführt und zur Erkenntnis der rechten Wahrheit gebracht habe, mit der er auch vielen anderen Menschen diene.37 Seinen Anspruch, im Auftrag Gottes zu handeln, erhärtet Böhme durch den weiteren Hinweis, dass andere Menschen – u. a. Moser – durch sein Wirken die transzendente Realität erfahren haben. Er bezeichnet sich auch an einer anderen Stelle des Briefes als Gottes Werkzeug, das die Wahrheit vertritt.38 Er behauptet weiter, so hoch von Gott geachtet zu sein, dass er mit dem Siegeszeichen Jesu Christi gezeichnet worden sei. Durch diese seine bevorzugte Stellung lässt sich für ihn die Reaktion des Teufels und seines Werkzeugs Richter erklären. Vor diesem Siegeszeichen sei der Teufel nämlich so erschrocken, dass er vor Zorn zerbersten möchte. Deswegen habe er große Sturmwinde aus seinem Meer des Todes über Böhme erweckt – so wird hier Richters Polemik gegen Böhme metaphorisch beschrieben – und grausame Wasserstrahlen auf ihn geschossen, und zwar mit der Absicht, ihn zu ersäufen.39 Die Wahrheit von Böhmes Erkenntnis wird hier mit Hilfe einer traditionellen theologischen Argumentation plausibel gemacht, welche ihrer Struktur nach eine rhetorische amplificatio ist, und zwar von der Art der ratiocinatio.40 Bei dieser Art der amplificatio weist man auf die Begleitumstände hin, um indirekt auf die Größe oder das Gewicht des gemeinten Gegenstandes aufmerksam zu machen. Der Teufel würde natürlich nicht mit großen Sturmwinden wüten, wenn Böhmes Wirken keine entscheidende Gefahr für seine Macht darstellen würde. Das Wüten des Teufels fungiert demnach als Beweis für die Wahrheit der Position, die Böhme vertritt, und dadurch für seinen göttlichen Auftrag.41 Seine Vorstellung, dass der Teufel der Auftraggeber Richters sei, wird darüber hinaus durch die Behauptung unterstrichen, dass der »allergröbste Teufel« den Pasquill des Oberpfarrers diktiert habe. Dies sei angeblich nicht nur Böhmes private Meinung, sondern der Pasquill werde fast von allen Gelehrten dem Satan zugeschrieben.42 Durch Richters Pasquill habe der Satan – nach Böhmes Ansicht – »das Pharisäische Hertze« seines Verfassers entblößt. Dies sei durch Gottes Zulassung darum geschehen, 36
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Der Brief – ep 50 in SS, Bd. IX – ist auf den »5. März 1624« datiert. Da sich Böhme darin auf Richters Pasquill bezieht, dessen letzter Teil das Datum »27. März« trägt, handelt es sich hier wohl um einen Schreibfehler. Epist. 50:1. Epist. 50:8. Epist. 50:2. Lausberg, Handbuch (Anm. 25), § 405. Dasselbe Argumentationsmuster findet man bei Luther. Vgl. Hans-Martin Barth: Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers. Göttingen 1967 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 19), 33 f. Epist. 50:5.
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dass die Leute das Gift dieses pharisäischen Herzens kennen gelernen, damit sie es fliehen können.43 Gott lässt also den Teufel und sein Werkzeug Richter wüten, damit sie sich selbst entlarven; auch sie handeln somit – ironischerweise – im göttlichen Auftrag. Das anti-klerikale Schlagwort ›Pharisäer‹ passt hier natürlich besonders gut auf einen Theologen, der einen Menschen verfolgt, welcher – nach Böhmes Behauptung – mit dem Siegeszeichen Christi gezeichnet worden sei.44 Aus der eschatologischen Perspektive, die Böhme auch anlegt, wird ferner behauptet, dass der »rauchende Lösch=Brand, welcher ietzt rauchet«, bald im Feuer verzehrt werde.45 Seine polemische Auseinandersetzung mit Richter bekommt dadurch eine besondere heilsgeschichtliche Dimension. Die Ankunft Christi steht für Böhme bevor, und er ermahnt Moser und andere, als seine Mitstreiter im Glauben zu kämpfen und in Geduld auf die Offenbarung des Herrn Jesu Christi zu warten.46 Zu diesem eschatologischen Prozess gehören Böhmes gerade zu dieser Zeit so aktuelle Vorstellungen von der Generalreformation.47 Die Weisen »mercken die Zeit und sehen die Finsterniß und auch die Morgenröte des Tages«.48 Diese jetzt hervorbrechende Morgenröte ist natürlich auf Böhme und seine einmalige Erkenntnis von Gott, Natur und Geschichte zu beziehen. Nachdem Böhme Ende März 1624 von Gregorius Richter in einem Pasquill angegriffen worden war, beginnt er, in Briefen an treue Anhänger die Angriffe Richters sofort zurückzuweisen. Der Sendbrief an Martin Moser ist hier ein gutes und deutliches Beispiel. Hatte sich Richter in seiner Schrift auf das Aktantenmodell so bezogen, dass er selbst als Subjekt erscheint, das im göttlichen Auftrag handelt und dabei das Werkzeug des Teufels – Jacob Böhme – angeblich entlarvt, so kehrt Böhme Richters Version des Modells um, indem er den Oberpfarrer als rasenden Teufel und seine eigene Person als Werkzeug Gottes und als Nachfolger Christi darstellt. Der Grund für Böhmes Autorität besteht in seiner behaupteten Erfahrung der transzendenten Realität, die aus der Perspektive seiner Religion des Widerstandes nicht übertroffen werden kann. Dass er Recht hat, können die Anhänger bezeugen, da sie dieselben religiösen Erfahrungen gemacht haben. Im Brief an Moser bezeichnet Böhme den Adressaten des Briefes und andere Anhänger als seine »Mitringer«. Deutlich ist, wie Böhme in seinen Sendbriefen versucht, sich der Solidarität seiner Anhänger zu vergewissern. In anderen Sendbriefen werden auch Böhmes Widersacher thematisiert; sie erscheinen u. a. unter 43 44
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Epist. 50:4. Zum Schlagwort Pharisäer in der Polemik der Reformationszeit, vgl. u. a. Friedrich Lepp: Schlagwörter des Reformationszeitalters. Leipzig 1908 (Quellen und Darstellungen aus der Geschichte des Reformationsjahrhunderts 8), 62 ff. Vgl. auch Böhmes Brief an Carl Ender von Sercha vom 1. April 1624, wo es über Richters Pasquill heißt: »ICh füge [sage] dem Juncker, daß gestern der Pharisäische Teufel gantz los worden sey, und mich samt meinem Büchlein zum ärgsten verdammet« (Epist. 52:1). Epist. 50:9. Epist. 50:9. Zu Böhmes Begriff der Generalreformation, vgl. u. a. Pierre Behar: Okkultismus, Politik, Literatur und Astronomie zwischen Prag und Heidelberg. In: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 13 (2003), 21–46. Epist. 50:9.
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der diffamierenden Bezeichnung »des primarii Anhang«.49 Der Ausgangspunkt für Böhmes Argumentation in den Sendbriefen sind also die folgenden Aktanten: Auftraggeber: Gott Anti-Auftraggeber: Teufel Subjekt: Jacob Böhme Anti-Subjekt: Gregorius Richter Objekt: Verbreitung der wahren christlichen Lehre, die Generalreformation Anti-Objekt: Verbreitung der Lehre des Teufels Helfer: Anhänger Böhmes Widersacher: »des Primarii Anhang«
Richtet sich der Görlitzer Oberpfarrer mit seinem lateinischen Pasquill an die gelehrte Öffentlichkeit der Stadt Görlitz als polemische Instanz, so wendet sich Böhme in seinen Briefen an ein Netz von Korrespondenten, das zu der von Richter angesprochenen Öffentlichkeit eine Gegenöffentlichkeit bildet.50 In dieser Gegenöffentlichkeit konnte Böhme an eine Verständigungsgemeinschaft appellieren, bei der er damit rechnen konnte, dass ihre Mitglieder mit seiner Subjektsposition und seiner Perspektive im Sinne einer Religion des Widerstandes durchaus einverstanden waren.
Schlussreflexion In ihrer gegenseitigen Polemik beziehen sich Jacob Böhme und sein Gegner Richter auf ein Aktantenmodell, das für sowohl die Religion des status quo als auch die Religion des Widerstandes gültig ist. Die zwei Kontrahenten berufen sich beide auf ihren göttlichen Auftrag und geben den Teufel als Auftraggeber des Gegners aus. In ihrer jeweiligen Argumentation thematisieren sie auch die Aktanten Helfer und Widersacher. Interessant ist bei Böhme, wie verschiedene Texte unterschiedlich ausgerichtet sind. So wird in den Sendbriefen an Anhänger der Gegner diabolisiert; sein eigenes Wirken sieht Böhme darin auch als Zeichen der sich nahenden Endzeit und der bevorstehenden Generalreformation. In den anderen polemischen Texten fehlt diese letzte Perspektive. Es tritt mit aller Deutlichkeit hervor, dass das skizzierte Aktantenmodell für theologische Konflikte die Grundlage für die Argumentation in den hier behandelten Texten von Richter und Böhme bildet. Weil dieses Modell so fest etabliert ist, können sich die beiden Polemiker in vielen Fällen mit Andeutungen begnügen und sich darauf verlassen, dass der Leser die »richtigen« Schlüsse ziehen wird. Dadurch wird auch an das Urteilsvermögen des Publikums appelliert. So49 50
Vgl. z. B. Epist. 53:15. Die wichtige Rolle solcher Korrespondenznetze wird in der Einleitung zu Abraham v. Franckenberg: Briefwechsel. Eingel. u. hrsg. v. Joachim Telle. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, diskutiert.
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wohl der humanistisch gebildete Richter als auch der Autodidakt Böhme gehen vom selben Aktantenmodell aus, und sie stellen sich beide in ihrer Polemik als geschickte Rhetoriker heraus. Die Frage, die man abschließend stellen kann, lautet, inwiefern das hier beschriebene Modell immer noch aktuell ist. Dies ist tatsächlich der Fall. Der schon erwähnte amerikanische Religionswissenschaftler Bruce Lincoln behandelt in seinem Buch Holy Terrors die Polemik zwischen George W. Bush und Osama bin Laden im Oktober 2001 nach dem amerikanischen Angriff auf Afghanistan. Durch Lincolns Textanalysen wird deutlich, dass auch diese Polemik dem hier behandelten Aktantenmodell folgt: »Both men constructed a Manichaean struggle, where Sons of Light confronted Sons of Darkness, and all must enlist on one side or another, without possibility of neutrality, hesitation, or middle ground.«51 Eine Diskussion auch dieses rezenten Beispiels wäre sehr interessant; sie würde hier allerdings viel zu weit führen.
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Lincoln, Holy Terrors (Anm. 16), 20.
Leigh T. I. Penman
Böhme’s Student and Mentor: the Liegnitz Physician Balthasar Walther (c.1558–c.1630)
At an auction held in Berlin on 15–16 February 1910, Ludwig Feyerabend, director of the Kaiser-Friedrich-Museum in Görlitz, Saxony, secured an elegant piece of sixteenth-century art from the estate of the recently-deceased stage actor, Adalbert Matkowksy. Although larger, more refined, and more valuable works were available, Feyerabend’s prize was a small, glass Kabinettscheibe depicting St Christopher, patron saint of travelers:
Fig. 1: Balthasar Walther: St. Christopher (c.1575–1600). Encaustic on glass. Reproduced from Ernst-Heinz Lemper: Jakob Böhme. Leben und Werk. [East] Berlin 1973. Copyright holder unknown.
This tiny encaustic, however, was acquired not on account of its intrinsic artistic appeal, but rather because of its presumed historical significance to the city of Görlitz. The provenance of the piece suggested it had originated from a house of one of Görlitz’s greatest sons, the theosopher Jacob Böhme (1575–1624). One
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Leigh T. I. Penman
confirmation of its legendary origins appeared on the reverse of the object, in the form of a signature of a man known intimately to Böhme himself, and one famed as a major influence on his philosophy: Balthasar Walther (1558–c.1630).1 Whether or not this piece, conforming to its legendary origins, indeed belonged to Böhme, or was created by the same Balthasar Walther known to history as a physician, kabbalist and mentor of Böhme, remains in question.2 Installed in 1911 in the window of the museum’s Jacob-Böhme-Stube in the Ruhmeshalle, there it stayed until it was lost or destroyed during the second world war. Today, only a black and white image of the obverse survives. Barring an unlikely rediscovery, no opportunity thus exists to compare the signature which once graced its reverse to samples of Walther’s own handwriting.3 Nonetheless, both the artwork itself as well as its beguiling history are fitting emblems of Walther’s historical legacy. This is not only because of his own halflegendary travels across Europe, Africa and the Holy Land in search of esoteric wisdom, but also because, much like St. Christopher, questions have circulated concerning Walther’s own importance and influence, not only upon Böhme’s philosophy, but also as part of broader Paracelsian and dissident networks within sixteenth and seventeenth century Europe. For, despite the attention lavished on Böhme, comparatively little attention has been paid to Walther, a man who occupied a key and perhaps unique place within Böhme’s intellectual world, as a figure of influence not only in the Rezeptionsgeschichte of Böhme’s thought, but 1
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This article is a significantly shortened and revised version of Leigh T. I. Penman: Ein Liebhaber des Mysterii, und ein großer Verwandter desselben. Toward the Life of Balthasar Walther: Kabbalist, Alchemist and Wandering Paracelsian Physician. In: Sudhoffs Archiv 94/1 (2010), 73–99. The present article incorporates some new research, as well as corrections to the earlier version. It appears largely in the format in which it was delivered at the conference which engendered this volume. For information and advice I am indebted to Paul Ferguson, Dr. Grantley McDonald, Dr. Rafał Prinke, Dr. Robert Schweitzer, Prof. Joachim Telle, Prof. Andrew Weeks, Matthias Wenzel and Marius Winzeler. Research for this article was supported by the Günther-Findel-Stiftung zur Förderung der Wissenschaften at the Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, and the Deutscher Akademischer Austausch Dienst. See Rudolph Lepke: Sammlung Adalbert Matkowsky, Berlin: Ausstellung […] Versteigerung […]. Berlin 1910; Ludwig Feyerabend: Die Oberlausitzer Gedenkhalle mit KaiserFriedrich-Museum. Görlitz 1912, 41, where he describes the piece as »eine köstliche Schmuckscheibe in enkaustischer Malerei des 16. Jahrhunderts.«; See further M. Asche: Art. »Walther, Balthasar, Glasmaler«. In: Allgemeines Lexicon der bildenden Künstler. ThiemeBecker, ed. Leipzig 1942, Bd. 35, 346. For a bibliography of Walther’s work, in addition to a bibliography of secondary literature, see Leigh T. I. Penman: Art. »Walther, Balthasar«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, forthcoming. Marius Winzeler of the Görlitz Kulturmuseum, successor to the Kaiser-Friedrich-Museum, stated in a personal communication to me the following concerning the artist: »Möglicherweise stammte der Glasmaler aus der in Breslau und Dresden tätigen gleichnamigen Künstlerfamilie, mehr ist aber nicht zu ihm bekannt.« Nonetheless, as the following discussion emphasizes, it is entirely in character that Walther would choose to paint an image of St Christopher, patron saint of travelers, given his propensity for embellishing the extent and duration of his own travels. The legendary provenance of this image should not therefore be dismissed entirely out of hand.
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also, crucially, in its Entstehungsgeschichte. The present article is a contribution to further understanding Walther’s manifold roles in these various contexts.
Walther’s Life to c. 1590 Walther was born around 1558, in the duchy of Liegnitz, Silesia.4 Thereafter, he studied at the University in Frankfurt an der Oder, matriculating in 1579 as »Balthasar Waltherus Liginicensis.«5 At the time of Walther’s birth, Liegnitz was a region with a significant Schwenckfelder population, and it is possible that Walther may have been raised within the faith.6 Walther’s course of study in Frankfurt appears to have been medicine, while his contribution of several Gelegenheitsgedichte to various pamphlet publications indicate his early aptitude and interest in poetic expression. By 1585 Walther was in Zerbst, at the court of Joachim Ernst of Anhalt.7 There he had printed his first major work, a devotional poem of six quarto leaves, entitled Ode dicolos tetrastrophos.8 This text emphasized, according to an indeterminate Protestant character, the necessity of following Christ’s teachings. It gave, however, no hint of the decisive turn that Walther’s life was about to take. For in the Summer of 1587, Walther journeyed, perhaps for the first time, to the Upper Lusatian city of Görlitz, ostensibly to attend the wedding of a friend.9 But a perhaps unexpected result of Walther’s trip would be his life-changing contact with members of Görlitz’s burgeoning Paracelsian community.10 Chief among their number was the mathematician, cartographer, and several-times Ma4
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Walther’s date of birth can be fixed by Paul Nagel’s letter to Arnold Kerner of 30 September 1621 (Leipzig, Universitätsbibliothek [hereafter Leipzig UB] Ms 0 356, fol. 36r), in which Nagel reveals that Walther was born sixty three years prior. Earlier, Richard Jecht: Die Lebensumstände Jakob Böhmes. In: Jakob Böhme. Gedenkgabe der Stadt Görlitz zu seinem 300jährigen Todestage. Hrsg. v. Richard Jecht. Görlitz 1924, 64, speculated that Walther »muß etwa 10 Jahre älter als Böhme gewesen sein.« Ältere Universitäts-Matrikeln. I: Universität Frankfurt a. O. Hrsg. v. Ernst Friedlander, Georg Liebe u. Emil Thenner. Leipzig 1887, 270b. Horst Weigelt: Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien. Berlin 1973, passim. Walther would also contribute a poem to a publication honoring the prince after his death. See: Trostschrift […] Herrn Georgen Fürsten zu Anhalt […]. Zerbst 1587, sig. C7r. Walther might have found employment either at his court in Dessau, or the Zerbst Gymnasium, which was established by the prince in 1583. Balthasar Walther: Ode dicolos tetrastrophos totum redemtionis opus, à Christo Seruatore nostro humano generi praestitum, breuiter complectens […]. Zerbst 1585. Balthasar Walther: Coniugio doctissimi et hvmanissimi viri, domini Francisci Croschelii Svervsiensis, sponsi: et pvdicißimæ virginis Dorotheae Peucerianæ, IOACHIMI filiæ, Gorlicensis, Sponsa. Görlitz 1587. This pamphlet was discovered in late 2007 by Matthias Wenzel in the collections of the Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften, Görlitz. I thank him for bringing it to my attention. See Ernst-Heinz-Lemper: Görlitz und der Paracelsismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 18 (1970), 347–360, although this text must be used with caution.
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yor of Görlitz, Bartholomäus Scultetus (1540–1614).11 While the precise circumstances of their initial contact is unknown, Scultetus’s Diarium (unfortunately lost) shows that on 19 July 1587 the pair convened for a lengthy meeting. Evidently, they had much in common. Walther returned to Görlitz to visit Scultetus on 19 February, 1 August and 26 December 1588. Throughout this time, Walther’s enthusiasm for magical, Paracelsian and kabbalistic texts was evidently growing. For on one or more of these occasions, Walther borrowed from Scultetus a number of magical and Paracelsian treatises in manuscript. One volume of copies prepared by Walther from the texts borrowed from Scultetus is located today in the Lübeck Stadtbibliothek.12 A fat quarto volume, it contains extracts and full texts of some seventeen magical and (Pseudo-)Paracelsian tracts, in both Latin and German. In terms of its content, the Lübeck codex is mostly magical. It begins with extracts from the Latin Picatrix,13 continues with two short German tracts attributed to Paracelsus: an account of a transmutation completed in 1527, and a text entitled Die heimliche Offenbahrung Hermetis. A short work on celestial kabbalah then precedes a lengthy Latin version of the strange Liber Raziel, one of the most infamous angel magic texts of the late Renaissance.14 Several other works, by Trithemius, Petrus d’Abano, Paracelsus and »Hermes Trismegistus« round out the volume. With these texts in his possession, Walther possessed a unique sampling of dissident astrological, magical and esoteric wisdom of his age. Throughout the manuscript, there appear marginal notations which reveal the relationship of these texts to works in Scultetus’s collection, in addition to providing information on when and where Walther created this copy: Gorlicii ex scripto Cracovij Rhetici scriptj Barthol. Scultetij 21 Febr. Ao 1567. Ex huius scripto B. Waltherij Iun. 30 Aprilis Ao 89 novi calen. Harper[sdorf]. (fol. 88r) Ex scriptis Cracovi h[abet] Scultetus & Waltherus ab eo […] (fol. 91r) 1 May Anno 89 Harpersdorf ex Bart. Scultetij (fol. 94v) Ex libri Bartholomaii Sculteti Gorlitiani et scripti 3 Mai […] (fol. 110v)
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On Scultetus see Martin Reuther: Der Görlitzer Bürgermeister, Mathematiker, Astronom und Kartograph Bartholomäus Scultetus (1540–1614) und seine Zeit. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 5 (1955/56), 1133–1162; Ernst Koch: Moskowiter in der Oberlausitz und Bartholomäus Scultetus. In: Neues Lausitzisches Magazin 83 (1907), 1–90; 84 (1908), 41–109 u. 225–290; 86 (1910), 1–80; Richard Jecht: Bartholomäus Scultetus. Görlitz 1914; Ernst-Heinz Lemper: Voraussetzungen zur Beurteilung des Erfahrungs- und Schaffensumfelds Jakob Böhmes. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois M. Haas. Wiesbaden 1994, 41–70, esp. 48–55; Joachim Telle/Wilhelm Kühlmann: Corpus Paracelsisticum. Bd. 2. Tübingen 2004, 705–728. Lübeck, Stadtbibliothek, Ms. math. 4˚ 9. For a brief analysis of this fragment, see David Pingree: Picatrix. The Latin Version. London 1986 (Studies of the Warburg Institute 39), xxiv-xxvii. On the Liber Raziel, see Reimund Leicht: Astrologumena Judaica. Tübingen 2007.
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3 Mai Ao 89 novi Calend. ex Sculteto Gorlitiano Mathem. (fol. 111r) Scriptum Bartol. Sculteti Gorlitiani Mathem. libris. 6 Mai Ao 89 calendarium novum computatum in Harpersdorff. (fol. 126r)15
These statements are significant, for they allow us to link the Lübeck codex to a further manuscript evidently prepared by Walther from material given him by Scultetus, which was formerly in the Rhediger collection of the Breslau Stadtbibliothek.16 Described by Kurt Goldammer as one of the »most valuable [collections] of the surviving theologica« of Paracelsus, this manuscript was lost during the second world war. We are aware of its content, however, firstly due to two careful bibliographical descriptions by Goldammer and Karl Sudhoff, in addition to a typescript of its contents, prepared by Goldammer for his edition of Paracelsus’s theological works.17 From these we are aware that the majority of the Breslau folio consisted of Paracelsus’s commentaries on Matthew. However, there were also commentaries on Luke and the prophets Isaiah and Daniel, in addition to a collection of sermons, general theologica, and a significant selection of commentaries on the Psalms. Several of these texts contained tantalising references to Paracelsus’s belief in an enduring mystery school of kabbalistic and spiritual wisdom: the extracts »Ex alio fragmento super Matthaeum« and the »Ex enarrationibus super Matthaeum quarum prine: est 3. cap.« being representative of this particular type of work.18 Although there was apparently no mention of Walther or Scultetus in the Breslau manuscript, we know that it is linked to the Lübeck codex, and indeed for the following reasons: both manuscripts consist of texts copied from Scultetus’s collection; both were prepared in the village of Harpersdorf, Silesia; both were prepared during the same period – August 1588 – Pentecost 1589 (Breslau), May – July 1589 (Lübeck); both were prepared on the same paper, two varie-
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A final date appears on fol. 171r of the text: »Trotzendorff 16 Decemb. Ao 90. Ex. lib. Abrah. Maffredi.« Maffred is more commonly known as Abraham Meffert, sometime Stadtphysikus in Liegnitz, and likewise a collector of Paracelsian manuscripts. Shortly before 1600, Meffert prepared a copy of a prophetic work by Paul Lautensack, which survived until the second world war (former Breslau, Stadtbibliothek R 292). On Meffert see Berthold Kreß: The Manuscripts and Drawings by Paul Lautensack (1477/78–1558) and his Followers. 3 vols. Phil. Diss. Cambridge 2006. While the original MS was lost during the second world war, it was fully transcribed before its disappearance. For the mysterious fate of the Breslau manuscript see the thorough introduction in Paracelsus: Theologische Werke I: Vita Beata, Vom seligen Leben. Hrsg. v. Urs Leo Gantenbein. Berlin 2008, 51 f., especially n. 307. Important descriptions of the manuscript appear in Paracelsus: Sämtliche Werke. 2. Abteilung. Theologische und Religionsphilosophische Schriften. Hrsg. v. Kurt Goldammer. Stuttgart 1955, IV/1, xxxv-xxxviii; Karl Sudhoff: Kritik der Echtheit der Paracelsischen Schriften: II. Theil. Paracelsische Handschriften. Berlin 1898, 499–538. Sudhoff: Paracelsische Handschriften (not. 17), 507 f. Concerning Paracelsus’s commentaries on Matthew, see Arlene Miller-Guinsburg: Paracelsian Magic and Theology: A Case Study of the Matthew Commentaries. In: Kreatur und Kosmos. Internationale Beiträge zur Paracelsusforschung. Hrsg. v. Rosemarie Dilg-Franck. Stuttgart 1981, 125–139.
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ties bearing distinct watermarks from mills in Bautzen and Silesia, and, finally;19 according to bibliographical descriptions, both manuscripts bore similar scribal techniques, including the use of multiple columns, in the reproduction of the texts. However, the Harpersdorf connection is significant not only for the connection it provides to the Breslau manuscript, and thus Walther’s intellectual background. As Horst Weigelt has demonstrated, Harpersdorf was the centre of an energetic Schwenkfelder network.20 Given Walther’s origins in the former Schwenkfelder stronghold of Liegnitz, the Lübeck and Breslau manuscripts may, therefore, also provide evidence of an enduring connection between Walther and Schwenckfelder communities in Silesia. Furthermore, these manuscripts provide, perhaps for the first time, indisputable proof of Walther’s long-suspected interest in magical and kabbalistic wisdom. The texts copied out into these manuscripts may also provide key directions in searching for influences on the thought of Jakob Böhme.
Walther’s Orientreise Walther’s movements following his time in Harpersdorf are not presently known. He first resurfaces in the historical record nearly a decade later, in 1597. In that year, Walther decided to undertake a journey to Africa, Asia Minor and the Holy Land, in what is perhaps the most celebrated, and mythologized, event of his career. According to Abraham von Franckenberg, the express purpose of Walther’s visit was to set himself »in search of the true hidden wisdom, which one might call kabbalah, magic, alchemy, or, more correctly, theosophy.«21 But the records of Walther’s journey are fraught with inconsistencies, concerning both the duration of Walther’s trip, as well as its intent. Both Franckenberg and Johann Angelius Werdenhagen state that Walther spent six years engaged in his travels in the Orient; a report which, although undoubtedly coaxed from Walther himself, was nonetheless inaccurate. Contemporary sources, not least of which include one of Walther’s own publications, demonstrate that he actu-
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Kurt Goldammer: Einleitendes. In: Paracelsus: Sämtliche Werke. 2. Abt. (not. 17), vol. IV/1, xxxviii, mentions watermarks of the arms of the city of Budissin (Bautzen), which was produced by the Bautzen paper mill between 1557–1599, as well as a wheel with eight spokes, of unknown middle and eastern German provenance. Both watermarks can be clearly seen, respectively, after fol. 142v and on fol. 165r-v in the Lübeck codex. Weigelt (not. 6), 195–212. Concerning a prophet in Harpersdorf in 1590, whose visions of the imminent Last Judgment attracted a following of some several thousand persons, amongst them many Schwenkfelders, Paracelsians and perhaps even Walther himself, see F. Lucæ: Schlesiens curieuse Denckwürdigkeiten […]. Frankfurt a. M. 1689, 352; G. Wernsdorfius & G. Liefmannus: Dissertatio historica, de Fanaticis Silesiorum […]. Wittenberg [1698], sig. C1r. Abraham von Franckenberg: Gründlicher und warhafter Bericht von dem Leben und Abschied des in Gott selig-ruhenden Jacob Böhmens […]. In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961 (»SS«), hier: Bd. X, 15.
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ally spent a little over eighteen months on his travels.22 The circumstances of his journey are, however, of immense interest. In late May of 1597, Walther accompanied a Polish diplomatic retinue led by Stanislas Golski, on a magna legatio to the Sublime Porte of the Ottoman Empire in Constantinople. We are presently unaware in which capacity Walther was attached to the legation; he may have been a physician to the group, or he may have been a pilgrim utilising the diplomatic unit for protection while travelling in Ottoman territories. The aim of the mission was straightforward: the Poles intended to secure territorial concessions for the Polish-Lithuanian Commonwealth in the disputed territory of Moldavia.23 Although partially divided between Polish and Turkish rulers, the majority of the disputed territory was then under the control of the infamous Wallachian voivode, Michael the Brave (1558–1601). Golski’s legation stayed in Michael’s court in Targoviste for several months, during which time Walther gathered materials for a biographical account of the voivode, a celebrated and influential Brevis et vera descriptio of Michael’s life and deeds, which was ultimately printed upon Walther’s return in Görlitz in 1599 (see fig. 2). In early August, the retinue departed for Constantinople, where it remained in negotiation with the Ottoman authorities until November 1597.24 Concerning his further movements, Walther states only the following in the dedication to his book on Michael the Brave: Before I undertook some further wanderings abroad I sent a copy of my translation [of documents concerning Michael] from the Porte of Sultan Mehemet III in manuscript form (because no printers are anywhere to be found in any of the territories under Ottoman tyranny) by way of friends who were returning home by that route through Moldavia along with His Excellency, the Polish Ambassador Stanislas Golski.25
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Johann Angelius Werdenhagen: Ψυχολογια vera I. B. T. XL Quæstionibus explicata, et rerum publicarum vero regimini: ac earum Maiestatico iuri applicata. Amsterdam 1632, 63 f.: »Ipse [Walther] mihi retulit, quod in hoc conatu integrum sexennium in Ægypto, Arabia, & illis vicinis terris confecisset.« This account was repeated by Franckenberg in his Bericht (not. 21), 15. Ilie Corfus: Mihai Viteazul si Polonii. Cu documente inedite in anexe. Bucharest 1938, 30–35; Ilie Corfus: Michel le Brave et la Pologne. In: Revue Roumain d’Histoire 3 (1975), 483–498, at 491. The presence and activities of the Polish legation in Constantinople are referred to by Edward Barton (c.1533–1598), the English Ambassador to the Ottoman Porte, in several letters to England. See Anna Kalinowska: Dzialalnosc Ambasadora Angielskiego w Konstantynopolu Edwarda Bartona a Stosunki Polsko-Tureckie (1589–1597). In: Przeglad Historyczny 94/3 (2003), 251–268. Walther reports that he saw an important Ottoman politician at Barton’s Constantinople residence, see Walther: Brevis et vera descriptio (not. 24), 5: »[…] prout eundem una cum socio vel competitore in Oratoris Anglorum palatio vidimus.« Walther: Brevis et vera descriptio (not. 25), sig. A2v: »Ante ulteriorem peregrinationem per amicos, cum illustrissimo Polonorum legato Domino Stanislao Golscio, Castellano Haliciensi, Capitaneo Barensi, Patrono observandissimo, isthac per Moldaviam in patriam revertentes, in scriptis (quod universa tyrannis Osmannica typis careat) ex Sultani Mehemetis III Porta transmittebam.«
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But where precisely did these »further wanderings« lead Walther? From the elaborate gifts he offered to Scultetus upon his return to Görlitz in 1599, we know that Walther visited Greece, Cyprus, Damascus, Jerusalem, and the deserts of Jordan: On 19 August 1599 Balthasar Walther visited his mother-in-law’s bath house garden and laid out the items he had collected since 1597 when he journeyed outwards (ausgewandert) from Poland through Walachia, Greece, Asia, Syria, Egypt and the Mediterranean.26
It remains in question as to what Walther’s motivation and intentions were upon his travels. Was he engaged on a simple pilgrimage to Jerusalem, or was he actively seeking rare magical, kabbalistic and scientific works there? According to his young friends Werdenhagen and Franckenberg, it was the latter option that motivated him. Yet there is no evidence to suggest Walther knew Hebrew or Arabic, so we don’t know how effective any such quest for the magical wisdom of the Orient would have been. Equally, there appears to exist no textual evidence of Walther securing tracts upon his journey: if he had carried back something more than the typical trappings of a pilgrimage, these would likely have found mention by Scultetus in his diary.
New Directions Following his return to Europe, Walther, now in his early forties, embarked upon a period of his life which he later attempted to suppress. Indeed, in describing his adventures to his young friend and biographer Werdenhagen, he remarked that after his Orientreise, he had simply returned to Silesia, where after he encountered Böhme.27 But Walther was here attempting to suppress knowledge of his relationship with one of Boehme’s bitterest opponents; the antinomian chiliast from Langensalza in Thuringia, Esajas Stiefel (1561–1627).28 Stiefel’s name, along with that of his nephew Ezechiel Meth, is one known to all who have dipped into Böhme’s corpus, for Böhme wrote two refutations of Stiefel’s doctrines. But in many 26
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Jecht, Die Lebensumstände Jakob Böhmes (not. 4), 63: »Aug. 19 [1599] Balthasar Walther, so seither An. 1597 von Polen aus durch die Walachei, Graecium Asiam Syriam Aegyptum und per mare medit gewandert, in der Schwiegermutter Badegärtlein kommen und seine mitgebrachten Sachen ausgelegt. Ich habe empfangen ein gemein Kreuz vom Oelbaum [mit eingelegten Heiligtum geschnitzt], zwei Paternoster, eines de terra Adami bei Damasco schwarz, das andre von Oelbaumholz ex monte Oliveti, Johannisbrot ex deserto Bethabarae, 4. Samen der Baumwolle aus der Insel Cypern.« Werdenhagen, Ψυχολογια vera (not. 22), 64: »Verum quùm nec ita obtinuisset votum, rediit in Patriam Silesiam, ubi tunc offendit Theosophum nostrum in magna simplicitate domi suæ quidem, sed non sine persecutione viventem.« On Stiefel see Gottfried Arnold: Fortsetzung und Erläuterung […] der unpartheyischen Kirchen- und Ketzer-Historie […]. Frankfurt a. M. 21729, 32–52; Paul Meder: Der Schwärmer Esajas Stiefel. Ein kulturgeschichtliches Bild aus Erfurts alter Zeit. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 20 (1899), 93–128; Ulman Weiß: Die Lebenswelten des Esajas Stiefel, oder vom Umgang mit Dissidenten. Stuttgart 2007.
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Fig. 2:29 Balthasar Walther: Brevis et vera descriptio rerum ab illustrissimo, amplissimo et fortissimo militiae contra patriae suae Reique Publicae Christianae hostes Duce, ac Domino Domino Ion Michaële, Moldaviae Transalpinae sive Walachiae Palatino gestarum […]. Görlitz 1599, Title page. Courtesy of Imaging Services, Harvard College Library.
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Balthasar Walther: Brevis et vera descriptio rerum ab illustrissimo, amplissimo et fortissimo militiae contra patriae suae Reique Publicae Christianae hostes Duce, ac Domino Domino Ion Michaële, Moldaviae Transalpinae sive Walachiae Palatino gestarum […]. Görlitz 1599. The text was dedicated to Scultetus and Sebastian Hoffmann, a brother in law of the Schwenkfelder noble and later a supporter of Böhme, Michael von Ender. On this see Heinrich Kramm: Studien über die Oberschichten der mitteldeutschen Städte im 16. Jahrhundert: Sachsen, Thüringen, Anhalt. Wien 1981, 520; Johannes Trillmich: Sebastian Hoffmann, ein Görlitzer Bürgermeister um 1600. In: Neues Lausitzisches Magazin 90 (1914), 1–30. This work has been translated several times into Romanian, and has indeed secured Walther an honoured place in the historiography of that country. See Dan Simonescu: Cronica lui Baltasar Walther despre Mihai Viteazul în raport cu cronicile interne contemporane. In: Studii şi materiale de istorie medie 3 (1959), 7–99. A bibliography of the various Latin and Romanian editions of Walther’s Brevis et vera descriptio may be found in Penman: Art: Walther, Balthasar (not. 1).
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ways, both men were flipsides of the same coin. Confronted with similar social, religious and metaphysical crises, Stiefel, like Boehme, attempted to answer questions regarding the nature of the human soul, as well as the Menschwerdung Christi, albeit in dramatically different ways. For Stiefel, if a person fully absorbed Christ and his teachings he then himself became, in essence, like Christ. It was an idea that Walther evidently found intoxicating, at least initially, but one that Böhme, of course, rejected. As the philosopher wrote some years later in 1622, »one must at all times distinguish the human from the Godly, and human will from the will of God.«30 It was a lesson Walther would eventually heed, but only several years after he met Böhme and intensely studied the philosopher’s works. Between 1609 and 1621, Walther regularly visited Stiefel at his houses outside Erfurt in Thuringia. He periodically communicated money to the prophet, and spread his name far and wide, such as in the Schwenkfelder communities in and around Straßburg. Walther’s intellectual interests were also evidently expanding during this time, beyond his early appreciation of magical and Paracelsian literature. He continued to collect various occult works and works of heterodox religiousity, such as a Clavis philosophiae attributed to Valentin Weigel, which, as Carlos Gilly has pointed out, he passed on to other followers of Böhme.31 Yet Stiefel’s circle itself provided Walther with important connections, perhaps foremost among them the Torgau chiliast, alchemist and astrologer Paul Nagel (†1624), a figure to whom I shall later return (see fig. 3).32 It would not be until 1617 Böhme first came to Walther’s attention, perhaps through the Schwenkfelder nobleman Karl von Ender (c.1568–1624), or other mutual friends in Görlitz.33 Böhme first mentioned Walther in a letter to Ender dated 18 January 1618, indicating that Walther had sent him forty questions concerning the soul to answer.34 Obviously impressed with Walther’s gravitas, and perhaps also seduced by his magical wisdom and tales of travel in the Orient, 30 31
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Jacob Böhme: Anti-Stifelius II. In: SS, Bd. V, 199–346, at 224. Leipzig UB, Ms. Rep. 106 IV I, fol. 29v-34v, »Clavis Philosophiae, Schlüssel oder Zugang zur Himmlischen undt Irrdischen Weißheit.« Weigel’s authorship of this text was confirmed by Carlos Gilly: Wege der Verbreitung von Jacob Böhmes Schriften in Deutschland und den Niederlanden. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007, 413. Leipzig UB, Ms 0 356, contains letters from Nagel, Esajas Stiefel, Ezechiel Meth, Paul Felgenhauer, Johann Rehefeldt and others which shed considerable light upon the movements of actors on the fringe of Böhme’s circle. On Nagel see Leigh T. I. Penman: Climbing Jacob’s Ladder. Crisis, Chiliasm and Transcendence in the Thought of Paul Nagel (†1624), a Lutheran Dissident during the Time of the Thirty Years’ War. In: Intellectual History Review 20/2 (2010), 201–226; Joachim Telle: Art. »Nagel, Paul«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, hier: Bd. 8, 493–495. For the role of Ender, see Will-Erich Peuckert: Das Leben Jakob Böhmes. In: SS, Bd. X, 127 f. Paul Nagel dedicated a Prognosticon astrologicum: Das ist, Natürlich, gründliche Weissagung aus Krafft, Wirckung und geheimer Bedeutung des gestirnten Himmels […] aus rechten Grunde der warhafftigen Astronomiae auffs Jahr MDCXXI. Goßlar [1620], to Ender and another Böhme supporter, Kaspar von Fürstenau. Jacob Böhme: Epistolae Theosophicae. In: SS, Bd. IX, 1.17.
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Böhme intended to answer these queries in the form of a short tractate, and thereby win Walther to his cause. The forty questions were probably representative of the fundamental metaphysical problems which defined Walther’s character during this period; a complex of questions sparked by roaring contemporary debates on piety, devotion, and the nature of true Christianity. What can I do to ensure my salvation? How can I transcend the turmoil of the physical world? What is the nature of the true psychology? Probably, Walther posed similar queries to Stiefel, and perhaps to yet others.35 Ultimately, Böhme would struggle with the task of answering Walther’s questions for almost four years. In the meantime, however, it appears that the two men encountered each other regularly. It was probably during these meetings that, as famously related by von Franckenberg, Walther castigated Böhme for the cobbler’s lack of respect for rituals of custom and diet, a disagreement which led Böhme to label Walther as »Mosaisch« and »Hartmännisch«.36
Fig. 3: Paul Nagel, from the title page of his Prognosticon astrologicum (1619). Courtesy of Imaging Services, Harvard College Library.
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Ibid. Abraham von Franckenberg, Bericht […] (not. 21), 15: »[Walther war] in seiner Diæt und allem Thun sehr strenge, und wie J. B. meldete, gar Mosaisch und Hartmännisch gehalten, auch nicht wol vermercket, daß Jacob Böhm hingegen mehr frey- und sanftmüthig oder indifferent, und ohne eigenwehligen Aufsatz gewesen.«
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Nevertheless, despite their differences, and the fact that Böhme had not yet provided any answers to his forty questions, Walther’s admiration for Böhme’s philosophy was growing. Already in 1617, he had won Christian Bernhard of Sagan to Böhme’s theosophy, just as he would later convert the Liegnitz physician Friedrich Krause; both of whom would become significant figures in the distribution of Böhme’s works.37 Walther’s enthusiasm for Böhme’s ideas was indeed so great, that in a letter dated 7 June 1620, Böhme warned him »not to commit my writings into the hands of every one, for they belong not to every one«38, and entreated Walther to, wherever possible, conceal his name. It was probably on account of Böhme’s warning, and not as a rapt celebration of the philosopher’s unique insights, that Walther began referring to Böhme under the codename philosophus teutonicus.39 Philosophical pursuits aside, Walther also enjoyed a run of employment during this period. From mid 1619 until early May of 1620, and perhaps again intermittently thereafter, Walther was employed in the Dresden laboratories of Johann Georg I, Prince-Elector of Saxony, preparing medicaments under the directions of the Elector’s personal physician.40 Following a brief break spent largely in Leipzig41 and Görlitz,42 Walther received another appointment, this time at the tiny court of August von Anhalt-Plötzkau (1575–1653), a figure of central significance to the early propagation of the Rosicrucian manifestos, during the winter and spring of 1620–21.43 Yet as Walther worked away in Plötzkau, drama was unfolding elsewhere. Someone had communicated several of Stiefel’s writings to Böhme, asking for the theosopher’s opinion.44 By 28 April 1621, Böhme’s friendly but firm critique of Stiefel’s philosophy, which indeed recognised the antinomian as a kind of kindred spirit – just as Walther evidently saw him – was complete. For Walther, who must 37
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Böhme, Epistolae Theosophicae (not. 34), Bd. IX, 26.2 (to Bernhard, 7 June 1620); 30.6 (to Krause, 17 July 1622). Walther probably met Krause through Nagel’s circle, for Krause is mentioned several times in their correspondence before his conversion to Böhme’s philosophy. See Leipzig UB, Ms 0 356, fol. 19r (10 October 1620) u. 21r (21 October 1620). Jacob Böhme: Epistolae Theosophicae. In: SS, Bd. IX, 7.1: I have here used John Sparrow’s translation, from Jacob Böhme: The Way to Christ Discovered […]. London 1648, sigs. K2rK4v. Interestingly, in the correspondence of Paul Nagel, Böhme is referred to only as »teutonicus«, indicating that Walther, and Nagel, took heed of Böhme’s words. See Erich Worbs: Balthasar Walther. Ein Porträt aus dem schlesischen Frühbarock. In: Schlesien 11 (1966), 11, 13, who cites a document in the Dresden Hauptstaatsarchiv, Loc. 32 668. I have been unable to see this document while preparing the present article. Leipzig UB, Ms 0 356, fol. 21r-v. Nagel to Kerner, 19 Oct. 1620, mentions that mail for Walther could be deposited at an address on Nicolai Straße in Leipzig. Jacob Böhme: Ungedruckte Sendbriefe. In: Jacob Böhme. Urschriften. Hrsg. v. Werner Buddecke. 2 Bde. Stuttgart 1966, 2. Tl., 404 (Sendbriefe IV, perhaps to Christian Bernhard, dating from ›Frühjahr 1620‹). Böhme, Epistolae Theosophicae, Bd. IX, 12.76; Concerning August, see J. Chr. Beckmann: Historie des Fürstenthums Anhalt. Zerbst 1710; Carlos Gilly: Adam Haslmayr. Der erste Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer. Amsterdam 1994, 118–133. Will-Erich Peuckert: Einleitung. In: SS, Bd. V, 10 suggests that Walther himself was responsible.
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have read this tract with growing sensation of torn loyalty, the situation would only become more uncomfortable. From Plötzkau, Walther headed directly to the court of the count of Gleichen in Ohrdruf. While there can be little doubt that Count Johann Ludwig welcomed Walther’s services and medical expertise enthusiastically – not only because as a youth he also desired to travel to the Holy Land45 – Walther’s appointment undoubtedly owed more to the influence of the countess Erdmuth Juliane (1587–1633). An early convert to Stiefel’s teachings, a friend of the pedagogue Wolfgang Ratke, and a collector of Rosicrucian and magical books, before Walther’s arrival she had already installed Ezechiel Meth as court alchemist and appointed Stiefel himself as manager of her Erfurt residence.46 Given Stiefel’s ever-more exacting demands of loyalty and Walther’s growing enthusiasm for Böhme’s work, the relationship disintegrated rapidly in such close quarters. Shortly after July 1621, prompted by Böhme’s critiques and the newfound opposition of his friend Paul Nagel to Stiefel’s ideas, Walther attempted to personally convert Stiefel to Böhme’s theosophy. Stiefel, perhaps understandably, exploded in a rage, and forbade Walther to consult such material in the future.47 By October of 1621, as Nagel reports, Walther’s break with Stiefel’s increasingly-strained and ever-expanding messianic doctrines was complete. Walther even went so far as to author a Latin tract directed against his former spiritual mentor. Although the text no longer survives, it represents Walther’s decisive break with Stiefel’s sect, and the beginning of an invigorated evangelical campaign on Böhme’s behalf throughout the Holy Roman Empire.48
Final Movements Having quitted the Gleichen court, Walther headed north. By February 1622, he was in Lüneburg, where he apparently remained until the Easter of 1623.49 It was there that he must have made the acquaintance of Leonhard Elver (1564– 1631) a friend of Joachim Jungius,50 who would become an influential member 45 46 47
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Caspar Sagittarius: Gründliche und ausführliche Historia der Grafschafft Gleichen […]. Frankfurt a. M. 1732, 453. Erfurt, Bibliothek des Evangelischen Ministeriums, Ms 83, fol. 440r-v. (Zacharias Hogel: Chroniken von der Stadt Erfurt, 320–1628). Leipzig UB, Ms. 0 356, fol. 32r. Nagel to Kerner, 30 June 1621: »Undt ist darzu kommen, dz Herr Balth: Walther Gräff Leibmedicus, des Jacob Böhmes schrifften H. Stifelio gezeiget, solche approbiret undt gelobet, drübe Stiefel: hefftige erzündert und H. Bal: Wal: davon abgewahret.« Ibid., fol. 36r. Nagel to Kerner, 30 September 1621. Neither the tract nor its true title has yet been located. The text in question is also mentioned by Johann Rehefeldt in a letter to Kerner dated 5 March 1622 (fol. 43r). Böhme, Epistolae Theosophicae, Bd. IX, 22.7. »Herr Balthasar Walther hat mir aus Lüneburg, alda er sich ietzo aufenthält, geschrieben und anbefohlen, den Juncker zu salutiren.« Donald R. Dickson: The Tessera of Antilia. Utopian Brotherhoods and Secret Societies in the Early Seventeenth Century. Leiden 1998, 91.
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of Böhme’s wider circle. By 10 May 1622, for example, Paul Nagel had already dedicated one of his major works, the Astronomiae Nagelianae to Elver.51 Supplied by scribes with additional copies of Böhme’s works to distribute, while in Lüneburg Walther was apparently occupied almost full-time with spreading the cobbler’s philosophy. Böhme additionally indicates in several letters that Walther, along with Nagel, were garnering interest for his writings at the Leipzig book fair and indeed throughout Saxony.52 Walther would also visit Lübeck on occasion, where he made the acquaintance of Joachim Morsius (1593–c.1643), another important figure in Böhme’s reception.53 Like many other luminaries of his time, Walther left an elaborate and fascinating message in Morsius’s Album Amicorum, which warrants further attention.54 Recorded on the feast day of the Three Kings or of the Epiphany (6 January), Walther’s poetic entry appears to make reference to Böhme’s philosophy of human perfectionism, especially in the lines concerning becoming »a new citizen in the seed of Christ«. It also plays, once more, into Walther’s practice of selfpresentation as an adept who has endured unimagined hardships in pursuit of piety and esoteric wisdom: IN DIEM MAGORUM WAL[T]HERO NATAL[I] Anno 1623 B.[W.?] Lux iterum genialis adest, in Luce Magorum Quâ sacra, caussa novi Nominis, Unda fuit55 Ergo tot ærumnis tanto discrimine rerum Quod fragilem servas; gratia Christe tibi. Amplius oro; novum veteremque remitte reatum Vivifico lotus sanguine tingar ego. Spiritus irradiet tenebras: Sapientia lustret; Detque tuam custos Angelus ire viam Mole ruinosæ carnis vitæque solutus, Dum novus in Christi germine civis ero. Ille Dies verè genialis & integer ævi: Lumine quo potiar fulgidiore Dei. O miser hâc; illâ quam fiam Luce beatus: Quâ desiderio fata fidesque favent.56
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Paul Nagel: Astronomiae Nagelianae fundamentum verum […]. [Halle] 1622. Nagel also reveals more information concerning the circumstances of the dedication in a letter to Arnold Kerner, 22 September 1622. (Leipzig UB, Ms 0 356, 64r.) See especially Böhme, Epistolae Theosophicae, Bd. IX, 71.4 f. See also Heinrich Schneider: Joachim Morsius und sein Kreis. Zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts. Lübeck 1929, 36–44. Lübeck StB, MS. hist. 25,4°, 826–827. This obscure reference may be the result of Walther’s contact with Eastern Orthodox tradition, which celebrates the feast of the circumcision and naming of Christ (celebrated on 1 January in western Christendom) with the feast of the epiphany (6 January), in which case the »wave« of blood from the circumcision is the cause of »the new name.« A concluding notice, in Morsius’s hand, states »Balth. Waltheri Silesij, Equitis Hierosolÿmitani amicißimi manus.« I thank Grantley McDonald for the translation.
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Walther, on the feast day of the Three Kings/ [6 January] 1623 B. W./ Once more the genial day is here, on the day of the Magi,/ On which feast occurred a sacred wave, the cause of a new name./ Thanks then to you, o Christ, that you preserve one [made] so fragile/ By so many miseries, by so many vicissitudes of fate./ And I pray one thing more: forgive my sins, both old and new,/ And I shall be washed in the life-giving blood./ Let the Spirit illumine the darkness, and may wisdom sweep over it,/ And may my guardian angel grant me to travel your path,/ Free from the mass of ruinous flesh and life/ Until I am a new citizen in the seed of Christ./ That day will be truly genial and the consummation of the age,/ When I shall drink of the brighter light of God./ O, as I am wretched in that light, just so I will be blessed in that light,/ When fate and faith gratify my desire.
The reverse of the page features an additional poem in a different meter by Walther, recorded in Morsius’s hand, perhaps at a later date.57 Walther, now approaching seventy years of age, armed with freshly prepared copies of Böhme’s writings, clearly made a dramatic impression on Morsius. One text from the aforementioned Lübeck manuscript – which evidently passed into Morsius’s possession following Walther’s death – an account of the creation of a transmutation supposedly reproduced from strange figures on the pommel of Paracelsus’s sword, was printed in Morsius’s Magische Propheceyung Aureoli Philippi Theophrasti Paracelsi (1625),58 under the title Mysterium Lapidis Philosophorum, ex MS codice Balthasaris Waltheri Silesij.59 Morsius there praised Walther as his »amicus carissimus.«60 The publication also featured two short poetic pieces, signed with the initials »B. W.«, which were undoubtedly composed by Walther himself.61 Yet if Walther was considered by his friends and colleagues as a master of occult studies, he also remained an active student, always striving to uncover and understand the abstruse depths and byways of Böhme’s philosophy. One of the last works he received from the cobbler was a short tract entitled Principia sind der geoffenbarte Gott, oder das ausgesprochene Wort, completed by Böhme in March of 1624. A copy of this text, in Walther’s hand, may be found in the Biblioteka Uniwersytecka in Breslau. Comprising a simplified explanation of some of Böhme’s idiosyncratic terms and concepts, a letter by Böhme to Joachim Morsius of 20 April 1624 makes clear that he authored the work according to the request of Walther, El-
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»Non plumis ratio suis beatæ/ ad culmen sapientiæ volabit:/ Mens in mirifico renita Christi/ Ihsüh sanguine, culmen hoc adorat./ O quaternio, Trinitas, Monasque,/ Vniter radio Colenda mentis./ Balthazar Waltherus Eques Hierosolÿm. f[ecit]«. This may be rendered as: Reason will fly to the summit of blessed reason,/ But not under the power of its own wings./ The mind, relying on the miracle-working blood of Christ/ Adores this summit./ O Trinity and Monad, to be worshipped in unity/ By the fourfold ray of the mind/ Balthazar Walther Knight of Jerusalem wrote this. I thank Grantley McDonald for the translation. Anastasius Philaretus Cosmopolita [Joachim Morsius]: Magische Propheceyung Aureoli Philippi Theophrasti Paracelsi, von Entdeckung seiner 3. Schätzen […]. No Place 1625. Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, Signatur N–A 841. Ibid., fol. B1r–B1v. This comment conclusively demonstrates that Lübeck StB, Ms. math. 4˚ 9 was once in the possession of Morsius, as has long been suspected. Ibid., fol. B1r. The fragments may be found in Ibid., fol. B4r u. B4v, respectively.
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ver, and Morsius himself.62 Whether this was for the benefit of the three gentlemen themselves, or as a tool for reaching yet more sympathisers, remains unknown. Although in the Spring of 1624 we find Walther attending the Leipzig book fair in order to distribute Böhme’s works, it becomes increasingly difficult to trace Walther’s movements following Böhme’s own death in November of the same year. One person with whom he certainly had contact, however, was the aforementioned Werdenhagen.63 A former philosophy professor at Helmstedt, sometime member of the Lüneburg town council and a possessor of extensive connections to crypto-heterodox networks in the United Provinces and the Holy Roman Empire, it was Werdenhagen who in 1632 printed a Latin translation and political instrumentalisation of Böhme’s Vierzig Fragen von der Seelen under the title Ψυχολογια vera.64 In the lengthy introduction to this tract, Werdenhagen made it clear that Walther had met with him on several occasions in Lüneburg to discuss and analyse Böhme’s responses to his forty questions, events which ultimately inspired Werdenhagen to set the book in print.65 But Walther himself would not long outlive Böhme, although the exact date of his death is, like his life, shrouded in some mystery. Franckenberg tells us, in an account authored in 1651, that Walther died in Paris, although he did not specify a date. In the 1920s, the French philosopher Alexander Koyré asserted that Walther »est mort en 1625 à Paris.«66 This claim, however, cannot possibly be true: a letter of October 1626 from the Erfurt physician Johann Rehefeldt to Arnold Kerner in Leipzig – members both of Esajas Stiefel’s further network – demonstrates that Walther was alive and well at this time.67 Another possible date was communicated by Georg Rudolf, Duke of Breslau, to August of Anhalt-Plötzkau, in a letter dated 9 March 1652. There, Rudolf reported simply that »Walterus ist todt.«68 62
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Breslau, Biblioteka Uniwersytecka, AKC 1975/263, fol. 33r-51v. The text in question was reprinted in SS, Bd. IX, 111–116. Böhme refers to the circumstances surrounding the composition of this tract in a letter to Morsius of 20 April 1624: »Was aber anlanget den Grund der hohen natürlichen Geheimnissen, dessen der Herr um mehrer Erläuterung nebenst Herrn Waltern und Herrn Leonhard Elvern begehret, wolle er bey Herrn Waltern darum nachfragen: Dann ich habe euch und ihm eine Erklärung, nebenst andern neuen Schriften mitgeschicket; so euch dieselben belieben, so könnet ihr sie lassen nachschreiben, ihr werdet gar grosse Erkentniß darinnen finden.« See Böhme, Epistolae Theosophicae, Bd. IX, 55.11. On Werdenhagen, see Horst Dreitzel: Johann Angelius von Werdenhagen. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. IV: Das heilige Römische Reich, deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Helmut Holzhey. 2 Bde. Basel 2001, Bd. 1, S. 689–693. Werdenhagen, Ψυχολογια vera (not. 22). On this edition, see Werner Buddecke: Die Jakob Böhme-Ausgaben. 2. Tl.: Die Übersetzungen. Göttingen 1957, 1–4. The dedication was dated at Leiden, 16 December 1631. Werdenhagen, Ψυχολογια vera (not. 22), sigs. C5r–C5v: »Interim tamen nobis solamen non leve attulit collegium illud Lunæburgicum, quod piæ conversationi destinabamus cotidiè quum nobiscum esset D. Balthasar Waltherus, cui 40. Quæstiones hujus libelli de Anime natura debentur.« Alexandre Koyré: La Philosophie de Jacob Boehme. Paris 31979, 49. Leipzig UB, MS 0 356, fol. 91r. Johann Rehefeld to Arnold Kerner, 4 October 1626. Oranienbaum AHStA, Abt. Köthen, A 17a, Nr. 50, fol. 282v.
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While this may indicate, as Carlos Gilly has suggested, that Walther died around 1650, I personally believe that Walther was already dead sometime before the end of 1631. For, in the introduction to the Ψυχολογια vera, its dedicatory epistle signed on 16 December 1631, Johann Angelius Werdenhagen reported that his ›summus amicus‹ Balthasar Walther was already dead.69
Aftermath Following his death, Walther was subject to a reception history of his own which, although far less diverse than that of Böhme, is not without its own highlights – the Kabinettscheibe secured by Ludwig Feyerabend for the people of Görlitz in 1912 being only a very late, although interesting, manifestation. Specific aspects of this reception, such as the popularity of the story of Walther’s travels in search of wisdom, were probably perpetuated by Walther himself, who in his later years may not have been averse to exaggerating his earlier achievements. If this is the case, then the Kabinettscheibe of St Christopher could indeed have been an authentic relic from Böhme’s inner circle, and an appropriate emblem indeed for Walther’s life, both as it was lived, and later imagined. During the 1630s and again in the 1650s, Walther was feted by his youthful disciples Werdenhagen and Franckenberg as a learned, experienced and disciplined theosopher and expert in Oriental magic and kabbalah, who had spent six long years in the Orient, scouring foreign lands for magical wisdom. Walther’s reputation as a master of esoteric arts was further buttressed later that same decade, when he was accused by Gottfried Richter, editor of the Torun edition of Böhme’s works, of injecting kabbalistic ideas into the eighteenth chapter of Böhme’s otherwise pious Mysterium Magnum (1624). There, Böhme had written of Exodus 34:29 that Moses had not received two tablets of stone from God atop Mt. Sinai, but instead a second covenant »written upon a globe (Kugel).«70 Of this troubling statement, Richter wrote: What the author [Böhme] here states appears to contradict the clear text of Moses (Exodus 34:1, Deuteronomy 10:1 and 1st Kings 8:9), which expressly speak of stone tablets. This may be explained thusly: the thoughts of Jacob Böhme of blessed memory concerning the two globes [sic! Böhme only mentioned one] upon which the law was recorded derived from a conversation with Dr. Balthasar Walther, who read it in Reuchlin, and lived with Böhme for an entire quarter-year.71 69 70 71
Werdenhagen, Ψυχολογια vera (not. 22), 63. SS, Bd. VII, 121; »[G]leichwie Moses die Tafeln zerbrach, und Gott Mose eine andere Schrift auf eine Kugel gab.« This statement was reprinted in Anon: Mehrere Merckwürdigkeiten von J. Böhmens Wohnung und Begräbniß; von seiner Person und Beruff: nebst umständischer Wiederholung aller seiner Schriften. In: SS, Bd. X, 91: »Es findet sich in den Collectaneis des jüngern Richters eine dienliche Anmerkung/ so in dieses Buch Myst. Mag. gehört/ und zwar zum 19. Cap. § 20 [sic! the reference should be to Chapter 18 § 20] der letzten Zeilen wo Autor schreibet: Wie Gott Mose eine andere Schrifft auf eine Kugel gab. Dabey besagter Collector folgends
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Richter may indeed have been right: such a globe is mentioned in Reuchlin’s De arte Cabalistica, where he writes that »the kabbalists believe that God first recorded his covenant (legem) onto a fiery globe, applying dark fire to white fire.«72 Given Walther’s demonstrated esoteric interests through the Lübeck and Breslau manuscripts, it would be unusual indeed if he did not also know Reuchlin. In the 1690s, Walther’s reputation would be subjected to what was almost certainly its strangest instrumentalisation, when the Hamburg Orientalist and Lutheran pastor Abraham Hinckelmann (1652–1695), in a letter to a friend, claimed to be Walther’s grandson, and insisted that Böhme »did not write a single line« of the works attributed to him, which were rather authored by Walther himself. In this peculiar example of the construction of a personal mythology, Hinckelmann, who in fact was related to Walther through his paternal grandfather, was evidently trading on the physician’s reputation of being an expert in Oriental wisdom in order to advance his own ambitions as an Orientalist and philologist, while simultaneously disgracing Böhme’s legacy.73 Curiously, there is no concrete evidence that Walther knew any language outside German, Latin and Polish. The notion that Walther was somehow responsible for Böhme’s works, was in part a recognition of his reputation as a master of occult wisdom, as well as a bizarre refraction of his contribution to Böhme’s Vierzig Fragen. In any event, rumour of Walther’s expertise would only grow. It would come to widespread attention in the eighteenth century, when Zedler’s influential Universal-Lexicon featured an article which considered the idea that Walther, if he did not indeed write the works attributed to Böhme, then at least closely edited them, adding and subtracting passages from them at his whim: Böhme is said to have sent [Walther] his books, so that he might read through and improve them, for which reason some hold, that Walther had changed much of their content, striking out passages and adding new ones according to his whim, although this is a matter disputed by others.74
The surviving manuscript corpus of Böhme’s works in fact demonstrates that Walther made no such corrections or amendments to Böhme’s œuvre. Nonetheless, even if partially a product of an initial self-promotion, there can be no doubt that Walther earned his legendary reputation as a master of occult
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erinnert: Daß allhie, der Autor scheinet wider den klaren Text Mosis, Exod 34:1, Deut 10:1, 1 Reg 8:9 zu schreiben/ der von steinern Taffeln expresse schreibet/ damit verhält sichs also: des sel. Jacob Bœhmens Teut. Meinnung von den 2. Kugeln/ darauf das Gesetz geschrieben/ rühret her aus mündlicher Conversation mit Dr. Balthasar Walthern, der es beym Reuchlino gelesen/ und ein ganz viertel Jahr beym J. B. gewohnet.« Johannes Reuchlin: De arte cabalistica. Hagenau 1517, sig. lxiiiv. See Peter Dahlmann: Schauplatz der Masquirten und Demasquirten Gelehrten. Leipzig 1710, 308–314. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollstandiges Universal-Lexicon, 64 vols., Leipzig 1732– 1750, LII, 1828: »[S]oll ihm [d. h. Walther] Böhme seine Bücher zugeschickt haben, daß er sie durchgehen und ausbessern möchte, weswegen auch einige dafür halten, er habe nach eigenem Gefallen vieles darinne geändert, ausgestrichen und hinzugethan, welches aber andere verneinen.«
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wisdom. With the discovery in Lübeck of magical – and in Breslau of Paracelsian – manuscripts in Walther’s own hand, we can finally confirm his magical and kabbalistic interests, proof that in the past has proved elusive.75 The content of these manuscripts also provide important roadsigns for those seeking to further identify and research the influences and sources of Böhme’s theosophy. But while there may be some debate, and much work to be done concerning Walther’s influence on the Entstehungsgeschichte of Böhme’s philosophy, I would like to conclude with a concrete example of the significance of Walther to Böhme’s Rezeptionsgeschichte. Walther’s activities as a promoter of Böhme’s works – in France, Greece, Italy, the United Provinces and throughout the Holy Roman Empire – are well known. But additionally, Walther directly influenced the first ever appearance of any of Böhme’s corpus in print. This was not, however, as part of the scheme to publish Böhme’s Der Weg zu Christo in Görlitz in 1624.76 Rather, it was in his provision of a manuscript of Böhme’s first work, the Morgen Röte im Aufgang to his friend, the chiliast Paul Nagel, sometime in 1619 or 1620. Nagel, who spent several months laboriously copying the text, saw echoes of his own unique millenarian philosophy lurking within Böhme’s abstruse pronunciations. In the opening chapter of his Prodromus Astronomiae Apocalypticae (1620), Nagel therefore excerpted some thirty paragraphs of the twelfth chapter of Böhme’s Morgen Röte, concerning the three angelic kingdoms of Lucifer, Uriel and Michael.77 When the Königsberg pastor Philip Arnoldi replied to what he believed were Nagel’s »abscheuliche Gotteslasterungen« in the aptly named Anti-Nagelius of 1621, Walther had in fact unwittingly encouraged the first debate over Böhme’s ideas to appear in print.78
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John Schulitz: Böhme und die Kabbalah. Eine vergleichende Werkanalyse. Frankfurt a. M. 1993, 16: »Eine direkte Linie zwischen der Tradition der christlichen Kabbalah der humanistischen Periode und dem von der Böhme-Forschung weitgehend unbeachteten Kabbalisten und Arzt Dr. Balthasar Walther ist bis heute noch nicht erwiesen.« Jacob Böhme: Der Weg zu Christo. In zweyen Büchlein. […] Gestellet Durch einen Liebhaber Gottes/ und der recht gründigen warheit. [Görlitz] 1622 [i. e. 1624]. Paul Nagel: Prodromus astronomiae apocalypticae. Welcher uns fürstellet/ die gewisse warhafftige fundament der Weissagung […]. Danzig 1620, sigs. C1r–C3r. See Philipp Arnold: Antinagelius, Das ist: Gründlicher Beweiß/ Daß nach dieser Welt Zustande nicht ein tertium Seculum oder dritte irrdische Zeit […] zu hoffen sey […] Etzlichen vermeynten Argumenten/ welche M. Paulus Nagelius in seinen Calendern und Schrifften/ zu behauptung seines Schwarms/ daß Anno 1624. noch ein güldenes Seculum auff Erden solte angehen […] entgegen gesetzt. Königsberg 1621, 80–95; Leigh T. I. Penman: The First Appearance of Jacob Böhme’s Work in Print. In: Notes and Queries 255/3 (2010), 419–421; Leigh T. I. Penman: Repulsive Blasphemies. Paul Nagel’s Appropriation of Unprinted Works of Valentin Weigel and Jakob Böhme in his Prodromus astronomiae apocalypticae (1620). In: Daphnis 38 (2009), 599–622.
Jost Eickmeyer
Ein Politiker als Böhmist Johann Angelius Werdenhagen (1581–1652) und seine Psychologia Vera J[acobi] B[öhmii] T[eutonici] (1632) Unter den frühen deutschen Böhme-Anhängern des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts finden sich oftmals sozial randständige oder zumindest prekäre Gestalten: neben einer Reihe wandernder Scholaren wie Balthasar Walther z. B. exilierte Spiritualisten wie Friedrich Breckling, visionäre Quietisten wie das Ehepaar Petersen1 oder nomadisierende Quintomonarchisten wie Quirinus Kuhlmann, dessen Neu-begeisterter Böhme wohl die spektakulärste Aneignung des Görlitzer Schusters durch einen Barockdichter darstellt.2 Bevor man jedoch vorschnell aus diesem Befund den frühen Böhmismus als eine Erscheinung des »linken Flügels«, der Abseitigen oder Beziehungswahnsinnigen charakterisiert,3 sollte man ein weiteres Rezeptionszeugnis hinzunehmen, dessen Urheber sich so gar nicht zu dem gerade hypothetisch entworfenen Sozialprofil fügen will. Es handelt sich um die ΨΥΧΟΛΟΓΙΑ Vera, die 1632 anonym in Amsterdam erschien und deren Verfasser, Johannes Angelius Werdenhagen, immerhin ein von vielen Fürsten umworbener norddeutscher Diplomat, renommierter Hansehistoriker und zeitweise Professor in Helmstedt war. In der Forschung wird dieses Buch in aller Regel als Übersetzung eines Böhme-Textes behandelt, namentlich der Viertzig Fragen von der Seelen, ohne auf die spezifische Beschaffenheit und Komposition des Werkes oder die eventuell ablesbaren Intentionen und spezifischen Modifikationen seines Verfassers näher einzugehen. Bevor es nun in seiner Anlage, kritischen Ausrichtung und Argumentationsstruktur genauer betrachtet wird, scheint eine biographische Skizze des Autors angezeigt, zumindest im Hinblick auf die lebens- und bildungsgeschichtlichen Hintergründe, die man hinter diesem Beispiel einer frühen Böhme-Rezeption ausmachen kann. 1
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Zu den Genannten vgl. die Beiträge von Leigh Penman, Johann Anselm Steiger und Burkhard Dohm in vorliegendem Band. – Beizuziehen ist zur Abrundung des Bildes die zeitgenössische, von Michael Le Blon zusammengestellte Liste früher Böhme-Anhänger. Sie ist nun zugänglich in: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007 (Pimander 16), 451–456. Grundlegend nach wie vor: Sibylle Rusterholz: Jakob Böhme und Anhänger. In: Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hrsg. v. Helmut Holzhey u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Basel 2001, 61–142. Quirinus Kuhlmann: Der neubegeisterte Böhme. Hrsg. u. erl. von Jonathan Clark. 2 Tle. Stuttgart 1995 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 317/318). Zum ›Beziehungswahn‹ Kuhlmanns vgl. etwa Harald Haferlands Beitrag in diesem Band.
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1. Das intellektuelle Profil Werdenhagens bis 1632 Wer sich für die durch häufige Ortswechsel geprägten Lebensumstände Werdenhagens interessiert, ist neben Mollers Cimbria litterata und Gottfried Arnolds Unpartheiischer Kirchen- und Ketzerhistorie4 auf ältere Darstellungen wie Henkes Ausführungen zur Universität Helmstedt (1833), Zimmermanns ADB-Artikel von 1896 und eine mosaikartige biographische Skizze in den Geschichtsblättern für Stadt und Land Magdeburg von 1903 angewiesen.5 Einige wenige verstreute Briefe sowie Aussagen aus eigenen und fremden Werken können das Bild des Autors wenigstens reliefartig hervortreten lassen. 1581 in Helmstedt geboren, bezieht Werdenhagen sehr früh die Universität am Ort, wo er nicht nur den renommierten Humanisten Johannes Caselius (1533–1613) hörte,6 sondern auch noch den Primarius für Theologie Daniel Hofmann (1540–1611) erlebt haben dürfte, welcher mit seiner scharfen Trennung von philosophischer Erkenntnis und religiöser Wahrheit jenen ›Hoffmannschen Streit‹ auslöste, an dessen Ende er sich der lutherischen Orthodoxie, v. a. seinem Widersacher Cornelius Martini (1568– 1621) geschlagen geben musste und 1598 die Hochschule verließ.7 Werdenhagen zeigte sich jedenfalls während seiner kurzen Zeit als Professor Ethices dortselbst als Hofmannianer, wenn er sich scharf gegen die Philosophie des Aristoteles und 4
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Vgl. Gottfried Arnold: Unparteiysche Kirchen- und Ketzerhistorie […]. Schaffhausen: Hurter 1740, Bd. II, 405b–410a; Bd. III, 350b/351a. – Kaspar Heinrich Starck: Lubeca Lutherano-Evangelica, das ist der Kayserlichen/ Freyen/ und des Heil[igen] Römischen Reichs Hanse- und Handelsstadt Lübeck Kirchen-Historie. Hamburg 1724, 807–812. – Johann Moller: Cimbria Literata, Sive Scriptorum Ducatus Utriusque Slesvicenses et Holsatici, Qvibus et Alii Vicini Qvidam Accessentur, Historia Literata Tripartita. Havniæ: Orphanotrophium Regium 1744, Bd. 2, 966–970. Ernst Ludwig Theodor Henke: Georg Calixtus und seine Zeit. Bd. I: Die Universität Helmstädt im sechzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Kirchen- und Literär-Geschichte. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1833, hier: 246–252; Paul Zimmermann: Art. »Werdenhagen, Johann Angelius«. In: ADB 41 (1896), 759–762; F. Neubauer: J. A. Werdenhagen. In: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 38 (1903), 59–130. Der kurze biographische Abriss bei Alfred Voigt: Über die Politica generalis des Johann Angelius von Werdenhagen (Amsterdam 1632). Erlangen 1965 (Erlanger Forschungen, Reihe A, 17), 8–11, ist mittlerweile ergänzungsbedürftig. – Vgl. jetzt auch knapp zusammenfassend Jost Eickmeyer: Art. »Werdenhagen, Johann Angelius«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, hier: Bd. 12 (2011), 301b–304a. Zu Caselius vgl. jetzt den umfassenden Artikel von Raimund B. Sdzuj: Art. »Caselius, Johannes«. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenchaftliches Verfasserlexikon. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. Red.: Klaus Kipf. Berlin/New York 2011, hier: Bd. 1, 478–497. Ernst Schlee: Der Streit des Daniel Hofmann über das Verhältnis der Philosophie zur Theologie. Theilweise nach handschriftlichen Quellen. Diss. Marburg 1862; Johannes Wallmann: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, 52 u. 76; knapp auch Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550–1650. Berlin 1988, 156/157; Markus Friedrich: Die Grenzen der Vernunft: Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600. Göttingen 2004 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 69), 19–68.
Ein Politiker als Böhmist
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seiner ›gottlosen Nachkommenschaft‹, der »Thomistae, Scotistae, Albertistae et Moderni« wandte, vor allem aber gegen die »Rationisten« und »Ratiocinisten« unter seinen Zeitgenossen. Oder, um aus einer von mehreren Reden über den Verus Christianismus zu zitieren, die er zur Säkularfeier der Reformation 1617 hielt: »Spiritus eas [Doctrinas Christianismi] docet, non Aristoteles; gratia, non ratio; affectus, non syllogismus.«8 Aber noch schlägt sich Werdenhagen ab 1601 anscheinend ohne akademischen Abschluss als Privatlehrer in Helmstedt durch, bevor er ab 1606 als Hofmeister verschiedener junger Adliger auf Reisen geht, die ihn u. a. nach Jena, Altdorf,9 Tübingen, Straßburg und Heidelberg sowie für drei Jahre an die Universität Leipzig führen.10 Dort lernte er den umtriebigen Alchemomediziner Joachim Tancke (1557–1609) kennen, dessen europaweite Wirkung als Verfasser und Herausgeber paracelsistischer und chymiatrischer Schriften Udo Benzenhöfer, Joachim Telle und Wilhelm Kühlmann herausgearbeitet haben.11 Tanckes unverwüstlicher Paracelsismus, auf dessen Grundlage er nicht nur die »medicina Galeni«, sondern auch die »philosophia [v. a. Physica] Aristotelis« verwarf, dürfte bei Werdenhagen auf offene Ohren gestoßen sein. Zumindest setzte er dem Leipziger Mediziner ein Denkmal, indem er ihn in der hier in Rede stehenden Psychologia neben Paracelsus selbst, Valentin Weigel, Johann Arndt, Oswald Croll und anderen in die Reihe der wahrhaften Weisen in Christo stellt.12 Ja: Er verfasst sogar einen panegyrischen Nachruf, den er 1610 unter dem Titel Κωλύτης funeris, in memoriam Joachimi Tanckii in Altenburg drucken ließ und dem Freund und Briefpartner des Verstorbenen, dem Alchemiker und kaiserlichem Leibarzt Martin Ruland d. J. (1569–1611) dedizierte. Werdenhagen lobt dort den Freund nicht nur als einen der größten Ärzte und Alchemiker der Zeit, sondern erinnert auch an seine persönliche Begegnung mit
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Verus Christianismus, fundamenta religionis nostræ continens, octo orationibus secularibus in acad[emia] Iulia habitis explicatus, quum annus Lutheranus et Iuleius celebraretur. Magdeburg: Bezel 1618, 532. Neubauer (Anm. 5), 60, Anm. 2, weist auf die dort geschlossene Bekanntschaft mit Konrad Rittershusius hin. Dass beide im Briefkontakt standen, Werdenhagen auch ein Hochzeitscarmen für Ritterhausen drucken ließ, zeigt die Supellex Epistolica Uffenbachii et Wolfiorum. Hrsg. u. bearb. von Nilüfer Krüger. Hamburg 1978 (Katalog der Handschriften der Staats- u. Universitätsbibliothek Hamburg 8), Tl. 2, 852b u. 1091 (auch ebd., 1038a, einen Brief Simon Tolmanns an Werdenhagen verzeichnet). Vgl. Neubauer (Anm. 5), 60. Joachim Telle: Zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alchemia medica unter besonderer Berücksichtigung von Joachim Tanck. In: Humanismus und Medizin. Hrsg. v. Rudolf Schmitz. Weinheim 1984 (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 11), 139–157; Udo Benzenhöfer: Joachim Tancke (1557–1609). Leben und Werk eines Leipziger Paracelsisten. In: Paracelsus und Paracelsisten. Vorträge 1984/85. Hrsg. v. Sepp Domandl. Wien 1987 (Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 25), 9–81. – Weiteren Aufschluss zu Tancke und seiner Stellung unter Alchemikern und Paracelsisten der Zeit verspricht der dritte Band des Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Hrsg. und erl. v. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Bd. 3. Berlin/New York (im Druck), vgl. dort die Nr. 155–160. (Ich bedanke mich für den freundlichem Hinweis der Herausgeber.) Vgl. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 625.
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dem Arzt, der seine damaligen Schützlinge, Gottlob-Werner13 und Wolf-Gebhard von Warberg von einem schweren Fieber geheilt habe.14 1611 begann die eigentliche politische Karriere des Helmstedters, da ihn Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel und ab 1613 sein Sohn Friedrich Ulrich als Gesandten u. a. nach Straßburg, Dresden und Hamburg schickten. Friedrich Ulrich war es auch, der ihm 1616 den Ethik-Lehrstuhl verschaffte, bis ihn seine allzu nonkonformistischen Äußerungen, auch gegenüber dem immer noch amtierenden Martini, 1618 zum Verzicht auf die Professur und zum Umzug nach Magdeburg zwangen.15 Hier widerfuhr ihm knapp vier Jahre später Ähnliches, als er sich als Stadtsekretär, der sich inzwischen bei Auseinandersetzungen innerhalb der Hanse (v. a. mit Hamburg) verdient gemacht hatte,16 im ›Habitualstreit‹ auf die Seite der Opponenten, namentlich Andreas Cramers, seines Freundes Wencel Schilling und Johannes Schraders schlug. Aus den Todten/ Reinen vnd richtigen Theologen/ die sich vmb die Kirchen Christi sehr wol verdienet haben/ vnd fuer denen dieser Calumniant kein wort hette fuerbringen koennen/ zapffet er [Werdenhagen] insonderheit an den fuertrefflichen Theologum, Jacobum Andreæ, Schmidelinum […]. Vnter den lebendigen Theologis mus von gedachten Werdenhagen und Diffamanten/ mit den hoehesten injurien angegriffen werden/ der hochgelarte vnd von allen ehrliche Leuten hochgeehrte Theologus/ herr D[octor] Lucas Osiander, bey der Universitet Tybingen Professor, Cantzeler und Probst der Kirchen daselbst […].17
Mag es auch der in Wittenberg von der Magdeburger Pastorenschaft gedruckte Streitschrift Controversia Crameriana, aus der diese Passage entnommen ist, darum zu tun sein, die Gegner in möglichst schlechtem Licht erscheinen zu lassen, so können aus den polemischen Äußerungen doch Qualitäten der Position Werdenhagens extrapoliert werden, der sich offenkundig mit nicht gerade unbedeutenden Köpfen der Orthodoxie, v. a. des schwäbischen Luthertums aus13 14
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Bei Neubauer (Anm. 5), 61, fälschlich: Gottlieb Werner. Κωλύτης funeris, in memoriam Ioachimi Tanckii, Medic[i] Lips[iensis] & Chim[ici] Clarissimi, Magnifico & Clarissimo Martino Rvlando, Consiliario, Med[ico] & Chim[ico] Cæsareo, Consecratus. Altenburgii in Misnia 1610, D2r/D2v; zum Lob Tanckes vgl. v. a. ebd., E2v/ E3r. Vgl. dazu Henke (Anm. 5), 248–251. Zu Magdeburg während Werdenhagens Tätigkeit dort vgl. Heinrich Rathmann: Geschichte der Stadt Magdeburg von ihrer ersten Entstehung an bis auf gegenwärtige Zeiten. 4 Bde. Magdeburg 1800–1816, Bd. IV, 135–155. Neubauer (Anm. 5), 63–65. Controversia Crameriana Magdeburgensis, Das ist/ Warhafftige beschreibung des entstandenen Magdeburgischen Kramerischen Kirchenstreits. Darinnen der Ursprung/ Häupthandel/ versuchte Beylegung/ und hinderniß der gantzen Controversiae ausführlich gewiesen wird. Wider den genandten M. Andreae Crameri Gründlichen Bericht […] In Druck gegeben, Durch die Pastores […] des Ministerii zu Magdeburg. Wittemberg, 1624, 637/638; an anderer Stelle versäumen es die Autoren nicht, auf Werdenhagens umstrittene acht Helmstedter Reden vom ›Wahren Christentum‹ hinzuweisen, die ihn bereits als unzuverlässig gekennzeichnet hätten (ebd., 74). Zum Streit vgl. Friedrich (Anm. 7), 193–201. Vgl. Rathmann (Anm. 15), 152–155. Zum weiteren Kontext des Arndt-Streites jetzt: Johann Anselm Steiger: Johann Arndts »Wahres Christentum«, Lukas Osianders Kritik und Heinrich Varenius’ Arndt-Apologie. In: Frömmigkeit oder Theologie? Johann Arndt und die »Vier Bücher vm wahren Christentum«. Hrsg. v. Hans Otte u. Hans Schneider. Göttingen 2007, 263–291.
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einandersetzte. Dass sich unter ihnen mit Osiander ein scharfer Kritiker Johann Arndts befand, kann als Beleg für Werdenhagens andauernde Nähe zu Arndt gelten, wobei dem Braunschweigisch-Lüneburgischen Hofmedicus Melchior Breler (1589?–1627),18 wie bereits Johannes Wallmann hervorhob, eine wichtige Vermittlungsfunktion zukommen dürfte. Breler war nicht nur einer der letzten Schüler und vehementesten Verteidiger Arndts, sondern stand in den 1620er Jahren in Brief- und wohl auch persönlichem Kontakt mit Werdenhagen, der seinerseits ja beste Verbindungen zur Wolffenbütteler Linie des Fürstengeschlechts unterhielt, wohl auch diplomatisch für August I. von Braunschweig-Lüneburg tätig war.19 Dass den Äußerungen des Stadtsekretärs (wie die Controversia unterstellt20) vielleicht auch eine flacianische oder gnesiolutherische Anschauung zugrundeliegt, belegt eine andere Streitschrift Werdenhagens, mit der er sich etwa zeitgleich, allerdings unter dem palinodischem Pseudonym Chilobertus Jonas Westphal[us] Ase. Jun[ior] in den Konflikt zwischen dem Erzstift Magdeburg bzw. dessen Administrator Christian Wilhelm von Hohenzollern und dem Magdeburger Domkapitel einmischte.21 Im dritten Teil seiner Polemik fasst Werdenhagen knapp die mittelalterliche Theorie vom Recht der Laien auf die Bischofswahl zusammen und stärkt so Christian Wilhelms Position – auf der Grundlage von Flacius Illyricus.22 Mit der Besetzung des Erzstifts durch Wallenstein 1625, der sich verschärfenden Kriegslage in Norddeutschland und dem Domkapitel als erklärtem Feind, musste Werdenhagen Alternativen erwägen. Auf teils gefährliche Wegen gelangte er, unterdessen zum Geheimen Rat Christian Friedrichs und Christians IV. von Dänemark avanciert, von Braunschweig über Hamburg (wo der Rat der Stadt ihn 1627 beinahe an die Kaiserlichen ausgeliefert hätte) schließlich in die Niederlande.23 Die fünf folgenden Jahre in Leiden bildeten für Werdenhagen die bis dato friedlichste und zugleich literarisch produktivste Zeit seines Lebens. Gerade in den Jahren 1631 und 1632 erscheinen insgesamt sechs seiner bedeutendsten Werke, allen voran die umfängliche Geschichte der Hanse De rebus publicis hanseaticis earumque nobili confoederatione tractatus (vier Tle.), die 18
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Zu diesem bis dato wenig erforschten Mediziner, der ebenso im Umkreis Arndts wie dem der Paracelsisten um Morsius und dem der frühen Rosenkreuzer um Andreae eine Rolle spielte, vgl. die Ausführungen bei Wallmann (Anm. 7), 31–34, 36–40. Genaueres bietet Hans Schneider: Der fremde Arndt: Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555– 1621). Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 48), v. a. 18 mit Anm. 63 u. 149 f. (zum Paracelsismus). Den Stand gegenwärtiger Forschung bietet Joachim Telle: Art. »Breler, Melchior«. In: Killy Literaturlexikon (Anm. 5), Bd. 2, 172a/b. Vgl. Wallmann (Anm. 7), 38/39; ebd., 39, Anm. 59, ein Brief Brelers an August mit eingelegtem Schreiben Werdenhagens. Von dessen Tätigkeit für den Lüneburger berichtet Philipp Julius Rehtmeier [i. e. Heinrich Bünting?]: Braunschweig-Lüneburgische Chronica, Oder: Historische Beschreibung der Durchlauchtigsten Herzogen zu Braunschweig und Lüneburg […]. Brunsvic 1722, Bd. 3, 1409. Den Kontakt zwischen ihm und Breler erwähnt auch Schneider (Anm. 18), 73. Controversia (Anm. 17), 637. Zum Konflikt, der Schrift und ihrer Wirkung, die sie (in zweiter Auflage 1624!) entfaltete, vgl. Neubauer (Anm. 5), 71–81 u. 176. Ebd., 74. Ebd., 81–94.
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bereits in den Entstehungsjahren mehrere Ausgaben erlebte und 1642, erweitert und mit zahlreichen Merian-Stichen versehen, in Frankfurt neu aufgelegt wurde.24 In drei weiteren Publikationen des Jahres 1632 sind Werdenhagens Interessen der Zeit gleichsam gebündelt erkennbar: Einerseits erscheint in Leiden seine kommentierte Ausgabe von Theophrasts Charakteren, andererseits die staatstheoretische Schrift Politica generalis in Amsterdam25 und ebendort auch die mit reichlichem Beiwerk versehene Übertragung Jacob Böhmes.26 Alle drei Werke weisen inhaltliche Gemeinsamkeiten und Überschneidungen auf und deuten zugleich auf frühere Positionen zurück, durch die Werdenhagen in Konflikt mit kirchlichen und akademischen Autoritäten geriet. Am greifbarsten erscheint dies im Theophrast-Kommentar, wenn Werdenhagen seine durchaus moralisierende Kommentierung mit philosophiegeschichtlichen Wertungen durchsetzt, die den Eresiten, immerhin Nachfolger des Aristoteles als Scholarch des Peripatos, möglichst weit vom verhassten Rationalismus abzugrenzen und stattdessen eine starke platonisch-ciceronische Tradition glaubhaft zu machen suchen. Leitbegriff ist dabei die »pietas«, an der Platon alles ausgerichtet habe, während Aristoteles hingegen die »virtuosa pietas« seines Vorgängers geradezu zerstört habe.27 Doch wird gegen die ›narristotelische‹ ratio nicht nur die wahre Frömmigkeit sondern auch der hohe Gefühlsanteil derselben ausgespielt: Im Gegensatz zum Stagiriten haben neben anderen Weisen der Antike vor allem Platon und Cicero »die Frömmigkeit offenbar mit solch glühender Leidenschaft der Seele dargestellt«.28 Mit affectus und pietas sind somit Eckpfeiler einer strikt anti-rationalistischen, tendenziell spiritualistischen Frömmigkeit benannt, die sich unschwer mit Positionen Böhmes vereinbaren ließen. Was die politischen Schriften angeht, so sind die Querverbindung zu philosophischen und theologischen Debatten zunächst weniger deutlich erkennbar, doch findet sich hier ebenfalls eine deutliche Auf-
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Vgl. zu den Auflagen ebd., 127 f. Zu den Illustrationen: Lucas Heinrich Wüthrich: Das druckgraphische Werk von Matthäus Merian dem Älteren. Bd. 2. Basel 1972, hier: Nr. 56. Theophrasti Eresi Characteres ethici sive morum descriptiones: graece et latine. Cum notis & monitis Joannis Angelii Werdenhagen. Lugduni Batavorum: Maire 1632; vgl. Zur Theophrast-Rezeption jetzt: Sandra Richter: Charakter und Figur. Zur Rezeption der Charakterologie des Theophrast von Eresos seit dem 16. Jahrhundert bis zu Wielands »Abderiten«. In: Medizinische Schreibweisen. Hrsg. v. Nicolas Pethes u. ders. Tübingen 2008 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 117), 145–170. – Johannes Angelius Werdenhagen: Introductio Universalis in omnes Respublicas, Sive Politica Generalis. Amsterdami: Apud Guilielmum Blaeu 1632. Außerdem erschien im selben Jahr ein volkssprachlicher Traktat, in dem Werdenhagen (unter Pseudonym) gegen die lutherische Orthodoxie sowie eine institutionalisierte Frömmigkeit generell zu Felde zieht: Angeli Mariani Offene Hertzens-pforte oder Getreue freye Einleitung zu dem wahren Reich Christi. Leiden: Jacob Marci 1632 (vier Auflagen bis 1699); dazu Arnold, Ketzerhistorie (Anm. 4), 406a; Moller, Cimbria litterata (Anm. 4), 970. – Zum weiteren Lebensweg Werdenhagens, der hier ausgespart werden kann, vgl. Zimmermann (Anm. 5), 762; Neubauer (Anm. 5), 103–121; Voigt (Anm. 5), 10; Eickmeyer (Anm. 5), 302b/303a. Vgl. Werdenhagen, Theophrasti characteres (Anm. 25), 16–20. Ebd., 157: »Si respicias Platonem aut Ciceronem inter alios gentium sapientes, illi certe tam fervida animi affectione describunt pietatem.«
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wertung platonischer Positionen.29 Sie lassen sich aber einerseits aus der späteren Auseinandersetzung mit Hermann Conring (1601–1681), dem anderen großen Politiktheoretiker der Zeit, Helmstedt-Absolventen und dezidierten Aristoteliker, zugleich Kritiker des Hermetismus erschließen.30 Andererseits stehen Werdenhagens politiktheoretische Überlegung im Wechselverhältnis mit seiner BöhmeRezeption, wie gleich zu zeigen sein wird. Wann und wie genau Werdenhagen zuerst mit Böhmes Gedankengut in Kontakt kam, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Möglicherweise ist an niederländische Einflüsse zu denken, etwa an den kleinen aber rührigen Kreis früher Böhme-Interessenten um Theoderich Grave und Abraham Willemsz van Beyerland, deren letzterer zum wichtigsten Sammler und Propagator von Böhmes Schriften in den Niederlanden werden sollte;31 vielleicht hat auch die frühere Prägung im Kreis um Tancke in Leipzig eine Rolle gespielt, doch mag es einstweilen genügen, in seinem intellektuellen Werdegang, der von Jugend an durch starke anti-rationalistische Tendenzen unter dem Einfluss Johann Arndts sowie durchgehende theologische und administrative Konflikte mit der vorherrschenden lutherischen Orthodoxie bei immer stärkerer Betonung eines affektiv aus der Geistigkeit des Einzelnen entspringenden Religiosität geprägt war, die intellektuelle Grundlage zu sehen, auf der aus dem gelehrten Diplomaten ein Böhmist werden konnte.
2. Werdenhagens ΨΥΧΟΛΟΓΙΑ vera Während die konkreten Anfänge seiner Beschäftigung Werdenhagens mit Böhme zunächst im Dunkeln bleiben müssen, lassen sich für seine Auswahl gerade 29 30
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Werdenhagen, Politica (Anm. 25), 81 (I,11,1: »imitator Christianissimus«). Dazu Voigt (Anm. 5), 19 u. 21/22. Zu Conring: Michael Stolleis: Die Einheit der Wissenschaften – zum 300. Todestag von Hermann Conring (1606–1681). Helmstedt 1982 (Beiträge zur Geschichte des Landkreises und der ehemaligen Universität Helmstedt 4), hier: 11–13 zum politischen Aristotelismus in Helmstedt, an dem Conring festhielt, den er gleichwohl auf seine Weise aktualisierte. Vgl. ferner: Horst Dreitzel: Hermann Conring und die politische Wissenschaft seiner Zeit. In: Hermann Conring (1606–1681). Beiträge zu Leben und Werk. Hrsg. v. Michael Stolleis. Berlin 1983 (Historische Forschungen 23), 135–172. Zu Conrings wenig beachteter philologisch gegründeter Kritik am Hermetismus vgl. Edwin Rosner: Hermann Conring als Arzt und Gegner Hohenheims. In: Hermann Conring (s. o.), 87–120, bes. 107–109. Vgl. die Ausführungen bei Carlos Gilly: Wege der Verbreitung von Jacob Böhmes Schriften in Deutschland und den Niederlanden. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt (Anm. 1), 71–98, hier: 81 f., sowie Gilly: Zur Entstehung und Wirkung der Handschriftensammlung Abraham Willemsz van Beyerlands. In: Ebd., 99–132. – Zum Komplex der niederländischen Rezeption insgesamt vgl. ferner: Ferdinand van Ingen: Böhme und die Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. Bad Honnef 1984 (Nachbarn 29); Midori Nakamura: Jan Luykens Böhme-Rezeption in seinem Emblembuch Jezus en de Ziel. In: Daphnis 34 (2005), 231–254. – Dass Werdenhagen später umgekehrt als Vermittler Böhme’scher Handschriften in die Niederlande fungierte, hat jüngst ebenfalls Carlos Gilly aufgezeigt (Gilly, Wege [s. o.], 92).
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der Viertzig Fragen, die Böhme zwischen 1618 und 1620 mit Antworten versah, plausible Gründe aufzeigen. Denn Balthasar Walther (1558 – ca. 1630), seinerseits Alchemomediziner, der an der Abfassung der Viertzig Fragen während eines Aufenthaltes in Görlitz unmittelbar beteiligt war, gehörte zum Freundeskreis Werdenhagens, wie es bereits Abraham von Franckenbergs Gründtlicher und wahrhafftiger Bericht vom Leben und Abschied des in Gott seligruhenden Jacob Boehmens (1651) nahelegt.32 Dass Werdenhagen übrigens nicht nur mit Walther, sondern auch Franckenberg selbst sowie dessen böhmistischen Gewährsleuten (Seidenbecher, Gifftheil u. a.) in Kontakt stand, belegt allein Franckenbergs Briefwechsel reichlich.33 In der Widmungsvorrede an einige Lüneburgische, Bremer und Braunschweiger Honoratioren, allen voran den Landkanzler des Dänischen Königs, Theodor Bussius (1584–1631)34, gedenkt Werdenhagen selbst des täglichen Umgangs mit »Dr. Balthasar Walther, dem ich die vierzig Fragen dieses Büchleins über die Natur der Seele zu verdanken habe«.35 Allerdings ist auch eine frühere Vermittlung 32
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Abraham von Franckenberg: Gründtlicher und wahrhafftiger Bericht vom Leben und Abschied des in Gott seligruhenden Jacob Boehmens. In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961 (in Weiteren unter der Sigle »SS«, hier: Bd. X (1961), 14 (cap. I, § 17) u. 105/106 (cap. VI, § 7). – Zu Walther vgl. Leigh T. I. Penman: A Second Christian Rosencreutz? Jakob Böhme’s Disciple Balthasar Walther (1558–c. 1630) and the Kabbalah. With a Bibliography of Walther’s Printed Works. In: Western Esotericism. Hrsg. v. Tore Ahlbäck. Turku 2008, 154–172; ders.: »Ein Liebhaber des Mysterii, und ein großer Verwandter desselben.« Toward the Life of Balthasar Walther: Kabbalist, Alchemist and Wandering Paracelsian Physician. In: Sudhoffs Archiv 94 (2010), 74–99; ders.: Art. »Walther, Balthasar«. In: Killy Literaturlexikon (Anm. 5), Bd. 12 (2011), 129b–131b; schließlich desselben Beitrag in diesem Band. Vgl. Abraham von Franckenberg: Briefwechsel. Eingeleitet u. hrsg. v. Joachim Telle. Stuttgart 1995, 66, 68, 100 (eine theosophische Dedikationsepistel Franckenbergs an Werdehagen v. 1637), 265 (Seidenbecher schreibt an Franckenberg über ein Treffen mit Werdenhagen 1650), 266/267 (Seidenbercher schreibt Franckenberg 1650, er habe Werdenhagen in Lübeck getroffen und mit ihm über Gifftheil gesprochen) u. 333, wo Werdenhagen als direkter Adessat in Betracht gezogen wird. Bussius starb vor Veröffentlichung des Werkes, doch da die Vorrede auf den 15. Dezember 1631 datiert ist, konnte er noch als Widmungsempfänger gelten, wird sogar an einer Stelle direkt angesprochen: Johann Angelius Werdenhagen: Psychologia vera J[acobi] B[öhmi] T[eutonici] XL Quæstionibus explicata, et rerum publicarum vero regimini; ac earum Maiestatico iuri applicata. Amsterdam: Janssonius 1632, c5r (addressatio an Bussius); c6r: Datierung; S. 356 gedenkt Werdenhagen gemeinsamer Gespräche über staatsphilosophische Themen. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), c5r/c5v. – Ob mit dem »Collegium Lunaeburgicum«, von dem Werdenhagen ebd., c5r spricht, eine über einen Gelehrtenzirkel hinausgehende Institution gemeint ist, konnte ich bislang nicht ermitteln. Die von Conrads behandelte Ritterakademie wurde erst 1655/1656 gegründet: Norbert Conrads: Ritterakademien der Frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert. Göttingen 1982 (Schriftenreihe der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 21), 217/218, 293, 365/366. Vgl. auch Klaus Bleeck: Adelserziehung auf deutschen Ritterakademien. Die Lüneburger Adelsschulen 1655–1850. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1977 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, 89). Rethmeiers Lüneburgisch Chronica (Anm. 19) gibt jedenfalls keinen Aufschluss.
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der Schrift vorstellbar. Aus einem Brief aus dem unmittelbaren Umkreis Böhmes, den Carlos Gilly kürzlich in Auszügen publiziert hat, geht hervor, dass bereits kurz nach 1617 Abschriften einzelner Werke, darunter die Viertzig Fragen von der Seelen nach Lübeck zu Johannes Staricius (ca. 1580–nach 1626) und damit in das Einzugsgebiet des Magdeburger Hanse-Spezialisten Werdenhagen exportiert worden sind.36 Bei seiner in Amsterdam bei Janssonius gedruckten Ausgabe hütet sich Werdenhagen wohlweislich den Namen Böhmes unverhüllt in den Werktitel zu setzen. Den Eingeweihten freilich dürfte das Kürzel »J. B. T.«, das den Namens-Initialen jenes gängige Epitheton »Teutonicus« hinzufügt und somit auf die u. a. von Walther bezeugte Titulierung als »Philosophus Teutonicus« zurückgreift,37 unschwer erschließbar gewesen sein.
2.1 Die Übersetzung Das Herzstück des Werkes bildet Werdenhagens lateinische Übersetzung von Böhmes Antworten auf Walthers vierzig Fragen über die Seele. Eine direkte Übersetzungskritik ist schwer durchzuführen, da Werdenhagen offenbar ein Manuskript vorlag, das von jenen vier Abschriften abweicht, welche die Herausgeber der Gesammelten Werke Böhmes 1715 und 1730 benutzt haben.38 Es weist keine Absatzzählung auf, wie sie in späteren Ausgaben üblich wurde, und bietet einige Textveränderungen, die auf eine besondere Überlieferung hindeuten könnten. Insgesamt scheint er sich aber deutlich stärker an seine originale Vorlage gehalten zu haben als etwa in seiner selektierenden und umarbeitenden Übertragung von 36
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Gilly, Wege (Anm. 31), 76. – Zu dem Böhme-Freund und Propagator Staricius vgl. jetzt Joachim Telle: Art. »Staricius, Johann«. In: Killy Literaturlexikon (Anm. 5), Bd. 11, 181a– 182a. Auf Walther als Namensgeber verweist Ernst-Heinz Lemper: Jakob Böhme. Leben und Werk. Berlin (Ost) 1976, 17 (ohne Quellenangabe). Psychologia vera, oder Viertzig Fragen von der Seelen, Ihrem Urstand/ Essentz/ Wesen/ Natur und Eigenschaft/ was sie von Ewigkeit in Ewigkeit sey: verfaßet von D[octore] Balthasar Walthern, Liebhaber der großen Geheimniße/ und aus tiefem Grunde Goettlicher Erkenntniß durch den gottseligen und hocherleuchteten Deutschen Theosophum, Jacob Boehmen/ beantwortet im Jahr 1620. Dabey am Ende gefueget ist Das umgewandte Auge von der Seelen und ihrer Bildniß. Gedruckt im Jahre des ausgeborenen großen Heils 1730. In: SS, Bd. III (1942), 1–178: 40 Fragen; 179–184: Das umgewandte Auge). – vgl. Werner Buddecke: Die Jakob-Böhme-Ausgaben. 2. Tl.: Die Übersetzungen. Vaduz 1957 (Arbeiten aus der Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen N. F. 2), 3. Jetzt beizuziehen ist die überarbeitete Neuausgabe: Jacob Böhme. Verzeichnis der Handschriften und frühen Abschriften. 1934 durch Werner Buddecke erstmals hrsg. Überarb. v. Matthias Wenzel unter Mitarb. v. Daniela Friese u. Karin Stichel. Görlitz 2000 (Schriftenreihe der städtischen Sammlungen für Geschichte und Kultur Görlitz N. F. 32), 48–53. – Zu den generellen text- und überlieferungskritischen Problemen der genannten Ausgaben vgl. Günther Bonheims Aufsatz in diesem Sammelband. Im Rahmen dieser Studie können Böhmes Viertzig Fragen nicht philosophisch ausgedeutet werden. Ich verweise dazu auf: Alexandre Koyré: La philosophie de Jacob Boehme. Paris 2 1971 (Bibliothèque d’histoire de la philosophie), 279–301; Pierre Deghaye: La naissance de Dieu ou La doctrine de Jacob Boehme. Paris 1985 (Collection Spiritualités Vivantes. Série Christianisme), 146–195.
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Jean Bodins wirkmächtigem staatstheoretischen Werk Six Livres de la République (1576), die er 1636 für seine Synopsis siue medulla in sex libros Johannis Bodini de republica benutzte.39 Dennoch lassen sich an einem punktuellen Vergleich der lateinischen Version Werdenhagens mit dem, was seit dem 18. Jahrhundert als textus receptus firmiert, zumindest die Strategien des Helmstedters für die Übertragung der teils schwer verständlichen Diktion Böhmes aufzeigen. Dazu wähle ich eine Passage aus der ersten Antwort über den Ursprung der Seele am Anbeginn, in der Böhme mittels einer spekulativen Teilung von »Licht-Leben« und »Feuer-Leben« die beiden »Wurzeln« der Seele entsprechend seiner Prinzipienlehre vorstellt.40 Der deutsche Text lautet nach der Ausgabe von 1730: So stellet ihme nun des Lichtes Begehren ein Model vor, seines gleichen, darinn die Ewigkeit offenbar stehet, als alles das jenige, welches der Geist in der ewigen Kraft GOttes von Ewigkeit in Ewigkeit in sich findet. Dasselbe Model ist nicht GOtt, die Ewigkeit selber, dann es anfaenget sich im Geiste, und ist des Geistes Wunder, welche er von Ewigkeit suchet und findet; und stehet in GOttes Auge als eine Figur; und sind alle Wunder des Ungrundes der Ewigkeit darinnen, und werden im Lichte der Majestaet ersehen, als ein Wunder in vielen unendlichen Wundern. Und das ist ein Bilde GOttes, eine Jungfrau voller Reinigkeit und Zucht, und keine Gebaererin: dann der H. Geist eroeffnet alleine die Wunder in der Kraft.41
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Vgl. Neubauer (Anm. 5), 129; zu Bodin als wichtigstem politischen Theoretiker des Absolutismus vgl. überblicksartig: Thomas Gergen: Art. »Bodin, Jean«. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hrsg. v. Albrecht Cordes, Heiner Lück, Dieter Werkmüller u. Ruth Schmidt-Wiegand. Zweite, völlig überarb. und erw. Aufl. Berlin 2008, Bd. 1, 692–694; ferner Julian H. Franklin: Jean Bodin and the Rise of Absolutist Theory. Cambridge 1973. – Speziell Werdenhagens Rezeption ist neuerdings stärker erforscht; vgl. Roland Crahay: Dalla ›République‹ de Jean Bodin alla ›Synopsis‹ di Johann Angelius Werdenhagen (1635): un rinnovamento dei concetti religiosi e politici. In: Rivista storica italiana 104 (1992), 629– 677. Zur Synopsis vgl. außerdem die neueren Beiträge von Diego Quaglioni: Un breviario politico per i principi: La »Synopsis« di Johan Angelius Werdenhagen (1635 e 1645). In: La società dei principi nell’Europa moderna (secoli XVI–XVII). Hrsg. v. Chritoph Dipper u. Mario Rosa. Milano 2005 (Quaderni dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 66), 247–262; ders.: Il ›Breviario politico‹ di J. A. Werdenhagen (1635–1645). In: Il potere come problema nella letteratura politica della prima età moderna. Hrsg. v. Saffo Testoni Binetti. Firenze 2005 (Politeia 25), 153–166; außerdem Laura Bianchin: Dove non arriva la legge. Dottrine della censura nella prima età moderna. Bologna 2005 (Annali dell’ istituto storico italo-germanico in Trento, Mon. 41), 293–328. Vgl. dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Das Geheimnis des Anfangs. Eine spekulative Betrachtung im Hinblick auf Böhme. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 24), 113–127. Vgl. auch im weiterem Kontext: Susanne Edel: Die individuelle Substanz bei Böhme und Leibniz. Die Kabbala als tertium comparationis für eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung. Stuttgart 1995 (Studia Leibnitiana, Sonderh. 23), 112–162, bes. 155–160. Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 17 f. (1: 45–47.)
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Werdenhagens Übertragung dieses mit einigen intrikaten Termini, etwa dem notorischen »Ungrund« oder der Sophien-Gestalt als Spiegelung des dreifachungeteilten Gottes,42 gespickten Passus liest sich wie folgt: Hinc lucis appetitus suæ similitudinis modulos sibi sistit, in quibus æternitatem manifestè videt; nempè omne illud, quod Spiritus in æterna Virtute Dei, ab æterno in æternum in sese invenit. Iste modulus sive Idea est cum Deo æternitas ipsa. Namque incipit se in Spiritu, & mirabilia Spiritus continet, quæ ille ab æterno quærit & invenit, & idea sive modulus ille in Oculo Dei situs est instar figuræ, unde Idea est, in qua omnia mirabilia abyssi æternitatis continentur, quæ in luce æternitatis conspiciuntur, tanquam unum mirabile in multis & infinitis mirabilibus. Atque hæc quidem est imago Iehovæ, virgo plena puritatis & castitatis, nunquam parturiens. Namque Spiritus Iehovæ solus patefacit illa mirabilia in virtute.43
Abgesehen von der abweichenden Einteilung der Absätze, die, wie erwähnt, auch auf Überarbeitungen der späteren Böhme-Herausgeber zurückgehen mögen, scheint die Übertragung wortgetreu, setzt im Anschluss an mystischen Sprachgebrauch »abyssus« für den »Ungrund« und bildet zum großen Teil sogar die Satzstrukturen Böhmes nach. Bei genauerer Lektüre treten freilich die interpretierenden Züge in Werdenhagens Übersetzung zutage: Der unscheinbare Wechsel vom Singular »ein Model« zum etymologisch analogen, gleichwohl nun im Plural firmierenden »modulos« deutet die gedankliche Richtung bereits an. Spätestens wenn der Übersetzer erläuternde Wendungen einfügt, sieht man sich einer platonisierenden Lesart der Böhme’schen Seelen-Genese konfrontiert: »modulus sive Idea« weist, auch durch die Hervorhebung des mit Majuskel versehenen Graezismus auf eine prägnante Deutung des »Models« als platonische Idee. Diese allein auf der genannten Ergänzung beruhende Deutung wird nun subtil stark gemacht: Bei der nächsten Nennung im selben Absatz ist das Verhältnis von Erläuterung und Erläutertem bereits umgekehrt, wenn es »idea sive modulus« heißt: Als wäre der Böhme’sche Terminus, latinisiert, lediglich eine Explikation des platonischen. Und wenn die ›Idee‹ sogar noch ein drittes Mal genannt wird, dann spitzt sich das Erläuterungsverhältnis zwischen Text und Übertragung noch weiter zu, da Werdenhagen nun einen Begründungszusammenhang insinuiert: »unde idea est« setzt nun terminologisch die Idee mit dem lat. »figura« gleich, das seinerseits auf Böhmes formulierung fußt, das Model sei im Auge Gottes »als eine Figur«.44 Werdenhagen überträgt zwar korrekt »instar figurae« lässt die Konno42
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Beide Elemente der Böhme’schen Philosophie können hier nicht umfassend erläutert werden. Vgl. zum Ungrund nur: Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozeß der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, 89–123; zur Sophia: Ferdinand van Ingen: Die Jungfrau Sophia und die Jungfrau Maria bei Jakob Böhme. In: Gott, Natur und Mensch (Anm. 39), 147–163 – vgl. auch Lucinda Martins Aufsatz in diesem Band. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 95/96. Die mannigfachen Interpretamente, die sich an Böhmes verschiedenen, auch in Illustrationen immer wieder auftauchenden Figurationen des Auges (Gottes) sowie an die Prävalenz des Gesichtssinnes in seiner Philosophie knüpfen, müssen hier außer Acht bleiben. Ich verweise dazu auf: Gudrun Schleusener-Eichholz: Die Bedeutung des Auges bei Jacob Böhme. In:
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tation der Uneigentlichkeit jedoch fallen, indem er vielmehr den Bild-Charakter der »figura« betont und sie solchermaßen in das Vorbild-Abbild-Verhältnis einer platonisierenden Ideenlehre überführen kann. Eine augenfällige Differenz habe ich bislang ausgeklammert: Während der deutsche Text die Identität von Model und Gott ausschließt (»ist nicht GOtt«), verzeichnet das Lateinische unzweifelhaft ein Gemeinschaftsverhältnis; »est cum Deo æternitas ipsa.« Fraglich scheint mir allerdings, ob hier eine Umdeutung Werdenhagens vorliegt, denn die 1730er Ausgabe könnte auch schlicht einen Fehler des Herausgebers oder des Kopisten bieten, der »ni(ch)t« statt »mit« gelesen hat, zumal gerade die Ewigkeit des Models bzw. der »idea« hier vorausgesetzt zu sein scheint.45 Interessant ist freilich, dass Werdenhagen statt »Majestaet« abermals »aeternitas« setzt. Auch dies mag auf Textvarianten zurückzuführen sein, könnte aber auch einen Hinweis darauf bieten, dass der Politiktheoretiker Werdenhagen einen einschlägig besetzten Begriff bewusst meidet.46 Auch hier kann freilich nur eine breiter angelegte Übersetzungskritik womöglich zu haltbaren Thesen führen. Einstweilen sei nur ein weiteres Exempel für die Deutbarkeit von Werdenhagens Übertragung angeführt, das zugleich dessen Reflexion hinsichtlich politischer Terminologie aufzeigt. Zur Beantwortung der elften Frage über den Sitz der Seele im Menschen liefert Böhme eine hoch metaphorisierte Darstellung von Position und Wirkkraft derselben: Aber der rechte Feuer-Schmid im Centro sitzt im Hertzen, und fuehret sein Regiment mit dem Geiste im Kopfe, da hat er sein Rathhaus, als das Gemuethe und die fuenf FuerstenRaethe, als die fuenf Sinnen, welche aus den fuenf Geistern des Verstandes entstehen […]. Die Seele sitzt wol im inneren Principio, aber sie regieret auch im aeussern, als im Gestirn und in Elementen, wo sie aber nicht ein Affe ist, und laest sich fangen, so ist sie deren genug maechtig: und das Aeussere muß sich baendigen lassen, so die Seele sich in GOtt versenkket, und kommt aber auf dem Braut-Wagen wieder ins Aeussere, daß sie den H. Geist zum Beystand hat; es hilft kein Wehren des Teufels, sie zerstoeret ihm sein Nest, und treibet ihn aus, er muß in Spott und Schanden stehen.47
Werdenhagen übersetzt: Verùm ille verus ignis Faber in centro, in corde sedet, & imperium suum cum Spiritu in capite gerit; ibi curiam suam tenet, nempe Animum & sensus internos, & quinque principales Consiliarios (Fursten Raehtn) videlicet quinque sensus, qui ex quinque spiritibus intellectus exurgunt […]. Tum quoque in secundo[?] Principio hæc ita se habent, sed illa etiam in externo regit, nimirum in Astris & elementis, ubi tamen non est simia, & se capi patitur; satis eorum potens est, & externum ejus subjugationi obnoxium esse cogitur, si Anima se
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Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), 461–492; Christoph Geissmar: Das »Wunder=Auge der Ewigkeit«. In: Gott, Natur und Mensch (Anm. 39), 23–39. Man erkennt: Eine genaue Untersuchung der interpretierenden Tendenzen in Werdenhagens Übertragung dürfte ertragreich sein, muss aber jedenfalls auf Grund einer historischkritischen Böhme-Edition, zumindest einer genaueren Kenntnis von Werdehagens Vorlage geschehen. Anderswo allerdings findet sich der Terminus im lat. wie im dt. Text; vgl. etwa Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 80 (9:2), mit Werdenhagen: Psychologia (Anm. 34), 199. Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 82 (10:5).
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in Jehovam demergat, & sic curru sponsali in externa provehatur, ut Spiritum Sanctum sibi adsociatum gerat. Diaboli obluctatio nihil prodest, nidum ei suum diripit, eumque expellit prorsus, ut in ludibrium & sui dedecus incidat.48
Abermals fällt die relativ große Texttreue des Lateinischen auf, das zum Teil sogar die deutsche Syntax gegen die lateinische nachahmt (»nidum ei suum diripit«). An einer Stelle ist der lat. Text sogar tendenziell unklarer, da »illa« im dritten zitierten Satz nur ad sensum durch anima ergänzt werden muss. Das wohl konditional aufzufassende Satzgefüge »wo sie aber nicht ein Affe ist, […] so« erkennt Werdenhagen nicht, da er durch lokales »ubi« die Sätze verknüpft und somit die Macht der Seele über die äußere Welt behauptet. Böhme hatte sie noch unter die Bedingung gestellt, dass sie sich nicht als »Affe« geriere, also sich von der äußeren Welt zu sehr vereinnahmen lasse. Entscheidend ist jedoch, dass dies eine der wenigen Passagen ist, an denen Werdenhagen eine deutsche Erläuterung einfügen muss. Seine »principales Consiliarios« erläutert er durch »Fursten Raehtn«, was nicht nur Rückschlüsse auf die Textgestalt seiner Vorlage zulässt, sondern auch als besondere Hervorhebung zu werten ist. Denn semantisch entsprechen die consiliarii ja weitgehend den ›Räten‹, sodass hier kaum eine Unsicherheit des Übersetzers vermutet werden darf. Vielmehr scheint es ihm wichtig festzustellen, dass die hier gewählte Metaphorik aus Reichs- und Kommunalpolitik (imperium, curia, consiliarii) nicht seine interpretierenden Zutaten, sondern Elemente in Böhmes Originaltext darstellen. – Zwei Befunde lassen sich an diesen beiden Vergleichen festmachen, die sich durch umfangreichere Textarbeit sicher vermehren ließen: Werdenhagen übersetzt mit großem Augenmerk auf Äquivalenz; dort, wo er explizierend überträgt, ist er bemüht, Böhme in einen platonisierenden Kontext zu rücken, was mit Blick auf dessen monotheletistisch organisierte Prinzipienlehre durchaus naheliegt;49 schließlich macht er, wenngleich noch nicht kommentierend, auf die Verwendung politischer Terminologie aufmerksam, da diese seiner politischen Ausdeutung der Psychologia vera, auf die gleich einzugehen sein wird, entgegenkommt. Um Werdenhagens Strategien der Präsentation und Funktionalisierung von Böhmes Werk ausführlicher zu illustrieren, möchte ich im Folgenden auf die Paratexte eingehen, die immerhin 443 von 714 Druckseiten und damit den Löwenanteil des Buches ausmachen. Werdenhagen umgibt seine Böhme-Übersetzung mit dreierlei Arten von Texten, die sich weniger textsortenspezifisch oder nur 48 49
Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 203/204. – Die hier ausgelassenen Passagen sind einander äquivalent. Zu Böhme im Kontext eines theologischen Platonismus vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichtliche Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Anja Hallacker u. Boris Bayer. Berlin/New York 2007 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 2), 124–128; ders.: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998, 205–303, speziell zu Böhme v. a. 296–300. Böhmes Willensbegriff behandelt u. a. im Rückgriff auf die Viertzig Fragen: Günther Bonheim: »Denn das ist aller Verdammten Qual: Daß sie wollen.« Böhmes Willensphilosophie im Kontext der Schriftauslegung. In: Philosophie des Willens. Böhme, Schelling, Schopenhauer. Hrsg. v. dems. u. Thomas Regehly. Berlin 2008 (BöhmeStudien 2), 45–64.
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durch ihren Adressatenbezug als vielmehr inhaltlich differenzieren lassen: einen theologischen, einen politischen und einen poetischen Rahmen. Diese drei ›Umhegungen‹ des theologisch brisanten Kerntextes können einander tendenziell durchdringen, seien aber hier um der Darstellung willen getrennt voneinander betrachtet.
2.2 Der theologische Rahmen Der Autor spannt den theologischen Rahmen auf verschiedene Weisen. Greifbar wird er jedoch unmittelbar in der Epistola Dedicatoria, die beinahe die ersten drei Lagen des Werkes ausfüllt (a2v–c6r). An den Beginn seiner Einleitung setzt Werdenhagen das Wort Gottes als Richtschnur des Lebens und teilt daraufhin die Menschen gemäß ihrer Einstellung zu jenem auf: auf der einen Seite die falschen Christen, denen die Bibel inhaltlich widersprüchlich und ästhetisch unzulänglich erscheine, womit er gleich zweien seiner alten Gegner, einem zunehmend rationalistischen Luthertum und der humanistischen Gelehrtenrepublik, Paroli bietet.50 Eine ganz ähnliche Abrechnung findet sich auch in der Vorrede zur Politica generalis, auf die Werdenhagen an dieser Stelle verweist und somit beide Werke, trotz oberflächlicher Differenzen, verklammert.51 Auf der anderen Seite stehen die wahren Christenmenschen, die Werdenhagen in deutlicher Anlehnung an Johann Arndt durch die Verbindung von reinem Leben (»sanctitate vitæ«) und Erneuerung des Herzens (»cordis regeneratione«) kennzeichnet.52 Anhand dieser Dichotomie organisiert Werdenhagen die gesamte Widmungsvorrede, indem er die Frontstellungen seiner Helmstedter Zeit aufgreift: Der Themenstellung sich nähernd, fragt er im Anschluss an 1 Kor 2,14 nach dem »homo Ψυχικός«53 und 50 51
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Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), a3v. Werdenhagen, Politica (Anm. 25), die Leservorrede B3r–B5r; anspielen dürfte er konkret auf die Hyprokrisie-Schelte B4v, etwa prägnant: »Veluti nec mihi Politicus verus est, qui non sit solidus Christianus, probi & integri cordis, homo justus & verax in omnibus. Reliquos, licet gesticulationes morum & hypocriticas artes varias, & magna cum sumptuum jactura apparatus addidicerint, ne pro obulo quidem mihi emerem, ajebat amicus.« – »Wie für mich auch niemand ein wahrer Politiker [im Sinne eines für den Staat lebenden und für ihn nützlichen Menschen] ist, wenn er kein standhafter Christ ist, starken und reinen Herzens, ein gerechter und wahrhaftiger Mensch in allen Dingen. ›Mögen die Anderen auch die feinen Hantierungen der Weltläufigkeit und verschiedene Künste der Verstellung, auch Zurüstungen mit großspuriger Verschwendung von Gütern gelernt haben, so möchte ich sie doch um keinen Pfennig geschenkt haben‹, sagte ein Freund.« Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), a4r. – vgl. etwa Johann Arndt: Von wahrem Christentumb. Die Urausgabe des ersten Buches (1605). Kritisch hrsg. und mit Bemerkungen versehen von Johann Anselm Steiger. Hildesheim u. a. 2005 (Philipp Jakob Spener: Schriften, Sonderreihe, 4 = Johann-Arndt-Archiv 1), 25 [27]: »Also solte nicht in jhm [dem Christenmenschen] seyn/ leben vnd wircken denn Gott lauter allein/ vnnd das ist die höchste Vnschuldt/ Reinigkeit/ vnd Heyligkeit deß Menschen« sowie ebd., 38 [43]: »Vnd durch deß H. Geistes Krafft vnnd Wirckung wirdt der Mensch new geboren:« Vgl. dazu auch: Schneider (Anm. 18), 216–246.– Es mag überdies kein Zufall sein, dass Arndts erstes Buch in 40 Kapitel aufgeteilt ist und somit eine zu Böhmes vierzig Antworten analoge Struktur aufweist. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), b1r.
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gewinnt aus dem weiteren Kontext des Korintherbriefes und seiner berühmten Abwertung der menschlichen Weisheit ein Mittel, die theologische Zweiteilung in eine intellektuelle zu überführen.54 Die im weltlichen Sinne Gebildeten sind der Panurgie verdächtig, die der Autor in beinahe wörtlicher Wiederholung seiner anti-rationalistischen Reden zum ›Wahren Christentum‹ darstellt: »λογισμούς ratiocinationes (syllogisticasve in terminis Metaphysicis conclusiones)« seien der wahren Erkenntnis Gottes nicht nur abträglich, sondern ihr geradezu entgegengesetzt.55 Die argumentative Binnenstruktur in Werdenhagens Text ist recht einfach: Allgemeine Fragen und Eröterungen des Christenmenschen werden durch deutlich mit dem Kürzel »NB« abgesetzte Kommentare unterbrochen, die eine Konkretisierung des Gesagten vornehmen, wie etwa die gerade zitierte Zuspitzung auf die aristotelische Schulmetaphysik. Neben reichlich eingestreuten biblischen Belegstellen zieht Werdenhagen überdies eine kleinen Kreis von Autoritäten heran, namentlich (den jungen) Luther und Johann Arndt.56 Für einen Großteil der Paratexte zur Psychologia vera greift Werdenhagen auf ihn zurück, knüpft mithin an seine frühe Position im Hoffmann-Streit und an die Aktivitäten des ArndtApologeten Breler an. – Die Widmungsempfänger werden zum Schluss erwartungsgemäß zu den wahren Christen gezählt und mit einem Seitenblick auf politische Verhältnisse dazu aufgerufen, Deutschland aus den Fängen der allgemeinen falschen Religion und der »Ethnici Christiani« zu erretten.57 Es tritt bereits im Widmungsbrief ein weiterer Aspekt hinzu, der sich durch das gesamte Werk des streitbaren Gelehrten zieht: autobiographische Äußerungen. Sie bilden den äußersten Punkt der Konkretion, wenn Werdenhagen etwa nicht nur die Gottferne des Rationalismus im Allgemeinen beklagt, sondern auch (postum) seinen alten Lehrer Daniel Hofmann gegen die »Rationales« verteidigt: Quod quùm olim rectè cerneret Dan[iel] Hoffmannus, & illum Rationales ejus adversarii tam acriter exagitarunt, rectè respondit; quod non intelligeret abusum talis Philosophiæ in Verbo Dei condemnatum; sed ipsum usum verum, veriorem, verissimum, quem ita putarent: quum res se non aliter haberet, quam si aquam infunderes igni, & tenebras cum luce commiscere laborares, ubi mutua expellentia sese nequaquam possunt inter se connecti; sed quod prædominium obtinet, illud hostem suun evomendo expuit.58 54 55 56
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Vgl. ebd., b3r/b3v/b4r. Ebd., b4v: »vernünftelndes Logisieren (oder im metaphysischen Bereich syllogistische Schlüsse)«. Textbeispiele etwa: Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), b5r/b5v (Luther: die Welt sei des Teufels, ja der Teufel selbst, insbesondere die Großen, Gelehrten und Gebildeten); c1v (Luther: Kirchenpostille); c2r/c2v (Luther: Postille zum Dreikönigstag; Arndt: Postille zum Sonntag ›Esto mihi‹). Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), c4v in einer affektreichen, mit rhetorischen Fragen durchsetzten Peroratio. Ebd., b7r/b7v, zitiert b7r: »Als Daniel Hoffmann einstmals dies mit Recht feststellte und die ›Vernünftler‹, seine Feinde, ihn hart bedrängten, antwortete er mit Recht, dass er nicht eine falsche Anwendung einer solchen Philosophie auf das Wort Gottes als verdammt auffasse, sondern die Anwendung selbst als wahrhaftig, ja sogar für am wahrhaftigsten [verdammt], die sie als solchen ansähen. Da diese Angelegenheit sich nicht anders verhalte, als wenn einer sich abmühe, Wasser ins Feuer zu gießen und die Dunkelheit mit Licht zu mischen,
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In diese Kategorie persönlicher Anmerkungen gehört auch der bereits kurz erwähnte Verweis auf Balthasar Walther, der auch eine der nur sehr spärlichen deutlicheren Anspielungen auf den Verfasser der Vierzig Fragen bietet: Die wahre Theologie, welche dieser ihm nahegebracht habe, wird nun beim Namen der Theosophia genannt und deren Lehrer der »Teutonicus«.59 Die Honoratioren Braunschweigs, Bremens und Oldenburgs standen dem Lüneburger Böhmisten-Kreis offenbar nahe genug, sodass Werdenhagen sich hier auf brisante Terminologie einlassen durfte. Während sich der Autor für die Dedikation an christliche gebildete Herren von Stand auf knappe Verweise auf biblische und theologische Referenzwerke beschränken konnte, musste er den theologischen Rahmen in der eigentlichen Leservorrede (c6v–e5r) klarer zutage treten lassen: Am Schluss dienen drei seitenfüllende (übersetzte) Zitate und ein Verweis dazu, den bereits angedeuteten Kanon von Autoritäten zu befestigen: Es werden drei Passagen Luthers präsentiert, aus der Postilla von 1532 (über die heidnischen Verderber des göttlichen Wortes und die Erleuchtung durch den Heiligen Geist) sowie aus dem Traktat von der Freiheit des Christenmenschen (über die Freiheit der christlichen Seele von allen weltlichen Machtansprüchen sowie über den Primat der geistigen Offenbarung Gottes gegenüber ›heidnischen‹ also altgläubigen Riten), gefolgt von einem langen Auszug aus Johann Arndts Vorrede zur Theologia Deutsch, und zwar aus der theologiekritischen Kampfansage der Ausgabe von 1597, die Arndt selbst in den Folgeausgaben ab 1605 mit stärkerem Akzent auf Bußbereitschaft und asketische Weltflucht umformulierte.60 Indem er diese Texte nennt und sogar ausführlich einrückt, spricht Werdenhagen ihnen allerdings nicht nur eine Funktion für die eigene Argumentation im jeweiligen Zusammenhang zu. Vielmehr sollen sie sich auch auf das Rezeptionsverhalten der Mittelstücks, Böhmes Seelen-Spekulation, auswirken, indem sie den Text in eine Traditionslinie stellen, die
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während doch durch die wechselseitige Abstoßung sich beide auf keine Weise untereinander verbinden können; sondern derjenige Teil, der die Oberhand habe, sein feindliches Element ausspeit, um es von sich zu schleudern.« – Dass Werdenhagen gerade Hoffmanns Metapher von Feuer und Wasser zitiert, die einander Feind seien, mag bereits ein subtiler Vorgriff auf Böhmes Antworten sein, wo diese Unvereinbarkeit für die elementenmystisch grundierte Erklärung der Abneigung zwischen Geist und Körper herangezogen wird; vgl. Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 98 (17:1), bzw. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 228. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), c5v. Luther (d4r: Postilla 1532; d5r: De libertate Christiana; d6r: De magistratu seculari, 2; e1v: ebd., 17) und Johann Arndt (e2r–e4v: Vorrede zur »Theologia Teutonica«); vgl. letztere mit: Die teutsche Theologia. Das ist: Ein edles büchlein, vom rechten Verstande, was Adam und Christus sey, und wie Adam in uns sterben, und Christus in uns leben sol. [Hrsg. v. Johann Arndt]. Halberstadt: Koste 1597. (Dass Werdenhagen auch hier ›funktionalisierend‹ übersetzt, wäre an einem detaillierten Textvergleich aufzuweisen.) – Zu Arndts Vorrede s.: Hermann Geyer: Verborgene Weisheit. Johann Arndts »Vier Bücher vom wahren Christentum« als Programm einer spiritualistisch-hermetischen Theologie. Berlin/New York 2001 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 80/I–II), Tl. 1, 91–98; im weiteren Kontext: Wallmann (Anm. 7), 1–19, zur Teutschen Theologia bes. 11 f.; Inge Mager: Johann Arndts Vorreden zum Ersten Buch »Von Wahrem Christentumb« zwischen 1605 und 1616. Ein Beitrag zu seiner Veröffentlichungsgeschichte. In: Frömmigkeit oder Theologie? (Anm. 17), 201–229, hier bes. 203–210.
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auf das ›wahre Christentum‹ im Arndt’schen Sinne und auf ein ursprüngliches, ›eigentliches‹ Luthertum zurückgeht, zugleich aber durch die indirekte Referenz auf den ›Franckforter‹ eine starke mystische Einfärbung erhält.
2.3 Der politische Rahmen Auch der politische Rahmen tritt bereits in der Widmungsepistel deutlich zutage, nicht nur wenn der Autor sich auf sein eigenes staatstheoretisches Werk bezieht, sondern auch, wenn er die Weigerung, dem Wort Gottes gemäß zu handeln, als Problem der politischen Sphäre darstellt: Sed clamant [falsi Christiani] statim, quoties vir Politicus se in Verbo Dei cottidiè in conversatione quavis homines exercere, idque ad praxin vitæ veram revocare studeat, quod talis falcem suam in alienam messem mittat […].61
Auch der Politiker mit den christlichsten Absichten muss, so scheint es, an der Masse der falschen Gläubigen in seinem Volk scheitern. Zugleich insinuiert Werdenhagen hier aber auch geschickt, dass wahres Christentum selbstverständlich Richtschnur auch des politischen Handelns sein müsse. Deutlicher noch als im Widmungsbrief gewinnt der politische Rahmen in der Leservorrede Gestalt: Der Autor wendet sich zunächst an den christlichen Leser, nimmt dann aber unmittelbar die Perspektive des Politikers ein und wirft die Frage nach dem Verhältnis von Herrschaft als »majestas« und den verfassten Staatsformen auf.62 Angesichts der gerade zurückliegenden Kriegswirren auf deutschem Boden kann Werdenhagen die Problematik mühelos an die Gegenwart zurückbinden, in der er allenthalben Staaten verfallen sieht. Eine schulmäßige Unterscheidung der Staatsformen, wie er sie bereits in der Politica generalis vorgenommen hatte, nämlich in reine und gemischte, wobei die reinen wiederum in Monarchien und Polyarchien unterschieden werden,63 geht unvermittelt zur theologisch-naturphilosophischen Spekulation über, indem Werdenhagen nun die Analogie einer monarchischen Staatsform mit der Herrschaft der Seele über den Körper herstellt und sich dazu auf eine Physica hermetica, wohl das Naturæ Sanctuarium des Heinrich Nollius (ca. 1583–1626) beruft, das 1619 in Frankfurt gedruckt wurde. Exempla ubivis extant ante oculos, quam pronæ sint omnes Respubl[icae] ad ruinam, & subversionibus suis expositæ; velut corpus morbidum sanitati semper reluctatur, quùm balsamus vitæ non adeo fit in eo firmus, sed semper, sua laboret imbecillitate ceu optimè præ
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Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), a3v: »Wenn aber ein Politiker darum bemüht ist, sich täglich auf das Wort Gottes und die Menschen zu einer Bekehrung zu lenken und sie so zu einer echten Lebenspraxis aufzurufen, schreien sie [die falschen Christen] sofort, dass er in fremden Revieren wildere […].« Ebd., c6v. Vgl. Werdenhagen, Politica (Anm. 25), 98–101 (II,1,1–10).
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Nollius, der sich seit seiner Tätigkeit als Magister in Jena (1605) intensiv einer hermetischen und paracelsistisch geprägten Alchemo-Medizin zuwandte, stand später in Kontakt mit Moritz von Hessen-Kassel, dem notorischen Förderer alchemischer und chymiatrischer Studien, und bekleidete 1615 bis 1620 das Amt des Medizinprofessors am Gymnasium illustre in Steinfurt.65 Dort verfasste er jenes hermetische Kompendium, auf das Werdenhagen hier rekurriert. In dessen Widmungsbrief wendet der Autor sich scharf gegen die etablierte Schulmedizin und Philosophie und propagiert eine General-Reformation aller Künste und Wissenschaften am Leitfaden von Theosophie und hermetischer Eschatologie,66 ein Programm, das sich mutatis mutandis zu Werdenhagens lebenslangem, auch in den Paratexten zu seiner Böhme-Übersetzung überall greifbaren, Bemühen um eine ›neue‹ Wissenschaft fügt. – Nachweislich stand Nollius mit einflussreichen Männern der Chymiatrie, etwa dem Marburger Rudolf Goclenius, aber auch mit dem Umkreis der Rosenkreuzer, namentlich Heinrich Morsius, in Kontakt, dessen Verbindungen zu Werdenhagens Lüneburger Gewährsmann Melchior Breler oben schon erwähnt wurde. Wenngleich ein direkter Kontakt des Magdeburger Syndicus mit dem Steinfurter Professor bis dato nicht bezeugt ist, kann dieser dennoch zum weiteren Umkreis des seit seiner Leipziger Zeit alchemisch interessierten gezählt werden und als Gesinnungsgenosse in der Bemühung um die Ablösung der aristotelischen (in seinem Fall: galenischen) Schulwissenschaft durch eine neue Theosophie gelten. Werdenhagen unterstreicht die Wichtigkeit des Sanctuarium, indem er nicht nur konkret auf dessen zehntes Buch verweist, sondern es im Nachsatz nachdrücklich zur Lektüre empfiehlt. Dies ist insofern von Bedeutung, als sich dort, durchmischt mit hermetischen und astro-medizinischen Elementen, auch eine Perspektive auf die Seele als Monarchin des Körpers findet, Nolls
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Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), c7r: »Überall stehen Beispiele vor Augen, wie sehr alle Staatsformen zum Untergang geneigt und ihrer eigenen Umkehrung ausgesetzt sind; ebenso wie ein kranker Körper sich stets der Gesundheit widersetzt, solange das Heilmittel des Lebens nicht stark in ihm wirksam ist, sondern er fortwährend an seiner Gebrechlichkeit leidet. Dies erläutert am besten von Allen der Arzt im zehnten Buch der Physica Hermetica, im elften und zwölften Kapitel, das du hier sorgfältig beiziehen sollst.« Diese und die folgenden Hinweise zu Nollius’ Leben und Kontakten verdanke ich den Herausgebern des Corpus Paracelsisticum, in dessen drittem Band (Anm. 11) ein Text Nolls erschlossen und biographisch ausführlich kontextualisiert wird (Nr. 170). Für die Möglichkeit der Voreinsicht sei Hrn. Prof. Kühlmann herzlich gedankt. Vgl. zusammenfassend auch Wilhelm Kühlmann: Art. »Nollius, Henricus«. In: Killy Literaturlexikon (Anm. 5), Bd. 8, 628a–630b. Henricus Nollius: Naturae Sanctuarium: Quod Est, Physica Hermetica; In Studiosorum Sincerioris Philosophiae gratiam, ad promouendam rerum naturalium veritatem, methodo perspicua & admirandorum Secretorum in Naturae abysso latentium Philosophica explicatione decenter in undecim libris tractata. Frankfurt a. M.: Rosa 1619, hier: 3–5 (›Epistola Dedicatoria‹).
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hermetische Naturkunde damit bereits in inhaltliche Nähe zu Böhmes Seelenlehre rückt.67 Man müsse also, folgert Werdenhagen, die wahre Natur der Seele kennen, um dann die Frage nach der Einrichtung sowohl der Seele als auch per analogiam der Einrichtung des Staates beantworten zu können.68 Den vielen Meinungen, die es über die Seele gibt, setzt Werdenhagen die folgende Überzeugung entgegen: Der spiritus Christi sei die einzige Richtschnur für die Erkenntnis des wahren Christen;69 hingegen seien diejenigen, die sich allgemein für Christen halten, aber christliche Heiden sind, die wahren Häretiker und irrten demnach über die Beschaffenheit der menschlichen Seele.70 Hier mischen sich nun abermals politische, theologische und philosophiekritische Argumentation: Rückgriffe auf heidnische Philosophien, v. a. abermals auf Aristoteles, der die Sterblichkeit der Seele gelehrt habe,71 werden insgesamt diesem christlichen Heidentum zugeordnet, während dem wahren Christen die Heilige Schrift genug ist, bzw. er danach strebt, mittels der Nachfolge Christi den alten Adam in den neuen »innerlichen« Menschen zu verwandeln: Domi quidem habemus nos Christiani, quod expetimus; eo longe feliciores aliis, quod S[acra] Scriptura, satis abunde nos cuncta docere possit modo nos ritè Spiritui Christi submitteremus, penes quem est omnis veritas; & tamen ad Ethnicismum ejusque habitus profanos perdite reucrrimus; ibique nos doctores ejus Dei creamus, nostros informatores: Ex tenebris lucem accendere stulti cupimus. […] An non potius illi hæretici sint pessimi, qui nos extra Christum & ejus imitationem unicam ad ethnicismum provocando ducunt, quàm qui nos ex veteri Adamo in internum hominem novum revocet.72
Obwohl Böhme hier nicht namentlich genannt wird, ist gerade der letzte Satz dazu angetan, ihn vor dem Hintergrund einer ebenso auf Böhme wie auf Arndt zu beziehenden Lehre von der Nachahmung Christi und der Verwandlung gerade des inneren Menschen, nicht nur vom Vorwurf der Irrlehre freizusprechen, sondern ihn sogar zum einzigen wahren Seelenführer gegenüber den vielen wahren Ketzern zu stilisieren.73 Überdies verweist die Formulierung von den profani ha67 68 69 70
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Nollius, Sanctuarium (Anm. 55), 616–627 (10, 9: ›De homine, eius anima rationali‹), hier bes. 626 f. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), c8r. Ebd., d2r/d2v. Ebd., d2v/d3r: »Als Christen haben wir [alles] bei uns, was wir wünschen; weitaus glücklicher als andere, da die Heilige Schrift uns ausführlich genug alles lehren kann, solange wir uns nur dem Geist Christi recht unterordnen, bei dem alle Wahrheit ist. Und doch kehren wir in heilloser Weise zum Heidentum und seinen weltlichen Gewohnheiten zurück und erwählen uns dort Gelehrte dieses Gottes als unsere Lehrer: Wir Narren wollen aus der Finsternis Licht schlagen. […] Ob nicht eher jene weitaus schlimmere Ketzer sind, die uns von Christus und seiner einzig möglichen Nachfolge fortlenken, um uns zum Heidentum auszurufen, als jener, der uns aus dem Alten Adam zum inneren Menschen zurückruft?« Ebd., d2r. Ebd., d1v/d2r. Zum »Alten Adam« und der Umkehr der Seele bei den Genannten vgl. Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 36 f. (1:134–136); Arndt, Christentumb (Anm. 52), 29 [31]–35 [41] (Kap. 2).
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bitus deutlich auf den Habitualstreit zurück.74 In diesem Kontext der engen Verknüpfung von politischer und theologischer Sphäre gewinnt der bereits erwähnte Textauszug aus Luthers Freiheit des Christenmenschen an Bedeutung, da er die zweifache Applikation der Seelenlehre auf den Bereich des politischen Handelns zeigt: Einerseits sei die christliche Seele von jedem politischen Zwang unabhängig zu halten – eine in spiritualistisch-böhmistischer Perspektive besonders brisante Forderung, die letztlich ein orthodoxes Luthertum ebenso infragestellt wie die politische Geltung der Confessio Augustana –, andererseits müsse der Staat nach dem Modell der menschlichen, christlichen Seele eingerichtet sein, um Bestand zu haben. Programmatischer Internalismus und eine Staatslehre unter dem Primat eines biblizistischen Christentums werden somit untrennbar verflochten. Diese beiden Rahmen, deren gegenseitige Vermengung hier hinreichend deutlich geworden sein sollte, werden im letzten Teil von Werdenhagens Psychologia geschlossen, wenn der Autor in einer mehrere hundert Seiten umfassenden Appendix die »Applicatio Iuris Majestatici cum Libertate in Republ[ica] justa« am Leitfaden der Analogie zur vollendeten Verfassung des Körpers unternimmt.75 Neben mannigfachen Rückgriffen auf die vorangegangenen vierzig Antworten Böhmes fließt abermals viel Autobiographisches ein, etwa Werdenhagens Wirken im Hanse-Konflikt zwischen Magdeburg und Hamburg sowie der Habitualstreit. Im Einzelnen stützt sich der Autor (wie bereits in der Politica Generalis76) auf eine lange Reihe staatsrechtlicher Autoritäten, vor allen anderen Bodin,77 unter den Deutschen insbesondere Christoph Besold78 und Benedict Carpzov.79 Wie vollzieht nun Werdenhagen diese Analogie, gemäß der Böhmes Psychologie politisch auszudeuten sei? Nachdem er in der nun schon bekannten Gelehrtenschelte die widerstreitenden Meinungen über Freiheitsrechte einer- und Majestätsrechte andererseits gestreift hat, beginnt er mit der eigentlichen Auslegung, die sich zunächst am Begriff der maiestas orientiert.80 Aus den Antworten des verschiedentlich als »θεοδίδακτος« bzw. »Theosophus« gerühmten Böhme81 zieht er die schon zuvor virulente Passage über den Fall Adams heran: Rectè quidem faciunt, & quàm optimè in eo conveniunt omnes, quod Majestatem animæ ipsi humano in corpore, adsimilent. Jam verè an non Anima est forma hominis? Quomodo igitur ea potest infringi? Quomodo ex centro suo moveri? forma enim rei destructa, aut in
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Vgl. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), d3r, wo die »Habitualistae« als Gegner genannt sind. Ebd., 353–368, hier bes. 355 f.; auch 359. Dazu: Voigt (Anm. 5), 18–21. Vgl. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 354. Vgl. ebd., 354 u. 358. Z. B. ebd., 354. Zu komplizierten Geschichte dieses Begriffs in den politischen Wissenschaften der Frühen Neuzeit umfassen: Horst Dreitzel: Monarchiebegriffe der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz. Bd. I: Semantik der Monarchie. Köln/Weimar/Wien 1991. Zu den gleichfalls seine Inspiration betonenden Ehrentiteln vgl. etwa Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), d3v, 72, 353, 355 u. 364 (dort auch als Bezeichnung für die wahren Christen insgesamt), 368.
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minimis vitiatâ, certè ipsa res corrumpitur, uti id satis diductè superius noster explicavit Theosophus in lapsu Adamico, ut inde in hanc monstrositatem hujus mundi homo ex Paradiso præcipitatus sit.82
Während Werdenhagen zunächst die klassische, an Aristoteles’ De anima angelehnte Bestimmung der Seele als forma corporis variiert,83 weist er dann auf die Dezentrierung, ›Entmachtung‹ der Seele hin, als die Böhme die Vertreibung aus dem Paradies beschrieben habe. Dort ist in der Tat vom »Willen-Geist« Adams die Rede, der im prälapsaren Zustand »in GOtt gewohnt« habe, durch das Streben nach »Witz« aber nun »in der Angst« stehe.84 Geht es Böhme darum, den Tod im Rahmen seiner Kosmogonie einzuführen, so deutet Werdenhagen diesen Vorgang in einer terminologischen Volte – er identifiziert den »Willen-Geist« Adams mit dessen Seele – als Verlust der seelischen Majestät. Auf diese Analogie muss es ihm freilich ankommen, denn nur so kann er die Schlussfolgerung ziehen, dass in einem korrupten Staatswesen keine Majestätsrechte eingefordert werden dürften.85 Werdenhagen macht sich nun daran, die für eine politische Lesart der Viertzig Fragen unumgängliche Übertragbarkeit der Seele auf das Staatswesen zu verteidigen. Denn die etablierte und anerkannteste (metaphorische) Konstruktion der Staatstheorie war ja seit je und bis Bodin, Hobbes, gar bis Kantorowicz – diejenige nach einem Körper-Modell.86 Doch gerade diese Übertragbarkeit weiß der Autor zu nutzen, indem er nun die Seele mit dem regimen des Staates identifizieren87 und mithin die beste Einrichtung des Staates nach dem Vorbild der besten Einrichtung eines Christenmenschen auffassen kann: als unbedingte Ausrichtung auf den Geist Gottes.88 Wer nun eine genauere Exegese des Böhme-Textes, vielleicht eine über diese allgemeine Strukturparallele hinausgehende Übertragung des mystischen Traktates auf die Sphäre der politischen Theorie und Praxis erwartet, wird freilich von Werdenhagen enttäuscht. Denn der Gelehrte stellt lapidar fest: 82
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Ebd., 355: »Mit Recht handeln sie [Staatstheoretiker], und stimmen aufs Beste darin überein, wenn sie sie [die Majestät im Staat] mit der Majestät der Seele im menschlichen Körper vergleichen. Ist denn die Seele nicht wahrhaftig die Form des Menschen? Wie also könnte sie gebrochen werden? Wie aus ihrem Mittelpunkt vertrieben? Wenn nämlich die Form eines Dinges zerstört oder auch nur im Mindestens beschädigt ist, so verdirbt sicherlich das ganze Ding, wie dies weiter oben hinreichend ausführlich unser Theosoph am Fall Adams erläutert hat, auf den hin der Mensch aus dem Paradies in die Grässlichkeit dieser Welt gestürzt wurde.« Vgl. Aristoteles: De anima. Hrsg. v. David Ross. Oxford 1961, 412b5/6; zur Rezeption des Werkes in der Renaissance vgl. knapp Michael Stadler: Renaissance: Weltseele und Kosmos, Seele und Körper. In: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Hrsg. v. Gerd Jüttemann, Michael Sonntag u. Christoph Wulff. Göttingen 2005, 180–197, v. a. 189a–193b Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 36 (1:134). So Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 355 (in Fortführung des Gedankens): »Quare certè nulla heic juris Majestatici in corrupto statu Reipubl[icae] defensio esse poterit […].« Vgl. (mit manchem Seitenblick auf poetische Texte): Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Hrsg. v. Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann u. Ethel Matala de Mazza. Frankfurt a. M. 2007, bes. 55–101. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 356. Vgl. ebd., 358 f. (mit reichen Belegen aus der Heiligen Schrift).
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Jost Eickmeyer Verum si quis rectè analogiam eam, quam Anima habent in corpore humano cum regiminis Majestate, prout eam Theosophus in introducto tractatu de Deo explicat, considerarit, facilius omnia poterit secum & in veritatis natura pensitare. Sed in hoc quisque lector manet monendus mihi, ne temerè heic quid præcipitet. Etenim admodum ardua sunt & sacra, quæ proponit iste sua doctrina mystica. Ideoque necessum est, ut benè præparatum quisque in pietate pectus aut cor huic lectioni afferat, ceu ipse monet autor sacer, quùm non omnibus, sed saltem verè & solidè piis Christianis & in Christo vividè renatis hunc scripserit libellum; […].89
Einem solchen, nach spiritualistischen Maßgaben (»vividè renatis«) vorbereiteten Leser wird nun die weitere politische Ausdeutung der Viertzig Fragen überlassen, während sich der Rest dieser »Applicatio« abermals der scharfen und ausführlichen Kritik an neuheidnischer Schulphilosophie und theologischer Orthodoxie und dem Lob Böhmes zuwendet.90 Immerhin hat er in seiner Übersetzung, wie die zweite der oben (II.1) verglichenen Stellen zeigt, einige Hinweise zur Interpretation angelegt. Bevor nun aus diesen Beobachtungen Schlussfolgerungen auf Werdenhagens ›Politisierung‹ Böhmes gezogen werden, soll zumindest noch kurz der dritte, nämlich poetische Rahmen beleuchtet werden, den der Autor um Böhmes Text legt.
2.4 Der poetische Rahmen Werdenhagens Übersetzung sind eine Reihe von poetischen Paratexten beigegeben, deren erster Teil sich in der üblichen Form von Widmungsgedichten nach den Vorreden findet (e5v–f4r). Neben den typischen Lobgedichten und Anagrammen aus der Feder von Freunden und Gelehrten aus dem Umkreis des BraunschweigLüneburgischen Hofes sind auch drei geistliche Poeme zu finden, die vom Autor selbst stammen dürften: Ein jambisches Gedicht, das als »Meditatio cottidiana« die praktische Einübung in die Jesus-Frömmigkeit befördern soll,91 sowie zwei Psalmparaphrasen in alkäischer Strophenform.92 Werdenhagen zeigt sich hier als versierter lateinischer Poet, hatte er doch wenige Jahre zuvor seine verstreuten Jugendgedichte – um einige allzu antikisierenden Texte vermindert – neu
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Ebd., 359: »Wer diese Analogie, welche die Seele im menschlichen Körper mit der Regierung im Staat aufweist, wie sie schon der Theosoph im einleitenden Traktat über Gott erläutert, recht bedenkt, dürfte er alles bei sich und in der Natur der Wahrheit mit Leichtigkeit erwägen. Aber dabei bleibt mir noch, jeden Leser zu warnen, dass er darin nichts überstürtze. Denn es sind schwierige und heilige Dinge, die er in seiner mystischen Lehre darbietet. Deshalb ist es erforderlich, dass ein jeder, in seiner Frömmigkeit gut vorbereitet, sein Gemüt oder sein Herz an diese Lektüre heranführt, wie auch der heilige Verfasser selbst mahnt, da er nicht für alle, sondern nur für die wahrhaft und standhaft frommen und die in Christo lebendig wiedergeborenen Christen dieses Buch geschrieben habe. Ebd., 360–368. Ebd., e5v/e6r. Ebd., e6r–e7r (Ps 56) u. e7r/e7v (Ps 64).
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herausgegeben.93 Diesen Rahmen schließt Werdenhagen am Schluss des Werkes auf, soweit ich sehe, ungewöhnliche Weise. Zwar finden sich auch hier längere Gedichte, in deren erstem Christoph Herwich den Autor als »vates« und christlichen Dichter preist,94 worauf Adam Siber in spiritualistisch grundierter Diktion das wahre Christentum propagiert und einige Poeme auf Luther-Worte beisteuert.95 Doch auf mehr als zehn vorausgehenden Seiten versammelt Werdenhagen sieben Gedichte, teils Kasualcarmina, seiner ›Gegner‹, nämlich späthumanistischer Poeten, darunter der Helmstedter Humanist Caselius, Martin Brasch und sogar der kurpfälzische Bibliothekar und berühmte Dichter Paul Schede Melissus.96 Dass der Zweck dieser Einschaltungen keineswegs in der Herstellung von ›Dialogizität‹ oder gar einem ästhetischen Wettstreit zwischen weltlicher und geistlicher Dichtung besteht, macht bereits die Einleitung deutlich. »juvat saltem paucula è multis barbariæ istius horrendæ huc carmina producere, ut effervescentiam mortalium quisque pius agnoscere discat.«97 Auch der diesen ›grausigen Erzeugnissen‹ nachgestellte Absatz beginnt vielsagend: En, bone Lector, hæc scandala hominum publica & blasphema in suis elegantiis profanissimis: tantus fremor erat passim exultationis & ubique fragor simul jubilationum istis profanitatis perditæ obstinatis cultoribus.98
Die Neujustierung der Wissenschaften, wie Werdenhagen sie sein Leben lang in der Abkehr vom aristotelischen Rationalismus, hin zu einer spiritualistisch unterfütterten Theospohie gefordert hat, macht demnach auch vor der Dichtung nicht halt. Vergleicht man seine eigenen Oden zu Beginn mit diesen Texten und seiner Verurteilung, so kann man eine streng inhaltliche Hierarchisierung feststellen: Die lyrische Paraphrase biblischer Texte sowie die praktische Andachtsfrömmigkeit stellen lizite Formen der Poesie dar, während jede mit antikisierender Diktion und rhetorischem ornatus auf weltliche Themen zielende Poesie abgelehnt wird. Ein solches Erziehungsprogramm, das einerseits an die poetische Praxis des Calvinismus erinnert, andererseits auf die Andachtsfrömmigkeit pietistischer oder quietistischer Zirkel vorausweist, gehört offenbar zu Werdenhagens Kampf für den wahren Christianismus und wider einen allenthalben wütenden Ethnicismus.
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Pomatum Juvenilium liber I: Lyrica continens, ab Ethnicismo vindicata et pietati Christianae restituta. Leiden 1629. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), S.529–537. Ebd., 541 f. Ebd., 513–525. Ebd., 513: »Es genügt, hier nur einige wenige Gedichte aus der Masse dieses abscheulichen Barbarentums anzuführen, sodass jeder fromme Leser das aufgeblasene Brausen der Menschen zu erkennen lernt.« Ebd., 525: »Sieh, guter Leser, diese öffentlichen Ärgernisse und Lästerungen der Menschen in ihrem überaus heidnischen Glanz: So groß war überall das Getöse der Freude und allerorts zugleich das Tönen des Jubels über diese Musensöhne, die sich einem verderblichen Heidentum hartnäckig hingaben.«
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Fazit Werdenhagens Funktionalisierung von Böhmes Viertzig Fragen Trägt man die hier angestellten Beobachtungen, die in einer ausführlicheren Studie zu vervollständigen verlohnte, zusammen, so ergibt sich die Frage: Wie politisch ist Werdenhagens sehr genaue Übersetzung der Böhme’schen Psychologia? Zunächst ist festzuhalten, dass bereits die Übersetzung selbst dem Streben geschuldet ist, Böhmes Werk in einem breiteren Gelehrtenkreis jenseits des deutschsprachigen Raume bekannt zu machen.99 Sie entspringt also Werdenhagens Interesse an der Verbreitung Böhmes und hat möglicherweise in der Vorbereitung der niederländischen Übertragungen und Böhme-Ausgaben eine Rolle gespielt, was freilich künftige Forschung aufzuweisen hätte. Sodann hat sich der Autor trotz des immensen Apparates, den seine Übersetzung umgibt, mit einer präzisen politischen Deutung merklich zurückgehalten. Die oben auszugsweise zitierte Applicatio der Antworten Böhmes fällt quantitativ sehr schmal und inhaltlich allenfalls andeutend aus. Es scheint Werdenhagen vielmehr darum gegangen zu sein, Böhme in den geistigen Schnittpunkt verschiedener theologischer (Luther, Arndt) und naturkundlicher (Nollius) Strömungen der Zeit zu stellen, deren Vertreter er in den Paratexten nennt, verteidigt, exzerpiert und als Eideshelfer, wenn nicht ›testes veritatis‹ anführt.100 Die in ständiger Repetition dem Leser eingeprägte Frontstellung des wahren, auf die innerliche Frömmigkeit des Einzelnen gerichteten Christentums gegen einen mit aristotelischem Rationalismus und lutherischer Orthodoxie gewappneten Feind beleuchtet einerseits Werdenhagens stets polemische, oft prekäre Stellung in der Gelehrtenzunft seiner Zeit, macht jedoch tendenziell auch den Görlitzer Schuster als »sacer Theosophus« zur rettenden Waffe im, mitunter eschatologisch grundierten, Kampf für die reine christliche Lehre. Vor diesem Hintergrund kann man Werdenhagens Psychologia Vera vielleicht am besten als stärker an Böhmes eigenem Schaffen ausgerichtetes Komplementärwerk zu seiner Politica generalis sehen: Auch dort durchziehen Böhme-Zitate das gesamte Werk, in den ersten beiden Büchern meist aus dem Dreifachen Leben des Menschen (1620), im dritten aus dem Mysterium Magnum (1623).101 Eine politische Ausdeutung der jeweiligen Passagen und Zitate findet freilich auch dort kaum statt, kann auch, nach der oben zitierten Kautel Werdenhagens selbst, dass Böhmes Lehre nur den Wenigen, den wahren Christen zugänglich sei, nicht ohne Weiteres 99
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Neben den Viertzig Fragen finden sich noch aus anderen Texten Böhmes, u. a. aus dem Dreifachen Leben, Auszüge übersetzt und in der Appendix beigegeben (Werdenhagen, Psychologia [Anm. 34], 580–621). Zu dieser Darstellungsstrategie fügen sich auch zwei umfangreiche, hier ausgesparte Teile des Werkes, eine Art Geschichte des Dissidententums als derjenigen Bewegung, die das ursprüngliche Christentum durch die Jahrhunderte bewahren wollte (368–413; mit 14 eingerückten Briefen Luthers); ferner eine Sammlung von »Probatissimorum Ecclesiæ Doctorvm sententiæ«, 104 Aphorismen von Paulus über Origenes bis Jean Gerson, Matthias Vegius und Pico della Mirandola, die bereits ein eigenes Buch mit separater Vorrede bilden. Werdenhagen, Politica (Anm. 25), passim, bes. 368–376 (3,26) mit einer deutlich böhmistisch eingefärbten Anthropologie; summarisch: Voigt, Politica (Anm. 5), 51–60.
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stattfinden. Doch indem er im einen Werk einen zentralen Böhme-Text in Gänze präsentiert und zumindest Hinweise auf mögliche politische Deutungsaspekte gibt, lenkt er zugleich die Rezeption seiner Politica generalis auf eine speziell böhmistisch grundierte Lektüre. Wie aber wird man ein solcher wahrer Christ, reinen und standhaften Herzens? Auf diese Frage gibt womöglich Werdenhagens wenig später erschienene Offene Hertzens-Pforte eine Antwort, indem sie, nun in der Volkssprache verfasst, tendenziell jedem Lesefähigen eine Anleitung zum verus Christianismus bieten will. Würde man in einer größer angelegten Studie diese drei Texte zueinander in Beziehung setzen und daraufhin interpretieren, würde womöglich ein Großprojekt Werdenhagens kenntlich werden, eine Art Anleitung zum christlichen Leben des Einzelnen, ebenso wie des Staatsgefüges, deren einzelne Teile im Jahr 1632 ans Licht kamen und lediglich in umgekehrter Reihenfolge zu lesen wären. – Ein solches auf mehrere, inhaltlich, sprachlich und formal ganz unterschiedliche Werke angelegtes Unternehmen, das, wie bereits diese kursorische Analyse gezeigt hat, durchaus paränetische Züge trägt, stellte dann in der Tat einen singulären, ja spektakulären Fall der frühneuzeitlichen Böhme-Rezeption dar. Werdenhagen zumindest sollte auch nach 1632 sowohl seine politische Karriere als auch sein Engagement für ein spiritualistisch geprägtes Christentum fortführen. 1637 wird er sogar zum kaiserlichen Reichsrat und in den Adelsstand erhoben, zugleich bleibt er ein humanistisch geprägter Erasmianer, wie Beiträge zu mancher Friedensschrift der 1640er Jahre zeigen.102 Und schließlich förderte er spiritualistische und quietistische Zirkel in Norddeutschland, was u. a. ein lobendes (deutsches) Geleitgedicht zu einem geistlichen Werk der Anna Owena Hoyers dokumentiert.103 Als Johann Conrad Kanz 1745 Werdenhagen in die Fortsetzung von Reitzens pietistischem Sammelwerk Historie der Wiedergebohrnen aufnimmt,104 wird er diese bemerkenswerte Doppelstellung des Politikers als Böhmisten unterstreichen, indem er ihn einerseits als »trefflich gelehrten Politicus« einführt, ihm zugleich rückhaltlos »das Sigel aller Zeugen der Wahrheit« zuspricht.105 102
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Vgl. z. B. Werdenhagen: Diæ pacis et concordiæ efflagitationes, ex D[esiderii] Erasm[i] Roterod[ami] et aliis clarissimis auctoribus in scenam reproductæ. Frankfurt a. M.: Matthäus Merian 1642. – Dazu: Otto Herding: Erasmische Friedensschriften im 17. Jahrhundert: Precatio ad Dominum Jesum pro Pace Ecclesiae. In: Boek, bibliotheek en geesteswetenschappen. Opstellen door vrienden en collega’s van dr. Cornelis Reedijk geschreven ter gelegenheid van zijn aftreden als bibliothecaris van de Koninklijke Bibliotheek te ’s-Gravenhage. Hrsg. v. Willem R. H. Koops. Hilversum 1986, 151–156. Es ist greifbar in: Anna Ovena Hoyers: Geistliche und weltliche Poemata. Nachdruck d. Ausgabe Amsterdam: Elzevier 1650. Hrsg. v. Barbara Becker-Cantarino. Tübingen 1986 (Deutsche Neudrucke: Reihe Barock 36), 2. Johann Heinrich Reitz: Historie der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe des Erstdrucks aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745). Mit e. werkgeschichtlichen Anhang der Varianten u. Ergänzungen aus den späteren Auflagen hrsg. v. Hans-Jürgen Schrader. Tübingen 1982 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 29), Bd. 4, 80–92 (Tl. 7, Hist. 3). – Vgl. dazu: Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ »Historie der Wiedergebohrnen« und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989 (Palaestra 283), bes. 93–107. Reitz, Historie (Anm. 104), Bd. 4, 80 u. 91.
Jan Mohr
Konvergenzen in der ›poetischen‹ Böhme-Rezeption Abraham von Franckenbergs und Daniel Czepkos
›Zwischen Jakob Böhme und Angelus Silesius‹, so wurde die geistesgeschichtliche wie literarhistorische Position Abraham von Franckenbergs und Daniel Czepkos schon vor längerer Zeit bestimmt;1 in dieser Perspektive hat man die Bedeutung beider in erster Linie darin gesehen, Böhmes theosophisches Gedankengut in die Literatur vermittelt zu haben.2 Doch der Nachweis einer direkten Böhme-Rezeption in ihren Schriften ist nur scheinbar trivial. Nicht wenige Motive und Gedankenfiguren in Böhmes theosophischem System sind in den spiritualistischen und naturphilosophischen Lehren der Frühen Neuzeit weit verbreitet. Sie konnten auch in anderen Quellen wahrgenommen werden, nicht nur vom Gelehrten Franckenberg mit seiner offenbar weithin bekannten privaten Bibliothek,3 sondern auch von Czepko, der sich als junger Mann in jenen Kreisen des schlesischen Landadels bewegte, in denen spiritualistische Lehren diskutiert wurden.4 Neuerdings wird denn auch nicht Franckenbergs Abhängigkeit von, sondern im Gegenteil seine Selbstständigkeit gegenüber Böhme betont,5 und auch in 1
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Vgl. Theodoor Cornelis van Stockum: Zwischen Jacob Böhme und Johann Scheffler: Abraham von Franckenberg (1593–1652) und Daniel Czepko von Reigersfeld (1605–1660). Amsterdam 1967 (Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afd. Letterkunde N. R. 30,1). Vgl. etwa, unter unterschiedlichen Vorzeichen, Karl Vietor: Probleme der deutschen Barockliteratur. Leipzig 1928, bes. 19–21; Werner Milch: Einleitung. In: Daniel von Czepko: Geistliche Schriften. Hrsg. v. Werner Milch. Darmstadt 1963 (Einzelschriften zur Schlesischen Geschichte 4. Unver. reprogr. ND der Ausg. Breslau 1930), IX–XLIV. Für Franckenberg vgl. Wolfram Buddeke: Die Jacob Böhme-Autographen. Ein historischer Bericht. In: Wolfenbütteler Nachrichten 1 (1972), 61–87, hier bes. 62. Zu Franckenbergs Bibliothek vgl. John Bruckner: Abraham von Franckenberg. A bibliographical catalogue with a short-list of his library. Wiesbaden 1988 (Beiträge zum Buchund Bibliothekswesen 25). Ein Zeugnis ihres Ruhms bietet Theodor Wotschke: Wilhelm Schwartz. Ein Beitrag zur Geschichte des Vorpietismus in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 64 (1930), 89–126, hier: 93 f. Vgl. grundlegend Werner Milch: Daniel von Czepko. Persönlichkeit und Leistung. Breslau 1934 (Einzelschriften zur Schlesischen Geschichte 12), sowie Siegfried Sudhof: Daniel von Czepko. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Unter Mitarb. zahlreicher Fachgelehrter hrsg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, 227–241. Vgl. Sibylle Rusterholz: Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme. Versuch einer Neubestimmung aufgrund kritischer Sichtung der Textgrundlagen. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Hrsg. v. Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), 205–241, hier: 230: »Obwohl Franckenberg in wesentlichen, zu seiner Zeit äußerst brisanten und umstrittenen Fragen die Position Böhmes übernimmt, und zwar auch
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seinem Briefwechsel hat man eine »weitgehende Abstinenz gegenüber unzweifelhaft von Böhme geprägten Termini« festgestellt.6 Franckenberg nimmt den Philosophus Teutonicus innerhalb eines breiten Traditionsstroms wahr, und er verwandelt dessen Begrifflichkeiten mitunter der eigenen Terminologie an. Auch Czepkos wichtigste Gewährsleute hat die ältere Einflussforschung nur unsicher benennen können,7 nicht zuletzt, weil stets mit Filterung und Brechung älterer Literatur durch die ihm unmittelbar vorangehenden Leser zu rechnen ist: »Seit wir mit Bestimmtheit sagen können, daß Czepko sich vielfach eng an Franckenberg angeschlossen […] hat, wird der Versuch […] noch aussichtsloser: Alles, war er brauchen konnte, fand sich ja in dem Wirrwarr von Notizen, Hinweisen und Anmerkungen, mit denen Franckenbergs Schriften durchsetzt sind.«8 Hinzu kommt, dass alles, was mündlich in den schlesischen Landadelskreisen oder auch in der Stadtkultur Breslaus kursiert sein mag, für uns nicht mehr zu rekonstruieren ist.9 Entsprechend kann sich der Nachweis eines Böhme-Einflusses nicht damit zufriedengeben, isolierte Begriffe und Schlagworte aufzuführen, die im 17. Jahrhundert auch anderweitig verfügbar waren. Zu unterscheiden ist zwischen Affinitäten, Strukturhomologien und tatsächlichen Abhängigkeiten, und zu berücksichtigen sind dabei die unterschiedlichen Schreib- und Argumentationsbedingungen in verschiedenen Textsorten und -gattungen. Diese Perspektive versuche ich im Folgenden zuzuspitzen, indem ich über den Bereich von Sachprosa hinaus poetische, literarische Texte einbeziehe (so prekär eine solche Unterscheidung für die Frühe Neuzeit auch sein mag). Dann stellt sich eine Frage, der bisher weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde: ob sich Charakteristika einer spezifisch poetischen Böhme-Rezeption bestimmen lassen. Eine solche Frageperspektive könnte dazu beitragen, die erstaunlich breite und vielschichtige Wirkung von Böhmes Schriften in schärferen Konturen nachzuzeichnen. Dabei dürfte allerdings der Hinweis auf Gattungstraditionen noch zu kurz greifen, wenn man mit ›poetischer Qualität‹ auf Momente einer generellen Schreibweise abzielt. Ich setze zunächst bei einer Gegenüberstellung von Czepkos Trostschriften und seiner Epigrammsammlung Sexcenta Monodisticha Sapientum an. In einem zweiten Schritt perspektiviere ich die gewonnenen Ergebnisse neu, indem ich Czepkos Epigramme mit Franckenbergs Traktat Raphael oder Artzt-Engel im Hinblick auf ihre textuelle Faktur und auf Vorgaben für Rezeptionsmodi vergleiche. Insofern Czepkos Epigramme nicht nur als poetische, sondern auch als ›religiöse‹ Texte gelten wollen, lässt sich eine Gemeinsamkeit zu Franckenbergs Traktat beschreiben, die nicht textsortenspezifisch oder gattungstraditionell,
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dann, wenn diese der Lehre Luthers zuwiderläuft […], wäre es verfehlt, ihn als reinen Parteigänger oder gar Sprachrohr Böhmes zu betrachten.« Vgl. insbesondere Joachim Telles Einleitung zu seiner Edition von Franckenbergs Briefen, anhand derer zahlreiche Mystifizierungen des ›Böhme-Apostels‹ Franckenberg zurechtgerückt werden konnten (Abraham von Franckenberg: Briefwechsel. Eingel. und hrsg. v. Joachim Telle. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 17–57, bes. 37–50; Zitat: 40). Vgl. die Diskussion bei Milch, Czepko (Anm. 4), 123 ff. Ebd., 132. – Zu möglichen Wegen, auf denen der junge Czepko Kenntnis von Böhmes Theosophie genommen haben konnte, vgl. Milch, Einleitung (Anm. 2), bes. XXVII–XXXIV. So schon ebd., XXI.
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sondern kommunikationstheoretisch zu begründen wäre. Vorausgesetzt ist dabei erstens die Annahme, dass Literatur im 17. Jahrhundert (noch) nicht vollständig in ein Subsystem ausdifferenziert ist, innerhalb dessen sich Textproduktion, -distribution und -rezeption mit ihren jeweiligen Geltungsansprüchen vollzögen; sondern dass Literatur in der Vormoderne in historisch je wechselndem Maße in Geltungszusammenhänge von Macht und Heil und deren Repräsentation eingebunden ist, und dass dieser externe Primat sich auch als in die Textstrukturen selbst eingeprägt beschreiben lässt. Diese Prämisse wäre zwar ebenso für andere gesellschaftliche Teilbereiche anzusetzen. Eine Gemeinsamkeit zwischen den ›literarisch‹ lyrischen und den traktathaften Texten, wie hier vorgeschlagen, lässt sich aber, das ist die zweite Prämisse, mit Blick auf ihre jeweils prekären Referentialisierungsleistungen begründen. Gott kann, die Transzendenz kann individuell erlebt werden; davon zu berichten bleibt stets eine heikle Angelegenheit, und nachdrücklich illustriert dies unter anderem Jakob Böhmes Arbeit an der Darstellung seines Erweckungserlebnisses.10 Literatur wiederum ist stets herausgehoben aus einer Alltagskommunikation, insofern sie einer konstitutiven Spannung zwischen referentiellem und figurativem Sprechen unterliegt: Als religiöse konstituiert und behandelt, bespricht oder adressiert Kommunikation das Andere von Kommunikation (Gott/Transzendenz, individueller Glaube/Bewusstsein), als literarische funktioniert sie über ästhetische Differenz beziehungsweise poetische Selbstreferenz.11
Aus der Gemeinsamkeit ihrer prekären Referentialisierung ergeben sich weitere Parallelen zwischen religiöser und literarischer Kommunikation: Wenn ›Sinn‹ nicht mehr nur in Kategorien von Wahr und Falsch codiert werden kann – ganz einfach, weil diese Prädikationen nicht sicher getroffen werden können –, dann wird Bedeutungshaftigkeit gerade auch in Momenten der Intensität geschaffen. Intensität kann in Texten unter anderem mit rhetorischen Mitteln geschaffen werden: durch bildhaftes Sprechen etwa. »Durch die tropische Sprache werden als neuartig und andersartig geltend gemachte Sachverhalte mit Rekurs auf Bekanntes versprachlicht, also Unvertrautes in Vertrautes ›übersetzt‹.«12 Daraus ergibt sich wiederum eine Anmutungsqualität, die, auch hierfür wäre Böhme ein Beispiel, ebenso als Zumutung empfunden werden kann.13
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Vgl. Alois M. Haas: Sprache und Erfahrung in Böhmes Aurora. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 24), 1–23. Peter Strohschneider: Vorbericht. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. v. dems. Berlin/New York 2009, IX–XIX, hier: XII f. Hartmann Tyrell/Volkhard Krech/Hubert Knoblauch: Religiöse Kommunikation. Einleitende Bemerkungen zu einem religionssoziologischen Forschungsprogramm. In: Religion als Kommunikation. Hrsg. v. dens. Würzburg 1998 (Religion in der Gesellschaft 4), 7–29, hier: 10. Von der Zumutung religiöser Kommunikation hat Niklas Luhmann gesprochen: Religion als Kommunikation. In: Religion als Kommunikation (Anm. 12), 135–145, hier: 140: »Wenn es
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Böhmes Theosophie legt, wie jeder offenbarungsreligiöse Entwurf, »einen Schnitt (Gott/Mensch) in die Welt«.14 ›Offenbarung und Episteme‹, die Formel, mit denen die Herausgeber dieses Bandes Jakob Böhmes Position im Geistesleben des 17. Jahrhunderts und den epistemologischen Status seiner Schriften (wie auch seiner Persona) in der Rezeption markierten, spricht dann zweierlei an: den Zusammenhang zwischen individuell Erlebtem und seiner Kommunikation und Kommunizierbarkeit, für den historisch verfügbare Wissensbestände und ihre Ordnung Raster zur Verfügung stellen; und die Arbeit am Kommunizierten, das (ehedem wie heute) als visionär Geschautes für schlechthin exzeptionell erklärt oder über Kontextualisierungsarbeit in Traditionslinien eingeholt werden kann.15
1. Transzendentalrhetorik Rhetorisch überformt ist selbstverständlich jede gelehrte Rede in der Frühen Neuzeit. Mit Figuren der Wiederholung, der effektvollen Verkürzung, mit Gradationen und anderen Mitteln zur Wirkungssteigerung ist also stets zu rechnen. Böhmes Schriften allerdings können näherhin in einer Traditionslinie gesehen werden, die im Hochmittelalter im Rahmen einer theologischen Rezeptionsästhetik formuliert ihren Ausgang nimmt. In Auseinandersetzung mit der obscuritas der biblischen Sprache und mancher patristischer Texte konnte eine im weitesten Sinne integumentale Rede gegenüber einer auf reine Kommunizierbarkeit ausgerichteten Sprache (sei es die Alltagssprache, sei es die elaborierte Sprache
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zu religiös sinnvoller Kommunikation kommt […], wird dem Teilnehmer Religion zugemutet: Es wird nicht über ihn, es wird mit ihm gesprochen.« Niklas Luhmann/Peter Fuchs: Reden und Schweigen. Frankfurt a. M. 1989, 73, Anm. 5. – Zur Mystik ebd., 70–100. Während der Druckvorbereitung dieses Bandes erschien der Aufsatz von Peter-André Alt: Paradoxie als Medium religiösen Wissens. Mystisch-hermetische Semantik und poetische Struktur. In: KulturPoetik 11 (2011), 21–46, dessen Stoßrichtung sich in einigen Punkten mit meinem Beitrag berührt. Alt zielt auf die Leistungen von »Literatur als eigene[m] Ort der Wissensproduktion« (22); dazu beobachtet er Verfahren in hermetisch geprägten ›literarischen‹ Texten, jene Paradoxien zu bearbeiten, von denen das christliche Glaubenssystem geprägt ist. Problematisch scheint mir dabei, dass Alt diskursive Ordnungen als der poetischen Sprache vorgängig denkt: »der Akt der poetischen Darstellung [bewirke] selbst eine Umgestaltung religiösen Wissens. Er […] formt es neu […]« (27). So wird eine strukturelle Affinität zwischen religiöser Lehre und poetischem Verfahren, die ich oben mit ›prekärer Referentialisierung‹ angesprochen habe, in eine schlichte Dichotomie von Wahrheit und Lüge gedrängt (»Nur indem sie lügt, kann die Literatur zur Wahrheit finden; allein in den widerspruchsvollen Zeichen der Poesie kommt Gott zur Sprache«, 28). Ich würde einen solch strikten Fiktionalitätsbegriff (25 u. 28 f.) weicher fassen und davon ausgehen, dass poetische Texte an der Formierung einer Episteme selbst teilhaben (das ist selbstverständlich eine andere Perspektive als die hier eingenommene, nach der Wirkung von Böhmes Schriften fragende). – In der Sache (Alt vergleicht Epigramme Czepkos und Schefflers mit den Weisheitssätzen des Corpus hermeticum) argumentiert die Studie oberflächlich informiert und fällt vielfach hinter den Forschungsstand zurück.
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wissenschaftlicher Verständigung) verteidigt, ja sogar valorisiert werden.16 Dem höchsten, letztlich unbegreiflichen Gegenstand könne keine Sprache angemessen sein, die als Medium auf die von und in ihr transportierten Inhalte diaphan sei; und zwar, weil eine solche Sprache eine Kommunizierbarkeit der Transzendenz immer schon voraussetzt. Stattdessen ist die Sprache der Bibel dunkel, bildhaft und darum mehrdeutig; so regt sie zu wiederholten Lese- und Interpretationsbemühungen an. Sie spricht in einer Weise von Gott, »die rational, d. h. theologisch am ehesten mit Hilfe eines für die Redekunst bereitgestellten Beschreibungsrepertoires nachvollzogen werden kann«. Eine solche »Transzendentalrhetorik« kann »den Verständnishorizont für die vielfältigen sprachlichen Annäherungen an das Unsagbare methodisch [vorbereiten]«.17 Dass Böhme sich mit der gleichen Grundproblematik auseinanderzusetzen hat, ist offensichtlich: »Wie seine Vorgänger schreibt er unter der paradoxen Voraussetzung, dass ein Wissen von den göttlichen Geheimnissen weder von der natürlichen menschlichen Erkenntnis erreicht werden kann noch als begriffliche Aussage zu vermitteln ist.«18 Wiederholt weist er darauf hin, dass rein rational nicht nachvollzogen werden kann, was er zu sagen hat. Wovon Böhme schreibt, ist völlig nur für den erfassbar, der die Unterweisung nicht mehr nötig hat: »Alhier hebet die Vernunft an zu speculiren, und will es fassen; gehet aber nur um den Circul von aussen um, und kann nicht darein, dann sie ist haussen, und nicht im Worte des Lebens Circkel.«19 So muss er in Analogien zu erweisen suchen, was differenzlogisch nicht denkbar ist. Das Wort von der »Transzendentalrhetorik« ließe sich gut auf Böhme beziehen; es bezeichnete dann kein der Theologie zugeordnetes Propädeutikum, sondern die rhetorische Durchformung seiner Texte selbst. Diese unterliegen ja zum Großteil schon dem Paradox, in die diskursive Linearität überführen zu müssen, was als gleichzeitig zu denken wäre. »Es hat nicht den Verstand, als w(ren die sieben Eigenschaften getheilet, und w(re eine neben der anderen, oder eher als die anderen«, so Böhme im Mysterium Magnum. »Man muß nur in StFckwerck also reden, daß mans kann schreiben, und den Sinnen entwerfen, dem Leser nachzusinnen […].«20 Es mag unter anderem der Versuch sein, den Eindruck von Gleichzeitigkeit in die Linearität der diskursiven Entwicklung hinüberzuretten; jedenfalls sind Böhmes Gedankengänge von Wiederholungsstrukturen bestimmt, die semantische Bezüge gewissermaßen auf der Oberfläche der Druck- (ebenso wie Brief-)seite selbst schon abbilden: 16
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Vgl. Peter von Moos: Was galt im lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur? Eine theologisch-rhetorische Antwort des 12. Jahrhunderts. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. v. Joachim Heinzle. Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14), 431–451. Ebd., 439, 440. Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. In: Literarische und religiöse Kommunikation (Anm. 11), 89–123, hier: 96. Jakob Böhme: Mysterium Magnum 2,4 (SS, Bd. VII, 8). – Die Werke Böhmes werden zit. n. der Ausgabe Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961 (im Weiteren mit der Sigle »SS« abgekürzt). Jakob Böhme: Mysterium Magnum, 6,22 (SS, Bd. VII, 34).
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Jan Mohr Durch diese flächige Darstellungstechnik werden zentrale Ausdrücke untereinander vernetzt. So entsteht beim Leser Bedeutung nicht nur durch rationalen Nachvollzug von linear Mitgeteiltem, sondern ebenso sehr durch die Rezeption wiederkehrender Schlüsselwörter, die bereits durch ihre punktuelle Präsenz im Text – d. h. noch nicht durch ihre syntagmatische Verknüpfung – bestimmte Inhalte suggerieren.21
Auf die Verbindung von hoch konnotativer Rede und Relationierbarkeiten auf der Fläche der Druckseite wird es mir im Folgenden noch ankommen. Der angestrebten Vieldeutigkeit könnte eine diskursive Vermittlung allein nicht gerecht werden. Böhme deckt analogische Beziehungen im Sprachmaterial in Anlehnung an die Techniken der frühneuzeitlichen, christlichen Kabbala auf, wie sie etwa Johannes Reuchlin in De verbo mirifico (1494) und in De arte cabalistica (1517) prominent präsentiert hatte.22 Ihre gleichsam ontologische Basis hat diese Technik in der Signaturenlehre der Frühen Neuzeit, die ein verborgenes Netz von Realbeziehungen zwischen den Dingen annimmt und durch deren Bezeichnung dieses angezeigt sieht. Böhmes Texten unterliegt das Konzept einer motivierten Sprache: Spiegelt sich in ihnen die Schöpfung durchs Wort, die im Wort schon alles enthielt, so wollen sie in sich die Menge an Auslegungen enthalten, der sie ihre Eindeutigkeit opfern. Jegliche Technik der Vieldeutigkeit […] liegt hier nahe. Der zerstreute Sinn, der diskursiven Fortgang ausläßt oder überspringt, ist mit dem Geheimnis der Natur in Gott koextensiv.23
Nicht nur die Beweglichkeit des Lesers, auch seine Bereitschaft zum Weiterdenken ist da schon von vornherein eingefordert. Auch darin läge eine Parallele zur mittelalterlichen, theologisch motivierten Lizenz für die rhetorische Durchformung inspirierter Rede: Ebenso wie die Theologen des 12. Jahrhunderts »den Lesern hermeneutisches Verantwortungsgefühl, die Freiheit des Urteils zutrauten«,24 21
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Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin/New York 1994 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N. F. 108), 44. Allerdings ist nicht von einer Abhängigkeit Böhmes von der Kabbala auszugehen; vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Das Geheimnis des Anfangs. Einige spekulative Betrachtungen im Hinblick auf Böhme. In: Gott, Natur und Mensch (Anm. 10), 113–127; ders.: Jakob Böhme und die Kabbala. In: Ders. (Hrsg.): Christliche Kabbala. Ostfildern 2003 (Pforzheimer Reuchlinschriften 10), 157–182; Andreas B. Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar 1998, bes. 150–152. – Zu Reuchlin: Wilhelm Schmidt-Biggemann: Einleitung. Johannes Reuchlin und die Anfänge der christlichen Kabbala. In: Ders. (Hrsg.): Christliche Kabbala. Ostfildern 2003 (Pforzheimer Reuchlinschriften 10), 9–48. Harald Haferland: Mystische Theorie der Sprache bei Jacob Böhme. In: Theorien vom Ursprung der Sprache. Hrsg. v. Joachim Gessinger u. Wolfert von Rahden. Bd. 1. Berlin/New York 1989, 89–130, hier: 98. – Zu Böhmes motiviertem Sprachverständnis Gardt (Anm. 21), bes. 46–48 u. 68–108; Wolf Peter Klein: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins. Berlin 1992, 203– 216; Richard Nate: Natursprachtheorien des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Sprachtheorien der Neuzeit I. Der epistemologische Kontext neuzeitlicher Sprach- und Grammatiktheorien. Hrsg. v. Peter Schmitter. Tübingen 1999 (Geschichte der Sprachtheorie 4), 93–115, bes. 100–102. Moos (Anm. 16), 445.
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rechnet Böhme mit einem Leser, der zu eigenem Weiterdenken bereit ist. Seine Texte »wollen ausgelegt sein, obwohl sie doch selbst schon auslegen«.25
2. Cepkos Trostschriften (Consolatio und Parentatio) Ab 1633, vielleicht schon 1632, hält sich der junge Czepko auf dem Sitz der Freiherrn Czigan von Slupska in Dobroslawitz bei Cosel auf. Die Czigans gehören zwar zum katholischen Landadel, sind aber theosophischen und im weiteren Sinne hermetischen Spekulationen gegenüber sehr aufgeschlossen. Hier schreibt Czepko für die junge Barbara Czigan nach dem Tod von deren Schwester die Trostschrift Consolatio ad Baronissam Cziganeam. Der in vier Bücher gegliederte Prosatext bedient sich einer ganzen Reihe jener Motive, die für spiritualistische wie für naturphilosophische Spekulationen des 16. und 17. Jahrhunderts charakteristisch sind; so des neuplatonistischen Emanationsgedankens, der Gleichsetzung von Tod und Ruhe oder der Gedankenfigur, dass die Seele als ein Funke von Gott in die geschaffene Kreatur eingesetzt sei.26 Zugleich ist die Argumentation durchzogen von Vorstellungen, die sich unmittelbar auf Böhme beziehen lassen. Am Anfang der Schöpfung steht für Czepko das ungeschaffene, prädikatlose Eine, Böhmes Gott im Ungrund nahe stehend. Dieses »Nicht«27 »setzt sich zum Mittel in das innerste der Natur, und also wird das Einige« (208). Aus diesem emaniert die gesamte Schöpfung, und zu ihm kehrt sie in stufenweise ablaufender Läuterung zurück, indem sie die – seit der Antike bekannte – Goldene Kette bildet; zugleich ist angedeutet, dass dieser Prozess nicht als primordial, sondern als unablässig sich vollziehend zu denken ist. Diese Vorstellung mag von Böhme – möglicherweise auch schon durch Franckenberg vermittelt – angeregt sein, sie ist aber zumindest nicht eng auf dessen Konzept der Theo- und Kosmogonie abgestimmt. Den Gedanken, dass die Natur in allen Geschöpfen, belebten wie unbelebten, wirke, entwickelt Czepko so weiter, dass er an einen Pantheismus gemahnt: »Gott bekennet die Creatur, und die Creatur bekennet wiederumb Gott, und also sind sie eines und Gott, nicht als Creatur, sondern als Gott« (219). Gott »wircket alles in der Natur, durch die Natur, und ist die Natur« (227). Dabei entfällt zumindest die Unterscheidung zwischen dem Gott im Ungrund und dem Gott, der sich selbst eine Verfassung gegeben, darin erste Prädikate angenommen und die Schöpfung initiiert hat; für Böhme ist der Ungrund unerreichbar für Welt und Mensch, auch wenn dieser zu Gott zurückfindet.28 25 26 27
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Haferland (Anm. 23), 98. Die gedanklichen Kernpunkte fasst Annemarie Meier: Daniel Czepko als geistlicher Dichter. Bonn 1975 (Studien der Germanistik, Anglistik und Komparatistik 33), 30–37, zusammen. Czepkos Texte werden zit. n. der Ausgabe: Daniel Czepko: Sämtliche Werke. Hrsg. v. HansGert Roloff u. Marian Szyrocki. 6 Bde. [8 Tlbde.] Berlin/New York 1980–1997 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 94, 128, 130, 131, 141, 146, 150, 152), hier: Bd. V, 149–308, hier: 207. Danach auch die folgenden Zitate (im Haupttext nachgewiesen). Niklaus Largier hat auf diese notwendige Differenzierung hingewiesen: Die Mitte der Zeit: Apokatastasis als Naturerfahrung in Daniel Czepko’s ›Consolatio ad Baronissam Cziga-
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Dieser scheinbare Pantheismus kann dann folgerichtig zur Behauptung einer partiellen Wesensgleichheit von Gott und Mensch führen: »Denn so fern dem Menschen alle zufällige Dinge entnommen werden, so fern ist er mehr Gott als Mensch.« (171) Tatsächlich scheint Czepkos Gedankengang aber auf Böhme zu basieren; denn die Ununterschiedenheit von Seele und Gott wird gerade mit derjenigen Gedankenfigur begründet, mit der Böhme seinen Gott im Ungrund dem Gott vorschaltet, der sich sich selbst gegenüber geoffenbart und eine Verfassung gegeben hat: »Denn er [der Mensch] ist nichts, er weiß nichts als Gott allein, darumb ist er nichts, als Gott, und Gott selbst weiß keinen Unterscheid zwischen ihm und dem Menschen, sonst müste er sich unterscheiden.« (171) Trivial wäre es, den zweiten Teil dieses Satzes zu verstehen im Sinne von: ›Gott kennt keinen Unterschied zwischen sich und Mensch, denn sonst gäbe es ja einen Unterschied.‹ Der Infinitiv »sich unterscheiden« bezieht sich doch wohl auf das Böhme’sche Konzept von Gott, der sich im Unterschied zur Welt eben nicht unterscheidet, der im ›Ungrund‹ absolut frei ist und keinerlei Bedingungen unterworfen, wie er etwa im ersten Kapitel der Gnadenwahl beschrieben wird. Diese Differenzierung und das Konzept eines Gottes, der nicht mit einem Denken in Differenzen erfasst werden kann, scheinen bei Czepko im Hintergrund zu stehen. Sie werden begrifflich allerdings weder ausgeführt, noch werden die konzeptuellen Reibungen mit pantheistischen Bildern angesprochen. Immer wieder lotet Czepko die Grenze zwischen Gottebenbildlichkeit und Gottgleichheit aus: Aber die Natur geust sich nicht in das Bild des Spiegels, nur die Gestalt des Antlitzes. Also muß sich das Göttliche Wesen entbilden in einem guten Menschen; Aber, indem es geschiehet, so stürtzt es seine Natur, und alles, das es leisten mag, über den Willen. Dann dis wesentliche Bild übersetzet den Willen, und der Wille folget dem Bilde in der Menschlichen Seele, und diese Entgiessung des Wesens hat den ersten Ausbruch aus der Natur, und zeucht sich in alles, was die Natur und Wesen kan und vermag, und die Natur entgeust sich gantz und gar mit dem Wesen in das Bild, und gäbe das Wesen der Seele nicht alles der Natur und dem Göttlichen Licht wieder, und stürtzte nicht, was es empfangen, in den Abgrund aller Wesen: ich spräche: Gott wäre nicht seelig. (248)
Ähnliches ließe sich auch an anderen Stellen zeigen: Das Konzept der Böhme’schen Theo- und Kosmogonie ist für den schlesischen Rezipientenkreis der ersten und zweiten Generation attraktiv; Czepko nimmt es in seine eigenen Gedankengänge aber eher punktuell auf und nivelliert es mit anderen pantheistischen oder panvitalistischen Konzepten. Denn ein gedanklich strikt kohärentes Werk ist die Consolatio nicht: Diese groß angelegte Rede von der Überwindung des Todes beginnt ganz quietistisch (erstes Buch), steigt zu christosophischer Lehre fort (zweites Buch), redet dann einer parazelsischen Naturlehre das Wort (drittes Buch) und mündet im letzten Buch in eine auch für das Luther-
neam‹. In: Homo medietas. Aufsätze zu Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Festschrift für Alois Maria Haas zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Claudia Brinker-von der Heyde u. Niklaus Largier. Bern u. a. 1999, 221–239, hier: 230.
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tum tragbare Lehre von der höchsten Freiheit des Menschen: Der unbedingten Nachfolge Gottes ein.29
1660, wenige Monate vor seinem eigenen Tod, verfasst Czepko eine Leichenrede auf die mit knapp drei Jahren verstorbene Prinzessin Louise, eine der beiden Töchter des Piastenherzogs Christian. Diese Parentatio ist überformt von triadischen Strukturen, und dies auf allen Konstitutionsebenen des Textes, von der Wortebene (Reihung von Substantiven oder Adjektiven) bis hin zur semantischen Tiefenstruktur.30 In der Entwicklung der topischen Bestandteile einer Totenrede (Lob, Klage, Trost)31 nutzt Czepko die Gelegenheit, dem Adressatenkreis sein naturphilosophisches und christosophisches Konzept und sein Verständnis von der Bedeutung des Todes zu entwickeln. Und eben deswegen, weil sie nicht in ihrer repräsentativen Funktion aufgeht, ist die Parentatio auch für unseren Zusammenhang interessant. Die Rede ist in drei Fassungen erhalten; der am 17. März 1660 vorgetragenen Version (I.), einer für die Drucklegung entworfenen, wesentlich erweiterten Fassung (II.) und der Druckfassung, in der die Erweiterungen weitestgehend getilgt sind (III.). Von drei imaginierten Emblemen her entwickelt Czepko die Pointe, dass ein dreijähriges Kind aus verschiedenen Gründen für den Tod geradezu prädestiniert, nämlich für das Jenseits überaus gut gerüstet sei. In der erweiterten, dann nicht gedruckten Fassung II verdoppelt er die Auslegung der imaginierten Embleme durch eine jeweils an Erwachsene gerichtete. In diesen drei Zusätzen nun argumentiert er vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Naturspekulation und hermetischer Lehren. Dass dabei die Auferstehung in Analogie zu alchemischen Prozessen erklärt wird, muss noch keineswegs auf einen Böhme-Einfluss hindeuten; für die Engführung von Tränen der Reue und »MAGNET-BALSAM« oder »SALPETER-LAUGE«32 kann zunächst das rhetorische Prinzip arguter Metaphorik in Anschlag gebracht werden. Die Mahnung zur Umkehr und der Hinweis »DAS HIMMELREICH IST INWENDIG IN EUCH« (431) verweist so gut auf Valentin Weigels Konzept der Herzenskirche wie auf Böhme.
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Milch, Czepko (Anm. 4), 131. Vgl. Sibylle Rusterholz: Rhetorica mystica. Zu Daniel Czepkos Parentatio auf die Herzogin Louise. In: Rudolf Lenz (Hrsg.): Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. Bd. 2. Marburg 1979, 235–253; daneben auch Ferdinand van Ingen: Daniel von Czepkos Consolatio ad Baronissam Cziganeam. Tröstung, Rhetorik, Psychologie. In: Die oberschlesische Literaturlandschaft im 17. Jahrhundert. Im Auftrag der Stiftung Haus Oberschlesien hrsg. v. Gerhard Kosellek. Bielefeld 2001 (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien), 171–192. Vgl. zur Textsorte consolatio grundlegend Peter von Moos: Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur über den Tod und zum Problem der christlichen Trauer. 4 Bde. München 1971/72 (Münstersche Mittelalter-Schriften 3), und zum Epicedium des 17. Jahrhunderts, das den gleichen rhetorischen Grundsätzen folgt, Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), 89–147. Daniel Czepko: Parentatio (II) auf die Herzogin Louise (erweiterte Fassung). In: Sämtliche Werke (Anm. 27), Bd. V, 409–447, hier: 418. Die folgenden Nachweise im Haupttext.
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An einer Stelle allerdings wählt Czepko Formulierungen, die man sich ohne Böhme kaum vorstellen kann. Beim dritten zu imaginierenden Emblem solle man sich als Pictura ein »STÜCKE UNGEPRÄGTES GOLD« (431) denken. Das an Erwachsene sich richtende Motto lautet »SPIRITUS CONSUMMATUS« (433), ›der vollendete Geist‹. Die These, dass man zur Erlangung der Vollkommenheit in seinen Ursprungs- und Ruhepunkt zurückkehren müsse – also auch hier der RückkehrGedanke –, wird mit Argumenten aus drei Wissens- (oder Vorstellungs-)bereichen ausgeführt, der Alchemie, der Magie und der Kabbala. Die Magie, »die einige wahrhaffte und göttliche MAGIA oder die verborgene Weißheit Gottes« (436), schwankt konzeptuell zwischen einer Geheim- oder Offenbarungslehre und einem Prinzip im Wirken Gottes, das gewissermaßen quer zum Böhme’schen Konzept des Willens – und deswegen mit diesem nicht recht koordinierbar – die Selbstentäußerung Gottes initiiert und bestimmt: »Also sucht diese MAGIA ihren Urstand in dem Geiste Gottes, durch deßen Regung in dem ewigen Nichts die Sucht, und in dieser der Göttliche Willen, und aus ihm das Wesen aller Dinge entstanden.« (436) Czepkos Magie kann nicht mit dem Böhme’schen Willen identifiziert werden, ist aber gleichwohl auf ihn bezogen: Dann wer hat im Anfange die Sucht: in ihr den ewigen Willen: in ihm die Bildung, in ihr das Wesen rege gemacht, und die unermeßlichen Gebaüde, das UNENDLICHE REICH, Gott zu seinem Throne, den großen Himmel den Engeln zu ihrer Wohnung und die schöne Welt den Menschen zu ihrer Herrschafft aus dem Ungrunde heraus geführet? Die MAGIA.33
Czepko folgt Schritt für Schritt Böhmes theo- und kosmogonischem Konzept:34 Gott ist zuerst der ungeschaffene, einige, ununterschiedene Gott im »Ungrunde« oder, im voranstehenden Zitat, das »ewige[ ] Nichts«; er wird so bezeichnet in Negation zu allem Diskursivierbaren, weil der Mensch das Un-Bedingte nicht wahrnehmen kann und also als Gegenteil von Etwas nur Nichts wahrnimmt. Als ununterschiedener hat Gott einen ungerichteten Willen, die »Sucht«. Indem Gott dann sich selbst eine Verfassung gibt, also sich eine erste Bedingung auferlegt, erfährt diese Sucht eine Richtung, sie wird zum »ewigen Willen« des selbstverfassten Gottes, und aus diesem »Willen« heraus erfolgt die Schöpfung; und zwar werden zuerst die Urformen der ewigen Natur (»Bildung«) und dann die ›reale‹ Welt geschaffen. Weitere Differenzierungen der Böhme’schen Kosmogonie sind nun freilich ausgelassen, aber ihr ganz entsprechend ist es der gerichtete Wille, der die Schöpfung initiiert, zunächst den transzendenten Bereich für Gott selbst und die Engel, dann den immanenten Bereich, die »schöne Welt den Menschen zu ihrer Herrschafft«. All dies Geschaffene hat seinen Ursprung in Gott selbst, im »Ungrund[ ]«, aus dem es emaniert.
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Ebd., 436 f. – Vgl. zu Böhmes Magia-Konzept: Sex Puncta Theosophica. Oder Von Sechs Theosophischen Puncten (1620), Punkt V (SS, Bd. IV, 93–96). Vgl. auch Siegfried Wollgast: Morphologie schlesischer Religiosität in der Frühen Neuzeit. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Hrsg. v. Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), 113–190, hier: 164.
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Punktuelle Bezugnahmen auf Böhme’sche Gedanken lassen sich in Czepkos geistlicher Prosa nachweisen, in den frühen wie in den späten Schriften. Ein exklusiver Referenzpunkt ist damit aber nicht bezeichnet; die in der Parentatio entwickelte Vorstellung von Alchemie, Magie und Kabbala »ist kaum mehr in Einklang zu bringen mit dem, was noch Böhme darunter versteht«.35 Czepko integriert Denkmodelle aus neoplatonistischen, paracelsistischen, kabbalistischen und weiteren naturphilosophischen und hermetischen Lehren in seinen Entwurf. Dieses Versammeln von Argumenten aus verschiedenen Diskurshintergründen verdankt sich der Logik der philosophia perennis, die von einer transhistorischen und transkulturellen Kontinuität basaler philosophischer Fragestellungen ausgeht.36 Diskursiviert ist mit diesem Begriff um die Mitte des 16. Jahrhunderts eine gelehrte Praxis des Zusammentragens von Weisheitslehren, die in eigentlich unterschiedlichen Diskurstraditionen stehen. Eine solche Praxis unterliegt zwar auch Böhmes Schreiben, aber ganz ungewöhnlich ist bei ihm der Grad, mit dem er die verfügbaren Angebote seinem eigenen Konzept integriert; und insofern ist es vielleicht tatsächlich »nicht zuviel gesagt, wenn man Böhme den Anspruch unterstellt, die Supertheorie der Zeit geben zu wollen«.37 Hingegen wird man bei aller »Klarheit« im Aufbau und in der rhetorischen Gestaltung, »die nichts mit dessen [Böhmes] Verworrenheit und wunderlichen Vorstellungen […] gemein hat«,38 aus Czepkos beiden Trostschriften kaum ein geschlossenes Konzept rekonstruieren können;39 möglicherweise ein Hinweis darauf, dass in diskursiven Schriften (und hier handelt es sich zudem um repräsentative Gelegenheitsschriften) eine Aufnahme von Elementen aus Böhmes System nur unter konzeptuellen Brüchen zu bewerkstelligen ist, weil diese überaus implikationsreich und kaum zu isolieren sind. Im nächsten Schritt gehe ich einer solchen Aufnahme in Czepkos Epigrammsammlung Sexcenta Monodisticha Sapientum nach, die unter dem verdoppelten Begründungs- und Rechtfertigungszusammenhang nicht nur geistlicher, sondern auch poetischer Rede stehen.
3. Czepkos Sexcenta Monodisticha Sapientum Viele der in den diskursiven Schriften Czepkos entwickelten Gedanken finden sich im Hauptwerk seiner geistlichen Lyrik, der Epigrammsammlung Sexcenta Monodisticha Sapientum, wieder: so die Emanationsvorstellung, das Konzept eines Buchs der Natur, die Notwendigkeit für den Menschen, um- und in seinen Ursprung zurückzukehren, die Vorstellung einer inneren Kirche, die Suche 35 36 37 38 39
Milch, Einleitung (Anm. 2), XLII. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998. Haferland (Anm. 23), 93. Milch, Einleitung (Anm. 2), XX. Vgl. etwa zur Consolatio ebd., XXXII–XXXIV.
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nach Ruhe. »Nicht wenige Epigramme« erscheinen tatsächlich »als eigentliche Versifizierungen von Stellen aus der ›Consolatio‹«.40 Indem nach Spezifika einer poetischen (und hier näherhin epigrammatischen) Bearbeitung Böhme’scher Theosopheme zu fragen sein wird, richtet sich mein Interesse auf das Zusammenspiel von diskursiven Gehalten, Textstrukturen und phänomenalem Anmutungscharakter im Lektüreprozess. Die Monodisticha versammeln 600 Epigramme, ausschließlich Zweizeiler, in sechs Büchern zu je 100 Epigrammen. Jeder Hundertergruppe ist ein Sonett vorangestellt, das seinerseits von einem eigenen Motto und einer Subscriptio – so könnte man in Analogie zum ›klassisch‹ dreiteiligen Aufbau des Emblems das unter dem Sonett notierte zweite Motto bezeichnen – angereichert ist. Außerdem schreibt jedes Sonett dem Leser eine bestimmte Rolle zu, richtet sich also etwa »AN LESENDEN«, »AN FORSCHENDEN«, »AN SEELIGEN«.41 Diesem sechsteiligen Arrangement ist nun ein Widmungsgedicht von mehr als 500 Versen Länge vorangestellt, flankiert von einigen weiteren Nebentexten. Im Widmungsgedicht, nach der adaptierten antiken Gedichtform als Phaleucus bezeichnet, nimmt Czepko mehrere poetologische Selbstverortungen vor. Einerseits empfehlen die Monodisticha sich dem Adressaten als geeignet für die Stunden der Muße und greifen so den bekannten Nebenstundentopos auf.42 Andererseits tritt das Ich dieses Phaleucus mit enormem Selbstbewusstsein auf und gesteht seinen Epigrammen einen höheren Erkenntnisanspruch zu als den etablierten Wissenschaften, die je mit einem prominenten Vertreter aufgeführt sind. Gegen deren nur zeitliche, immanente Erkenntnisreichweite setzt das Ich seine Sinnsprüche, die auch einen transzendentalen Stellenwert hätten.43 Das dabei zugrundegelegte Konzept vom Fall des Menschen und von den zwei Büchern der Natur und der Schrift, über die man wieder zum Ursprung in Gott finden solle, nimmt Böhme’sche Gedanken und Begriffe auf, prominent das »FIAT« und die Betonung des Aussprechens und Aushauchens: Die NATUR ist ein Licht, das vorgebrochen, Als das ewige FIAT ward gesprochen: Das im I seinen Ausfluß hat gefunden, Der ohn Ende sich an das A gebunden: Und so allen Geschöpffen eingegeben 40
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Meier (Anm. 26), 70; vgl. auch Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Barock-Mystik. Tübingen 1988, 191. Einige knappe Beispiele bei Milch, Einleitung (Anm. 2), XXXVIII. Daniel Czepko: Sexcenta Monodisticha Sapientum (Sämtliche Werke [Anm. 27], Bd. I,2, 517–672, hier: 545, 567 u. 652). – Die einzelnen Epigramme werden im Folgenden mit Angabe von Buch (römische Ziffern) und Nummer (arabische Ziffern), die Sonette, wie hier, unter Angabe der Seite im Haupttext nachgewiesen, das Einleitungsgedicht (ebd., 524–542) mit Angabe der Verse. Phaleucus, V. 81–108; zum Topos Andreas Palme: »Gedichte haben auch jhr Glücke:« Die Sinngedichte Friedrich von Logaus und ihre Rezeptionsgeschichte. Erlangen, Jena 1998 (Erlanger Studien 118), 36–46; Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, 212–222. Zur im Phaleucus entworfenen Wissenschaftssystematik vgl. Milch, Czepko (Anm. 4), 148– 164.
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Geist und Wesen, Gestalt, und Licht und Leben. Dieses FIAT, das ist das Wort und Wesen, Das Gott selbsten war, und Gott hat erlesen: […].44
Unter den folgenden 600 Zweizeilern finden sich weitere Bezüge auf Böhme; aber selten fallen sie so deutlich aus wie in den eben zitierten Versen des Einleitungsgedichts. Die epigrammatische Ökonomie der Verknappung, von Czepko mit seiner strikten Beschränkung auf Zweizeiler aufs Konsequenteste durchgeführt, lässt keinen Raum, die Bezüge auf welche Quellen und Anregungen auch immer deutlich zu markieren.45 Das ›Fiat‹ kann man im Epigramm IV 53 wiederfinden, aber nicht notwendig muss man diesen Bezug herstellen; denn dort ist vom »ewge[n] Wort« die Rede, und damit ist nicht unbedingt der Böhme’sche Gedanke einer perpetuierten Schöpfung aufgenommen. Ebenso könnte man an eine von Anbeginn an bestehende Gültigkeit der Schöpfung durch das Wort denken, und das stünde durchaus im Einklang mit dem biblischen Schöpfungsbericht.46 I 24 lässt an Böhmes Konzept von Licht- und Zornqualität denken, die in Gottes Wesen zusammenfallen: »Bey Gott ist Gnad und Zorn. Die Glut bringt beyde für, | Die umb Ihn ist, giebt Tod: die in Ihm, Krafft und Zier.« Aber auch hier könnte man zögern: Weckt der zweite Vers nicht auch Assoziationen mit dem alttestamentarischen Gott, der sich einen eifernden Gott und ein verzehrendes Feuer (Dt 4,24) nennt? Dessen Zorn wäre auf einer anderen Ebene anzusiedeln als Böhmes viel abstraktere Gedankenfigur, auch wenn dieser sich in der Gnadenwahl gerade auf die Deuteronomium-Stelle bezieht, um seine Gegenüberstellung von Licht- und Zornqualität zu illustrieren. In einem Epigramm des sechsten Buchs spürt Czepko den Bestandteilen des Wortes ›Mensch‹ nach (VI 69): M – – ENS M – – EINS. ENS: Das gemeint dich MENSCH: MENS sondert dich in dir: Denn MENS das bringt mein ENS, und MEINS mein EINS herfür.
In der Gnadenwahl stellt Böhme Reflexionen über ›Mens‹ und ›Ens‹ an, auf die Czepko sich möglicherweise bezieht. Für Böhme wird »Jm MENS […] die lebendige Wesenheit, welche geistlich ist, verstanden, als ein gantz geistlich Wesen«; »[u]nd im ENS wird das Leben der sieben Eigenschaften der Natur verstanden, als das empfindliche wachsende Leben […].« ›Ens‹ verwiese demnach auf die kreatürliche, ›Mens‹ auf die geistig-seelische Seite des Menschen; und diese Differenz (Czepko: »sondert dich in dir«) wird allererst durch die ›Mens‹ gesetzt. Gleichwohl geht bei Böhme die ›Mens‹ dem ›Ens‹ vorauf: »Jm MENS wird ver44 45
46
Phaleucus, V. 321–328. Angelus Silesius wird in seinem Cherubinischen Wandersmann nicht nur in der Vorrede, sondern gelegentlich auch in Fußnoten unter einzelnen Epigrammen klarstellen, wie einzelne möglicherweise provozierende Formulierungen gemeint seien. Vom »ewge[n] Wort« ist auch in II 79 zu lesen, dort liegt die Assoziation mit Böhme näher; ich komme auf II 79 zurück.
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standen die G=ttliche heilige Kraft in der Fassung des Worts […]«.47 Und so ist es nur stimmig, wenn im Epigramm das »MENS […] mein ENS« hervorbringt. Die Parallelführung mit ›meins‹ und ›eins‹ aber öffnet die präzise auf Böhme beziehbaren Verse auf kaum mehr exakt zu bestimmende Assoziationsräume: Wird hier die Abgrenzung des Ich gegen ein Außen (»MEINS mein EINS«) mit der Kraft des göttlichen Wortes analog gesetzt, sodass in ihr das meditierende Individuum sich seiner bewusst werden kann? Ein anderer Zweizeiler zerlegt das Wort »M. ENS. CH.« in drei Komponenten, die auf »MENS«, »ENS« und auf den »CHrist[en]« (VI 50) im Menschen verweisen; keine weitere Reflexion schließt sich an, sodass man in ihnen den Christen als verstandesmäßiges, kreatürliches und gläubiges Wesen bestimmt sehen kann, aber nähere Böhme-Bezüge nicht nachzuweisen sind. Von der prinzipiellen Unterscheidung geistig-körperlich oder beseelt-kreatürlich geht zwar auch Böhme bei seiner Reflexion über ›Mens‹ und ›Ens‹ aus; sie ist aber ihrerseits nur eine Interpretation basalerer Konzepte von der ›doppelten Natur‹ des Menschen, auf die Czepko sich bezieht. Die in der epigrammatischen Verdichtung nur vagen Bezüge auf konkrete philosophische oder spiritualistische Lehren, seien sie heterodox oder nicht, haben möglicherweise dazu beigetragen, dass man die Monodisticha gelegentlich unter dem eher unverbindlichen Signum ›Pantheismus‹ verbucht hat.48 Eine ganze Reihe von Zweizeilern mögen Argumente dafür liefern; wenn sie aber nicht für sich, sondern in einer ›konjizierenden Lektüre‹ wahrgenommen werden, zeigt sich, dass das synkretistische naturphilosophische Konzept doch auch deutlich Böhme’sche Züge trägt. In einem Epigramm des ersten Buchs wird die schon im Phaleucus (bes. V. 317 ff., 497 ff., 535 ff.) stark gemachte Gedankenfigur der zwei-Bücher-Lehre aufgenommen; das ihm folgende Gedicht hat jenen IndexCharakter der Schöpfung zum Thema, der sich zwanglos aus der frühneuzeitlichen Signaturenlehre ableiten ließ (I 71; 72):49 EINIGE DAS GETHEILTE. Wie Gott und Mensch, so ist geeint NATUR und SCHRIFFT, Wol dir, wann Seel und Leib auch so zusammen trifft. DAS LEBEN REDET. Ich hatte kaum das Licht in dieser Welt erkiest, Da schrie ein iedes Ding mir sämmtlich zu: Gott ist.
47 48
49
Alle Böhme-Zitate: Gnaden-Wahl 5,1–4 (SS, Bd. VI, 51); die Verwendung der Antiqua-Type ist durch Kapitälchen wiedergegeben. Kemper (Anm. 40), 183–207: »Pantheismus als Selbstbefreiung des Menschen (Czepko)«; Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550–1650. Berlin 1988, bes. 839–841; ders.: Morphologie (Anm. 34), 164; zuletzt Alt (Anm. 15), 35. Friedrich Ohly hat darauf hingewiesen, dass der frühneuzeitlichen »Signaturenlehre das radikal Neue eigen [sei], daß die Signaturen strikt immanent in die Natur hineinweisen« (Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit. Bemerkungen zur mittelalterlichen Vorgeschichte und zur Eigenart einer epochalen Denkform in Wissenschaft, Literatur und Kunst. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Uwe Ruberg u. Dietmar Peil. Stuttgart, Leipzig 1999, 6).
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Zwei Gedanken werden hier enggeführt, die sich jeweils in eigenen Textreihen durch die Sammlung der Monodisticha verfolgen lassen. Mit I 72 wird die Frage nach der Möglichkeit einer Gotteserkenntnis aus der Erkenntnis der ›natura loquax‹50 aufgeworfen, bleibt aber zunächst wenig konturiert: Gemahnt die sinnvoll eingerichtete Welt lediglich an Gott als ihren Schöpfer, oder ist sie näherhin geeignet, einen Weg der Gottessuche zu initiieren und zu begleiten? Das folgende Epigramm (I 73) greift den Gedanken auf und stellt entschiedener Naturhermeneutik als Weg zur Gotteserkenntnis vor. Ganz ähnlich III 10: »Das Gräslein ist ein Buch, suchst du es aufzuschliessen, | Du kanst die Schöpffung draus und alle Weisheit wissen.« Die Verse scheinen sich zwar auf innerweltliche Erkenntniszusammenhänge zu beschränken. Ihre Überschrift allerdings deutet an, dass »alle Weisheit« mehr meinen könnte als ein Wissen über die Immanenz der gottgeschaffenen Natur: »ALLES VOLL GOTT.« Das lässt sich pantheistisch lesen, und es wäre dann nur folgerichtig, dass die Erkenntnis der Natur und die Gottes miteinander verschränkt sind. In einem anderen Gedicht wird ebenfalls Naturdeutung auf das Erkennen von Gott bezogen. Aber nicht in pantheistisch begründeter Verschränkung, sondern in einer gestaffelten Abfolge, so heißt es hier, seien die einzelnen Erkenntnisschritte aufeinander bezogen. Das lässt an die neuplatonistische Emanationslehre denken; sie scheint hier aber im Sinne der Böhme’schen Theo- und Kosmogonie akzentuiert zu sein, wenn auch das ›Fiat‹ eine eigenständige Phase bildet (II 79): GOTT: WORT: NATUR: Folg ihr, biß daß du siehst das ewge Wort: ES SEY. So kommst du der NATUR, dem WORT, und GOTTE bey.
Die Verse sind, bedenkt man die ihnen zugrunde liegenden Konzepte, nicht ohne Risiko. Denn anders als in der neuplatonistischen Vorstellung von der Goldenen Kette, die im Ausfluss alles Geschaffenen aus Gott und der sukzessiven Läuterung und Rückkehr zu ihm gebildet wird, ist bei Böhme ja ein Bruch gedacht zwischen Gott im Ungrunde und dem im ›Fiat‹ sich selbst entäußernden Gott. Gott im Ungrunde aber kann nicht erkannt werden, er ist ›Nichts‹, die Negation aller Prädikate. »So kommst du […] GOTTE bey«? Von hier lohnt sich ein Blick zurück zum Ausgangspunkt der so gebildeten Reihe, wo die Fragen nach Gotteserkenntnis und Gottebenbildlichkeit zusammengeschlossen sind (I 71): Die beiden Bücher der Schrift und der Natur werden dem Du ja nicht als ›Medien‹ der Verkündigung und der Heilslehre genannt, sondern sie illustrieren eine Verbindung von Gott und Mensch, die der Leser auf sich selbst zu übertragen hat: Sein ihm von Gott eingegebener und sein kreatürlicher Anteil sind in Einklang zu bringen. Das scheint einer Wesensgleichheit von 50
So der Titel eines naturkundlichen Thesaurus von 1630. Vgl. Wolfgang Harms, Heimo Reinitzer: Einleitung. In: Natura loquax. Naturkunde und allegorische Naturdeutung vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit. Hrsg. v. dens. Frankfurt a. M. u. a. 1981 (Mikrokosmos 7), 7–16, hier: 12.
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Gott und Seele das Wort zu reden, wie sie auch in IV 70 formuliert ist (»Gleich ist die Seele Gott […]«); es steht aber anderen Epigrammen entgegen, die sehr genau darauf halten, dass die Seele nur als Bild Gottes und ihm nur ähnlich zu beschreiben sei (IV 38, V. 2: »Was sie [die Seele] im BILDE hat, das hat der Höchst im WESEN.«). Der Widerspruch wird – freilich nur punktuell – entschärft in IV 68 (»GOTTES-BILD, GOTT«) und in V 55, das eine Wesensgleichheit von Bild und Ursprung postuliert: EBEN/: DASSELBIGE:/ BILD. Gott und sein Bild sind gleich. Du siehst ein einges Wesen: Wann du das DEIN in IHM: das SEIN in DIR erlesen.
Man könnte der vorgeführten Lektüre entgegenhalten, dass sie Zusammenhänge gegen den Text herstelle; dass sie Gedichte aus dem ersten mit solchen aus dem dritten und vierten Buch der Monodisticha zusammenschließe und eigene Abfolgen schaffe, die der überlieferte Text so nicht kennt. Dieses Argument ließe sich zunächst mit Hinweis auf Lesepraxen in der Frühen Neuzeit entschärfen. Es sind Modi gelehrten Lesens bekannt, die nicht so sehr die Gesamtaussage eines Textes oder die Stellung eines Argumentes im entwickelten Gedankengang zu erfassen suchen, sondern wesentlich interessegeleitet sind und einen Text durchaus eklektisch wahrnehmen.51 Und denkbar ist eine Praxis geselligen Lesens, das in gemeinschaftliches Reflektieren übergehen (und sich darin weiter vom Text ablösen) kann. Ähnliches, wenn auch spielerischer grundiert, führt Georg Philipp Harsdörffer in seinen Frauenzimmer-Gesprächsspielen vor. Zweitens aber ist der oben illustrierte Lesemodus in der Struktur der Monodisticha selbst angelegt; sie stellen ja keine Sammlung im Sinne nachträglicher Kompilation dar, sondern eine vom Verfasser verantwortete, wie locker immer strukturierte Komposition.52 Sie ist beschreibbar als eine parataktische Reihung von kurzen, in sich abgeschlossenen Einzeltexten ohne weitere hierarchische Organisation, die mit einer Gliederung in sechs Teile und einer programmatisch teleologischen Ausrichtung in den Sonetten konkurriert. Denn in den Sonetten vor den sechs Hundertergruppen wird tatsächlich inszeniert, dass der Lesende allmählich zu Gott finde, wie es der Phaleucus an einer Stelle selbstbewusst ankündigt.53 In unmittelbarer Abfolge gelesen, markieren sie eine Aufstiegsbewegung, 51
52
53
Vgl. im Überblick Helmut Zedelmaier: Lesetechniken. Die Praktiken der Lektüre in der Neuzeit. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Helmut Zedelmaier u. Martin Mulsow. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64), 11–30. Dass der weitgehende Konsens seitens gattungstheoretischer Forschung, das Epigramm sei unter anderem durch Isoliertheit von seinem Kotext zu definieren, gerade den Epigrammbüchern und -sammlungen der Frühen Neuzeit nicht gerecht werde, ist die These von Jan-Steffen Mohr: Epigramm und Aphorismus im Verbund. Kompositionen aus kleinen Textformen (Daniel Czepko, Angelus Silesius, Friedrich Schlegel, Novalis). Frankfurt a. M. u. a. 2007 (Mikrokosmos 78): Die strukturalistische Bestimmung trage den historisch erwartbaren Gebrauchszusammenhängen und den vom Textarrangement selbst angebotenen Funktionalisierbarkeiten nicht im nötigen Maße Rechnung. »Also machen die Menschen diese Reime | Durch den Weg der Natur mit Gott geheime […]« (Phaleucus, V. 377 f.).
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die zunächst scheitert und dann durch eine Bewegung nach innen ersetzt wird; sie führt den Leser von seiner Rolle als »LESENDE[M]« zu der als »BEFREYTE[M]« und schließlich als »SEELIGE[M]« (545, 610, 652). In dieser Rolle erlebt er den mystischen Durchbruch als unmittelbar bevorstehend: »Hier beschleust das Sechste Hundert, numehr fält der SABBATH ein […]« (652). Diese klare Linearität bietet der Text aber nur in den Sonetten an. In den Epigrammen selbst ist kaum eine inhaltliche Gewichtung nach den sechs Hundertergruppen und in Abstimmung mit den jeweiligen Sonetten zu erkennen.54 So aber entfaltet sich in den Monodisticha ein Sinnzusammenhang auch unabhängig von theologischen oder philosophischen Referenzen, punktuell gar gegen diese.55 Seine Konstitution ist auf den Prozess der Lektüre verlagert. Deutlich lädt Czepko dazu ein, die Gedankensplitter der Zweizeiler als Anregung und Anfang zu eigenem Weiterdenken zu begreifen. »MEHR DENCKEN, ALS LESEN« ist das die ersten hundert Epigramme einleitende Sonett unterschrieben (545); und Czepko adressiert seinen Epigrammzyklus an Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar, seit 1651 Haupt der Fruchtbringenden Gesellschaft, als »Der Zuversicht lebende, die Fruchtbringende Gesellschafft werde mit mir das Ende der Dinge bedencken […]« (522). Das mag zum Teil einer Konvention vormoderner Geselligkeit56 und nicht zuletzt dem Anlass der Adresse selbst verpflichtet sein (mit den Monodisticha bewarb sich Czepko auf Empfehlung Franckenbergs um Aufnahme in die Gesellschaft);57 dahinter steht aber auch die Vorstellung eines gemeinsamen Philosophierens und Spekulierens, das in der textuellen Faktur der Monodisticha selbst angelegt ist. Böhme-Gedankengut wird mitunter deutlich aufgerufen, rückt aber in andere Gedankenbewegungen ein. Es verliert dabei sein präzises philosophisches Profil und gewinnt an konnotativen Bezügen. So bieten sich beinahe stets assoziative Verknüpfungen zum voranstehenden und zum folgenden Zweizeiler an. VI 53, eine kurze Feier des unabsehbar weiten Sternenhimmels, lässt sich mit seiner Überschrift (»UNENDLICH«) kontrastiv auf das nachstehende Epigramm beziehen; die ganz ohne Pointierung oder Folge54
55
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57
Vgl. etwa Milch, Einleitung (Anm. 2), XXXVII f.; Sudhof (Anm. 4), 236; Friedrich Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Die Wandlungen im religiösen Bewußtsein Daniel Czepkos (1605– 1660). In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 51 (1932), 480–511. Allerdings scheint es etwas dramatisiert und zugleich die Möglichkeiten integumentaler Rede überschätzend, wenn Kemper ([Anm. 40], 191) davon ausgeht, die argut verkürzte Schreibform der Distichen sei »ein vorzügliches Medium zur Artikulation von häretischen Auffassungen, welche der Eingeweihte verstand, ein Zensor aber nicht voll zu greifen vermochte«. Tatsächlich wurden die zum Druck bestimmten Monodisticha zensiert und sind nur in einer Abschrift von 1723 erhalten. Zu den Hintergründen vgl. Werner Milch: Drei zeitgenössische Quellen zur Biographie Daniel von Czepkos. In: Euphorion 30 (1929), 257–281; das dort mitgeteilte Schreiben von Czepkos damaligem Sekretär Zacharias Allert jetzt auch in Czepkos Sämtlichen Werken ([Anm. 27], Bd. 6, 242–252, hier: 250 f.). Vgl. Wolfgang Adam (Hrsg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28). – Wenn man den älteren Darstellungen glauben darf, entspricht dies eben der Praxis der Kreise des schlesischen Landadels, in denen Czepko sich bewegte; vgl. Wilhelm Wyrtki: Czepko im Mannesalter. Diss. masch. Breslau 1923, 103 f. (zit. in Milch, Einleitung [Anm. 2], XIX–XXI; kritisch dazu Milch, Einleitung [Anm. 2]). Die Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft scheiterte aus ungeklärten Gründen.
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rung auskommende Beobachtung leitet dann hinüber zur Reflexion auf den »URSPRUNG« des schön eingerichteten Kosmos – freilich in spezifisch Böhme’scher Konzipierung; es ist nicht einfach »Gott«, der den »Himmel« (VI 53) geschaffen hat. Das Wort vom Ursprung ist wörtlich zu verstehen, Czepko paraphrasiert, in starker Verknappung, die Böhme’sche Theo- und Kosmogonie (VI 54): URSPRUNG. Der Abgrund ist das NICHT. Das Nicht ist dann die Sucht, Draus kam die Welt und ich: Gott hat es bloß vermocht.
Wiederum das folgende Epigramm schafft mit der Frage »Wer zehlt die Stern, und rufft mit Nahmen ihnen für?« den Rückbezug zu VI 53 und stellt dem Böhme-Gedicht den (alttestamentarischen) Schöpfergott gegenüber.58 Die deutlichen Böhme-Anklänge sind damit eingedämmt, die devianten Positionen erscheinen wie eingerahmt von schlichter Beobachtung und Bibelallusion. Ein letztes Beispiel: WORT: BROD: IM
BROD: WORT. Dich nährt die Krafft, die aus dem Körnlein also frey, Schoßt, blühet, körnert, reifft: Was ists? Das Wort: ES SEY. UNTERM GERINGEN DAS GROSSE. Das innrg von der Speis erhält dich: das ist schlecht. Schlecht: es ist voller Gott, darum gebrauch es recht. DANCKE GOTT. Wie mild und fromm ist Gott: Du issest seine Güte, Verschwelge sie ja nicht, daß er dich fort behüte.
Diese kurze Folge von Epigrammen aus dem sechsten Buch der Monodisticha (VI 76–78) ist lose verbunden über das semantische Feld ›essen‹. Das erste scheint den Böhme’schen Gedanken von der Schöpfung in Gottes Wort ›Fiat‹ zu enthalten, die in einem immerwährenden Akt des Sich-Entäußerns Gottes perpetuiert sei. Deshalb ist es nicht die Natur und näherhin das Korn an sich, das von Gott geschaffen wurde, sondern die Schöpfung vollzieht und wiederholt sich in jedem einzelnen Korn; und in jedem »BROD« ist folgerichtig die lebenspendende Kraft Gottes enthalten. Diese argumentative Einbettung ist nun nicht ausgeführt; der spezifisch böhmistische Hintergrund ist angeboten, muss aber nicht zwangsläufig mitgedacht werden. Das Epigramm und die beiden ihm folgenden bieten daneben auch andere Konnotationen an. Die Überschrift ist zunächst geeignet, Assoziationen an die Einsetzungsworte zu wecken; dass das dargereichte »BROD« hier nicht etwa Christi Leib sei, könnte für den zeitgenössischen Leser gerade den 58
Es klingen Gen 15,5 (»suspice caelum et numera stellas si potes«) und Ier 33,22: (»sicuti numerari non possunt stellae caeli et metiri harena maris«) an (Zitate nach: Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Hrsg. v. Roger Gryson. 4., verbesserte Aufl. Stuttgart 1994).
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Reiz darstellen, den ein argutes Spiel mit Erwartungen und Enttäuschungen bereiten soll. Der erste Vers und auch noch das folgende erste Kolon erinnert zudem an die neuplatonistische Vorstellung der Schöpfung als eines ewigen Ausflusses von und aus Gott (das »Wort: ES SEY« als diesen Emanationsprozess begründender Akt wäre damit noch nicht abgedeckt). Im folgenden Zweizeiler (VI 77) ist dann die Hülle-Kern-Metaphorik aufgerufen, die zwischen Textoberfläche und darunter verborgener Bedeutung unterscheidet.59 Eine Pointe läge dann im provozierenden Gebrauch von »schlecht«: Denn nicht minderwertig ist das nichtMaterielle der »Speis«, sondern, so muss man wohl lesen, im älteren Wortsinne von ›schlecht‹ schlicht und damit gerade, unverfälscht. Vor dem Hintergrund des voranstehenden Epigramms gelesen, würde dann die Gedankenfigur von der geistigen Nahrung mit dem Böhme’schen Gedanken vom schöpfenden und in die Schöpfung sich entäußernden Gott eine spezifische Füllung erfahren. Vom dritten Distichon VI 78 dann lässt sich ein Bogen zurückschlagen zum ersten der Reihe; von hier aus würde sich auch die Assoziation mit den Einsetzungsworten in der Überschrift von VI 76 verstärken; und man könnte weiter überlegen, ob nicht im Sinne der lutherischen Umdeutung der Eucharistie von der realen Transsubstanziation hin zu einer Gedächtnisfeier eben nicht mehr formuliert ist: du isst Gott, sondern dass das Gott-Essen als nur mehr symbolisiert gedacht ist. Der Böhme’sche Gedanke vom schöpfenden Wort ›Fiat‹ ist eingegliedert in andere (natur)philosophische wie biblische Traditionshintergründe. Das Changieren zwischen Böhme-nahen und dann wieder -fernen Formulierungen wird aber kaum als Bruch wahrgenommen; und eben dies könnte man als die spezifische Leistung der Monodisticha ansprechen, die in der Spannung zwischen epigrammatischer Verknappung und ›offener‹ Struktur begründet liegt. Ferdinand van Ingen hat vor kurzem darauf hingewiesen, dass Böhmes ungewohnte Vorstellungen für ein Dichten attraktiv sein mussten, das dem rhetorischen Prinzip der argutia gehorcht: »Die Lyrik der Schlesier greift die Gedankensplitter des Ungewohnten auf und nutzt sie zu neuartigen poetischen Valeurs.«60 Aber nicht schon in der Aufnahme überraschender Begrifflichkeiten scheint sich eine ›poetische‹ Böhme-Rezeption auszuzeichnen, sondern gegenüber Czepkos Trostschriften liegt allererst in der Offenheit, die den Leser zu eigener Initiative anregt, die Leistung seines Epigrammzyklus.
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Zur Tradition grundlegend Hans-Jörg Spitz: Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends. München 1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften 12), bes. 61–72; Gerhard Ebeling: Art. »Geist und Buchstabe«. In: RGG, Bd. 2, 1290–1296. Ferdinand van Ingen: Jacob Böhme und die schlesischen Dichter Daniel von Czepko, Johannes Scheffler und Quirinus Kuhlmann. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 117), 243–265, hier: 251. Vgl. auch Peter Rusterholz: Jakob Böhmes Naturbild und der Stilwandel der Dichtung vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Gott, Natur und Mensch (Anm. 10), 209–221.
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4. Sinnentgrenzung und philosophia perennis: Franckenbergs Raphael Franckenbergs Schrift Raphael oder Artzt-Engel, 1639 verfasst, aber erst postum 1676 zum Druck gelangt,61 hat der Forschung lange als »vollkommene Paraphrase Böhmes«62 gegolten. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, hat sie bisher insgesamt wenig Aufmerksamkeit erfahren; das betrifft nicht nur Inhaltlich-Thematisches, sondern insbesondere die textuelle Faktur des Traktats. Das Heilmittel, das unter dem Namen des Erzengels Raphael verkündet wird, richtet sich gegen die metaphysische Versehrtheit des Menschen. Franckenberg entwickelt eine zweigeteilte Kosmogonie »Ausser Creatur« und »In Creatur«, in deren Ordnung der Mensch eigentlich »zu einem warhafftigen/ G=ttlicher Natur theilhaftigen/ Sohne oder Kinde Gottes werden k=nnen«63, wenn er nicht vom Teufel zum Abfall von Gott bewegt worden wäre. So aber ist er sterblich, und sein metaphysisches Heil ist einer »angeerbte[n] Geist- und Leibliche[n] KRANCKHEIT« (12) gewichen. Das ist nun kosmologisch – die göttliche Heilsordnung betreffend – und zugleich auf den Einzelnen bezogen gemeint: Der Sündenfall kann sich – muss aber nicht – in jedem Menschen wiederholen. Die vom Ich des Textes Franckenberg angebotene Medizin ist in zweierlei Weise zu gebrauchen, nämlich »erstlich PROPHYLACTICÈ vor dem Falle« (15) und zweitens therapeutisch für denjenigen, der den Abfall von Gott in seinem eigenen Verhalten aktualisiert und bestätigt hat. Die Medizin selbst besteht aus drei Arzneien, der kabbalistischen oder geistlichen, der magischen und der »CHYMISCHE[N] | Oder sinnlich/ leiblich und im Fleisch empfindliche[n]« (35). Diese letztere Medizin erhält den breitesten Raum; sie speise sich aus fünf Quellen, erstens aus ›geistlichen und leiblichen‹ Elementen, aus Tieren, Pflanzen, Gesteinen und schließlich einer Sparte »Von allerley gemischten Dingen« (39). Unter diesen drei Klassen metaphysischer Heilmittel mit ihren Untersparten werden jeweils Bibelstellen genannt und anzitiert, die als Beleg für das wirkende Prinzip dieser drei Arzneien dienen. Franckenberg ruft neben spezifisch böhmistischen Konzepten und Terminologien ein breites Spektrum alchemistischer (»CHYMISCHE«; S. 35),
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Czepko hatte den Traktat im Manuskript kennen gelernt; davon zeugt nicht nur ein Epigramm (in: Kurtze Satyrische Gedichte V, 42 [Sämtliche Werke (Anm. 27) I,1, 309 f.]. Die Datierung ist wie bei den meisten in den Satyrischen Gedichten zusammengestellten Epigrammen unsicher; einen Hinweis gibt das im gleichen Buch notierte Gedicht 38, das sich auf ein Ereignis des 9. Mai 1645 bezieht), sondern auch die Erwähnung im den Monodisticha vorangestellten Widmungsgedicht (V. 181 f.). Hubert Schrade: Beiträge zu den deutschen Mystikern des 17. Jahrhunderts II: Abraham von Franckenberg. Diss. masch. Heidelberg 1923, 102. Ich zitiere nach dem – auch online einsehbaren – Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München (Signatur: 4 Asc. 346): RAPHAEL oder Artzt-Engel. Auff ehmaliges Ersuchen eines Gottliebenden Medici. A. S. Auffgesetzt von H. Abraham von Franckenberg […] Amsterdam 1676, hier: 7. Hiernach auch die folgenden Nachweise im Haupttext (die Verwendung der Antiqua-Type ist durch Kapitälchen wiedergegeben; wo der Druck Majuskeln verwendet, konnte sie nicht mehr eigens ausgewiesen werden).
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paracelsistischer,64 ›magischer‹,65 kabbalistischer und naturphilosophischer Erkenntnisse auf. Die den Zusammenhalt dieser im weitesten Sinne ›hermetischen‹ Wissenschaften garantierende Basis ist eine quasi metaphysisch erweiterte Signaturenlehre. In Verbindung mit einer neuplatonistischen Emanationslehre stellt das ›Buch der Natur‹ nicht nur ein für den Menschen prinzipiell entschlüsselbares Beziehungs- und Verweissystem innerhalb der Schöpfung dar, sondern es verweist auch zurück auf den Ursprung der Emanation, auf Gott. Aus dem Wissen, dass im Sinne dieses Verweissystems alles mit allem in Beziehung stehe und man diese verborgenen Beziehungen ergründen und benennen müsse, resultiert die textuelle Faktur der Schrift und davon unablösbar ihre typographische Gestaltung. In seinem »im historischen wie im umgangssprachlichen Sinn ›hermetisch‹ anmutenden Schriftbild[ ], das auf den heutigen Leser zweifellos irritierend wirkt«66 dürfte das Hauptfaszinosum des Raphael liegen. Auf den ersten Blick fällt ins Auge, wie der Text umgeben ist von Marginalien, aufgelöst wird in tabellenartigen Schemata und beinahe in jeder Zeile überlagert ist von sekundären Bezügen, indem einzelne Wörter, Silben oder nur Buchstaben typographisch ausgezeichnet werden. Das fordert eine Beschreibung seiner ›Paratextualität‹ geradezu heraus – wobei schnell deutlich werden dürfte, dass das von Gérard Genette vorgelegte, immer noch maßgebliche Theorieangebot zum Paratext hier an seine Grenzen stößt (Genette legt seiner Darstellung weitgehend moderne Texte zugrunde).67 ›Produktionsästhetisch‹ haben diese paratextuellen Elemente im Prinzip durchaus den Status von Paratexten im Genette’schen Sinne: Sie belegen das im Haupttext Gesagte mit auctoritates, verweisen auf weiterführende Literatur, ergänzen den Haupttext oder perspektivieren ihn neu. Schwieriger umzugehen ist mit den tabellenartigen ›Auflösungen‹ des Fließtextes. Die zahlreichen typographischen Hervorhebungen (die Genette ebenfalls noch zu den Paratexten zählt68) dienen natürlich dazu, auf Worte oder Wortbestandteile und damit auf Sachzusammenhänge zwischen den damit bezeichneten Dingen aufmerksam zu machen. Das Wort ›Arznei‹, das für den Text eine zentrale Rolle spielt, wird entsprechend aufwändig (und moderne Textverarbeitungsprogramme heillos überfordernd) erläutert:
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Vgl. Maria Paola Scialdone: »Aller Heilsamste Mum Iah«: Lebensbalsam (pseudo-)paracelsiano e »Selbsterlösung« nel ›Raphael‹ di Abraham von Franckenberg. In: Studi germanici 39 (2001), 7–35. Zum Magie-Begriff in der Frühen Neuzeit vgl. etwa Peter Cersowsky: Magie und Dichtung. Zur deutschen und englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1990, zu Franckenberg 140–153. Rusterholz, Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme (Anm. 5), 231. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M./New York 1989. – Zu neueren Modellbildungen vgl. v. a. die einschlägigen Beiträge in Frieder von Ammon u. Herfried Vögel (Hrsg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Berlin 2008 (Pluralisierung & Autorität 15). Genette (Anm. 67), 14.
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Abb. 1: München: Bayerische Staatsbibliothek: 4 Asc. 346, S. 21 (Ausschnitt)
Während dieser zweite große Abschnitt des Traktats mit den drei Arzneien nicht zwangsläufig vor der Folie Böhmes gelesen werden muss, gibt die am Anfang präsentierte Kosmogonie detailliert die Vorstellungen Böhmes über die Selbstentäußerung Gottes und den Beginn der Schöpfung wieder: 2.
Also fassete Er nun in diesem seinem Vorsatz, einen innigen zu sich selbst gekehrten Willen, oder geistliches Wallen, und aufqu(llen. 3. Und der Wille zog sich in ein kr(ftiges Begehren: (wie der junge Most, in seinem CIRCULIREN, pfleget zu gyren oder zu g(hren.) 4. Und die Begierde gebahr in sich ein dringendes GelFsten, oder S(hnen. 5. Die Lust erweckte ein in sich selber Dringen, Ringen und Bewegen. 6. Und die Bewegung erregete den Geist der AEwigen NATUR im Centr○ verborgen. 7. Und der Geist rFhrete, rieb, rang und drang, s(hnete, (ngstete und erw(rmte sich in und mit sich selber zu einer gem(ßigten W(rmde. 8. Diese W(rmde gebahr auß sich eine grosse umb sich fahende Hitze. 9. Von welcher stieg auf ein subtiler Dampf oder geistlicher RAUCH und Nebel. 10. Dehme folgete der GeRuch, und die EntzFndung, so da war ein G=tliches FbernatFrliches FeUR. 11. In welchem […] das LEBEN, das ist, das AEwige Allm(chtige WORT LICHT und GEIST als ein stilles und sanftes Sausen. (2 f.)
Neben dem Inhalt entspricht auch die phonetische Kette ›Wille, Wallen, quellen‹ Böhme. Allerdings wird Klangähnlichkeit an anderen Stellen des Traktats eher noch weidlicher ausgenutzt, wie die Begründung des Wortes ›Arznei‹ gezeigt hat. Ähnlich im Weiteren: Franckenberg erweitert die kabbalistische Technik der »Temura, die jenen geheimen Sinn durch Umstellung der Buchstaben gewinnt, zu einer Art natursprachlicher Komparatistik, wenn er das hebräische ›RUACH ÆLOHIM‹, den (lebengebärenden) Geist Gottes, der nach Gen 1,2 über den Wassern schwebte, über den Gleichklang mit dem deutschen Wort ›RAUCH‹ auf ›NEBEL‹ bezieht, aus welchem sich durch Umstellung ›LEBEN‹ ergibt«.69 Kabbalistische Spekulationen, die von einem Gleichklang der Wörter auf einen Sachzusammenhang der bezeichneten Dinge schließen, kennt natürlich auch 69
Rusterholz, Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme (Anm. 5), 230 f.
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Böhme:70 Wenn es etwa in der Morgenröthe heißt, dass die »Quell-geister uhrplitzlich mit dem hohen Liechte inficiret oder umbfangen worden«, und kurz darauf vom »Plitz«71 die Rede ist, dann sind die Wörter ›plötzlich‹ und ›Blitz‹ lautlich aneinander angelehnt, und zwar so, dass ein auch sachlicher Zusammenhang plausibel gemacht wird. Die Rede vom »Plitz« ist schon vorbereitet, das Moment des Überraschenden, Plötzlichen wird fortgeführt, beide Worte beglaubigen einander und den Sachverhalt: […] die gesamte Argumentation dient […] der Bestätigung der Validität des metaphysischen Bezugsrahmens, ist im Grunde eine Erscheinungsform dieses alles dominierenden Bezugsrahmens. […] Sämtliche Phänomene der Natur und des geistigen Lebens interessieren nur insofern, als sie dieses Göttliche zum Ausdruck bringen.72
Indem den Klangähnlichkeiten letztlich das Verweissystem der Signaturenlehre zugrundeliegt, plausibilisieren, autorisieren und ontologisieren sie die Böhme’sche Lehre; insofern gehorcht ihre Funktionalisierung einem Prinzip der Ökonomie. In Franckenbergs Raphael wird nun das gleiche Prinzip nicht nur wesentlich ausgreifender genutzt, sondern scheint auch in ganz anderer Weise funktionalisiert zu sein als bei Böhme. Besonders deutlich wird dies, wo die Linearität sprachlicher Aussagen aufgehoben und die einzelnen Terme in die Form von Tabellen gegeben werden.73 Der Raphael ist voll davon. Hier ein – noch verhältnismäßig übersichtliches – Beispiel vom Beginn des Textes:
70
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72 73
Vgl. Sibylle Rusterholz: Elemente der Kabbala bei Jacob Böhme. In: Mystik und Schriftkommentierung. Hrsg. v. Günther Bonheim u. Petra Kattner. Berlin 2007 (Böhme-Studien 1), 15–45. Jacob Böhme: Morgenröte im Aufgang; zit. n. der Ausgabe: Jacob Böhme: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 143/ Bibliothek der Frühen Neuzeit 6), 9–506, hier: 240 f. Diese Ausgabe gibt den Druck von 1656 wieder, die späteren Drucke haben einen anderen Zeichenstand und lassen die sachliche Nähe von ›plötzlich‹ und ›Blitz‹ nicht mehr erkennen. Gardt (Anm. 21), 41. In den Schriften Böhmes finden sich insgesamt sehr wenige Tabellen (die meisten in den Tabulae principiorum; SS, Bd. IX, 55–74), und diese sind auf eindeutige Zuordnung der korrespondierenden Terme ausgerichtet. Das Gleiche gilt für die Schemata im 47. Theologischen Sendbrief an Gottfried Freudenhammer von 1623 (SS, Bd. IX, 183–204) und für eine »Tabell« im Mysterium Magnum (SS, Bd. VI, 21), die Abraham von Sommerfeld »vom Autore in solcher Form empfangen« habe (SS, Bd. VII, 34) und die zusammenfasst, was die davorstehenden Paragraphen entwickeln.
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Abb. 2: München: Bayerische Staatsbibliothek: 4 Asc. 346, S. 2 (Ausschnitt)
Das hier in der mittleren Spalte notierte »Wesen, Wille, Wort, WFrcken« lässt sich ohne Schwierigkeiten an der Böhme’schen Kosmogonie messen. Dies wird nun aber angereichert. Für eine ›diskursivierende‹ Pharaphrase muss man regelmäßig die Leserichtung ändern, ohne dass aber ein verbindlicher ›Leseparcours‹ vorgegeben wäre. Das Subjekt des Satzes wäre versuchsweise zu paraphrasieren mit »GOTT« (und zwar der dreieinige aus »Vater«, »Sohn« und Heiligem »Geist«, und dieser letzte Bezug wird in der Schreibweise »GOTH« augenfällig) »ALS EJN« »ÆWIG« »Selbst(ndiges Wesen«, »Gen(diger Wille«, »Allwissendes Wort«, »Allm(chtiges WFrcken« »oder« aber (offensichtlich auf »GOTT« bezogen) »GVTT« (an das Böhme’sche »Einige ewige Gute«74 erinnernd), das ausdifferenziert wird zu »Gut«, »Water«, »Suhne«, »Geust« (was man aber je auch anders lesen muss, denn die Klangähnlichkeit enthüllt eine wesenhafte Korrespondenz, sodass »gleichsam« ›ähnlich klingend‹ meint wie auch ›zugleich seiend‹: »Gemutt«, »Wasser«, »Sonne«, »GeIste«). Man sieht: Die Tabelle paraphrasieren zu wollen und dabei alle möglichen Bezüge zu berücksichtigen, ist mit erheblichem Aufwand verbunden. Die Darstellung als solche gehorcht also ebenfalls einem Ökonomieprinzip. Auf den Sinngehalt der Rede wirkt ein derartiges Verfahren aber entgrenzend, um so mehr, als diese Tabelle hier auch noch in einen Satz eingelassen ist, dessen Syntax gleichsam ›aufgesprengt‹ wird: »Von AEwigkheit […] machete […] GOTT […] Jhme selber einen Heiligen Vorsatz […]« (2).75 Der Effekt dieser Aufsprengung ist eine Anreicherung 74 75
Jakob Böhme: Gnadenwahl 1,5 (SS, Bd. VI, 5). Ein Schema in den Tabulae principiorum (SS, Bd. IX, 59) ähnelt den »Lehrgraphiken« (Telle [Anm. 6], 32) des Raphael; ganz anders als dort aber werden alle einzelnen Positionen erläutert. Und das Verhältnis von fünf mal vier tabellarisch angeordneten Wörtern bzw. Wortbestandteilen und der drei Druckseiten langen Erläuterung unterstreicht, wie ökonomisch die tabellenartige Darstellung ist; die mit ihr einhergehende semantische Entgrenzung wird in der Erläuterung (anders als im Raphael) gerade wieder eingeholt. Dabei bleiben Schema
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durch Bezugspotentiale und Sinngehalte. Die Signifikanten proliferieren, ohne dass man an jeder Stelle erkennen könnte, inwiefern das semantische Angebot eines neu eingespeisten Wortes aufgenommen und produktiv gemacht würde. Die Signifikantenkette ›Vater‹ – ›Water‹ – ›Wasser‹ leuchtet ein, aber die Kette »Geist« – »Geust« – »GeIste« bietet wohl weniger etwas Neues, als dass es die Trinität von Vater, Sohn und Geist zu erfüllen hat – generiert die einmal gewählte Matrix der Tabelle in vier Zeilen einen Zwang zur Komplettierung? Auf einen ersten Blick scheinbar überschüssige Terme und die zahlreichen Paratexte, paratextuellen Symbole und Zeichnungen, ja schon die graphische Hervorhebung einzelner Wörter, Silben und Buchstaben stiften Mehrbezüge – polemisch, aus der rational-aufgeklärten Sicht des modernen Betrachters, gesprochen: Sie stiften die Erwartung von Mehrbezügen –, die quer gelagert sind zur Linearität des entwickelten Gedankengangs und die über dessen Semantik hinweg paradigmatische Beziehungen und eine Tiefenstruktur konstituieren. Der Text ist nach einem Prinzip aggregativer Anreicherung organisiert; der in ihm transportierte Sinn aber, der – mehr noch als bei Böhme – »diskursiven Fortgang ausläßt oder überspringt«,76 wird gleichsam organisch angereichert, indem die Aufmerksamkeit auf immer neue, ›reale‹ Sachzusammenhänge gelenkt wird.77 Entsprechend haben in der Lektüre viele Worte nicht zuletzt einen Inzitamentcharakter, sie regen zur Reflexion auch über das textuell Angebotene hinaus an. Mit eben einer solchen Reflexion rechnet der Text mehrfach explizit: Das nur knapp Entworfene sollen die »wFrdigen und verst(ndigen« »grFndlicher erkFndigen und gebrauchen« (40), und die »zur Zeit unaußgemachte, jah nur angefangene Grundlegung mit geh=rigem Fleiß und treuer Nachfolge […] erg(ntzen« (20). Wo Böhme einen im Prinzip geschlossenen (wenn auch nicht in jeder Schrift gleichermaßen ausgearbeiteten) Entwurf vorlegt, dem »Leser weiter nachzusinnen«,78 öffnet Franckenberg sein Modell ganz explizit für weitere Ergänzungen. Denn in der Logik der philosophia perennis gilt es ja, aus allen ergiebigen Wissensbeständen Argumente für den eigenen Gedankengang zu finden und den eigenen, synkretistischen, theosophischen Welterklärungs- und Heilsentwurf zu beglaubigen. Kabbala, Alchemie, Hermetik, Theosophie, (Natur)Philosophie können dabei wahrgenommen werden als Beiträge zu einem transdisziplinären Projekt, das, wie bei Franckenberg perspektiviert, auf einen anagogischen Impetus zielt. Folgerichtig sind dabei auch Sinnangebote zu versammeln, die nicht unmittelbar in die eigene Argumentation Eingang finden. Sie haben trotzdem Geltung, insofern sie als Beiträge zur Wiedergewinnung einer prisca sapientia wahrgenommen werden können. Man kann die philosophia perennis als Ausdruck einer epistemisch plural verfassten Welt verstehen, als deren Letztbegründungszusam-
76 77 78
und Erläuterung getrennt, eine Auflösung der Syntax, wie im Raphael gerade gesucht, ist vermieden. Haferland (Anm. 23), 98. Vgl. Gardt (Anm. 21), 89. Stellvertretend für zahlreiche weitere Male: Theologischer Sendbrief 47 (SS, Bd. IX, 194).
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menhang zwar nach wie vor die von Gott sinnvoll eingerichtete Schöpfung beschworen wird, für deren Erfassung aber keine Erkenntnislehre mehr Exklusivität oder auch nur den Primat beanspruchen kann. Der Synkretismus des Raphael hat diese Pluralisiertheit ebenso zur Voraussetzung wie schon Böhmes Theosophie selbst. Franckenbergs »natursprachliche Komparatistik«79 ist der Versuch einer Zusammenführung heterogener Bestandteile eines verlorenen Wissens um Heil: Um diese epistemologische Ebene wäre Sibylle Rusterholz’ sozialhistorische Einordnung von Franckenbergs Irenik vielleicht zu ergänzen.80 Dabei gibt sich der Text polyhistorisch gesättigt und richtet sich ostentativ nicht zuletzt an eine humanistische Gelehrtenrepublik: »Mit […] seiner Neigung zum Allegat, mit der Eigenart, das Gesagte jeweils mit dem Hinweis auf andere Autoren zu bekräftigen, bewegt Franckenberg sich scheinbar in den herkömmlichen Bahnen des Späthumanismus.«81 Das ist die entgegengesetzte Selbstinszenierung wie bei Böhme, dessen Gegenüberstellung von Erleuchtung und Gelehrtentum und dessen Inszenierung der eigenen simplicitas möglicherweise ebenso eine Reaktion auf die diskursiv unübersichtlich gewordene religiöse Debatte seiner Zeit darstellen.82 Und anders als bei Böhme wird im Raphael de facto ein Lektüreverfahren eingefordert, das sich immer wieder auch von der vorgegebenen Argumentation löst, um die – im wörtlichen Sinne – drum herum aufgebotenen Sinnpotentiale wahrzunehmen, ihnen nachzugehen und sie zueinander in Beziehung zu setzen. Neben der linearen Lektüre wird eine vergleichende eingefordert; und dies noch erheblich nachdrücklicher als bei Böhme. Analoges ließ sich, wenn auch unter ganz anderen Bedingungen der Textstruktur, für Czepkos Monodisticha zeigen. Hier ist es das Nebeneinander von diskreten, in sich abgeschlossenen und aufs Äußerste verdichteten Gedankensplittern, die eben nicht diskursiv miteinander vermittelt werden und deswegen nicht nur in einem komplementären Verhältnis zueinander, sondern auch in Geltungskonkurrenz untereinander wahrgenommen werden können. Auch Czepko zielt, in der Tradition der theologia negativa stehend, nicht auf Eindeutigkeit ab. Anstatt aber 79 80
81 82
Sibylle Rusterholz: Elemente christlicher Kabbala bei Abraham von Franckenberg. In: Christliche Kabbala (Anm. 22), 183–197, hier: 188. Ebd., 197: »Seine Meditationen lassen sich weder auf Techniken der allegorischen Kodierung und Dekodierung reduzieren noch auf die christliche Strategie der Reduktion kabbalistischer Sinnkonstitution auf christliche Allegorese. Sie sind vielmehr Ausdruck des Willens eines irenischen Geistes, den Streit der Konfessionen und Kulturen zu überwinden.« Ebenso Rusterholz, Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme (Anm. 5), 232: »Es ist das Konzept der Philosophia Perennis, das Franckenbergs […] konfessionsirenische Haltung begründet.« Ebd., 232; vgl. Telle (Anm. 6), 34–37. Eine Überlegung Wilfried Barners deutet in diese Richtung: »Es drängt sich die Frage auf, ob die eigentümliche Zentrierung auf ›Einfalt‹ […] so etwas wie eine bestimmte Epochensignatur trage. ›Einfalt‹ als provokative Antwort auf eine überkomplex gewordene religiöse Wirklichkeit?« (Über das »Einfeltige« in Jacob Böhmes Aurora. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hrsg. v. Dieter Breuer u. a. Wiesbaden 1995, Tl. II, 441–453, hier: 453)
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die von vornherein zum Scheitern verurteilte Suche nach einer gültigen Aussage über das ineffabile linear zu gestalten, also für eine durchlaufende Lektüre einzurichten (die dann freilich nicht zum Ziel gelangen könnte), ist in den Monodisticha schon ein durchgehender Weg selbst aufgegeben und eine Entscheidung über Richtung und Progression in der Lektüre dem Leser überlassen. Auch hier »überspringt« der Text »diskursiven Fortgang«. Nicht so freilich der »Sinn«,83 insofern nämlich er sich über die abgeschlossenen Einzeltexte hinweg organisch wie im Raphael entfaltet. In einem Brief an den mit Franckenberg eng befreundeten Wilhelm Schwartz84 markiert Czepko den Hintergrund, der dem anagogischen Anspruch der Monodisticha unterliegt. Die Reime korrespondieren analogisch dem wesenhaften Zusammenhang von Mensch – in Anklang an Böhmes Dreifaches Leben mit den drei Instanzen Seele, Geist und Leib gedacht – und Gott: Weil aber das Menschliche Gemüthe nichts anders als ein Reim und Wiederhall des Göttlichen Wesens ist, habe ich desen Eigenschafft nach meine WEISE LEHREN in kurtze Reime schliessen und faßen wollen. […] Ein iedwedes Wort ist wesentlich in der Seelen: ebenbildisch und geistlich in den Sinnen: aüserlich und leiblich im Munde und Aussprechen. Und das leibliche Aussprechen ist ja nichts anders als ein Wiederhall des Bildes in Sinnen, gleicher gestalt das Sinnische Bild nichts anders ist als ein Abriß des Wesens in der Seele. So hoch diese drey Geburten unterschieden, so sehr sind sie eines im Wesen: und dieses schleust sich schneller als ein Augenblick auf und zu. Ein Reim nun, der in diesem Grunde gemacht, und aus dem Grunde gelesen wird, wie solte er nicht zu dem Grunde das wieder reimende Gemüthe leiten und führen.85
Zwar nicht mit der Inszenierung einer zyklischen Struktur, die den Leser am Ende überraschend doch wieder auf den Anfang verweist, aber in der Lesebewegung vom einzelnen Epigramm zum nächsten, würde man Ähnliches auch für Angelus Silesius’ Cherubinischen Wandersmann zeigen können. Und das an Franckenbergs Raphael gezeigte Prinzip einer Umstellung von semantischer Transparenz auf Opazität, von begrifflicher Klarheit und Stringenz auf konnotative Anreicherung ließe sich etwa an Quirinus Kuhlmanns Kühlpsalter beobachten.86 Diese Umstellung hat nun zweifellos einen epistemologischen und damit historischen Index. Im Bereich der Dichtung ist er wohl mit dem argutia-Ideal zu benennen, das freilich bei Czepko zu anderen Formlösungen führt als bei Kuhlmann, also nicht abgelöst von gattungstraditionellen Vorgaben in Anschlag gebracht werden kann. Auf Affinitäten zwischen der (christlichen) Kabbala, argutem Sprachspiel und der spezifisch Böhme’schen Diktion ist verschiedentlich hingewiesen worden:
83 84 85 86
Haferland (Anm. 23), 98. Über den Breslauer Wilhelm Schwartz informiert Wotschke (Anm. 3). Daniel Czepko: Brief an Wilhelm Schwartz vom 24. April 1646. In: Sämtliche Werke (Anm. 27), Bd. VI, 69 f. Vgl. den Beitrag von Harald Haferland in diesem Band.
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Es liegt im Wesen der spekulativen Schriftauslegung und der hebräischen Sprache, zum gedankenreichen Spiel zu ermuntern. Die Kabbalisten wollten neue, überraschende Möglichkeiten der Übersetzung und Deutung des altvertrauten Bibeltexts geben und dem Leser gleichsam »Aha«-Erlebnisse schenken.87
Vielleicht ist dabei der Spiel-Aspekt allzu sehr betont worden; denn ebenso wie den kabbalistischen Techniken liegt auch Böhmes, Franckenbergs und ebenso Czepkos Schreiben88 die Vorstellung einer motivierten Sprache zugrunde. Das Aufdecken verborgener Bezüge über die Arbeit am Sprachmaterial aber stellt zweifellos einen wesentlichen Impetus im Schreiben aller drei dar (wenn auch bei Czepko weniger zentral): Durch die Entdeckung des passenden Gleichnisses in der Natur überwindet das ingenium des Naturphilosophen die Unzulänglichkeit der Sprache als fixierte Semantik. […] Die Sprache des Naturphilosophen Böhme ist daher eine durch und durch rhetorisch-poetische, insofern sie suggeriert und evoziert, und dadurch die Dunkelheit, in der sich der [Mensch?] durch den Sündenfall befindet [sic!], blitzartig durch ein Gleichnis aufhellt und begrifflich auflöst.89
Die phänomenale Nähe zu barocker argutia ist bei Böhme wie bei seinen Nachfolgern, und dies dürfte das entscheidende Kriterium sein, in der Vorstellung einer motivierten Sprache begründet. Natürlich ist sie zutiefst rhetorisch, aber diese Überformung verdankt sich nicht der ›unverbindlichen‹ Suche nach dem Sprachspiel wie in manchen Spielarten des Konzeptismus, sondern der Suche nach ontologischen Zusammenhängen.90 Diese Zusammenhänge können aber, in dieser Logik nur folgerichtig, nicht schon vollständig angeboten werden, sondern der Leser ist dazu aufgerufen, in der scharfsinnigen Lektüre eigene Beobachtun87
88
89
90
Otto Betz: Friedrich Christoph Oetinger als Theosoph und das hebräische Erbe im schwäbischen Pietismus. In: Glauben und Erkennen. Die Heilige Philosophie von Friedrich Christoph Oetinger. Studien zum 300. Geburtstag. Mit einem Geleitwort von Gerhard Schäfer hrsg. v. Guntram Spindler. Metzingen/Würt. 2002, 94–130, hier: 122. Zu Czepkos ›wesentlichem Sprechen‹ vgl. Meier (Anm. 26), 72–79; Sibylle Rusterholz: Barockmystische Dichtung: Widerspruch in sich selbst oder sprachtheoretisch begründete Sonderform? In: Bildungsexklusivität und volkssprachliche Literatur. Literatur vor Lessing – nur für Experten? Hrsg. v. Klaus Grubmüller u. Günther Hess. Tübingen 1986 (Kontroversen, alte und neue. Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Bd. 7), 185–195. Hildegard Eilert: »Die Natur arbeitet mit Höchstem fleiss«: Jakob Böhmes Sprachschaffen und seine Auffassung von der Schöpfung als progressivem Prozess. In: Morgen-Glantz 4 (1994), 155–190, hier: 181. Vgl. auch Italo Michele Battafarano: »Aha-Erlebnisse« im arguten Spiel mit Bildern. Marginalien zur Rezeption der barocken Kabbala von Böhme, Knorr von Rosenroth und der Prinzessin Antonia bei Friedrich Christoph Oetinger. In: Morgen-Glantz 14 (2004), 375–386, hier: 383: »Auch […] Böhme, demontierte und rekonstruierte die Sprache nach einer theologischen Semantik eigener Art, die er erfand und genauso argut barock wie theosophisch begründete, weil er sich dazu geistig und geistlich zugleich inspiriert fühlte.« Wenn Rusterholz, Elemente christlicher Kabbala bei Abraham von Franckenberg (Anm. 79) schreibt: »Wie die Sprachauffassung der Kabbala überhaupt […] ist Franckenbergs Sprachkonzept und dasjenige Czepkos, der hier in seiner unmittelbaren Nachfolge steht, prinzipiell antirhetorisch ausgerichtet« (193), so dürfte sie auf eben diesen Einwand abzielen. Die Frage nach dem Sprachkonzept ist aber keine der Rhetorik, sondern eine der Episteme.
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gen hinzuzufügen und die Suche nach der verborgen-offenliegenden Wahrheit fortzusetzen.
5. Meditationen Die bisherigen Überlegungen haben, indem sie für Böhme wie für die BöhmeRezeption der ersten und zweiten Stunde das »Ideal eines mündigen, dem Schein der Bilder gegenüber resistenten […], weil hermeneutisch durchtrainierten Lesers«91 voraussetzten, mögliche Wege einer rationalen Lektüre bzw. ihre Voraussetzungen nachgezeichnet. Einen solchen semantisierenden Lektüremodus zu rekonstruieren fällt verhältnismäßig leicht; vielleicht, weil die ihm zugrunde liegende Logik von Differenz und Identität in der »Sinnkultur« (Hans Ulrich Gumbrecht) der Moderne ohnehin den dominanten Sinnstiftungsoperator darstellt. Allerdings ist damit nur die eine Seite von Franckenbergs Raphael und der von Böhme beeinflussten Lyrik erfasst. Neben einem Lektüremodus, der nach Bezügen und Differenzen zwischen den einzelnen Gedichtinhalten sucht und das Textangebot der Sammlung nutzt, um über die angebotenen Propositionen hinauszugelangen (bei Czepko, ebenso aber bei Angelus Silesius in seinem Cherubinischen Wandersmann), bzw. der das Zeichendickicht zu durchdringen sucht (etwa bei Kuhlmanns Kühlpsalter), ist auch mit einem Lesen zu rechnen, das die Gedichte zum Anlass frommer Betrachtungen nimmt. Denkbar ist, dass ein solches ›andächtiges‹ Lesen sich bei der Lektüre von den Texten selbst ablöst und in einer ›schwebenden Aufmerksamkeit‹92 zwischen ihnen und eigener Meditation sich bewegt. Das wäre ein Verhalten, wie man es gerade für Andachtsbilder der Frühen Neuzeit kennt. Vielleicht ist der Vergleich nicht zu weit hergeholt; bereits Sibylle Rusterholz zielt auf eine Analogie in der nahegelegten Rezeptionshaltung ab, wenn sie für das Titelkupfer des Raphael – es zeigt das von zahlreichen Böhme-Drucken bekannte Auge als Symbol des Ungrunds, in einem Dreieck und umgeben von zwei konzentrischen Strahlenkränzen, mit einem die Trinität symbolisierenden dreifachen Jod und weiteren hebräischen Schriftzeichen – feststellt: »[…] durch das Ineinanderspiegeln verschiedener Sinnschichten werden solch scheinbar einfache Bilder zu eigentlichen Meditationsvorlagen«.93 Und die funktionale Engführung lässt sich für den Raphael noch um eine sozusagen phänomenale ergänzen, insofern »sich Franckenbergsche Texte sowohl über das Ohr wie über das Auge [erschließen], ja häufig muß man den Text sehen, um ihn zu verstehen«.94 Beim Raphael gilt das für jede Druckseite. Historisch erwartbar ist 91 92
93 94
Moos (Anm. 16), 446. Den Ausdruck verdanke ich Susanne Köbele: Zwischen Klang und Sinn. Das GottfriedIdiom in Konrads von Würzburg Goldener Schmiede (mit einer Anmerkung zur paradoxen Dynamik von Alteritätsschüben). In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hrsg. v. Anja Becker u. Jan Mohr. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), 303–333. Rusterholz, Elemente christlicher Kabbala bei Abraham von Franckenberg (Anm. 79), 190. Ebd., 188; ebenso 192.
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neben dem Typus des umfassend gebildeten Lesers, der des Hebräischen mächtig ist, alle dargestellten Symbole und ihre Bedeutungshintergründe kennt und alle tabellarischen Figuren aufzulösen imstande ist, auch der eines vom Anmutungscharakter der geheimnisvollen Zeichen sich überwältigen lassenden Lesers, der immer wieder aus seiner (rationalen, aufschlüsselnden) Lektüre gerissen und zum Betrachtenden wird. Insofern macht der Raphael auch das Angebot zu einer Lektüre nach dem mittelalterlichen Modell der ruminatio; einer ruminatio unter den Bedingungen von konzeptioneller und medialer Schriftlichkeit95 und einsamem, stillem Lesen. Ein solcher Lesemodus lässt sich aber auch, mutatis mutandis, für die Epigrammsammlungen Czepkos und Schefflers vorstellen. Das ›wiederkäuende‹ Lesen bezöge sich dann in erster Linie auf die Semantik der Texte, deren gedankliche Überschneidungen Effekte der Wiederholung schon per se in sich bergen. Und die kurzen, diskreten Texteinheiten in ihrer arguten Verdichtung sind zumindest geeignet, die Lektüre im Sinne einer Lesediätetik zu kanalisieren und nur ein vergleichsweise geringes Lesetempo zuzulassen: »Die Pausen zwischen den Zweizeilern verstärken zweifellos das meditative Element und geben der Anschauung immer nur momenthafte ›Blicke‹ auf das Gemeinte frei.«96 Eine ›Bildqualität‹ erreichen Czepkos Epigramme in Ansätzen da, wo in den Überschriften Sachverhalte bildlich oder durch die Anordnung einzelner Wörter räumlich visualisiert werden. Dabei könnte sich, ähnlich wie oben für Böhme und den Raphael beschrieben, auch die Aufmerksamkeit vom (Einzel-)Text auf die Fläche der Manuskriptseite verlagern. Vielleicht liegt auch in der Schwierigkeit, einen solchen Text enden zu lassen, eine signifikante Gemeinsamkeit. Der zahlensymbolisch bedeutsame Aufbau von Czepkos Monodisticha spart die Erfüllung am siebten Tag, den »SABBATH« (652), ja gerade aus, anders als im sechsten Sonett angekündigt. Stattdessen findet sich der Leser mit dem letzten Epigramm wieder auf den Anfang der Sammlung verwiesen. Zwar ist das Ende von Johannes Schefflers Cherubinischem Wandersmann (in der 1675 um ein sechstes Buch erweiterten Fassung) optimistischer; aber das »So geh und werde selbst die Schrifft und selbst das Wesen« des letzten Zweizeilers97 ist aus der Lektüre der Sammlung heraus letztlich nicht zu begründen. Vergleichbar der Raphael: Die synkretistische, sich aus kabbalistischen, hermetischen, alchemischen und spezifisch Böhme’schen Quellen speisende Geheimlehre mündet in die Wahrheit biblischer Exempel und damit in das, was ohnehin als wahr gewusst wird. Aus moderner Sicht stellt sich gerade in Francken95
96 97
Zur Unterscheidung zwischen medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit vgl. Peter Koch, Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), 15–43; Wulf Oesterreicher: Verschriftung und Verschriftlichung medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Ursula Schaefer (Hrsg.): Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), 267–292. Kemper (Anm. 40), 190; vgl. ebd., 188–191 (»Epigrammatik als Medium der Meditation«), und Meier (Anm. 26), 100 f. Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Louise Gnädinger. Bibliographisch ergänzte Ausgabe Stuttgart 2000, 285 (Epigramm VI 263).
Konvergenzen in der ›poetischen‹ Böhme-Rezeption
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bergs Text der ›Weg‹ als anspruchsvoller (und ansprechender) dar als sein ›Ziel‹. Dass die »Grundgedanken« des Raphael »sich durch betäubende Schlichtheit auszeichnen«,98 wie in leicht ernüchtertem Ton konstatiert wurde, wird nirgends so deutlich wie gegen Ende der Schrift, die – aus moderner Perspektive – in keiner Weise einlösen kann, was sie ankündigt. Allerdings müsste man auch diesen Eindruck historisieren: In der Perspektive des 17. Jahrhunderts würde vielleicht positiv bewertet, dass die heterogenen Lehren zuletzt doch in die Verkündigung von Gottes Wort münden und damit eben jenen Letztbegründungszusammenhang erweisen, der den Text über doch in Frage steht. Der eigentliche Effekt der ›Transzendentalrhetorik‹, wie sie bei Böhme vorgeprägt war und unter ganz verschiedenen Vorzeichen in den Monodisticha wie im Raphael weitergetrieben wird, entfaltet sich dann, bei rationaler wie meditativer Lektüre, zuallererst im Akt des Lesens selbst.
98
Telle (Anm. 6), 52.
Rosmarie Zeller
Böhme-Rezeption am Hof von Christian August von Pfalz-Sulzbach
Einleitung Die vorliegende Untersuchung sollte zunächst die Böhme-Rezeption bei Christian Knorr von Rosenroth (1636–1689) zum Gegenstand haben. Dieses Unterfangen erwies sich als unmöglich, denn es zeigte sich, dass der in der Forschungsliteratur immer wieder behauptete Einfluss Böhmes auf Knorr von Rosenroth sich auf Spekulationen beschränkt. So behauptet Salecker in seiner Arbeit über Knorr von Rosenroth von 1931, Knorr sei in den Niederlanden, wo er sich von 1663 an eine unbestimmte Zeit aufhielt, mit Böhmisten-Kreisen in Verbindung gekommen, was sehr wohl möglich, aber nicht belegt ist.1 Er schreibt den Durchbruch Knorrs zur Mystik dem Einfluss Böhmes zu, ohne Belege dafür zu bringen, wobei schon die Charakterisierung Knorrs als Mystiker problematisch ist. Auf solchen Aussagen fußt wohl auch Brian P. Copenhavers ebenfalls unbelegte Charakterisierung, Knorr sei »an ardent reader of Böhme«.2 Wenn man sich klar macht, dass die Tatsache, sich in irgendeiner Weise als Böhme-Anhänger auszugeben, als Zeichen der Heterodoxie gewertet wurde3 und dass Knorr von Rosenroth seine eigenen heterodoxen Schriften anonym publizierte,4 wohl um nicht anzustoßen und seinen Dienstherr Herzog Christian August von Pfalz-Sulzbach nicht in Schwierigkeiten zu bringen, dann ist man nicht erstaunt, keine direkten 1
2
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Kurt Salecker: Christian Knorr von Rosenroth (1636–1699). Weimar/Leipzig 1931, 36. Über Knorrs Beziehungen in den Niederlanden weiß man nichts, da bisher weder Briefe von Knorr noch an Knorr gefunden wurden, kann man nur Vermutungen äußern. Vgl. dazu Guillaume van Gemert: Christian Knorr von Rosenroth und die Niederlande. Die Auseinandersetzung mit Johann Baptist van Helmont. In: Morgen-Glantz 2 (1992), bes. 9–11. Van Gemert schreibt: »mit den zahlreichen heterodoxen Strömungen in den Niederlanden […] wird Knorr sicher in Berührung gekommen sein, wenn sich die zeitgenössischen Lebensberichte hier auch ausschweigen. So ist bei seinem mystischen Interesse eine Kenntnisnahme der Schriften eines Jakob Böhme, die damals in den Niederlanden für den deutschen Markt gedruckt wurden, keineswegs auszuschließen.« (11) Brian P. Copenhaver: Jewish Theology of Space in the Scientific Revolution. Henry Moore, Joseph Raphson, Isaac Newton and their predecessors. In: Annals of Science 37 (1980), 489–548, hier: 507. Vgl. dazu den Aufsatz von Sibylle Rusterholz in diesem Band. Vgl. dazu Rosmarie Zeller: Wissenschaft und Chiliasmus. Heterodoxe Strömungen am Hof von Sulzbach. Wissenschaft und Chiliasmus bei Christian Knorr von Rosenroth, Franciscus Mercurius van Helmont und Henry More. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, 291–307.
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Belege, d. h. weder Zitate von noch Verweise auf Böhme oder gar eine explizite Auseinandersetzung mit ihm zu finden.5 Angesichts dieser Faktenlage muss die Frage nach der Böhme-Rezeption bei Christian Knorr von Rosenroth in zweifacher Weise modifiziert werden, einerseits muss sie auf den Hof in Sulzbach zur Zeit, als sich Christian Knorr von Rosenroth und Franciscus Mercurius van Helmont dort aufhielten, ausgeweitet werden; und andererseits muss sie anders gestellt werden, nämlich: Warum wird immer wieder behauptet, Knorr bzw. Helmont seien von Böhme beeinflusst, ohne dass dafür mit ganz wenigen Ausnahmen konkrete Belege beigebracht werden können? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass wenn Knorr bzw. Helmont mit Böhme in Verbindung gebracht werden, dies weniger aufgrund von konkreten Bezugnahmen dieser Autoren auf Böhmes Schriften geschieht als vielmehr über die Ähnlichkeit gewisser Ideen und Vorstellungen. Böhme funktioniert in diesem Fall eher als Chiffre, als Chiffre für Spuren des Neuplatonismus, der Kabbala, der paracelsistischen Signaturenlehre und spiritualistischer Frömmigkeitsbewegungen, für die man auch andere, allerdings weniger bekannte Autoren als den »philosophus teutonicus« anführen könnte. Man kann von Böhme sagen, was Wilhelm Kühlmann für den Paracelsismus feststellt, dass er »als Integrations- und Identifikationsfaktor der epochalen Bewegungen des transkonfessionellen Dissentismus« fungiert.6 Dass Böhme zu einer Chiffre für nicht-orthodoxe spiritualistische Strömungen werden konnte, hat wohl auch damit zu tun, dass er seinen Anhängern als von Gott inspiriert galt und dass er deshalb eine höhere Wahrheit für sich beanspruchen konnte, was ihn aber andererseits auch besonders angreifbar machte. Das wird besonders deutlich in Henry Mores und Abraham Hinckelmanns Auseinandersetzung mit Böhme. Beide Autoren versuchen mit verschiedenen Argumenten zu beweisen, dass Böhme nicht inspiriert sein konnte.7
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Wie gefährlich offenbar die Interessen des Sulzbacher Hofes waren, zeigt, dass Johann Jakob Schütz Franciscus Mercurius van Helmont in seinen Briefabschriften mit dem Decknamen »Holthalb« bezeichnet (s. dazu Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002 [Beiträge zur historischen Theologie, 119], 233). Wilhelm Kühlmann: Das häretische Potential des Paracelsimus gesehen im Licht seiner Gegner. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, 217–242, hier: 217. More argumentiert damit, dass Böhme Falsches sage, Hinckelmann versucht zu beweisen, dass Böhmes Konzepte von anderen Autoren stammten. Zu Henry More s. Sarah Hutton: Henry More and Jacob Böhme. In: Henry More. (1614–1687); Tercentenary studies. Hrsg. v. Sarah Hutton u. Robert Crocker. Dordrecht u. a. 1990, 157–171. Abraham Hinckelmann: Untersuchung und Widerlegung Der Grund-Lehre/ Die In Jacob Böhmens Schrifften verhanden. Worinnen unter andern der Recht-gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabalae, wie auch der Ursprung alles Fanaticismi und Abgötterey der Welt entdecket wird. Hamburg 1693.
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Sulzbach und Böhme: Hinweise Das in der Oberpfalz gelegene Herzogtum Sulzbach befand sich an der Handelsstraße von Frankfurt am Main nach Prag.8 Es war unter Herzog Christian August (1622–1708) ein nicht unbedeutendes Zentrum für die Beschäftigung mit jenen geistigen Strömungen, die, vom Neoplatonismus herkommend, nach dem großen Zusammenhang von Natur und geistiger Welt, von Makrokosmos und Mikrokosmos suchten. Die geistigen Bestrebungen Sulzbachs gingen dahin, in den mannigfaltigsten Quellen jene ursprüngliche Weisheit, die prisca philosophia oder philosophia perennis, wiederzufinden, die Gott Adam bzw. Moses vermittelt hat. Man befasste sich in diesem Rahmen mit all jenen Wissenschaften, die eine auf Fortschritt ausgerichtete Wissenschaftsgeschichte bis in die jüngste Zeit weitgehend ignorierte: Alchemie, Naturmagie, Kabbala. Sie alle repräsentieren Wege, welche zur Aufschlüsselung der Geheimnisse der Natur und damit der Geheimnisse Gottes führen. Allison Coudert geht so weit, den Hof in Sulzbach unter Christian August als einen rosenkreuzerischen Hof zu bezeichnen in dem Sinne, dass man hier versuchte, die ursprüngliche Einheit der Menschheit wieder herzustellen, wobei man sich notgedrungen gegen die lutherische Orthodoxie stellte.9 Christian August, der sich mehrere Jahre am Hof in Gottdorf aufgehalten hat, kannte sicher die dortige Kunstkammer und auch die Laboratorien, in denen alchemistische Experimente durchgeführt wurden. Hier kam Christian August aber auch mit dem Prediger Christian Hoburg in Kontakt, der seinerseits von Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum beeinflusst, Kontakt zu spiritualistischen und pietistischen Kreisen hatte.10 Im Zusammenhang mit der politisch motivierten Konversion erlitt der Herzog schwere psychosomatische Störungen, welche dazu führten, dass unter anderem Franciscus Mercurius van Helmont (1614–1698) an den Hof berufen wurde. Helmont ist im Geistesleben Sulzbachs wegen seiner Beziehungen zu den Intellektuellen seiner Zeit, insbesondere zu Leibniz und zum Vertreter des Cambridger Platonismus, Henry More, sowie zu Anne Conway und wegen seiner internationalen Ausstrahlung wahrscheinlich die bedeutendste Figur am Sulzbacher Hof. Er hatte von seinem Vater Johann Baptist van Helmont, dessen Aufgang der Arzneikunst Knorr von Rosenroth ins Deutsche übersetzte, Kenntnisse in paracelsistischer Medizin. Helmont war es aber auch, der offenbar den Herzog veranlasste, Christian Knorr von Rosenroth 1668 als Hofrat anzustellen, wobei zu seinen Pflichten gehörte »von denen Wissenschaf8
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Ich stütze mich vor allem auf die Darstellung von Klaus Jaitner: Der Pfalz-Sulzbacher Hof in der europäischen Ideengeschichte des 17. Jahrhunderts. In: Wolfenbütteler Beiträge 8 (1988), 273–404. Allison P. Coudert: The impact of the Kabbalah in the seventeenth century. The life and thought of Francis Mercury van Helmont (1614–1698). Leiden 1999 (Brill’s series in Jewish studies, vol. 9), 108. Jaitner (Anm. 8), 284. Le Blon, der eine französische Übersetzung Böhmes herausbrachte, hat auch die Schriften von Christian Hoburg verlegt. Vgl. dazu Deppermann (Anm. 5), 26, Anm. 103. Hoburg wird auch häufig von Ehregott Daniel Colberg in dessen Platonischhermetischem Christentum als Zeuge für heterodoxe Auffassungen genannt (s. dazu unten Anm. 26).
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ten, die ihme Gott anvertrauet, auf unser Verlangen, uns und unsern Kindern, darzu wir sonderliche Stunden etwa erwehlen möchten, Unterricht« zu geben.11 Von den wissenschaftlichen Interessen des Herzogs zeugt die Einrichtung einer Druckerei im Jahre 1664, die unter anderem 1677 den ersten Band der Kabbala denudata drucken wird, und die Bibliothek mit einem nicht unbeträchtlichen Bestand an katholischen, lutheranischen, calvinistischen Theologica, heterodoxen Schriften12 sowie paracelsistischen, alchemistischen und naturmagischen Werken. Nach Auskunft des Katalogs befanden sich in der Bibliothek über 30 Titel von Böhme, einige sogar mehrfach, ein sehr großer Teil in niederländischer Sprache.13 Von den Böhme-Ausgaben in niederländischer Sprache, die bis Ende der 50er Jahre erschienen sind, scheint man in Sulzbach alle besessen zu haben. Die Einordnung erfolgt von den Bibliothekaren unter drei verschiedenen Rubriken, bis auf drei Ausgaben werden alle in die Rubrik »Philosophi in genere, Metaphysici et pneumatici in specie« eingeordnet. Zwei Schriften Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein […] (1639) und Theosophische Epistel […] (1623) finden sich in der Rubrik »Theologi Calviniani, Causales, Morales, Mystici«, die Gesamtausgabe Alle theosophischen Schriften von 1682 in der Rubrik »Theologi Lutherani Causales, Morales, Mystici«. Die in der Rubrik Philosophie eingeordneten ungefähr 30 Titel sind im Katalog nicht in chronologischer Reihenfolge angeführt, was darauf hindeuten könnte, dass sie alle miteinander erworben wurden. Da die Nummer 10 (Der Weg zu Christo in sechs Büchlein) von 1658 stammt und sich mitten unter den Böhme-Schriften die 1653 herausgekommene Ausgabe von Gabriel Naudés Apologie pour tous les grands personnages, qui ont été faussement supsonnez de Magie findet, kann man annehmen, das Böhmes Schriften, auch wenn sie früher herausgekommen sind, erst in den 50er Jahre, wahrscheinlich Ende der 50er Jahre Christian August erworben wurden. Dies wiederum würde zu einer Nachricht passen, wonach Franciscus Mercurius van Helmont den Fürsten anlässlich der Krönung von Leopold I. zum Deutschen Kaiser 1658 in Frankfurt mit Christoph Le Blon bekannt gemacht haben soll, mit dem er selbst schon lange bekannt war.14 Dass man in Sulzbach mit nicht-orthodoxen Kreisen sympathisierte, zeigt sich auch an der Wahl der lutherischen Pfarrer, die alle während einer gewissen Periode spiritualistischen Kreisen nahe standen, sodass deswegen 1662 sogar eine Un11
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Volker Wappmann: Durchbruch zur Toleranz. Die Religionspolitik des Pfalzgrafen Christian August von Sulzbach Rosenberg. Neustadt a. d. Aisch 1995 (Einzelarbeiten zur Kirchengeschichte Bayern, 69), 215. Man findet insbesondere Schriften von Autoren wie Tauler, Pierre de Yvon, Anna Maria Schurman, Jean de Labadie, Jane Leade, die auch von den Pietisten rezipiert wurden. Die Bibliothek ist leider nicht erforscht, deren Katalog aber auf der Bayerischen Staatsbibliothek erhalten (Signatur: Cbm 578: 1–4 u. Cbm 580: 1–6. Permalink: http://opacplus.bsb-muenchen.de/search?oclcno=162420348). Die Bibliothek selbst ist durch mehrere Erbgänge im Bestand der Staatsbibliothek München aufgegangen. Einen Einblick gibt die Zusammenstellung von Guillaume van Gemert über den niederländischen Bestand der Bibliothek in Morgen-Glantz 19 (2009), 393–449, bes. 416 u. 420 ff. Zum Böhme-Bestand s. unten Anhang. Wappmann (Anm. 11), 167; Coudert (Anm. 9), 35. Zur Beziehung von Helmont zu Christoph Le Blon vgl. Deppermann (Anm. 5), 222–223.
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tersuchung im Herzogtum Sulzbach eingeleitet wurde.15 Der Stadtpfarrer Johann Jakob Fabricius übersiedelte 1667 nach Amsterdam zu Johann Georg Gichtel und stand schon vorher auch mit Breckling in Kontakt. Gichtel selbst soll sich zeitweise in Sulzbach aufgehalten haben.16 1673 bittet man den Frühpietisten Johann Jakob Schütz bei der Suche nach einem neuen Pfarrer für Sulzbach behilflich zu sein.17 Weitere Informationen über die spiritualistischen Bestrebungen am Sulzbacher Hof lassen sich dem Franciscus Mercurius van Helmont betreffenden Protokoll der Inquisition entnehmen. 1662 wurde der jüngere Helmont auf Betreiben von Christian Augusts Cousin Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg gefangen genommen und der Inquisition vorgeführt. Es wird ihm vorgeworfen, er habe eine Kolonie von Juden, Anabaptisten und Quäkern nach Sulzbach gebracht, welche Versammlungen machten, angeregt vom Licht in ihnen, das sie in sich hörten und von dem sie sagten, dass sie durch es bewegt würden. Sie brauchten keine anderen Bücher als Tauler, der sogar von Luther kritisiert werde und den sie in einer korrekten Ausgabe ediert hätten, und einen gewissen Martin Weyer,18 Jakob Böhme und Bücher von Luther, welche mit lauter Stimme an der Tafel des katholischen Fürsten mit Helmonts Erlaubnis gelesen würden. Diese Bücher würden darüber hinaus im Geheimen den Katholiken empfohlen.19 Diese Anschuldigungen konnten nicht bewiesen werden und Helmont wurde aus der Haft entlassen. Ein weiterer Hinweis auf ein mögliches Interesse an Böhme am Sulzbacher Hof bzw. bei Knorr von Rosenroth und Helmont ergibt sich aus den Beziehungen von Johann Jakob Schütz zum Sulzbacher Kreis. Johann Jakob Schütz (1640– 1690), Advokat in Frankfurt, war maßgeblich an der religiösen Entwicklung Philipp Jakob Speners hin zum Pietismus beteiligt. Er stand in engem Kontakt sowohl mit Christian August wie auch mit Knorr von Rosenroth,20 für dessen Evangelienharmonie er einen Verleger suchte, wobei der Kontakt durch Helmont zustande kam. Da Schütz andererseits auch vor 1676 mit den »führenden radikalen Böhmeanhängern« in Nürnberg, dem Ehepaar Doppelmeyer und dem Notar Loth Fischer in Kontakt stand und ihnen wahrscheinlich Böhme-Schriften aus Holland vermittelte, kann er dasselbe allenfalls auch für Sulzbach getan haben.21 Allerdings scheint es, dass Schütz Knorr von Rosenroth vor allem jüdische Literatur aus dem Umkreis der Kabbala besorgt hat. Das alles sind nicht mehr als Hinweise. Auch wenn man keine Böhme-Zitate 15 16 17
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Wappmann (Anm. 11), 184. Vgl. auch Jaitner (Anm. 8), 328–335. Jaitner (Anm. 8), 334. Für die Ausrichtung, die der Pfarrer haben sollte, ist die Bemerkung von Schütz in seinem Brief an Christian August aufschlussreich: »es sind leyder unter den vielen Theologis wenig geistliche.« (Deppermann [Anm. 5], 226, Anm. 23) Gemeint ist offensichtlich der niederländische Mystiker Matthes Weyer, dessen Werk über die Reinigung von den Sünden und der Wiedergeburt sich auf Deutsch und Niederländisch in der Sulzbacher Bibliothek befindet. Weyer wurde auch in Pietisten-Kreisen rezipiert und spielt auch für Johann Jakob Schütz eine Rolle (vgl. Deppermann [Anm. 5], 71 f.). Coudert (Anm. 9) druckt das lateinische Dokument und eine Übersetzung ab (364 bzw. 352). Deppermann (Anm. 5), 65 ff., für die Beziehung Schütz-Knorr vgl. ebd., 222–242. Ebd., 243. Franciscis Gegen-Strahl der Morgenröte […] (Nürnberg 1685) ist nicht zuletzt auch gegen die Doppelmeyers gerichtet.
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in den Schriften von Knorr und Helmont nachweisen kann, so hat der Hof in Sulzbach sicher mit den Ideen sympathisiert, die in den Kreisen von BöhmeAnhängern im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts vertreten werden. Ein weiterer Hinweis könnte sich aus der Beziehung Helmonts zum Cambridger Platoniker Henry More und seiner Freundin Anne Conway ergeben. Henry More hat sich mehrfach mit Böhme auseinandergesetzt.22 Er hat, wie man aus seinen Briefen weiß, auch mit Anne Conway ausführlich über Böhme diskutiert.23 Die Böhme-Lektüre bereitet hier das Interesse am Quäkertum vor, mit dem wiederum auch Helmont sympathisierte.
Hermetischer Platonismus Nachdem nicht mehr konkrete Belege für eine Böhme-Rezeption im Sulzbacher Kreis zu finden sind, soll die Frage anders gestellt werden, nämlich welche Konzepte und Vorstellungen dazu geführt haben, dass man Franciscus Mercurius van Helmont und Christian Knorr von Rosenroth mit Böhme in Beziehung brachte und ihnen immer wieder eine intensive Lektüre von Böhmes Schriften unterstellte, obwohl sie Böhme nirgends zitieren bzw. sich nirgends explizit auf ihn berufen. Bereits am Ende des 17. Jahrhunderts wurden Böhme, Helmont und Knorr von Rosenroth in einem Diskurs, der Platonismus, Kabbala und Pietismus zusammenbrachte, verknüpft.24 Die wohl wichtigsten Repräsentanten dieses Diskurses sind Abraham Hinckelmann mit seiner Detectio Fundamenti Böhmiani25 und
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Henry More hat bereits 1650 ein Einleitungsgedicht (An Introduction to the Teutonick Philosophy) zu Durand Hotthams englischer Übersetzung Böhmes geschrieben. Als Frucht der Diskussion in Ragley hat er 1670 seine Philosophiae teutonica Censurae publiziert. Auch in seinen Divine Dialogues (1688) setzt er sich mit Böhme auseinander. Zur Böhme-Rezeption von Henry More vgl. Sarah Hutton (Anm. 7). 1667 soll man in London alle Böhme-Schriften gekauft haben, um sie nach Ragley zu senden. Vgl. dazu die Einleitung von Sarah Hutton zum Kapitel 7 Quakerism der Conway Letters (The Conway Letters. The Correspondence of Anne, Viscountess Conway, Henry More, and their friends. 1642–1684. Hrsg. v. Marjorie Hope Nicolson. Rev. ed. with an introduction and new material by Sarah Hutton. Oxford 1992, 381). Sarah Hutton: Anne Conway. A Woman Philosopher. Cambridge 2004, 65 f. Vielleicht hat Lady Foxcroft den Anstoss zur Beschäftigung mit Böhme gegeben. Zu diesem Zusammenhang, allerdings ohne expliziten Bezug zu Helmont und Knorr s. Martin Mulsow: Den »Heidnischen Saurteig« mit dem »Israelitischen Süßteig« vermengt: Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann und Johann Peter Späth. In: Scientia Poetica 11 (2007), 1–50, bes. 2 f. Zu Colberg und Hinckelmann s. auch Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin 2009, 89–123, bes. 99 f. Vgl. dazu: Martin Mulsow: Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann. In: Erzählende Vernunft. Hrsg. v. Günter Frank. Berlin 2006, 93–104.
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Ehregott Daniel Colberg mit seinem Platonisch-hermetischen Christentum.26 Beide Autoren kennen neben Böhme die Kabbala denudata und die darin abgedruckte Franciscus Mercurius van Helmont zugeschriebene Schrift Adumbratio Kabbalae christianae. Sie scheinen aber beide weder den Herausgeber der Kabbala denudata noch den Verfasser der Adumbratio zu kennen, Colberg nennt namentlich nur Johann Baptist van Helmont. Für Colberg ist Böhme der Repräsentant des platonischen Christentums schlechthin, er wird immer wieder als Kronzeuge angeführt, so insbesondere in den Kapiteln »Vom Grund der seligmachenden Lehr«, »Von GOtt, seinem Wesen und Werken«, »Von den Mitteln der Seeligkeit«, »Von den letzten Dingen«; zudem ist ihm im ersten Teil ein eigenes Kapitel gewidmet: »Cap. VIII. Von Jacob Böhmen Schwärmerey.« Ein gefährlicher Aspekt dieser Richtung wie später auch des Pietismus bestand in den Augen der orthodoxen Lutheraner darin, dass, wie wir bei Colberg sehen können, die sogenannten platonischen Christen sich von der Lehrmeinung der Kirche emanzipieren, dem äußerlichen Gottesdienst keinen großen Wert beimessen, sondern die innere Erkenntnis Gottes auch mit Hilfe der Erkenntnis der Natur anstreben.27 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang tatsächlich, dass weder Christian Knorr von Rosenroth noch Franciscus Mercurius van Helmont oder Jacob Böhme eine theologische Ausbildung haben. Trotzdem äußern sie sich zu Fragen der Schöpfung, zur Interpretation der Genesis, zum Wesen Gottes und zu den Möglichkeiten, Gott zu erkennen und zwar indem sie die Bibel nicht wörtlich auslegen, sondern einen »Mystischen und verborgenen Verstand der heiligen Schrifft« postulieren, wie Colberg ihnen vorwirft. Eine Auslegungsmethode, die von kabbalistischen Auslegungsmethoden inspiriert sein dürfte.28 Im Folgenden sollen drei Aspekte herausgegriffen werden, die sowohl bei Böhme wie in Sulzbach eine wichtige Rolle spielen: Die Erschaffung der Welt bzw. die Auslegung der Genesis, die Erkenntnis der Natur und damit Gottes, der Weg zur wahren Weisheit und damit Erkenntnis Gottes zu gelangen und die Frage der Natursprache. Dass man in diesen Bereichen Parallelen zwischen Böhme und Knorr von Rosenroth bzw. van Helmont feststellen kann, heißt nicht, dass Helmont und Knorr direkt von Böhme beeinflusst sind. Die Gemeinsamkeiten können vielmehr auf die gemeinsamen Wurzeln ihres Denkens zurückgehen. 26
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Ehregott Daniel Colberg: Das platonisch-hermetische Christenthum: begreyffend die historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten, Weigelianer, Rosencreutzer […]. 2 Tle. Leipzig 1710 [Frankfurt a. M./Leipzig 11690–1691]. Zu Colberg vgl. auch den Beitrag von Friedrich Vollhardt in diesem Band. »Diese Schwärmerey ist nichts anders/ als eine Vermengung vieler aus dem Heydnischen Philosophis/ der Jüdischen Cabala und der Christl. Lehr zusammengerafften Meynungen/ so dahin gehen/ daß sie den Menschen vom Wort Gottes u. dem äuserlichen Gottesdienst abziehen/ und unterm Wahn der eingebildeten Offenbahrungen und innerlichen Gottesdienstes/ auf Platonische Träume führen.« (Colberg [Anm. 26], Tl. 1, 4) »Denn sie lehren/ man müsse die Theologie oder das Christenthum/ lernen 1. aus Göttlicher unmittelbaren Offenbahrung in ihm selbst/ oder aus dem Licht der Natur und der Signaturen aller Dinge. 2. Aus den Erscheinungen und Offenbahrungen der Engel. 3. Aus dem Mystischen und verborgenen Verstande der heiligen Schrifft. Hergegen 4. verwerffen sie den natürlichen Wort-Verstand der Schrifft.« (Ebd., Tl. 2, 4)
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Dies haben teilweise schon die Kritiker dieser Denkrichtung erkannt, wenn sie, wie zum Beispiel Hinckelmann, die Quellen von Böhmes Denken nachzuweisen versuchten, um zu zeigen, dass er nicht inspiriert war, sondern seine Kenntnisse aus Büchern hatte,29 oder wenn sie, wie Colberg, Böhme in den hermetisch-platonischen Zusammenhang stellen.
Selbsterkenntnis als Erkenntnis Gottes Colberg stellt fest, dass das platonisch-hermetische Christentum zwei Wege kenne, um zur Erkenntnis Gottes zu gelangen: Wir finden in ihren/ der Platonischen Christen/ Schrifften ein zweyfaches Principium ihrer Lehr/ die Erkäntnüß unserer selbst/ und die Erkäntnüß der Welt/ Macrocosmum und Microcosmum, Cabalam und Magiam, die inwendige Offenbahrung und das Buch der Natur oder der Lebendigen/ mit einem Worte/ die Erkäntnüß des allgemeinen Welt-Geistes in allen Dingen/ beydes durch die inwendige Erleuchtung des innern Lichts/ als des ewigen Worts/ verbi fiat, und durch die Erkäntnüß der Signaturen oder Caracteren so in dem Buch der Natur geschrieben sind/ das ist/ des inwendigen Lichts/ wie es in den Creaturen verborgen liegt.30
Böhme schreibt in der Tat, dass man keiner andern Mittel bedarf als des großen Buchs »Himmels und der Erden, Sternen und Elementen mit der Sonnen«, noch »viel hundert mal mehr« aber können wir ihn »in uns selber kennen und betrachten«.31 Im 20. Theosophischen Sendbrief präzisiert er noch: »Dann das Buch, da alle Heimlichkeit innen lieget, ist der Mensch selber: Er ist selber das Buch des Wesens aller Wesen, dieweilen er die Gleichniß der Gottheit ist«.32 Das Gleichnis der Gottheit kann der Mensch aber nur sein, wenn er alles eliminiert, was nicht gottähnlich ist, und dies sind vor allem die Affekte. Colberg hebt denn auch gleich auf den ersten Seiten seines Hermetisch-Platonischen Christentums hervor, dass das Ziel des Platonismus sei, Gott gleich zu werden und das Mittel dazu sei »die Erkentniß sein selbst«33. Diese erreiche man durch die Reinigung von den Begierden und Sinnen. Das Ziel ist schließlich der Aufschwung der Seele zur Gottheit, welche oft als Wiedergeburt interpretiert wird. Böhme beschreibt sein Durchbruchserlebnis eben als eine solche Erkenntnis Gottes in seinem eigenen Innern, als eine Wiedergeburt als einen Zustand, der dem im Paradies gleich ist.34 Die Wiedergeburt ist die Voraussetzung für die Gottebenbildlichkeit des 29 30 31
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Vgl. Hinckelmann ( Anm. 7), bes. 61 ff. Colberg (Anm. 26), Tl. 1, 133 f. Zit. n. Sibylle Rusterholz: Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois M. Haas. Wiesbaden 1994, 129–146, hier: 130. Es geht mir hier jetzt nicht primär um die Buch-Metapher, die sich so, wenn ich recht sehe, bei den Sulzbachern nicht findet. Ebd., 130. Colberg (Anm. 26), Tl. 1, 5. Vgl. Rusterholz, Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme (Anm. 31), 132 f.
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Menschen und für die Erkenntnis Gottes. Solche Gedanken lassen sich vor allem in Knorr von Rosenroths Neuem Helicon finden. Am Ende des zweiten Teils gibt es eine Reihe von Gedichten, die die Passion Christi parallelisieren mit der Beherrschung der Affekte, wobei auch die Metapher vom alten Adam, den man kreuzigen solle, fällt: »Fernere Betrachtung/ wie man seinen alten Adam/ das ist/ seine Leidenschafften mit Christo creutzigen solle; genant die verkehrte Passion.«35 Genau dieses Bild kreidet Colberg den platonischen Christen an: »Dieses verstehen sie auch durch die Creutzigung und Tödtung des alten Adams/ und durch die Nachfolge Christi/ welche alle zur Seligkeit hochnöthig sind/ weil sonst die Seele nicht kan purgiret werden. Nachdem sie nun gereiniget […] muß sie in sich selbst kehren in tieffer Gelassenheit und hertzlicher Ergebung in den Willen GOttes. Da wird sie […] durch innerliches Eingeben erleuchtet/ und endlich […] mit Christo/ ihrem ersten Ursprung wieder vereiniget werden.36
In der Tat ist im dritten Teil des Helicon von der Reinigung, ja von der Wiedergeburt die Rede, wobei das Gedicht, welches von der Wiedergeburt handelt, von Henry More stammt.37 Der Mensch muss wiedergeboren werden, um Anteil zu haben an der Gottebenbildlichkeit und an der Erkenntnis der Schöpfung, das ist ein Gedanke, der sich so auch bei Böhme findet.38 Das letzte Lied des Helicon trägt den Titel »Aufmunterung zur Göttlichen Vollkommenheit« und stammt vom Niederländer Adam Boreel, darin findet sich der Vers »Du Himmels Licht! strahl starck von innen.« und es ist vom »Quell der Süssigkeiten« die Rede, der sich in der Seele ausbreiten soll, die in Böhmes Konzeption eine Qualität Gottes ist.39 Es wird hier also jene Metaphorik verwendet, welche den orthodoxen Lutheranern ein Dorn im Auge ist und für welche bei Colberg Böhme als einer der Hauptzeugen herhalten muss. Der Leib sei aus dieser Sicht nur ein Gehäuse für die Seele und worauf es ankomme, sei allein dieses innere Licht. Die Seligkeit bestehe allein in der Erkenntnis seiner selbst, wirft Colberg dieser Richtung vor.40
Die Erkenntnis der Natur und der Welt Das andere Buch der Erkenntnis, ist das Liber naturae, in dem man »vermittelst der angebildeten Signaturen oder Figuren, Lineamenten und Farben, allen Ge35 36 37
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Christian Knorr von Rosenroth: Neuer Helicon mit seinen Neun Musen. Das ist: Geistliche Sitten-Lieder […]. Nürnberg 1684, 49 (Lied XXIII). Colberg (Anm. 26), Tl. 1, 105. Helicon (Anm. 35), 82 (Lied XXXVII), s. auch das Gedicht LVII, in dem ein Mensch beim Abendspaziergang ertrinkt und wiedergeboren wird. Vgl. Rosmarie Zeller: Der Neue Helicon als Schule der Glückseligkeit. In: Morgen-Glantz, 14 (2004), 229–249. Vgl. Rusterholz, Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme (Anm. 31), 132. Helicon (Anm. 35), 181 f. (Lied LXX). Colberg (Anm. 26), Tl. 2, 12 ff., 18; s. auch Tl. 2, 99.
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schöpfen gleichsam in das Hertz und in innerste Natur hineinsehen könnte,« wie Böhme schreibt.41 Er geht sogar so weit, zu behaupten, wenn man Gott nicht aus der Schöpfung erkennen würde, wüsste man nichts von ihm. Er wehrt sich gegen die lutherische Orthodoxie, die ein solches Wissen nicht zulassen will, wenn er schreibt: Und ist mit nichten zu dencken, als ob ein Christ nicht dörfte den Grund der Natur angreiffen, daß er nur müsse ein Klotz und stummes Bilde in der Wissenschaft der Geheimnissen der Natur seyn, wie Babel spricht, man dörft es nicht forschen und wissen, es wäre Sünde.42
Wenn Böhme davon spricht, dass es nötig sei, dass die »Magia naturalis« wieder offenbar werde, und dass »man in der Natur erkenne das ausgesprochene, geformte Wort Gottes«, er also die Natur als gleichwertiges Buch neben die Bibel stellt,43 so würde ich diese Absicht auch dem Sulzbacher Kreis unterstellen. Allerdings wollte man diese Erkenntnisse in Sulzbach weniger durch eine einfache Betrachtung der Signaturen in der Natur als durch eine Erforschung der Schriften, die die Naturgeheimnisse erforschen, erreichen bzw. durch alchemistische und naturmagische Experimente. So kann man erklären, dass 1680, als im übrigen Europa das Interesse längst abgeflaut war, Knorrs Übersetzung der Magia naturalis des Giambattista Della Porta in einer aufwendigen Ausgabe herauskommt. Auch die Übersetzung von Johann Baptist van Helmonts auf paracelsistischen Grundlagen beruhender Artzney-Kunst sowie das Interesse an der Alchemie gehören in den Kontext der Suche nach den Geheimnissen der Natur, die zugleich Geheimnisse Gottes sind.44 Dass die Kabbala ebenfalls zu den Naturgeheimnissen führen soll, legt das Titelblatt nahe, dass uns eine Kabbala in der Pose der Weisheit zeigt, die den Leser in den Tempel des Arcanen führt, welches wie die Umgebung zeigt, zugleich die ober- und unterirdische Natur umfasst.45 Zudem erklärt Knorr in der Einleitung
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Rusterholz, Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme (Anm. 31), 131. Böhme, Mysterium magnum, zit. n. ebd., 135. Rusterholz, Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme (Anm. 31), 135. In der Kabbala denudata findet sich ein alchemistischer Traktat, der nur hier überliefert ist, und Knorr von Rosenroth hat mit seinem Schauspiel Conjugium Phoebi et Palladis sein alchemistisches Wissen zur Schau gestellt. Zum Zusammenhang von solchen Forschungen und der Neigung zur Heterodoxie vgl. Christine Maillard: Eine Wissensform unter Heterodoxieverdacht: die spekulative Alchemie nach 1800. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, 267–289. Vgl. dazu meine Analyse des Titelbildes: Der Paratext der Kabbala Denudata. Die Vermittlung von jüdischer und christlicher Weisheit. In: Morgen-Glantz 7 (1997), 141–169.
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Ich hoffe, daß ich in den Kabbalistischen Schriften der Juden finde, was von der alten barbarisch-jüdischen Philosophie übriggeblieben ist. […] Ich habe keinen größeren Wunsch als daß die Sonne selbst und ihr helles Licht alle Nebel auflöst. Ich habe kaum gehofft, einmal dieses Licht sehen zu können, bis ich dem Lauf des Flusses folgte und zur Quelle selbst kam, welche wie ich hoffe, in diesen sehr alten Büchern entdeckt wird.46
Was Böhme durch seine Erleuchtung erlebt hat, will man in Sulzbach in den Schriften der Alten finden, jenes Licht, das letztlich dazu führt, dass sich Juden und Christen vereinigen können, was wiederum diese Konzepte mit chiliastischen Ideen verbindet. Diese Auffassung, dass in der Schöpfung das Göttliche enthalten ist und dass die Lektüre im Buch der Natur neben der Lektüre der Heilige Schrift zur Erkenntnis Gottes beiträgt, kam in den Augen der auf die Schrift fixierten Lutheraner einer Abwertung der Schrift und damit der Häresie gleich. So moniert auch Colberg folgerichtig, dass die platonischen Christen neben der Bibel die Erkenntnis Gottes auch »aus dem Licht der Natur« und den »Signaturen der Dinge« gewinnen wollen.47 Die Annahme, dass man Gott in der Natur finden könne, impliziert das Interesse an der Art, wie Gott die Welt erschaffen hat und damit an der Auslegung der Genesis und des Schöpfungsberichts. Es ist sicher kein Zufall, dass sich Böhme, Franciscus Mercurius van Helmont und Henry More mit der Deutung des Schöpfungsberichtes befasst haben und dass sie sich damit ein weiteres Mal dem Heterodoxie-Verdacht ausgesetzt haben.48 Hinckelmann nennt denn auch als erstes Kriterium der mit der Schrift nicht zu vereinbaren Auffassungen Böhmes seine Konzeption der Schöpfung: GOTT hat alle Dinge/ sichtbare und unsichtbare aus seinem Göttlichen Wesen geschaffen/ dergestalt/ daß er sie nicht ohne einiger albereit verhandener Materie/ sondern aus sich selbst und seinen eigenen Wesen als universal-Materie hervor gebracht.49
Solche Vorstellungen findet man auch bei Franciscus Mercurius van Helmont, wenn er in seiner Abhandlung The Divine Being schreibt, »God had all things essentially in him before the creation«,50 er ist die Ursache und der Ursprung aller 46
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»[…] in Scriptis Judaeorum Cabbalistica me inventurum sperem, si quid superest Antiquae Philosophiae Barbarica Judaicae […] nihil magis in votis habui quam ut dissipatis omnibus obstantium impedimentorum nubilis sole ipso atque luce ejusdem clariore, frui mihi liceret; quam aspicere posse vix sperari, nisi ipsorum vestigiis insitens rivulroum horum ductu ipsam persequerer scaturiginem; quam in antiquioribus illis libris me inventurum adhuc opinior.« (Kabbala denudata, I, 2, S.75–76) Colberg (Anm. 26), Tl. 1, 131. Böhme hat sich sowohl in Aurora wie in Mysterium magnum zu diesen Fragen geäußert. F. M. van Helmont vor allem in einer Schrift, die er zusammen mit Paul Buchius, einem niederländischen Arzt, geschrieben haben soll: The Divine Being an its Attributes. […] According to the Principles of F. M. B. van Helmont written in Low-Dutch by Paulus Buchius […] and translated in English by Philanglus. London 1693. (Elektronisch zugänglich unter Early English Books.) Henry More in: Conjectura cabbalistica […]. London 1653. Hinckelmann (Anm. 7 ), 1. Helmont, The Divine Being (Anm. 48), 21.
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Dinge.51 Dass diese Lehre von der kabbalistischen Emanationslehre herkommt und dass Böhmes Konzept des »Ungrunds« dem »En-soph« der Kabbala entspricht, hat Sibylle Rusterholz nachgewiesen.52 Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Böhme und der Kabbala denudata stellt Colberg her. Er stellt zunächst fest, dass die Lehre der Juden Ähnlichkeiten mit der »Fanaticorum Träumen« habe,53 was man sehen könne, wenn man in der Kabbala denudata den Traktat Adumbratio Kabbalae christiane ansehe, der dem jüngeren Helmont zugeschrieben wird.54 Hier interessiert uns insbesondere die von Colberg hergestellte Beziehung zwischen der Helmontschen Schrift und Böhme. Immer wieder erklärt er das Konzept von Adam Kadmon mit Begriffen Böhmes, er sei »nach Böhmistischer Redens-Art/ die Licht-Welt/ oder der inwendige Christus.«55 Der Verfasser des Traktats unterscheide »fünff Cabalistische Personen« als Emanationen Gottes, dies sei, meint Colberg, nichts anderes »als was Jacob Böhm/ und seines gleichen Irr-Geister schwärmen von den fünff Personen in der Gottheit.«56 Schließlich bezieht er sich nochmals auf Böhme für die Stelle, welche erklärt, wie der Tod in die Welt gekommen sei, nämlich indem sich die Seele von Adam Kadmon dem weiblichen Teil genähert habe. »Jacob Böhmens Lehr/ vom Fall Adams/ so wird man befinden/ woher sie genommen.«57 Wie das Böse in die Welt gekommen sei, ist in der Tat eine Frage, die den Sulzbacher Kreis und Henry More ebenfalls beschäftigt. Die Hinweise von Colberg zeigen, dass er die Nähe von Böhmes Vorstellungen zu kabbalistischen Konzepten, aber auch zu andern Konzepten neuplatonischer Herkunft sehr wohl bemerkt, jedoch sind diese so allgemein, dass sich daraus kein Einfluss Böhmes auf F. M. van Helmont bzw. Ch. Knorr von Rosenroth ableiten lässt. Es handelt sich dabei um einen Komplex von Fragen, die sich zum Teil aus der Logik der Konzepte selbst ergibt. Wenn man annimmt, die Welt sei eine Emanation Gottes, fällt es schwer, das Böse zu erklären, und man muss in diesem Fall das Ende der Welt als Wiederherstellung eines ursprünglichen harmonischen Zustandes begreifen. 51 52
53 54 55 56
57
»[…] he is the Cause or Original of all things« (Helmont, The Divine Being [Anm. 48], 22). Sibylle Rusterholz: Elemente der Kabbala bei Jacob Böhme. In: Mystik und Schriftkommentierung. Hrsg. v. Günther Bonheim u. Petra Kattner. Berlin 2007, 15–45; Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin 2009, 89–123. Colberg (Anm. 26), Tl. 2, 639. Vgl. Hutton, Ann Conway (Anm. 23), 204 f. Colberg (Anm. 26), Tl. 2, 640. Colberg erklärt, die erste Person sei Gott, die zweite der Vater, die dritte die Mutter/ die Liebe, die vierte der Sohn und die fünfte der heilige Geist ([Anm. 26], Tl. 2, 641). An einer andern Stelle schreibt er, dass Böhme neben der Dreifaltigkeit noch zwei andere Wesen, nämlich das Wort und die Weisheit annehme (ebd., 100). Colberg (Anm. 26), 642. Worauf Colberg hier genau anspielt, ist mir nicht klar, vielleicht auf die Erklärungen, die Böhme von Adams Menschwerdung im Mysterium Magnum, Kap. 19 gibt.
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Naturalphabet Böhme wird auch immer wieder als Vorbild herangezogen, wenn von der Natursprache die Rede ist, so vertritt Allison Coudert die Meinung, dass Helmonts Idee des Naturalphabets von Böhme stamme.58 In der Tat gibt es auffällige Gemeinsamkeiten in den Vorstellungen der beiden Autoren über die Sprache, die Adam gesprochen hat. Böhmes Auffassung ist wie diejenige Helmonts, dass Adam, der wie es bei Böhme heißt, »aller Creaturen Eigenschaft gewust« hat, ihnen »Namen gegeben aus ihrer Essentz, Form und Eigenschaft«.59 Folglich, und das ist der eigentlich wichtige Aspekt, kann man aus den Namen auch wieder die Essenz, Form und Eigenschaft der Dinge ablesen. Böhme ist der Meinung, dass diese sich in jeder Sprache abbildet, dass also jede Sprache eine Natursprache ist, allerdings sind die Muttersprachen im Laufe der Zeit korrumpiert worden, aber derjenige, der vom heiligen Geist erleuchtet ist, kann die Natursprache verstehen. Helmont hingegen vertritt die aus der Kabbala abgeleitete Auffassung, dass das Hebräische die Ursprache sei, die Adam von Gott im Paradies gegeben worden ist. Hebräisch ist in den Augen Helmonts zugleich auch die Sprache, die Gott gesprochen hat.60 Beide Autoren vertreten auch die Auffassung, dass die Formung der Buchstaben im Mund ebenfalls die Bedeutung des Wortes enthält, Böhme scheint dabei mehr an ganze Wörter zu denken, Helmont an die einzelnen Buchstaben.61 Bei der Aussprache des Wortes findet daher eine Art Schöpfungsvorgang statt, indem durch die Aussprache die Bedeutung des Wortes entsteht. Helmonts Auffassung des Naturalphabets ist rationaler als Böhmes Konzept der Natursprache, er spricht nirgends davon, dass man erleuchtet sein müsse, um das Naturalphabet zu verstehen. Die Begründung, dass man die Natursprache nur als Inspirierter verstehen könne, führt Henry More auf Böhmes zügellose melancholische Phantasie zurück.62 Hinter Helmonts und Knorrs Natursprachenprojekt steht nicht primär die Erkenntnis Gottes oder der Natur, sondern die Absicht, die Kenntnis des Hebräischen weiter zu verbreiten,63 um dabei letztlich den Juden zu beweisen, dass ihre Anschauungen gar nicht so verschieden sind von den christlichen und dass sie sich daher bekehren können, was wiederum eine Beschleunigung der Herbeiführung des Millenniums bewirken würde. 58 59
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»All the major ideas about language in Helmont’s Alphabet of Nature and Thoughts on genesis are scattered throughout the earlier writings of Boehme.« (Coudert [Anm. 9], 96) Mysterium Magnum 19,22. Zit. n. Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin 1994, 90. Vgl. auch Markus Hundt: »Spracharbeit« im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin 2000, 48 ff. Franciscus Mercurius van Helmont: Alphabeti vere naturalis Hebraici brevissima […]. Sulzbach 1667, dt.: Kurtzer Entwurff des eigentlichen Natur-Alphabets der Heiligen Sprache: nach dessen Anleitung man auch Taubgebohrne verstehend und redend machen kan. Sulzbach 1667. Vgl. dazu Allison P. Coudert: Some Theories of Natural Language from the Renaissance to the seventeenth Century. In: Magia Naturalis und die Entstehung der modernen Naturwissenschaften. Wiesbaden 1978 (Studia Leibnitiana, Sonderh. 7), 56–114. Solche Vorstellungen könnten aus der Signaturenlehre des Paracelsus stammen. Hutton, More and Böhme (Anm. 7), 161. Vgl. die Vorrede von Christian Knorr von Rosenroth zu Helmonts Naturalphabet.
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Fazit Es versteht sich von selbst, dass es im Rahmen dieser Untersuchung nicht darauf ankommen kann, Unterschiede zwischen dem Sulzbacher Kreis und Böhme herauszuarbeiten. Es ging vielmehr darum, die gemeinsamen Konzepte hervorzuheben, die die Rede vom Einfluss Böhmes auf diese Autoren erklären können. Eine direkte Auseinandersetzung mit Böhme, wie sie zum Beispiel in Henry Mores Schrift Philosophiae teutonicae censura vorliegt, lässt sich in den Werken Helmonts und Knorrs nicht feststellen. Dass man in Sulzbach mit Ideen Böhmes sympathisierte, ist nicht zu bezweifeln, wie weit aber Böhmes Konzepte direkt in die Schriften Knorrs und Helmonts eingeflossen sind, ist schwer zu sagen. Es könnte sich bei den am Anfang dieser Untersuchung zitierten, nie belegten Aussagen vom Einfluss Böhmes auf das Sulzbacher Projekt, welches kurz zusammengefasst in der Suche nach der prisca philosophia und theologia bestand, um eine Art perspektivische Täuschung handeln, indem man die Gemeinsamkeiten Böhmes mit diesen allgemeinen Bestrebungen, die man mit Richard H. Popkin als dritte Kraft bezeichnen könnte,64 auf Böhme zurückführt, weil man ihn von allen Vertretern in Deutschland am besten kennt. In Wirklichkeit handelt es sich aber bei diesen Gemeinsamkeiten um den Rückgriff auf gemeinsame Wurzeln wie die Kabbala, die Alchemie und die Naturmagie nicht zuletzt paracelsistischer Herkunft, von der sowohl Böhme wie der Sulzbacher Kreis zehren. Man kann sich fragen, ob man in Sulzbach nicht ähnlich wie More und auch andere in Böhme einen »priscus theologus« gesehen hat, in dessen Schriften man viele Wahrheiten finden kann.65 Henry More streicht auch Böhmes Frömmigkeit hervor, seine Demut, brüderliche Liebe und seine Ergebung in Gottes Willen, alles Eigenschaften, welche auch Knorrs Haltung in seinem Neuen Helicon auszeichnen. Andererseits stehen in Sulzbach weniger Frömmigkeitskonzepte im Vordergrund, man entwirft weniger neue Theorien, sondern man versucht, das zu sichten, was schon da ist. Man gibt ältere Werke heraus, indem man sie kommentiert, ergänzt und aktualisiert. Man übt eine Vermittlungsfunktion aus und ermöglicht so einem breiten Benutzerkreis den Zugang zur Wahrheit, was letztlich der Herbeiführung des Millenniums dienen soll.66
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Richard H. Popkin: The Third Force in Seventeenth-Century Thought. Leiden 1992. Hutton (Anm. 7), 163. Sie spricht allerdings von »priscus theologus manqué«. Vgl. dazu Zeller (Anm. 4).
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Anhang
Schriften Böhmes in der Sulzbacher Bibliothek67 Deutsche Schriften Alle Theosophische Schrifften. Amsterdam 1682. In 4 Bänden. (Bd. 2, S. 144, Nr. 19; Buddecke 1, Nr.1) Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein, Von dreyerley Zustand des Menschen und dessen neuen Geburth [Amsterdam] 1639. (Bd. 2, S. 192, Nr. 2; Buddecke 1, Nr. 140) Theosophische Epistel, darinnen das Leben eines wahren Christen beschrieben wird. 1623. (Bd. 2, S. 192, Nr. 2; Buddecke 1, Nr. 140) Zwey Büchlein von Christi Testamenten. 1624. (Bd. 4, S. 120, Nr. 1; Buddecke 1, Nr. 169) Die Porten der Christenheit. Das schöne Perlen Crantzlein Mysterii magni. Magia aus den grossen Wundern. Die Porten zu Babel. Rechter Unterricht der verwirrten Babel. Schluss-rede des recht-Edlen Lilien-Zweigs. Extract etlicher Sendbrieffen. 1624. (Bd. 4, S. 120, Nr. 1; Buddecke Nr. 169)68 Gebethbüchlein auff alle Tage in der Wochen. 1624 (Bd. 4, S. 120, Nr. 1; Buddecke 1, Nr. 180) Zwey Büchlein von Christi Testamenten. Amsterdam, bey Henrico Betkio 1624.69 (Bd. 4, S. 120, Nr. 2; Buddecke 1, Nr. 170) Der Weg zu Christo. In zweyen Büchlein. 1628. (Bd. 4, S. 120, Nr. 3; Buddecke 1, Nr. 15) Von der neuen Wiedergeburth. Vom übersinnlichen Leben. Von der vermischten Welt und ihrer Boßheit. 1628. (Bd. 4, S. 120, Nr. 3; Buddecke 1, Nr. 15)70 Josephus redivivus. Amsterdam bey Veit Heinrichs 1631. (Bd. 4, S. 120, Nr. 3; Buddecke 1, Nr. 166) Trost-Schrifft von denen 4 Complexionen. (Bd. 4, S. 120, Nr. 3; Ausgabe nicht spezifiziert: Buddecke 1, Nr. 138 oder 139) Der Weeg zu Christo in zweyen Büchlein. 1635. (Bd. 4, S. 120, Nr. 4; Buddecke 1, Nr. 16)
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Die Zusammenstellung folgt derjenigen van Gemerts (Anm. 13). In Klammer wird zuerst die Seitenzahl im Katalog (Bd. 2, Cmb Cat 580–2 bzw. 4 Cmb Cat 580–4, s. Anm. 12) angegeben, ergänzt mit der Nummer in der Bibliographie von Werner Buddecke: Die Jakob Böhme-Ausgaben. Ein beschreibendes Verzeichnis. 1. Tl.: Die Ausgaben in deutscher Sprache. Göttingen 1937. 2. Tl.: Die Übersetzungen. Göttingen 1957. Die Schriften sind Bestandteil von Von Christi Testamenten. Allerdings erscheint in Buddeckes Verzeichnis der darin enthaltenden Schriften die erste Schrift Die Porten der Christenheit und die Schrift Magia aus den grossen Wundern nicht. Erscheinungsjahr 1658. Es handelt sich um einen Anhang zu Der Weg zu Christo.
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Von der neuen Wiedergeburth. Vom übersinnlichen Leben. Von der Buß. 1635. (Bd. 4, S. 120, Nr. 4; Buddecke 1, Nr. 16)71 Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein, Von dem dreyerley Zustand des Menschen. 1639. (Bd. 4, S. 120, Nr. 4; Buddecke 1, Nr. 140) Theosophische Epistel vom Leben eines wahren Christen. 1623. (Bd. 4, S. 120, Nr. 4; Buddecke 1, Nr. 140)72 Der Weeg zu Christo in zwey Büchlein etc. 1635. (Bd. 4, S. 120, Nr. 5; Buddecke 1, Nr. 16) Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein, Von dem dreyerley Zustand des Menschen. Sendbrieff was im Christ sey. 1639. (Bd. 4, S. 121, Nr. 6; Buddecke 1, Nr. 140). 2 Exemplare. Büchlein de signatura rerum. Das ist: Verzeichnuß aller Dinge wie das innerliche und äusserliche bezeichnet wird. 1635. (Bd. 4, S. 121, Nr. 8; Buddecke 1, Nr. 145)73 De signatura Rerum. 1635. (Bd. 4, S. 121, Nr. 9; Buddecke 1, Nr. 145) Der Weeg zu Christo. Von wahrer Gelassenheit. Von der neuen Wiedergeburth. Vom übersinnl. Leben. Von der Buß. Von der vermischten Welt und ihrer Boßheit. Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein. Theosoph. Sendbrieffe. [Amsterdam?] 1635. (Bd. 4, S. 121, Nr. 9; Buddecke 1, Nr. 16) Der Weeg zu Christo in 6 Büchlein. Amsterdam, bey Henrico Betkio 1658. (Bd. 4, S. 121, Nr. 10; Buddecke 1, Nr. 17) Theosophische Send-Schreiben. Amsterdam, bey Henrio [sic!] Betkio 1558. [recte: 1658]. (Bd. 2, S. 121, Nr. 12; Buddecke 1, Nr. 184) 40 Fragen von der Seelen. Amsterdam, bey Hans Fabeln 1648. (Bd. 4, S. 121, Nr. 13; Buddecke 1, Nr. 129) Trost-Schrifft von denen 4 Complexionen. (Bd. 4, S. 121, Nr. 13; Ausgabe nicht spezifiziert: Buddecke 1, Nr. 138 oder 139) 40 Fragen von der Seelen. Amsterdam, bey Hans Fabeln 1648. (Bd. 4, S. 121, Nr. 14; Buddecke 1, Nr. 129) Mysterium magnum oder Erklährung über das erste Buch Moysis. 1640. (Bd. 4, S. 41, Nr. 6; Buddecke 1, Nr. 164) Mysterium magnum. 1640. (Bd. 4, S. 41, Nr. 7; Buddecke 1, Nr. 164). 2 Exemplare.
Niederländische Ausgaben Van de groote ses Puncten, ghedruckt in t’ Jahr 1642. (Bd. 4, S.41, Nr. 1; Buddecke 2, Nr. 20) Het vierde Boeck, van 40 Vragen over de Siele. 1620. (Bd. 4, S. 41, Nr. 2; Buddecke 2, Nr. 18) Van de Menschwordingh Jesu Christi en van t’ Lyden, Sterven, en van den Dood en Opstandingh Christi. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 3; Buddecke 2, Nr. 19) 71 72 73
Es handelt sich um einen Anhang zu Der Weg zu Christo. Bestandteil von Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein. Buddecke verzeichnet kein Werk mit diesem Titel, der Bibliothekar verzeichnet auf der andern Seite die Titel sehr genau. Da der Untertitel aber mit De signatura rerum übereinstimmt, nehme ich an, dass es sich doch um dieses Werk handelt.
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Het achtste Boeck, de genadige Verkiesing, ofte van den Wille Gods over de Menschen. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 4; Buddecke 2, Nr. 33) Het tweede Boeck, van de drie Principien, van t’ goddelycke Weesen. eodem. (Bd. 4, S. 41, Nr. 5; Buddecke 2; Nr. 16) Het derde Boeck, zynde hooge ende diepe gronden, van t’ drievoudigh Leven des Menschen. (Bd. 4, S. 41, Nr. 5; Buddecke 2, Nr. 17) Eenighe schoone Brieven. 1641. (Bd. 4, S. 41, Nr. 6; Buddecke 2, Nr. 43) Betrachtingh van de goddelycke oppenbaringh in 177 Theosophische Vraghen ghestellt. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 41) Korte Verklaering van ses Puncten. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 21) De hooghwaardighe Poorte van de Goddelycke beschouwelyckheyt. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 32) Een grondelycker berecht van t’ Aerdsche en van t’ himmelsche [sic!] Mysterium. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 29) Verklaringh over de tafel van de drie Principien. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 36) Clavis ofte Sleutel van de vornaamste Puncten en Woorden. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 37) Een gebeth-Boeckien. 1641. (Bd. 4, S. 42, Nr. 9; Buddecke 2, Nr. 39) Eenighe schoone Brieven. 1641. (Bd. 4, S. 42, Nr. 9; Buddecke 2, Nr. 43) Een kort berecht van de nieuwe Wedergeboorte. 1642. (Bd. 4, S. 42, Nr. 9; Buddecke 2, Nr. 29) t’ Samen Spraack van t’ bovensinnelycke leven. 1641. (Bd. 4, S. 42, Nr. 9; Buddecke 2, Nr. 30) Van de vier Complexion. 1642. (Bd. 4, S. 42, Nr. 9; Buddecke 2, Nr. 24) Apologien t’gheen Heer Gregorii Richter ende Baltazar Tylcken. 1642. (Bd. 4, S. 42, Nr. 10)74 Een Handt-Boecken, zijnde een welrieckende bloem etc. Vergadert uyt het Hoogduyts. t’ Amstelredam, by Paulus Aerts von Ravensteijn. 1634. (Bd. 4, S. 122, Nr. 15; Buddecke 2, Nr. 5) Den eersten trap tot de Beekeringe [sic!]. 1635. (Bd. 4, S. 122, Nr. 15; Buddecke 2, Nr. 6) Den tweeden trap tot de Beekeeringe. t’ Amstel by Nicolaes van Ravensteijn. 1635. (Bd. 4, S. 122, Nr. 15; Buddecke 2, Nr. 7). 2 Exemplare Zleutel-bloem tweede deel. t’ Amstel by Paulus Aertsz van Ravensteijn. 1635. (Bd. 4, S. 122, Nr. 15; Buddecke 2, Nr. 5). 2 Exemplare Een Handt-Boecken etc. ut supra Nr. 15. 1634. (Bd. 4, S. 122, Nr. 16; Buddecke 2, Nr. 5) Zleutel-bloem etc. ut supra Nr. 15. 1634. (Bd. 4, S. 122, Nr. 17; Buddecke 2, Nr. 5) Den tweeden trap etc. ut supra Nr. 15. 1634. (Bd. 4, S. 122, Nr. 18; Buddecke 2, Nr. 5)
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Die Schrift ist so nicht bei Buddecke verzeichnet, vielleicht handelt es sich um eine Zusammenstellung der zwei einzeln erschienenen Schriften.
Harald Haferland
Heilsbedeutung und spekulative Alchemie Böhme-Rezeption bei Quirinus Kuhlmann
Am 4. Oktober 1689 wird Quirinus Kuhlmann in Moskau verbrannt. Im selben Jahr war er unter fremdem Namen nach Moskau eingereist, um die Herstellung einer jesuelitischen Monarchie zu befördern. Walter Dietze hat im Zuge einer Auswertung auch des Moskauer Aktenmaterials und einer Analyse der Moskauer politischen Zustände die staats- und kirchenfeindlichen Bestrebungen Kuhlmanns neben seinen sozialkritischen und politischen Weissagungen für die bestürzende Hinrichtung des sprachgewaltigen Dichters verantwortlich gemacht1 – der doch jeder konkreten Politik so fern war, wie man es als Dichter nur je sein kann. An Dietzes Diagnose wird man nicht rütteln wollen, doch lassen sich auch Ursachen anderer Art ausfindig machen. Die Wahnvorstellung, im göttlichen Heilsplan eine entscheidende Rolle zu spielen und Gottes Werkzeug bei der Errichtung der kommenden jesuelitischen Monarchie zu sein, die Kuhlmann schließlich glauben ließ, als ›Sohn des Sohnes Gottes‹ auftreten zu können, musste seine gebildeten Kommunikationspartner irritieren und die Vertreter der Konfessionen in der Moskauer Deutschengemeinde verprellen; sie ließen ihn auflaufen und denunzierten ihn. Kuhlmann war schlicht größenwahnsinnig und Opfer eines Christuswahns. Claus Victor Bock hat überdies von Kuhlmanns Beziehungswahn gesprochen.2 ›Beziehungswahn‹ kann man wie ›Größenwahn‹ als klinische Diagnose verstehen. Er besteht darin, nahezu alles, was einem begegnet, auf eine wie immer konstruierte und zwanghaft aufrechterhaltene Identität zu beziehen. Alles hat dann in diesem Kontext Bedeutung. Wer Christus sein will oder auch nur e i n Christus oder nur christusförmig, wird auch triviale Alltagsereignisse noch in Anlehnung an das Neue und Alte Testament auf seine eigene Erwähltheit hin interpretieren. Das riesige Netz von Bezügen nicht nur auf die Bibel, das Kuhlmann in seinem Kühlpsalter entwirft, und der Kühlpsalter selbst heben die Frage nach einer klinischen Diagnose indes auf (man kann Kuhlmann nicht mehr in die Psychiatrie einweisen; heutzutage würde man es vielleicht tun): Hier liegt ein bis ins Letzte literarisierter Beziehungswahn vor, der erklärt und interpretiert werden will und nicht diagnostiziert. Ich zeige Kuhlmanns Beziehungswahn im Folgenden an einem Beispiel auf (I). An seiner Ausprägung ist Kuhlmanns Böhme-Lektüre mit beteiligt, die ich im 1 2
Walter Dietze: Quirinus Kuhlmann. Ketzer und Poet. Versuch einer monographischen Darstellung von Leben und Werk. Berlin 1963, 332. Claus Victor Bock: Quirinus Kuhlmann als Dichter. Ein Beitrag zur Charakteristik des Ekstatikers. Berlin 1957, 106.
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Harald Haferland
Anschluss behandle (II). Ausschlaggebend ist hier, dass Kuhlmann sich in einen Heilsprozess hineingestellt sieht, dessen Rahmen er aus dieser Lektüre gewinnt. Im dritten Teil meines Aufsatzes gehe ich frühneuzeitlichen Vorstellungsformen dieses Heilsprozesses nach, für die eine spekulativ ausgedeutete Alchemie die Vorlage geliefert hat (III).
I
Kuhlmanns Beziehungswahn ist auf dem Hintergrund einer kulturell proliferierenden Manie zu betrachten, die auf verborgene Bedeutungen hinter entdeckten Zeichen und Figuren zurückzugehen sucht. Die Frühe Neuzeit ist voll davon und die Signaturenlehre etwa nur ein Ableger dieser Manie. Für die Dichtung, die im Zeitalter des Barock vielfach Gelegenheitsdichtung ist, stellt die Bindung an Gelegenheiten bzw. an bestimmte Situationen zudem einen ganz eigenen Antrieb der Beziehungsbildung dar. ›Gelegenheit‹ ist für den Kühlpsalter allerdings nicht im Sinne der vielen kleineren und größeren rites de passage – Geburt und Taufe, Geburtstag, Hochzeit, Begräbnis u. a. m. – zu verstehen, denen unzählige Gedichte im 17. Jahrhundert prospektiv zugeordnet und davon betroffenen oder involvierten Personen zugewidmet werden.3 Vielmehr wird im Nachhinein die Entstehungssituation in einer Überschrift ausgewiesen. So durchaus auch etwa schon bei Opitz, wenn auch in ganz harmloser Form: »Gedancken bey Nacht, als er nicht schlaffen kundte«4 bezeichnet bei Opitz die an sich recht unbedeutsame Situation, auf welche die hiermit angekündigte Elegie zurückgeht – eine Situation, die aber eben durch die in ihr entstandene Elegie zu einer gewissen Bedeutsamkeit erhoben wird. Mit ›als‹ wird Bezug auf sie genommen. Die näheren Umstände (Nachts, Nicht-Schlafen-Können, Gedanken) spinnen zusammen mit dem Gedichtinhalt ein Beziehungsgeflecht, und die besondere Entstehungssituation wird so Teil der Bedeutung des Gedichts. Denn dieses geht entscheidend hervor aus der in ihm aufgehobenen Situation. Bei Kuhlmann heißt es etwa: »Als er di Jesuelische Lilirose mitten unter den gefährlichsten Anschlägen des verfluchten Romes in seinem London fortpflanzte […]; gejubiliret zu London an seinem 50 tage den 31 Aug. 1679.«5 Die temporale 3
4 5
Zur barocken Gelegenheitsdichtung vgl. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977. Vgl. auch das große Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Im Zusammenwirken mit der Forschungsstelle Literatur der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück hrsg. v. Klaus Garber. Hildesheim, Zürich, New York 2001 ff. Martin Opitz: Teutsche Poemata. Abdruck der Ausgabe von 1621 mit den Varianten der Einzeldrucke und der späteren Ausgaben. Hrsg. v. Georg Witkowski. Halle 1902, 20. Überschrift zum siebten Kühlpsalm des vierten Buchs. Ich zitiere: Quirinus Kuhlmann: Der Kühlpsalter. Hrsg. v. Robert L. Beare. 2 Bde. Tübingen 1971 (hier: Bd. 1, 227). Ich lasse im Folgenden alle von Kuhlmann vorgenommenen Hervorhebungen (im Druck als Kursivierung und Fettdruck erscheinend) weg, um die Lektüre nicht zu irritieren.
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Konjunktion fixiert den Zeitpunkt, dies und alles andere ist in hohem Maße beziehungsvoll und bedarf einer auch biographischen Entschlüsselung: Jesuel, nicht Jesus; Lilie und Rose; Anschläge Roms; Kuhlmanns London; Jubel Kuhlmanns in London; das Datum als Ablauf einer zahlensymbolisch markierten, auf Kuhlmann bezogenen Zeitspanne. Hieraus lässt sich schließen, dass das von Kuhlmann geförderte Wachstum der »Jesuelischen Lilirose« gegen katholischen Widerstand (s. das verfluchte Rom) als Heilsprozess aufgefasst wird und der so überschriebene Psalm zusammen mit dem Moment seiner Entstehung Heilsbedeutung besitzt. Deshalb handelt es sich bei den Gesängen und Psalmen des Kühlpsalters nicht eigentlich um Gedichte in einem Gedichtband, deren Inhalte bloß zu interpretieren wären. Vielmehr gelten sie Kuhlmann als Einschläge Gottes im Rahmen eines Heilsprozesses, in den er als Sprachrohr Gottes involviert ist. Der Gebrauch der temporalen Konjunktion zur zeitlichen Verankerung des heilsbezogenen Beziehungsnetzes ist alt. Vorbild für den Kühlpsalter sind natürlich die biblischen Psalmen, vor denen Überschriften stehen, die nicht selten auf ganz parallele Weise eine Entstehungssituation benennen – freilich fiktiv, da sie im Nachhinein und ohne wirkliche Kenntnis der Entstehungsumstände hinzugesetzt sind. So heißt es in die, qua […] (Ps 18 u. ö.) oder cum […] (Ps 34 u. ö.), und der paratextuelle Charakter der Überschriften macht sich durch den Sprung aus der dritten Person in die erste im folgenden Psalmentext dann ganz deutlich bemerkbar. Kuhlmann übernimmt dies für seinen Kühlpsalter und erreicht mit dem Er-Ich-Wechsel auch eine gewisse Objektivierung der Gedichtinhalte. Jedenfalls bringt das Er das nachfolgende Ich auf Distanz und rückt es in einem Rahmen zurecht. Der Rahmen ist der in der Überschrift mitbezeichnete Heilsprozess, in dem der Psalm seine Rolle spielt. Kuhlmann ist sich nicht sicher über den konkreten Verlauf des Heilsprozesses, weshalb die Überschriften oft auch eine Entschlüsselung vornehmen. Dabei lassen sie die heilsgeschichtlichen Konstruktionen Kuhlmanns jeweils mit hervortreten, die seine Entschlüsselungsarbeit überhaupt erst ermöglichen. Kuhlmann spezifiziert in den Prosaüberschriften die eigenen Lebenssituationen immer durch eine Datums- wie auch durch Ortsangaben. Zahlensymbolisch bestimmten Zeitspannen wie auch Städtenamen können dabei Possessivpronomen an die Seite gestellt werden (s. das eben zitierte »an seinem 50 tage« sowie »sein London«; dies erhellend beginnt dann auch der Psalm: »London, Ort der Lichteswunder,/ in dem Gott mein leid versüsst!«). Die Pronomen halten eine Form der Inbesitznahme fest bzw. markieren eine Besitzanzeige. Man kann vielleicht noch weiter gehen: Kuhlmann selbst sieht sich als Heilsbesitz. London also etwa ›gehört‹ zunächst Kuhlmann; und Kuhlmann ›gehört‹ dann auch London, insofern es einmal zum Ort seiner Erfahrungen mit dieser Stadt geworden ist und London hierdurch zum allgemeinen Heilsort aufgewertet wird. Sein kurzes Leben lang ist Kuhlmann unablässig auf Reisen – besonders oft zu Wasser, nach London etwa im Paketboot –, und die gespannte Erwartung auf die langsam näher rückenden Orte und Städte als Räume des Erlebens von (auch persönlichem) Heil mischt sich mit der Reflexion auf ihre zum Teil welthistori-
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sche Bedeutung.6 Vor der Ankunft stellt Kuhlmann sich auf die Städte ein, und die Psalmen spiegeln sowohl seine Erwartungen wie seine Einschätzung der besonderen Würde des Ortes. Mit der Erfahrung vor Ort geht Kuhlmann dann dazu über, beides zusammen laufen zu lassen. Orte/Städte erscheinen deshalb als besonders gewichtige Gravitationszentren in Kuhlmanns Beziehungsnetzen. In den Prosaüberschriften werden sie deshalb im Verein mit den je genannten Ereignissen ›heilsmythologisch‹ verschlüsselt; mit Recht ist hierfür von Privatmythologie gesprochen worden.7 Ich beginne meine Überlegungen zu Kuhlmanns Böhme-Rezeption mit Hinweisen zu seiner Vorstellung einer – auch in Moskau zu errichtenden – jesuelitischen Monarchie und zu dem Begriff ›Jesueliter‹. Die jesuelitische Monarchie wäre die fünfte nach den vier im biblischen Buch Daniel von Daniel geweissagten, und eine solche fünfte Monarchie spielt in den millenarischen, chiliastischen Bewegungen des 17. Jahrhunderts bereits eine große Rolle.8 Böhme zählt für Kuhlmann dabei primär als Gewährsmann für die bevorstehende Monarchie als Zeit des Heils. Böhmes Schriften werden deshalb an erster Stelle in ihrem Weissagungsgehalt ausgebeutet.9 Kuhlmann nennt die erwartete Monarchie jesuelitisch – und nicht jesuitisch –, indem er dem Buchstaben ›L‹ eine besondere Bedeutungsaufladung angedeihen lässt.10 6
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Ein besonders gewichtiger Fall ist hier Rom, über dessen historische und heilsgeschichtliche Rolle Kuhlmann im Zuge seiner Mittelmeer-Passage nach Konstantinopel, dem »Rom im fernen Morgenlande« (Vorspann zum zweiten Buch, Abschn. 1), und zurück sinniert; so schon beim anfänglichen Passieren Avignons, des »Französischen Roms« (Überschrift zum achten Psalm des zweiten Buchs). Dabei sind gleich mehrere Bedeutungen von ›Rom‹ im Spiel. Wie Kuhlmann mit diesen verschiedenen Bedeutungen und Spezifikationen von ›Rom‹ spielt, hat Eva-Maria Kabisch: Untersuchungen zur Sprache des Kühlpsalters von Quirinus Kuhlmann. Eine exemplarische Studie. Diss. Berlin 1970, 34–40, gezeigt. Vgl. auch unten Anm. 19. Vgl. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 219–261. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Erlösung durch Philologie. Der poetische Messianismus Quirinus Kuhlmanns (1651–1689). In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937–1996). Hrsg. v. Hans Feger. Amsterdam/Atlanta 1997, 243–284, hier: 257 f. – Kuhlmann bezieht sich im Neubegeisterten Böhme (vgl. Anm. 30), 12, auf Ludwig Friedrich Giftheil als den Initiator der Quintomonarchisten. Zu Giftheil s. Martin Lackner: Geistfrömmigkeit und Enderwartung. Studien zum preußischen und schlesischen Spiritualismus, dargestellt an Christoph Barthut und Quirinus Kuhlmann. Stuttgart 1959, 63 f. Vgl. zum weiteren Kontext des Millenarismus im 17. Jahrhundert auch Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Anja Hallmann u. Boris Bayer. Göttingen 2007, bes. Tl. 2. Weitere Anleihen Kuhlmanns bei Böhme stelle ich hier in den Hintergrund. Vgl. Hinweise dazu vor allem bei Sibylle Rusterholz: »Klarlichte Dunkelheiten«. Quirinus Kuhlmanns 62. Kühlpsalm. In: Martin Bircher/Alois M. Haas (Hrsg.): Deutsche Barocklyrik. Gedichtinterpretationen von Spee bis Haller. Bern/München 1974, 225–264, hier: 241 f. u. 247 ff., und Johann Nikolaus Schneider: Kuhlmanns Kalkül. Kompositionsprinzipien, sprachtheoretischer Standort und Sprechpraxis in Quirinus Kuhlmanns Kühlpsalter. In: Daphnis 27 (1998), 93–140, hier: 121–132. Zu Kuhlmanns auch aus der Kabbala herzuleitenden Buchstabenspielen vgl. die Hinweise bei Heinrich Erk: Offenbarung und heilige Sprache im Kühlpsalter Quirin Kuhlmanns. Diss. (masch.) Göttingen 1953, 290 ff.
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So heißt es zur Erläuterung des ›L‹ im Prosavorspann zum vierten Buch des Kühlpsalters: 29. Das heilige El, der nahme des grossen Engels, der mit der Seelen über di Himmel triumfiret, ist Uns durch alle Zehen L nun in dem nahmen Jesueliter widererstattet, und wird bald [als] das Israel der Christen der Jesueliter, das dreieinige Königreich Jesu Christi begrüsset werden.11
›Jesueliter‹ ist von Kuhlmann offensichtlich in Anlehnung an ›Israeliter‹ gebildet worden, da ›Jesuiter‹ oder ›Jesuiten‹ schon besetzt sind. ›Jesuel‹ für ›Jesus‹ taucht zum ersten Mal im zwölften Kühlpsalm des ersten Buchs (V. 962) auf und bezeichnet eine Spezifikation Jesu, nämlich den mit einem Thron ausgestatteten Endzeitherrscher – und z. B. nicht das Kind Jesus.12 Als Endzeitherrscher aber steht er zugleich für die zu erwartende fünfte Monarchie. ›El‹ als der hebräische Allgemeinbegriff für ›Gott‹ und ›Gottheit‹, der oft auch als Suffix von Engelnamen auftaucht – wie etwa beim Engelsfürsten Michael –, wird dabei von Kuhlmann zur Differenzierung der Bedeutung eingefügt.13 Die Jesueliter als Anhänger Jesu stellen demnach den Zusammenschluss jener Christen dar, welche die fünfte, die Endzeitmonarchie tragen. Was die zehn ›L‹ (s. o.: »Das heilige El […] ist Uns durch alle Zehen L nun in dem nahmen Jesueliter widererstattet«) für Kuhlmann bedeuten, müsste ein künftiger Kommentar ausgiebiger erläutern – man braucht auf Schritt und Tritt einen Kommentar für den Kühlpsalter, ohne freilich hoffen zu dürfen, dass alle Beziehungsbildungen wirklich bis ins Letzte aufzuklären wären. Im Folgenden eine Vorarbeit dazu: Im siebten Kühlpsalm des sechsten Buchs liefert Kuhlmann einmal sieben und dann drei Namen von Städten,14 in denen er sich aufgehalten hatte und die für ihn besondere Bedeutung erlangen. Er ruft zunächst stellvertretend die Einwohner an: 4. Lignitzer, Leiptziger, Leidner, Lübekker! Lüneburg, London, Lutecierleut! Siben Planete! Des Lebens aufwekker! […] 5. Löwisches Lyon mit Lesbus, Losanna! Unterdreistädte des Josaphats EL! (V. 12872–12881)15
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Der Kühlpsalter (Anm. 5), Bd. 1, 203. Ich füge bei Zitaten hier und im Folgenden in eckigen Klammern Verständnishilfen und textliche Verbesserungen ein. In der Vorrede zum achten Buch des Kühlpsalters bezeichnet Kuhlmann sich dann selbst als Jesuel. Vgl. auch Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 451 f. Zu Jesuel in der Engelordnung vgl. Erk, Offenbarung und heilige Sprache (Anm. 10), 23 ff. ›Jesueliter‹ soll eine »wegwerffung aller Sectirischer Partheiischer heutiger Nahmen« bedeuten. Vgl. den Quinarius (1680), 16; hier zit. n. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 213. Vgl. »di drei und siben L«, V. 6451, sowie noch einmal »Di zehn L«, V. 14033. Die Sieben und die Drei sind für Kuhlmann grundsätzlich Zahlen mit Heilssignifikanz. Ich zitiere die Gedichte des Kühlpsalters im Folgenden nach den in Beares Ausgabe durchnummerierten Versen.
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Die Siebenergruppe der Städte bildet hier die Planetensphären nach, die Dreiergruppe soll auf den Herrn verweisen, wie er nämlich Josaphat beisteht (»Der Herr war mit Joschafat«, 2Chr 17,3). Über die eingeformte Zahlensymbolik hinaus wird den ›L‹-Städten damit kosmische Erstreckung und Majestät zugesprochen. Die – auf Kuhlmanns Reise- und Lebensweg liegenden – Städte erlangen auf diese Weise eine charakteristische Mächtigkeit der Beziehungsstiftung. Städte stehen bei Kuhlmann immer und immer wieder für Orte, an denen für ihn Zeichenhaftes geschehen oder von denen für die Welt Bedeutsames ausgegangen ist (so steht etwa Görlitz für Böhme16 oder Patmos – in diesem Fall als Insel – für das Offenbarungserlebnis des Johannes17), und/oder sie sind Erfüllungsorte für die Wünsche und Hoffnungen Kuhlmanns. Schon die Überschrift zum ersten Kühlpsalm des ersten Buchs führt eine Kaskade von Städten auf, über die Kuhlmann von seiner Geburtsstadt Breslau aus zu seinen Studienorten Leipzig und Jena gelangte. Gibt es weitere Anhaltspunkte zur Beziehungsbildung – und Kuhlmann greift hierbei gern auch auf die anlautenden Konsonanten zurück –, so gewinnt eine solche Reihe ein heilsästhetisches Gewicht. Als Ästhetik oder Poetik des Heils kann man solche Formen der Beziehungsbildung betrachten, die Kuhlmann gerade auch zur sprachlichen Ausstattung seiner Psalmen findet und ausprägt. Dass die oben genannten Städte alle mit L anlauten, bindet sie zusammen und ist deshalb über die Reihenbildung hinaus doppelt bezeichnend, dreifach bezeichnend gar, wenn das hebräische ›El‹ mitgedacht wird. Beziehungen liegen in dieser Form oft in mehreren ›Packungen‹ übereinander. In dem in die Jahre 1678 f.18 gehörenden, dezidiert biographischen vierten Psalm des dritten Buchs hat Kuhlmann an der Zehnerreihe der L-Städte entlang seine heilsgeschichtlich konstruierte Biographie aufgezogen. In Liegnitz, »Das mich zuerst vor Teutschland schaugebühnt« (V. 3021), erscheint 1668 mit den Grabeschriften Kuhlmanns erste Publikation; Leipzig (V. 3067) wird Studienort; die »dritt-gestalt« Leiden wird Ort der für Kuhlmann so entscheidenden Böhme-Lektüre: »Als Böhme mir mich zeigte klar und hell« (V. 3130). Die »Virdgestalt« Lübeck löst aus dieser Lektüre gewonnene Weissagungselemente ein (V. 3217–3222), und die »fünffgestalt« Lüneburg bringt für Kuhlmanns Lebensweg gleichfalls wichtige negative Erfahrungen (»di Höllwelt«, V. 3283–3288). Dann heißt es: 64. Mein London zog mich fort mit allen kräfften, Das mich empfing als einen Printzen gleich; Es war mein Sechs, des Geistes eigne Quelle, Das mir von Gott zum eigenthum geschenkt. (V. 3295–3298)
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Als sein Geburtsort. Vgl. »Görlitz und Gröningen, Galata, Gades,/ Wundervirstädte der Jesuelspracht!« (V. 12864 f.) Groningen ist neben Leiden der Ort von Kuhlmanns intensivierter Böhme-Lektüre. So besonders im Patmos-Psalm, dem achten des dritten Buchs. Nach der Prosaüberschrift hat Kuhlmann den Psalm in den Jahren 1683 und 1684 noch einmal überarbeitet.
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Hier wird besonders deutlich, wie Orte/Städte als Gestalten des Erlebens und persönlichen Heils geradezu als Heilsbesitz aufgefasst werden, sodass denn von ›meinem‹ bzw. ›seinem London‹ die Rede sein kann, wie es auch in anderen Fällen der Beziehungsbildung durch Besitzanzeige geschieht. Ja, man kann sagen, dass Kuhlmanns Heilsdenken sich über possessive Spezifikationen entfaltet.19 Mit Lutecia/Paris ist »Das siben« (V. 3322) und mit Lyon die »Achtgestalt« der Städte erreicht (V. 3337); zu Lesbos heißt es »du Neunstadt meiner Städte« (V. 3391), und Lausanne ist schließlich die »Zehnstadt« (V. 3441). Die Zehn-L-Konstruktion ist 1682 im sechsten Buch des Kühlpsalters endgültig fest geworden, und zu Lausanne heißt es entsprechend etwa im elften Kühlpsalm des sechsten Buchs: 16. 6. O Losann, mein Saltz und wesen, Das zum zehnden L erlesen! Als zum zweiten ich dich sah, Ward mir Christi Kreuz schon nah. (V. 13303–13306)
Aber schon am Ende des dritten Buchs und in Kuhlmanns »virmahlsibnem Jahr«, das heißt in seinem 28. Lebensjahr (1679), werden die »zehn- und sibenstädt« als feste Gruppe(n) angesprochen (Str. 28 des 15. Kühlpsalms).20 Verbunden wird damit die Ankündigung: »Fall Babel! Fabel, fall! Des Abel El ist kommen!« Es folgen Komposita von ›war‹, ›ist‹ und ›wird‹ in verschiedenen Kombinationen, die in geschweiften Klammern wie in einem Paradigma untereinander gesetzt sind (dabei steht das ›waristwird‹ in der Mitte: »Jehovah waristwird ein ewig Libesflusguskus«, V. 576421), um die Einheit der Heilsgeschichte und die Ewigkeit ihres finalen Zustandes zu bezeichnen. Das Kommen Gottes (hier auch um des Binnenreims willen als Gott Abels gekennzeichnet22) in der zu Ende gehenden Geschichte (›Fabel‹ doppelsinnig hier für ›Geschichte‹?) wird mit der persönlichen Heilsbiographie Kuhlmanns verschränkt. Dabei gelangt das vielsprachige und in disparate Meinungen zersplitterte Babel – das also, was nach Böhme die
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Oft wird dabei auch der possessive Genitiv verwendet. Im folgenden Vers meint dieser allerdings eine Unheils-Spezifikation: »Rom, Romes Rom, das Rom von Rom verirrt!« (V. 5580). Vgl. hierzu auch Kabisch, Untersuchungen (Anm. 6), 35 f., mit deren Überlegungen sich der Vers folgendermaßen paraphrasieren lässt: ›(Päpstliches) Rom, (des historisch-geographischen) Romes (päpstliches) Rom, das (Gottes) Rom von (dem historisch-geographischen) Rom verirrt!‹ Subjekt wäre demnach hier das päpstliche Rom, das die Unheils-Spezifikation des historisch-geographischen Roms darstellt, während Gottes Rom die Heils-Spezifikation darstellt. Gottes Rom wird aber einstweilen durch das päpstliche verdrängt (›verirren‹ transitiv verstanden). Vgl. auch den Vorspann zum vierten Buch, Abschn. 5 aus dem Jahr 1680, wo betont wird, dass die drei Länder Holland, England und Frankreich »in meiner göttlichen Leitung di dritte, sechste und sibende Gestalt, mit ihrem Leyden, London, Lutecia [sind]«. Vgl. in Beares Ausgabe Bd. 1, 198. Zum Reimspiel mit ›Babel‹, ›Abel‹, ›El‹ und ›Bel‹ (= ›Baal‹) vgl. auch Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 166 f.
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Weltgeschichte ausmacht23 – zu Fall. Das 28. Jahr Kuhlmanns wird geradezu zum Subjekt der Heilsgeschichte: »Grosmache heut den Herrn, mein virmahlsibnes Jahr!« (V. 5760). Dabei steht es – im Heilspossessivus – für die besondere heilsbezogene Verfasstheit Kuhlmanns selbst. Ich schließe meinen Kursus ab: »durch alle Zehen L« im zitierten Prosavorspann zum vierten Buch heißt also, dass der Buchstabe, gestützt durch die Zehnheit der für Kuhlmann bedeutsamen L-Städte, die heilsmäßige Bedeutung des ›L‹ in ›Jesueliter‹ sichert; umgekehrt imprägniert das ›El‹ natürlich die Städtereihe als Reihe des Herrn. Im achten Kühlpsalm des sechsten Buchs kann das ›L‹ dann auch als freies Bindemittel dienen und eine neue Städtereihe ›durchgeellt‹ werden: 7. Was Langenau, was Liss und Lednitz bildt Ist itzt, Gottlob, durch A.L.L.E.S. haupterfüllt. EL hat durch EL sein göttlich EL durchELLt: Durch Ulmes Langenau ward Langenau erst offen. Printz Jesus hat di Erden hergestellt. Nun ist nach wunsch der wunsch der Heilgen eingetroffen. Gantz wundersam ward endlich kund Der hochverworffne Kühlzeitbund. (V. 12987–13994)
»A.L.L.E.S.« kürzt hier als bei Kuhlmann immer wieder für die Städtereihe Amsterdam, London, Lutecia/Paris (vgl. soweit auch V. 12888 f.), Edenburg und Smyrna (oder auch Stambul)24 auftauchendes Notarikon einen »Vorbedeutungslauf« (V. 12822) der Begegnung Kuhlmanns mit diesen Städten ab. Langenau, wenige Kilometer vor Ulm, wird von Kuhlmann allerdings wohl nur als auf der Karte aufgesuchter L-Ort angeführt und mit Ulm als Schauplatz der Ulmer Verträge vom 17. Juli 1620 in Verbindung gebracht, die dazu beitrugen, die Regierungszeit des sogenannten Winterkönigs Friedrichs V. von der Pfalz früh zu beenden.25 »Ulmes Langenau« scheint das durch diese Verträge mit schwergeprüfte Langenau,26 das aber der Wiederkehr des nicht nur von Kuhlmann als Papstgegner mythisierten Königs entgegen sehen kann. Wie diese Wiederkehr ist auch der zunächst »hochverworffne Kühlzeitbund« doch noch zu erwarten. Eine solche durch Widerstände hindurchgehende Heilserwartung wird mithin in der Strophe ›durchgeellt‹. Die Kühlzeit ist dabei die Zeit eines Neuen Bundes Gottes mit den Menschen; alle Kühl-Komposita bezieht Kuhlmann über die Gleichheit seines Namens auf sich als Instrument Gottes, das die heilsgeschichtliche Erfrischung, Erquickung 23
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Mysterium Magnum. In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. 7 u. 8 (1958), Kap. 35 u. 36. Bock, Quirinus Kuhlmann als Dichter (Anm. 2), 88. Vgl. zu Friedrich besonders den dritten Psalm des dritten Buchs. Vgl. dazu Erk, Offenbarung und heilige Sprache (Anm. 10), Kap. 4, und Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 176 f. Denn vgl. den Vers der vorhergehenden Strophe: »Der Fridrich ward durch Ulm bewährt.« (V. 12985) Langenau wird wohl nur um des ›L›s willen herbeigezogen.
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(resp. Kühlung in der heißen Jahreszeit) bringen soll, von der in der Petruspredigt der Apostelgeschichte (Apg 3,19 f.) die Rede war. Dort forderte Petrus zur Umkehr auf, ut veniant tempora refrigerii a conspectu domini. Kuhlmann sieht sich im Anschluss daran selbst als Kühlmonarch der bevorstehenden Kühlzeit. Ich bin exemplarisch abgeirrt, um zu demonstrieren, wohin man sich verliert, wenn man sich ein kleines Stück Klärung in einem solchem Beziehungsdelirium verschaffen will. Insbesondere Zahlen und Daten,27 Buchstaben, Namen – von Städten und historischen Personen insbesondere – und Farben dienen Kuhlmann zum Gerüst seines Beziehungsreichs, aber auch etwa die Himmelsrichtungen und die ihnen entsprechenden vier Kontinente sowie unterschiedliche biblische Anhaltspunkte, öfter auch aus der Johannesoffenbarung. So wie in Buchstaben Heilsbedeutung verborgen ist (vgl. »Buchstaben sind auch wesentlichs verstehn!« V. 10934), die es zu entschlüsseln gilt, bilden auch die anderen Komponenten von Kuhlmanns Beziehungsreich aufzuschließende Verschlüsselungszentren. Nicht unwichtig ist es vielleicht, noch einmal zu betonen, dass Entschlüsselung und Verschlüsselung partiell zusammenfallen und dass es sich deshalb dabei um doppelseitige Konstrukte handelt. Stößt Kuhlmann etwa auf die L-Städte, so hilft er nach, um eine runde Zahl von L-Städten zu erreichen. Anstelle von ›Paris‹ greift er zu ›Lutecia‹ und nimmt auch eher zufällige Durchgangsorte mit hinzu; andererseits bleiben für Kuhlmann wichtige Städte wie Amsterdam in dieser Liste unterdrückt. Aus der so erhaltenen Zehnzahl schält er signifikante Teilzahlen heraus, aus denen er weitere Beziehungen herausspinnt. Auch die L-Städte als El-Städte zu fassen, zeigt den Konstruktcharakter. Was herausgeholt wird, wurde zuvor hineingesteckt. Ich kehre noch einmal zum Begriff ›Jesueliter‹ zurück, der in Analogie zu ›Israeliter‹ mit langem ›î‹ auszusprechen wäre, während und weshalb Kuhlmann dazu übergeht, ›Jesuelitter‹ zu schreiben.28 Warum ›weshalb‹? Weil er – so nehme ich an – eine Beziehung zu Jakob Böhmes Begriff des Salitter herstellen will, der in Böhmes Aurora meist in dieser Form geschrieben wird und aus ›Sal nitri‹ (eig. Salpeter) verderbt ist.29 Böhme meint damit – abweichend vom ursprünglich spezifischen Stoffbegriff – alles Materielle, was dann verschiedene Eigenschaften besitzen kann, was also materieller Träger von Eigenschaften und damit konkret ›begreiflich‹, d. h. anfassbar, ist. Gott schafft die materielle Welt unter Zuhilfenahme des Salitters. Wie sich die Eigenschaften im Salitter materialisieren, so Gott in der Zeit des Heils aber nun bei Kuhlmann im Menschenmaterial, in den Jesuelittern, über die und in denen sich sein Endreich realisiert.
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Zu Daten und Zeitspannen vgl. insbes. Schneider, Kompositionsprinzipien (Anm. 9). Der siebte Kühlpsalm des fünften Buchs heißt z. B. das »Hochlobkühllied der Jesuelitter«. Vgl. noch V. 10874, V. 18307 u. ö. Kuhlmann schreibt allerdings selbst ›Salniter‹ (Vorspann zum vierten Buch, Abschn. 15). Vgl. die verderbte Schreibung ›Salitter‹ auch etwa in einem bei Becher (vgl. unten Anm. 69), 776, gedruckten alchemistischen Rezept. Zum Begriff in Böhmes Aurora vgl. die Hinweise von van Ingen im Kommentar seiner Ausgabe: Jacob Böhme: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997, »Morgen-R=te im Aufgangk«, 9–506, hier: 82, Z. 23.
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II Ich muss weiter ausholen, um dies zu erläutern. Kuhlmann liest Ende 1673 und Anfang 1674 nahezu den ganzen Böhme und legt darüber im Jahr 1674 mit der Publikation des Neubegeisterten Böhme Rechenschaft ab. Böhme wird als Kronprophet einer kommenden Jesusmonarchie begriffen, die mit Wehen auf die Welt kommt, deren erste der sogenannte Dreißigjährige Krieg war.30 Ungeachtet seiner selbstbewusst zur Schau gestellten Einfalt oder auch gerade deshalb findet Böhme nach Kuhlmann das Ewige Evangelium, das alle bisher da gewesene Weisheit übersteige31 – im Anschluss daran wird Kuhlmann seinerseits aller gelehrten Anstrengung und ihren Institutionen, den Universitäten, entsagen und sich auf das verlassen, was ihm ›eindictiret‹ wird.32 So will er sich zum Werkzeug Gottes machen. Mit Böhme gewappnet kann er ankündigen: Ich bringe Böhmens Schrifften/ Großmächtige Könige/ und sämtlich übrige nach Standes würden[/] Herrlikeit und Hoheit geehrte Mitglieder des gantzen Luthertums/ vor euch zum Zeugnüsse der Warheit/ ausposaunend/ daß eure Königreiche und Fürstenthümer nebenst allen Herrlikeiten nun sich enden/ wie der Stein/ sonder Hände herabgerissen/ JEsus Christus/ nach Daniels Weissagung/ das Monarchienbild an seine Füße schläget und alles zermalmet. Alle Religionssecten haben ihren Schlus. Die Völkerzerstreuung ist aus. Das Märterrreich wird in ein Freudenreich verwechselt.33
Daniel, der nun zitiert wird, sage voraus, dass »di Fünfte Monarchi oder das Christusreich aufgerichtet wird/ das/ wiwol es tausend Jahr auf Erden währet/ nimmermehr zerstöret wird«. Hieraus leitet Kuhlmann eine Selbstermächtigung ab: »so bald ich den Christen ihren Antichrist gewisen/ wende ich mich zu den Unchristen/ oder Jüden/ Türken/ Heiden/ ihnen weisende die hochheilige Dreifaltigkeit und Einheit Gottes […].«34 Das ist es, was Kuhlmann in den verbleibenden 15 Jahren seines Lebens tun wird. Die bei Böhme notorisch genannte Trias der (heils)blinden Juden, Türken und Heiden35 gereicht ihm zum Missionsplan. »Di Türken/ Juden und Heidenbekehrung ist straks zuerwarten; ein Hirte wird di Völker in eine Herde versammeln.«36 Er will auf seiner Reise zum türkischen Sultan in Smyrna zu diesem vorgelassen werden;37 nach Jerusalem gelingt ihm allerdings nur eine Reise
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Quirinus Kuhlmann: Der Neubegeisterte Böhme. Hrsg. und erläut. von Jonathan Clark. Zwei Tle. Stuttgart 1995, 12. Ich lasse auch hier Kuhlmanns eigene Hervorhebungen in den im Folgenden gebrachten Zitaten wegfallen. Ebd., 30. Die Schreibhaltung drückt sich u. a. durch ein Schreiben wider Willen (ebd., 37) oder durch göttliche Eingebung aus. Vgl. entsprechend etwa auch die siebte Strophe des ersten Gesangs des ersten Buchs des Kühlpsalters (»Jesus war, der ihn regirte«, V. 51). Vgl. dazu auch Schneider, Kompositionsprinzipien (Anm. 9), 123 f. Vgl. Kuhlmann, Der Neubegeisterte Böhme (Anm. 30), 38. Ebd., 49. Böhme, Morgen-R=te im Aufgangk (Anm. 29), 76, 176 ff., 433 u. ö.; Der Neubegeisterte Böhme (Anm. 30), 55; vgl. die Trias auch ebd., 49 u. ö. Zu den Umständen der Reise vgl. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 202–209.
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im Geiste, die als aus dem Geist heraus wirksam gedacht werden muss.38 Ziel der absurden Unternehmungen ist die Herstellung der Einheit der Christenheit in der jesuelitischen Monarchie, Mittel sind die Jesuelitter in ihrer Vorreiterfunktion (vgl. auch »Die Widerkunfft wird aller Welt bekehren/ In Jesuels Vorrennern, den Kühlmännern«, V. 3389–90). Böhme hatte die Einheit der Christenheit in einem anderen Geist als dem herrschenden Geist Babels gefordert. Mitauslösendes Erlebnis für Kuhlmanns missionarischen Eifer ist seine Entdeckung einer Übereinstimmung zwischen den von ihm ausgehobenen Weissagungen Böhmes und denen des Amsterdamer Propheten Johannes Rothe. Rothes Weissagungen zur fünften Monarchie lernt Kuhlmann kurz nach seiner BöhmeLektüre kennen, um dann das Zusammentreffen der Lektüren in guter alter Legendentradition als bestätigende Koinzidenz zu verbuchen. Im später auch gesondert publizierten XV. Kapitel des Neubegeisterten Böhme sammelt er zunächst »Jacob Böhmens des Teutschen Propheten 150. Weissagungen und Offenbahrungen der güldenen Lilien- und Rosenzeit/ oder der glorwürdigsten JESUS-Monarchie«39. Nach Kuhlmann handelt es sich um zu wenig beachtete Weissagungen, »in denen doch di allerschönste harmoni mit dem überausprächtigen Jesusreiche zubefinden. Denn seine Lilien- und Rosenzeit ist nichts anders/ als di fünffte Monarchi«40. Lilie und Rose sind für Böhme und Kuhlmann über ihren traditionellen metaphorischen Gehalt hinaus Indikatoren eines finalen Weltzustandes, der die Endzeit einleitet.41 Sie stellen ursprünglich alchemistische Metaphern für das weiße und das rote Elixier dar, das der Produktion von Silber und Gold und damit den perfekten, finalen Zuständen der als Kontinuum aufgefassten Skala der sieben ›kanonischen‹ Metalle dient. Kuhlmann greift diese Bezeichnungen auf, und sie durchziehen dann vielfach verwortet den ganzen Kühlpsalter: vom »Rosenlilgenstand« ist die Rede (Vorspann zum ersten Buch, Abschn. 14), er will durch die Gnade Gottes »angelilgt« werden (V. 493), eine Person aus seiner Umgebung erscheint ihm als »Wunderlilienfigur« (Überschrift zum achten Gesang des ersten Buchs), »Di Morgenröth durchrosenlilget hoch […]« heißt es (V. 9632), und Kuhlmann sieht sich wiederum mit Jesusblut »belilgt« (V. 1172). Wunder werden »in der rosenlilgenstadt im RosenlilgenOctober sich berosenli38
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Bock, Quirinus Kuhlmann als Dichter (Anm. 2), 70 f., 78–85, hat sie deshalb als schamanistisch bzw. als angelehnt an die Form von Schamanenreisen interpretiert und hieraus die Kategorie des Ekstatikers für Kuhlmann abgeleitet – zweifellos ein anachronistischer Fehlgriff. Die Geistreise steht in der Tradition geistlicher Pilgerreisen, wie sie etwa die Sionpilgerin Felix Fabris – diese wohl in Anlehnung an Seuses Geistprozession (vgl. Seuses Vita in: Heinrich Seuse: Deutsche Schriften. Hrsg. v. Karl Bihlmeyer. Stuttgart 1907, 1–195, hier Kap. XIII) – exemplifiziert. Der Neubegeisterte Böhme (Anm. 30), 54. Ebd., 142. Vgl. bei Böhme insbesondere: De tribus principiis, oder Beschreibung der Drey Prinzipien Göttliches Wesens (1619). In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. 2, 191 ff., 204, 286 f., u. ö. So heißt es etwa (ebd., 316): »Jedoch wollen wirs setzen um der Lilien-Rosen willen: da denn der H. Geist im Wunder wird manche Porten er=ffnen, das man ietzt fFr unm=glich hält, und in der Welt niemand daheime ist, sondern sie sind zu Babel.«
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lgen« (Vorspann zum vierten Buch, Abschn. 10); freilich wäre hier jeweils die richtigere Reihenfolge ›belilirosen‹ zu erwarten, die aber ebenso vorkommt (z. B. V. 14537). Usw. Im folgenden XVI. Kapitel des Neubegeisterten Böhme stellt Kuhlmann in parallelem Aufbau die Entsprechungen von Rothes Weissagungen zu denen Böhmes zusammen. Es läuft darauf hinaus, dass die Bekehrung der Juden, Türken und Heiden durch einen Hirten zu erwarten ist, der die Völker in allernächster Zeit in einer Herde versammelt (s. o.). So heißt es denn später im Kühlpsalter: »Di zeit ist da der Türken, Juden, Heiden!/ Geht schnell mit ihnen ein, eh euch der Zorn ausfegt!/ Weicht von dem Missverstand/ der euch bisher bewolkt,/ […].« (V. 17618–20) Und es heißt: »Der einge Gott sei Eins in ider Nation!« (V. 16627) Es sei entsprechend nur auf die Zeichen zu achten, wie sie »Böhme geweissagt« habe (V. 17385). Böhme hatte sich dabei von einer grundsätzlichen Erwartung leiten lassen: »Alles muß wieder in das Eine, als in das Gantze, gehen, in der Vielheit ist nur ein Streit und Unruhe, aber in dem Einen ist eine ewige Ruhe, und kein Wiederwille.«42 Ein Zustand vor Babel muss demnach wieder erreicht werden.43 Mit den Weissagungen Böhmes und Rothes konvergieren auch Weissagungen einer ganzen Reihe weiterer ›Propheten‹, die Kuhlmann später zu seinen Kühlpropheten macht. Einige entnimmt er der Sammlung Lux e tenebris des Amos Comenius, andere lernt er selbst während seiner Aufenthalte in Amsterdam, London und anderswo kennen. Angesichts der Gewissheit der ausstehenden Zeit des Heils und der zunehmenden Gewissheit Kuhlmanns, jener Hirte zu sein, wird verständlich, dass er die Verhältnisse nicht aus eigener Kraft bewegen, sondern sich nur in die vorgesehene Rolle wie in eine vorgetretene Fußspur stellen musste. Dazu reichte ein letztlich recht kümmerlich gescheiterter, vergeblicher Versuch, den türkischen Sultan zu treffen und zu bekehren, und es reichte, Jerusalem nur im Geiste besucht zu haben. Denn vor Ort musste nichts konkret bewegt werden; das besorgte der von Gott in Gang gesetzte Heilsprozess schon selbst. Es reichte, eine vorbedeutsame Figur gegebenenfalls sogar auch nur unwissentlich auszuzieren, wie es einmal im Kühlpsalter über alle diejenigen heißt, die am Heilsgeschehen teilnehmen, ohne Kuhlmann als ihr Ziel zu erkennen (V. 12085). Freilich hat Kuhlmann einige wenige Jesuelitter gemacht: In Moskau wird ein von Kuhlmann überzeugter bemitleidenswerter deutscher Kaufmann zusammen mit ihm verbrannt. Die Aussage »Vil Völker wünschen mich: es warten Millione« (V. 15446) bleibt indes so sehr Wunschvorstellung wie ein noch zu gründendes Kühlmannopel (vgl. V. 16381 u. ö.). Früh sieht Kuhlmann das »Kühlmannsthum« schon als Voraussetzung des kommenden Jesusreichs (Überschrift zum 15. Kühlpsalm des ersten Buchs, aus dem Jahr 1677). Böhmes Weissagungen prägen Kuhlmanns Naherwartung, aus der heraus er seinen Kühlpsalter schreibt, und Böhme wird hier immer wieder genannt,44 da er 42 43 44
Mysterium Magnum (Anm. 23), 351 f. Vgl. zum Zerfall der Einheit in die Vielheit Hans Grunsky: Jacob Böhme. Stuttgart 1956, 277 f. Besonders eindringlich zusammengefasst ebd., 894 f. In der Einleitung zum fünften Gesang des ersten Buchs spricht Kuhlmann vom ›Böhmisieren‹ (zu Kuhlmanns ›-isieren‹-Bildungen vgl. Leonard Forster: Zu den Quellen des
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den heilsgeschichtlichen Rahmen liefert und für Kuhlmann angezeigt hat, »Ich würde dis, was er noch nicht, ersteigen« (V. 854). Die Reise nach Konstantinopel wird im Vorspann zum zweiten Buch ungeachtet des Spottes und der Verurteilung, die sie auf sich zieht, als Heilsmission aufgefasst, die »über Vernunfft fortläuffet« und einen »übernatürlichen fortgang« noch im selben Jahrhundert fände, auch wenn einstweilen ihr Erfolg nicht absehbar sei. Kuhlmann führt die Reise auf »di übernatürliche erste Hauptbewegung« seiner ja gleichermaßen ungeplanten Böhme-Lektüre zurück, durch die sie ursprünglich angestoßen wurde. Er wünscht, das apokalyptische Tier möge toben, um dem Großtürken den Glauben zu bringen und dann durch sich selbst zu Fall zu kommen. Da Kuhlmann nur Mittler einer neuen Begeisterung ist und nicht selbst der Treiber, muss er nichts tun, als ein Buch mit Weissagungen – gemeint ist des Comenius Lux e tenebris45 – zum Sultan zu bringen und auf dessen Einsicht zu warten. Was geschieht, wird als autokatalytischer Prozess aufgefasst. Gott hat den Prozess angestoßen, nun läuft er von allein weiter. Mit Böhmes sich im kosmischen Primärprozess aneinander entzündenden und sich gegenseitig infizierenden Qualitäten (s. dazu auch unten) stimmt Kuhlmanns Vorstellung des Heilsprozesses darin zusammen, dass hier Intentionen nichts zählen. Böhmes letztlich an Meister Eckhart angelehnte Konzeptualisierung des trinitarischen Prozesses als eines Prozesses, der sich immer und überall und notgedrungen ereignet,46 reinterpretiert auch diesen Prozess noch als einen der sich gegenseitig vorantreibenden, wallenden Qualitäten, die sich je nachdem, welcher Quellgeist Primus ist, d. h. die Oberhand gewonnen hat, in gegenseitigem Gebären, Ringen und Aufsteigen in eine andere Gestalt formieren.47 Was Böhme in zahllosen Selbstparaphrasen beschreibt, erscheint als ein Prozess, in den Willensentscheidungen keinen Eingang finden. Selbst Gott scheint – soweit er mit dem Primärprozess übereinkommt – noch determiniert, auch wenn Böhme solchen Determinismus dann wieder durch gegenteilige Behauptungen aufzuheben versucht.48
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Kühlpsalters. In: Euphorion 52 [1958], 256–271, hier: 258 f.), wobei Kuhlmann im Geiste Böhmes schreibt. Böhmes Name wird noch in V. 853, 3130, 3220, 3530, 6459, 8921, 17385 u. 19732 genannt. Auf die hier gesammelten Weissagungen Christoph Kotters, Christina Poniatovias und Nicolaus Drabitz’ bezieht sich Kuhlmann immer wieder. Vgl. Bock, Quirinus Kuhlmann als Dichter (Anm. 2), 52, und bes. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 144–158, der Kuhlmanns Umgang mit der Sammlung des Comenius bis hin zu ihrer Hinterlegung – für den auf einem Kriegszug befindlichen türkischen Sultan – in Konstantinopel/Stambul zusammen mit einem Begleitschreiben analysiert. »[…] der Vater geb(ret allenthalben den Sohn/ sein H. Wort« (Böhme, Morgen-R=te im Aufgangk [Anm. 29], 110). Vgl. dazu etwa Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Hrsg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1936 ff., Predigten. Erster Band, Stuttgart 1958, Predigt Nr. 6, 97–115, hier: 109 f.: Der vater gebirt sînen sun âne underlâz […]. Vgl. so etwa Morgen-R=te im Aufgangk (Anm. 29), 423. So heißt es etwa ebd., 319, zur menschlichen Willensfreiheit: »Dan ein jeder Mensch ist frey/ und ist wie ein eigener Gott […]«. Der Widerspruch wird in Böhmes Aurora nicht ausgetragen. Im Mysterium Magnum (Anm. 23), bes. Kap. 3, schaltet Böhme in den Primärprozess dann den Willen und die freie Lust ein.
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III Zusammen mit der für ihn zentralen heilsgeschichtlichen Orientierung konnte Kuhlmann einen anderen charakteristischen Zug von Böhmes Denken nicht übersehen, den ich ›spekulative Alchemie‹ nennen möchte. Ich verstehe darunter generell die Anwendung alchemistischer Vorstellungen auf neue und andere Gegenstandsbereiche als nur den der Metalltransmutation. Das geschieht in der Frühen Neuzeit auf breiter Front, so etwa bei Valentin Weigel in der Forderung nach Läuterung des inneren Menschen in Analogie zur Metallläuterung. Dass die Behandlung der Metalle und Stoffe eine Parallele zur ›Behandlung‹ Jesu durch seine Peiniger herzustellen erlaubt, hatte etwa das Buch der heiligen Dreifaltigkeit – neben vielen anderen Korrespondenzen zwischen dem Heilsgeschehen und der Alchemie – schon einmal aufgezeigt.49 Ganz explizit vergleicht auch der ›Wasserstein der Weisen‹ (zum ersten Mal 1619 gedruckt), dem Böhme einiges verdankt, Christus und seine heilsgeschichtliche Rolle mit der alchemistischen Tinktur, die unedle Metalle in edle zu verwandeln erlaubt: Dann gleich wie der Philosophen Stein/ vnd Chymische König/ mit seiner Tinctur den Nutz gibt/ auch diese Kraft und Tugend/ durch seinen vollkommenen Process an vnd in sich hat/ daß er andere vnd vnvollkommene vnd schlechte/ ja ungeachte Metallen tingiren/ vnd zu einem dichten Gold machen vnd immutiren kann. Also auch vnd noch vielmehr thut dieser himmlische K=nig/ ja Grund- vnd Eckstein/ Jesus Christus/ mit seiner gebenedeyten Tinctur, das ist/ mit seinem Rosinfarben Blut vns sFndhaffte/ gebrechliche vnd vnvollkommene Menschen/ von vnsern angeborenen Sordibus vnd Fæcibus einig vnd allein purificiren/ perficiren/ ja plusquam perfect heylen vnd curiren.50
Den Begriff der Tinktur machen sich Böhme wie Kuhlmann zueigen,51 Kuhlmann auch so, dass er die Schriften Böhmes ihrerseits als »Grostinctur« versteht (V. 3549 ff.). Der Begriff ist im 17. Jahrhundert mindestens so prominent wie der Begriff der Signatur. Kultur- und epochengeschichtlich interessanter sind aber sicherlich solche Fälle, in denen die Anwendung alchemistischer Vorstellungen nicht explizit über sprachlich ausgewiesene Vergleiche und Metaphern/Metaphorisierungen bzw. durch uneigentliche Rede und sprachliche Bildlichkeit erfolgt, sondern hintergründiger auf konzeptueller Ebene. Dies geschieht bei Jakob Böhme insbesondere im Zuge seiner Kosmogonie, die das autokatalytische Prozes49
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Uwe Junker: Das Buch der Heiligen Dreifaltigkeit in seiner zweiten, alchemistischen Fassung (Kadolzburg 1433). Köln 1986. Zum Verfasser s. Joachim Telle: Art. »Ulmannus«. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. v. Burghart Wachinger u. a. Bd. 11. Berlin/New York 2004, 1573–1580. Eine kritische Ausgabe des Buchs der Heiligen Dreifaltigkeit ist ein Desiderat. – Für Hinweise zu den folgenden Ausführungen danke ich Joachim Telle. Wasserstein der Weisen. Einschließlich aller der in der Ausgabe von 1661 enthaltenen weiteren Schriften. Vollständiger, originalgetreuer Nachdruck der 1661 bei Christoff le Blon in Frankfurt a. M. erschienenen Ausgabe. Freiburg i. Br. 1977, 87 f. Böhme, De tribus principiis (Anm. 41), Kap. 12 u. 13 (135 ff.). Vgl. außerdem die bei Günther Bonheim: Zeichendeutung und Natursprache. Ein Versuch über Jacob Böhme. Würzburg 1992, s. Reg. zu ›Tinctur‹, aufgeführten Stellen. Vgl. bei Kuhlmann etwa V. 3392, 10070 u. 12717.
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sieren von Grundeigenschaften als einen Primärprozess vorsieht, der Kräfte, Farben und Tugenden – wie Böhme gern für die wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge sagt52 – und überhaupt auch die Dinge selbst in der Welt hervorbringt. Voran geht hier u. a. Paracelsus, dem die Trias von Schwefel, Quecksilber und Salz als den Grundstoffen aller Dinge – über die Elemente hinaus – zu verdanken ist. Diese drei machen nämlich letztlich den »grund und die warhafftige Materia« aus, »darauß alle Thiere/ darauß ferner der Mensch beschaffen worden/ beschaffen sind« und damit die organische Natur: So jemandt diese meine Philosophiam lesen und recht verstehen will, der soll wissen, dz SULPHUR, MERCURIUS, SAL, das rechte und beste Richtscheidt und Wegweiser eines jeden Arztes seind/ der da grFndtlich diese Philosophiam verstehn will. […] Das Saltz gibt allen Creaturen die Form und Farb/ der Sulphur aber gibt das Corpus, das wachsen/ unnd die dewung […]. Der Mercurius aber/ wann der geboren ist/ bedarff er zu seiner auffenthaltung/ seiner teglichen nahrung/ weiter allzeit/ des Schwefels und Saltzes zu seinem auffwachsen.53
Paracelsus bzw. hier wohl einer seiner Adepten bringt die Trias zu Beginn der – zu den Pseudo-Paracelsica zu rechnenden – Pesttraktate, in denen die Ansteckungskrankheiten behandelt werden und dazu die Konstitution des Menschen aus den drei Grundstoffen beschrieben wird. Die Ansteckung wird dabei übrigens als etwas behandelt, das nicht vom einen Menschen auf den anderen übergreift, sondern immer in beiden zusammen entsteht: wie der Zorn zwischen Vater und Sohn ein gemeinsames Produkt ist; der Vater kann ihn selbst ›verdauen‹, aber auch auf den Sohn treiben.54 Diese Vorstellung wird dann auch für Böhme wichtig, wenn er das gegenseitige Hervorbringen von Eigenschaften beschreibt.55 Ich zitiere weiterhin eine Stelle aus dem Opus Paramirum des Paracelsus über die Entstehung und Heilung von Krankheiten: Das so da brinnt/ ist der Sulphur, nichts brenndt/ [dan] allein der Sulphur: Das da raucht/ ist der Mercurius/ Nichts Sublimirt sich/ allein es sey dan Mercurius: Das da in Eschen wirt/ ist Sal, Nichts wird zu Eschen/ allein es sey dan Sal.56
Man kann hier sehen, wie Paracelsus seine Trias nach dem Muster der Elemente – als Phasen oder Aggregatzuständen (Erde meint dann Festes, Wasser Flüssiges, Luft Gasförmiges) – als Eigenschaften der Materie reinterpretiert. Schwefel ist letztlich alles, was brennbar ist; was verraucht, verraucht nur, weil und insofern es Quecksilberbestandteile enthält; und was als Asche übrig bleibt, ist immer salzartig. 52 53
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So etwa im Mysterium Magnum (Anm. 23), 6, 9, 11, 37 u. ö. De Pestilitate I. In: Theophrastus Paracelsus: Bücher und Schriften. Hrsg. v. Johannes Huser. Basel 1589, Nachdruck Hildesheim, New York 1971, Bd. 3, 24–68, hier: 31. ›De Pestilitate‹ hat als ein Pseudo-Paracelsicum zu gelten. Ebd., 134. Vgl. mit einer entsprechend ganz analogen Argumentation – auch mit dem Vergleich der Beziehung zwischen Vater und Sohn – Böhme in seinem Mysterium Magnum (Anm. 23), 13 f. Opus Paramirum I. In: Bücher und Schriften (Anm. 53), Bd. 1, 74.
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Nicht nur in organischen Verbindungen, d. h. in Tieren und Menschen, findet sich die Trias, sondern sie liegt auch mineralischen Verbindungen zugrunde: Auff dz folget nun/ dz nur drey zusammen zu nemmen sind/ die ein jedlich Mineral in jhr End bringt: Nemlich der Sulphur, Sal unn Mercurius: die Drey thuns alles. Dann do muß am ersten ein Leib sein/ in dem man wercke/ das ist der Sulphur: Do muß sein die Eigenschaft/ das ist/ die Krafft/ das ist/ der Mercurius: Do muß sein die Compaction/ Congelation/ Coadunation/ das ist Sal: Jetzt ist es daß/ das es werden soll. Nun ist es nicht ein jeglicher Sulphur zum Gold ein Leib/ noch ein jeglicher Mercurius zu arth/ oder ein jeglichs Sal zur Coagulation: Sonder wie vilerley Eisenschmidt/ der zu dem/ der zu dem/ etc. Also da auch. Darumb so hatt Gott verordnet/ daß der Archeus [ein Erzeuger oder eine erzeugende Kraft, die die Dinge formt und damit scheidet] do zusammen bringt/ was zusammen geh=rt als ein Becker/ der ein Brot bacht/ zusammen nimbt/ was zusammen geh=rt: oder ein Weinmann/ der zum Weinbaw zusammen nimbt/ das zum Weinbaw geh=rt. Ein jeglichs wird in sein Ampt predestiniert/ und ein jeglichs findt/ das zu seinem Ampt geh=rt.57
Hier wird ausgeführt, dass es verschiedene Arten der drei Grundstoffe gibt, die wiederum als allgemeine Zustände von Materialität gefasst werden. Man muss nur die richtigen treffen oder herstellen, um über ihre Verbindung zu den erwünschten Mineralien und Metallen zu gelangen. Mit der letztlich aus der Alchemie stammenden Trias von Salz, Schwefel und Quecksilber sowie ein paar weiteren paracelsischen Leitgedanken konnte Böhme leicht weiter philosophieren. Ich möchte indes noch zwei weitere aus der Alchemie stammende Leitvorstellungen herbeiziehen. Ich stütze mich dazu auf das Donum Dei, einen der Vorläufer der in der Frühen Neuzeit überbordenden allegorisch-metaphorisch verfahrenden und auf aufwendige Illustrationen ausgerichteten ›literarischen‹ Alchemie. Der Text dürfte Anfang des 15. Jahrhunderts oder schon vorher in Italien entstanden sein58 und hat einige Wirkung entfaltet, dabei über verschiedene deutsche Übersetzungen auch auf deutsche alchemistische Bildgedichte eingewirkt.59 Kern des Donum Dei sind offenbar zwölf Illustra57 58
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De Mineralibus I. In: Ebd., Bd. 8, 348 f. Dafür spricht u. a. eine pseudepigraphisch motivierte Zuschreibung an Elias von Assisi, der in der mittelalterlichen Alchemie als Autor verschiedener alchemistischer Texte auftaucht. Frühe handschriftliche Überlieferung oder Teilüberlieferung verzeichnen Lynn Thorndike/ Pearl Kibre: A Catalogue of Mediaeval Scientific Writings in Latin. London 1963, 810 (zum Incipit Lapis noster benedictus de animata re est …). Verweise auf italienische Handschriften sowie einen Abdruck einer italienischen Übersetzung bei Giovanni Carbonelli: Sulle fonti storiche della chimica e dell’alchimia in Italia. Tratte dallo spoglio dei manoscritti delle biblioteche con speziale riguardo ai codici 74 di Pavia e 1166 Laurenziano. Rom 1925, 71–83. Als (öfter korrupten) lateinischen Druck vgl. Artefii Arabis philosophi Liber secretus, nec non Saturni Trismegisti, siue Fratris Heliæ de Assisio libellus. Frankfurt a. M. 1685, 60–101. Eine leicht erreichbare deutsche Übersetzung findet sich in: Eröffnete Geheimnisse des Steins der Weisen oder Schatzkammer der Alchymie. Um eine Einleitung vermehrter Nachdruck der Ausgabe Hamburg 1718. Hrsg. v. Karl R. H. Frick. Graz 1976, 787–816 (gegenüber dem italienischen und lateinischen Text stark veränderter Text). Zu deutschen Handschriften vgl. die Hinweise bei Herwig Buntz: Deutsche alchemistische Traktate des 15. und 16. Jahrhunderts. Diss. München 1968, 36, Anm. 4. Zur Tradition deutscher Bildgedichte s. Joachim Telle: Sol und Luna. Literatur- und alchemiegeschichtliche Studien zu einem altdeutschen Bildgedicht. Mit Text- und Bildanhang. Hürtgenwald 1980 (zum Donum Dei s. Reg. u. bes. 100 f.); ders.: Der Sermo philosophicus. Eine deutsche Lehr-
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tionen mit erläuternden Beischriften, von denen einige Spruchbänder haben, auf denen die im Bild dargestellten Figuren sprechen.60 Dass Stoffe bzw. übergängliche stoffliche Zustände der behandelten Ausgangssubstanz als Figuren in versifizierten Texten auftreten und selbst sprechen, geht auf die griechische Alchemie zurück, wo alchemistische Rollengedichte zuerst begegnen.61 Das erste Bild des Donum Dei zeigt einen König und eine Königin; der König sagt: ›Komm, meine Geliebte, wir wollen uns umarmen, um einen neuen Sohn zu zeugen, der seinen Eltern ganz unähnlich sein wird‹, worauf die Königin antwortet: ›Hier komme ich zu dir und bin bereit, einen solchen Sohn zu empfangen, der in der Welt zwischen zwei Bergen geboren werden wird‹. In den beiden letzten Illustrationen stellen sich dann das Elixir ad album sowie das Elixir ad rubeum in Ich-Rede vor. Dazwischen wird ein fiktiver Prozess mit einer Destillation im geschlossenen Gefäß dargestellt, bei dem ›unser Stein‹ durch schwaches Feuer zum Aufsteigen gebracht wird und mehrere Veränderungszustände im Sinne der als Phasen aufgefassten Elemente (fest, flüssig, gasförmig) durchläuft. Im Kern ist daran gedacht, die Ausgangssubstanz in die Grundbestandteile Quecksilber und Schwefel zurückzuführen62 und neu zu konzipieren, u. a. durch feinste Pulverisierung. Die Veränderungen werden in einer Sprache von ausgeprägter Bildlichkeit beschrieben, wobei insbesondere den Farberscheinungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Eine kosmologisch verbrämte und verrätselte Diktion, wie die Tabula smaragdina oder der Tractatus aureus des Hermes sie verwenden, wird öfter herangezogen; beide Texte werden auch zitiert.63 Auf den sich selbst verspeisenden Uroboros-Drachen wird angespielt, und vom Rabenhaupt ist die Rede, das den Zustand vollkommener Schwärze bei der sogenannten Putrefactio
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dichtung des 16. Jahrhunderts über den Mercurius philosophorum. In: Rosarium litterarum. Beiträge zur Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Peter Dilg zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Christoph Friedrich u. Sabine Bernschneider-Reif. Frankfurt a. M. 2003, 285–309. Den neuesten Stand der Forschung präsentiert zusammenfassend Joachim Telle: Art. »Donum Dei«. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon (Anm. 49), Bd. 12, 376–379; ders.: Art. »Donum Dei«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, hier: Bd. 3 (2009), 85a/b. Abbildungen in: Emil E. Ploss u. a., Alchimia. Ideologie und Technologie. München 1970, 155–158, sowie bei Jacques van Lennep: Alchimie. Contribution à l’histoire de l’art alchimique. Brüssel 1984, vgl. Reg. zu ›Donum Dei‹ sowie bes. 87–89 (es fehlt hier Abb. VIII). Hier und in den meisten Handschriften gibt es zwölf Illustrationen; bei Carbonelli, Sulle fonti (Anm. 58) sind es allerdings 14! Vgl. Günther Goldschmidt: Heliodori Carmina quattuor ad fidem codicis Casselani (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 19,2). Giessen 1923, hier besonders die Versdichtung des Heliodor. Vgl. im lateinischen Text S. 87 und im italienischen (Carbonelli [Anm. 58]) S. 77 zu Illustration Nr. VIII. So die Tabula, wenn (im lateinischen Text auf S. 74) gesagt wird, der Stein werde im Bauch des Windes getragen (was das Aufsteigen des Destillats meint), und der Tractatus, wenn es (79) heißt: »Ich bin der Weiße des Schwarzen und der Rote des Weißen und der Gelbe des Roten […]«, was die – freilich so im Donum Dei nicht übernommene – Farbenfolge in Anbetracht der identisch bleibenden Grundsubstanz meint. Die Farben gelten als Anzeiger der chemischen Reaktion.
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bezeichnet. Danach erst können die Weiße und Röte der zwei gesuchten Elixiere oder Tinkturen hervorgehen, die als weiße und rote Rose bezeichnet werden. Dabei sind aber die Veränderungszustände schon in der Ausgangssubstanz enthalten und werden je nur hervor getrieben. Vorausgesetzt ist die Vorstellung, dass die Metalle als übergängliche Stadien/Bereiche eines Kontinuums (wie etwa beim Farbspektrum) ineinander enthalten sind und in einem Läuterungsprozess auseinander hervorgehen bzw. durch Einfärbung hervorgeholt werden können.64 Das Donum Dei beschreibt also den alchemistischen Prozess zur Herstellung der zwei Tinkturen, wie sie zur Erzeugung von Silber und Gold aus den unedlen Metallen zu verwenden sind. Dieser Prozess ist ein erfundenes, fiktives Konstrukt und deshalb – gemessen mit dem Maßstab experimenteller Nachprüfbarkeit – natürlich nicht reproduzierbar. Die Beobachtung verschiedener chemischer Reaktionen führt diese in e i n e m Verfahren zusammen bzw. schreibt sie dem e i n e n ablaufenden Prozess zu. In den verschiedenen Fassungen des Donum Dei werden Zitate und Abschnitte aus weiteren alchemistischen Texten ungekennzeichnet und gekennzeichnet exzerpiert – in der verbreiteten Form der alchemistischen Trümmerliteratur bzw. der Zitat-Florilegien –, die einen insgesamt unfesten Text zur Folge haben.65 Zum Kernbestand dürfte die Tradierung einer Reihe von Dikta und Konzepten der griechischen Alchemie gehören. Hier interessiert die Konzentration auf das eine Verfahren mit nur einem Ausgangsstoff (›unserem Stein‹) in einem Gefäß.66 Die dabei zum Zuge kommende hermetisch-theologisch begründete Einheitsvorstellung hat eine erhebliche Wirkkraft entfaltet.67 Das Verfahren aber hat die Herbeiführung dreier Farbstufen im Sinne der zugehörigen stofflichen Veränderungen zum Ziel: als Schwärzung, Weiß- und Rotfärbung. Die nacheinander eintretenden
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Vgl. diese Vorstellung dann etwa auch bei Böhme, z. B. im Mysterium Magnum (Anm. 23), Kap. 5. Sie taugen deshalb auch nicht zu einer Datierung, wie sie Carbonelli: Sulle fonti (Anm. 58), 71, anhand von Zitaten aus Texten Arnalds von Villanova und des (Ps.-)Thomas von Aquin vornehmen will. Betont wird dies in der griechischen Alchemie z. B. in einem an die Turba philosophorum erinnernden kurzen Textstück aus dem griechischen Codex Parisinus 2327 (Bl. 233rf.), der abgedruckt ist in der Collection des anciens alchimistes grecs. Hrsg. v. Marcellin Berthelot. Paris 1888, Nachdruck London 1963, Bd. 3, 35 f. Hier ist etwa von einem Gefäß, einem Weg und einem Verfahren die Rede (μία καμινός ἐστὶν, καὶ μία ὁδὸς, καὶ ἓν ἔργον). So dann auch in der Turba Philosophorum selbst. Vgl. Julius Ruska: Turba Philosophorum. Ein Beitrag zur Geschichte der Alchemie. Berlin 1931, 156, Z. 5. Nachweise zur Verbreitung der Formel una res, unum vas, una via in der mittelalterlichen Alchemie vgl. bei Dietlinde Goltz/Joachim Telle/Hans J. Vermeer: Der alchemistische Traktat ›Von der Multiplikation‹ von Ps.-Thomas von Aquin. Wiesbaden 1977, 64–66. Nicht nur als Formel taucht sie durch die gesamte Alchemie hindurch immer wieder auf. Die italienische Übersetzung des ›Donum Dei‹ etwa betont sie: Una sola è la pietra, una sola medicina, un sol vaso, un solo fornello un solo andamento, una sola dispositione alla quale nè aggiungiamo, nè leviamo cosa alcuna, se non che nella preparazione teniamo le cose superflue. (Carbonelli, Sulle fonti [Anm. 58], 73)
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Färbungen kommen – wie schon die Reduktion auf nur ein Verfahren – bereits in der griechischen Alchemie vor (als Melanosis, Leukosis und Xanthosis68). Greift das Donum Dei auf die antike Alchemie zurück, so bleiben die hervorgehobenen Momente des ›einen Verfahrens‹ wie auch der Farbenfolge konstante Bestandteile der alchemistischen Überlieferung und werden bis weit in die Frühe Neuzeit von vielen alchemistischen Texten tradiert. So druckt Johann Joachim Becher in seinem 1682 erschienenen Chymischen Glückshafen einen anonymen Traktat ab, der einen Prozess knapp zusammenfasst, wie ihn auch das Donum Dei vorsieht – nur dass die Quecksilber-Schwefel-Theorie hier ausgetauscht worden ist: Dieser Lapis [der Stein der Philosophen bzw. ›unseren Stein‹], nachdem daß das vas zerbrochen/ wird kleingestossen/ und in ein irden Geschirr gethan/ und lutirt/ und nach acht Tagen mit einer Fbersteigenden W(rme calciniert/ biß daß er sich erzeigt/ als Purpur, oder gar rothe Farb/ alsdann wird sich eine Schw(rtze auf dem Grunde des Geschirrs abscheiden/ welche man hinwerffen soll/ und in der Zeit der Kochung offenbaren sich nicht wenige Farben/ als auch in plantis, welcher doch die Artisten nicht weniger als drey notiren: Schwartz/ weiß/ und roth; doch wann es zur weissen kombt/ wird es semen artificum genannt/ das da Krafft hat zu mutiren ein jedes Argentum vivum in Argentum purum. Aber lieber wird es vollend zur R=the perficirt/ so ists semen aurificum. In diesem Werck bedarff man keinerley/ vielerley Oefen noch Geschirr/ noch aquis, oleis diversis, sondern es begnFget sich eines Ofens/ so darzu geschickt ist/ und allein des Goldes und unsers Argenti vivi, je mit einer Unzen Gold zum h=chsten het man genug/ und darff hernach kein Gold mehr darzu thun/ und man darff sich auch keiner sonderlichen Sorg bef=rchten/ dann wenn es einmal eingeschlossen ist/ wird es nicht movirt/ bis zur vollkommenen Kochung. Man darf auch nicht der t(glichen Arbeit/ sondern allein das Feuer zu foviren/ und zum wenigsten wird man in seinem Beruff oder Ambt verhindert/ sondern es weiß das gemeine Volk nichts darumb/ daß man solche Wunder-Secreta tractiret. Also erh(lt einer seine Existimation, und Reputation bey jederm(nniglich/ und wird ihme nichts entzogen.69
Auch hiernach läuft der Prozess in einem einzigen mit Leim verschlossenen Gefäß derart ab, dass die Eigenschaften der Ausgangssubstanz sich bis zu einem perfekten Endzustand verändern, angezeigt durch Farbwechsel. Es ist ein Prozess mit diesen Rahmenbedingungen, den man leicht als eine alchemistische Paraphrase des Heilsprozesses auffassen kann und umgekehrt. Mithilfe der dahinter stehenden Modellvorstellung ließen sich Alchemie und christliche Theologie überblenden. Anhand dieser Modellvorstellung möchte ich eine späte Fassung des kosmogonischen Primärprozesses bei Jakob Böhme analysieren, wie er von Böhme vorher schon vielfach variiert worden ist, wobei er immer wieder die für ihn charakteristischen Konturen erkennen lässt. Mit dem Prozess des Donum Dei ist Böhmes Primärprozess von seiner Anlage her nicht vergleichbar, allerdings bildet er seinerseits auch e i n e n und n u r einen Prozess. Anlässlich der Auslegung der Genesis-Stelle vom Schwefel- und Feuerregen (1Mo 19,24) rekapituliert Böh68 69
So etwa bei Zosimos (Zosime de Panopolis: Mémoires authentiques. Hrsg. und übers. v. Michèle Mertens [Les alchimistes grecs IV]. Paris 1995, 32 u. ö.). Johann Joachim Becher: Chymischer Glückshafen oder große chymische Concordanz und Collection von fünffzehenhundertt chymischen Processen. Frankfurt a. M. 1682, ND Hildesheim/New York 1974, 23.
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me im Mysterium Magnum, dass sich der Mercurius im Salniter, »als im FeuerSchrack anzFndet, da sich denn der Schrack in eine Substanz oder Wesen fasset, welches Schwefel ist«: Denn die drey, als Sulphur, Mercurius und die Saltz-Sch(rfe, sind im Urstande, als sie noch ein Geist sind, nur ein Ding: Wenn sich aber Mercurius, als der Schall des geformten Wortes im Principio, als in seinem ersten Urstande, durch einen Gegenblick beweget, so erschrickt er in sich, das ist, die Bewegung rFget den Urstand der Hitze und K(lte, als den Urstand des ersten Principii nach dem kalten und hitzigen Feuer, welches der Anfang der Wiederw(rtigkeit und des Erschreckens ist, davon der Feuer-Blick [bzw. Feuer-Blitz] oder salnitrische Schrack entstehet, da sich die drey ersten, als Hitze, K(lte und der Schrack, ein iedes in ein eigen Wesen im Schrack impressen und einfFhren: Als die Hitze in Schwefel, und die K(lte in saltzische Art, und der Mercurius in w(sserische Art; und da sie doch nicht gantz geschieden werden, und ein iedes des andern Wesen hat, aber nach Einer Eigenschaft fix wird.70
Charakteristisch ist, dass Böhme die im Prozess erzeugten Eigenschaften durcheinander gehen lässt, Temperatur, Empfindungen und Stoffe wirken ineinander und gehen auseinander hervor. Wobei auch hier Schwefel, Salz und Quecksilber eher als Phasen: als heißer Dampf, feste Kristallisation sowie als Flüssiges verstanden werden. Die Stoffe werden also gar nicht nur als Stoffe gefasst. Der Mercurius wird denn auch bei Böhme durchgehend als Schall (oder Ton oder Laut) konzipiert.71 Manches von dieser ›Logik‹ kann man nur erraten; Mercurius und Salniter (Salitter) erscheinen wie Medien, die einander durchdringen. Der Mercurius erschreckt sich in sich infolge eines inneren Gegensatzes, der sich alsbald als Aufeinandertreffen von Hitze und Kälte darstellt, ein Blitz geht hervor und der Schreck (doch wohl des Donners) bricht sich im Salniter, aus dem heraus sich dann einerseits heißer Schwefelniederschlag und kaltes Salzkondensat materialisieren, während der Mercurius sich vielmehr als Flüssigkeit darstellt; alles miteinander wird endlich fest in den verschiedenen Arten der Dinge. Böhmes ursprünglicher Gedanke in der Aurora war, dass sich eine herbe Kraft im Salitter zusammenzieht und so weitere Eigenschaften mit erzeugt: Siehe/ in diesem ist sonderlich auff siebenerley qualit(ten oder umbst(nde zu mercken: erstlich ist in der G=ttlichen Krafft im verborgen die herbe qualit(t/ das ist eine qualit(t des kernes oder verborgenen wesens/ ein sch(rffe/ zusammenziehung oder durchdringung/ in dem Salitter gantz scharf und herbe/ die geb(hret die h(rtigkeit und auch die k(lte/ und so sie entzFndet wird/ geb(hret sie die sch(rffe/ gleich dem saltze.72
Hierin quellen nun weitere Qualitäten hervor. Böhme überblendet dieses analog zur Pflanzenreifung zunächst ganz konkret gedachte Quellen mit dem trinitarischen Prozess der Geburt des Sohnes und heiligen Geistes –, als sechste Qualität wird der Schall geboren, der Mercurius. Da Gott nach Joh 1,1 die Welt 70 71
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Mysterium Magnum (Anm. 23), 457. Warum, kann man nur raten. Da Böhme oft ganz konkrete Ausgangspunkte sucht, könnte man vermuten, dass er beim Schall oder Klang an klingende, hohle Metallkörper denkt und deshalb auf Mercurius/Quecksilber als Grundstoff der Metalle zurückschließt. Böhme, Morgen-R=te im Aufgangk (Anm. 29), 119 f.
Heilsbedeutung und spekulative Alchemie
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ganz konkret aus dem Wort bzw. sprechend geschaffen hat, formiert der Schall letztlich die materielle Welt mit. Die Heilsgeschichte erscheint aus dieser Perspektive als Prozess in einem Destillationskolben mit Gott als Artisten, der seinerseits die Befeuerung bewirkt. Der trinitarische Prozess wird nach Analogie des alchemistischen Prozesses reinterpretiert. Wenn Böhme sagt, »Du darffst mich […] für keinen Alchymisten halten/ dan ich schreibe allein in Erk(ntnFß des Geistes/ und nicht durch erfahrenheit«,73 dann trifft das in genau dem Sinne zu, als er Denkformen der Alchemie nicht auf die Goldproduktion, sondern auf das Heilsgeschehen anwendet. Kuhlmann dünnt diese Neukonzeptualisierung dann noch einmal aus, aber auch bei ihm wird Heilsgeschichte als autonomer Prozess verstanden, in dem Gott sich in den Menschen selbst erfährt. Wie im Destillationskolben zeigt der Prozessverlauf sich in Zeichen und Figuren, um sich in einem finalen Zustand einzufinden.74 Dieser erst erlaubt, die Zeichen zu verstehen, in denen er sich vorbildet; er macht gewissermaßen ernst mit ihnen (vgl. »Der ausgang wird di zeichen ernst erklähren«, V. 10949). Ganz entsprechend gestaltet sich das Verhältnis von Figur und Wesen, denn im Wesen erfüllt sich die Figur;75 biblisch inspirierte Präfigurationstheorie und alchemistische Zeichenschau decken sich hierbei. Was aber durch Babel vervielfältigt und verwirrt worden ist, wird am Ende in der Einheit der jesuelitischen Monarchie zusammengeführt. Kuhlmann wandelt die Farben der alchemistischen Prozedur – SchwarzWeiß-Rot – ab, wenn er an die Stelle von Weiß-Rot s e i n Weiß-Blau setzt: In den Offenbarungen Christoph Kotters war er auf die Heilsbedeutung dieser Farbkombination gestoßen, die sich mit den Farben der Fahne seiner Geburtsstadt Breslau assoziieren ließ. Ein bei Kotter öfter genannter, zur Hälfte weißer und blauer Löwe ließ sich mit dem böhmischen und Breslauer Wappenlöwen identifizieren und von Kuhlmann auf sich selbst beziehen.76 Die Farbkombination steht schließlich für Kuhlmann und seine Sendung. Das ›kühlprophetische Weißblau‹ stellt ab dem sechsten Buch des Kühlpsalters in Analogie zum alchemistischen Weiß-Rot die Heilsfarbe dar:77 45. 3. Di Asche ward im goldfas zur Tinctur! Dem goldfas eins zur aller Völker Cur! Das erst und letzt ist seines Mittels schlus, Das mittel ist des erst- und letztens fus. Der Goldgeruch stig A.U.S. der aschen grau Weisblauerer, als i das weisse blau, 73 74
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Ebd., 420. Auf die Parallele zwischen Heils-, kosmogonischem und alchemistischem Prozess weist auch Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 3. Barock-Mystik. Tübingen 1988, 292, hin. Zu Kuhlmanns Präfigurationstheorie vgl. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 174–177 u. 206 f. Vgl. Bock, Quirinus Kuhlmann als Dichter (Anm. 2), 54 f. Auf den weißen Löwen als Wappentier Böhmens und das Wappen Breslaus wird bereits angespielt in den Überschriften zum fünften und achten Gesang des ersten Buchs. Es erscheint aber schon im vierten Psalm des dritten Buchs als »Kühlweisblau« (V. 3487).
164 Nichts BLAUERERS ward vor auf Erd gesehn: Nichts BLAUERERS ist nach auf Erd geschehn! Ost, Nord, West, Sud ward voll vom Goldgeruch, weil Ewigkeit beewiget ihr Buch.
Harald Haferland
(V. 12717–12726)78
Kuhlmann macht sich und seine Sendung hier, im Jahr 1682 in Genf kurz nach Entstehung seiner kleinen Schrift De Monarchia Jesuelitica79, nach einer Art Durchbruchserfahrung selbst zur Tinktur, mit der die noch nicht für die Kühlmonarchie Gewonnenen gleich den unedlen Metallen kuriert werden sollen. Die Herstellung einer Tinktur zum heilsgemäßen Kurieren der Völker bewegt sich noch auf einer erkennbar metaphorischen Ebene. ›BLAUERERS‹ ist als Buchstabenwechsel oder Anagramm von ›Breslauer‹ zu erkennen und durch ›Kuhlmann‹ – als Erfüller aller biblischen Weissagungen – aufzulösen.80 Die Vorstellung aber, dass es überhaupt Farben und Farbintensitäten sind, die einen heilsmäßigen Endzustand charakterisieren, liegt auf einer grundsätzlicheren Ebene. Hier wirkt auch Böhmes spekulative Alchemie bei Kuhlmann nach und sorgt dafür, dass Weiß-Blau – statt Weiß-Rot – als zeichenhafte Farbe des Heils gelten kann. Mit ihr aber zeichnet die Kühlzeit sich ab.
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Zum umfangreichen fünften Kühlpsalm des sechsten Buchs vgl. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 205 f. Vgl. ebd., 209 ff. Vgl. Bock, Quirinus Kuhlmann als Dichter (Anm. 2), 55 mit dem Zitat der zugehörigen Erläuterungen aus dem dritten Lutetierschreiben Kuhlmanns; vgl. auch Werner Vordtriede: Quirinus Kuhlmanns Kühlpsalter. In: Antaios 7 (1966), 501–527, hier: 515 f.
Joachim Telle
Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit
… da spukt allerlei aus drei oder vier Jahrhunderten […], da zuckt Paracelsus auf und Jakob Böhme. Hugo von Hofmannsthal (19271)
Eingedenk der hier in diesen Tagen gestellten Aufgabe, Resultate der neuzeitlichen Böhme-Forschung zu bilanzieren und – vielleicht durchaus dringlicher – sich textlicher Grundlagen und Bereiche der frühneuzeitlichen Böhme-Rezeption zu versichern, mag es sinnvoll sein, sich nun nicht in die vielfältig beschaffenen Lager der protestantischen Orthodoxie zu begeben und hier etwa einen Abraham Kalau (1612/1686) oder Ehregott Daniel Colberg (1659/1698) zu konsultieren, um auf von theologisch-religiösen Kontroversengewittern heimgesuchtem Terrain den Schicksalen Böhmes nachzuspüren. Betreten sei vielmehr ein weitgehend unerkundeter und unzulänglich kartographierter Nebenschauplatz des frühneuzeitlichen Böhmismus, auf dem praktizierende Alchemiker agierten, – nicht zu verwechseln mit Autoren, die geläufige alchemische Fachtermini, ›lapis‹, ›essentia‹, ›tinctur‹, ihrer fachlichen Kontexte beraubten, solche oft zum sprachlichen Gemeingut der Gebildeten zählenden Termini in neue Umwelten versetzten, dabei freilich entalchemisierten und in Diensten etwa spiritualistischer Lehren metaphorisch nutzten. Unsere frühneuzeitlichen dramatis personae sind also weder auf Kanzeln noch in Dichterstuben zu treffen, sondern in ofenbestückten Arbeitsstätten, wo unüberschaubar viele ›Feuerkünstler‹ nicht nur in handschriftlichen oder gedruckten Alchemica blätterten, sondern ihre ›Hände in die Kohlen steckten‹, bestimmte Konzepte der Alchemia medica (Chemiatrie), der Alchemia transmutatoria metallorum oder Alchemia technica in laborantischer Praxis zu verwirklichen suchten, dabei aber eine spezifisch böhmistische Theoalchemie formierten. Die Reihe von Autoren, bei denen sich naturkundliche Darlegungen mit theologischen überkreuzten, so ergeben bereits flüchtigste Blicke im frühneuzeitlichen Alchemicagetürm, besitzt quantitativ einschüchternde Ausmaße. Situiert in einem zwischen heutigen Disziplinen befindlichen Niemandsland, in der Regel gemieden von denen, die es anginge, Literatur-, Theologie-, Philosophie-, Medizin- und Pharmaziehistorikern, geraten theoalchemische Konzepte trotz ihrer einst wohl nicht unerheblichen Virulenzen nur selten in historiographische Visiere. 1
Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927), zit. n. dem Abdruck in: Hugo von Hofmannsthal: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte. Hrsg. v. Mathias Mayer. Stuttgart 2000, 226–245, hier: 240.
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Joachim Telle
Trotzdem kann angesichts der Notwendigkeit, Eigenarten der intrikaten Theosophie Böhmes einlässlicher noch als bislang zu kontextualisieren, eingedenk aber auch der Aufgabe, böhmistische Rezeptionsverläufe möglichst schärfer noch zu konturieren, die Seltenheit historisch-kritischer Erkundungszüge hinein in theoalchemische Schriftenmassive erstaunen. Staunen macht allein schon die Tatsache, dass sich offenbar kaum jemand vom oft gedruckten Wasserstein der Weisen (1619), immerhin der wohl einzigen von Böhme ausdrücklich genannten und zur Lektüre empfohlenen Schrift seiner Zeit,2 alarmieren ließ, obwohl es hier, in biedere Verse gefasst, geradezu programmatisch heißt:3 Die warhafftige Alchimey/ Vnd die rechte Theosophey/ Seynd/ beyde/ also nahe verwand/ Als dem Leib ist die rechte Hand;
Vielleicht noch verwunderter reibt man sich ob nur weniger Erkundungszüge in theoalchemischen Schriftbezirken die Augen, wenn man auf barocke Alchemica mit Titeln wie Auriga chemicus sive theosophiae palmarium4 oder Theologia chymica5 stößt. Und unsere Verwunderung will auch dann nicht weichen, schaut man sich auf den Druckmarkt der Aufklärungszeit um: Sofort fallen mit dem Pseudonym »Theosophia Sternbucta« (1779)6 oder dem Titel Theosophia physico-chymica (1791)7 erschienene Publikationen auf, die bereits auf ihren Titelblät2
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Jakob Böhme: Epistolae Theosophicae, oder Theosophische Send-Briefe. In: Theosophia revelata. Oder: Alle Göttliche Schriften Jacob Böhmens. o. O. 1730 (zit. n. Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. 9 [1956]), Brief Nr. 28 (6. Juli 1622, gerichtet an Christian Steinberg), 100–104, hier: 104, Abschn. 14: »Der Herr lese den Wasser-Stein der Weisen, darinnen ist viel Wahrheit, und dazu klar, welches [Werk] im Drucke ist«. Anonymus: Wasserstein der Weysen. Oder Chymisches Tractätlein/ darinn der Weg gezeyget/ die Materia genennet/ vnd der Process beschrieben wird/ zu dem hohen Geheymnüs der Universal-Tinctur zu kommen. Frankfurt a. M. 1661 (erstmals Frankfurt a. M. 1619), 125. – Zu dieser theoalchemischen Schrift vgl. Joachim Telle in Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011 (im Weiteren zit. als Killy Literaturlexikon), hier Bd. 12 (2011), 156 f. Anonymus: Auriga Chemicus, sive Theosophiae Palmarium. In: Theatrum chemicum. Bd. 3. (Erneute Ausgabe) Straßburg 1659, 834–849. – Erstdruck: Tractatulus chemicus, theosophiae palmarium dictus. Hrsg. v. Nicolas Barnaud. Leiden 1601. Anonymus: Crollius redivivus. Das ist/ Hermetischer Wunderbaum/ Warinn zu sehen/ wie die wunderbahre Werck Gottes von Liebhabern wahrer Chymischer Artzney/ recht zu verstehen/ vnd zu erkennen. Hrsg. v. Anonymus von Feldtaw (Abraham von Franckenberg). Frankfurt a. M. 1635, Buch I-VI: eine »Theologia Chymica« voller »Christlicher Parabolen vnd Ermahnungen«. Theosophia Sternbucta (Ps.): Antwort auf das philosophische Sendschreiben vom […] Steine der Weisen. Berlin 1779. – Geantwortet wird auf John Pordage: Sendschreiben vom […] Steine der Weißheit (erneuter Abdruck Berlin 1779). Anonymus (Gerhard Friederich): Theosophia physico-chymica, das ist, Gottesgelahrheit durch natürliche und chymische Werke erkläret und bewiesen. O. O. 1791: Mit kritischem Hinweis auf Böhme-Rezeptionen unter Freimaurern; im Banne der »hieroglyphischen Waid-
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tern theoalchemische Konzepte zu verstehen gaben, – eben zu einer Zeit, als im aufklärerischen Lager, ernstlich besorgt um den Erhalt der »gesunden Vernunft« und den »Fortgang in der Erkentniß der Wahrheit«, »überall in den Schriften der Goldsucher« eine »besondere Verwandtschaft des chymischen Unsinns mit dem theosophischen und moralischen« diagnostiziert worden ist,8 ja eine Art Theosophierung der »höheren Chemie« manchen Aufklärer schreckte: Seit zweihundert Jahren, so hieß es 1790 unter Aufklärern, habe die Alchemie an die Theosophie gegrenzt, jetzt aber habe die Theosophie die Chemie »ganz und gar verdrängt«, »Alchemie und Theosophie«, so entsetzte man sich in aufklärerischen Kreisen, seien nun »in dieser lezten betrübten Zeit beinahe gleichbedeutende Namen. Wer sonst Alchemist im eigentlichen Sinn des Worts war […], ist iezt Theosoph und Vertheidiger des neuen valentinisch mystisch rosenkreuzerischen Systems«.9 Offenbar spielten Allianzen zwischen Theosophie und Alchemie in der frühneuzeitlichen Kulturgeschichte Deutschlands im Rahmen des Hermetismus eine größere Rolle, als man gemeinhin anzunehmen gewillt ist. Im Übrigen bildeten Einzüge theologischer Autoritäten in das alchemische Sachschrifttum schon zur Zeit Böhmes kein Novum. Die Zahl alchemischer Interpretamente bestimmter biblischer Zeugnisse, vorzüglich der Genesis, des Hohe Lieds oder Jesus Christus gewidmeter Berichte, ist beträchtlich. Da forderte eben zu dieser Zeit der Paracelsist Oswaldus Crollius (um 1560/1608) in seiner wirkmächtigen Basilica chymica (1609) eine zunächst von orthodoxen Theologen, später noch von Rationalisten als skandalös empfundene Rollensynthese, dass nämlich »jeder rechtschaffene Theologus auch ein Philosophus [Arztalchemiker], vnd […] ein jeder […] wahre Philosophus auch ein Theologus« sein müsse, sei doch ›wahre Weisheit‹ nur vom Verbund einer aus dem ›Licht der Gnade‹ geborenen »Theologia« mit einer aus dem ›Licht der Natur‹ geborenen »Philosophia« zu erwarten.10 Auch das erratische Werk des Theoalchemikers Heinrich Khunrath (1560/1605)11 lässt an der Virulenz physikotheologischer Entwürfe aus Alchemikerfedern zur Zeit Böhmes keine Zweifel. Diese um 1600 durchaus im Aufschwung befindlichen Formationsprozesse alchemotheologischer Konstrukte flankierten manche Legenden: Martin Luther (1483/1546) etwa hatte das handwerkliche Wissen der Alchemiker, ihre metallurgischen und destillationstechnischen Fertigkeiten gerühmt und in Destillati-
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sprüche« Böhmes, so zeige ihr »Hirtenbrief«, könnten gewisse Freimaurer nichts Verständliches mehr schreiben (40). Johann Albert Heinrich Reimarus: Ueber die Schwärmerey unserer Zeiten. In: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur. Hrsg. v. Georg Christoph Lichtenberg u. Georg Forster. Jg. 3/2 (1782), 237–255, hier: 243. Anonymus: Taschenbuch für Alchemisten, Theosophen und Weisensteinforscher, die es sind und werden wollen. Leipzig 1790, 29. – Angespielt wird auf die Präsenz alchemischer Lehren des Basilius Valentinus (16. Jh.) und die unter ›Gold- und Rosenkreuzern‹ des 18. Jahrhunderts aktuelle Naturmystik. Oswaldus Crollius: Basilica chymica oder Alchymistisch Königlich Kleynod. Frankfurt a. M. 1623 (deutsche Erstübersetzung; lat. Editio princeps: Frankfurt a. M. 1609), Vorrede, 71 f. – Zu Crollius zusammenfassend Killy Literaturlexikon, Bd. 2 (2008), 504–506, s. v. (J. Telle). Dazu resümierend Killy Literaturlexikon, Bd. 6 (2009), 398–400, s. v. (J. Telle).
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onsvorgängen religiös bedeutsame Allegorien endzeitlicher Geschehnisse, des Letzten Gerichts und der Auferstehung erblickt.12 Eben diese Äußerungen sollten protestantischen Alchemoparacelsisten vom Schlage des Nordhäuser Organisten Johann Schauberdt (gestorben nach 1602) genügen, Luther wider Alchemieverächter in apologetische Dienste zu nehmen,13 bald dann gefolgt von Joachim Tancke (1557/1609): Diesem Leipziger Universitätsmediziner reichte Luthers Bemerkung, dank ›verborgener [»heymlicher«] Wirkkräfte der Natur‹ ließen sich nach Art metallwandelnder Alchemiker »wunderding« vollbringen, um Luther in den Rang eines bedeutenden »Physicus« zu erheben, habe doch dieser »hocherleuchtete Mann« und »bewundernswerte Theologe« nach Alchemikerart weitaus »tieffer« als die aristotelistischen Schulgelehrten »in die Natur gesehen«.14 Da konnte man im alchemischen Sachschrifttum bald auch unversehens auf den protestantischen Pfarrer Valentin Weigel (1533/1588) treffen, der sich in seiner Naturphilosophie gelegentlich auf Paracelsica gestützt hatte, zeitgenössischen Alchemien indes ferne blieb. Ein kleines pseudoweigelianisches Alchemica-Korpus15 erinnert aber daran, dass dieser Spiritualist eben zu der Zeit, als ihn orthodoxe Lutheraner oft in einem Federzug mit Paracelsus als ›Fanatiker‹ brandmarkten,16 von Alchemikern annektiert worden ist, ja ein alchemisierter
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Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden. Bd. 1: Tischreden aus der ersten Hälfte der dreißiger Jahre. Weimar 1912, Nr. 1149, 566 f. Johann Schauberdt: Dedikation (Nordhausen/am Harz 1602). In: Johannes von Padua: […] Consummata sapientia seu Philosophia sacra. Hrsg. v. J. Schauberdt. Magdeburg 1602. – Text auch in: Der Frühparacelsismus. Tl. 2. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Tübingen 2004 (Corpus Paracelsisticum 2); Tl. 3. Tübingen 2012 (Corpus Paracelsisticum 3 [im Druck] (im Weiteren als Sigle »CP II« u. »III«), hier: CP III, Nr. 149. – Zu Schauberdt vgl. ebd., Nr. 147 (Biogramm). Joachim Tancke: Von der Alchimey würden vnd nutz (Leipzig 1609). In: Promptuarium Alchemiae, Das ist: Vornehmer gelarten Philosophen vnd Alchimisten Schriffte vnd Tractat/ von dem Stein der Weisen. Hrsg. v. J. Tancke, Leipzig 1610, (1)6v-(5)v, hier: (4) 3r f.; so auch (2)v. – Zu Tancke s. CP III (Anm. 13), Nr. 155 (hier Biogramm)-160; resümierend J. Telle. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 11 (2011), 426 f. In Druck gelangten (1.) (Ps.-)Weigel: Himmlisch Manna, Azoth et Ignis, das ist: güldenes Kleinod, handelnd von dem köstlichen Eckstein der Natur. In: Andreas Glorez: Eröffnetes Wunderbuch. Regensburg 1700, 533–574; auch erschienen als Einzelausgabe Amsterdam/ Frankfurt a. M./Leipzig 1787 (»neue Auflage«). – (2.) Johannes Aurelius Augurellus: Vellus Aureum, et Chrysopoeia, Seu Chrysopoeia Major et Minor, Das ist/ Gülden-Vließ/ Und Gold-erzielungs-Kunst. Aus dem Lateinischen übersetzt von (Ps.-)Valentin Weigel. Hamburg 1716. – Aufgrund dieser Schriften befand beispielsweise der Theoalchemiker Johann Ludwig Hannemann (Pium, castum et devotum philosophiae adeptae et theologiae orthodoxae osculum, i. e. exercitatio philosophico-mystico-theologica. Hamburg 1696, 97): Weigel »fuerit Adeptus«. – Angesichts dieser Alchemisierung Weigels kann nicht überraschen, dass Alchemikern in einem Catalogus manuscriptorum chemico-alchemico-magico-cabalisticomedico-physico-curiosorum (Wien 1786, 29) zum Kauf Abschriften angeblicher Weigeliana-Autographen theologischen Inhalts und der angeblich aus Weigels Besitz stammenden ›Explicatio in prophetam Danielem‹ Hohenheims angeboten worden sind. Zu den frühneuzeitlichen Wechselbeziehungen zwischen Paracelsismus und Weigelianismus vgl. CP III (Anm. 13), Nr. 125; mit Weigel-Biogramm.
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(Ps.-)Weigel in lehrdichterischer Pose über verborgene Interdependenzen zwischen laborantischer Praxis und »Theologia« belehrte:17 Der antimonio vnnnd das bley, Sint das principal der Alchimey; Die vorgebliche metalla zu tranßmutiren, In sol vnnd luna sie zu figiren. Solches nicht vermag weder sol noch luna Ohne bley vnndt antimonio, Doch kanstu nicht gesein ein rechter Alchimist, Du seiest denn auch ein warer Christ.
Eine außerordentlich steile Alchemikerkarriere insbesondere unter Pietisten war schließlich dem wohl wirkmächtigsten Schriftsteller des frühneuzeitlichen Reformprotestantismus beschieden, Johann Arndt (1555/1621): Seine medizinischnaturkundlichen Kenntnisse – Arndt hatte im Paracelsistennest Basel bekanntlich Medizin studiert, nicht etwa Theologie –, seine wohl zeitweilig vom eng befreundeten Arzt Melchior Breler18 beflügelte Aufgeschlossenheit für laborantische Praktiken, vornehmlich aber seine paracelsistisch unterfütterte Naturphilosophie, wie sie Arndt am markantesten wohl in seinen Darlegungen über ›das große Weltbuch der Natur‹ in seinem ›Best- und Longseller‹ Vom wahren Christentum (Buch IV: Liber naturae) dargetan hatte, boten einer massiv-mystifikatorischen Adeptisierung Arndts beste Nahrung. Verzweigt-vielgestaltige Mystifikationsvorgänge wandelten Arndt seit dem 17. Jahrhundert in einen erfolgreichen Großmeister der Transmutationsalchemie, dazu auch in einen Verfasser einschlägiger Alchemica. Schließlich sollte ein böhmistischer Alchemiker ungewöhnlichen Rangs, Friedrich Christoph Oetinger, in Arndt einen Alchemiker feiern, der sich auf die laborantische Praxis noch weitaus besser verstanden habe als die Alchemikerfürsten Raimundus Lullus und Jakob Böhme, ja erklärte selbst der große Aufklärungstheologe und Alchemiker Johann Salomo Semler, Arndt habe »den sogenannten Proceß [zur Präparation des ›Steins der Weisen‹] in einer sehr leichten und ganz gewissen Formel« besessen und diesen »Proceß« »vielmalen, sogar in seiner Stube, ganz glücklich ausgearbeitet«.19 Doch mit diesen drei hervorragenden Gestalten des frühneuzeitlichen Protestantismus nicht genug: Bald schon wurde nach Luther, Weigel und Arndt von nicht wenigen Alchemikern ein Mann zwangsrekrutiert, der erklärt hatte, er sei
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Ps.-Weigel: De Reconditis Alchimiae et Theologiae. In: Heidelberg, UB, Cod. pal. germ. 782 (um 1600), Bl. 178r. – Der Dichtung voran steht die »Expositio Wigelij de Azot et Ignis«. Beiden Texten gilt folgender Kopistenvermerk (Bl. 179r): »Haec sunt secreta secretorum ex Autographo Wigelli, nemini nisi fidelibus sapientiae filiis reuelanda«. Zu diesem Verfasser medizinischer und religiös-theosophischer Schriften vgl. Killy Literaturlexikon, Bd. 2 (2008), 172, s. v. (J. Telle). Einzelnachweise bei Joachim Telle: Johann Arndt – ein alchemischer Lehrdichter? Bemerkungen zu Alexander von Suchtens »De lapide philosophorum« (1572). In: Strenae nataliciae. Neulateinische Studien. Wilhelm Kühlmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Hermann Wiegand. Heidelberg 2006, 231–246. – Zu Arndt resümierend Killy Literaturlexikon, Bd. 1 (2008), 204–207 (J. P. Wallmann).
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kein »Alchymist« und bar alchemometallurgischer ›Erfahrungen‹,20 der ausdrücklich versicherte, weder die alchemische »Kunst« noch deren laborantischen »Handgriffe« zu kennen,21 ja die »Kunst« deklassierte22 und sich strikt geweigert hatte, auf alchemischen Gebieten Ratfragende über etwas zu belehren, was er selbst nicht könne23: Der Görlitzer Theosoph Jakob Böhme.
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Jacob Böhme: Morgen-Röte im Aufgangk. In: Ders.: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek der frühen Neuzeit 2. Abt. 6), Kap. 22, 420: »Du darffst mich darumb [wegen seiner Darlegungen »Von den Metallen in der Erden«] für keinen Alchymisten halten/ dan ich [Böhme] schreibe allein in Erkändtnuß des Geistes/ und nicht durch erfahrenheit«, doch gab Böhme vor zu wissen, »in wie viel Tagen […] solche dinge [hier: »gold«] müssen praepariret werden«. Böhme, Epistolae Theosophicae (Anm. 2), Brief Nr. 10 (an Abraham von Sommerfeld, 1620), 29–41, hier: 39 f., Abschn. 43: »Ich [Böhme] sehe wol dasselbe [nämlich etwas, was »den Stein der Weisen zu allen Geheimnissen« »öffnet«], aber mir gebühret nicht dasselbe anzurühren, habe auch keine Kunst noch Handgriffe darzu, sondern stelle nur ein offen Mysterium dar: […] bey mir suche niemand das Werck«. Zur Abwehr auf metalltransmutatorischen Unterricht gerichteter Lesererwartungen erklärte Böhme im Vorwort zu seiner von alchemischen und astrologischen Termini sowie mannigfachen Assimilationen der paracelsischen Drei-Prinzipien-Lehre durchsetzten Schrift De signatura rerum oder Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen […]; Item, Wie die äussere Cur des Leibes, aus der Kranckheit, durch seine Gleichheit wieder in das erste Wesen müsse geführet werden […].Darbey Gleichniß-weise der Stein der Weisen, zur zeitlichen Cur, mit dem heiligsten Eckstein der Weisheit, Christo, zur ewigen Cur der neuen Wiedergeburt, eingeführet wird (1622), zit. n. dem Abdruck in der Theosophia revelata (in: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. 6 [1957], 2, Abschn. 5): »Es ist aber nicht meine Meinung, den Menschen in unverstandene, unnütze Kunst, darzu er nicht von GOtt beruffen noch begabet, einzuführen, weil ich sie auch selbsten nicht in [3] der Praxi führe noch treibe, sondern nur die Möglichkeit aller Dinge, nebenst der besten Praxi der neuen Wiedergeburt anmelde, und den von GOtt darzu Begabten zu den äusseren Dingen Anleitung gebe: Dieweil doch ja die Zeit der Eröffnung aller Heimlichkeiten nahet und anbricht«. Böhme, Epistolae Theosophicae (Anm. 2), Brief Nr. 28 (an Christian Steinberg, 6. Juli 1622), 103, Abschn. 12: Böhme erklärt, er habe das, was das »Philosophische Werck der Tinctur« betreffe, »nicht in der Praxi«, es liege »das Siegel GOttes davor«; Abschn. 14: »Wie wolte ich [Böhme] dann andere davon [von der alchemischen Präparation der Tinktur] ausführlich lehren? Ich kann es noch selber nicht machen: Ob ich schon etwas weiß, so soll doch keiner mehr bey mir suchen als ich habe«. – Mangelnde Zeugnisse hinderten Historiker freilich nicht, nach Art böhmistischer Mystifikatoren seine astroalchemische Parabolik zu chemisieren und Böhme unter die praktisch tätigen Alchemikerscharen zu reihen, so etwa Lawrence M. Principe und Andrew Weeks: Jacob Boehme’s Divine Substance »Salitter«: its Nature, Origine, and Relationship to Seventeenth Century Scientific Theories. In: British Journal of the History of Science 22 (1989), 53–61: Böhmes Gebrauch des Terminus »Salitter« bezeuge »a considerable understanding of practical alchemy« (54) bzw. »a knowledge of both theoretical and practical alchemy« (61). Vgl. auch Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution. Chicago, London 2004, 161: Böhmes »Saliter«-Lehre »apparently resulted in part from his practical alchemical work« (arglos formuliert im Anschluß an Principe/Weeks).
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Spätestens seit Werner Buddecke der Böhme-Forschung zu einer bibliographisch soliden Grundlage verholfen hatte,24 weiß man, dass von anonymen Böhmisten unter Titeln wie Idea chemiae Böhmianae adeptae (1690)25 oder Metallurgia Böhmiana (1695)26 vermeintliche ›Anleitungen‹ Böhmes zur laborantischen Präparation des ›Steins der Weisen‹ an Alchemiker adressiert worden sind,27 bei denen es sich um nichts als vorab aus Böhmes De signatura rerum, Mysterium magnum und Aurora gespeiste und assoziativ collagierte Zitatantho24
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Werner Buddecke: Die Jakob Böhme-Ausgaben. Ein beschreibendes Verzeichnis. 1. Tl.: Die Ausgaben in deutscher Sprache. Göttingen 1937 (Hainbergschriften 5); 2. Tl.: Die Übersetzungen. Göttingen 1957 (Hainbergschriften N. F. 2). Idea chemiae Böhmianae adeptae, Das ist: Ein Kurtzer Abriß Der Bereitung deß Steins der Weisen/ Nach Anleitung deß Jacobi Böhm. Wie auch eine Schutz-Schrifft wegen Böhm/ und Seiner Schrifften. Amsterdam 1690: Der Herausgeber rühmt in Böhme einen Alchemiker vom Range eines Pierre Jean Fabre, Michael Sendivogius, Johann Grasse, George Ripley und (im Banne theoalchemischer Legenden) eines Johann Arndt (Vorrede); wie P. J. Fabres Alchymista Christianus (1632) und Hercules piochymicus (1634) sowie dem Wasserstein der Weisen, so könne man auch Böhmes Schriften entnehmen, »daß das grosse Werck [der Alchemiker] mit der gantzen Theologia symbolizirt« (95). Im Übrigen verspricht der Anonymus ein (wohl nicht entstandenes) »Opus physicae Böhmiane« (Vorrede). – Erneute Ausgabe: Kurtze […] Beschreibung des Steins der Weisen, Nach Seiner Materia, aus welcher er gemachet, nach seinen Zeichen und Farbe, welche im Werck erscheinen, nach seiner Kraft und Würckung […] und was insgemein bey dem Werck in acht zu nehmen. Amsterdam 1747. Metallurgia Böhmiana, Das ist: Eine Beschreibung der Metallen/ nach ihrem Ursprung und Wesen/ und wie sie auß dem Mercurio, Sale und Sulphure gebohren werden. Nach deß Jacobi Böhmii Philosophi Teutonici principiis. Amsterdam 1695: Böhme habe nicht ›im Feuer gearbeitet‹ (laboriert); bei seinen alchemischen Lehren handele es sich um göttliches Offenbarungswissen (304). Der Herausgeber rät zur Lektüre J. Arndts (Vorrede) und erwähnt Philipp Jakob Spener (351 f.); seine angekündigten Schriften, ein Traktat »Von der Gebärung der Elemente« (152) und ein Werk zu Böhmes »Von der Gnadenwahl« (27), gelangten wohl nicht in Druck. Vgl. etwa auch: Einleitung Zum Wahren und gründlichen Erkänntnis Des grossen Geheimnisses der Gottseligkeit: GOTT geoffenbaret im Fleisch; Bestehende in einem Kernhafften Auszug Aller Theologischen/ Theosophischen und Philosophischen Schrifften […] Jacob Böhmens, Alles nach dessen Grund-Sätzen Von drey Principien und sieben Eigenschafften der Natur […] verfasset/ […] Nebst […] einem Anhang/ […] von Zubereitung der wahren Medicin, und von dem Philosophischen Werck und Universal. Amsterdam 1718; mit »Appendix, Oder: Kurtzer Anhang/ Des grossen Geheimnisses der Gottseligkeit; Von der Signatur […] aller Creaturen/ […] von dem Ursprung der Kranckheiten/ und der wahren Medicin, […] Von dem Lapide Philosophorum, seiner ersten Materia, dem wahren Process, von der eigentlichen Tinctur der Metallen […]; Aus des Autoris [Böhmes] Schrifften gezogen«. – Kurzer […] Auszug der […] wichtigsten […] Stellen aus den Schriften […] Jakob Böhms, wovon […] die Dritte und lezte Abtheilung die Bereitung des Steins der Weisen in sich enthält. Frankfurt a. M./Leipzig 1762: Mit einem gereimten »Gebeth, um Offenbarung der philosophischen Materie zur Bereitung des Steins der Weisen« (250–256); erneute Ausgaben: Frankfurt a. M./Leipzig 1800, Basel 1800 u. Männedorf o. J. [19. Jh.]. – Die letzte Posaune an alle Völker oder Prophezeyungen des […] Theosophi Jacob Böhmens von naheseyenden Untergang des Antichrists und Babels […], von der Tinctur der Weisen […], nebst andern Geheimnissen mehr. Berlin/Leipzig 1779, 71–76: »Vom finden des Vniversals für Seele und Leib, eine kurze Summa des Philosophischen Werks«. – Theosophische Beschreibung der Tinktur der Weisen und der Cur aller Krankheiten, aus […] Jakob Böhmens Schriften. Berlin/Leipzig 1780.
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logien handelt. Diese vermeintlichen Wegweiser zum ›Stein der Weisen‹, dem ›Naturheiland‹ der Theosophen, aber auch die Überlieferungsgemeinschaft von Böhme-Exzerpten mit Alchemica28 signalisieren kraftvolle Alchemisierungen der Böhme’schen Theosophie, die durchaus auch im anti-böhmistischen Schrifttum aus Theologenfeder vermerkt worden sind29 und deren Ausmaße sich noch beträchtlicher ausnehmen, nimmt man frühneuzeitliche Verzeichnisse alchemischer Sachschriften zur Hand oder beachtet man Lektüreempfehlungen von Alchemikern für Alchemiker. Was ältere Kenner betrifft, die die frühneuzeitlichen Alchemicafluten bibliographisch zu bändigen suchten, so sei hier nur Friedrich Roth-Scholtz (1687/1736) genannt: Ohne Wimpernzucken nahm dieser vorzügliche Alchemicaexperte Böhmes Mysterium magnum in seine Bibliotheca chemica auf, dazu die Idea und Metallurgia,30 ebenso Hermann Fictuld, der sowohl in Böhme31 als auch im böhmistischen Theoalchemiker Georg von Welling32 mustergültige »Magi, Cabbalisten und Theosophen« zu rühmen wußte. Und obwohl Nicolas Lenglet du Fresnoy (1674/1755) in Böhmes Schriften nichts als ›fromme Allegorien‹ aus der Feder eines extremistischen Metaphorikers fand, aber keine Spuren alchemisch belangvoller Lehren33, erhielten in seiner Histoire de la philosophie hermétique (1742) einige Böhmiana einen Platz.34 28 29
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Kassel, Landesbibliothek, 4° Ms. chem. 64 (17. Jh.), Bl. 125r-244v: Böhmiana. So etwa von Johann Frik: Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer/ So auß dessn eigenen Schrifften gezeiget/ und auß H[eiliger] Shrifft [sic!] widerlegt werden. Ulm 1700. – Frik zählte zu den Verirrungen der Anhänger Böhmes (40), dass sie aufgrund gewisser von Böhme mit Hilfe des Terminus »Lapis philosophorum« formulierter Lehrsätze »ihre gröste und einige Geheimnis in Chymicis und Veränderung der Metallen/ Silber vnd Gold suchen«. Friedrich Roth-Scholtz: Bibliotheca chemica, Oder Catalogus von Chymischen-Büchern. Nürnberg, Altdorf 1727, 30. – Außerdem genannt wird in Verkennung ihres anti-böhmischen Charakters eine Schrift des Monogrammisten E. I. H.: Der entlarvete Jacob Böhm/ Oder Gründliche Anzeigung/ wie dessen so genandte Theosophische Schrifften anzusehen/ und woher ihm solche Wissenschafften erwachsen sind/ Nebst angehengeter Dissertation, De Adeptis. O. O. 1693: Böhme wird als ein »Chymischer Theologus« Paracelsischen Geblüts präsentiert, den zu lesen eine »rechte Hirn-Marter« sei; weil allein gegründet auf »des Schreibers schwaches Gehirn und irriger Lehrmeister Schrifften«, solle man die Böhmiana verbieten (40). Hermann Fictuld: Des Längst gewünschten und versprochenen Chymisch-Philosophischen Probier-Steins Erste Classe, In welcher der […] ächten Adeptorum […] Schrifften […] entdecket worden. Dresden 1784 (erneute Druck der Ausgabe Frankfurt a. M./Leipzig 1753), 54 f. Hermann Fictuld: Der längst gewünschte […] Chymisch-Philosophische Probier-Stein. Frankfurt a. M./Leipzig 1740, 62–65. (Nicolas Lenglet Dufresnoy:) Histoire de la philosophie hermétique. Accompagnée d’un Catalogue raisonné des Ecrivains de cette Science. Bd. 3. Paris 1744 (erstmals Paris 1742), 124: »Cet Auteur [Böhme] est extrêmement métaphorique. Sur sa réputation j’ai cru qu’il contenoit de grands mystéres, je l’ai lû & n’y ai trouvé que quelques dévotes allégories, sans aucune instruction sur la Philosophie Hermetique«. Lenglet Dufresnoy (Anm. 33), 124 f., s. v. Bohem: »De signatura rerum« in französischer Übersetzung (»Miroir temporel de l’Eternité […]. Francofurti. 1669«), Metallurgia (Anm. 26); Theosophia revelata [1730]; Idea (Anm. 25).
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Um orthodoxe Angriffe auf Böhme zu entkräften, behauptete der spiritualistische Prediger Friedrich Breckling (1629/1711) im Zuge seiner Abwehr gegen ihn gerichteter Heterodoxieanklagen von ungenannten »Theosophi/ Medici und Chymisten/ welche durch die Experimental-Philosophiam und Chymiam biß zum Centro/ Grund und Wurtzel aller Dinge« durchdrängen, – eben diese überaus fähigen ›Experimentalphilosophen‹ hätten aus Jakob Böhmes Schriften weit mehr naturkundliches Wissen geschöpft, als ihnen »durch aller Chymisten und RosenCreutzer Bücher je geoffenbahret« worden sei.35 Solche unter religiösen Dissidenten eingeschliffenen Mystifikationen – sie sollten den Görlitzer Theosophen zum ›Hermes Trismegistus Teutonicus Redivivus‹ entstellen36 – nehmen der Tatsache, dass Alchemiker in ihren Sachschriften zur Lektüre Böhmes ermunterten, alles Zufällige. Beflügelt von der Doktrin, dass zwischen ›natura‹ und ›scriptura‹ engste Wechselbeziehungen, insbesondere zwischen dem alchemischen ›Werk‹ und dem Sechstagewerk Gottes oder Geburt, Tod und Auferstehung Jesu Christi naturkundlich aufschlussreiche Analogien bestünden, riet beispielsweise ein in die Wolle gefärbter Hermetiker, der Kieler Universitätsmediziner Johann Ludwig Hannemann (1640/1724) verschiedentlich zur Lektüre des ›Adepten‹ Böhme: »Hic philosophus in suo opusculo de Signatura rerum, & passim in suis scriptis multa egregia de L[apide] P[hilosophorum] habet, ac profundas meditationes ex hac philosophia cum Theologia Symbolizante in medium profert, ac cum erudito orbe communicat«.37 Auch späterhin blieb der ›Adeptus‹ Böhme aktuell. So rückte man gold- und rosenkreuzerischen Anhängern der ›geheimen Naturlehre‹ in hemdsärmeliger Eklektikermanier manche ›Moderni‹ (zum Beispiel M. Sendivogius, P. J. Fabre, Hermann Fictuld, Georg von Welling) gemeinschaftlich mit oft schon seit langem kanonisierten ›Klassikern‹ der Transmutationsalchemie (so 35
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Friedrich Breckling: Anti-Calovius sive Calovius cum Asseclis suis prostratus et Jacob Böhmius Cum aliis testibus veritatis defensus. O. O. 1688, E2r-v, zit. n. Carlos Gilly: Vom äyptischen Hermes zum Hermes Trismegistus Germanus. Wandlungen des Hermetismus in der paracelsistischen und rosenkreuzerischen Literatur. In: Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Peter-André Alt u. Volkhard Wels. Göttingen 2010 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 8), 71–131, hier: 97. – Zu Breckling resümierend Killy Literaturlexikon, Bd. 2 (2008), 161 f. (D. Blaufuß). Metallurgia (Anm. 26), Vorrede, )(2r u. )(3r. Johann Ludwig Hannemann: Instructissima Pharus In Oceano Philosophorum ostendens Viam veram & tutam. Ad ophir auriferum. Kiel 1712, 156 f.: Böhme erscheint unter Verweis auf dessen Sendbriefe neben dem »summus Theologus Philosophus, & medicus divinus Paracelsus«, Raimundus Lullus und Arnald von Villanova als Autorität in der durch die Zeiten umstrittenen Frage über die zeitliche Dauer des alchemischen ›Werks‹ (von Hannemann formuliert aus Kenntnis von Böhme, Sendbrief Nr. 15, an Johann Daniel Koschwitz, 3. Juli 1621. In: Epistolae Theosophicae [Anm. 2], 63, Abschn. 10: Ein gewisser »Proceß« »darf wol erst im siebenten Jahr […] zu End lauffen«); Zitat: 156. – Cato chemicus Tractatus Quo Verae ac Genuinae Philosophiae Hermeticae […] accurate delineantur. Hamburg 1690, A 12 (empfohlen gemeinschaftlich mit J. Arndt, Julius Sperber und Paracelsus). Ausdrücklich als ›Adept‹ figurierte Böhme auch in Hannemanns »Osculum« (Anm. 15), 97 (gemeinsam mit J. Arndt und J. V. Weigel); Otium Friedrichstadiense, seu Tantalus chemicus. i. e. Commentarius Physico-chemicus de L. P. B. Hamburg 1717, 40: »[…] Böhmium in arte divina non fuisse peregrinum vel exulem«.
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etwa Geber, Bernardus Trevisanus, George Ripley, [Ps.-] Paracelsus, Basilius Valentinus) in den Blick, – »nützlich« seien aber insbesondere »scripta mystica«: Der theomedizinische Raphael oder Arztengel von Abraham von Franckenberg (1593/1652)38 und Böhmes Aurora, vor allen anderen Lehrschriften aber ein gewisser Text in Böhmes De signatura rerum, handele es sich doch um einen Basistext für die laborantische Praxis.39 In frühneuzeitlichen Richtungskämpfen unter Alchemikern, ausgetragen beispielsweise zwischen ›Vitriolisten‹, ›Nitristen‹, ›Mercurialisten‹, ›Saturnalisten‹, ›Antimonialisten‹, ›Exkrementisten‹, wurden gewisse Autoren geächtet, andere ignoriert oder gerühmt. Dass man in diesen Kontroversengetümmeln relativ häufig zur Lektüre Böhmes riet, verrät einiges über seine frühneuzeitliche Wirkmächtigkeit. Ob man nun den fränkischen Alchemoparacelsisten Johannes Pharamundus Rhumelius mit Ernst Salomon Cyprian zu den ›zärtlichsten Liebhabern‹ Böhmes zählen darf,40 sei dahingestellt.41 Einen wohl allenfalls selten beachteten Niederschlag fanden Böhmes philosophisch-theologische Spekulationen jedenfalls in der frühneuzeitlichen Salzalchemie:42 Gewiss beruhte die keineswegs selbstverständliche Tatsache, dass angesichts der Unzahl natürlicher Substanzen auffällig viele Alchemiker gerade Salz beschäftigte, teilweise auf der wachsenden Prominenz, die Salz aufgrund der Paracelsischen Drei-Prinzipien-Lehre seit dem 16. Jahrhundert zu genießen begann. Den mächtigen Aufschwung der Salzalchemie begünstigten mit ziemlicher Sicherheit in nicht unbeträchtlichen Ausmaßen aber auch Theoalchemiker von der Art eines Heinrich Khunrath, die Salz allein schon eingedenk seiner bedeutsamen Rolle in der Heiligen Schrift mit besonderer Aufmerksamkeit bedachten. Schließlich trugen die Strahlkräfte gerade der paracelsistischen Drei-Prinzipien-Lehre Böhmes, in der »Salniter« bzw. »Salitter« immerhin einen primaterialen Rang einnimmt, im Verein mit dem Khunrath’schen Werk merklich dazu bei, dass die Salzalchemie nach Zeugnis namhafter Böhmisten, etwa Georg von Wellings, vorab unter laborierenden Theosophen heimisch geworden war, deren heute vielleicht bekannteste Gali38
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Zu dem Freund und ersten Biographen Böhmes, an dessen alchemomedizinischen Neigungen insbesondere seine paracelsistisch-theosophischen Gesundheitslehren im »Raphael« erinnern, vgl. resümierend Killy Literaturlexion, Bd. 3 (2008), 529–531, s. v. (J. Telle). Anonymus: Anweisung eines Adepti hermetische Schriften nützlich zu lesen. Annotiert und hrsg. v. einem »wahren Freymaurer«. Leipzig 1782, 21. – Der Verfasser bezog sich auf den »Proces Christi« (s. Jakob Böhme: De signatura rerum. In: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen [Anm. 20], Kap. 11, 670–700): Hier lehre Böhme, wie man bei der laborantischen Präparation der ›Universalmedizin‹ »nach der Aehnlichkeit der Leidensgeschichte Jesu, mit dem Chaos der Weisen [der arkanen Materia prima der Alchemiker] verfahren« müsse. Ernst Salomon Cyprian: Fernere Anmerckungen von Arnolds Partheylichkeit und Verfälschung der Scribenten. In: Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historien. Bd. 3. Schaffhausen 1742, 113 f. Eine Durchsicht von über fünf seit den 1630er Jahren erschienenen Rhumelius-Drucken einschließlich der »Medicina Spagyrica Tripartita Oder Spagyrische Artzneykunst« (erneute Ausgabe Frankfurt a. M. 1662) lässt an Cyprians Nachricht zweifeln. Vgl. dazu Joachim Telle: »Vom Salz«. Eine deutsche Alchemikerdichtung der frühen Neuzeit über den Gewinn einer Universalmedizin. In: Pharmazie in Geschichte und Gegenwart. Festgabe für Wolf-Dieter Müller-Jahncke zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Christoph Friedrich u. J. Telle. Stuttgart 2009, 457–484.
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onsfigur, der Böhmist Friedrich Christoph Oetinger (1702/1782), im Zuge seiner theoalchemischen Rettungen der »Metaphysic« mittels seiner »Patriarchalphysik« alias Alchemie erklärte, dass der »wahre Chemicus und Nachahmer GOttes« aus »Saltz« ein »wahres süsses Oel« bzw. »das allersüsseste Wesen« und »das universelleste Principium« extrahieren könne.43 Vermutlich formierte sich die wissenschaftsgeschichtlich gewichtige Salzalchemie unter manchen epistemologischen Unsicherheiten, wie sie gerade diffusen, sowohl von Elementen der böhmistischen Theosophie als auch rationalempirischen Verfahrensweisen und laborantischen Praktiken geprägten Gemengelagen eigen sind. Die naturkundlich innovativen Potentiale der philosophischtheologischen Spekulationen Böhmes entluden sich jedenfalls nicht von ungefähr nahezu wuchtig im frühneuzeitlichen Amsterdam. In dieser Böhmistenhochburg wirkte Johann Rudolf Glauber (1604/1670), durchaus ein Großer der barocken Salzalchemie. Über die Feier seiner chemisch-technologischen Leistungen machen Historiographen leicht vergessen, dass Glauber in sich einen hervorragenden ›Feuerphilosophen‹ und Meister einer paracelsistisch geprägten »Halchymia« (»Salzschmeltzung«) mit einem zeitweilig quintomonarchistisch gesinnten Dissidenten verband, der in der Sicht zeitgenössischer Gegner unter dem »schein der wissenschafft«, aber auch einer »angenommenen schein heiligkeit« als ein »newer Prophet« agierte und statt öffentliche Kirchen zu besuchen, »seyner eygenen schwirmerey im Hauß« oblag.44 Für sicher kann man jedenfalls nehmen, dass sich Glauber zu den Lesern des »frommen« Theologen Böhme zählte, den ›Chymicus‹ Böhme, weil kein Practicus und »übel verständlich«, freilich nicht akzeptierte.45 Eben im Amsterdam der 1650er Jahre und hier gemeinsam mit Glauber zum Autorenkreis des Böhme-Verlegers Heinrich Betke gehörig, lebte Johann Hartprecht (um 1610/nach 1661), der ebenfalls eine Salzalchemie verfocht, doch durchaus anders als Glauber seine synkretistischen Salzlehren ausdrücklich mit Elementen der Naturschau Böhmes durchsetzte: Man lernt in diesem einst be43
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Friedrich Christoph Oetinger: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia [1763]. Hrsg. v. Reinhard Breymayer u. Friedrich Häussermann. Tl. 1. Berlin 1977 (Texte zur Geschichte des Pietismus. Abt. VII. 1), 239–244: »Weitere Ausführung des Grundbegriffs vom Saltz«, hier: 240 f., mit dem Hinweis: »wie mir [dem Theoalchemiker Oetinger] der [laborantische] modus [der Extraktion] wohl bekannt ist«. – Über einige Züge der böhmistischen Alchemie Oetingers informiert Ulrike Kummer: Autobiographie und Pietismus. Friedrich Christoph Oetingers »Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten«. Untersuchungen und Edition. Frankfurt a. M. 2010. – Zuletzt resümierend Killy Literaturlexikon, Bd. 8 (2010), 686 f. (R. Breymayer). Antiglauberus (Ps.): Glauberus refutatus […] Daß ist: Ein Hundert Lugen: oder Ohnnützliche […] Chimische Proceß Auß Glaubers […] Schrifften zur Wiederlegung jhres Autoris unnd Erhaltung der Wahrheit an Tag gegeben. O. O. 1661, 1, 85. Johann Rudolf Glauber: Teutschlands Wohlfahrt/ Dritter Theil. (erneute Ausgabe) Prag 1704 (erstmals Amsterdam 1659), 309: »So viel ich [Glauber in den von H. Betke in Amsterdam gedruckten »Theologischen« und »Chymischen Schrifften«] gesehen/ so ist er [Böhme] ein frommer Mann gewesen; Was er aber in Alchymia verstanden/ kan ich nit wissen/ dieses aber weiß man/ daß er niemalen laboriret/ und seine Chymische [310] Schrifften übel zu verstehen: Die Theologische aber von vielen Menschen gelesen werden«. – Zu Glauber zusammenfassend zuletzt Killy Literaturlexikon, Bd. 4 (2009), s. v., 242–244 (J. Telle).
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schrienen Alchemiker einen unterschiedlichsten Autoritäten verpflichteten Eklektiker kennen; seine naturkundliche Grundhaltung maßgeblich geprägt hatten allerdings Werke, von denen Hartprecht dafürhielt, dass sie »ausser der heiligen Schrifft gantz und gar ihres gleichen nicht« hätten und wegen ihres ›unaussprechlichen Nutzens‹ für Alchemiker endlich in hochdeutscher Sprache gedruckt werden müssten: die Werke Jakob Böhmes, – gäben sie doch »aller Dinge hertz und innersten Mittelpunct« zu erkennen,46 stünde hier doch nichts weniger als »die gantze Natur« und deren »circulation bloß und nackend« da, ließen sich »Grund und Wurtzel der Natur« nur im Werk Böhmes aufs »gründlichste« fassen.47 Und eben hier im Amsterdam Glaubers und Hartprechts konnte man schließlich zwei weitere Böhmisten treffen: Ein Freund Samuel Hartlibs und Johann Amos Comenius’ sowie Briefpartner etwa Abraham von Franckenbergs, der Arztalchemiker Joachim Polemann (um 1620/25–nach 1675) ließ hier Heinrich Betke für den Erstdruck seines der paracelsistischen Naturkunde geschuldeten Novum lumen chymicum sorgen (1659), eines dem Sulzbacher Pfalzgrafen Christian August gewidmeten Johann Baptista van Helmont-Kommentars, in dem Jakob Böhme zu den von Polemann am häufigsten aufgerufenen Eideshelfern zählt.48 Und bald dann propagierte hier Georg Ernst Aurelius Reger eine maßgeblich vom »Wundermann« Böhme geprägte Alchemomedizin.49 Angesichts dieses massiven Böhmismus können Spuren des »wydberoemden Philosoph Iacob Böhem« im Werk des holländischen Alchemikers Goossen van Vreeswyck nicht überraschen.50 Gelegentlichen Widerhall fand Böhme überdies im Alchemikerlager unter erklärten Anti-Cartesianern. Böhme munitionierte hier Kampagnen gegen jene 46
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Johann Hartprecht: Erläuterung. In: Johannes Isacus Hollandus: Opus vegetabile. Aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt von J. F. H. S. [Johann Hartprecht]. Amsterdam 1695 (erstmals Amsterdam 1659), 138. J. F. H. S. [Johann Hartprecht]: Der Verlangete Dritte Anfang Der Mineralischen Dinge/ oder vom Philosophischen Saltz; Nebenst der waren Praeparation Lapidis & Tincturae Philosophorum. Amsterdam 1656, 25. – Zu Hartprecht zuletzt Killy Literaturlexikon, Bd. 5 (2009), s. v., 48 f. (J. Telle). Joachim Polemann: Novum lumen medicum. In welchem Die […] Lehre des […] Philosophi Helmontii, Von dem hohen Geheimnis des sulphuris philosophorum […] erkläret wird. Amsterdam 1660. Das Ansehen Böhmes als Alchemiker in Amsterdam unterstreicht auch Polemanns Mitteilung, er habe einem Kenner ›alchemischer Geheimnisse‹ gewisse Texte Böhmes laut vorgelesen. »According to Poleman, this individual turned and with wonder said, is it possible that Boehme came to know these things from his own spirit, for he has written the truth« (J. Polemann/Amsterdam, Brief an Samuel Hartlib/London). Durchaus ähnlich gesinnt hatte sich Polemanns Adressat S. Hartlib zu dieser Zeit unter dem Stichwort ›Lapis Philosophorum‹ notiert, Böhmes »De signatura rerum« beschreibe »the whole processe of the Philosophical Worke«. Darauf aufmerksam machte Ariel Hessayon: ›Gold Tried in the Fire‹. The Prophet TheaurauJohn Tany and the English Revolution. Aldershot 2007, 308. Georg Ernst Aurelius Reger: Gründlicher Bericht Auff einige Fragen/ Bekräfftiget durch drey übereinstimmende Zeugen/ als Der heiligen Schrifft/ Dem Buch der Natur/ und Dem Buch der Menschheit. Hamburg 1683. – 105–121: Scharfer Angriff auf ungenannte Dissidenten, insbes. wohl auf J. G. Gichtel. Goossen van Vreeswyk: De Roode Leeuw, Of het Sout der Philosophen. Amsterdam 1672, 158 f.: »De signatura rerum«-Zitat.
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»pristerlichen pseudo-Theologi« und »Levitischen Medici«, allesamt nichts als »Carthesianische Brillisten«, die die Natur nur »durch Brillen und Microscopien« betrachteten, statt beispielsweise in der Passion Christi ein alchemisch aufschlussreiches ›Gleichnis‹ anzuerkennen.51 Wieder andere Anwälte einer »Christ-Chymischen Warheit«, transkonfessionell gesonnene Alchemiker nämlich, erhofften sich von der Strahlkraft Böhme’scher Lehren eine Überwindung allen konfessionalistischen Haders und Splittertums. Sie hielten sich fähig, vermöge ihrer »Erkantnuß der Natur/ das Geistliche/ so durchs natürliche abgebildet wird/ in Conformität der Schrifft zu lehren«,52 und gossen ihr Credo in eine alle amtskirchlich-theologische Kompetenz unterminierende Devise: »Die Chymie befreyet von Religions-Streit«, einen Böhme beigelegten Satz.53 Zumal es sich oft um Angehörige politisch-sozial und schriftkulturell durchaus hochstehender Schichten handelte – erinnert sei hier nur an Herzog Ernst August von Sachsen-Weimar (1688/1748)54 – gerieten böhmistische Alchemiker schließlich in den Ruch, sie gefährdeten nicht nur die »Religion«, sondern auch den »Staat«, ruinierten alle »göttliche Ordnung« und »bürgerlichen Verfassungen«55: Remedur schaffen, so ein aufklärerischer Fundamentalist, Remedur schaffen könne da allein eine Vernichtung der Bücher Jacob Böhmes, aber auch eines Johann Gottfried Jugel (1707/1786), Emanuel 51
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Anonymus: Das Buch Amor proximi Geflossen aus dem Oehl der Goettlichen Barmhertzigkeit. Geschärffet mit dem Wein der Weisheit. Bekraefftiget mit dem Saltz Der Göttlichen und Natürlichen Warheit. Frankfurt a. M./Leipzig 1782 (Erstdruck: Den Haag 1686; auch Frankfurt a. M./Leipzig 1746). Johann Philipp Maul: [Zahàbh Mizzaphon (hebr.)] Sive medicina theologica, chymico irenica, & christiano-cabbalistica, vorgestellet in der Ersten Continuation curioser und erbaulicher Gespräche Vom Gold von Mitternacht Oder von der Höchsten Medicin, Darinen gezeiget wird/ […] daß die Vergleichung der Geistlichen und Leiblichen Höchsten Medicin, die rechte Cabbala der Alten/ oder wahre Chymie seye. Wesel 1713 (erstmals Wesel 1709), 355. – Maul wiederholte nahezu wörtlich die schon von O. Crollius formulierte Forderung (s. o., 167), dass »die Theologi chymisirten/ und die Chymici theologisirten!« (328). Maul (Anm. 52), Vorrede, nicht paginiert. (Ernst August, Herzog von Sachsen-Weimar:) Zu […] Iehovah gerichtete theosophische Herzensandachten, oder Fürstliche selbst abgefassete Gedancken, wie wir durch Gottes Gnade uns von dem Fluch des Irdischen befreyen und im Gebet zum wahren Lichte […] in Gott eingehen sollen; nebst einigen aus dem Buch der Natur und Schrifft hergeleiteten Philosophischen Betrachtungen von denen dreyen Haushaltungen Gottes im Feuer, Licht und Geist zur Wiederbringung der Creatur. O. O. 1742. – In diesem Zeugnis einer böhmistischen Theoalchemie wird ausdrücklich eine »Religio« propagiert, der »Gottesdienstliche Verfassung«, »aeuserliche Religions-Meynung« bzw. »Sectirische Anhaenglichkeit« nichts gilt (Vorwort). Im Übrigen erklärte der Herzog in Abwehr aufklärerischer Positionen, er hege nicht die »Meynung«, mit seiner Schrift »thoerichte Chymisten […] in ihren verkehrten intentionen zu staercken«. Die »wahre theosophische Weisheit« müsse nämlich keineswegs »ihre Absicht auf die acquirirung groser Reichthümer […] gerichtet haben« (144 f.). Johann Gottlieb Stoll: Etwas zur richtigen Beurtheilung der Theosophie, Cabbala, Magie, und anderer geheimer übernatürlicher Wissenschaften. Leipzig 1786, 14, 22. – Die Hauptwucht der Stoll’schen Attacken galt »Theosophen«, klassifiziert als religiöse Heuchler, die »bey einer scheinbaren Verläugnung ihrer selbst und aller zeitlichen Güter, doch nichts zum Grunde haben als die vortrefliche Kunst, die unedlern Metalle […] in Gold oder Silber zu verwandeln«. Diese »Verirrten« fänden sich keineswegs im »Pöbel«, sondern unter bedeutenden Gelehrten, unter Doctoren und Predigern.
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Swedenborg (1688/1772) und ›tausend anderer alchymistischer und mystischer Schriftsteller‹ mehr.56 Zum Schellengeläut der alchemischen Böhme-Rezeption gehörte seit dem 17. Jahrhundert ein Vorwurf, der unter den anti-böhmistischen Angriffen wohl mit zu den schwerwiegendsten gehörte, – der Vorwurf nämlich, Böhme habe die Heilige Schrift in die Dienste der Transmutationsalchemie gestellt: »Er mißbrauchet die Schrifft auffs ärgerlichste/ und verkehret nicht allein den rechten Verstand/ sondern verdüstert auch ihre klare Meynung mit seinem schwärmerischen Beysatze. Er zerreisset und zuwühlet die allerschönsten Trost-Blumen des Heiligen Geistes mit seinen eigendeutigen Auslegungen/ und bringet fremdes Feuer/ nehmlich aus den Chymischen Schmeltz-Tiegeln/ auff den Altar des HErrn. Also/ daß es offt das Ansehen gewinnet/ er begehre vielmehr die Schrifft um der Chymischen Wörter willen/ zumahl von dem Lapide Philosophico, weder diese um jener willen/ anzuziehen«.57 Mit diesen Worten zur Sprache gelangt war eine Anklage, wie sie dann im 18. Jahrhundert wiederholt, mutatis mutandis aber auch hier in München seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts im Zuge seines Kampfes gegen den gelegentlichen Gebrauch Böhme’scher »formulae« in der Kontroverstheologie seiner Zeit von Adolf von Harleß (1806/1879), Haupt der evangelisch-lutherischen Kirche Bayerns, erhoben worden ist58 und in dem grimmen Richtspruch gipfelte, Böhme habe »Gottes Wirkungsweise in der Welt mit den Kanones der alchymistischen Kunst identificirt«, habe »so zu sagen, Gott selbst in die alchymistische Retorte« geworfen und »seinen ewigen Werde- und Wesensproceß nach den Recepten [der alchemischen] Kunst« konstruiert.59 Den »Verstand der Göttlichen Geheimnisse« mittels der »Natur« zu »begreiffen und [zu] ergründen«60, – eben solche von orthodoxen Protestanten verdammten Naturalisierungen supranaturaler Vorstellungen, wie sie schon Gregor Richter inkriminierte,61 56 57
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Stoll (Anm. 55), 145. Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen: Täglicher Schau-Platz der Zeit. O. O. o. J. (defektes Exemplar; Vorrede: 13. Dezember 1694; wohl der Erstdruck: Leipzig 1695), 1365. – Übernommen aus Erasmus Francisci: Gegen-Stral Der Morgenröte […]; In gründlicher Erörterung der […] Haupt-Fragen und Schein-Sätze heutiger Böhmisten/ wie auch beygefügter Untersuchung/ was von deß Jacob Böhms Schrifften zu halten sey. Nürnberg 1685, ein von Ziegler in seinem Abschnitt über Böhme zitiertes (mir nicht erlangbares) Werk? Adolf G[ottlieb] C[hristoph] von Harleß: Jakob Böhme und die Alchymisten. Ein Beitrag zum Verständniß J. Böhme’s. Nebst zwei Anhängen: J. G. Gichtel’s Leben und Irrthümer und über ein Rosenkreuzerisches Manuscript. Zweite vermehrte Ausgabe. Leipzig 1882 (Vorwort: Dezember 1874), 111. Harleß (Anm. 58), 66. EhreGott Daniel Colberg: Das Platonisch-Hermetische Christenthum/ begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, Unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer/ Rosencreutzer/ Qväcker/ Böhmisten […] und Quietisten. Leipzig 1710 (erstmals Frankfurt a. M./Leipzig 1690/91), Kap. 8 (»Von Jacob Böhmen Schwärmerey«), 307–386, hier: 308. Gregor Richter, Böhmes Görlitzer Widersacher, schrieb in seiner Görlitzer Stadtchronik, »Böhme habe Gott als ein Gebilde aus Schwefel und Quecksilber gelehrt« (so in Übersetzung zitiert von Ernst-Heinz Lemper: Jakob Böhme. Leben und Werk. Berlin 1976, 125); ähnlich dann am 26. März 1624: »Der Schuster hat viele Jahre lang […] über Gott und die Schöpfung Wunderliches ausgestreut und ausgespieen, daß jener nämlich aus Quecksilber und
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gehören zu den vielleicht wichtigsten Grundlagen der Böhme’schen Resonanz im frühneuzeitlichen Alchemikerlager. Wendet man sich dem 18. Jahrhundert zu, so sieht man gleich zu Jahrhundertbeginn zwei weitere Böhmisten den Alchemicamarkt bereichern: Der Jurist Franciscus Clinge, gänzlich im Banne Böhmes, wollte nun aus der enormen Zahl alchemischer Lehrschriften keine gelten lassen, sie stamme denn aus der Feder Böhmes oder des Basilius Valentinus.62 Und Samuel Richter (Ende 17. Jh./nach 1722) trug allen Druck-, Vertriebs- und Lektürehemmnissen Böhme’scher Schriften zum Trotze mit seinen Böhme-Texte enthaltenden Publikationen, etwa der Theo-Philosophia Theoretico-Practica (1711), maßgeblich zur Präsenz des zum ›Wundermann‹ avancierten Böhme unter theosophierenden Alchemikern bei.63 Zur Suche weiterer Spuren Böhmes unter deutschen Alchemikern des 18. Jahrhunderts ermutigen etwa auch auf Böhme gestützte Erläuterungen chemischer Angaben,64 weitaus nachdrücklicher noch heute meist verschüttete Schriften, von denen man im 18. Jahrhundert dafürhielt, sie seien auf Böhme’schen Prinzipien gegründet65, nicht zu vergessen manche Scharmützel des pietistischen Arztalchemikers Johann Konrad Dippel (1673/1734) mit ungenannten Böhmisten, ihm bekannten »Narren«, die den laborantischen Gewinn des alchemischen ›Steins‹ auf eine spirituelle – durch Kirchgang, Bibellektüre und sexuelle Enthaltsamkeit
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Salpeter hergestellt sei und diese andere machten« (ebd., 93). – Durchaus in Richter’scher Stoßrichtung formulierte noch Harleß (Anm. 58), 67: »Der abstrakte Spiritualismus erliegt in Böhme einem materialischen und chemischen Realismus [sic!], wie er seines Gleichen weder vorher noch nachher gehabt hat [sic!]«. Franciscus Clingius (Clinge): Ein Richtiger Wegweiser zu der Einigen Warheit in Erforschung der verborgenen Heimligkeiten der Natuhr [sic!]. Berlin 1701. – Trotz seines entschiedenen Böhmismus wurde von Clinge begrüßt, dass man die Lektüre Böhme’scher Schriften »nicht ohne unterscheid« gestatte und den öffentlichen Böhmianaverkauf verbiete (97). Samuel Richter: Theo-Philosophia Theoretico-Practica, Oder Der wahre Grund Göttlicher und Natürlicher Erkänntniß, Dadurch beyde Tincturen, die Himmlische und Irdische, können erhalten werden (Breslau 1711). In: Ders., Sämtliche Philosophisch- und Chymische Schrifften. Leipzig, Breslau 1741: Richter empfiehlt und zitiert häufig den »Wunder-Mann« Böhme; zum Anti-Böhmismus bes. 403: Ungenannte »Schrifft-Gelehrte«, bei denen es sich um »zänckische Sectirer und Ketzermacher« handele, würden sich »wider GOttes Geist auflehnen«, indem sie die Schriften Böhmes, aber auch Hohenheims, Weigels und Paul Lautensacks, »so durch GOttes Geist geschrieben worden, unterdrücken und mit der grössesten Schärffe verbieten, so wohl zu lesen, als zu verkauffen«. – Zu Richter alias Sincerus Renatus s. zusammenfassend Alchemie. In: Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hrsg. v. Claus Priesner u. Karin Figala. München 1998, 304 f., s. v. (U. Neumann). Ein solches Symptom der Chemisierung Böhmes bietet sich in: Glauberus concentratus, Oder Kern der Glauberischen Schrifften. Hrsg. v. einem Anonymus. Leipzig, Breslau 1715, 445: Behauptet wird eine »Concordantia« Glauberscher Lehre »cum 7. Qualitatibus in Doctrina J. B. T.« Ein Beispiel bietet die an »Nachforscher der Göttlichen, und natürlichen Weißheit zum Erkäntniß grösserer Geheimnissen« adressierte Physikotheologie eines Anwalts der »verborgeneren Chymie«, Georg Friedrich Retzel: Der Sechs Tage-Wercke dieser Welt Geheime Bedeutung Im Spiegel der uhralten/ und Mosaischen Philosophie entdecket. Braunschweig 1722. Retzels Schrift wurde in den »Unschuldigen Nachrichten« (1735) »as a ›fanatical, Böhmistic book›« verurteilt; so John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 2. Glasgow 1906, 257.
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bewirkte – Wiedergeburt des Alchemikers gründeten, in Dippels polemischer Sicht freilich nichts anderes taten »als Gott und der Natur durch Masken etwas abstehlen [zu] wollen«.66 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stand Böhme unter Alchemikern weiterhin in Ansehen: Er fand zu dieser Zeit in dem hessischen Hofbeamten Siegmund Heinrich Güldenfalk (1727/1787) einen Apologeten,67 und mustert man einschlägige Schriften von Johann Salomo Semler (1725/1791), eines Universitätstheologen, der in sich den bahnbrechenden Neologen mit einem stupend beschlagenen Alchemiker zu vereinen wusste, so stößt man hier immer wieder auf besorgte Polemiken wider das »unselige andächtelnde«, dem »Naturheiland« geltende »Laborieren« ungenannter Zeitgenossen.68 Den naheliegenden Verdacht, dass Semlers rabiate Verdikte einer »giftigen«, laut Semler durchaus bedrohlich verbreiteten »Seuche der frömmelnden Alchymie«69 gewisse Zentren der theoalchemischen Böhme-Rezeption einbegriffen,70 bekräftigt denn auch ein Anony66
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Christianus Democritus (Johann Konrad Dippel): Eröffneter Weg zum Frieden mit GOTT und allen Creaturen. Bd. 3. Berleburg 1747, 414: Unter der Überschrift »Absurder Alchymist oder Philosophus adepturiens«. (Gern-Goldmacher.)« (404) bestritt Dippel die böhmistische Doktrin, Voraussetzung des »Lapis«-Gewinns sei eine im Wiedergeburtsgedanken gegründete »übernatürliche Heiligkeit«. – Im Übrigen meinte Dippel unter Verweis auf dessen Briefe, Böhme habe einen schlesischen Mediziner für sich laborieren lassen (ebd., 443); diese Ansicht fasste Dippel wohl aus Kenntnis eines Böhme’schen Schreibens an Johann Daniel Koschwitz vom 3. Juli 1621, in dem es heißt (Böhme, Epistolae Theosophicae [Anm. 2], Sendbrief Nr. 15, 63, Abschn. 10: »Anlangend unser heimliche Abrede, wie euch [Koschwitz] bewust, werdet ihr euch müssen noch ziemliche weil in dem bewusten [von Böhme anschließend in astroalchemischer Allegorik gefaßten] Proceß gedulten«. Außerdem klassifizierte Dippel durchaus unzutreffend die Lehren von Johann Grasse (Dippel: »Graßhauer«) im oft gedruckten »Kleinen und Großen Bauern« (1617) als eine »aus dem übel verstandenen Jacob Böhmen geschöpfte Alchymie« (ebd., 418). – Beachtung verdiente Dippels Behauptung (ebd., 400), Urheber einer unter dem Titel »Microcosmische Vorspiele Des Neuen Himmels und der Neuen Erde« (Amsterdam [recte: Berlin] 1733 u. ö.) erschienenen Theoalchemie sei ein »geschworner Böhmist«. – Zu Dippel resümierend zuletzt Killy Literaturlexikon, Bd. 3 (2008), 42–44, s. v. (E. Fischer/U. Roth). Siegmund Heinrich Güldenfalk: Die himmlische und hermetische Perle oder der [sic!] göttliche und natürliche Tinctur der Weisen. Frankfurt a. M./Leipzig 1785. – Güldenfalks Verteidigung Böhmes galt ausdrücklich Darlegungen des orthodoxen ›Ketzerjägers‹ Christian Wilhelm Oemler. – Zu Güldenfalk s. Jürgen Strein: Siegmund Heinrich Güldenfalks »Sammlung von mehr als 100 Transmutationsgeschichten« (1784). In: Iliaster. Literatur und Naturkunde in der frühen Neuzeit. Festgabe für Joachim Telle zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. Wolf-Dieter Müller-Jahncke. Heidelberg 1999, 275–283. Johann Salomo Semler: Zusätze zu der teutschen Uebersetzung von Fludds Schutzschrift für die Rosenkreuzer. Halle 1785, Widmung an die »Hallische Gesellschaft der Naturforscher« (Halle, 27. November 1784), a6r; eben zu dieser Zeit beobachtete Semler, dass die Schriften Böhmes »immer mehr Liebhaber« fänden (ebd., a4v). Johann Salomo Semler: Hermetische Briefe wider Vorurtheile und Betrügereien. Erste Sammlung. Leipzig 1788, Brief Nr. 1, 6. – So empörte sich Semler etwa auch in: Unparteiische Samlungen zur Historie der Rosenkreuzer. Stück 3. Leipzig 1788, Vorrede: »Die schändliche Betrügerey, so unter der künstlichen [alchemischen] Andächteley fast öffentlich mit dem so genanten Naturheiland oder mit der Tinktur getrieben wird, findet fast keinen Widerstand«. An Semlers ablehnender Position gegenüber böhmistischen Alchemikern kann kein Zweifel sein; dies zeigt etwa seine vernichtende Kritik der »Schmierereien« eines Samuel Richter
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mus: »Kein gifft«, so schäumte dieser aufklärerische Publizist, wirke »gewaltsamer auf den Körper« als die in der »theosophischen [Alchemiker-]Klasse« von Anhängern Heinrich Khunraths und Georg von Wellings (1655/1725)71 geschätzten Lehrschriften »auf den gesunden Verstand«, namentlich Werke der ›Fanatiker‹ Weigel, Aegidius Gutmann (16. Jh.),72 Abraham von Franckenberg, Quirinus Kuhlmann (1651/1689)73 und Swedenborg. Die »sehr bekante Sache«, dass man das »Magisterium« vor allem in der Bibel suche, dokumentiere nichts als den in der »theosophischen Klasse« herrschenden »Wahnsinn«. Höchste Autorität aber genössen bei diesen theosophierenden »Steinforschern« deren »Zunftmeister«: der eine heiße Jakob Böhme, der andere Paracelsus.74 Gott Chronos ist der unbarmherzigsten Götter einer. Ich verzichte hier auf weitere Mitteilungen zur Präsenz Böhmes im theoalchemischen Schriftendschungel der Aufklärungszeit, lasse von allem spröden Faktenkram zugunsten einiger rhapsodischer Schlussbemerkungen. Dass Jakob Böhme, ein der Alchemia practica seiner Zeit ferne stehender homo religiosus, nun gerade unter frühneuzeitlichen Alchemikern als einer ihrer Sachschriftsteller Karriere machte, könnte zunächst befremden, doch haben manche Faktoren Böhmes Wandlungen von einem philosophisch-theologischen Spekulanten in einen Hermes Trismegistus Germanus gefördert. Zu erinnern ist vorab an sein alchemischer Sachprosa abgeborgtes, freilich von Böhme semantisch weitgehend entalchemisiert dargebotenes Vokabular: seinen Gebrauch durchaus auch mäßig gebildeten Nichtalchemikern bekannter Allerweltstermini von ›Essenz‹ über ›Transmutatio‹ bis ›Lapis‹ und ›Tinktur‹ –, und an seinen eigenwillig-entparacelsierenden Aufgriff von Zentralbegriffen der Paracelsischen Drei-Prinzipien-Lehre. Es versteht sich, dass auch seine gelegentlich an ›Artisten‹ bzw. ›Künstler‹ gerichteten Anreden dazu beitrugen, dass Böhme von manchen Alchemikern zu den ihren gezählt worden ist. Keine geringe Rolle spielte bei diesen Mystifikationsvorgängen durchaus im Widerspiel mit zunehmenden ›Mechanisierungen‹ des Weltbildes die von manchen naturprophetischen Äußerungen Böhmes befeuerte Überzeugung, dieser ›Erleuchtete‹ und ›Seher‹ habe im Unterschied zum aristotelistischen Schulgelehrten »allen Geschöpfen gleich-
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(Johann Salomo Semler: Von ächter hermetischer Arzenei. An Herrn Leopold Baron Hirschen in Dresden. Wider falsche Maurer und Rosenkreuzer. Leipzig 1786, 81 f.) oder seine nicht minder harte Kritik am alchemoböhmistischen »Hirtenbrief«, dessen Urheber, so urteilte Semler, ihre »ganze theosophische Anthropologie aus [dem ungenannten] Jac[ob] Böhmen entlenet haben« (Johann Salomo Semler: Briefe an einen Freund in der Schweiz über den Hirtenbrief der unbekanten Obern des Freimaurerordens alten Systems. Leipzig 1786; Zitat: 80). In Böhme selbst aber meinte Semler einen Gesinnungsgenossen rühmen zu können, habe doch Böhme »so viel unaufhörliche Beförderung der ernstlichen freien Privatreligion zusammen gebracht« (ebd., 68) und allem despotischen »Pabsttum« ›die Wurzeln abgeschnitten‹ (72). – Über Semler zusammenfassend: Killy Literaturlexikon, Bd. 10 (2011), 755–757 (D. Kemper). Zu Welling zuletzt Killy Literaturlexikon, Bd. 12 (2011), 281 f. (J. Telle). Zusammenfassend ebd., Bd. 4 (2009), 536 f., s. v. (J. Telle). Vgl. ebd., Bd. 7 (2010), 117–120, s. v. (F. G. Sieveke). Anonymus (Anm. 9), 39 f., Nr. 12, 144.
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sam in das Hertz und in die innerste Natur hinein« geschaut.75 Konvergenzen ergaben sich zudem aus seiner Teilhabe an frühneuzeitlichen Signaturenlehren: Nichts konnte manchen Alchemikern: oft genug Mediziner aus der HermetikerFraktion, die in Signaturenlehren probate Alternativen zu Arzneimittellehren der aristotelisch-galenistischen Schulmedizin begrüßten –, näher liegen als im Signaturenleser Böhme einen ihrer Mitstreiter anzuerkennen. Böhmistische Alchemiker haben aus Böhmes Werk auffällig häufig surrealistisch formierte und mit astroalchemischen Sprachpartikeln durchsetzte Sinnbildsequenzen zitiert und diese ungewöhnlich opaken Zeugnisse einer religiöstheologischen Wissenschaftspoesie alchemisiert: Praktiziert wurde von ihnen dabei nichts weiter als ein unter deutschen Allegorikern der Respublica alchemica durchaus übliches und seit spätmittelalterlichen Zeiten an mythologischen Erzählungen der griechisch-römischen Antike oder Bibeltexten erprobtes Verfahren. Die opak-imaginativen Züge der Böhme’schen Prosa haben geradezu zwangsläufig alle jene Alchemiker gebannt, die nach Allegoristenart meinten, man könne verhüllt beschriebene Geheimnisse der Natur ihrer metaphorischen Hüllen berauben, könne sie rationalisieren und praktisch umsetzen. Diese im Kern neuplatonistische Überzeugung hat die Rezeption Böhmes unter frühneuzeitlichen Alchemikern Deutschlands maßgeblich begünstigt. Das Spektrum der alchemischen Böhme-Rezeption weiter zu erkunden, Verlaufswege, Metamorphosen, Konstellationen zu konturieren, regionale Schwerpunkte und Trägerschichten in helleres Licht zu rücken, – alles dies bleibt Aufgabe, ebenso bleibt der jeweilige Anteil Böhme’scher Lehren an naturkundlichen Konzepten bestimmter Alchemiker und physikotheologischen Entwürfen, aber auch der Anteil genuin paracelsischer (oft unter dem Schilde Böhmes tradierter) Doktrinen und konkurriender Theosophien etwa eines Heinrich Khunrath an böhmistischen Theoalchemien zu klären, gar nicht zu reden von Synthesen, notwendig, wenn es denn um Stellung und Gewicht des alchemischen Böhmismus im Ensemble kultureller Strömungen ginge. Solche Vorhaben nehmen sich heute verwegen und verstiegen aus, steht man doch allzu oft noch am Anfang. Dazu ermuntern kann vielleicht ein Satz, den einst ein Pseudo-Paracelsus einem Luther, Melanchthon und Bugenhagen zurief:76 »Besser ist in der Finsterniß gangen, dann durch ein irriges Licht wenig gesehen«!
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Abraham von Franckenberg: Gründlicher […] Bericht von dem Leben und Abscheid […] Jacob Böhmens. In: De vita et scriptis Jacobi Böhmii. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. X (1988), Abschn. 11, 11. Ps.-Paracelsus: Brief an Martin Luther, Philipp Melanchthon und Johann Bugenhagen (16. Jh.), zit. n. Hartmut Rudolph: Einige Gesichtspunkte zum Thema »Paracelsus und Luther«. In: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung. Folge 22 (1981), 9–26, hier: 11.
Theodor Harmsen
The Reception of Jacob Böhme and Böhmist Theosophy in the Geheime Figuren der Rosenkreuzer
Apocalypsis, ist geistlich, und stecket im Mysterio […] Der Magiam himmlisch angreiffen will, der muss die himmlischen Figuren erkennen […] Johannes Evangelista (oder wer Apocalypsin geschrieben,) hat die Figuren der Magiae Gottes erkant […] Und wiewol es ist, dass sie selber offenbar werden, so gehöret doch ein solcher Magus darzu, der Thesaurinellam verstehet: Er muss alle drey Principia mit ihren Figuren verstehen […] Der Geist muss des Mysterii fähig seyn, dass Gottes Geist in seinem Sehen der Führer sey: sonst stehet er nur im äusseren Mysterio […] er hat nicht die Göttliche magische Schule welche nur blos in einem einfältigen, kindlichen Gemüthe stehet.1
Among the first respondents to the Fama Fraternitatis was the artist and engraver Michael le Blon (1587–1658). Le Blon arrived in Amsterdam in 1612 and responded to the Dutch translation of this famous Rosicrucian call to reform.2 In 1632 he was appointed a newsagent and an informer serving the Swedish Chancellor Oxenstierna, during the reigns of Gustav II Adolf († 1632) and Christina after her coronation in 1644. In the 1640s Le Blon, through his interest in Christian theosophy, befriended the Amsterdam collector, translator and Böhme publisher Abraham Willemsz van Beyerland (1586/7–1648). Both Van Beyerland and Le Blon subsequently maintained a correspondence with Böhme followers in Germany. After Van Beyerland’s death, Le Blon retained contact with his widow and also with his son, Willem Abrahamsz van Beyerland (1627–1669), who inherited his father’s library and the Böhme manuscript collection. The history of Van Beyerland’s collection has been described in Jacob Böhmes Weg in die Welt,3 which introduces various networks in the Netherlands, Germany and England. Le Blon was a networker by trade and, as a double agent for the Swedish court of Gustav Adolf and the English court of Charles I, he moved in the diplomatic-political as well as in the artistic-literary world. Artistic but also family ties may explain how Le Blon became aware of the Rosicrucians in Tübingen. The Le Blon family was connected to the families of Johann Theodor De Bry and Matthäus Merian 1
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Jacob Böhme: Informatorium novissimorum, oder Unterricht von den Letzten Zeiten an Paul Kaym. 2. Theil. Böhme an Paul Kaym [1620]. In: Ders.: Sämtliche Schriften. FaksimileNeudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. StuttgartBad Cannstatt 1955–1961 [»SS«], hier: Bd. V, 438. M[ichel le] B[lon]: Antwort oder Sendtbrief, an die von Gott erleuchte Bruderschafft vom Rosen Creutz. Auff ihre Famam und Confession der Fraternitet. Amsterdam [W. J. Blaeu] 1615. Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007 (Pimander 16).
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(1593–1660), artists, printers and publishers who were closely involved in the battle of Rosicrucian books in the first decades after the publication of the Fama Fraternitatis. Le Blon compiled a list of Böhme followers, which shows he was also actively pursuing the network of those working for the dissemination of Böhme’s thought. The list, annotated and extended by Carlos Gilly in Böhmes Weg in die Welt, gives a very good impression of these earliest circles of Böhme collectors and followers and points the way to the 17th-century interconnections of Böhmist theosophical and early Rosicrucian networks both in Germany and the Netherlands.4 The writings of Böhme were circulating in manuscript from 1618–1619 onwards, after the publication of the Rosicrucian manifestos. Thus Böhme could have taken note of Rosicrucian literature, possibly through such friends as Paul Kaym5 and Balthasar Walther, or other contacts who brought books to his attention. On the other hand, the earliest Rosicrucian circle around Tobias Hess and Johann Valentin Andreae could not have read Böhme before the publication of the manifestos. The first Rosicrucians were inspired by the works of Paracelsus, Weigel, Gutmann and Arndt. The reception and distribution of Böhme’s ideas among the early Rosicrucian sympathizers, including those close to the Tübinger Kreis, will have occurred through people such as Joachim Morsius, Paul Nagel, Michael le Blon, Abraham von Franckenberg and Paul Kaym. Böhme and his followers as well as the Rosicrucians were later discussed in such seminal works as Gottfried Arnold’s Kirchen- und Ketzerhistorie. Throughout the second half of the enlightened 18th century, Paracelsians, Böhmists, Weigelianer, Schwenckfeldianer, Rosicrucians and Herrnhuter Pietists tended to be increasingly lumped together as religious dissenters and Schwärmer (enthusiasts). At the same time, however, the rational theologian Johann Salomo Semler (1725–1791) provides us with much information about contemporary sensitivity to Böhme’s theosophy, especially in his intensive private studies of Hermetism and alchemy. His history of the Rosicrucians and his autobiography both describe the late 18th-century contemporary cultural context in which the Geheime Figuren der Rosenkreuzer was published.6 Die rohen spöttischen und meist unnützen Schriften, des Joh. Valent. Andreä, (der auch den Paul Lautensack unter die Männer rechnet, die eine ungemeine Wissenschaft hatten) Paul Kaim (mit dem Böhme Briefe gewechselt) Weigels gutmeinende Speculationen (der in eben dem Jahr 1619 alle Schriften des Lautensacks herausgegeben, und die Theologie des Paracelsus und Lautensacks zum einzigen Mittel anpreiset, wodurch das verkätzern und verschwärmern aufhören, und wir die heil. Biblia gründlich verstehen lernen würden) und so viele nun neben und auf einander folgende Schriftsteller, die von den beiden Lichtern, der Natur und Gnade, von Christus in uns, vom Licht der Wahrheit in der Bibel, im grossen Weltbuch der Natur, und in uns selbst &c. einen neuen Dialekt, und erbauliche Sprache einführeten, wel4 5 6
Michael le Blon: Index and correspondence. Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 67 Noviss. 4o, 99r-102v; Böhmes Weg in die Welt, 451–456. Cf. P[aul] K[aym]: Sendschreiben an die von Gotthocherleuchte Männer der Fraternitet des Rosencreutzes, n. p. 1616. Johann Salomo Semler: Unparteiische Samlungen zur Historie der Rosenkreuzer. Leipzig 1786–1788; Id.: Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. Halle 1781/82.
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che wirklich nun durch eine grosse Menge teutscher Schriften sich immer mehr ausbreitete: überzeugte mich, daß alle Mühe und Arbeit der eigentlich Gelerten oder ordentlichen Lehrer in Kirchen und Schulen, ganz vergeblich seie, welche sie darauf wendeten, diesen Hang zum Enthusiasmus, wie sie es nanten, bey den Liebhabern und Kennern oder Theilnemern dieser Gesinnung, durch ihre Schriften zu schwächen oder aufzuheben.7
The Geheime Figuren der Rosenkreuzer,8 a Christian theosophical book on the revelation of Jesus Christ, meditating on the two main themes of Creation and the Apocalypse, combined elements from Christian theosophy, Christian cabbalistic magic, number symbolism and theosophical alchemy, spiritual disciplines presented as one approach to the secrets of Creation or Divine Revelation considered in the light of nature or natural philosophy as well as in the light of theology or grace. The manuscript versions of the Geheime Figuren were attributed to the Rosicrucians or »Brothers of Christ« even though the first copies were distributed at a time when the Rosicrucian groups or individuals were even more invisible than before. That the anonymous symbolical compendium was compiled by a Rosicrucian brother was only acknowledged on the title page of a variant version (V) that appeared to have combined two earlier versions (A, B), each with their own title pages. The Bibliotheca Philosophica Hermetica (BPH), Amsterdam, holds a copy of this variant version which does not contain the same series of symbols of yet another version (C) but shares the same title page; version C was ready to be printed by 1766. Can the true historical context of the manuscripts (ca. 1730–1760) and the printed work (1785–1788) be designated Rosicrucian? Even though the printed edition states it reproduced the images and texts from 16th- and 17th-century sources to present Rosicrucian teachings and several of the plates contain explicit references to the Brotherhood, this proves nothing. Historians have long debated whether the Rosicrucian movement actually survived the 17th-century and have tried to find evidence for historical continuity, with little success. Were those responsible for the compilation perhaps reviving an interest in Rosicrucian lore? Did the School referred to on the title page of some manuscript versions (B, C, V) really exist? The latter question recalls the famous search for the real Rosicrucian Brotherhood, or the Brotherhood of Christ (Fraternitatis Christi) in the first half of the 17th century. Where were they to be found and who founded the School? The Brotherhood fell silent and was called upon to reveal and defend itself, to no avail. Order rules and apologies were published by such men as Michael Maier and Robert Fludd while Johann Valentin Andreae declared his project a fiction. Nevertheless, the publication of the Rosicrucian manifestos caused the generation of a remarkable body of literature which stirred the courts and academies of 17th-century Europe. The rise of Freemasonry in Great Britain and later in Germany led to a renewed interest in the Rosicrucian phenomenon as well as to vigorous polemics 7 8
Ibid., Bd. 2, 103. Die Lehren der Rosenkreuzer aus dem 16ten und 17ten Jahrhundert. Oder, Einfältig ABC Büchlein für junge Schüler so sich täglich fleissig üben in der Schule des H. Geistes. Altona: J. D. A. Eckhardt [1785–1788]. Erstes Heft: 1785; zweites Heft: 1788; [drittes Heft: 1788].
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about true origins and identity, about true and false Rosicrucians or Freemasons, by then in the context of the Enlightenment. Rosicrucian preoccupation with the theory and practice of alchemy, traditionally cried down as the pseudo-science of swindlers and cheats, once more became a central concern of the 18th-century Rosicrucians. Members of the 18th-century order of the Gold- und Rosenkreuzer and related Masonic movements were certainly involved in the printing of the Geheime Figuren. Their editorial involvement can be reconstructed: several changes were made, symbols were adapted or newly added; others were merged to form new symbols and several were not included from the manuscript versions; finally, relevant theo-alchemical texts were included and a structural division of the series in three parts was also made. By implication, the late 18th-century Rosicrucian aristocrats were also regarded as frauds. They came to be associated with the Jesuits and when they became involved in Prussian ecclesiastical politics, at least under the leadership of King Friedrich Wilhelm II and his minister, the Gold- und Rosenkreuzer Johann Christoph Wöllner, they came to be considered a reactionary threat. The various contexts in the period 1600–1800 might shed more light on questions regarding the compilation and distribution of the Geheime Figuren as well as the possible connections with the 17th-century Rosicrucians and the followers of Jacob Böhme. It is clear from the start that it will require a long and meandering approach through worlds of mystical theology and natural philosophy, theosophy, cabbala and alchemy. The school was presented as a Schule der Weisheit … A school with schoolbooks, or rather – it was no university for learned intellectuals – with only the one Book of Life. In 1703 a collection of tracts for use in such an initiatory school was published under the pseudonym of Theophilus. The contents of his rare Schola Sapientum, Das ist: Schul der Weisen (Abb. 1) is closely related to the materials offered in the ABC Book. It is in fact a Böhmist work about Creation and Revelation and based largely on Böhme’s Mysterium Magnum. It reproduces a scheme of three principles from Böhme’s Clavis which was also included in the Geheime Figuren, and it presents the same kind of number symbolism used in the Geheime Figuren. A frontispiece symbol visualizes its teachings and is analyzed in a detailed description of the various elements in the engraving: Summa, hierin ist alles verfasset, was zu unserer Schule gehöret, was wir darin die Zeit unsers Lebens zu studiren haben, die gantze Offenbahrung Jesu Christi, und mögen wir in Warheit davon sagen, daß sie (die Wunder-Kugel) unserer Schola Sapientum ähnlich ist; dann das Buch unserer Kugel selber gleichet, und ähnlich seyn kan.9
The Book of wisdom teaches you who you are, and the Weigelian Gnothi Seauton, Erkenne dich selbst, is also the main lesson in the Geheime Figuren.
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Schola Sapientum, Das ist: Schul der Weisen: Verfasset in unterschiedlichen MystischTheologischen Tractaten, gestiftet durch Theophilum [1703, reissue:] 1711. Copy in BPH, Amsterdam.
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Abb. 1: Theophilus: Schola Sapientum (1711). Copy BPH, Amsterdam.
The editorial hand of Benedikt Biedermann (ca. 1543–1621), Valentin Weigel’s successor as pastor of Zschopau, can be detected in many of the works traditionally attributed to the mystical theologian. The discussion about original and Pseudo-Weigel texts is an ongoing one10 but irrelevant in the context of the reception history of (Pseudo-)Weigel’s theosophy and its transmission in the Geheime Figuren. Biedermann’s texts were published under Weigel’s name in 1618/19 and most were republished towards the end of the century, from about 1695 to 1700. Clearly at that time they were still considered to be original works by Weigel. Of the Gnothi Seauton series, the original first part is still attributed to Weigel though edited by Biedermann, but the two subsequent volumes were written by Biedermann. The volumes were summarized in his compact Studium universale, Das ist, Alles dasjenige, so von Anfang der Welt biss and das Ende
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Cf. Fritz Lieb: Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte und das Schrifttum seines Schülers Benedikt Biedermann. Eine literarkritische Untersuchung zur mystischen Theologie des 16. Jahrhunderts. Zürich 1962; Horst Pfefferl: Valentin Weigel. Sämtliche Schriften. Begründet von Will-Erich Peuckert u. Winfried Zeller [6 Bde. 1962–1978]. Neue Edition, Bd. 3, 4, 7, 8, 9 u. 11. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 ff.
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je gelebet, geschrieben, gelesen, oder gelernet, und noch geschrieben oder gestudiret werden möchte.11 The 1695 edition of Studium Universale was the first to contain the symbolic engraving of the Baum der Erkenntnis (Abb. 2), a symbol that was included in the first manuscript version of the Geheime Figuren (A).
Abb. 2: [Benedikt Biedermann:] Studium Universale (1695)
It was subsequently left out of Physica, Metaphysica et Hyperphysica (version B) – which was compiled about the same time or somewhat later – and reintroduced in the series of version C. Finally, the symbol was printed in the Altona edition together with the explicatory text lifted from Studium Universale. This information is important in dating the first manuscript copies. It was overlooked by Will-Erich Peuckert when he described in his study Die Rosenkreutzer (1928) a B-version manuscript (now in Wrocław University Library) that did not include the symbol from Studium Universale. On the basis of a reference to Sendivogius 11
First published by Johann Knuber, Newenstadt [Halle] 1618; repr. 1695, 1698 and 1700. Pfefferl disagrees with Lieb on its date of composition. Pfefferl argues it was written in 1580, i. e. before Gnothi Seauton, Lieb dates it to 1590, i. e. after the three volumes of the larger work. The date is relevant for the argument about Biedermann’s first mention in print of the works of Paul Lautensack.
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in his copy, Peuckert dated the work to the middle of the 17th century, which is too early.12 In Studium Universale, Biedermann presents three schools and they teach from three books that are not written on paper by any bookish academics (»Buchstäbische Gelehrten«): Das erste grosse Buch ist der Erden-Kloß, diese grosse Welt mit allen Geschöpffen. Das ander grosse Buch, das Gott machet, drucket, verkäuffet, ist Jesus Christus Gott und Mensch, der gecreutzigte Herre. Das dritte grosse Buch ist der Mensche, qui est omnis Creatura, Da hast du die drey leiblichen zeitlichen Personen, den Vater, den Sohn und Heiligen Geist: Diese drey führen dich zu den dreyen ewigen himmlischen Personen, Vater, Sohn, Heiligem Geist, einem ewigen Gotte. […] Daß aber die Heilige Dreyfaltigkeit zwiefach müsse erkennet werden, hat seine gewisse Ursachen, wie man in Theologia Cabalisticè beweisen kan. […] Jesus Christus […] das Buch inwendig und auswendig geschrieben: das ist: Er ist Geist und Fleisch, Gott und Mensche innerlich und äusserlich, ewig und zeitlich. […] Darum ist dies[e] Person das Lamb mit zweyen Hörnern, das ist, mit zweyen Reichen, himmlisch und irrdisch, unsichtbar und sichtbar, ewig und zeitlich.13
The Biedermann texts are crucial sources even though none of them bear any theo-alchemical stamp apart from general Paracelsian (Weigelian) elements: the compilers of the secret symbols will not have found the combined theosophicalalchemical symbolic language here. Yet unlike Weigel’s works, Biedermann’s texts use textual elements from the works of Paul Lautensack (1478–1558). Towards the end of his career Biedermann edited, reworked and published Lautensack’s manuscript works in several volumes which also contained graphic reproductions of Lautensack’s artwork; all of these were published by the well-known publisher of Rosicrucian literature, Lucas Jennis, in 1619. Lautensack, mystical painter and interpreter of the Book of Revelation, was known among such Rosicrucians as Johann Valentin Andreae as well as among chiliasts, Böhmists, Rosicrucian sympathizers and Abraham von Franckenberg’s circle alike. Another series of manuscript works with a Rosicrucian connotation must be referred to here. These were works by the pseudonymous Helias Christi Romanus, possibly a Rosicrucian sympathizer who produced manuscripts with symbols and texts based on Lautensackian and Pseudo-Weigelian elements. The copyist of the Berlin manuscript of the Geheime Figuren, J. P. Köckritz, made notes from several of these manuscripts in his workbook in the 1780s, clearly recognizing the connection with the Geheime Figuren. One of these works is in the Masonic Library in The Hague. The full title of the manuscript runs: Theoria Spiritus Sancti siue Universale Divinissimum secretissimum qua studium et ad omne genus scientiarum. Clavis Davidis. Wie Der Mensch auß Gott ohne Menschen Bücher in ihme Selbsten gründlich Alles Durchs + Erlernen könne in Kurtzer Zeitt waß im Himmel und auff Erden ist, Und daß ein Jeder in Seiner Muetter Sprach, Insonderheitt Vornemblich die gantz Heÿlige Schrifft, waß auch der Verstand, der aller Gheimisten Sprüch, seÿ, unnd
12 13
Will-Erich Peuckert: Die Rosenkreutzer. Zur Geschichte einer Reformation. Jena 1928, 435–439. [Benedikt Biedermann:] Studium Universale. Edn. 1698, sig. A5v–A6.
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wie sein Name im Himmel angeschrieben Stehe Erkönnen möge. Dedicirt Den geheimen Unnd Verborgnen im Land Von HELIA CHRISTI ROMANO F. + S. Anno 1622.
It contains three parts: I. Das Erste Große Buch die große Welt, II. Das Ander große Buech Microcosmus. Die kleine Weltt, III. Das dritte große Buch Apocalypsis Jesu Christi. The manuscript copy in The Hague contains many symbols related to Lautensack/ Pseudo-Weigel. There here is some astrology but no alchemy in the manuscript.14 Clearly, Lautensack was studied intensively not only by Biedermann but also by Paul Kaym, an important friend and correspondent of Böhme’s. Böhme commented on Kaym’s Drey unterschiedliche Tractat, which contains Lautensack’s writings almost complete, in the two-part letter on the Book of Revelation. After Böhme’s criticism, Kaym revised his text from 1624 to 1626.15 In Kaym’s study of Lautensack, Paracelsian (alchemical) principles are referred to in the text. Böhme, however, in his 1620 letters to Kaym, wrote in terms of magic and did not use alchemical terminology in this context of the Book of Revelation. Texts and symbols in the Geheime Figuren were mostly taken from and can be traced to printed sources. Nevertheless, the images were compiled, even adapted, to form parts of a new and original concept. This concept at some early stage followed the idea of a school book, an ABC Book. This book contains within its pages the depiction of another book, not the Book of Revelation itself, but the Buch mit den Sieben Siegeln from St. John’s vision. Texts from Biedermann’s Lautensack editions were adapted to form part of the Revelation series of plates concerning the closed and open Book of seven seals in the manuscripts and in the printed edition of the Geheime Figuren der Rosenkreuzer.16 Other themes and images were introduced from the same Book of Revelation: among the most important was the Virgin of the Apocalypse, which, in theosophical (Rosicrucian, Böhmist and Radical Pietist) writings as well as in the Geheime Figuren, is merged with Eve, Mary, the alchemical virgin and with Sophia. Before the creation of this complex image in the Geheime Figuren, no artist appears to have illustrated Böhme’s Sophia except for the London based Böhme explicator and Philadelphian, Dionysius Andreas Freher.17 Böhme provided the symbol for his concept of wisdom in visionary language: Du musts also verstehen: Die ewige Jungfraw der Weißheit stund im Paradeiß als eine Figur, in welcher alle Wunder Gottes erkandt wurden, und die war in ihrer Figur eine Bildnuß in sich selber, aber ohne Wesen, gleich dem Menschen: Und aus derselben Jungfraw schuff Gott der Erden Matricem, daß es ein sichtlich begreifflich Bild im Wäsen wäre, darinnen 14 15
16
17
J. P. Köckritz, MS: Berlin, Staatsbibliothek, MS Germ. fol. 1697; Helia Christi Romano: The Hague, CMC Library, MS 191.D.2. Cf. Carlos Gilly: Wege der Verbreitung von Jacob Böhmes Schriften. In: Böhmes Weg in die Welt (not. 3), 73, 410. Gilly located Kaym’s original manuscript in Copenhagen University Library, MS Thott 39 fol. [Benedikt Biedermann:] Ander Theil, Darinn begrieffen die Erklehrung mit Figuren und Sprüchen Heyliger Schrifft uber vorgehende Bücherlein Pauli Lautensacci. Frankfurt a. M.: Lucas Jennis 1619, 166–169. Freher’s multi-layered symbols of the Three Tables of Man were first published in William Law’s edition The Works of Jacob Behmen, 1764–1781. Sophia appears in The Third Table.
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Himmel, Erde, Sternen und Elementen im Wesen stünden, und alles was lebet und webet, das war in diesem einigen Bilde. Die Matrix der Erden kondte ihn nicht bändigen, viel weniger die äussere Elementen, denn er war einen Grad höher als sie alle, Er hatte die unverwesliche Wesenheit mit der Jungfrawen empfangen: Nicht war die Jungfraw in das Bild gebracht, sondern die Matrix der Erden war in das Jungfräwliche Bild gebracht. Denn die Jungfraw ist ewig, ungeschaffen und ungebohren: Sie ist Gottes Weisheit und ein Ebenbild der Gottheit in Ternario Sancto nach der Dreyzahl, und aller ewigen Wunder des ewigen Centri Naturae, und wird in der Mayestät in den Wundern Gottes erkandt, denn sie ist, die da darstellet ins Liecht das Verborgene der Tieffe der Gottheit. Also sehet ihr lieben Menschen, was ihr seyd.18
The first main source for a thematic series of symbols of the Geheime Figuren in its manuscript versions (A, B) appears to have been Lautensack, mainly in Biedermann’s and, possibly at a later stage (C version), also in Kaym’s reception of the work. This way the manuscripts introduce the influential book metaphor, the Buch des Lebens (a book referred to in the Book of Revelation) and its many variants, of which the Buch der Natur is one of the most important. Johann Arndt’s Vier Bücher des wahren Christentum (1605–1610) and Pseudo-Paracelsus, Phi[lo]sophiae ad Athenienses, drey Bücher (1564) as well as Böhme’s works form part of this mystical-theological tradition. Less discussed works in this context are Christianus Theophilus (Pseudo-Weigel) Liber Vitae Aureus. Gülden Büchlein des Lebens, Erfurt 1621 (Abb. 3), Paul Felgenhauer, Das Büchlein Iehi or, oder Morgenröhte der Weißheit (1640, reprinted in 1762)19 and again that other ›course-book‹: Biedermann’s Studium Universale.20 The full title of this Pseudo-Weigel text21 not only shows that the subject matter is similar to the Geheime Figuren, it also presents the pseudonymous author as a senior in the »College of the Holy Spirit« or the »Brotherhood of Christ«. Even its presentation on the title page as a gift for the new year appears to be 18 19 20
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Jacob Böhme: Vom dreyfachen Leben des Menschen. In: SS, Bd. III, Kap. 11, 13–15. First published as: Aurora sapientiae, Das ist Morgenröthe der Weisheit. [Amsterdam] 1629. For the tradition of Libri Dei cf. Hermann Geyer: Libri Dei. Die Buchmetaphorik von Johann Arndts »Vier Büchern von wahren Christentum« als theosophisch-theologisches Programm. In: Hans Otte, Hans Schneider (eds.): Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die »Vier Bücher vom wahren Christentum«, Göttingen 2007 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 40), 129–162; vgl. Sibylle Rusterholz: Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme. In: Jan Garewicz/Alois Maria Haas (Hrsg.): Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jakob Böhmes und seiner Rezeption. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 24), 129–146. Liber Vitae aureus. Gülden Büchlein des Lebens, mit sieben eröffneten Siegeln, Darinn findet ein frommes Hertz I. Die siebende Vision im 21. 22. Apoc. Joh: Sonderlich das Newe Jerusalem, die Heilige Stadt Gottes, nach einer Summarischen Description und dreyfacher Explication. II. Ein Itinerarium oder Wegzeiger, wie einer ohne Irrung durch sieben Feldweges, gestracks an den Berg Sion gelangen, in die darauff erbawete Stadt ohne Hinderung gehen, des Bürgerrechts und alle der Stadt Frey und Herrligkeiten, hiezeitlich jnchoativè, theilhafftig werden, und in alle Ewigkeit completivè & perfectivè verbleiben kan. è Collegio Spiritus Sancti, Der Gemeine im Reich Christi zum newen Jahr geschenckt, per Christianum Theophilum è saniore Fraternitate Christi. Bey Johan Bischoffen, Buchhändlern in Erffurd zufinden. Anno 1621.
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referred to on the Geheime Figuren title page (version B). In the Altona edition the Brotherhood of Christ is identified with the Rosicrucian Brotherhood. The pseudonymous Christianus Theophilus22 is listed with two works in Johann Christoph Lenz’s bibliography of Rosicrucian literature published in his edition of the Missiv in 1783.23 The original title page symbol was included in the symbol entitled Jesus in the Altona edition as well.
Abb. 3: Christianus Theophilus: Liber vitae aureus (1621)
22 23
He appears to have been associated with Weigel later: Wegzeiger possibly triggered Wegweiser, a pseudonym used by Biedermann for Weigel. [Polycarpus Chrysostomus:] Missiv an die Hocherleuchtete Brüderschaft des Ordens des Goldenen und Rosenkreutzes … Nebst einem noch nie im Druck erschienenen vollständigen historisch-kritischen Verzeichniß von 200 Rosenkreutzerschriften vom Jahre 1614 bis 1783. Hrsg. v. T. Y. R. [Johann Christoph Lenz]. Leipzig: Adam Friedrich Böhme 1783, 54–55.
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Böhme’s writings were influential among followers of various affiliations, theosophists, theosophical alchemists, Rosicrucians, Pietists, Radical Pietists, many of whose printed volumes contain the theo-alchemical, chiliast and magic-cabbalistic metaphorical language used in the Geheime Figuren. The theo-alchemist Georg von Welling († 1727) comes to mind, especially because of the many wonderful images he described and depicted in his Opus Mago-Cabbalisticum. Welling’s editors were Samuel Richter († 1722), who published the first part in 1719, and the Radical Pietist Christoph Schütz, who was responsible for the first full edition of the work in 1735, at the time when the first Geheime Figuren manuscripts were being copied. Whether there was a connection with the Geheime Figuren manuscripts is hard to say, especially also as other theo-alchemical texts were published at the same time and throughout the 18th century. Thus a much later (Gold- und Rosenkreuzer) publication of excerpts and writings based on (Pseudo)-Weigel, Himmlisch Manna Azoth et Ignis (1787), introduced Weigel as a theo-alchemical writer. Textually it is closer to the Geheime Figuren than Welling’s use of alchemical language in his Opus Mago-cabbalisticum.24 Welling’s Böhmism may have been an indirect influence on the Geheime Figuren, possibly even through the works of Richter and Schütz (and their circles of friends) who should be considered as mediators. There is a reference on the title page of Mysterium Magnum Studium Universale (version A) to the Gold- und Rosenkreuzer order rules published by Richter. Included on this title page is part of the text of rule 11, which deals with the symbol of the cross (Siegel) for each brother and bearing his name and the text of the Rosicrucian greeting. The title may thus refer to Richter’s publication as well as to Pseudo-Weigel.25 Richter’s own Böhmist works such as his Theo-philosophia theoretico-practica could well have been consulted for the influx of Böhmist thought and imagery into the Geheime Figuren der Rosenkreuzer manuscripts and thus finally into the printed edition. Semler knew Richter’s works and reflecting on theosophical enthusiasts (quoted above) he might have had this passage from Richter in mind: Jetzt angeführter Wunder-Mann, Jacob Böhme, hat uns bereits darinnen die Bahn gebrochen, und gute Anleitung darzu gegeben, weßwegen ich auch eine Passage, so ich zu dieser Erkänntniss am deutlichsten erachtet, dem geneigten Leser, der etwan dergleichen Schrifften nicht zur Hand hat, mit eingeschoben. Es wäre zu wünschen, daß dessen Schrifften besser hervor gesucht, und in der Furcht und Liebe Gottes, nicht aber in der Eigenheit, statt unser
24 25
[Ps.-]Valentin Weigel: Himmlisch Manna, Azoth et Ignis, das ist: Güldenes Kleinod, handelnde von dem köstlichen Eckstein der Natur. Amsterdam/Frankfurt a. M./Leipzig 1787. Sincerus Renatus [Samuel Richter]: Die Wahrhaffte und vollkommene Bereitung Des Philosophischen Steins, Der Brüderschafft aus dem Orden Des Gülden- und Rosen-Creutzes. Breslau 1710 (and edn. 1714). The Italian order rules, on which Richter based his version, contains the same text under rule 11. Napels, BN, cod. XII-E-30, ff. 226r-242v: Osservationi inviolabili da osservarsi dalli fratelli dell’Aurea Croce, o vero dell’Aurea Rosa precedenti la solita professione, 230v-231r. The Italian alchemical texts, however, lack the Böhmist symbols in the beginning series of version A. This makes Richter’s German work the more likely source. Cf. Carlos Gilly in: Carlos Gilly/Cis van Heertum (Hrsg.): Magia, Alchimia, Scienza dal ›400 al ›700, L’influsso die Ermete Trismegisto/ Magic, alchemy and science, The influence of Hermes Trismegistus. Florence 2002, 2, 225–228.
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heydnischen grillenfängerischen und phantastischen Schul-Philosophie tractiret würden, wir würden eine weit reinere Philosophie bekommen, auch daraus realere Wissenschaften erlangen. Es ist ja zu beklagen, daß, da sonst allerhand unnöthige Bücher aufgeleget werden, nicht auch dieses mannes hocherleuchtete Schrifften zum Druck befördert werden, wodurch manch gutes Gemüth verhindert wird, welches vielleicht hieraus könnte Verstand schöpffen, und hernach zur Ehre Gottes dem Neben-Menschen dienen. Das Aergste ist, daß unsere Schrifft-Gelehrten sich so gar wider Gottes Geist auflehnen, und dergleichen gute Schrifften, so durch Gottes Geist geschrieben worden, unterdrücken, und mit der grössesten Schärffe verbieten, so wohl zu lesen, als zu verkauffen. Wie viel gute Schrifften haben sich doch verkrochen, die man fast nicht mehr zu Gesichte gekommen kan? als: des Weigelii, Theophrasti Paracelsi, Paul Lautensacks, jetzt gedachten Jacob Böhmens, und andere dergleichen mehr; der Nahme Ketzer schreckt manches noch gutes Gemüthe ab, daß er sie nicht lieset, nicht wissende, dass solche Ketzermacher sich selber in ihren schmähsüchtigen Widerlegungen als formale Ketzer characterisiren. GOTT gebe uns einmal bessere Zeiten, und mache solche unnütze zänckische Sectirer und Ketzermacher durch Rettung und Offenbahrung seiner Wahrheit zu Schanden.26
Schütz, as we know from Joachim Telle’s study,27 added texts of his own to the first full publication of Welling’s work and could also be considered a Böhmist, or a Radical Pietist influenced by Böhme. Finally, there are no clear reproductions or even citations of Welling’s symbols in the Geheime Figuren. Yet the historical context of Radical Pietism and its theo-alchemical spirituality is clearly relevant to the history of the Geheime Figuren.28 When we consider theo-alchemy and the imagery used, Heinrich Khunrath is of course equally significant. Though the Rosicrucian Andreae deprecated Khunrath and his work, most Rosicrucian sympathizers were more positive. Johann Arndt wrote his famous Judicium on Khunrath’s symbols (this work was reprinted by Lenz).29 Perhaps once more rather unexpectedly, there are no reproductions from Khunrath’s theo-alchemical symbols in the Geheime Figuren. Yet, indirect borrowings of Khunrath’s iconography can be traced to the Rosicrucian and chiliast symbolic engravings in the works of Daniel Mögling and Stefan Michelspacher, who were responsible for the beginnings of Rosicrucian iconography. Especially Daniel Mögling, also known by the pseudonym of Theophilus Schweighardt, explained Rosicrucian theosophical ideas and illustrated them with emblematic engravings executed by Matthäus Merian in a series of programmatic Rosicrucian writings that appeared under several pseudonyms. One 26
27 28
29
Sincerus Renatus [Samuel Richter]: Theo-philosophia theoretico-practica, oder Der wahre Grund goettlicher natuerlicher Erkaenntniss (edn. 1711 and 1714); here: ed. 1741, 402– 403. Joachim Telle: Zum Opus mago-cabbalisticum et theosophicum von Georg v. Welling. In: Euphorion 77 (1983), 359–379. Cf. Christa Habrich: Alchemie und Chemie in der pietistischen Tradition. In: Goethe und der Pietismus. Hrsg. v. Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider. Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen 6), 45–77. I. Y. R. [Johann Christoph Lenz] (Hrsg.): Heinrich Khunrath. De igne magorum Philosophorumque secreto externo et visibili, das ist, philosophische Erklärung des geheimen, äusserlichen, sichtbaren Glut- und Flammenfeurs der uralten Weisen und andrer wahren Philosophen … Nebst Johann Arndts philosophisch-kabalistischen Judicio über die vier ersten Figuren des grossen Khunrathischen Amphitheaters. Leipzig 1783.
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of Mögling’s central concepts (following Julianus de Campis in his answer to the Rosicrucians of 1615), also in his Speculum Sophicum Rhodo-Stauroticum and in Pandora, was that of the ABC Book: Verstehe mich was ich sage, es ist ein Buch, ein Buch sag ich, ein grosses Buch, wann du verstehest, was darinnen geschriben, so bist ein Rosencreutzer. Darffst dir aber nicht einbilden, das solches Buch zu Franckfurt, Leipzig, Amsterdam, Rom oder gar in Utopia zuverkauffen sey, Nein gar nit, es ist den Buchhendlern zutheur, und vermags keiner zuverlegen, Die Brüder aber wissens, wo es ist, und lesen darin täglich, du aber stehest dabey, sihest es an, wie ein Kuh ein neu Stadelthor, beduncken dich Böhmische Dörffer. Warumb? Dieweil du das Alphabeth nicht recht gelernt, dessen Clavis unter dem gewalt Jehovae.30
Indirectly, these symbolic elements recur in new combinations in the Geheime Figuren. Mögling’s symbols and texts from his Speculum are especially cited in the Sophia symbol. In addition, the Poculum Pansophicum symbol was added to the printed series later. As in Khunrath’s Amphitheatrum, both Mögling’s and Michelspacher’s works merged Rosicrucian theosophy and chiliasm with alchemy, cabbala and magic. Christian theosophical heosophical or theo-alchemical and cabbalist illustrations were not often produced in the Rosicrucian literature but could be found in the medieval manuscript tradition and in the various editions of the works of Jacob Böhme and his Radical Pietist followers. One could therefore argue that Mögling’s Speculum or Michelspacher’s Cabala, Spiegel der Kunst und Natur: in Alchymia (1616), two explicit Rosicrucian works influenced by Khunrath’s symbols, would have been obvious first choices for the compilers of the Geheime Figuren. Among friends and members of various groups and networks, Rosicrucian and Böhmist theosophists established contact and merged their ideas from the first years after the publication of the manifestos to the 1620–1630s. Important figures in these networks of Rosicrucians, Böhmist theosophists, chiliasts, Radical Pietists, cultural and political agents, artists and engravers, printers and publishers were Daniel Mögling, Adam Haslmayr, Joachim Morsius, Carl Widemann, Julius Sperber, Wilhelm Schickhard, Johannes Faulhaber, Paul Nagel, Paul Felgenhauer, Paul Kaym, Georg Lorenz Seidenbecher, Abraham von Franckenberg, A. W. van Beyerland, Michael le Blon, Christoffel le Blon, Matthäus Merian, Lucas Jennis, Wilhelm Schwartz and Heinrich Betkius. It is remarkable however, especially considering the established and close connections in the circles of book production at the time, that influential printed images available in the works of Khunrath, Weigel (Ps.-Weigel), Robert Fludd and Michael Maier were not included in the series: clearly the editors made very conscious choices. It was during this period that Rosicrucian theosophical and alchemical languages began to merge, a process that would continue; in fact theo-alchemical and Hermetic texts that appeared before the manifestos are equally relevant but must
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[Daniel Mögling/] Theophilus Schweighardt: Pandora sextae aetatis, sive speculum gratiae Das ist: die gantze Kunst und Wissenschaft der von Gott hocherleuchten Fraternitet Christiani Rosencreutz (1617), 7–8.
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be left out here.31 This merging had occurred at the time of origin of the Mysterium Magnum Studium Universale version at the beginning of the 18th century, nevertheless ca. 100 years after the Fama. The gap that historians have tried to fill for the sake of the continuity of Rosicrucian thought does not really exist as Rosicrucianism was present in a broad tradition of Hermetic-theosophical thinking. However, there is clearly a gap when it comes to the historical organization: the 17th- century Brotherhood was fictitious to begin with and the fully organized secret society of Gold- und Rosenkreuzer existed from the 1760s to the late 1780s only. The true, esoteric understanding of the Brotherhood was exemplified by the same Samuel Richter who printed the rules of the Gold- und Rosenkreuzer order and thereafter answered a fellow Radical Pietist, Polycarpus Chrysostomus, author of the Missiv. Es ist neulich durch meinen ersten Tractat, genannt: Wahrhaffte und vollkommene Bereitung des Philosophischen Steins der Brüderschaft aus dem Orden des Göldnen und RosenCreutzes etc. ein Besitzer der Hermetischen Wissenschafften aufgewecket und veranlasset worden, einen Tractat heraus zu geben, genannt: Antrum naturae & Artis reclusum, oder Geheimnissvolle eröffnete Höle der Natur und Kunst etc. für welchen […] Mich aber vor meine Person recht gegen denselben zu expliciren; So wisse er, geheimer Freund Gottes, dass ich vor meine Person nicht unter die werthe Brüderschafft derer unsichtbaren Rosen-Creutzer gehöre, obschon genugsame Connoissance von ihnen habe. Denn ich habe aus dessen Tractat dieses fast geschlossen, dass [ich] bey demselben in dieser Praesumption stehe, dessen ich mich aber nicht annehmen kan, obschon diesen geheimen Freunden Gottes im Geiste mit einer wahren Brüderschafft verbunden; so stehe [ich] doch nicht äusserlich unter ihrer Ordnung; sondern bin eine Person, welche dem unsichtbaren Gott im verborgenen Tempel, vor dem Altar Jesu Christi, im Geist und in der Wahrheit dienet, als ein geistlicher Melchisedischer Priester, so vor die Presse seiner Brüder stehen, und mit dem Zorn in der Liebe Jesu ringen muss […] Er, liebster Freund, sehnet sich, in die Gemeinschafft und Bekanntschafft gedachter Brüderschafft zu kommen, und von ihnen aufgenommen zu werden.32
The merging of theosophy and alchemy did of course not originate with Böhme. In fact, Böhme’s theo-alchemical texts (such as De Signatura Rerum) were not cited in the Geheime Figuren manuscripts. Yet, in the Altona edition (but not in any of the manuscript versions) one of the plates reproduces a cut-and-pasted theo-alchemical text on the Eucharist from Böhme’s Von Christi Testamenten. It is combined with a symbol taken not from Böhme but from the Helleleuchtender Hertzens-Spiegel, which was itself a selection of devotional texts from mystical writers such as Johannes Tauler and Gottfried Arnold and is often ascribed to Paul Kaym and the engraver and Böhme portraitist Nikolaus Häublin, who edited the work. It was published by Heinrich Betkius in 1680 (Abb. 4). 31 32
See e. g. Occulta philosophia, based on Basilius Valentinus (Johann Thölde), published by Bringer 1613, and other illustrated editions of works attributed to Valentinus. Sincerus Renatus [Samuel Richter]: Goldene Quelle der Natur und Kunst. Breslau 1711, sig. X3r-v. Cf. [Polycarpus Chrysostomus = Georg Christoph Brendel?:] Missiv. In: Christoph von Hellwig: Casus et observationes medicinales, anatomicae, chymicae, chirurgicae, physicae, &c. rariores, selectae & curiosae, Oder: Curieuse und nützliche Anmerckungen. Frankfurt a. M./Leipzig 1711; also in: [Johannis Hiskias Cardilucius], Antrum naturae et artis reclusum, n. p. 1710; and in: [Lenz] (not. 23), sig. A4r-v.
Abb. 4: Geheime Figuren 1785–1788: Esset meine Lieben (sources: Jacob Böhme: Von Christi Testamenten. In: [Paul Kaym/Nikolaus Häublin (Hrsg.):] Helleleuchtender Hertzens-Spiegel).
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Another influential theo-alchemical author was Johann Ambrosius Siebmacher (Ulrich Bachsmeier von Regensbrun; ca. 1561–1611). His Wasserstein der Weisen was published first by Lucas Jennis in 1619, a printer-publisher and bookseller who moved in Rosicrucian circles in the early 17th century. It was reprinted by Christoffel Le Blon, brother of the Böhmist Michael Le Blon, in 1661. Perhaps the many reprinted versions of this popular work that Böhme himself recommended (Theosophische Sendbriefe, Nr. 28 [1622]) will have been consulted by the compilers and/or the editors of the Geheime Figuren. The 18th-century reprints confirm the Rosicrucian association of the work with Rosicrucian textual materials added to the edition, e. g. in 1661, 1710, 1743 and 1760. Other works attributed to Siebmacher might also have been taken into account, e. g. in the collection of works attributed to Paracelsus and Weigel, the Philosophia mystica, with the text Introductio Hominis published (also by Lucas Jennis) in 1618 and finally also Das güldne Vliess, not published until 1736 and 1737 (but referred to in Introductio Hominis), with another impressive series of texts, poems, Bible citations and engraved symbols, some of which show the same Christian-theosophical and alchemical emphasis as the printed additions to the Geheime Figuren. The philosophical mirror (Speculum Philosophorum), a fold-out image which is bound with both editions of Das güldne Vliess, already occurs in the manuscript versions of the Geheime Figuren. Impressive in Das güldne Vliess is the comparative scheme Comparatio Lapidis Philosophici & Theologici, especially because of its visualized parallel structure that is also a recurring structural element in the Geheime Figuren. Philosophy and Theology are combined and studying or ›Philosophieren‹ (philosophizing) becomes ›Laborieren‹, Ora et Labora. The Stone in one of the symbols becomes the Theosophist’s Stone: Lapis Theosophorum. Many of the Bible citations and metaphors in Das Güldne Vliess as well as in Wasserstein der Weisen (e. g. Grundstein/Eckstein and Christ as the Philosopher’s Stone) recur in the Geheime Figuren especially in the additional plates of the Altona edition which tend to combine texts and symbols from different printed sources. In Pseudo-Weigel, Himmlisch Manna,33 Christ is associated with the ›Eckstein der Natur‹. Most importantly, Siebmacher’s alchemical theosophy clearly fills in the natural philosophical contents of the Buch der Natur with alchemical language and imagery that inspired Geheime Figuren plates such as Sophia with its detailed theo-alchemical components. The presence of Böhme in the manuscript Geheime Figuren may after all appear limited if we consider the plates but, as in the case of Lautensack’s apocalypticism, Böhme’s thought on Creation indirectly plays through all the symbols, both in the manuscript and printed versions. Much of what can be traced to Mysterium Magnum Studium Universale (A) might of course as well stem from Paracelsus and Böhmist works such as Reger von Ehrenhart’s Das Buch Amor Proximi (1686, 1746, 1782), and related 18th-century theosophical manuscripts might have been just as relevant as immediate source materials. However, the A 33
Cf. not. 21.
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version of the manuscript does include Böhme’s influential Tabelle von den drei Prinzipien, the second symbol after the title page Mysterium Magnum Studium Universale. Curiously enough, the B version no longer includes this scheme, nor the symbol of the Baum der Erkenntnis. This B version is more Lautensackian as the symbols that do not occur in A are also based on Lautensack’s linguistic and symbolic concepts of Revelation. In addition, this suggests that B rather than A presents the complete series of symbols as originally intended. The complications of the relationship of A and B versions and their dating, as well as other related theosophical manuscripts will be dealt with in my forthcoming edition of the Geheime Figuren. Yet, in the third manuscript version (C), one that was ready to be printed in 1766, Böhme and especially Böhmism (Böhmist theo-alchemy) appear to return with a vengeance. Its contents were described in great detail in Johann Christoph Lenz’s anonymously published 18th-century bibliography of Rosicrucian literature. It is not clear who was behind the project though Lenz borrowed the description of the work from the bookseller Friedrich Christian Ritter who had announced his intention to print 100 copies to be published by subscription in Hamburg.34 When towards the end of the century the secret symbols were published in Altona, several of the plates described in Lenz’s Missiv had disappeared from the series. A comparison between the titles of the symbols in Lenz’s bibliography and the themes listed e. g. in Böhme’s Clavis oder Schlüssel, a work Böhme intended to introduce his main themes, clearly illustrates the Böhmist influence on the earliest stages of the manuscript Geheime Figuren, especially in the plates concerning (Böhme’s) concepts of Creation and eternal Nature. 1. Wie man Gott und die Natur betrachten soll. 2. Der einige Gott ist Dreyfaltig. 3. Vom Ewigen Wort Gottes. 4. Vom Nahmen Jehova. 5. Von der Göttlichen Weissheit. 6. Vom Mysterio Magno. 7. Vom Centro der ewigen Natur. 8. Von der ewigen Natur und ihren sieben Eigenschafften. 9. Erklärung der sieben Eigenschafften der ewigen Natur. 10. Vom dritten Principio, als der sichtbaren Welt, wovon sie entstanden, und was der Schöpffer sey. 11. Vom Spiritu Mundi. 12. Kurtze Formul der Göttlichen Offenbahrung. 13. Erklärung etlicher Wörter. 14. Erklärung eines Schematis, und dreyen Taffeln. Dabey auch seine Tabula principiorum von Gott, der kleine und grossen Welt.35
Böhmist thought was caught in impressive imagery by many artists, engravers who worked closely together with the editors and publishers of Böhme’s works. Yet, this Böhme iconography was not used in the Geheime Figuren manuscripts. Was the Böhmist iconography added from 1766 onwards included simply because it was at hand? In other words, was it rather a matter of judging the suitability and quality of certain images or were textual interpretations of particular themes also decisive factors? How much of Böhme was recognizably Böhme or Böhmist to the Gold- und Rosenkreuzer and why did the later Gold- und Rosenkreuzer edi34 35
[Lenz,] Missiv (not. 23), 87–95. Jacob Böhme: Clavis oder Schlüssel. In: Optimè de pietate & sapientia meriti … oder … Theosophische Schrifften. Amsterdam/Frankfurt a. M.: H. Betkius 1675.
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tors wish to include additional Böhmist images and texts for the compilation that now received the new title page of an ABC Book? Part of the answer to these questions may be traced in contemporary publications of Böhme’s works (e. g. by the Gold- und Rosenkreuzer publisher Christian Ulrich Ringmacher), including several anthologies containing selections from his theo-alchemical texts as well as new editions of other theo-alchemical works influenced by Böhme.36 Could Böhme’s alchemical insights be applied to their practical pursuit of alchemy? 18th-century biographical and bibliographical studies and catalogues, e. g. by Gmelin and Carbonarius, commented on Böhme’s reception in alchemical circles: Der ehrliche Mstr. Böhm muß sich gewis wider seinem Willen in einem Goldspäher umschaffen lassen. Er war Träumer und Geisterseher, aber Goldkünstler – gewis nicht. Seine dunkeln Schriften verrückten, wie der Kabalisten und Theosophen Werke, den Alchemisten die Köpfe, daß sie ihr System hineinträumten.37
The Gold- und Rosenkreuzer were strongly interested in practical alchemy though, according to Renko Geffarth, they worked within the context of their theosophical beliefs. Practical Gold- und Rosenkreuzer alchemists took the classical alchemical texts into their laboratories, as their manuscript archives containing texts on alchemical processes and receipts prove. Their interest in alchemical manuscripts attributed to the legendary Italian German Rosicrucian Federico Gualdi is particularly interesting in this respect but the alchemical archives of the Gold- und Rosenkreuzer have so far not been studied in detail.38 In the context of the Geheime Figuren, especially the longer texts added later may be of interest as they introduce Rosicrucian alchemy of early writers such as Henricus Madathanus (i. e. Adrian von Mynsicht) and Johannes Rhenanus (or Hermann Condeesyanus) mostly identified as Johann Grasshoff. In Aureum seculum redivivum, das ist: die uhralte entwichene güldene Zeit Mynsicht explicitly presented himself as an ›Aureae Crucis frater‹ in 1621, which may have triggered the inclusion of this text in the first part of the Geheime Figuren to begin with. The same text was studied by the late 17th-century Italian alchemists of the Rosy Cross and the Golden Cross.39 Rhenanus’s text, Ein güldener Tractat vom philosophischen 36
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38
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Kurze und deutliche Beschreibung des Steins der Weisen. Frankfurt a. M. 1747 (reprint of: Idea chemiae Böhmianae adeptae. Amsterdam 1690); Theosophische Beschreibung der Tinktur der Weisen und der Cur aller Krankheiten, aus des Gottseligen Jacob Böhmens Schriften herausgezogen. Berlin/Leipzig: Ringmacher 1780 (Abb. 5). [Carbonarius:] Beytrag zur Geschichte der höhern Chemie oder Goldmacherkunde in ihrem ganzen Umfange. Ein Lesebuch für Alchemisten, Theosophen und Weisensteinsforscher, auch für alle, die wie sie, die Wahrheit suchen und lieben. Leipzig: Christian Gottlob Hilscher 1785, 642. Cf. Renko D. Geffarth: Religion und arkane Hierarchie. Der Orden der Gold- und Rosenkreuzer als Geheime Kirche im 18. Jahrhundert. Leiden/Boston 2007 (Aries book series 4), ch. 5; cf. Carlos Gilly and Laura Balbiani. In: Magia, Alchimia, Scienza (not. 25), 2, 207–233; Alexandre de Dánann: Un Rose-Croix méconnu entre le xviie et le viiie siècles: Federico Gualdi ou Auguste Melech Hultazob Prince d’Achem. Milano 2006. Madathanus’s text was reprinted in: Johannes Rhenanus. Dyas chymica tripartita, das ist sechs herrliche teutsche philosophische Tractätlein. Frankfurt 1625. Both texts also appeared
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Steine, also included in the Geheime Figuren (Zweites Heft), was a response to Mynsicht. Next to Basilius Valentinus and Sendivogius, whose works acquired Rosicrucian connotations, Böhme’s alchemical theosophy was considered by the Gold- und Rosenkreuzer or Freemasons who took an interest in the discipline.
Abb. 5: Theosophische Beschreibung der Tinktur der Weisen […] (1780)
At different stages in the history of the compilation of the Geheime Figuren new symbols were adopted (and rejected) although much of the available and expressive theosophical-Pietist imagery from Wilhelm Schwartz, Nikolaus Häublin, Michael Andreae, Johann Georg Gichtel and Dionysius Andreas Freher was not included. In the new context of the printed ABC Book for students of the school of wisdom, images introduced a visual symbolic aspect of private spiritual experience and piety to the existing more abstract and geometrical designs that can be traced back to Lautensack in the manuscript series. Later choices and additions in the Altona edition also turn to the German theo-alchemical and mystical context of Weigel (Pseudo-Weigel/Biedermann), Tauler, Arndt, Theologia Deutsch, Thoin Latin in: Museum Hermeticum reformatum et amplificatum (1625; repr.1678; 1749). Mino Gabriele: Il giardino di Hermes, Massimiliano Palombara alchimista e rosacroce nella Roma del Seicento. Con la prima edizione del codice autografo della Bugia 1656. Roma 1986 (Labirinti 6).
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mas à Kempis’ Imitatio Christi, Franckenberg and Pseudo-Franckenberg. Apart from the latter two, most of these names appeared on the reading lists of both Böhme and Mögling. In one of the newly added plates, the explicit reference to Tauler was retained.
Abb. 6: Herzog Ernst August I. Herzensandachten […] (1786)
Michael Andreae (ca. 1628–1720), an alchemist and chiliast from Riga, was an unknown follower of Böhme until Frank van Lamoen identified him in connection with a group of Böhmists in Leiden and Utrecht as the illustrator and commentator of the famous engravings published in Gichtel’s edition of Böhme’s collected works.40 Andreae probably designed the illustrations for the 1682 edition of Böhme’s works in the late 1670s and his visualizations appear to have been inspired by previous Böhmist illustrators such as Schwartz and Häublin and perhaps other engravers who executed frontispieces for Heinrich Betkius’s publications and Böhme editions. One gets the impression that Michael Andreae’s engravings for the Gichtel and Überfeld edition of Böhme’s collected works were avoided altogether. However, in the Altona edition, Andreae’s image for the Gnadenwahl is included and combined with a schematic rendering of Böhme’s three 40
See Frank van Lamoen: Der unbekannte Illustrator: Michael Andreae. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt (not. 3), 255–307.
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principles: Des Lichts und der Finsterniß principium vorgestellet durch die 7 Planeten which had been first published by Van Beyerland. The Böhmist Herzensandachten attributed to Ernst August I, Herzog von Sachsen-Weimar, and published in 1742 was reprinted in 1786. The latter edition reproduced the illustration to Böhme’s Gnadenwahl as frontispiece (Abb. 6) and may have determined its late inclusion in the Geheime Figuren (Abb. 7). Clearly the later editors were aware of the Böhmist content of much of the ABC Book and looked for materials that fitted the spirit of the work. They may have wished to avoid including images that were associated too exclusively with one author, whether this was Böhme or Khunrath. Another (Pseudo-)Franckenberg/ Kaym/Schwartz symbol, Menschliches Herz, bound in with Oculus Aeternitatis (to p. 165 according to the instructions to the binder) was also included at this time. One of the BPH manuscript copies of the Geheime Figuren indeed contains a manuscript version of this symbol. It is not clear whether this was a unique copy of the original printed image (which contained the texts written in the symbol of the heart, unlike the printed version of the Geheime Figuren), or whether the image occurred in more than one a copy of the C version of the manuscript (Abb. 8). Franckenberg’s impressive Tabula Universalis was one of the four symbols which have been bound in with copies of his Raphael oder Artzt-Engel (first printed 1676) and Theologische Sendschreiben. Von dem rechten Kirchen-gehen (1687), as well as with copies of Heinrich Betkius’s publications. This complex symbol of Tabula Universalis was meant to be included in the 1766 Geheime Figuren. It must at that time have been recognized as a Rosicrucian symbol but it was not printed in 1785–1788. The 9 Figuren vom Göttlichen Wesen, also added in the Missiv (C) version, were printed. This was a new addition of nine symbols taken from Pseudo-Franckenberg, i. e. Seidenbecher (?), Nosce Teipsum published by Jacob Gottfried Seyler in 1675. Added to this plate was an image of Christ in a Rose on a diagonal cross. Artistically speaking the rendering of this image is rather crude, but it is in fact what is left of the central image from Franckenberg’s Tabula Universalis. It is interesting to consider this table as it appears to provide another link between Rosicrucian and Böhmist thought as forged by Franckenberg and/or his followers. The editors of the printed Geheime Figuren thus finally decided against copying the Tabula Universalis in its entirety and formed a new symbol based on what to them embodied Franckenberg’s theosophy that in turn was inspired by Böhme and the Rosicrucians. A secret symbol (indeed!), with the added title: ›Harmonische Vorstellung aus dem Lichte der Natur. Daraus die Wiederherstellung und Neumachung aller Dinge emblematice abzunehmen ist‹. The Gold- und Rosenkreuzer interpretation of the complex of Christian and Rosicrucian theosophy as they saw it determined a consistent choice of symbols both in 1766 and in 1785–1788 – although the choices differed considerably and the editors in these two instances were not the same people. Franckenberg’s independent position in relation to the theosophies of both Böhme and the Rosicrucians will not have played a part in the later 18th century. In 1766 this symbol was brought in line with the new additions in the Geheime Figuren series and when it was finally printed
Abb. 7: Geheime Figuren 1785–1788: Gnaden-Wahl
Abb. 8: Geheime Figuren: Menschliches Herz. Amsterdam, Bibliotheca Philosophica Hermetica, Ms M467
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its positioning in the series remained the same. Clearly it fitted this newly found context in the ABC Book. The question remains: How aware were the editors specifically of Franckenberg’s reception of Böhme, Luther and Tauler (Thauleri/ Lautheri) especially with regard to the concept of Wiedergeburt, a concept that was certainly crucially important with the Radical Pietists as well?41 Ten symbolic plates as described in the Missiv were not included in the A and B versions and were not printed as such in the later publication of the Geheime Figuren (though some elements of these symbols may have been incorporated). However, most of the symbols additional to the ones in the first manuscript versions were printed in 1785–1788 and ended up in the third part, Drittes Heft; the general title page of the printed edition referred to the ABC Büchlein. Since this title page was also bound with the added plates, the ABC Büchlein itself was often considered as the third part. This does not appear to be correct: as in the Missiv description, ABC Büchlein was meant as a general title page covering the entire work (in the end the book comprised 3 parts). Most of the additional material referred to on the printed title page may however have been assembled by the editor »P. S.« though it is not clear whether the same editor had been at work before 1766. Some of the additional material that only appears in the printed version of 1785–1788 was once more taken from Böhmist sources. From the printed imagery available at the time, the editors of the Geheime Figuren selected additions that generally fitted the theosophical and mystical tradition developed in Rosicrucian and Böhmist circles on the basis of both Lautensack’s mystical theological thought (as transmitted by Biedermann and Kaym), and Böhme’s and Böhmist theosophical writings (as transmitted e. g. by Franckenberg and Pseudo-Franckenberg, Seidenbecher, Breckling, von Tschesch, von Schweinichen and the Radical Pietists) on the subjects of Divine Creation and Revelation; both themes were considered with respect to the double light of nature and grace. The one Book for the Einfältigen, was a twofold book, a Book of Life and a Book of Nature. In chapter 18 of his Von den drei Prinzipien Böhme, who was called the Philosopher of the Einfältigen, mentioned this Book: Denn die Jungfrau hat uns eine Rose verehret. Von der wollen wir schreiben mit solchen Worten als wir im Wunder sehen. Und anders können wir nicht oder es ist unsere Feder zerbrochen und die Rose von uns genommen. […] Darum schreiben wir aus einer andern Schulen, darinnen der irdische Leib mit seinen Sinnen nie studieret hat, auch das ABC nie gelernet: Denn in der Jungfrauen Rosen lerneten wir das ABC […] Denn das Gemüthe dieser Schulen stund in den Thoren der Tieffe im Centro verborgen: dürfen uns derowegen dieser Schulen nicht rühmen, denn sie ist nicht des irdischen Menschen Sinnen und Gemüthes Eigenthum.42
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Cf. Carlos Gilly: Abraham von Franckenberg und die Rosenkreuzer. Zur Datierung der Tabula Universalis Theosophica Mystica et Cabalistica von 1623. In: Carlos Gilly/Friedrich Niewöhner (Hrsg.): Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert. Amsterdam 2002 (Pimander 7), 212–232; Sibylle Rusterholz: Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), Bd. 1, 205–241. Jacob Böhme: Von den drei Prinzipien. In: SS, Bd. II, 286–287.
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Die Evidenz der mystischen Schau Pierre Poirets Aufnahme Jacob Böhmes im Kontext der Querelle du pur amour Jane Leade (1624–1704), die Seherin und Gründerin der »Philadelphian Society«, war die engste Vertraute des Böhme-Anhängers John Pordage (1607–1681).1 Im Jahr 1683 begleitete sie die postum erschienene Schrift ihres geistlichen Führers, Theologia mystica, or the Mystic Divinitie of the Eternal Invisible, mit einer Vorrede, in der sie »Zeugnis« von den letzten Monaten im irdischen Leben des »Heiligen« gab. Pordages Theologia mystica erschien 1698 bei Henri Wetstein in Amsterdam in deutscher Übersetzung und entfaltete in dieser Gestalt zur Jahrhundertwende eine beachtliche Wirkung. Der Bericht der Seherin musste in den theosophischen und pietistischen Zirkeln auf dem Kontinent auf umso größeres Interesse stoßen, als sie vom Absterben eines »Apostels« berichtete, der »in diesem letztern Alter der Zeit« den Zurückgebliebenen bereits ein »herrliches Vorhersehen und Fürschmack der Kräfften der unsichtbaren Welt« übermittelte.2 In der Doppelung von imminenter Endzeiterwartung und Vorwegnahme eines künftigen Reichs Gottes exponiert Leade die typische Gedankenformation jener schwärmerischen Kreise, deren Mitglieder sich als Vorboten des Jenseits und Seher der göttlichen Geheimnisse betrachteten. Jane Leade versicherte, dass sie neben John Pordage niemanden gekannt habe, »der über einen tieffer einsehenden und höhern Prophetischen Geist«3 verfügt habe. Nachts, als ihm auf dem Totenbett »der HErr Christus erschienen« sei, widerfuhr ihm durch Erregung geistlicher Begierden eines jener Erweckungserlebnisse, das auch die letzten Zweifel und Anfechtungen der Gläubigen zerstreute. Pordage soll damals zu seiner Schülerin gesagt haben: »Ihr habt nicht zu zweifflen/ Gott werde denjenigen guten Geist/ welcher mir und in mir ein leitend Liecht gewest/ in einig andern auferwecken/ die Euch beystehen und zur Vollendung desjenig grossen Mysterii mit Euch fortgehen werden/ in welchem wir uns mit einander gefreuet haben.«4 Das 1 2
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Vgl. Nils Thune: The Behmenists and the Philadelphians. A Contribution to the Study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries. Uppsala 1948. Jane Leade: An den unpartheyischen und wolmeynenden Leser. In: John Pordage: Theologia mystica: oder Geheime und verborgne göttliche Lehre von den Ewigen unsichtbarlichkeiten: als vom Mundô & Globô Archetypô […]. Amsterdam: Henri Wetstein 1698, 3–12, hier: 4. – Zur Autorin vgl. Catherine F. Smith: Jane Lead’s Wisdom: Women and Prophecy in Seventeenth-Century England. In: Poetic Prophecy in Western Literature. Hrsg. v. Jan Wojcik und Raymond-Jean Frontain. Rutherford, NJ 1984, 55–63. Zum Verhältnis zu Böhme vgl. bes. 60–62. Leade, An den unpartheyischen und wolmeynenden Leser (Anm. 2), 4. Ebd., 5 f.
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apostolische Sendungsbewusstsein schließt sich beinahe ganz dem Modell einer Nachfolge Christi an – freilich in einer im Zeitalter des Buchdrucks modernisierten Form: Unter der zunehmend schwächer werdenden Wirksamkeit der »Lebensgeister«, während dem Seher »noch manche erquickliche Reden und holdseelige Sprüche aus seinem Munde« gingen, unterredete sich Pordage mit seinem Herausgeber Dr. Edward Hooker »von wegen Publicirung seiner Schriften […,] welches seinem Hertzen sehr anlag.«5 Handelte es sich im Blick auf die Lebensform des Apostels um eine Nachfolge Christi, so lässt sich die Schreibform als eine Nachfolge Jacob Böhmes, des Autors der Morgenröte im Aufgang,6 charakterisieren. Jane Leade war überzeugt, dass Pordages Werk »manche grosse und geheime wahrheiten« enthalte, »die Ihm (nicht durch die Vernunft/ sondern aus einem reinem [sic!] centralen Liechte/ das vom Morgensterne in Ihm aufgienge/ eröffnet wurden«.7 Innerhalb dieser mystischen Denkform hat die skeptische Epoché, die Urteilsenthaltung, eine gleichsam protreptische Funktion, indem sie den Geist frei macht, sich den »geistlichen Niedlichkeiten und Himmlischen Geheimnüssen« zu öffnen. Die Aufklärung aller Zweifel steht dann am Ende dieses Erweckungserlebnisses, wie Jane Leade den Leser versichert: »Solchem nach lasset mein Ermahnen Statt bey Euch finden/ daß ihr Euch des Urtheilens enthaltet/ bis der Tag des HErrn/ im Hertzen eurer Erde/ ohne Wolcken aufgehen und erscheinen möge/ alle dergleichen Dinge/ die bey Euch noch zweiffelhafft sind/ aufzuklären.«8 Abgesehen von dem Einfluss, den sie auf die radikalpietistischen Zirkel auf dem Kontinent ausübte, ist die Wirkung der »Philadelphian Society« auch deshalb so komplex, weil sich in ihr Jacob-Böhme’sche Kosmologie und Endzeiterwartung zu einem Amalgam aus Sophien-Mystik und neuen naturwissenschaftlichen Ergebnissen verbanden. Pordages Hauptschrift im Bereich der Sophien-Mystik, der Traktat Sophia von 1675, trägt in der 1699 – wiederum in Amsterdam erschienenen – deutschen Übersetzung den Untertitel: »das ist/ Die Holdseelige ewige Jungfrau der Göttlichen Weisheit: oder Wunderbare Geistliche Entdeck- und Offenbahrungen/ so die theure Weisheit einer heiligen Seele gegeben.«9 In der Form eines Diariums knüpft der Autor eine Reihe von Visionen mit dem Ziel aneinander, zu zeigen, »Wie die äussere sichtbare Welt eine Figur und Vorbild der inwendigen unsichtbaren Welt im Menschen sey«.10 Diesem typologischen Verhältnis von äußerer und innerer Welt, von sichtbarem Makrokosmos und den unsichtba5 6
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Ebd., 6. Für unseren zeitlichen Kontext ist wichtig die Ausgabe: Jacob Böhme: Morgenröte im Aufgang/ Das ist: Die Wurtzel oder Mutter Der Philosophiae, Astrologiae und Theologiae, Aus rechtem Grunde […]. Amsterdam 1682. – Im selben Jahr erschien: Jacob Böhme: Alle Theosophische Wercken […]. Amsterdam 1682. – Böhmes Werke erschienen im Laufe des 17. Jahrhunderts in dichter Folge in deutscher Sprache und in englischen Übersetzungen. Aurora, that is the Day-Spring erschien London 1656. Leade, An den unpartheyischen und wolmeynenden Leser (Anm. 2), 8. Ebd., 9. Vgl. John Pordage: Sophia: das ist/ Die Holdseelige ewige Jungfrau der Göttlichen Weisheit […]. Amsterdam 1699. Ebd., Titelblatt.
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ren Geheimnissen im Mikrokosmos, eignet ein ausgesprochen apokalyptischer Grundzug, der in der Bildlichkeit dieser Gesichte fortwährend zum Ausdruck kommt. Ihm entspricht das mit der Theologia mystica eingelöste Projekt einer eschatologisch akzentuierten Kosmologie, die »nicht aus vernünfftlichem Wissen/ sondern aus göttlich wesentlichem Schauen und Erkennen« Einblick in die »Geheime und verborgne göttliche Lehre von den Ewigen Unsichtbarlichkeiten« zu geben verspricht: »als vom Mundô & Globo Archetypô, das ist/ vom rechtem [sic!] Original Welt-Runde und uranfänglichen Haupt-Model oder Welt aller Welten/ Globen, Essentien/ Centren/ Elementen/ Principien/ und Schöpffungen/ wie sie Namen haben oder genannt werden mögen.«11 Das Werk gehört in den Zusammenhang einer großen Zahl konkurrierender Kosmologien, die im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts in dichter Folge erschienen waren. Man denke an so unterschiedliche Werke wie The True Intellectual System of the Universe (1678) des Platonikers von Cambridge, Ralph Cudworth, an Thomas Burnets Telluris theoria sacra (1680) oder an den Essay toward the Natural History of the Earth (1692) von John Woodward. Das Grundproblem dieser und vergleichbarer Kosmologien ergibt sich aus der Frage nach der Möglichkeit der Evidenzierung der Fakten einer erstaunlich mannigfaltigen Welt, deren Gegenwart, wenn sie Reste des vergangenen Zustands des Kosmos bereitstellte, ebenso die Spuren ihrer Zukunft offenbaren musste. Im Ausgang des Cartesianismus war Pierre Poiret (1646–1719)12 mit diesem Problem der Evidenzierung früh schon konfrontiert gewesen;13 aus Descartes’ Formel »cogito ergo sum« zog er den Schluss, dass Gottes Denken und Sein in einem absoluten Sinne eins sind. Gott ist der schlechthin evidente Grund, aus dem alles hervorgegangen ist, durch den alles subsistiert und in den alles wieder zurückkehren wird. Die Lösung des cartesianischen Evidenz-Problems im Sinne einer Letztbegründung des Seins in Gott ist mithin Ausgangspunkt für eine Welterklärung, die Poiret in seinem Hauptwerk, L’Oeconomie divine, ou système universel et démontré des œuvres & des desseins de Dieu envers les hommes (Amsterdam 1687), niedergelegt hat. Ausdrückliches Ziel dieses umfangreichen Traktats ist es, »mit metaphysischer Evidenz und Gewißheit« im Sinne Descartes’ alle Fragen, die den Menschen als Mittelpunkt und Spiegel der Schöpfung betreffen, letztgültig zu beantworten. Poirets Entschluss einer Hinwendung zur Mystik lässt sich mithin aus der Einsicht begreifen, dass das »cogito ergo sum« nicht – wie Descartes wollte – als menschliches Selbstbewusstsein, sondern als das sich selbst denkende Sein Gottes auf dem Grunde der menschlichen Seele zu verstehen sei. 11 12
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Pordage, Theologia mystica (Anm. 2), Titelblatt. Zu Poiret vgl. Marjolaine Chevallier: Pierre Poiret. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie [Ueberweg], Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 2: Frankreich und Niederlande. Hrsg. v. Jean-Pierre Schobinger. Basel 1993, 848–859. Vgl. Pierre Poiret: Cogitationum rationalium de deo, anima et malo libri quatuor. In quibus quid de hisce Cartesius, eiusque sequaces, boni aut secus senserint, omnisque philosophiae certiora fundamenta, atque in primis tota metaphysica verior continentur. Amsterdam: Elsevier 1677. – Die zweite und dritte Auflage enthält eine Kritik an Spinoza und Pierre Bayle im Kontext der Atheismus-Debatte. – Zu Poirets Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus vgl. Gianluca Mori: Tra Descartes e Bayle. Poiret e la teodicea. Bologna 1990.
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Die Schriften der Mitglieder der »Philadelphian Society« erreichten Poiret zu einer Zeit, als er sich mit der Mystikerin Antoinette Bourignon (geboren 1616) zu einer Art von Konkubinat verbunden hatte. Die Visionen der Bourignon, die im Jahr 1680 verstorben war, hatten den jungen Cartesianer tief beeindruckt. Zwischen 1679 und 1686 gab er ihre Schriften in 19 Bänden heraus. Wie im Allgemeinen wenig bekannt ist, war Poiret auch sonst als Herausgeber tätig. Seine französischsprachige Edition der Theologia Deutsch, die im Jahr 1700 in Amsterdam bei Henri Wetstein unter dem Titel La Théologie réelle erschien, ist im Kontext der Querelle du pur amour um die Mystikerin Jeanne-Marie Guyon zu sehen, deren Schriften Poiret im Jahr zuvor – mit ausdrücklichem Hinweis auf die Auseinandersetzungen um den Quietismus – ediert hatte.14 In der Einleitung zur Théologie réelle lieferte Poiret eine Grundlegung der mystischen Theologie im Ausgang von 1Kor 2,7. Paulus habe die mystische Theologie »geheiligt«, »wenn er sagt, dass er die Weisheit Gottes verkündigte, die ein Geheimnis ist, das heißt: die mystisch oder verborgen ist und die kein weltlicher Gelehrter erkannt hat.«15 Poirets Mystik kann in diesem Sinne als ein Spiritualismus aufgefasst werden, insofern der Mensch am Geist Gottes teilhat und durch die Teilhabe am Geist Gottes Gott zu erkennen in der Lage ist, gemäß 1Kor 2,10: »nobis autem revelavit Deus per Spiritum suum/ Spiritus enim omnia scrutatur etiam profunda Dei.« Die Mystik ist die ›wirkliche Theologie‹ (›théologie réelle‹), weil Gott »das alleinige Prinzip aller Wirklichkeit und alles Guten« ist; sie ist die »wahre Religion«, weil sie den Menschen in den Stand setzt, die Gnade, mit der Gott den Menschen beschenkt, zu erwidern, mit ihr zu ›kooperieren‹; sie bewirkt, dass die Seele ausschließlich und mit brennendem Verlangen Gott begehrt, dass sie in der Auslöschung des eigenen Selbst rein wird, damit sie in der »Schau und reinen Liebe« Gott werde, damit Gott auf dem Grunde der Seele geboren werde.16 Poirets Rekonstruktion der mystischen Theologie dokumentiert eine genaue Lektüre der Theologia Deutsch vor dem doppelten Hintergrund der hochmittelalterlichen Mystik und der zeitgenössischen mystischen Praxis. Im theologischen Dissenz der Zeit gewinnt sie ihre Sprengkraft aus der Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Weltendes. Vergleichbar mit der Intention der »Philadelphian Society«, versuchte er mit einer philosophisch ungleich ambitionierteren Denkanstrengung die paulinische Mystik – oder was er dafür hielt – vor dem Ende der Zeiten zu erneuern. »Nur die Vernachlässigung dieser heiligen Religion«, so legte er dar, »hat zu allen Zeiten die Seltenheit der geistlichen Seelen und der wahren Mystiker ausgemacht; und es ist zu hoffen, dass Gott, der die Kirche erneuern und die christliche Religion in ihre Kraft und ihren Glanz gegen Ende der Zeiten wieder einsetzen will (in denen wir uns befinden), dieses durch die Schau und die reine Liebe bewirken würde, die der Kopf und das Herz, Urim und Thumim 14
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Vgl. Jeanne-Marie Guyon: Recueil de divers traitez de théologie mystique, qui entrent dans la […] dispute du quiétisme qui s’agite présentement en France. Hrsg. v. Pierre Poiret. Köln 1699. Pierre Poiret: »Préface« zur Théologie réelle. In: Ders.: Écrits sur la Théologie mystique. Préface. Lettre. Catalogue. Hrsg. v. Marjolaine Chevallier. Grenoble 2005, 25–130, hier: 45. Vgl. ebd., 51–53.
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der priesterlichen Seelen sind, die die Vollkommenheit bewirkenden Prinzipien der beiden edelsten Vermögen des Menschen sind: der Schau im Blick auf den Verstand und der reinen Liebe im Blick auf den Willen.«17 Poirets Edition der Theologia Deutsch enthält neben der Einleitung eine Art von Biobibliographie zur mystischen Praxis von den Anfängen bis zu Antoinette Bourignon. Dem Genre nach haben wir es mit einer Art von Hagiographie zu tun, die das umfangreiche Projekt der Bibliotheca mysticorum selecta (1708) bereits vorwegnimmt. Mit einem vergleichbaren Unternehmen trat damals übrigens auch Gottfried Arnold in Erscheinung, als er im Jahr 1702 die Historia et descriptio theologiae mysticae, seu theosophiae arcanae et reconditae, itemque veterum et novorum mysticorum zum Druck gab. Wie der Titel zeigt, trägt Poirets Präsentation den Charakter eines Sendschreibens an die Adepten der mystischen Theologie: »Lettre sur les principes et les caractères des principaux auteurs mystiques et spirituels des derniers siècles«. In der Exposition stellte Poiret die mystische Theologie als eine »Wissenschaft der Heiligen« (science des saints) vor,18 deren zentrale Lehre die durch betrachtende Schau und reine Liebe erlangte Einswerdung des Menschen mit Gott sei: »Gott hat uns geschaffen, damit wir mit ihm vereint und ihm angeglichen seien, und damit er selbst ›alles in allem‹ werde und sei, wie die Heilige Schrift selbst sagt.«19 Der Gedanke der Einswerdung hat also von allem Anfang an eine eschatologische Dimension, in der der universalistische, auf den letzten Zweck des Universums gerichtete Grundzug dieser Denkform zum Ausdruck kommt. Einswerdung mit Gott meint die reinigende Wiedergeburt des sündigen Menschen in Gott, mit der und in der sich zugleich die ›Wiederbringung von allem‹ (Apokatastasis panton) erfüllt. Vor dem Hintergrund des Origenismus des Zeitalters nimmt Poirets »Wissenschaft der Heiligen« damit den Gedanken einer »regeneration« auf, der über den Philadelphianer Thomas Bromley die Mystik der Jeanne-Marie Guyon beherrscht hatte. Nicht zuletzt dieser – übrigens bis zu Louis-Claude de Saint-Martin und darüber hinaus fortwirkende – Origenismus war es, von dem die Querelle du pur amour bestimmt war. Für Poiret handelt es sich hierbei um eine genuin Böhme’sche Denkform, deren reifste Frucht er in Thomas Bromleys Hauptwerk The Way to the Sabbath of Rest. Or, The Soul’s Progress in the Work of Regeneration (1655) erblickte.20 Das schmale Werk wurde ins Französische, Deutsche und Niederländische übersetzt und erreichte so die mystischen Zirkel auf dem Kontinent. 17
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Ebd., 53: »Ce n’est que le relâchement de cette sainte religion qui de tout temps a fait la rareté des âmes spirituelles et des vrais mystiques; et il est à espérer que Dieu, voulant renouveler son Église et remettre la Religion chrétienne en sa force et en sa splendeur vers les derniers temps (qui sont ceux où nous sommes), il le ferait par la Contemplation et par l’amour pur, qui en sont la tête et le cœur, qui sont l’Urim et le Thumim des âmes sacerdotales, qui sont les principes perfectionnants des deux plus nobles facultés de l’homme: la contemplation pour l’entendement et l’amour pur pour la volonté.« Pierre Poiret: Lettre sur les principes et les caractères des principaux auteurs mystiques et spirituels des derniers siècles. In: Ders., Écrits sur la Théologie mystique (Anm. 15), 131– 203, hier: 135. Ebd., mit Hinweis auf Joh 17,21, 1Kor 15,28 u. 2Kor 3,18. Vgl. ebd., 165.
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Poirets Überblick über die mystische Theologie ist ziemlich umfassend, und es ist zum Verständnis der geistigen Signatur der Zeit sinnvoll, wenn wir uns die Grundlinien des Inhalts kurz vergegenwärtigen, bevor wir den Anteil Jacob Böhmes in Betracht ziehen. Ausgangspunkt dieser Darstellung des mystischen Denkens ist die Person und das Werk Johannes Taulers († 1361). Die Geburt Christi auf dem Grund der menschlichen Seele bewirkt demnach eine »dauerhafte und fortwirkende Einkehr«, die den Menschen in jenen »Zustand der Innerlichkeit« versetzt, in dem sich Gottes Wille auswirken kann. Die Präsentation der mystischen Theologie des Johannes Tauler hier am Beginn der »Lettre« erfüllt offenbar eine genau berechnete Funktion. Im Gegensatz zum quietistischen Gebot einer absoluten Passivität der menschlichen Seele legt Poiret den Gedanken einer ›Kooperation‹ zugrunde, in der das Verlangen des Menschen nach Gott und der göttliche Wille ineinander greifen. Poiret sieht innerhalb der universalen Haushaltung Gottes die Vermittelbarkeit zwischen der Freiheit Gottes in der Schöpfung aller Dinge und der Providenz des Heilsplans im Sinne des »decretum creationis« ausdrücklich vor. An diesem Gedanken der Vermittlung hielt er auch 1715, in der Spätschrift Vera & cognita omnium prima, im Rückgriff auf Tauler, Jacob Böhme und die Philadelphianer, Jane Leade und John Pordage, noch fest.21 Unter der Vielzahl der von Poiret genannten Mystiker und Mystikerinnen ragt zunächst Henricus Harphius (Hendrik Herp, † 1477)22 heraus, der, wiewohl in der Nachfolge Taulers und Ruysbroecks, die mystische Theologie »wissenschaftlich stringenter« (plus méthodique) als seine Vorgänger bearbeitet habe: »Es ist das schönste, inhaltsreichste, tiefste und am meisten entwickelte System der mystischen Theologie, das es jemals gegeben hat.«23 In Johannes vom Kreuz, Heinrich Seuse sowie den Heiligen Theresa von Avila, Katharina von Genua und Angela von Foligni erblickt Poiret Repräsentanten einer Tradition, innerhalb der sich Gott immer wieder auserwählten Menschen offenbart hat. Ohne ausdrücklich auf die Querelle du pur amour einzugehen, die sich in der Folge der Publikation von Fénelons Explication des maximes des saints sur la vie intérieure 1697 entfacht und in der Verurteilung Mme Guyons entladen hatte,24 ist Poirets »Lettre« doch stets unmittelbar vor diesem polemischen Hintergrund zu sehen. Mehr als es alle Schriftoffenbarung vermöchte, ist die ›Wissenschaft der Heiligen‹ geeignet, den Menschen zu regenerieren, weil und insofern sie die Gottwerdung des Menschen auf dem Grunde der Seele bezeugt. Über Katharina von Genua schreibt Poiret: Ihre Lehren »sind Ausflüsse und brennende Strahlen der absolut reinen Liebe des Geistes Gottes, der sie erfüllte und beherrschte.«25 Poiret selbst hatte 1691 21
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Vgl. Pierre Poiret: Vera & cognita omnium prima, sive, de natura idearum ex origine sua repetitâ, & adversus cl. A. Pungelerum defensâ, disquisitio theologico-philosophica. Amsterdam: Wetstein 1715, 297–303. Zu Harphius vgl. A. Combes. In: Étienne Gilson: La philosophie au Moyen Age. Des origines patristiques à la fin du XIVe siècle. ND Paris 21986, 705–708. Poiret, Lettre (Anm. 15), 139. Vgl. Jean Orcibal: Madame Guyon devant ses juges. In: Mélanges de littérature française offerts à Monsieur René Pintard. Hrsg. v. Noëmi Hepp, R. Mauzi u. Claude Pichois. Straßburg/ Paris 1975, 409–423. Poiret, Lettre (Anm. 15), 149.
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die Théologie de l’Amour, ou la vie et les œuvres de Ste Catherine de Gênes zum Druck gebracht.26 In Person und Werk Jacob Böhmes hat Poiret das überhaupt bedeutendste Zeugnis der mystischen Theologie gesehen. Schon der Eingang des Kapitels markiert diese außerordentliche Stellung Böhmes: »Er ist der einzige, zumindest insoweit es die Schriften betrifft, die wir bis zu ihm besitzen, dem Gott den Grund des Wesens so vieler geistlicher wie auch stofflicher Dinge entdeckt hat und der mit tiefer Durchdringung der theologischen und übernatürlichen Angelegenheiten von Grund auf die wahren Prinzipien der Philosophie, ebenso sehr der Metaphysik wie der Pneumatologie und der wahren Physik, erkannt hat.«27 Dem Einwand, die Schriften dieses »tiefen und geheimnisträchtigen Schriftstellers« seien unverständlich, begegnet Poiret mit dem Argument, dass die tiefsten Geheimnisse von denen nicht verstanden werden könnten, denen – wie den Blinden – das Licht und die Farben als »reine Erfindungen« (de pures fictions) erscheinen. Poirets Kriterium für die Wahrheit der mystischen Theologie ist folgerichtig die Evidenz der mystischen Schau. Ihre Inhalte sind in einem absoluten Sinne wahr, weil sie deren Wahrheit auf dem Grund ihrer Seele ursprunghaft erfahren haben. Die ›Wissenschaft der Heiligen‹ ist absolut wahr, weil sie ihren Grund in den »vérités de source et d’expérience« besitzt.28 Diese Wahrheiten adäquat zu verstehen, so Poiret, sei nur demjenigen gegeben, den Gott zu deren Verständnis erweckt hat. Ohne ein vorgängiges Erweckungserlebnis (réveil) bleibe die Lektüre der Schriften Böhmes unvollkommen, weil der im Stand der Korruption befangene sündige Mensch sich daraus nur »tote Gemälde« in seinem Verstand werde bilden können. Das hermeneutische Problem ergibt sich also daraus, dass der Mensch, solange er sein Ich, seine Selbstliebe, noch nicht überwunden hat, Böhmes Kosmos nicht angemessen wird auffassen können. Die Wissenschaft, die Gott in den Heiligen eingesenkt hat, findet hinwiederum nur Aufnahme in einer Seele, die sich ganz dem Willen Gottes überlassen hat.29 Poiret hat dieses Problem der Vermittelbarkeit des Wissens im Falle der Schriften Jacob Böhmes übrigens sehr klar gesehen. Mit »gutem Willen« könne man, auch wenn man die Gnade der Erweckung noch nicht erfahren habe, zumindest einige Werke Böhmes, wie zum Beispiel die Genesis-Auslegung des Mysterium magnum, mit Gewinn lesen. Freilich blieben die Geheimnisse der Schrift De signatura rerum insbesondere in Übersetzung unzugänglich, weil das Französische eine Sprache für verweichlichte Geister sei. »Was die Übersetzung von Böhmes Büchern ins Französische betrifft, so sind sie unübersetzbar wegen des falschen Geschmacks dieser Sprache, die, um sich den schlaffen und verweichlichten Geistern anzupassen, sich zum Gesetz gemacht hat, nichts zu sagen, 26 27
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Erschienen in Köln bei Jean de La Pierre. – Eine zweite Auflage erschien 1697. Poiret, Lettre (Anm. 15), 159 f.: »Celui-ci est le seul, au moins dont on ait eu des écrits jusqu’à lui, auquel Dieu ait découvert le fond de la nature tant des choses spirituelles que des corporelles et qui, avec une pénétration toute centrale des choses théologiques et surnaturelles, ait aussi connu d’origine les vrais principes de la philosophie, tant de la métaphysique et de la pneumatique que de la vraie physique.« Vgl. ebd., 163. Vgl. ebd., 161.
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was den nachlässigsten Lesern auch nur irgend dunkel erscheinen könnte, aus Furcht, dass man es für Galimathias halten könnte: Wofür man ohne Zweifel die Übersetzung seines dunkelsten Buches, Signatura rerum, halten wird, das man vor etwa 50 Jahren in französischer Sprache in Frankfurt unter dem Titel Miroir temporel de l’éternité publiziert hat, eine Übersetzung, bei der es sich in der Tat nicht gerade um ein beachtliches Stück handelt.«30 Mit anderen französischen Übersetzungen hatte Poiret weniger Schwierigkeiten. Die illustre Reihe einer ununterbrochenen Weisheitstradition im Sinne Jacob Böhmes – derjenigen »Originalschriftsteller«, die deswegen ›ursprünglich‹ sind, weil sie ihr Wissen aus göttlicher Quelle und innerer Erfahrung geschöpft haben – beginnt nicht zufällig noch immer mit dem Traktat Poimandres, »den man zurecht oder zu Unrecht dem Hermes Trismegistos zuschreibt«. Die Authentizität ist für Poiret kein ernsthaftes Problem, aber der göttliche Gehalt steht für ihn außer Frage. Dabei weicht er der Frage der Textkritik keineswegs aus. Poiret bevorzugt die zuverlässigere Edition von Francesco Patrizi gegenüber derjenigen Marsilio Ficinos und empfiehlt dem Leser die im Jahr 1652 erschienene niederländische Übersetzung eines anonymen Böhme-Schülers sowie die ältere französische Übertragung durch den Grafen François de Foix Candale (Bordeaux 1579).31 In chronologisch nicht geordneter Reihe nennt er – gewissermaßen als Nachtrag aus dem frühen Christentum und dem Frühmittelalter – die Visionen des ›Hirten des Hermas‹, außerdem Johannes Scotus Eriugena, dann zumal Schriften von »Originalschriftstellern« des 16. und 17. Jahrhunderts: Abraham von Franckenbergs Oculus aeternitatis (1677), dessen Via veterum sapientum (1675) in Übersetzung, Paracelsus, Valentin Weigel, die beiden van Helmont und »einige kabbalistische Schriftsteller« im Ausgang von Francesco Giorgio Veneto (1466–1540), De harmonia mundi totius cantica tria (Venedig 1525) – ein Werk, dessen französische Übersetzung durch Guy Le Fèvre de La Boderie (1578) damals gerade neu aufgelegt worden war. Schließlich nennt Poiret noch die Absconditorum a constitutione mundi clavis von Guillaume Postel (1510–1581), die Abraham von Franckenberg 1646 in Amsterdam zum Druck gegeben hatte. Die Komposition der »Lettre« besitzt eine klare Struktur. Sie setzt bei der hochmittelalterlichen Mystik ein, entfaltet sich in der ziemlich genau vom Böhme-Kapitel eingenommenen Mitte des Traktats zu ihrer reichsten Chromatik und mündet in einer Art von Schlussakkord in den der Mystikerin und Weggefährtin 30
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Ebd., 163: »Quant aux traductions de ses livres en français, c’est ce que ne saurait souffrir la fausse délicatesse de cette langue qui, pour s’accommoder aux esprits mous et féminins, s’est laissé imposer pour loi de ne rien dire qui paraisse tant soit peu obscur aux lecteurs les plus négligents, sous peine que cela ne passe pour du galimatias, comme passera sans doute la traduction du plus obscur de ses livres Signatura rerum, qu’on publia il y a environ cinquante ans en français à Francfort, sous le titre de Miroir temporel de l’éternité, traduction qui, en effet, n’est pas une pièce fort considérable.« – Vgl. Jacob Böhme: Miroir temporel de l’éternité [übers. v. J. Maclé]. Frankfurt a. M. 1664. Le Pimandre de Mercure Trismégiste, de la philosophie chrestienne, cognoissance du verbe divin et de l’excellence des œuvres de Dieu, traduit de l’exemplaire grec, avec collation de très amples commentaires. Bordeaux: Millanges 1579. – Bereits einige Jahre zuvor hatte François de Foix Candale eine lateinische Ausgabe ediert: Mercurii Trismegisti Pimandrus, utraque lingua restitutus. Bordeaux: Millanges 1574.
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Antoinette Bourignon gewidmeten Abschnitt. Poirets »Lettre« will damit keine Geschichte des mystischen Denkens sein; es handelt sich vielmehr, wie wir eingangs bemerkten, um ein hagiographisches Werk. Anhand des post-cartesianischen Wahrheitskriteriums, der Selbstevidenz derjenigen Wahrheiten, die aus der göttlichen Quelle innerer Erfahrung hervorgegangen sind – den »vérités de source et d’expérience« – findet Poiret die Möglichkeit einer demonstrativen, weil selbstevidenten ›Wissenschaft der Heiligen‹, die mit der mystischen Theologie identisch ist. Einer der prominentesten Gegner Poirets, Jean Le Clerc (1657–1736), hat die Absenz eines Bewusstseins historischer Kritik angeklagt, an der Poiret in der Tat nicht das geringste Interesse haben konnte. Nicht die Einsicht in die Überlieferung heiliger Texte war das Ziel seiner Forschungen, sondern die Gegenwart des Heiligen Geistes auf dem Grund der menschlichen Seele, wie sie sich in den erwählten Heiligen kontinuierlich manifestiert hatte. Poirets Böhme-Kapitel mündet denn auch in die Gegenwart der »Philadelphian Society«, wenn er über John Pordages Theologia mystica darlegt: »Er entdeckt in Gott unerhörte Offenbarungen, eine neue Welt von Geistern, Prinzipien, die der angelischen und natürlichen Welt vorausliegen und die Jacob Böhme völlig unbekannt waren, über dessen Schriften er einige wichtige Aufklärungen gibt, ohne übrigens in dessen Stoffe einzudringen, denn er endet dort, wo Jacob Böhme seinen Anfang gesetzt hat.«32 Le Clercs Entgegnung ließ an Schärfe nichts zu wünschen übrig. In den Parrhasiana (1699), einem Werk voll gelehrter Persiflage, Ironie und Sarkasmus, schrieb er über einen Autor, der die Religion in einen »reinen Fanatismus« verwandelt habe: »Poiret bildet sich ein, dass man jeden Blödsinn der Mystiker und alle Hirngespinste, die er ihnen hinzuzufügen beliebt, für Orakelsprüche halten solle; dabei sollte er erröten bei dem Metier, das er seit langem betreibt, indem er versucht, die Einfältigen durch die lächerlichen Geistlichkeiten (spiritualitez ridicules) zu verführen, die er zum Druck gibt.«33 Die Lehre des »pur amour«, mit der Poiret dem intellektuellen Libertinismus seiner Zeit entgegentrat, verwandelte sich in der Parodie Le Clercs in einen »pur fanatisme«, der die guten Sitten untergrabe. Noch während Fénelon und Mme Guyon, Poiret und Antoinette Bourignon, Jane Leade und John Pordage sich gegen die Angriffe der Orthodoxie verteidigen mussten, war der Böhmismus auch von der zeitgenössischen Erkenntnistheorie gründlich entkräftet worden. Die Evidenz der mystischen Schau war für John 32
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Poiret, Lettre (Anm. 15), 164: »Il [John Pordage] découvre dans Dieu de nouvelles manifestations, un nouveau monde d’esprits, des principes antérieurs au monde angélique et naturel et entièrement inconnus à Jacob Boëme, pour les écrits duquel il donne quelques éclaircissements importants, sans entrer néanmoins dans ses matières, vu qu’il finit (au moins dans les traités qui ont paru de lui et qui ne sont qu’un commencement de ses œuvres), il finit, dis-je, là où Jacob Boëme met son commencement.« Theódore Parrhase [d. i. Jean Le Clerc]: Parrhasiana ou pensées diverses sur des matières de critique, d’histoire, de morale et de politique. Amsterdam: Antoine Schelte 1699, 384: »Mr Poiret s’imagine que toutes les sottises des mystiques, & toutes les chimères qu’il lui plait d’y ajoûter, doivent passer pour des Oracles, au lieu qu’il fait, depuis longtemps, de tâcher de séduire les simples, par les spiritualitez ridicules qu’il publie.« etc.
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Locke, dessen Essay Concerning Human Understanding 1690 erschienen war, nur das Ergebnis einer im »Enthusiasten« krankhaft übersteigerten Selbstgewissheit, die im Grunde eine Selbsttäuschung sei. Über die religiösen Schwärmer schrieb er: »Sie sind sicher, weil sie sicher sind. Ihre Überzeugungen sind richtig, weil sie stark von ihnen überzeugt sind. Wenn man ihre Worte der bildlichen Ausdrücke des Sehens und Fühlens entkleidet, so bleibt nichts weiter übrig als das eben Gesagte. Trotzdem lassen sich diese Leute von derartigen Vergleichen so stark täuschen, dass sie bei ihnen selbst die Stelle der Gewissheit und anderen gegenüber die Stelle der Demonstration vertreten.«34 Leibniz replizierte in den Nouveaux Essais (entstanden um 1704/1705) mit weltgewandter Finesse: »Wenn Jacob Böhme, der berühmte Lausitzer Schuster, dessen Schriften, die für einen Mann seines Standes in der Tat etwas Großartiges und Schönes haben, unter dem Namen des Philosophe Teutonique in andere Sprachen übersetzt worden sind, hätte Gold machen können, wie einige es sich einreden, und wie der Evangelist Johannes es konnte, wenn wir das glauben, was ein zu seiner Ehre gemachter Hymnus sagt: Inexhaustum fert thesaurum, Qui de virgis fecit aurum, Gemmas de lapidibus.
so wäre dies ein Grund gewesen, diesem außerordentlichen Schuster mehr Glauben zu schenken. Und wenn Antoinette Bourignon dem französischen Ingenieur Bertrand La Coste in Hamburg wirklich das Licht in den Wissenschaften gegeben hat, das er von ihr empfangen zu haben glaubte, wie er es in seiner Dedikation des Werkes über die Quadratur des Kreises bemerkt […], so würde man nicht wissen, was man dazu sagen sollte. Aber man sieht keine Beispiele eines bedeutenden Erfolges dieser Art noch auch genau detaillierte Voraussagungen, die solchen Leuten geglückt wären.«35 Was vom Böhmismus des 17. Jahrhunderts hier noch 34
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John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Hrsg. v. P. H. Nidditch. Oxford 1975, 700 (IV,19, § 9): »This is the way of talking of these men: they are sure, because they are sure: and their persuasions are right, because they are strong in them. For, when what they say is stripped of the metaphor of seeing and feeling, this is all it amounts to: and yet these similes so impose on them, that they serve them for certainty in themselves, and demonstration to others.« Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais sur l’entendement humain IV,19 (Philosophische Schriften III,2. Hrsg. v. Wolf von Engelhardt u. Hans Heinz Holz. Darmstadt 1985, 626/628): »Si Jacob Böhme, fameux cordonnier de la Lusace, dont les écrits ont ésté traduits de l’Allemand en d’autres langues sous le nom de Philosophe Teutonique et ont en effect quelque chose de grand et de beau pour un homme de cette condition, avoit sçu faire de l’or, comme quelques-uns se le persuadent, ou comme fit S. Jean l’Evangeliste si nous en croyons ce que dit un hymne fait à son honneur: Inexhaustum fert theasaurum, [/] Qui de virgis fecit aurum, [/] Gemmas de lapidibus, on auroit eu quelque lieu de donner plus de créance à ce cordonnier extraordinaire. Et si Mademoiselle Antoinette Bourignon avoit fourni à Bertrand la Coste, Ingenieur François à Hambourg, la lumière dans les sciences, qu’il crut avoir receu d’elle, comme il le marque en luy dediant son livre de la Quadrature du Cercle […] on n’auroit sçu que dire. Mais on ne voit point d’exemples d’un succès considérable de cette nature, non plus que des prédictions bien circonstanciées, qui ayent réussi à de telles gens.«
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übrig blieb, war eine Folge geistvoller und anspielungsreicher Pointen, wie sie Pierre Bayle (1647–1706), der Autor des Dictionnaire historique et critique (zuerst 1697), liebte. Mit seinem Artikel über die Seherin Antoinette Bourignon war die mystische Literatur Teil jener Konversationskultur geworden, die die République des Lettres des Zeitalters auszeichnete.36
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Zur fortwirkenden Rezeption der Mystik Pierre Poirets im Zeitalter des Sensualismus und insbesondere bei Johann Gottfried Herder vgl. Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens. Hamburg 1995 (Studien zum 18. Jahrhundert 19), 111–116, mit Proben aus Herders Exzerpten aus Poirets Oeconomie divine, ebd., 269–273.
Burkhard Dohm
Böhme-Rezeption in England und deren Rückwirkung auf den frühen deutschen Pietismus Jane Lead und das Ehepaar Petersen »From thy dark Cell now great Behemius rise.«1 Diese magische Beschwörung des toten Jacob Böhme in seiner Grabeszelle findet sich in einem Text der englischen Visionärin und Böhme-Anhängerin Jane Lead aus dem Jahre 1696, dem Gründungsjahr der von ihr geleiteten Londoner ›Philadelphian Society‹.2 Die Anrufung des damals lang verstorbenen Böhme deutet auf eine spezifische Aktualität seines Denkens im Kontext philadelphisch-pietistischer Ideenkonstellationen um 1700. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Böhme-Rezeption im englischen Philadelphiertum sowie den Rückwirkungen dieser Rezeption auf den deutschen Radikalpietismus.3 Englische Philadelphier und deutsche Radikalpietisten sind insbesondere im Kontext ihrer Böhme-Rezeption durch ein dichtes Geflecht von Personen und Kontakten, Ideen und Konzepten verbunden.4 Wichtige Referenzbezüge, welche die philadelphischen und pietistischen Böhme-Rezeptionen mit 1
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Richard Roach: Solomon’s Porch, or the Beautiful Gate of Wisdom’s Temple. A Poem. Introductory to the Philadelphian Age. In: Jane Lead: A Fountain of Gardens Watered by the Rivers of Divine Pleasure. London 1696, 3 (unpaginiert). Dieses Gedicht leitet das Visionstagebuch der englischen Philadelphierin und Mystikerin Jane Lead ein. Böhme wird im Gedicht als ein über höchstes göttliches Wissen verfügender Prophet gefeiert, vgl. Roach (s. o.), 3, sowie dazu den zweiten Teil der hier vorliegenden Untersuchung. Erst ab 1697 trat die Philadelphian Society dann verstärkt an die Öffentlichkeit, nachdem sich bereits seit 1647 entsprechende religiöse Hauskonventikel um den lange Zeit führenden Philadelphier John Pordage gebildet hatten. Vgl. auch Peter Cersowsky: Magie und Dichtung. Zur deutschen und englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1990, 192. Zum Begriff des Philadelphiertums vgl. grundlegend Hans Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989, 63 ff. – Der Begriff des ›radikalen Pietismus‹ wird in neuerer theologischer und literaturwissenschaftlicher Pietismusforschung zur Kennzeichnung kirchenferner, meist spiritualistisch orientierter Personen, Gruppierungen und Konzepte im Bereich des Pietismus verwendet. Zur Begriffsbestimmung vgl. hier u. a. Schrader (s. o.) sowie Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. In Zusammenarbeit mit Johannes van den Berg, Klaus Deppermann, Johannes Friedrich Gerhard Goeters u. Hans Schneider hrsg. v. Martin Brecht. Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus 1), 391–437. Aufgrund dieser Sachlage bietet der hier behandelte thematische Bereich zugleich auch ein ergiebiges Untersuchungsspektrum nach dem methodischen Ansatz der Konstellationsforschung, die im Sinne einer Neukonzeptionierung der ›Ideengeschichte‹ bzw. der ›Intellectual History‹ die erkenntnisfördernden wechselseitigen Zusammenhänge von Personen, Problemen und Theorien im Kontext ihrer jeweiligen Umfelder betont. Vgl. dazu: Konstellationsforschung. Hrsg. v. Martin Mulsow u. Marcelo Stamm. Frankfurt a. M. 2005.
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profilieren, finden sich zudem in theosophisch-hermetischen und theologischphilosophischen Umfeldern beider Bewegungen, die deshalb im vorliegenden Beitrag exemplarisch mit behandelt werden. Die Untersuchung erfolgt in drei Schritten: Der erste Beitragsteil sondiert in knappen Zügen die Böhme-Rezeption radikal-religiöser Strömungen Englands seit dem sogenannten Interregnum und deren theologisch-philosophische Reflexion im Kreis der Cambridge Platonists.5 Im Kontext des spiritualistischen Vor- und Umfeldes und seiner philosophischen Reflexion gewinnt die Böhme-Rezeption der englischen Philadelphier erste Konturen. Der zweite Teil des Beitrags veranschaulicht dies zunächst am Beispiel des Philadelphiers John Pordage, der über ein schillerndes Netzwerk von Kontakten zu führenden Spiritualisten Englands verfügt. Auf dieser Basis werden die Schriften der philadelphischen Prophetin Jane Lead analysiert, die vielfach differenzierte Böhme-Bezüge aufweisen. Der dritte Teil der Untersuchung thematisiert abschließend Rückwirkungen der philadelphischen Böhme-Rezeption Englands auf den deutschen Radikalpietismus am Beispiel des Ehepaares Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Den Ausgangspunkt des folgenden ersten Beitragsteils bilden einige grundlegende Sondierungen im historischen und ideengeschichtlichen Vor- und Umfeld der philadelphischen Bewegung Englands. Mit dem ›Interregnum‹ und dem Niedergang der ›Church of England‹ (1644)6 findet Böhme bei einigen führenden Vertretern radikal-religiöser Bewegungen wachsendes Interesse.7 Eine Basis dieser Böhme-Rezeption bildet die damals entstehende Übersetzung seiner Werke durch John Sparrow.8 Rezeptionen Böhmes überlagern sich in England unter anderem mit Nachwirkungen der von Hendrik Niclaes in Holland begründeten, radikalreligiösen ›Family of Love‹.9 Führende Spiritualisten werden daher von ihren 5
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Bei den Cambridge Platonists handelt es sich um eine neuplatonistisch orientierte, einflussreiche Bewegung Englands, der u. a. Henry More, Ralph Cudworth und Benjamin Whichcote zugehören. Eng verbunden mit dieser philosophischen Gruppierung ist die hochgelehrte Anne Conway, deren philosophische Konzeption im dritten Teil der vorliegenden Untersuchung ins Blickfeld rückt. Vgl. dazu näher Sarah Hutton: Anne Conway. A Woman Philosopher. Cambridge 2004, 56. Eine differenzierte Sicht dieser Rezeptionen entwickelt Nigel Smith vor allem in dem Kapitel ›Jacob Boehme and the Sects‹ seines Buches: Perfection Proclaimed. Language and Literature in English Radical Religion 1640–1660. Oxford 1989, 185–225. John Sparrows Böhme-Übersetzungen werden seit 1645 veröffentlicht. An dieser zentralen englischen Böhme-Übertragung, die etwa auch dem Neuplatoniker Henry More sowie den englischen Philadelphiern vorlag, sind außerdem John Ellistone sowie als Herausgeber der politisch aktive Buchhändler Humphrey Blunden beteiligt. Vgl. hierzu u. a. Cersowsky (Anm. 2), 191. Die erste (knappe) englischsprachige Böhme-Biographie von Durand Hotham findet sich im Anhang zu Sparrows und Ellistones Übertragung von Böhmes ›Mysterium Magnum‹, vgl. Durand Hotham: The Life of Jacob Behmen. In: Jacob Behme: Mysterium Magnum, or, an Exposition of the first Book of Moses, called Genesis […]. Transl. by J. Ellistone and J. Sparrow. London 1654. Zu dieser radikal-religiösen Strömung vgl. u. a. Alastair Hamilton: The Family of Love. Cambridge 1981 sowie Christopher W. Marsh: The Family of Love in English Society, 1550–1630. Cambridge 1994; diese Arbeit enthält u. a. eine vom Verfasser erarbeitete aufschlussreiche Liste, in der Mitglieder der ›Family of Love‹ aufgeführt werden (265–287).
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Gegnern zugleich als ›Familists‹ und ›Behmenists‹ bekämpft.10 In unterschiedlicher Intensität finden sich zudem Spuren Böhmes im frühen Quakertum und bei den ›Quinto-Monarchisten‹, den Diggers und Seekers.11 Auf theologisch-philosophischer Ebene werden Böhme und seine Wirkungen seit Mitte des 17. Jahrhunderts von den Cambridge Platonists um Henry More reflektiert.12 Vor allem die mit More befreundete, kabbalistisch geprägte Philosophin und spätere ›Quaker-Lady‹ Anne Conway13 sticht hier hervor: In ihrem einflussreichen ›Ragley-Circle‹14 diskutieren Conway und andere an Böhme interessierte Denker, wie der Neuplatoniker More, der Kabbalist Mercurius van Helmont15 und der Quakerführer George Keith,16 über theosophische, theologischphilosophische und politische Implikationen der Ideen Böhmes und der böhmistischen Bewegungen Englands. Die von Böhme besonders beeindruckte Conway17 findet nicht allein in ihrem philosophischen Umfeld, und besonders bei Gottfried 10
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Vgl. dazu Hamilton (Anm. 9), 137 u. 142 f. Symptomatisch für das damals sowohl an Böhme als auch an Niclaes herrschende Interesse ist beispielsweise, dass der englische Drucker Giles Calvert in der Mitte des 17. Jahrhunderts ebenso viele Übersetzungen von Schriften Böhmes wie von Texten des Niederländers Niclaes produziert, vgl. ebd., 139. Vgl. Smith (Anm. 7), 21 ff., 185 ff. Zur Böhme-Rezeption in England und insbesondere bei den Spiritualisten im Interregnum vgl. auch Brian J. Gibbons: Gender in Mystical and Occult Thought. Behmenism and its Development in England. Cambridge 1996, 103–142. Zur kritischen Auseinandersetzung Henry Mores mit Jacob Böhme vgl. Sarah Hutton: Henry More and Jacob Boehme. In: Henry More (1614–1687). Tercentenary Studies. Hrsg. v. Sarah Hutton. Dordrecht 1990, 157–171. Zur Aufnahme kosmogonischer Ideen Böhmes bei More vgl. Serge Hutin: Henry More und die Cambridger Platoniker. In: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. Hrsg. v. Peter von Koslowski. München 1988, 168–182, hier: 179 f. Zu Conway und ihrer Philosophie vgl. die grundlegende Studie von Sarah Hutton (Anm. 6). Ort dieser philosophischen Gespräche ist Ragley Hall, der Wohnsitz Conways. Indem auswärtige Besucher in den Ragley Circle eintreten, verändern sich die dort diskutierten Ideenkonstellationen ebenso wie die Ideen der Besucher selbst. Zum Ragley-Zirkel als Musterbeispiel künftiger Konstellationsforschung vgl. Martin Mulsow: Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung. In: Konstellationsforschung (Anm. 4), S.74–97, hier: 78. Zu dem im 17. Jahrhundert einflussreichen Mediziner und Kabbalisten Mercurius van Helmont, der Conway auch ärztlich betreut und behandelt, vgl. die umfassende Studie von Allison P. Coudert: The Impact of the Kabbalah in the Seventeenth Century. The Life and Thought of Francis Mercury van Helmont (1614–1698). Leiden, Boston, Köln 1999. Zu den Beziehungen van Helmonts zu Conway und Keith sowie zu auffälligen Affinitäten der Anschauungen van Helmonts und Keiths zu denen des Neuplatonikers und Hermetikers John Everard vgl. ebd., 186. Zu Everards Kontakten mit dem Philadelphier Pordage vgl. den hier folgenden Pordage-Teil des vorliegenden Aufsatzes. George Keith verfasst zudem im Anschluss an seine Diskussionen mit Conway und van Helmont in Ragley Hall gemeinsam mit diesen beiden Gelehrten eine (mir nicht greifbare) kabbalistische Schrift. Damit geht Keith hier freilich deutlich andere Wege als die meisten Quaker. Vgl. Sünne Juterczenka: Über Gott und die Welt. Endzeitvisionen, Reformdebatten und die europäische Quakermission in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2008, 147. Conway zeigt sich, auch hierin den ihr nahe stehenden frühen Quakern ähnlich, von Böhme stark beeindruckt. Vgl. dazu The Conway Letters. The correspondence of Anne, Viscountess Conway, Henry More, and their friends; 1642–1684. Edited by Marjorie Hope Nicolson. Revised Edition with an Introduction and new Material edited by Sarah Hutton. Oxford 1992, 72, Anm. 1, 381. Conway studierte »the tracts of Behmenists, Familists, Seekers, and Quakers«.
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Wilhelm Leibniz, Beachtung, sondern auch im Kontext jener radikal-religiösen philadelphisch-pietistischen Bewegungen, die im Zentrum des vorliegenden Beitrags stehen.18 Vor diesen Hintergründen thematisiert der folgende zweite Teil der Untersuchung die Böhme-Rezeption der englischen Philadelphier. Wie die Namensgebung signalisiert, widmet sich die ›philadelphische‹ Bewegung der endzeitlichen Verwirklichung überkonfessioneller Bruderliebe. Im Selbstverständnis der Philadelphier markiert die mit ihnen beginnende ›Heilszeit‹ die Ablösung der nachreformatorisch–›sardischen‹ Epoche der Kirchengeschichte durch ein neues, ›philadelphisches Zeitalter‹.19 Die schon genannten führenden Philadelphier Pordage und Lead gelten zudem als die wichtigsten englischen Interpreten des deutschen Barockspiritualismus und insbesondere der Mystik Böhmes.20 In knapper Form soll nun zunächst Pordages Position skizziert werden. Denn der suspendierte Theologe und Mediziner Pordage fungiert gleichsam als ›Brücke‹ von den religiösen Radikalen im ›Interregnum‹ zur Böhme-Rezeption der Philadelphier. Schon früh steht Pordage mit wichtigen spiritualistischen Denkern in Kontakt. Zu diesen zählt der gelehrte Neuplatoniker und Alchimist, Theologe und Cusanus-Kenner John Everard (ca. 1582–ca. 1640), der Ficinos lateinische Poimander-Übersetzung, einen Grundtext der Hermetik, begeistert ins Englische überträgt.21 Über seine hermetisch-alchimistisch inspirierte Naturphilosophie steht Everard mit anderen Gelehrten, wie beispielsweise Elias Ashmole, in engem
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Sie war vor allem fasziniert von den Schriften Hendrik Niclaes’ und Jacob Böhmes. Vgl. ebd., 382. Der Kontakt zwischen Leibniz und Conway verläuft überwiegend durch Vermittlung van Helmonts. Zu Conway und Leibniz, der u. a. hinsichtlich des Monadenbegriffs auf Conway zurückgreift, vgl. Albert Heinekamp: Leibniz und die Mystik. In: Gnosis und Mystik (Anm. 12), 183–206, hier: 188 f. Zum Verhältnis von Conway, Leibniz und Petersen vgl. den letzten Teil des vorliegenden Beitrags. Vgl. Schneider (Anm. 3), 405. Zu dieser Einschätzung vgl. die entsprechenden Hinweise und Analysen von Nils Thune: The Behmenists and the Philadelphians. A Contribution to the Study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries. Uppsala 1948; Friedhelm Kemp: Jakob Böhme in Holland, England und Frankreich. In: Studien zur europäischen Rezeption deutscher Barockliteratur. Hrsg. v. Leonard Forster. Wiesbaden 1983, 211–226; Schrader (Anm. 3), 65. Ausführlichere Untersuchungen und Analysen zu Positionen der englischen Philadelphier finden sich bei Cersowsky (Anm. 2), 191–219, sowie im Kontext neuerer literaturwissenschaftlicher Böhme- und Pietismusforschung in Burkhard Dohm: Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus. Tübingen 2000, 131–186. Zu den zentralen (keineswegs ausschließlich an Böhme orientierten) Denkkonzepten der englischen Philadelphier und ihren Wirkungen im deutschen Pietismus vgl. auch Dohm: ›Götter der Erden‹: Alchimistische Erlösungsvisionen in radikalpietistischer Poesie. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Anne-Charlotte Trepp u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, 189–204. John Everard: The divine Pymander of Hermes Mercurius Trismegistos. Translated out of the original into English by that learned divine, Dr Everard. London 1650. Diesen Text ergänzt Everard in der zweiten Auflage um die englische Übersetzung des Asclepius (London 1657), des zweiten Buches des Corpus hermeticum, vgl. Smith (Anm. 7), 114. Everards
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Austausch.22 Der als ›Familist‹ und ›Seeker‹23 verdächtigte sowie wegen angeblich pantheistischer Ideen verfolgte und inhaftierte Everard übersetzt zudem Texte des Mystikers Johannes Tauler und die spätmittelalterlich-mystische Schrift Theologia Deutsch, mehrere zentrale theologisch-philosophische Werke des in Deutschland und Italien wirkenden Kardinals Nikolaus von Kues, einen Text des Pseudo-Dionysius Areopagita sowie Schriften des humanistisch gebildeten, zeitweilig dem Täufertum zugehörigen Hans Denck und des auch für Böhme wichtigen Spiritualisten Sebastian Franck.24 Deutliche Einflüsse der von Everard übersetzten Werke sind in seinen Predigten nachweisbar, in denen er auch Porphyrios und Plotin zitiert.25 Everard leistet mithin einen zentralen Beitrag zur Anglisierung der Anthropologie deutscher mystischer und spiritualistischer Denkpositionen vom späten Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert und bereitet somit auch die folgenreiche Aufnahme von Jacob Böhmes Schriften in England vor. Aus der Sicht kirchlicher und staatlicher Autorität gilt Everard als besonders gefährlich, da er mit seiner außergewöhnlichen Gelehrtheit zugleich eine größtmögliche Breitenwirkung seiner Ideen in allen Bevölkerungsschichten intendiert, nämlich von ihm gleichgesinnten Adligen bis hin zu den »Tinkers, Coblers, Weavers, [and] Poor sleight Fellows«.26 Zu Pordages spiritualistischen Kontakten zählt weiterhin der Sektierer Thomas Tany, dessen exzentrisch-prophetischer Gestus an Böhme erinnert.27 In Pordages Schülerkreis findet sich zudem schon seit 1651 der Quaker und spätere wichtige Philadelphier Thomas Bromley, der sich aufgrund einer Predigt Pordages in Oxford diesem anschließt. Bromleys zentrale Schrift The Way to the Sabbath of Rest erinnert in manchen Zügen an Böhmes Konzept der ›Magia
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Übersetzung beider Texte folgt Marsilio Ficinos lateinischer Übertragung des Corpus hermeticum in der Ausgabe von 1576, vgl. Smith (Anm. 7), 121. Vgl. Smith (Anm. 7), 110. Was den Verdacht des Familismus betrifft, vgl. zu Everard auch Marsh (Anm. 9), 237. – Der englische Begriff ›Seekers‹ steht für solche Spiritualisten, die eher vereinzelt auftreten. Vgl. Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500–1800. Göttingen 2000, 270. Zur den hier angeführten Übersetzungen Everards vgl. Smith (Anm. 7), 112–122, zu den Wirkungen dieser Übersetzungen vgl. ebd., 132 ff., zum oben angesprochenen PantheismusVorwurf gegen Everard ebd., 114. Neben den ersten Büchern des Corpus hermeticum übersetzt Everard insbesondere zentrale Werke des Cusanus: De visione dei, Idiota de mente und De dato Patris luminum, vgl. ebd., 115 u. 120 f., sowie T. W. Hayes: The Seventeenth Century Translation of Nicholas of Cusa’s ›De dato Patris luminum‹. In: Journal of Medieval and Renaissance Studies 11 (1981), 113–136. – Texte von Hans Denck finden sich in Everards Übertragung der Theologia Deutsch. Everard übersetzt zudem auch alchimistische Schriften. Er leugnet die Existenz eines ewigen Höllenortes, die ›Hölle‹ gilt ihm vielmehr als innerer Zustand im irdischen Individuum. Everard glaubt nicht an die christliche Konzeption der Auferstehung, denn nach seiner Überzeugung, die hier den Auffassungen der Philadelphier nahe ist, wandeln sich am Ende alle Dinge in Gott. Vgl. Smith (Anm. 7), 113 f. Eine Sammlung von Everards Predigten, die auch das Manuskript seiner Franck-Übersetzung enthält, erscheint postum zunächst unter dem Titel: Some Gospel-Treasury Opened […]. 2 Parts. London 1653, dann erneut mit modifiziertem Titel: The Gospel-Treasury Opened. London 1657 sowie in einer weiteren Auflage 1659. Everard, The Gospel-Treasury (Anm. 25), 86. – Aufgrund seiner radikal-religiösen Einstellungen verliert der in Cambridge promovierte Everard schon früh sein Amt als ›Lecturer at St. Martin-in the Fields‹, Smith (Anm. 7), 111. Vgl. ebd., 56, 214ff, 299 ff.
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divina‹, wenngleich Böhmes Name in diesem Werk nicht genannt wird. Einflüsse Böhmes treten später in einer anonym erschienenen deutschen Übersetzung dieser Schrift markanter hervor als in Bromleys ursprünglichem Text.28 Ab 1662 versammelt Pordage einen kleinen böhmistischen Kreis in London, dem bald die politisch-pazifistisch orientierte, von den radikal-religiösen Quinto-Monarchisten unterstützte Seherin Anna Trapnel29 sowie die Visionärinnen Ann Bathurst30 und Jane Lead angehören. Aus diesem Zirkel entwickelt sich schließlich die Londoner ›Philadelphian Society‹. In seinen Schriften präsentiert sich Pordage, im Sinne Böhmes, als Adept der göttlichen Sophia, die er unter anderem als Wurzel des Lebens bezeichnet.31 Im deutlichen Anklang an Böhmes Bildwelt entfaltet Pordage seine von Hermetik und Alchimie sowie durch apokryphe Schriften inspirierte Sophien-Lehre.32 Zudem entwirft er an Böhme orientierte kosmogonische und kosmologische Konzeptionen. Von Pordages Hauptwerken sind die umfangreiche Göttliche und Wahre Metaphysica und seine Sophia-Schrift nur noch in deutscher Übersetzung erhalten; ebenso wie diese beiden Werke, so zeigt auch seine Theologia Mystica deutlich böhmistische Grundlagen.33 Fungiert Sophia bei Böhme als ›Spiegel Gottes‹, so zeigt sie sich bei Pordage, wie auch bei Lead, als anthropomorph gestaltete, ›weiblich‹-visionäre Erscheinung.34 28
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Thomas Bromley: The Way to the Sabbath of Rest. Or, the souls Progresse in the work of regeneration. London 1655; dt. Übers. (anon.): Der Weg zum Sabbath der Ruhe, durch der Seelen Fortgang im Werck der Wiedergeburth […]. Amsterdam 1685. Bromleys Hauptschrift wird im deutschen radikalen Pietismus vor allem von Gottfried Arnold hoch geschätzt. Vgl. Cersowsky (Anm. 2), 94 ff., 263. Zu Trapnel vgl. Nigel Smith (Anm. 7), bes. 49–53. Vgl. die in Oxford befindlichen Visionsbeschreibungen Bathursts von 1679: Bodleian Library MS Rawlinson D1338, ihre Visionsbeschreibungen 1679–1693: Bodleian Library MSS Rawlinson D1262–D1263. Als Beispiel einer für Bathurst typischen, gesteigert erotischen Gottesvision vgl. Bodleian Library MS Rawlinson D1262, 45. Zu Pordages Sophien-Bildlichkeit und zum Konzept der ›Seelenwurzel‹ vgl. Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 138 ff. Vor allem zu Hermetik und Alchimie bei Pordage vgl. Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20). Als ein wichtiger Quellentext, der gemeinsam durchgeführte alchimistische Experimente Pordages und Leads dokumentiert, sei hier angeführt: John Pordage: Ein Gründlich Philosophisch Sendschreiben vom rechten und wahren Steine der Weißheit […]. In: Theologia Mystica, oder Geheime und verborgne göttliche Lehre von den Ewigen unsichtbarlichkeiten […]. Amsterdam 1698, hier: 267–281. Vgl. John Pordage: Göttliche und Wahre Metaphysica, oder Wunderbahre/ durch eigene Erfahrung erlangte Wissenschaft der unsichtbaren und ewigen Dinge […]. Bde.I-III. Frankfurt a. M./Leipzig 1715; ders.: Sophia: das ist/ die Holdseelige ewige Jungfrau der Göttlichen Weisheit […] Amsterdam 1698; ders.: Theologia Mystica, or the Mystic divinite of the aeternal invisibles […]. London 1683. Vgl. auch Gibbons (Anm. 11), 113. – Zur ›Sophia‹-Schrift Pordages vgl. die ausführliche Analyse in Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 134 ff., zu Lead vgl. das Folgende. – Hingewiesen sei auch auf Pordages Sohn Samuel, der im Jahre 1661 ein böhmistisch inspiriertes kosmogonisches Gedicht mit dem Titel Mundorum explicatio (London 1661) vorlegt. In diesem Text gestaltet Samuel Pordage vor allem Böhmes Themen der ›Heiligen Hochzeit von Himmel und Erde‹, der ursprünglichen Androgynität Adams sowie der Sophiologie. Aufgrund der starken Böhme-Bezüge schreibt Thune diesen Text Samuel und John Pordage gemeinsam zu, vgl. Thune (Anm. 20), 79 f.
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Während Pordage die Philadelphier als einen eher ›verdeckt‹-privaten Zirkel führt, wird die ›Philadelphian Society‹ durch Jane Lead schließlich öffentlich gegründet. Der ›Prophetin‹ Lead, die als Leiterin der Sozietät fungiert, gelten die weiteren Darlegungen in diesem Beitragsteil.35 Wie schon Pordage, so greift auch Lead Ideen Böhmes umgestaltend auf. So führt Lead die Sozietät im Sinne von Böhmes Konzept der eschatologischen ›Lilienzeit‹ sowie im Sinne seiner philadelphisch interpretierten Forderung, die wahren ›Kinder Gottes‹ aus allen christlichen Kirchen zu sammeln.36 Frühere Versuche zur Gründung philadelphischer Gemeinden in Deutschland – etwa durch den Spiritualisten Paul Felgenhauer sowie durch den zeitweilig mit Gottfried Arnold befreundeten ›Engelsbruder‹ und Böhme-Herausgeber Johann Georg Gichtel – waren weithin gescheitert.37 Leads Gründung der englischen Sozietät wirkt sich nun auch in Deutschland und Holland aus sowie bei Pietisten und sogenannten Inspirierten in Frankreich und der Schweiz.38 Böhme bildet den Dreh- und Angelpunkt der von den Philadelphiern vornehmlich intendierten Rückwirkung ihrer Ideen auf das Land ihrer tiefsten ›Wurzel‹, die sie, im Rekurs auf Böhmes Aurora, als ihre »German Root« bezeichnen.39 Leads Schriften bilden ein umfangreiches Korpus von rund 3 500 Seiten. Von ihren programmatischen Texten wurden vor allem The Heavenly Cloud Now Breaking und Revelation of Revelations im deutschen Radikalpietismus intensiv rezipiert.40 Leads Hauptwerk ist ihr etwa 2 500 Seiten umfassendes Visionstage35
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Zu Lead – unter dem für sie grundlegend wichtigen Aspekt der Alchimie – vgl. Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 153–186. Im Unterschied zu dieser Studie bildet im vorliegenden Beitrag die Frage der Böhme-Rezeption den zentralen Leitaspekt der Untersuchung. Im Folgenden wird gleichwohl verschiedentlich auf das Lead-Kapitel des Buches verwiesen. Vgl. u. a. Erich Beyreuther: Geschichte des Pietismus. Stuttgart 1978, 28. Vgl. Schrader (Anm. 3), 64, 251. Der Versuch, die deutschen Philadelphier durch den in England weilenden deutschen LeadAnhänger Johann Dittmar auf die Annahme gleicher, in der englischen Sozietät geltender böhmistischer Glaubensüberzeugungen zu verpflichten, misslingt, vgl. Schrader (Anm. 3), 65 sowie Claudia Wustmann: Die »begeisterten Mägde«. Mitteldeutsche Prophetinnen im Radikalpietismus am Ende des 17. Jahrhunderts. Leipzig 2008, 102. Dittmars Reiseinstruktionen wird ein aufschlussreicher ›Catalogus amicorum in Germania‹ beigefügt, der deutsche und niederländische Freunde und Förderer der philadelphischen Bewegung aufführt. Vgl. Thune (Anm. 20), 125 f. In der bei Thune wiedergegebenen Liste finden sich u. a. der Quedlinburger Hofprediger Johann Heinrich Sprögel und seine Gattin, Gottfried Arnold, Johann Wilhelm Petersen, die von Petersen unterstützte ›Prophetin‹ Rosamunde Juliane von Asseburg, der mit dem englischen Chiliasten Thomas Beverly verbundene, philadelphischen Ideen und ihren internationalen Verbreitungskonzepten sehr zugängliche Offenbacher Hofprediger Conrad Bröske, Johann Heinrich Reitz, der radikalpietistische Separatist Henrich Horch und auch der eher kirchenorientierte Philipp Jacob Spener, der als eigentlicher Begründer des deutschen Pietismus gilt. – Zu den radikal-religiösen Gruppierungen der französischen Inspirés sowie des schweizerischen Pietismus im Kontext ihrer jeweiligen Rezeptionen Böhmes und des englischen Philadelphiertums vgl. Isabelle Noth: Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743). Göttingen 2005. Vgl. Cersowsky (Anm. 2), 193. Jane Lead: The Heavenly Cloud Now Breaking. London 1681; dies.: The Revelation of Revelations particularly as an essay towards the unsealing, opening and discovering the Seven Seals, the Seven Thunders, and the New-Jerusalem State […]. London 1683. Die beiden hier
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buch (›spiritual diary‹) mit dem Titel A Fountain of Gardens, dessen Inhalt Lead angeblich »as in […] Trance« empfing.41 Schon der Titel des Tagebuchs weist im Sinne von ›Wisdom’s Fountain‹ (›Brunnquell der Weisheit‹) auf Böhmes Konzept der Sophia, die im Denken Böhmes als Medium der ›Magia divina‹, der ›göttlichen Magie‹, fungiert.42 Leads geistliches Tagebuch enthält ein langes Gedicht mit dem Titel Solomon’s Porch,43 es stammt von einem Vertrauten Leads, dem philadelphischen Poeten Richard Roach. In diesem Gedicht werden Leads Visionen aufschlussreich perspektiviert. Böhme erfährt hier höchste Verehrung als »Fountain of Science, Art, and Mystery«.44 Die englischen Philadelphier, so wird im Folgenden deutlich, sehen den zentralen, aktuellen ›Ort‹ der Lehre Böhmes im Kontext damals vielfältiger Forschungs- und Wissensverzweigungen von ›mechanistisch‹ orientierter ›New Science‹ mit Theologie und Theosophie sowie hermetischer Naturforschung.45 Böhmes Denken verbinde Aristoteles und Platon sowie René Descartes und dessen Schüler Nicolas Malebranche einerseits mit dem ›göttlich-magischen‹ Wis-
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genannten sowie auch zahlreiche weitere Texte Leads wurden vor allem seit den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts in Amsterdam meist zeitnah ins Deutsche übersetzt und publiziert. Die deutschen Titel der erwähnten Schriften sind: Jane Lead: Die nun brechende und sich zertheilende Himmlische Wolcke […]. Amsterdam 1694; dies.: Offenbahrung der Offenbahrungen. Vornehmlich als ein Muster und Probe zur Entsiegelung/ Offenbahrung und Erklärung der Sieben Siegel/ sieben Donner und eigentlicher Beschaffenheit und Zustands des neuen Jerusalems […]. Angehängt an: dies., Himmlische Wolcke (s. o.). Jane Lead: A Fountain of Gardens Watered by the Rivers of Divine Pleasure […]. 3 Tle. London 1696–1701, hier: Tl. 3, 324. Zeitnah erscheinen deutsche Übersetzungen der Bände des Visionstagebuches, Lead: Ein Garten-Brunn Gewässert durch die Ströhme der göttlichen Lustbarkeit […] in drey Theilen […]. Tl. I u. II. Amsterdam 1697; dies.: Des Durch die Ströhme der Göttlichen Lustbarkeit gewässerten Garten-Brunnens Dritten und letzten Theils Erster Theil […]. Dritten […] Theils Zweyter Theil. Amsterdam 1700. Vgl. Cersowsky (Anm. 2), 204. Roach (Anm. 1). Das umfangreiche Gedicht umfasst 23 Seiten (unpaginiert) und ist dem Text von Leads Visionstagebuch vorangestellt. Als Autor wird am Ende des Gedichts ›Onesimus‹ genannt, ein im philadelphischen Kontext bekanntes und geläufiges Synonym für den nahen Lead-Vertrauten Richard Roach’ vgl. etwa Bodleian Library MSS Rawlinson 832, 833, wo die Bezeichnung vielfach eindeutig konnotiert auftaucht. Roach (Anm. 1), 4. Böhme wird in diesem Kontext zudem als »Tutor to Sages« apostrophiert, ebd., 3. Zu der mit dieser Situierung zugleich angesprochenen denkgeschichtlichen Konstellation der sog. Third Force ›zwischen‹ Rationalismus und Empirismus und dem für dieses Gelehrten-›Netzwerk‹ typischen Streben nach universalem Wissen vgl. grundlegend Richard H. Popkin: The Third Force in Seventeenth-Century Thought. Leiden/New York 1992. Popkin beschäftigt sich in dieser Studie unter anderem mit Autoren (nicht nur der ›Third Force‹) wie Descartes, Leibniz, Malebranche, Newton, Boyle, Henry More, Comenius, Hartlib und auch Böhme; zu Böhme vgl. hier: 275 f. Viele dieser von Popkin behandelten Denker werden auch im Text des hier analysierten philadelphischen Gedichts sowie in den weiteren Ausführungen des vorliegenden Beitrags zur Böhme-Rezeption in Philadelphiertum und Pietismus sowie bei den Cambridge Platonists thematisiert, vgl. dazu das Folgende. Interessant ist hier zunächst, dass die englischen Philadelphier, die Popkin nicht in seine Darlegungen einbezieht, im vorliegenden repräsentativen Roach-Gedicht am Beispiel des Mystikers Böhme und seiner Wirkungen die von Popkin beschriebene denk- und wissenschaftsgeschichtliche Konstellation markant widerspiegeln.
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sen des ›Hermes Trismegistos‹ sowie andererseits mit der am mechanistischen Modell orientierten ›New Science‹.46 Als Vertreter der ›New Science‹ wird im philadelphischen Gedicht der Chemiker Robert Boyle (1627–1691) angeführt: Boyle, so heißt es, sei wie auch Descartes in Böhmes Schriften »in jeder Zeile« (»in ev’ry line«) präsent.47 Eine solche, zunächst irritierende Zuordnung des Naturforschers Boyle beruht darauf, dass dieser als Mitbegründer der Royal Society, der ältesten englischen Akademie der Wissenschaften, zugleich mit größtem Nachdruck alchimistische Interessen verfolgt.48 Gerade die Erforschung der bei Böhme präsenten Arkana der Alchimie erscheint Boyle vor allem aufgrund seines millennaristischen Denkens besonders dringlich. So glauben etwa Boyle und Newton, durch Erkenntnisfortschritte in ihrer Naturforschung und auch in der Alchimie den von ihnen erwarteten Beginn des Millenniums aktiv zu beschleunigen.49 Diese, auf eine entsprechende eschatologische Weissagung im Buch Daniel (12,4) gestützte, millennaristische Deutung sprunghaft steigender naturwissen46
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Roach (Anm. 1), 4. Ein kühner gedanklicher Bogen setzt Böhme ebenso in Relation zu den beiden Hauptvertretern der antiken griechischen Philosophie sowie zum Cartesianismus und der New Science des 17. Jahrhunderts. In gleich intensiver Weise sei Böhme zudem (faktisch u. a. durch offenkundige Affinitäten seines Denkens zu Paracelsus und zum Paracelsismus begründbar) mit den hermetischen Künsten der Magie, der Alchimie und der Astrologie verbunden, als deren angeblicher Begründer der im Gedicht genannte ›Hermes Trismegistos‹ figuriert. Zum Kontext der Hermetik sowie zu den mannigfachen Verbindungen von Hermetik und (Natur-)Wissenschaften in der Frühen Neuzeit (bis ins 18. Jahrhundert) vgl. grundlegend Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20). – Durch seine Arbeit an Böhmes Schriften sieht sich auch der bereits erwähnte zentrale englische Böhme-Übersetzer Sparrow im Dienst der Gewinnung und Verbreitung universaler Welterkenntnis. Denn Böhme, so Sparrow, erkläre die ›Mysterien der Alten‹, setze das Werk Bacons von einer ›Natural Philosophy‹ zu einer ›Divine Experimental History‹ fort und vollende die ›Pansophie des Comenius‹ ebenso wie die Naturwissenschaft Descartes‹. Vgl. hierzu Wilhelm Struck: Der Einfluss Jacob Böhmes auf die englische Literatur des 17. Jahrhunderts. Berlin 1936, 209 f. Roach (Anm. 1), 4. Boyle war u. a. Mitbegründers des Oxforder ›Invisible College‹, aus dem die ›Royal Society‹ hervorging. Popkin verweist auf Boyles Konzept der Kompatibilität und gegenseitigen Beförderung von Religion und Wissenschaft und konstatiert u. a.: »The great scientist Robert Boyle, who was one of the originating spirits of the Royal Society, and who financed a lot of the scientific research of the time, left some of his vast riches for an annual series of lectures on the harmony of religion and science.« Popkin (Anm. 45), 297. Zur Bedeutung der Alchimie für Boyle vgl. u. a. L. M. Principe: The Aspiring Adept. Robert Boyle and his Alchemical Quest. Including Boyle’s ›lost‹ Dialogue o the transmutation of metals. Princeton 1998 sowie ders.: Robert Boyle’s Alchemical Secrecy: Codes, Ciphers and Concealments. In: Ambix 39 (1992), 63–74. Vgl. dazu Kaspar von Greyerz: Wissenschaft, Endzeiterwartung und Alchemie im England des 17. Jahrhunderts. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis (Anm. 20), 205–217, hier: 212 ff. Wie Popkin anführt, glauben Henry More, Boyle und Newton an die Endzeitprophetie Daniels (Dan 12,4), »that knowledge would increase at the time of the end«; für die genannten Gelehrten gilt nun gerade die »scientific revolution as a visible sign« für die Erfüllung dieser Prophetie in der angeblichen ›Endzeit‹ ihrer eigenen Gegenwart, Popkin (Anm. 45), 291. Aus der Sicht der von Popkins Forschungen angeregten, aktuellen historischen Konstellationsforschung vgl. zum Themenkomplex von ›Endzeit‹ und (Natur-)Wissenschaft auch Martin Mulsow: Metaphysikentwürfe im Comenius-Kreis 1640–1650. Eine Konstellationsskizze. In: Konstellationsforschung (Anm. 4), 221–257; so heißt es hier: »Oftmals war bei der ›Third Force‹ das enzyklopädische Streben nach einem universalen Wissen mit
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schaftlicher und spiritueller Erkenntnis wird auch im philadelphischen Gedicht mit Nachdruck propagiert: Im millennaristischen Kontext sei Böhmes ›göttliches Wissen‹ durch Leads Visionen neu zu verstehen. Um aktuell seine volle Wirksamkeit zu entfalten, bedarf Böhme – aus philadelphischer Sicht – zunächst der klaren Sprache. Im Gedicht wird daher Edward Taylor (gest. Dublin 1684) als zentraler Böhme-Interpret gewürdigt.50 Sein hier gepriesenes Werk Jacob Behmen’s Theosophick Philosophy Unfolded (1691)51 ist ein auf Sparrows wortgetreuer Böhme-Übertragung basierendes umfangreiches Brevier. Der in Böhmes ›dunklen‹ Schriften verborgene ›Rohdiamant‹ seiner Mystik erscheine erst durch Taylors ›klaren Stil‹ (»clear Stile in each Transparent Line«) geschliffen und werde hier mithin in seiner vollen ›Leuchtkraft‹ wirksam: Jede Seite von Taylors Böhme-Brevier ströme von Licht (»Each page outstreaming Light«) und entfache göttliche Liebe (»kindling Love Devine«).52 Die hier zutage tretende göttliche Wirkkraft Böhmes beansprucht Lead auch für ihre im Folgenden berichteten Visionserfahrungen.53 Das philadelphische Gedicht und die Visionen Leads gestalten das nahende Millennium und die Restituierung der Schöpfung als göttlich-magisch wirkende »Universal Cure«54. Im Anklang an Böhme entfaltet sich im Sinne eines solchen Heilsgeschehens ein kosmischer Läuterungsprozess in paracelsisch-hermetischer Tradition, der zunächst in einer weiteren Passage des thematisierten Roach-Gedichts im Blick auf Leads Visionen vorab programmatisch entfaltet wird: Der von ›Schlacken‹ durchsetzte irdische Mensch (»Man’s Earth and drossy Mold«) werde – in Böhmes und Leads alchimistischer Bildwelt – in ›perlenen Sophienglanz‹ (»Pearly Beauty«)55 und ›lebendiges Gold‹ (»Living Gold«) ›transmutiert‹ (»transmute«).56
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millennaristischen Hoffnungen und Berechnungen verknüpft: das kommende tausendjährige Reich werde auch das Reich des wieder in eine Einheit überführten Wissens sein.« (224). Zu Taylor vgl. Roach (Anm. 1), 5. Edward Taylor: Jacob Behmen’s Theosophick Philosophy Unfolded in Divers Considerations and Demonstrations […]. London 1691. Die Schrift Taylors enthält unter anderem einleitend kommentierte (1–41) Auszüge aus Böhmes Principal Treatises sowie Antworten auf von Böhme formulierte Fragen (»177 Theosophick Questions«), die dieser, wie Taylor sagt, »Devinely Instructed Author« vor seinem Tod nicht mehr selbst beantworten konnte. Zu diesen Fragen und Taylors Antworten vgl. ebd., 40–218. Die erwähnten, im Band versammelten Auszüge aus zentralen Schriften Böhmes – wie Aurora, Signatura rerum, Mysterium Magnum u. a. – umfassen die Seiten 241–423. Der Band schließt mit einer an Durand Hotham orientierten Kurzbiographie Böhmes, 424–434 (›Extracts of the Life of Jacob Behmen‹). Roach (Anm. 1), 5. Vgl. dazu auch Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 162. Roach (Anm. 1), 21. Die im Folgenden zu untersuchende Gedichtpassage umfasst die Seiten 20 f. Vgl. im hier angesprochenen alchimistischen Kontext ausführlicher Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 156 ff. sowie bes. 170 ff. Das im Text implizierte, nicht zuletzt auch biblisch konnotierte Bild der Perle, auf das Roach im Gedicht und Lead in ihren Visionsbeschreibungen mehrfach rekurrieren, macht Böhme bereits in seiner früh gedruckten Schrift Christosophia für die Sophien-Mystik fruchtbar. Zu den hier wichtigen weiteren Anspielungshorizonten des vor allem in mystischer Theologie und Alchimie virulenten Perlenbildes vgl. ausführlich Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 170–175. Roach (Anm. 1), 21.
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Über Böhme hinausführend, fungiert Sophia bei Lead als ›weiblicher‹ Aspekt der Gottheit, Lead bezeichnet sie ausdrücklich als »eternal Goddess«.57 Sophia sei von Ewigkeit her in der göttlichen Trinität verborgen. Dies verdeutlicht Lead, indem Sophia in ihren Schriften als ›Virgin Wisdom‹ in unauflöslicher Androgynie als weiblicher Anteil Christi erscheint.58 Mit Sophia als göttlicher Vermittlerin von Himmel und Erde entfaltet Lead ihre Visionen in deutlich chiliastisch geprägter Perspektive. Sie erwartet eine Verwandlung des Irdischen, die sich schon vor der Wiederkehr Christi und dem Beginn des Tausendjährigen Reiches als spirituelle Transformation der Schöpfung manifestiere. Die Transformation des Irdischen betreffe, so Lead, auch ihren eigenen Leib, der noch vor ihrem Tod verwandelt werde.59 Im Kontext entsprechender Darlegungen greift Lead in den Visionsberichten ihres Fountain of Gardens folgerichtig erneut das Perlenbild aus Böhmes Christosophia auf. In eigenwillig radikalisierender Umdeutung von Böhmes Sophien-Konzept werde zu Beginn der ›Neuen Schöpfung‹, wie die Autorin selbstbewusst hofft und sogar von Gott fordert, die Prophetin Lead im alchimistisch verwandelnden Perlenglanz des Sophien-Lichtes erstrahlen, das mithin zuerst in England aufscheint: O my God, when wilt thou set afoot the Beginning of this New Creation? O who shall be the First Subject [of the New Creation] which Thou, O all pure Coelestial Stone, wilt make Projection upon? For I do know Thee for to be that high Tincturing Sol, whose Fiery Streams are so penetrating, that all gross and course Matter, which Thou passes through, turned is into a fine and transparent Quality. […] Never shall I think myself secure of Thee, till Thou [Oh my Lord] hast dissolved me into Thy self. [Thou] canst bring down the utmost Degrees of Glory, by manifesting Thy self in my Mortal Flesh […].60 57
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Lead, Revelation (Anm. 40), 39. Zur besonderen Betonung der Weiblichkeit Sophias im Spektrum des Göttlichen vgl. auch das Kapitel ›The Female Embassy‹ in: Gibbons (Anm. 11), 142 ff. Stärker noch als Gibbons betont Julie Hirst aus feministischer Sicht diverse Aspekte des Weiblichen in ihrer Lead-Biographie, Julie Hirst: Jane Leade. Biography of a Seventeenth-Century Mystic. Aldershot 2005, etwa 67 ff. Dass jedoch, wie von Hirst behauptet, die Kräfte Sophias in Leads Apokatastasis-Konzeption die Kräfte Christi übersteigen (ebd., 68), bleibt in ihrer Untersuchung unbelegt. Hirsts (zumindest in diesem Punkt) übertriebene Einschätzung mag hier, wie auch an anderen Stellen, auf sachlichen Defiziten ihrer Studie im theologischen Feld beruhen. Hirst unterscheidet beispielsweise auch nicht hinreichend zwischen den für Leads Anschauungen grundlegenden Konzepten des ›Chiliasmus‹ und der ›Apokatastasis panton‹, vgl. ebd. et passim. Lead, Fountain (Anm. 40), 125. Vgl. hierzu auch Jane Lead: A Living Funeral Testimony, Or Death Overcome, and Drown’d in the Life of Christ […]. London 1702. Lead verfasst diese Leichenpredigt schon vorab auf ihren eigenen Tod als 80-jährige, inzwischen erblindete Frau, die in ihrem – demnächst freilich verwandelten und geheiligten – irdischen Körper den Beginn der tausendjährigen Herrschaft des wiederkehrenden Christus auf Erden erwartet. Die Idee einer solchen chiliastischen Erlösungserwartung als »Redemption as well for the Body, as for the Soul and Spirit« durchzieht die gesamte hier genannte Schrift (zit. 26). Lead, Fountain (Anm. 40), Bd. III, Tl. 2 (1701), 293 f. Die hier von Lead unter anderem entfaltete Vorstellung von Christus als dem die Erlösung bewirkenden ›himmlischen Stein der Weisen‹ (»pure Coelestial Stone«, ebd.) ist in mystisch-alchimistischer Literatur der Frühen Neuzeit weit verbreitet, zur sog. Lapis-Christus-Parallele vgl. Karl Hoheisel: Christus und der philosophische Stein. Alchemie als über- und nichtchristlicher Heilsweg. In: Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der frühen Neuzeit. Hrsg. v.
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Von der starken, angeblich Gott bezwingenden Kraft ihrer Liebe, die Lead als ›Braut Christi‹ so flammenhell brennend in sich empfindet, heißt es in diesem Kontext an anderer Stelle: »[T]hat vehement Strength of Love […] goes forth from my Heart as a Fire-Ball […].«61 Über den von Lead hier mit Nachdruck entfalteten Chiliasmus hinausführend, profiliert die Autorin im Weiteren ihre auf Origenes gründende Lehre von der ›Apokatastasis panton‹, die ihr wiederum direkt von Gott offenbart worden sei.62 Es handelt sich hier um die durch Lead adaptierte ›Allversöhnungslehre‹ des Origenes, welche die ›Wiederbringung aller Kreaturen‹ durch die Liebe Gottes am Ende der Zeiten verkündet. Da diese Lehre die Möglichkeit ewiger Höllenstrafen leugnet, wird sie in augustinischer Denktradition streng verurteilt. Als Gedankengut der ›Wiedertäufer‹ und ›Schwenckfelder‹ wird die ›Apokatastasis panton‹ schließlich auch in der protestantischen Confessio Augustana als ›häretisch‹ verdammt.63 Denn sie widerspricht eklatant der Vorstellung altprotestantischer Orthodoxie von der ›annihilatio mundi‹, der Vernichtung der Welt am Ende der Zeit.64 In ihrem Allversöhnungs-Denken tritt Lead mit dem ihr eigenen Selbstbewusstsein als hohe ›göttliche Prophetin‹ in einen ausdrücklichen Gegensatz zu Böhmes Eschatologie.65 In der Schrift von den ›Acht Welten‹ (The Eight Worlds, 1695), die mit Visionen vom Reich der ›stillen Ewigkeit‹ schließt, entfaltet Lead ihre Allversöhnungslehre, indem sie Bild- und Denkmuster Böhmes zitiert, die jedoch in ihrem ursprünglichen Sinn bei Böhme der Idee der Apokatastasis widersprechen. Lead bestätigt hier zunächst den Denkansatz Böhmes, der die Prinzipien des ›Licht-Feuers‹ und des ›finsteren Feuers‹ von Ewigkeit her in Gott vereint. Obwohl bei Böhme das Böse als ›ewig‹ erscheint, erwartet Lead im Widerspruch dazu dessen einstige Eliminierung. Denn unter dem Begriff des ›Ewigen‹ versteht Lead lediglich eine ›sehr lange Zeit‹.66
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Christoph Meinel. Wiesbaden 1986, 61–84. Zur hier vorliegenden alchimistischen Selbststilisierung Leads vgl. auch das Lead-Kapitel in Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20). Lead, Fountain (Anm. 40), Bd. III, Tl. 2 (1701), 290. Vgl. Jane Lead: Die Wunder der Schöpfung Gottes Geoffenbaret in Acht Unterschiedenen Welten […]. Amsterdam 1696. Im Unterschied zu den übrigen in diesem Beitrag zitierten Texten Leads, die mir sowohl im englischen Original als auch in den im radikalen Pietismus rezipierten deutschen Übersetzungen vorlagen, war die hier genannte Schrift Leads von den ›Acht Welten‹ lediglich in der deutschen Übertragung greifbar, die deshalb an dieser Stelle zugrunde gelegt wird. Dem Apokatastasis-Denken des Origenes liegt letztlich die alte stoische Konzeption zyklischer Weltperioden zugrunde. Vgl. hierzu sowie zur Adaptation der origenistischen Apokatastasis-Lehre im radikalen Pietismus Dohm, ›Götter der Erden‹ (Anm. 20), hier bes. 199 ff. Vgl. dazu auch Kurt Flasch: Philosophie hat Geschichte. Bd 1: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart. Frankfurt a. M. 2003, 33 f. Mit der von Lead weiter entwickelten Apokatastasis-Lehre weist die englische Philadelphierin explizit über Böhme hinaus. Böhme selbst entfaltet bekanntlich keine Apokatastasis-Lehre; zu Böhmes Konzeption der Endzeit als »Rosen- und Lilienzeit« vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998, 560. Die Auseinandersetzung mit den hier genannten Prinzipien Böhmes liegt Leads gesamter Schrift von den ›Acht Welten‹ zugrunde. Zu Leads Böhme-Rekursen in diesem Kontext vgl. auch Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen
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In Leads Sicht der Apokatastasis unterliegen alle Kreaturen einem langen, aber zeitlich begrenzten Läuterungswerk, das sich allmählich in Stufen und Graden vollziehe. In ihren Visionen dringt Lead in die Tiefe der hier gemeinten ›Ewigkeit‹ vor:67 Die bei Böhme dem Blut Christi zugedachte alchimistische Läuterungskraft68 überträgt Lead auf ihr Konzept der Apokatastasis: ›Tingiert‹ von der Kraft dieses Blutes, erheben sich die nur scheinbar ›ewig‹ Verdammten aus dem Dunkel und kehren in Leads Vision ›mit neuen, hellen Leibern‹ (»new and bright Bodies«) in die göttliche Feuer- und Lichtwelt ein.69 Mit ihrem Konzept der ›universal salvation‹ leugnet Lead die Existenz ewiger Höllenstrafen und erwartet zudem, wie schon Origenes, die ›Wiederbringung der gefallenen Engel‹ und die Rettung Satans.70 Lead befürchtet gerade in diesem Punkt ablehnende Reaktionen befreundeter Böhmisten,71 da es in Böhmes Sicht insbesondere für Satan keinerlei Rettung gibt. Auf der Basis von Böhmes prophetischem Selbstverständnis vertritt daher Lead im Blick auf ihr eigenes Prophetentum die Idee eines markanten Fortschreitens direkter göttlicher Offenbarungen,
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Pietismus. Göttingen 2005, 276. Zu Leads Ewigkeitsbegriff bzw. zu der von Lead für den Apokatastasis-Prozess angesetzten, über das Millennium der Herrschaft Christi auf Erden hinausweisenden Zeitspanne von 8000 Jahren vgl. auch Lead: A Revelation of the Everlasting Gospel Message, which shall never cease to be Preach’d till the Hour of Christ’s Eternal Judgment shall come, whereby will be proclaim’d the Last-Love Jubilee, in order to the Restitution of the Whole Lapsed Creation […]. London 1697, 7, 17, 23. Zur einschlägigen visionären Erfahrung Leads vgl. ebd., 2 ff. Zur hier angesprochenen Vorstellung Leads von »Christ’s Redeeming Blood« vgl. Lead, A Revelation of the Everlasting Gospel (Anm. 66), 2 et passim. Leads Denken liegt hier Böhmes Konzeption der alchimistisch tingierenden und vergeistigenden Kraft des Blutes Christi zugrunde. Zur »göttlichen Kunst« dieses ›Erneuerungswerkes‹ bei Böhme vgl. Pierre Deghaye: Die Religionen und die eine wahre Religion bei Zinzendorf. In: Unitas Fratrum 14 (1983), 58–94, hier: 66 ff. Zu Böhme vgl. in diesem Zusammenhang auch ders.: La fleur du feu. La théosophie de Jacob Boehme. Paris 1983. Vgl. Lead, A Revelation of the Everlasting Gospel (Anm. 66), 2 f. In Leads Visionsbericht heißt es hier: »I saw numerous Spirits, as bright Flames flying […] swiftly into this Principle [of Light], being set free from their confinements, they were in. Whereupon, I being as a naked Spirit there, did query: What these were? And the LORD himself pronounced this Word: These are those, for which my Blood was shed, tho long involved and shut up as in the Second Death, having past through many Agonies and Anguishes: yet now see, how they are set free, and come here to be cloathed with new and bright Bodies.« (ebd.). Vgl. dazu erneut auch den dritten Teil des Beitrags Dohm, ›Götter der Erden‹ (Anm. 20), 199 ff. Zum Einschluss der »fallen Angels« in Leads Apokatastasis-Denken vgl. auch Lead: Enochian Walks with God, found out by a Spiritual-Traveller, whose Face towards Mount-Sion above was set. London 1694, 17 f., 21, 36, 37. Ihre entsprechende Auffassung sucht Lead durch einschlägige Visionen und Auditionen zu belegen, vgl. etwa Lead, A Revelation of the Everlasting Gospel (Anm. 66), 4. Sie verweist zudem auf Bibelstellen, die aus ihrer Sicht die ›Apokatastasis panton‹ andeuten, wie z. B. 1 Kor 25; diese und andere einschlägige Bibelstellen spielen in der Diskussion um die Apokatastasis immer wieder eine wichtige Rolle. Zu ihren Lebzeiten erst, so Lead, sei die Zeit zur öffentlichen Verkündigung dieser Lehre in ihrer vollen Ausprägung gekommen: »[N]ow is the Age and Time for its Publication.« (ebd., 5). Zu unterschiedlichen kritischen Einwänden gegen Aspekte ihrer Apokatastasis-Lehre vgl. Leads Stellungnahmen in selbiger Schrift, 13 ff. Wie schon erwähnt hat Böhme selbst – anders als viele seiner Anhänger – keine Apokatastasis-Lehre entwickelt.
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deren sich steigernde Dynamik auf die nahe Endzeit hindeute. Denn Gott habe ihr, so Lead, tiefe Geheimnisse offenbart, die selbst Böhme noch verborgen blieben: [W]hereas some highly illuminated, who have great Veneration for Jacob Behmen’s Writings do object, That he in his Principles seems to contradict this Universality as to the apostatiz’d Angels; I must own, that Jacob Behmen did open a deep Foundation of the Eternal Principles, and was a worthy Instrument in his Day. But it was not given to him, neither was it the Time for the unsealing of this Deep. God has in every Age something to bring forth of his Secrets […], as Age and Time grows ripe for it.72
Lead beansprucht mithin für ihre Visionen ein unmittelbar ›göttliches Wissen‹, dessen theosophische ›Tiefe‹ die Offenbarungen Böhmes entscheidend übertrifft. Die Reaktionen auf Leads Allversöhnungslehre sind gespalten: Sie wird nicht nur von orthodoxen Theologen, sondern auch von vielen Böhmisten und böhmistischen Philadelphiern abgelehnt. Der gelehrte anglikanische ›non-jurer‹ Henry Dodwell warnt den gelehrten Arzt und Philadelphier Francis Lee73 vor dem »seducing Spirit«, dem ›verführerischen Geist‹, der von Lead vertretenen Konzeption.74 Der Böhmist und enge Lead-Vertraute Roach hingegen fungiert als glühender Verfechter der Apokatastasis-Lehre.75 Trotz mancher negativen Reaktion bildet die Überzeugung von der ›Apokatastasis panton‹ einen zentralen Aspekt der vielseitigen persönlichen und konzeptuellen Vernetzung Leads und des englischen Philadelphiertums mit dem deutschen Radikalpietismus.
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Lead, A Revelation of the Everlasting Gospel (Anm. 66), 25. Francis Lee, Leads Schwiegersohn, stand u. a. in Kontakt mit dem Böhme-Herausgeber Johann Georg Gichtel sowie mit Pierre Poiret, dem ursprünglich cartesianisch orientierten Philosophen und späteren spiritualistischen Vertrauten der flämischen Mystikerin und Böhme-Adeptin Antoinette Bourignon. Vgl. zu Lee u. a. Gibbons (Anm. 11), 165 ff. Lee übersetzt etwa auch einen Text des deutschen Radikalpietisten J. W. Petersen ins Englische, in dem dieser die im Pietismus wirksame Visionärin Rosamunde Juliane von Asseburg als religiöse Autorität verteidigt, vgl. dazu auch den folgenden Teil des vorliegenden Beitrags. Lees Übersetzung von Petersens Brief ist unter folgendem Titel erschienen: Johann Wilhelm Petersen: A Letter to some Devines, concerning the Question whether God since Christ’s Ascension, doth any more reveal himself to Mankind by means of Divine Apparitions? London 1695. Lee steht später einem gemäßigten Böhmismus in der Tradition Willam Laws nahe, vgl. Gibbons (Anm. 11), 167. Vgl. Paula McDowell: Enlightenment, Enthusiasms and the Spectacular Failure of the Philadelphian Society. In: Eighteenth-Century Studies. 35.4 (2002), 515–533, hier: 524. Zu Roach als Verteidiger und Propagator der Apokatastasis-Lehre vgl. etwa Textzeugnisse in: Bodleian Library MS Rawlinson D 1318. Hier findet sich z. B. ein polemischer Text von J. Lacy, der Roach als Autor eines langen Vorworts zu der von ihm herausgegebenen Schrift Jeremiah Whites ›The Restoration of All Things‹ (1712) angreift. Lacy bezeichnet sein eigenes Manuskript als »Polemica Sacro-Prophetica Anti-Roachiana-White-Origeniana«, 1712, vgl. MS Rawlinson D 1318, 55–66. Zu Jeremiah White im Kontext der Apokatastasis-Debatte vgl. Daniel Pickering Walker: The Decline of Hell. Seventeenth-Century Discussions of Eternal Torment. London 1964, hier: 11 u. ö.
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Lead und ihre Böhme-Rezeption wirken, wie bereits oben bemerkt, in Deutschland durch zeitnahe Übersetzungen ihrer Schriften, die der Pietist Loth Fischer wohl auf Empfehlung Johann Wilhelm Petersens in Amsterdam verfertigt.76 Der gelehrte Pietist Petersen steht mit Leibniz und van Helmont in Kontakt und teilt deren Interesse an der Philosophie Anne Conways. Petersen und weitere ›deutsche Freunde‹ der englischen Philadelphier finden sich in radikalpietistischen Kreisen, die Leads Böhme-Rezeption produktiv aufgreifen. Petersen und seine Frau Johanna Eleonora stechen in diesem Kontext deutlich hervor.77 Ihnen gilt daher der dritte Teil dieses Beitrags. Seit seiner Studienzeit ist Johann Wilhelm Petersen von Böhme fasziniert:78 Böhme habe »Herrliches, zum Wunder der Welt geschrieben.«79 Nicht unerwartet kommt daher der Vorwurf der lutherischen Orthodoxie, Petersen sei, wie auch seine Frau, ein Anhänger Böhmes und Valentin Weigels.80 Gegen lutherisch-orthodoxe Anfeindungen und Verfemungen unterstützen beide Petersen die von ihnen als religiöse Autorität anerkannte Prophetin Rosamunde Juliane von Asseburg, deren Visionen Petersens Chiliasmus zu bestätigen scheinen. Auch Asseburg ist persönlich mit den englischen Philadelphiern verbunden; dies zeigt ein Brief Asseburgs in den Unterlagen und Manuskripten des Böhmisten und Lead-Vertrauten Roach.81 Die Rezeptionen Böhmes durch Lead und Petersen bilden im Weiteren einen wichtigen Impuls für das im radikalen Pietismus um 1700 vor allem in Erfurt und Halle verbreitete Auftreten ›endzeitlicher‹ Prophetinnen und Propheten. Petersens chiliastische Lehren finden in Erfurt schon Anklang, bevor hier die erste Prophetin, Anna Maria Schuchart, auftritt.82 In diesem Kontext sieht der Erfurter radikalpietistische Böhme- und 76
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Vgl. Hutton (Anm. 6), 230. Bei Loth Fischer handelt es sich um einen aus Nürnberg vertriebenen pietistischen Schulmeister, dessen Übersetzungen von Schriften der englischen Philadelphier in Utrecht entstehen, vgl. Schneider (Anm. 3), 405. Ernst Benz apostrophiert die beiden Petersen als die führenden Repräsentanten der deutschen Böhme-Schule, vgl. Ernst Benz: Der Mensch und die Sympathie aller Dinge am Ende der Zeiten. Nach Jakob Böhme und seiner Schule. Zürich 1956 (Sonderdruck aus: EranosJahrbuch 24 [1955], 133–197), 158. Vgl. Das Leben Jo. Wilhelmi Petersen […] Als Zeugens der Warheit Christi und seines Reiches, nach seiner grossen Oeconomie in der Wiederbringung aller Dinge. O. O. 1717, 23. Vgl. Freymüthige Anrede an den hochgebohrenen Reichsgrafen von Promnitz-Sorau […] wegen des Herrn Erdmann Neumeisters. Frankfurt a. M./Leipzig 1708, 38, zit. n.: Walter Nordmann: Im Widerstreit von Mystik und Föderalismus. Geschichtliche Grundlagen der Eschatologie bei dem pietistischen Ehepaar Petersen. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 50 (1931), 146–185, hier: 157 f. Vor allem im Blick auf Johanna Eleonora Petersen erhebt der orthodoxe Lutheraner Johann Heinrich Feustking solche Vorwürfe in exemplarischer Weise. Erschwerend komme hinzu, so Feustking, dass Petersen ihren für diese Lehren offenbar sehr anfälligen Mann zum »Secundanten in diese[n] verdammten Sache[n]« anstifte. Vgl. Johann Heinrich Feustking: Gynaeceum haeretico fanaticum, Oder Historie und Beschreibung Der falschen Prophetinnen/ Qväckerinnen/ Schwärmerinnen/ und andern sectirischen und begeisterten Weibes=Personen. (ND der Ausg. Frankfurt a. M./Leipzig 1704.) Hrsg. v. Elisabeth Gössmann. München 1998, hier: 480 f. Bodleian Library MSS Rawlinson D 832, 833; Asseburgs Brief findet sich in MS Rawlinson D 832, 46. Wustmann (Anm. 38), 128.
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Petersen-Rezipient Georg Heinrich Brückner in den Visionen Schucharts einen Nachweis fortlaufender, unmittelbarer Offenbarungen Gottes über die nahe Wiederkehr Christi und die philadelphische ›Sammlung der Kinder Gottes‹.83 Die sich selbst als ›Philadelphier‹ bezeichnenden Petersen vertreten im Gegensatz zur festeren Struktur der englischen Sozietät das Konzept einer außerorganisatorischen irenischen Geistkirche für die Wiedergeborenen in allen Konfessionen.84 Durch vielfältige Kontakte und eine reiche Buchproduktion suchen sie das ›Philadelphische Reich‹ mehr und mehr zu verwirklichen. Die im Kontext von Pietismus und Orthodoxie umstrittene Johanna Petersen genießt als theologische Autorin mit guten Kenntnissen des Griechischen und des Hebräischen85 zugleich hohe Anerkennung. Die Korrespondenz der auch als Poetin und ›Nachtigall Gottes›86 bekannten Petersen reicht über Deutschland und England bis nach Amerika sowie nach Skandinavien, Belgien und in die Niederlande, wo die hoch gelehrte Anna Maria van Schurmann ihre Briefpartnerin ist.87 Sehr ergiebig im Blick auf Böhme ist Petersens Korrespondenz mit dem schon genannten Gichtel.88 Auch der ehemals cartesianische Philosoph Pierre Poiret, engster Vertrauter und ›Propagandist‹ der ursprünglich katholischen flämischen Mystikerin und Böhmistin Antoinette Bourignon, steht in nahem Kontakt mit Johanna Petersen. Poiret weiß um Petersens Nähe zu Böhme. Deshalb sucht er sie als Übersetzerin für ein mystisches Werk Bourignons zu gewinnen.89 Zudem ergreifen führende Aufklärer und Pietisten, wie Christian Thomasius und Gottfried Arnold, öffentlich für Petersen Partei.90 Johanna Petersen, damals noch unverheiratete ›von Merlau‹, gilt als eine führende Gestalt des Frankfurter Pietismus, dem sie gemeinsam mit Philipp Jakob 83 84 85 86
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Ebd., 117 ff. u. 187. Schrader (Anm. 3), 66. Zu Petersens Kenntnis des Griechischen und Hebräischen vgl. Albrecht (Anm. 66), 63. Zu Petersen als Poetin im pietistischen Kontext vgl. Burkhard Dohm: Alchimie der neuen Erde. Weibliche Friedensvisionen in pietistischer Poesie. In: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. Hrsg. v. Klaus Garber u. Jutta Held. München 2001, 639–651. Zu Petersens Biographie und ihren reichen (Brief-)Kontakten vgl. die Kapitel II und III der Studie von Albrecht (Anm. 66), 38 ff., 121 ff. J. E. Petersens Korrespondenz mit Gichtel, der mit den Schriften Böhmes und Leads gleichermaßen vertraut ist, hat gewichtigen Einfluss auf ihre Konzeption der ›Apokatastasis panton‹, vgl. Ruth Albrecht: Die Apokatastasis-Konzeption bei Johanna Eleonora Petersen. In: Alles in allem. Eschatologische Anstöße. Christine Janowski zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Ruth Heß u. Martin Leiner. Neukirchen-Vluyn 2005, 199–214, hier: 204 f., sowie neuerdings detaillierter dies.: Zum Briefwechsel Johann Georg Gichtels mit Johanna Eleonora Petersen. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hrsg. v. Wolfgang Breuel u. Marcus Meier. Göttingen 2010, 327–359. Bourignon selbst zeigt sich gleichfalls an Petersen interessiert, vgl. Albrecht (Anm. 66), 68. So empfiehlt etwa Thomasius J. E. Petersens frühes Werk Gespräche des Hertzens mit Gott (2 Tle. Ploen 1689 u. 1694) allen Studierenden der Theologie dringlich zur Lektüre. Thomasius würdigt Petersens Buch mit einer ausführlichen Rezension in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Monats=Gespräche (1689, 854–874) als »Beitrag zum Diskurs der Gelehrten«. Vgl. Albrecht (Anm. 66), 130 f., Zitat: 130. Zur Würdigung und öffentlichen Hochschätzung Petersens durch Arnold vgl. ebd., 140 ff.
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Spener und Johann Jakob Schütz angehört.91 Wichtiger als Speners Einfluss ist für Petersens theologische Entwicklung der Kontakt mit Schütz.92 Dessen weit gespannte Interessen gelten sowohl mystisch-spiritualistischen Konzepten im Radikalpietismus als auch, vermittelt durch van Helmont, den philosophischen Ideen und der Böhme-Rezeption der Cambridge Platonists.93 Wie viele englische Philadelphier und die mit den Quakern besonders nahe verbundene Philosophin Conway sehen auch Petersen und Schütz deutliche Affinitäten ihrer Auffassungen zum frühen, von Böhme inspirierten Quakertum und seiner Lehre vom ›inneren Licht‹.94 Schütz sei, so Johanna Petersen, ein ›Werkzeug Gottes‹; durch Schütz und dessen Kontakte zu Anhängern Böhmes sind Petersens Konzepte des Chiliasmus und der Apokatastasis deutlich mitgeprägt.95 Diese von Johanna Petersen mit prophetischem Gestus verkündeten Lehren werden durch Lead angeregt.96 Im Anklang an Leads markante Selbstprofilierung als Visionärin beansprucht Petersen, wenn auch weniger emphatisch als die Engländerin, unmittelbare Offenbarungen Gottes zu erhalten. In Traum-Visionen schließe Gott ihr seine Geheimnisse auf.97 So sieht sich Petersen als Prophetin von Gott legitimiert, die Geheime Offenbarung des Johannes im Sinne einer baldigen Ankunft des Tausendjährigen Reiches zu deuten: Bei der Lektüre der Apokalypse »wurde mir zumuthe, als ob mein Hertz« vom »Lichte Gottes gantz durchdrungen« sei: »[So] verstund [ich] alles, was ich laß«.98 Auch Johann Wilhelm Petersens Schrift Die Hochzeit des Lammes und der Braut ist durch Lead geprägt.99 Petersen rekurriert hier auf Böhme und weitere, 91 92 93
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Zur zentralen Rolle J. E. Petersens im Frankfurter Frühpietismus vgl. Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 1990, 85 f. Vgl. dazu die grundlegende Studie von Klaus Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002. Durch van Helmont, der sich über längere Zeiträume bei Conway in Ragley Hall aufhielt, kennt Schütz Texte Henry Mores, insbesondere dessen Opera theologica und Enchiridion metaphysicum. Schütz empfiehlt Mores Schriften mehreren pietistischen Freunden in Deutschland. Vgl. dazu Deppermann (Anm. 92), 240 f., sowie Albrecht (Anm. 66), 50 f., 81 u. ö. Vgl. ebd., 69 u. 73 f. – Die Philadelphier und die Quaker sind über gemeinsame Verlage hinaus, in denen ihre Schriften erscheinen, inhaltlich vor allem durch die Lehre vom »Light within« miteinander verbunden, wenngleich es ansonsten manche Differenzen zwischen den beiden Gruppierungen gibt, durch die sie sich auch explizit voneinander absetzen. Insbesondere sind Böhme-Bezüge bei den Philadelphiern deutlich stärker ausgeprägt als bei den Quakern. Zu den Quakern vgl. u. a. John Punsheon: Portrait in Grey. A Short History of the Quakers. London 1984. Vgl. im vorliegenden Kontext auch die detaillierte Studie von Juterczenka (Anm. 16) zu Kontakten von Quakern mit Böhme-Anhängern in Deutschland und den Niederlanden sowie mit anderen radikal-religiösen Strömungen (Schwenckfelder, Mennoniten etc.) 197 f.; zu weiteren Wirkungen der im Quakertum umstrittenen Lehren Böhmes 276 ff. Vgl. Deppermann (Anm. 92), 107 ff., 126, 130 u. 138 f. Vgl. Schneider (Anm. 3), zur Apokatastasis-Lehre hier: 404–406. Zu Petersen als Visionärin vgl. auch Albrecht (Anm. 66), 17 u.69. Johanna Eleonora Petersen, geb. von und zu Merlau: Leben, von ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet. Hrsg. v. Prisca Gugliemetti. Leipzig 2003, 39 f. J. W. Petersen: Die Hochzeit des Lammes und der Braut bey der herannahenden Zukunfft Jesu Christi […]. Offenbach am Mäyn. (o. J.)
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an Böhme interessierte Autoren von Arnold über Pordage, Lead und Bromley bis zu den Cambridge Platonists.100 In diesem Werk adaptiert Petersen die durch Lead erfolgte chiliastische Perspektivierung von Böhmes Sophia-Figur: Fungiert Sophia, die ›Tochter Gottes‹,101 hier zunächst als ›weiblich‹ konnotierte Figuration des Heiligen Geistes, so identifiziert Petersen die Sophien-Gestalt im Weiteren sowohl mit Böhmes androgyner ›himmlischer Jungfrau‹ als auch mit dem auf Erden erwarteten ›himmlischen Jerusalem‹. Mit ihrem ›mütterlich-geistlichen‹ Wirken vollbringt Sophia in Petersens Sicht die Restituierung der ›imago Dei‹ im Menschen.102 Denn wie die Schöpfung einst aus Gottes ›Licht-Wesen‹ in schönsten ›Strahlen hellen Lichts‹ emanierte, so heißt es in Petersens Schrift im Anschluss an Böhmes und Leads alchimistische Bildwelt, dass schließlich im Werk der Apokatastasis »die Kraft des Blutes Christi […] allein […] die Tinctur, und die heylende balsamische Salbe [ist], dadurch [am Ende] alles [wieder] gereiniget, hell und schön wird.«103 Aufgrund solcher alchimistisch-hermetischer und weiterer vergleichbarer Bild- und Denkmuster in Petersens Schriften attestieren ihm seine Gegner eine perfekte Kenntnis antiker Geheimlehren. Aus solchen Lehren konstruieren beide Petersen aus orthodoxer Sicht ihr ›platonisch-hermetisches‹ Christentum.104 100
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Vgl. ebd. u. a. 79 (Arnold), 86 (Pordage, Böhme), 78 (Bromley). Aus dem Kreis der Cambridge Platonists wird insbesondere Ralph Cudworth angeführt (84). Auch die an paracelsisches und cusanisches Denken angelehnte Ideenwelt des Spiritualisten Valentin Weigel ist in Petersens Text deutlich präsent, wenngleich er Weigel nicht ausdrücklich nennt. In J. W. Petersens Uranias-Epos bezeichnet die Figur der Sophia sich selbst als »Filia [ ] Dei«, vgl. J. W. Petersen: Uranias, Qua opera Dei magna omnibus retro seculis et oeconomiis transactis usque ad Apokatastasin seculorum omnium per Spiritum Primogeniti gloriosissime consummanda Carmine Heroico celebrantur [ ]. Frankfurt a. M./Leipzig 1720, 36. Vgl dazu auch Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700. Göttingen 1998, 330. J. W. Petersen: Mysterion Apakotastaseos panton, Das ist: Das Geheimniß Der Wiederbringung aller Dinge […]. 3 Bde. (o. O.), 1700–1710, Bd. I, 53. Die Erlösung durch die Tinktur des Blutes Christi umfasst nach Petersens Auffassung den gesamten Kosmos und schließt ausdrücklich auch die Tiere ein. Vgl. dazu Walter Nordmann: Die theologische Gedankenwelt des pietistischen Ehepaares Petersen. Naumburg (Saale) 1929, 12 u. 16. Durch solche und ähnliche (in der Sache in vieler Hinsicht durchaus treffende) terminologische Zuordnungen werden beide Petersen aus orthodoxer Perspektive theologisch gezielt ausgegrenzt. Den oben genannten Begriff, der die Strömungen des (Neu-)Platonismus und des frühneuzeitlichen Hermetismus verbindet, verwendet Ehregott Daniel Colberg programmatisch als Überschrift seiner weit über 1 000 Seiten umfassenden Untersuchung des damaligen heterodoxen Christentums, vgl. Colberg: Das platonisch-hermetische Christentum, begreiffend die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, Unterm Namen der Paracelsisten, Weigelianer, Rosencreutzer, Quäcker, Böhmisten, Wiedertäuffer, Bourignonisten, Labadisten und Quietisten […] Frankfurt a. M./Leipzig 1710 (1690). Zu Colberg vgl. den Beitrag von Friedrich Vollhardt im vorliegenden Band. – Vorwürfe einer starken Affinität zu platonischen, pythagoreischen, origenistischen, böhmistisch-mystischen u. a. Lehren richtet der damals einflussreiche orthodoxe Lutheraner Feustking in pointierter Weise u. a. gegen Jane Lead und das Ehepaar Petersen, vgl. Feustking (Anm. 80), Register unpag., zu Lead 412 ff., zu Petersen 458 ff., zur besonders harschen und polemischen Kritik an Petersens und Leads origenistischer Lehre von der Wiederbringung Satans vgl. bes. 481. Zur Kritik pietistischer Anknüpfungen an heidnisch-antike Geheimlehren vgl. auch Schriften des orthodoxen Lutheraners Friedrich Christian Bücher,
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Über das Problem des Chiliasmus hinausweisend, spitzt sich die theologische Kontroverse in der Frage der ›Apokatastasis panton‹ zu. Denn beide Petersen fungieren um 1700 als die profiliertesten deutschen Propagatoren der Apokatastasis-Lehre.105 Zwischen Lead und dem Ehepaar Petersen besteht in allen wesentlichen Punkten Einigkeit über die Allversöhnung. Dies schließt auch die unter Böhmisten umstrittene ›Wiederbringung der gefallenen Engel‹ ein. Diese ›Wiederbringung‹ erwartet Johanna Petersen jedoch in abmildernder Weise deutlich später als Lead.106 Weit mehr als seine Frau erforscht Johann Wilhelm Petersen eine Fülle von Quellen seit den Kirchenvätern, um das von ihm und seiner Frau beharrlich vertretene Konzept der ›Apokatastasis panton‹ auch wissenschaftlich weitergehend zu fundieren. In einer seiner voluminösen Schriften zu diesem Thema zitiert Petersen, neben vielen anderen Werken, lange Passagen aus Anne Conways Hauptwerk Principia philosophiae,107 dessen Erscheinen interessanterweise auch in den Theosophical Transactions, dem Zeitschriftenorgan der englischen Philadelphier, anzeigt wird.108 In Texten beider Petersen und Conways wird der Prozess der
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der in seinem Werk Plato Mysticus (1699) insbesondere beide Petersen, aber auch Spener heftig kritisiert, vgl. hierzu Albrecht (Anm. 66), 149. J. W. Petersens Wohnort Niederdodeleben wird damals zu einem Zentrum deutsch-englischer philadelphisch-pietistischer Kommunikation. Vgl. Schneider (Anm. 3), 406. Petersen, Leben (Anm. 98), 43 f. Petersen setzt hier eine Zeitspanne von 50 000 Jahren an, Lead hingegen rechnet, wie bereits erwähnt, mit 8 000 Jahren bis zur vollendeten ›Wiederbringung aller Dinge‹. Anne Conway: The Principles of the most Ancient and Modern Philosophy. Ed. and with an Introduction by Peter Loptson. The Hague, Boston, London 1982. Der Titel der von van Helmont stammenden lateinischen Übersetzung von Conways Text lautet: Principia Philosophiae Antiquissimae & Recentissimae: De Deo, Christo & Creatura; id est De Spiritu & Materia in genere. Quorum beneficio resolvi possunt omnia problemata, quae nec per Philosophiam Scholasticam, nec per communem modernam, nec per Cartesiam, Hobbesianam, vel Spinosianam resolvi potuerunt. Opusculum Posthumum. E Lingua Anglicana Latinitate donatum, cum Annotationibus ex antiqua Hebraeorum Philosophia desumtis. Amsterdam 1690. Die Rückübersetzung ins Englische erfolgt 1692. Im Zuge der in Petersens Apokatastasis-Schrift wiedergegebenen Auszüge aus ihrem Werk wird Conway zwar nicht namentlich genannt, jedoch ist sie zweifelsfrei als Autorin der umfangreichen, von van Helmont ins Lateinische übersetzten Textpassagen identifizierbar. Die knappe, ins Deutsche übertragene Einführung, die Petersen den Conway-Zitaten voranstellt, findet sich (ohne dass Petersen dies kenntlich macht) als lateinisches Vorwort van Helmonts in folgendem Band: Franciscus Mercurius van Helmont: Opuscula Philosophica: Quibus Continentur Principia Philosophiae, Antiquissimae Et Recentissmae, Ac Philosophia Vulgaris Refutata. Amsterdam 1690. Conways ›Principia‹-Schrift umfasst in dieser Ausgabe die Seiten 1–144, auch hier bleibt Conway ungenannt. – Zu den wesentlichen, in Conways Schrift wirksamen Einflüssen gehören (Neu-)Platonismus (Proklos, Plotin, Ficino u. a.) und Origenismus sowie diverse hermetische und kabbalistische Strömungen. Paracelsisch-hermetische Einflüsse sowie die besonders starke Anziehungskraft Jacob Böhmes auf Conway dokumentieren zudem mehrere Briefzeugnisse in: Conway Letters (Anm. 17), 72, 381 u. ö. Conways philosophisches Werk Principia Philosophiae wird, wie erwähnt, auf Anregung J. W. Petersens in englischer Rückübersetzung des lateinischen Textes in der theosophischen Zeitschrift der Philadelphian Society wie folgt angezeigt: »The Principles of the Most Ancient and Modern Philosophy, concerning God, Christ and the Creatures. Printed in Latin at Amsterdam 1697. And Reprinted at London, 1692.« Diese Angabe findet sich in: Theo-
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Apokatastasis in alchimistischen Anklängen gestaltet, die eine Spiritualisierung des Leibes implizieren. Leads und Petersens theosophische Sicht wird durch Conways monistischen Vitalismus109 philosophisch beglaubigt. Denn nach Conways vor allem von Origenes, dem Neuplatonismus und der lurianischen Kabbala inspirierten Lehre110 besteht der ›Körper‹ (»body«) aus ›konzentriertem Geist‹ (»condensed spirit«), während der Geist (»spirit«) ›subtiler, flüchtiger Körper‹ (»subtle volatile body«) ist.111 In einer der von Petersen zitierten Textstellen aus Conways Werk erläutert die Philosophin ihr Konzept der Apokatastasis in folgender Weise: [T]he worst of Creatures; yea, the most cursed Devils, after many and long continued Torments, shall at length return to a State of Goodness. [A]ll this hardness and grossness of Bodies […] therefore shall in time return to a state of softness and subtility.112
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sophical Transactions by the Philadelphian Society, consisting of Memoirs, Conferences, Letters, Dissertations […], For the Advancement of Piety, and Divine Philosophy. Number II. London 1697, 98. Die 1697 erschienenen Nummern I-V der Zeitschrift, die danach bereits wieder eingestellt wurde, dokumentieren außerdem die engen Beziehungen beider Petersen zu den englischen Philadelphiern, da hier auch Texte J. W. und J. E. Petersens in englischen Übersetzungen abgedruckt sind, vgl. etwa Number II, 83 ff. (Auszüge aus einem Briefzeugnis J. W. Petersens) sowie Number III, S.142 ff. Bei diesem letztgenannten Text handelt es sich um einen Auszug aus J. E. Petersen: Anleitung zu gründlicher Verständniß der Heiligen Offenbarung Jesu Christi […]. Franfurt a. M./Leipzig 1696. Die Theosophical Transactions berichten zudem verschiedentlich vom Auftreten chiliastischer Prophetinnnen in Mitteldeutschland. Im Zentrum stehen jedoch immer wieder Besprechungen und Diskussionsbeiträge zu Leads Schriften sowie Beiträge zur Weiterentwicklung der Philadelphischen Sozietät und der ihr zugrunde liegenden Ideen und Statuten. Zu Conways vitalistischem Monismus vgl. Verena Olejniczak Lobsien: Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur. München 1999, 297–322. Vitalistische Denkmodelle entfalten auch im deutschen Pietismus vielfältige Wirkungen. Dies zeigt sich u. a. im Medizinkonzept des in Halle tätigen, pietistisch orientierten Medizinprofessors Georg Ernst Stahl, der in seiner Theoria Medica Vera (1708) auf vitalistischer Basis die leibseelische Einheit des Menschen zu demonstrieren sucht. Zu Stahl vgl. Johanna Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000. Zu den im Hintergrund von Stahls vitalistischem Denken stehenden Ideen Böhmes und seiner spiritualistischen Anhänger sowie zur Sichtung dieser Ideen durch Henry More vgl. dort 62–64. Origenes wird in Conways Text zwar nirgends genannt, jedoch ist sein maßgeblicher Einfluss in der gesamten Schrift und insbesondere in deren theologisch-philosophischem Schlüsselkonzept der ›Apokatastasis panton‹ klar identifizierbar. Vgl. dazu Sarah Hutton: Henry More and Anne Conway on Preexistence and Universal Salvation. In: »Mind Senior to the World«. Stoicismo e origenismo nella filosophia platonica del Seicento inglese. Hrsg. v. Marialuisa Baldi. Mailand 1996, 113–125, zu Conway 120 ff. – Zum Neuplatonismus Conways sowie zum (begrenzten) Einfluß der (lurianischen) Kabbala auf Conways philosophische Konzeption vgl. Lobsien (Anm. 109), 300 ff., zur Kabbala bes. 302 u. 310–314. Vgl. dazu auch Popkin (Anm. 45), 117. Conway (Anm. 107), 191. Dieses Zitat findet sich unter den von Petersen aus der lateinischen Fassung von Conways Principles (Principia) angeführten Textpassagen, vgl. Petersen, Mysterion (Anm. 103), Bd. I, 66, 69 sowie bes.73 ff., hier: 74. – Nachdrücklich betont Conway auch den bessernden und heilenden (»medicinal«) Effekt der von Gott verhängten Strafen, die deshalb immer ein Ziel haben und mithin zeitlich begrenzt seien: »[A]ll the Punishments, God inflicts on his Creatures, have some proportion with their sins; so all these Punishments (the worst not excepted) do tend to their Good and Restoration, and so
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In seinem – von Leibniz veranlassten – lateinischen Apokatastasis-Epos Uranias113 verwendet Petersen die durch Lead adaptierte Vorstellung Böhmes von der alles verwandelnden Lichtnatur des Blutes Christi. Mithin gestaltet Petersen in seinem umfangreichen Text die Allversöhnung als großes Verklärungswerk. Am Ende nämlich leuchten alle Kreaturen im ›Licht‹ (»Lux«) und ›Glanz‹ (»Splendor«) von Gottes ›Herrlichkeit‹ (»Maiestas«).114 Abschließend sei hier die folgende, explizit auf Böhme rekurrierende Apokatastasis-Deutung Petersens angeführt. Gottes ewiger, heiliger Zorn habe einst, vor Luzifers Fall, mit Gottes ›Liebe-Willen‹ in ›lieblicher Harmonie‹ gestanden. Erst die Sünde habe Gottes heiligen Zorn erweckt. Da jedoch die Sünde nicht ewigen Ursprungs sei, könne auch die durch die Sünde entstandene Hölle keineswegs ewig bestehen. Auf der Basis dieser Deutung ist Petersen überzeugt: Sollte Böhme ›heute‹ (also um das Jahr 1700) leben, so würde Böhme ›in dieser philadelphischen Zeit‹ der Apokatastasis »nicht widersprechen«.115
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are Medicinal, that by them these diseased Creatures may be cured and restored to a better condition than before they enjoyed.« Vgl. Conway (Anm. 107), 188. Auch diese wiederum für beide Petersen wichtige Passage zitiert J. W. Petersen in seiner hier angegebenen Schrift in der lateinischen Übersetzung van Helmonts, vgl. J. W. Petersen, Mysterion, Bd. I (s. o.), ebd. In dieser Schrift Petersens werden Zeugnisse für die Apokatastasis von Origenes bis hinein in Petersens Gegenwart aufgeführt. Neben den Conway-Passagen kommen in Petersens Werk auch Lead und Pordage sowie weitere philadelphisch orientierte Radikalpietisten in Deutschland zu Wort, so etwa Henrich Horch, der zumindest zeitweise der ApokatastasisIdee anhing. Der auch als Lyriker bekannte Petersen leitet seine Schrift durch poetische Texte ein, die er »Insonderheit an die [deutsche]« »Philadelphische[ ] Gemeine« richtet. Vgl. die ersten Seiten (unpag.) von J. W. Petersen, Mysterion, Bd. I (s. o.). J. W. Petersen, Uranias (Anm. 101). – Zu den Wirkungen dieses im Kontakt mit Leibniz entstandenen, origenistisch orientierten Petersen’schen Werks vgl. u. a. Dieter Breuer: Origenes im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Seminar. Journal for Germanic Studies. 21.1 (1985), 1–30, hier: 10 ff. Petersen, Uranias (Anm. 103), 457 f. Zur hier skizzierten Argumentation vgl. Petersen, Mysterion (Anm. 103), Bd. I, 109.
Lucinda Martin
Jakob Böhmes »göttliche Sophia« und Emanzipationsansätze bei pietistischen Autorinnen
Einführung Die Idee der »Sophia« oder einer Personifizierung der Weisheit Gottes hat ihre Wurzeln in der Bibel und in der frühen Kirche.1 Die Sophien-Verehrung stellt in der östlichen Kirche noch eine lebendige Tradition dar, die sich in einer bedeutenden Ikonographie und in den der Sophia gewidmeten Kirchen ausdrückt. In der westlichen Kirche versuchte man mehrmals in der Geschichte, die SophiaTradition wiederzuerwecken, traf dabei aber meistens auf Widerstand. Gegner bezeichneten die Doktrin als ketzerisch, da man sie als eine Bedrohung für die Stellung der Jungfrau Maria, Jesu oder der Trinität sah. Insbesondere sorgte man sich über die Folgen der Sophia-Lehre für die existierenden sozialen Hierarchien, die, so wie man meinte, von Gott selbst festgelegt worden waren.2 Diese Studie möchte zeigen, dass die Gegner der Lehre von der göttlichen Sophia tatsächlich guten Grund hatten zu fürchten, diese Lehre unterminiere soziale Strukturen. In der Tat wurde die Vorstellung einer teilweise weiblichen Gottheit dazu benutzt, herkömmliche Hierarchien zu hinterfragen. So beriefen sich zum Beispiel Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts auf diese Lehre, um verschiedene Experimente mit Geschlechter-Rollen und Familienstrukturen zu rechtfertigen, die bestehende Machtverhältnisse unterminierten. Im Folgenden werde ich die Übermittlung und Transformation der SophiaLehre von Jakob Böhme (1575–1624) über Gottfried Arnold (1666–1714) und einige radikalpietistische Gruppierungen bis hin zu pietistischen Autorinnen um 1700 skizzieren. Anschließend werde ich mich darauf konzentrieren, wie einige Pietistinnen unter Hinweisen auf die Sophia die Autorität beanspruchten, über religiöse Themen zu schreiben, zu sprechen und sogar mehr Rechte für Frauen zu fordern. 1
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Unter den Büchern der Bibel, welche die Sophia hervorheben, befindet sich unter anderem das Buch der Sprüche (bes. Spr 1, 2 u. 8), Pred 7 u. 8 sowie apokryphe Bücher wie das Buch der Weisheit (Weish 1, 6, 7, 8, 9) und das Buch Jesus Sirach (Sir 24). Für eine feministische Theologiegeschichte dieser Tradition vgl. Auf den Spuren der Weisheit: Sophia – Wegweiserin für ein neues Gottesbild. Hrsg. v. Verena Wodtke. Freiburg i. Br. 1991. Vgl. Joachim Lange: Christliche Prüfung des Geistes In den sog. Theosophischen SendSchreiben, In welcher des Auctoris Lehre Melchisedechischen Priesterthum/ Und der mit der himmlischen Sophia, zum Nachtheil des von Gott verordneten Ehestandes/ zu führenden Paradiesischen Ehe der Gläubigen/ Wie auch andern dahin gehörigen Stücken/ nach der heiligen Schrift gründlich untersuchet wird. Halle 1715.
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Lucinda Martin
Die Sophia in Böhmes Schriften Jakob Böhme wird oft als »Vater der westlichen Sophiologie« angesehen. Durch seine Schriften wurde im 17. und 18. Jahrhundert die Lehre von der göttlichen Sophia in Westeuropa verbreitet. Böhme verstand seine Lehre als eine »göttliche Wissenschaft«, die ihm durch »die ewige Weisheit« oder Sophia offenbart wurde.3 In seinem umfangreichen Textkorpus philosophischer und theologischer Schriften postuliert Jakob Böhme die Sophia als integralen Bestandteil der Gottheit und des Kosmos.4 Die Sophia ist der Mechanismus, durch den Gott sich selbst aus dem »Ungrund oder Nichts« kreiert. Nach Böhme vollzieht sich die Selbsterkenntnis und Offenbarung Gottes in der Sophia als »Blick«. In diesem ersten Blick Gottes geschehen zwei Dinge: 1) Im ersten Blick fasst sich das numinose Nichts im ›Ichts‹, dem sich selbst erkennenden Selbst. 2) Zugleich ist dieser erste Blick auch die Erkenntnis der »Vielheit« der inneren Gestalten. Dieser Blick ist das Erkennen von Unterschieden und führt zu einem immerwährenden Prozess der Schiedlichkeit – d. h. der Schöpfung. Böhme nennt die Sophia auch »Gottes Leib«, den »Spiegel aller Wesen« und »Gottes Braut«, weil Gott sich durch sie offenbart und verwirklicht. Die Sophia ist weiblich, weil der »göttliche Wille sich durch sie ausgebärt«. Sie ist sein »Werkzeug« zur Schöpfung und Offenbarung. Besonders ein Aspekt von Böhmes Sophiologie wurde zu einer der provokativsten und produktivsten Ideen des Pietismus. Eines der grundlegendsten Prinzipien des Christentums ist, dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen wurde. Da Böhmes Gott sowohl männliche wie auch weibliche Wesenszüge in sich trug, hätte der Mensch in seinem ursprünglichen Zustand auch männliche und weibliche Charakteristika haben müssen. Nach Böhme hatte der Urmensch, 3
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Die Zitate aus Böhmes Schriften beziehen sich auf die Ausgabe seiner gesammelten Werke in 11 Bänden, die als Faksimile der Edition von 1730 erschienen. Die Faksimile-Ausgabe wurde von August Faust begonnen und von Will-Erich Peuckert nochmals neu ediert, Stuttgart 1955–1961. Im Folgenden zitiert als: Böhme. Die einzelnen Werke werden namentlich zitiert. In den Zitaten bezieht sich die erste Zahl auf das jeweilige Kapitel, die zweite Zahl in Klammern auf den Absatz. Hier: Mysterium Magnum: 67 (13) und Von der neuen Wiedergeburt: 8 (13). Eine aufschlussreiche Interpretation von Böhmes Sophiologie bietet Ernst Benz: Der vollkommene Mensch nach Jacob Boehme. Stuttgart 1937. Vgl. auch Ursula Fuchs: Sophia – das Gesicht der Weisheit. Matrix und Signatur des Weiblichen bei Jakob Böhme (1575–1624). In: Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung. Bd. 8. Weisheit – eine schöne Rose auf dem Dornenstrauche. Hrsg. v. Elisabeth Gössmann. München 2004, 70–122; Ferdinand van Ingen: Die Jungfrau Sophia und die Jungfrau Maria bei Jakob Böhme. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994, 147–163; Roland Pietsch: Jacob Böhmes Lehre von der göttlichen Weisheit und von der himmlischen Jungfrau Sophia. In: Erkenntnis und Wissenschaft, Jacob Böhme (1575–1624). Internationales Jacob-BöhmeSymposium Görlitz 2000. Neues Lausitzisches Magazin Beiheft 2. Görlitz u. Zittau 2001, 35–51. Besonders aufschlussreich sind folgende Stellen: Böhme (Anm. 3): Beschreibung der Drey Principien Göttliches Wesens (1619): 139 (38–142); 56; Von der Gnaden-Wahl (1623): 4 (1–9); 22; Mysterium Magnum (1623): 190 (14); Schutz-Schriften wieder Balthasar Tilken (1621): 119 (64–121); 85.
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Adam, »die Tinctur aller Wesen« in sich, d. h. Anteile von allen Substanzen und Prinzipien des Kosmos, womit das Männliche und das Weibliche eingeschlossen sind. Die Einheit des Urmenschen in sich selbst, mit Gott und dem Kosmos ging jedoch durch den Sündenfall verloren. Nach Böhme richtete Adam seinen »Blick«, seine Aufmerksamkeit, auf sich selbst und nicht mehr auf Gott. Durch diese Tat entmachtete er sich selbst. Sein himmlischer Leib wurde irdisch, wodurch er auch für Krankheiten und Naturgewalten anfällig wurde. Mit seinem himmlischen, göttlichen Leib hatte er die Fähigkeit besessen, sich selbst fortpflanzen zu können, eine Fähigkeit, die er als irdischer Mensch verlor. Gott schuf ihm daher eine Gefährtin, Eva. Im Unterschied zu diskursmächtigen Deutungen ist nach Böhme nicht der »Apfelbiss« Evas, sondern der Schlaf Adams, seine Abwendung von Gott, verantwortlich für den Fall. Entsprechend ist es nach Böhme das Ziel aller Liebe, die verlorene Einheit wiederzugewinnen. Aber erst im Himmel sollen die Menschen ihre vollkommenen, d. h. ihre androgynen Körper wiedererlangen.
Die Sophia in Gottfried Arnolds Das Geheimnis der göttlichen Sophia Böhmes Schriften zirkulierten schon zu seinen Lebenszeiten als Manuskripte im Untergrund.5 Erst eine Generation später, nachdem Johann Georg Gichtel (1638–1710) Böhmes Texte in Amsterdam herausgegeben und gedruckt hatte, wurden seine Schriften in größerem Umfang rezipiert.6 Die Schriften stießen vor allem in England und in den Niederlanden auf lebhaftes Interesse und erreichten die deutschsprachigen Leser oft über Umwege. Viele deutsche Pietisten lernten Böhmes Gedankengut durch die übersetzten Schriften der englischen Philadelphier kennen. Die Anführer der chiliastischen englischen Religionsgemeinschaft, Jane Leade (1623–1704) und John Pordage (1607–1681), hatten die von Gichtel herausgegebenen Editionen rezipiert7 und in eigene Texte eingearbeitet, sodass die Ideen Jakob Böhmes als Übersetzungen aus den englischen Schriften der Philadelphier nach Deutschland zurückkehrten. 1694 wurde Leades Himmlische Wolcke in Amsterdam ins Deutsche übersetzt,8 ihr prophetisches Buch Acht Wel5
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Zu Böhmes Leben, zum Kontext seiner Schriften sowie ihrer Rezeption s. Andrew Weeks: Boehme: An Intellectual Biography of the Seventeenth-Century Philosopher and Mystic. Albany 1991. Auch in seinen vielen Briefen hat Gichtel die Ideen Böhmes – auch die Sophia-Lehre – transformiert und verbreitet. Auf Gichtels Rolle als Vermittler der Sophia-Lehre kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Aira Vosa: Johann Georg Gichtel – teosoofilise idee kandja varauusaegses Euroopas. Tartu 2006 – mit einer deutschen Zusammnfassung: Johann Georg Gichtel Gichtel – ein Träger der theosophischen Idee im frühneuzeitlichen Europa, 298–305 (http://dspace.utlib.ee/dspace/bitstream/10062/130/1/vosaaira.pdf). Zu Leade s. Donald F. Durnbaugh: Jane Ward Leade (1624–1704) and the Philadelphians. In: The Pietist Theologians. Hrsg. v. Carter Lindberg. Malden (MA) 2005. Ihr Name wird auch manchmal »Lead« geschrieben. Jane Leade: Die nun brechende und sich zertheilende Himmlische Wolcke […]. Amsterdam 1694. Der Text wurde von Heinrich Wetstein veröffentlicht. Der Urtext wurde 1681 in Lon-
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ten wurde dann ab 1695 als schriftliches Manuskript in pietistischen Kreisen herumgereicht; es wurde 1696 ins Deutsche übersetzt und gedruckt; viele weitere Werke folgten in den nächsten Jahren.9 Philadelphische Literatur fand bald Anklang unter Radikalpietisten wie Johanna Eleonora Petersen (1644–1724) und Johann Wilhelm Petersen (1649– 1727), die viele der Böhme’schen Lehrsätze der Philadelphier aufnahmen und sie in ihren eigenen Schriften transformierten und weiterverbreiteten. 1703 war Johann Wilhelm Petersen einer von ungefähr 70 »Freunden« der Philadelphier in Deutschland, die in einem »Catalogus amicorum in Germania« aufgelistet wurden.10 Im gleichen Jahr schrieb J. W. Petersen, er hätte schon vor drei Jahren »solche holde Weißheit erkandt«, und in diesem Kontext erwähnt er die SophiaSchriften Gottfried Arnolds und John Pordages.11 Aber schon 1695 besaßen die Petersens eines der schriftlichen Manuskripte von Jane Leades Eight Worlds und Johanna Eleonora Petersen beschreibt in ihrem Lebenslauf, wie sie das Gedankengut Leades aufnahm, aber auch korrigierte und ergänzte.12 Sie meinte, Leade
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don veröffentlicht: The Heavenly Cloud now breaking […]. Loth Fischer übersetzte sowohl die Texte als auch die Briefe der Gruppe ins Deutsche. Fischer lebte in Amsterdam und war zuerst Anhänger Gichtels. Später schloss er sich an die Philadelphier an. Zu Fischer s. Gertraud Zaepernick: Johann Georg Gichtels und seiner Nachfolger Briefwechsel mit den hallischen Pietisten, besonders mit A. M. Francke. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), 74–118, hier: 115. In der unpaginierten Vorrede zum Buch kommentiert die Autorin den großen Erfolg ihrer früheren Werke in den Niederlanden. Jane Leade: The Wonders of God’s Creation Manifested in the Variety of Eight Worlds; As they were made known Experimentally to the Author. London 1695. Vgl. dazu Nils Thune: The Behmenists and the Philadelphians: A Contribution to the Study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries. Uppsala 1948, 110–114. Es handelt sich um eine Liste von prominenten Pietisten und anderen Reformern, von denen man hoffte, dass sie die philadelphische Mission unterstützen würden. Viele der gewünschten Kontakte waren keineswegs »Freunde« der Philadelphier. Z. B. erscheint der Name von Philipp Jakob Spener in dem Katalog, obwohl er die Gruppe scharf abgelehnt hat. Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha A 297, 5–8. Vgl. dazu Thune (Anm. 9), 125 f. Johann Wilhelm Petersen: Mysterion Apokatasteseos panton, Das ist Das Geheimniß Der Wiederbringung aller Dinge. 3 Bde. O. O. 1700 (1. Bd.: 1700; 2. Bd.:1705; 3. Bd.: 1710), hier Bd. 2, 170. Johannes Pordage: Sophia. Das ist Die Holdseelige ewige Jungfrau der Göttlichen Weisheit. Oder Wunderbahre Geistliche Entdeck= und Offen=bahrungen […]. Amsterdam 1699. Unter den Projekten, die J. W. Petersen vor seinem Tod nicht vollenden konnte, gab es mehrere, die sich mit Sophia beschäftigten, unter anderem eine Verteidigung der Sophia-Schrift Gottfried Arnolds (Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus. Göttingen 2005, 203). Johanna Eleonora Petersen: Leben Frauen Joh. Eleonora Petersen/ Gebohrnen von und zu Merlau, Hrn. D. Jo. Wilh. Petersen Eheliebsten; Von Ihr selbst mit eigener Hand aufgeseßet, […]. O. O. 1718, 56. In seinem Lebenslauf schreibt Johann Wilhelm Petersen, dass sie das Manuskript von Baron von Knyphausen bekommen haben (Das Leben Jo. WILHELMI PETERSEN […] Als Zeugens der Warheit Christi und seines Reiches, nach seiner grossen Oeconomie in der Wiederbringung aller Dinge […]. Halle 1717, 297). Dodo von Inn- und Knyphausen (1641–1698) verkehrte in pietistischen Kreisen in Berlin. 1694 gab er den Philadelphiern eine große Spende für den Bau eines Hauses in London und für den Druck ihrer Schriften. Er ließ ihre Schriften ins Deutsche übersetzen und bezahlte sowohl einen Übersetzter (Loth Fischer) wie auch Jane Leade selbst eine Pension. Dodo von Knyphausen war reformiert und heiratete eine Katholikin. Er plädierte für Religionsfreiheit und auf seinem ostfriesischen Besitz Lütetsburg gewährte er 1677–1680 Antoinette Bourignon und ihren
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hätte mathematische Fehler in ihrer Berechnung der zeitlichen Abfolge der »Wiederbringung« gemacht: Der Teufel sollte erst nach 50 000 Jahren, nicht schon nach 8 000 Jahren erlöst werden. Weiterhin glaubte Johanna Eleonora Petersen, dass Leade sich zu sehr auf ihre eigenen Offenbarungen stützte, statt in den Heiligen Schriften nach Bestätigung dieser Empfindungen zu suchen. Die Petersens selbst waren überzeugt, in der Heiligen Schrift Bestätigung für Leades Offenbarungen finden zu können.13 Auch andere Pietisten setzten sich mit den Lehren Böhmes, der Philadelphier oder Gichtels in ihren eigenen Werken auseinander. All dies weckte neues Interesse an Böhme und man begann, seine Bücher vermehrt auch in den deutschsprachigen Gebieten zu lesen. Hier war es vor allem Gottfried Arnolds Das Geheimniß der Göttlichen Sophia aus dem Jahr 1700, das die Lehre von der Sophia im deutschsprachigen Raum verbreitete.14 Arnold war einer der wichtigsten Vertreter des Pietismus, Historiker, Schriftsteller und Sprachrohr eines radikalen Kirchenverständnisses.15 Obwohl Arnold viel von Böhmes Vorstellung der Sophia aufnimmt, ist Arnolds Sophia anders: Sie spielt keine große Rolle in der Schöpfung und ist bei weitem weniger komplex.16 Arnold verwendet nicht Böhmes dunkle, metaphorische Sprache, um die Sophia zu beschreiben, und er vermeidet auch viele der Kritikpunkte, die man gegen Böhme erhoben hatte – vor allem die Denkmöglichkeit einer vierten Person neben der Trinität –, indem Arnold Sophia und Christus als zwei Aspekte des gleichen »Geistes« darstellt.17 Da er die Sophia nur zu einem mütterlichen Geist innerhalb der Gottheit macht, weicht Arnold der ganzen Diskussion über einen physikalisch androgynen Adam aus. Wie Böhme versteht Arnold den Urmenschen als gleichzeitig männlich und weiblich, aber diese Aspekte sind nach Arnold nur »geistig« und nicht körperlich.18 Der Unterschied zwischen Böhmes und Arnolds Sophia-Vorstellungen geht auf ihr jeweiliges Verständnis vom Verhältnis zwischen Geist und
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Anhängern Zuflucht. Zu Knyphausen s. Markus Matthias: »Preußisches« Beamtentum mit radikalpietistischer »Privatreligion«: Dodo II. von Innhausen und Knyphausen (1641–1698). In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hrsg. v. Wolfgang Breul u. a. Göttingen 2010, 189–209. Zu Leades Kontakt mit den Petersens s. Lucinda Martin: Women’s Religious Speech and Activism in German Pietism. UMI Dissertation Services: University of Texas 2002, 197 ff., und Albrecht, Johanna Eleonora Petersen (Anm. 11), passim, hier bes. 112 ff. u. 277 ff. Petersen (Anm. 12), 297. Gottfried Arnold: Das Geheimniß der göttlichen Sophia. Leipzig 1700. Im Folgenden zitiert als »Arnold«. Die Zahl in Klammern bezieht sich auf den Absatz in Arnolds Geheimnis der göttlichen Sophia. Jürgen Büchsel: Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt. Witten 1970, 106f; Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Hrsg. v. Dietrich Blaufuß u. Friedrich Niewöhmer. Wiesbaden 1995. Zur »Schlichtheit« von Arnolds Sophia vgl. Lothar Vogel: Beobachtungen zur Böhmerezeption in Gottfried Arnolds Sophienschrift. In: Der radikale Pietismus (Anm. 12), 271–292, hier: 276–279. Arnold (Anm. 14), 35 (3) u. 38 (13). Ebd., 40 (2): »Die unsichtbare natur ist nicht in mann und weib getheilet/ wird auch nicht durch vermehrung oder geburt fortgepflanzet. Denn ein wesen/ das kein fleisch hat/ hat keine gemeinschafft mit leibern«.
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Körper und auf ihre unterschiedlichen Auffassungen des Universums zurück. Arnold sagt, Geist habe keinen Leib. Böhme dagegen behauptet, aller Geist müsse in irgendeiner Art von Leib existieren und alle Leiber – seien sie menschlich, tierisch oder mineralisch – besitzen Geist, was für Böhme den chemischen und physikalischen Eigenschaften von Substanzen gleichkommt. Daher unterscheidet Böhme zwischen den »fleischlichen Leibern« der Lebewesen und den »Lichtkörpern« der Engel, des Urmenschen oder der Sophia. Auch Arnold stellt sich eine »geistliche kraft« oder einen »licht-leib« aus einer »himmlischen geistlichen substanz« vor,19 aber diese Leiber sind nicht mit dem menschlichen Körper homolog, wie sie es in Böhmes Konzept sind. Auch wenn Gottfried Arnold behauptet, die göttliche Sophia sei ihm offenbart worden, stützt sich sein Geheimniß der göttlichen Sophia nicht auf Offenbarung, sondern auf die Kirchengeschichte, um die Existenz der Sophia zu beweisen. Er zitiert biblische Bücher wie die Sprüche, die Weisheit Salomos, die Psalmen und Jesus Sirach, um seine Argumentation zu begründen, und er führt Texte von Kirchenvätern und Autoritäten wie Augustin und Tertullian an, um zu zeigen, dass die Sophia in der frühen Kirche keinesfalls kontrovers war.20 Ein großer Teil von Arnolds Ausführungen zielt darauf ab, zeitgenössischen Lesern zu erklären, wie die Sophia neben der Trinität existieren kann. Nach Arnold sei sie in der »Essenz« aller drei Personen der Trinität.21 Nachdem er die Geschichte der Sophia-Lehre in legitimen, kanonisch anerkannten Quellen, die seine Leser respektieren werden, verfolgt hat, folgert Arnold, dass letztendlich keiner die Sophia verstehen könne. Solche Geheimnisse übersteigen seiner Meinung nach den menschlichen Verstand.22 Trotz der Unterschiede in ihren Konzepten der Sophia verstehen sowohl Böhme wie auch Arnold die Sophia als ein passives Wesen. Böhme betont, dass Gott sich durch sie »gebärt« – nicht dass sie ihn gebiert. Auch Arnold macht die Sophia zu einem bloßen »Spiegel«. Indem er sich widergespiegelt sieht, wird Gott sich seiner selbst bewusst und »willt« sich ins »Ich«. Arnold schreibt: »Sie selbst aber gebieret in eigener begierde/ bewegung oder willen/ (wie es die Gottes-gelehrten ausdrucken) nicht, sondern offenbahret nur/ was geboren wird.«23 Die passive Sophia in den Konzepten Böhmes und Arnolds steht in scharfem Kontrast zu der aktiven und kreativen Rolle, die sie in den radikalpietistischen sozialen Experimenten des 18. Jahrhunderts spielt.
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Ebd., 102 f. u. 25 f. Hier die wichtigsten Stellen: Arnold (Anm. 14), 37–39 (11–17), 40–42 (2–10), 44 f. (16–19), 51 f. (3–8), 54–57 (17–25), 99 ff. (14 ff.), 114 f. (16–17) u. 125 ff. (10 ff.). Ebd., 38 (13). Ebd., 39 (17). In diesem Kontext zitiert er sogar Hermes Trismegistos. Ebd., 45 (19).
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Die Sophia und die sozialen Innovationen im Pietismus Zu den am wenigsten untersuchten, aber interessantesten Aspekten des Pietismus gehören seine vielen Experimente mit Geschlechter-Rollen, Sexualität sowie Familien- und Sozialstrukturen. Pietisten wendeten sich neuen oder wiederbelebten religiösen Ideen wie der Lehre von der der göttlichen Sophia zu, um ihre sozialen Innovationen zu rechtfertigen. Die Sophien-Lehre hob die traditionelle Interpretation der Schöpfungsgeschichte auf, in der Eva für den Sündenfall und das menschliche Leiden verantwortlich gemacht wird. In dieser traditionellen Interpretation wurzelte lange Zeit die Behauptung, Frauen seien unfähig, Aufgaben zu übernehmen, in denen Führung, Stärke, Urteilskraft oder manchmal auch Moral eingesetzt werden müsse. Mit einem Gottesbild, in dem Gott sowohl männlich wie auch weiblich ist, wurde das Weibliche aufgewertet und dem Männlichen gleichzeitig die Last der Sünde aufgebürdet. Pietisten, die diese Lehren rezipierten, zogen aus ihr auch gesellschaftliche Schlüsse. Wenn Arnold schreibt, der Christ solle zunehmend göttlich werden – ein Prozess, der sich erst im Himmel vollzieht – und Gott sei androgyn, impliziert das auch, dass Frauen »männlicher« und Männer »weiblicher« werden sollten. In einem gewissen Maß ist dies geschehen – Pietistinnen wagten es, sich in Sphären zu bewegen, die nur Männern vorbehalten waren. Sie übernahmen Führungsrollen in Konventikeln, äußerten sich öffentlich zu religiösen Themen, interpretierten die Bibel, schrieben und veröffentlichten ihre Meinungen. Gleichzeitig schätzten und erstrebten einige Pietisten (wie Zinzendorf) sogenannte weibliche Eigenschaften wie Spiritualität und Empathie.24 Pietisten verwendeten die Sophia-Lehre, um allerlei Experimente mit Familienstrukturen und Sexualität zu rechtfertigen, seien es radikalpietistische Gruppierungen, die sexuell-religiöse Rituale entwickelten, seien es Pietisten, die sich bemühten, zölibatär zu leben, seien es Versuche, pietistische Klöster zu gründen. Diese Experimente sind nicht nur das Resultat neuer theologischer Ideen, vielmehr haben hier theologische Ideen Antworten auf zeitgenössische Probleme angeboten. Einige Wissenschaftler sprechen von einer »Krise der Leiblichkeit« in dieser Epoche, die sich in den sozialen Experimenten des Pietismus ausdrückte.25 Eng damit verbunden war aber auch eine Krise des Ehe-Komplexes, der Rückgang der Kontrollfunktion weltlicher Autoritäten im Bereich von Moral und Sitte sowie tiefgreifende wirtschaftliche und strukturelle Änderungen in der Gesellschaft.26 Das religiöse und soziale Interesse an Androgynie zu dieser Zeit spiegelt 24
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Zinzendorf bemerkte z. B., dass die Bibel Frauen als Vorbilder für Güte, Heiligkeit und Keuschheit aufzählte. Vgl. Otto Uttendörfer: Zinzendorf und die Frauen: Kirchliche Frauenrechte vor 200 Jahren. Herrnhut 1919, 16. Vgl. auch Aaron Fogleman: Jesus is Female: Moravians and Radical Religion in Early America. Philadelphia 2007, 73 ff. Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der Radikale Pietismus um 1700. Göttingen 1998. Wegen Änderungen in ökonomischen Strukturen konnten viele Menschen die wirtschaftliche Basis, eine Familie zu gründen, nicht aufbauen. Isabel V. Hull dokumentiert, wie absolutistische Herrscher sich immer mehr in dieser Periode auf die Kontrolle über Finanzen und Territorien konzentrierten und sich zunehmend nur mit moralischen Dingen beschäftigten,
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innergesellschaftliche Turbulenzen wider. Kulturwissenschaftler haben gezeigt, dass körperliche Symbole in Zeiten sozialer und politischer Krise betont werden.27 Der weitverbreitete Chiliasmus in religiösen Kreisen und die Angst angesichts der Jahrhundertwende können als Ausdruck der Krisenstimmung gedeutet werden.28 Es würde hier zu weit gehen, alle diese zugrundeliegenden Faktoren zu untersuchen. Interessant aber ist in diesem Kontext, wie sich Pietisten der Sophia-Lehre zuwendeten, um ihre Versuche, das Leben »anders« zu gestalten, zu rechtfertigen. Pietistische Experimente mit Ehe und Sexualität reichten vom kommunalen pietistischen Kloster über asketische »Streiterehen« für Christus bis hin zu radikalen Sekten, in denen sexuelle Rituale zu Sakramenten wurden. Von den asketischsten bis zu den dekadentesten Modellen fanden fast alle diese Experimente eine ideologische Basis in den Vorstellungen der göttlichen Sophia und eines androgynen Urmenschen. Einige Gruppen wie z. B. die Herrnhuter interpretierten das Verhältnis zwischen Männern und Frauen auf eine neue Art und Weise: Die beiden Geschlechter seien zwar in dieser Welt nicht gleich, aber sicherlich gleich wichtig in Gottes Plan für die Menschheit. Als Folge entwickelten die Herrnhuter ein System, in dem sowohl Männer wie auch Frauen der Gemeinschaft dienen konnten. Es gab parallele Ämter für Männer und Frauen auf allen Ebenen der kirchlichen Organisation; Leiterinnen predigten, missionierten und kümmerten sich genauso um Finanzen und Administration wie ihre männlichen Kollegen.29 Einige Religionsgemeinschaften der Zeit wie die Labadisten verstanden die Gemeinde als eine Art »Familie«. Die Anführer der Gruppe, Jean de Labadie und Anna Maria van Schurmann wurden als »Mama« und »Papa« der Gemeinschaft bezeichnet, während die anderen Mitglieder »Brüder« und »Schwestern« waren. Solche Bindungen würde Goethe später als »Wahlverwandtschaften« bezeichnen, die zum Entsetzen des Publikums keine Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung nahmen. In dieser Weise schufen sich viele Radikalpietisten, die aus wirtschaftlichen Gründen nicht heiraten konnten, eine »Familie«. Die Mitglieder vermehrten sich durch Konversionen statt durch leibliche Kinder. Viele glaubten ohnehin, dass es falsch sei, Kinder zu bekommen, da die Welt schließlich bald enden würde. Andere pietistische Gruppierungen verstanden die Existenz der männlichen und weiblichen Geschlechter als bloßes Zeichen der Sünde, als eine Folge der
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wenn sie eine Gefahr für das Land oder den Frieden darin sahen (Hull: Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700–1815. Ithaca 1996, 3, 104–106, 326); s. auch Martin (Anm. 12), 63 ff. Mary Douglas: Purity and Danger: An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo. London 1991, 120–122; Patricia Caplan: Introduction. In: The Cultural Construction of Sexuality. Hrsg. v. Caplan. London 1989, 14–15. Vgl. auch Hans Schneider: Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Manfred Jakubowski-Tiessen u. a. Göttingen 1999, 187–212. Lucinda Martin: Anna Nitschmann (1715–1760): Priesterin, Generalältestin, Jüngerin der weltweiten Brüdergemeine. In: Frauen gestalten Diakonie. Bd. 1: Von der biblischen Zeit bis zum Pietismus. Hrsg. v. Adelheid M. von Hauff. Stuttgart 2007, 293–410.
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Teilung des Urmenschen in zwei sündhafte Hälften. Solche Gruppen lehnten Sexualität kategorisch ab und führten verschiedene Formen des zölibatären Lebens ein, unter anderem sogenannte spirituelle Ehen. Ihr Ziel war es, auf die »wahre Ehe« im Himmel zu warten, wo der sündhafte, irdische Körper wieder zu seinem vollkommenen androgynen Zustand zurückkehren sollte.30 Sowohl Männer wie auch Frauen wurden als »befleckt« und unvollkommen bezeichnet. Im deutschen Raum waren die maßgeblichen Befürworter eines sophiologisch inspirierten Zölibats Johann Georg Gichtel und Gottfried Arnold. Gichtel lebte in Amsterdam, aber er korrespondierte mit vielen Gleichgesinnten in Deutschland. Seine »Engelsbrüder« wollten alleine oder in »keuscher Ehe« leben. Gichtels Einfluss reichte bis in die Kreise des frühen Hallischen Pietismus, wo selbst Anna Magdalena Francke eine Zeit lang von ihrem Ehemann August Hermann Francke entfremdet lebte.31 Auch Gottfried Arnold stand in Verbindung mit Gichtel und befürwortete die »keusche Ehe« mit Sophia. Aber nur ein Jahr nachdem Arnold sein Geheimniß der göttlichen Sophia geschrieben hatte und nur zwei Jahre nachdem er seine Stelle als Professor niedergelegt hatte, weil er keinen Anteil an »Babel« haben wollte, milderte Arnold seine Ansichten. Er entschied sich zu heiraten und eine kirchliche Stelle anzunehmen, um seine Familie ernähren zu können. Als Gichtel die Nachricht von Arnolds Sinneswandel erhielt, erklärte er, er hoffe, dass Arnold »kein Weib, sondern eine Schwester zum Weib haben wollte.« Später musste er aber enttäuscht bemerken, Arnold sei »in Kinder verfallen.«32 Einige Pietisten wie Gerhard Tersteegen wohnten in einem monastischen »spirituellen Haushalt« mit einer kleinen Anzahl Gleichgesinnter, wo der Tag durch Gebet, Andacht, Lernen und Arbeit strukturiert wurde; andere Pietisten entwickelten großangelegte Experimente mit neuen Formen protestantischen Mönchtums. Das pietistische Kloster entwickelte sich am weitesten in den nordamerikanischen Kolonien, wo sich viele der sozial radikalsten Pietisten sammelten. Den ersten Versuch, in Amerika eine zölibatäre Utopie zu verwirklichen, unternahm eine Gemeinschaft, die zum Großteil aus Wissenschaftlern und Mathematikern bestand, die als Eremiten in den Wäldern Pennsylvaniens lebten. Die Gruppierung lehnte alle Namen als »sektiererisch« ab, aber Nachbarn bezeichneten sie als die »Woman in the Wilderness«-Gemeinschaft, da sie auf die prophezeite Frau aus Offenbarung 12,1–6 warteten. Die Gemeinschaft interpretierte das »Weib in 30
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Obwohl ihre Ehe anscheinend glücklich war, bemerkte Jane Leade nach dem Tod ihres Mannes, dass die Ehe ihre »true marriage of the soul with the Heavenly Sophia« aufgeschoben hätte. Vgl. Durnbaugh (Anm. 7), 130. Zaepernick (Anm. 8), 74–118. Beide Zitate stammen aus Johann Georg Gichtel: Theosophia practica: Halten und Kämpfen ob dem h. Glauben bis ans Ende: durch die drey Alter des Lebens Jesu Christi, nach den dreyen Principien Göttliches-Wesens, mit derselben Ein- und Aus-Gebuhrt durch Sophiam in der Menschheit, welche Gott derselben in diesem Alter der Zeit von neuem vermählet hat: und […] in Briefen gestellet von dem gottseligen Gottes-Freund und Mann Sophiae. Leyden 1722. Das erste Zitat ist in V, Nr. 62, das zweite ist in I, 425, 572 u. VI, 1416. Vgl. dazu Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Klaus Deppermann u. Martin Brecht. Göttingen 1995, 116 f.
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der Wüste« als die göttliche Sophia. Von diesen Anfängen entwickelte sich später das Ephrata-Kloster in Pennsylvanien, wo die Sophia ebenfalls eine zentrale Rolle spielte. Es gab sogar noch andere sophiologisch inspirierte, pietistische Klöster der sogenannten Rappisten in Pennsylvanien und Indiana, die bis ins 19. Jahrhundert existierten.33 Weitere radikale Gruppierungen wie die berüchtigte »Sozietät der Mutter Eva« wurden ebenfalls von der Idee der Sophia und des androgynen Urmenschen beeinflusst.34 Die Anhänger der Eva von Buttlar versuchten, den irdischen Körper zu überwinden, indem sie religiöse Rituale entwickelten, die den sexuellen Akt zu einem Sakrament stilisierten. Ihr Ziel war es, die männlichen und weiblichen Aspekte der Menschheit zu versöhnen, indem sie die Polarität der Geschlechter durch »Reinigung« aufheben wollten. Diese »Reinigung« bestand für Männer im sexuellen Verkehr mit Eva von Buttlar. Für Frauen war die Prozedur viel schmerzvoller und führte oft zu jahrelangen medizinischen Problemen, da die »Reinigung« der Frau durch ein manuelles Zerquetschen der Gebärmutter erfolgte. Man glaubte dadurch »das Tier« (als Ursprung der Sünde) töten zu können. Ob asketisch und zölibatär oder dekadent und ausschweifend, alle diese pietistischen Strömungen versuchten, biologische Unterschiede zu überwinden, da das Wesentliche des Menschen sein inneres Leben, seine Seele sei. Viele Pietisten sahen biologische Unterschiede als eine unglückselige Folge des Sündenfalls und des menschlichen Lebens auf Erden und nicht nach traditionellem Verständnis als göttliche Befugnis, Frauen und Männer auf bestimmten Sphären zu beschränken. Pietisten begannen grundlegende Aspekte der Gesellschaft zu hinterfragen: Geschlechter-Rollen, die Institution der Ehe, kirchliche und staatliche Behörden. Diese könnten, so die Pietisten, nicht von Gott, sondern bloß von fehlbaren Menschen konstruiert worden sein.
Die Sophia und das Schreiben pietistischer Frauen Ich habe die Transformationen der Sophien-Lehre von Jakob Böhme über Gottfried Arnold bis hin zu verschiedenen pietistischen Glaubensgemeinschaften nachgezeichnet. Nun möchte ich näher auf einen besonderen Aspekt der pietistischen Auseinandersetzung mit einer androgynen Gottheit eingehen: den Rückgriff einiger pietistischer Autorinnen auf die Sophia-Lehre, um ihr Schreiben und Sprechen über religiöse Themen zu rechtfertigen. In ihrer Autobiographie identifiziert Johanna Eleonora Petersen die Sophia mit dem Heiligen Geist, eine Gleichsetzung, die viele Pietisten vornahmen. In der
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Die beste Studie zu Ephrata, die auch Hinweise zu den anderen nordamerikanischen pietistischen Klöstern enthält, ist: Jeff Bach: Voices of the Turtledoves. The Sacred World of Ephrata. University Park, PA 2003. Vgl. dazu Temme (Anm. 25) und Barbara Hoffmann: Radikalpietismus um 1700. Der Streit um das Recht auf eine neue Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1996.
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Deutung eines visionären Traums enthüllt Petersen das »große Geheimnis«, das zu ihrer und ihres Mannes Verfolgung führte: Das leßte Bild wegen des Geheimnisses vom Vater, Sohn und Mutter […] so in dem Gemach gewesen, habe ich, nachdem mir die himmlische Gottmenschheit und das himmlische Jerusalem als der Taubengeist, davon wir Geist von Geist geboren werden, ist aufgeschlossen worden, dahin gedeutet; denn dadurch ist das Geheimnis der heiligen Trinität, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, der nach dem Hebräischen in dem weiblichen Genäre als eine fruchtbare Mutter und ausbrütende Taube ausgesprochen wird, in die Offenbarung gekommen, dadurch die Ausgänge in das mittlere Kraftwesen und die Unsichtbarkeiten in Gott zur Sichtbarkeit kommen sind […].35
Gottfried Arnold hatte darauf hingewiesen, dass es unwichtig sei, dass »der Geist« in anderen Sprachen feminin oder neutral ist, aber für Petersen ist diese Frage keinesfalls unwichtig.36 Sie weist darauf hin, dass im Hebräischen Geist (rûah) weiblich ist.37 Nach Petersen ist dies ein Beweis dafür, dass Gott das Weibliche und das Männliche in sich einschließt. Was aber noch wichtiger ist: diese »fruchtbare Mutter und ausbrütende Taube« macht die »Unsichtbarkeiten in Gott zur Sichtbarkeit«, d. h. sie ist die Vermittlerin von Gottes Offenbarung. Ohne sie gibt es keinen Logos. Petersen nimmt einen sehr alten Streit im Christentum auf: den uralten Kampf zwischen »Wort« und »Geist«. Theologen haben dabar (heb. »Wort«, m.) und ruah (»Geist«, f. ) als konkurrierende Begriffe, besonders im ersten Buch Mose, verstanden.38 Darüber hinaus wurde der Streit durch zwei verschiedene Versionen der Schöpfungsgeschichte in der Bibel angefacht. Im ersten Buch Mose heißt es: »Am Anfang […] schwebte der Geist Gottes auf dem Wasser«. Im JohannesEvangelium heißt es hingegen, »Im Anfang war das Wort«. Petersen löst das Problem, indem das Weibliche (Geist) das Männliche (Wort) offenbart. Petersen bemerkt, wenn man einmal »die himmlische Menschheit recht und wohl einsiehet, so wird uns die ganze Heilige Schrift immer klärer und deutlicher werden.«39 35 36 37
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Johanna Eleonora Petersen (Anm. 12), 68 ff. Für eine detailliertere Diskussion dieser Textstelle s. Martin (Anm. 12), 208–217. Arnold (Anm. 14), 41 (6 u. 7). Feministische Bibelwissenschaftlerinnen deuten darauf hin, dass viel verloren ging, als das hebräische Wort ruah (f.) ins Griechische pneuma (n.) und dann später ins Lateinische spiritus (m.) übersetzt wurde. Sie weisen darauf hin, dass der feminine, mütterliche, kreative Aspekt von ruah den biblischen Autoren wichtig war, weil sie ihn oft mit der weniger verwendeten männlichen Version des gleichen Wortes, das die destruktive Kraft Gottes darstellte, kontrastierten. Viele frühchristliche Denker interpretierten rûah dahingehend, dass Gott ein androgynes Wesen sei, und es liegt nahe anzunehmen, dass Johanna Eleonora Petersen, die der alten Sprachen mächtig war, davon wusste. Vgl. dazu Helen Schüngel-Straumann: Ruah (Geistin). In: Feministische Theologie: Perspektiven zur Orientierung. Hrsg. v. Maria Kassel. Stuttgart 1988, 59–75; Gabriele Winkler: Überlegungen zum Gottesgeist als mütterlichem Prinzip und zur Bedeutung der Androgynie in einigen frühchristlichen Quellen. In: Liturgie und Frauenfrage. In: Pietas Liturgica 7. Hrsg. v. Teresa Berger u. Albert Gerhards. St. Ottilien 1990. Schüngel-Straumann (Anm. 37) bestätigt, dass die zwei Begriffe parallel sind und dass sie oft als Synonyme erscheinen: vgl. 66. Johanna Elenora Petersen (Anm. 12), 68.
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Viele Pietistinnen wollten den Geist vor das Wort setzen, da das »Wort« Ihnen schließlich offiziell verboten worden war. Sie durften weder an Universitäten studieren noch kirchliche Ämter innehaben und die Texte, die Frauen in offiziellen Institutionen nicht studieren durften, waren genau die Texte, die Frauen dies angeblich verboten. »Geist« aber ist jedem zugänglich und kann von keiner Institution kontrolliert werden. Obwohl Petersen ihre Ausführungen anhand ihres biblischen Wissens und ihrer Sprachkenntnisse beweist, beruft sie sich letztendlich auf den »Geist«. Da ich an anderer Stelle ausführlicher über Petersen geschrieben habe,40 möchte ich mich jetzt einer weiteren, weniger bekannten Autorin zuwenden und ihre Rechtfertigung des eigenen religiösen Engagements genauer analysieren. Susanna Margaretha Wagener heiratete den Lehrer Johann Heinrich Sprögel im Jahr 1674. Sprögel wurde im Jahr 1681 Stiftsdiakon in Quedlinburg. Das Paar war mit August Hermann Francke eng befreundet und ihr Haus war eine zentrale Stelle für pietistische Kreise in Mitteldeutschland. Magdalena Elrichs, eine der sogenannten drei begeisterten Mägde, die eine Reihe von ekstatischen und prophetischen Ereignissen im Jahr 1691 auslösten, arbeitete für das Paar.41 Die Rolle der Sprögels in den Aufsehen erregenden Vorfällen führte zu jahrelangen rechtlichen Problemen für das Paar, bis Johann Heinrich Sprögel im Jahr 1698 von seiner Stelle suspendiert wurde. Im gleichen Jahr zog Gottfried Arnold bei der Familie ein und vollendete im Haus Sprögels sein einflussreichstes Buch, seine Unparteiische Kirchen und Ketzerhistorie von 1699/1700. Im Jahr 1701 heiratete Arnold die Tochter der Sprögels, Anna Maria.42 Consilia und Responsa Theologica; oder Gottsgelehrte Rathschläge und Antworten wurde 1705 anonym mit einem Vorwort von Gottfried Arnold veröffentlicht.43 Wissenschaftler haben das Werk Susanna Margaretha Sprögel, Gottfried Arnolds Schwiegermutter, zugeschrieben.44 Im Vorwort bezeichnet Arnold den 40
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Martin (Anm. 12), 157–225; Lucinda Martin: Female Reformers as the Gate Keepers of Pietism. The Example of Johanna Eleonora Merlau and William Penn. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur, Vol. 95, No. 1 (2003), 33–58. Vgl. dazu Ulrike Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus. Tübingen 1996, 21–86; Martin (Anm. 12), 114 ff. Ruth Albrecht plädiert für eine Forschung zu Anna Maria Sprögel und ihrem Arbeitsverhältnis mit Arnold. Dies.: Am Anfang eines langen Weges. Frauen und Geschlechterforschung in der Kirchengeschichte. In: Feministische Theologie und Gender-Forschung. Bilanz-Perspektiven-Akzente. Hrsg. v. Irene Dingel. Leipzig 2003, 67–96, hier: 85–89. Consilia und Responsa Theologica; oder Gottsgelehrte Rathschläge und Antworten/ über denen wichtigsten stücken und zuständen eines göttlichen wandels/ nebenst neuen Geistlichen Gedichten/ der weißheit Garten-Gewächs genannt/ gemein gemacht von Gottfried Arnold. Frankfurt a. M. 1705. Die orthodoxe lutherische Zeitschrift Unschuldige Nachrichten meinte, dass Johanna Eleonora Petersen den Traktat geschrieben habe (1704: 602; 1718: 913). Diese Vermutung wurde von Arnold in einer anderen von ihm herausgegebenen Schrift geleugnet, ohne dass er die Identität der Autorin preisgibt (Historisch=Theologische Betrachtungen merckwürdiger Wahrheiten Auf Veranlassung derer bißherigen Einwürffe Gegen G. Arnolds Schriften […] Franckfurt am Mayn 1709, 167). Ruth Albrecht bestätigt, dass der Text nicht von Johanna Eleonora Petersen stammen kann (Johanna Eleonora Petersen [Anm. 12], 34 f.). Albrecht Ritschl schlägt Anna Catharina Scharschmied, geb. Heidfeld als Verfasserin des Buches vor
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Autor als einen »Theologus« und einen »Gottesgelehrten Mensch«.45 Er beschreibt das Buch als den »innerlichen lebens-lauff dieser seele«, was auf seinen Ursprung als pietistisches Seelentagebuch hinweist.46 Ein Großteil des Buches besteht aus Dialogen zwischen der Seele der Autorin und Gott. Die Autorin erwägt diverse Bibel- und Glaubensfragen, woraufhin »Gott« antwortet. Aber das Buch enthält auch Gebete, Gedichte und die Träume und Gesichte der Autorin. Böhme und Arnold stellten sich eine Sophia vor, die als passives »Instrument« Gottes erscheint, aber nach Sprögel ist die Sophia eine aktive Vermittlerin der Erlösung. Sie ist diejenige, die Änderungen in der Seele bewirkt und den Menschen zurück zu Gott führt. Sprögels radikalere Vorstellung der Sophia geht auf eine lange Auseinandersetzung mit diesem Stoff zurück. Seit mindestens 1696 hatte sie mit Johann Georg Gichtel darüber korrespondiert. Leider sind nur Gichtels Briefe aus diesem Austausch erhalten.47 In den Consilia und Responsa nimmt aber Sprögels Sophia Gestalt an, wenn Sophia durch die Autorin in der ersten Person in einer Weise spricht, die stark an die Sophia der Bibel erinnert.48 Arnold verstand die Sophia bloß als einen »Geist«, nicht als eine Person, und Böhme schreibt verwirrenderweise, Sophia sei nicht eine Person aber doch eine Persönlichkeit; für Sprögel aber ist die Sophia eindeutig eine Person innerhalb der Gottheit, wie diese Textstelle zeigt: Also lerne und mercke auf meine wege wohl/ so wirst du weise/ und alles gute kommt dir von mir/ deiner treuen mutter der weißheit/ die dich so heilig leitet/ locket/ und ziehet zu allem gutem/ […] ich kehre alles wieder umb/ und bringe das ende wieder in den anfang/ und den anfang in das ende. […] Also verschlinge ich den todt im sieg/ und verwandle zu seiner zeit den tod in lauter leben und friede.49
Böhme und Arnold erdachten sich einen androgynen Urmenschen und beide Männer glaubten, dass am Ende der menschlichen Zeit Gott die Menschheit in ihren vollkommenen androgynen Zustand überführen würde – sei es nach Meinung Böhmes im Geistleib oder nach Meinung Arnolds im reinen Geist. Nach Sprögel ist es jedoch nicht Gott, sondern die Sophia, die diesen Wandel bewirkt:
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(Geschichte des Pietismus 2. Bonn 1884, 319 f). Folgende Wissenschaftler haben Sprögel als die Autorin gesehen, was inzwischen als Konsens gelten kann: Curt von Faber du Faur: German Baroque Literature. A Catalogue of the collection in the Yale University Library. Bd. 1. New Haven 1958, 375; Jürgen Büchsel/Dietrich Blaufuß: Gottfried Arnolds Briefwechsel. Erste Bestandsaufnahme – Arnold an Christian Thomasius 1694. In: Pietismus – Herrnhutertum – Erweckungsbewegung. Hrsg. v. Dietrich Meyer. Düsseldorf 1982, 71–106, hier: 90. [Sprögel:] Consilia und Responsa (Anm. 43), unpag. Vorrede, Abs. 3. Ebd., Abs. 5. Gichtels Briefe an sie (und andere Anhänger) aus den Jahren 1696–1700 sind erhalten: Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha A 297, 217–233. Vgl. Zaepernick (Anm. 8), 118. Vgl. z. B. »Die Weisheit ist ein Geist, der den Menschen liebt, doch lässt sie den Lästerer nicht unbestraft«. (Weis. Sal. 1,6); »So ging auch ich, die Weisheit, hervor wie ein Seitenarm aus dem Strom und wie ein Wassergraben […]« (Sir 24,40). [Sprögel:] Consilia und Responsa (Anm. 43), S.138 f. Die Schreibweise einschließlich des Fettdrucks in den Zitaten Sprögels wurde aus dem Original übernommen.
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Mache dir auch kein solch bild von der wiederbringung/ als ob alles vergehen und nichts bleiben werde. O nein/ das alte überjahrete sündliche unreine wesen soll verschmelßen und verzehret werden vom feuer der reinigung/ und ich will alles in sein erste reinigkeit wiederbringen […] meine tieffen sollen offenbahr werden den unmündigen/ die das reich Gottes als Kinder empfangen haben.50
Die Idee, Gott offenbare sich den Einfachen und nicht den Mächtigen, den Unmündigen und nicht den Berühmten, war einer der am weitesten verbreiteten Gedanken des Pietismus. Um die herkömmliche Vorstellung zu überwinden, dass nur studierte, ordinierte Theologen sich öffentlich über religiöse Themen äußern durften, bestanden Laien und Frauen oft darauf, dass die »Auserwählten« »sanftmütig« und »unschuldig«, nicht stolz und privilegiert seien. Pietisten stellten »weltliches« und »göttliches« Wissen einander gegenüber. »Göttliches Wissen« habe man direkt, als empirische Erfahrung von Gott, »weltliches« Wissen habe man aus fehlbaren Büchern. Oft verfügten diese Laien und Frauen über beträchtliche Bibelkenntnisse und beherrschten die alten Sprachen, aber sie beriefen sich stets auf göttliche Erfahrung und inszenierten sich als passive »Werkzeuge«. Auch in den Consilia und Responsa Theologica spielen die Motive der Sophia und des androgynen Urmenschen eine zentrale Rolle, um die gesellschaftlich sanktionierten Geschlechter-Rollen in der Ehe zu hinterfragen und unverhohlen den Wunsch nach Veränderung zu begründen. So verschmilzt Sprögel Jesus und die Sophia zu einer Person und kontrastiert die herkömmliche, »unreine« Ehe mit einem neuen Modell der Ehe mit Jesus-Sophia: Stehe wie holdselig/ […]/ wenn alle falsche doppelte unreine liebe/ samt allen stolßen und hochherfahrenden sinn im menschen wird nieder gelegt seyn. Wenn nun Jesus wird im heiligen keuschen Geist küssen/ da weder mann noch weib/ sondern einer in Christo seyn wird/ auch unter wahren eheleuten/ doch ohne sündlich herrschsuchtige mannes-art und ohne ruhmredig hoffärtig befleckt weib/ sondern Jesus-Sophia die reine neue menschheit sich umbarmen wird.51
Christen werden also nicht nur neue Körper bekommen, sondern Gott, oder genauer Jesus-Sophia, wird eine neue Art von Ehe einführen, in der Mann und Frau »einer in Christo« sind und wo keiner über den anderen herrscht: Also wird auch die reine wahre ehe auch auf der erden wieder auffgerichtet werden/ da der Mann nicht mehr über sein weib oder jungfrau in hißiger brunst oder stolßer eigenheit herrschet/ sondern seine Jungfrau ehret/ sie heilig und keusch liebet […]. Siehe so wird die gefallene menschheit wieder in ihre erste blüthe verseßet/ und in mann und weib eines in dem unzertheilten sinn und einigen willen Gottes/ drinn eines dem andern dienet. Welches denn noth ist zur göttlichen gleichheit und einigkeit.52
Obwohl Sprögel als Arnolds Schwiegermutter besonders im Motiv der Verschmelzung von Jesus und Sophia ihre Vertrautheit mit Arnolds Sophien-Konzept zeigt, bedient sich Sprögel einer völlig anderen Sprache, um die Sophia zu charakteri50 51 52
Ebd., 231 f. Ebd., 232. Ebd., 231 f.
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sieren. Sie schreibt nicht in der Sprache des Kirchenhistorikers, sondern ähnlich wie Jakob Böhme oder Johann Georg Gichtel in der Sprache der Alchemie: Denn der feind […] will […] dir gern alle stärcke und krafft samt allem männlichen ernst/ welcher doch der starcken reinen liebe eigen ist/ verlöschen/ und dich in zertheilung der kräffte behalten/ damit nicht weißheit und stärcke in dir sich vereinigen und einen einigen neuen Gottes-menschen darstellen sollen. Allein dieß ists eben/ deßwegen ich beständig bey und in dir bleiben muß/ damit du keinen schaden leidest/ weder an der göttlich-männlichen noch an der göttliche-jungfräulichen natur und tinctur. Denn also must du nicht mehr zertrennt/ sondern ein vollkommen jungfräulicher mann und männliche jungfrau in einer unzertrennten gestalt und art wieder dargestellet werden. Dieß ist die rechte wahre neue geburt/ und die rechte wiederbringung in dir selbst/ welche dir geschencket und mitgetheilet wird.53
In dieser Textpassage identifiziert Sprögel die »göttlich-männlichen« und die »göttlich-jungfräulichen« »Tincturen«: die »männliche« »Tinctur« ist »Stärcke« und die »jungfräuliche« »Tinctur« ist »Weißheit«. Die Vorstellung, dass Weisheit selbst weiblich sei, stellt eine deutliche Erhöhung für das weibliche Geschlecht dar. Aber Weisheit und Stärke stehen sowohl Männern wie auch Frauen zur Verfügung, weil diese innere und nicht äußere Eigenschaften sind. Die praktischen Folgen dieser theologischen Vorstellung sind nach Sprögel, dass Regeln und Bräuche, die das Verhalten der Geschlechter festschreiben, nach dem inneren Menschen und nicht nach der äusseren Creatur angewendet werden müssen: Die weiber sollen schweigen in der gemeine/ saget Paulus/ und das ist auch wahr nach dem rechten sinn des geistes. Denn alle weiche weibische und faule gemüther sollen schweigen/ weil sie ihr leben nicht umb Christi willen willig in den tod übergeben. Solchen gebühret freylich stillschweigen/ denn sie können nicht in der wahrheit von Jesus zeugen/ und von der neuen geburt/ weil sie noch nichts davon erfahren/ auch keinen muth und willen haben/ wie männliche gemüther/ in den tod zu gehen. Daher der prophetische geist spricht/ daß Gott alle/ die er straffen wolle/ zu weibern werden lasse/ und ihnen den muth nehme.54
Sprögel legt Paulus’ Gebot, Frauen hätten in der Kirche zu schweigen, so aus, dass die Schwachen und Mutlosen zu schweigen hätten, d. h. diejenigen, die innerlich weiblich sind. Die Autorin rät jedem, sich selbst zu erforschen um zu entdecken, ob man »männlich« oder »weiblich« sei und ob demnach das paulinische Verbot für einen selbst zutreffe: Darum gehe ein ieder in sich/ und suche worinn das weibische schweigen bestehe. Denn die wahren redner und zeugen Jesu sind nicht weich weibisch/ ja in Christo sind weder mann noch weib/ sondern allzumahl einer in ihm/ in welchen das wort des lebens/ der rechte bräutigam und mann selber zeuget.55
53 54 55
Ebd., 253 f. Ebd., 328 f. Ebd., 329.
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Lucinda Martin
Sprögels Rat schliesst auch Männer ein. Nach ihrer Anthropologie ist das, was man äußerlich ist – sei es Mann, Frau oder Kind – eine Tatsache der Natur, was man dagegen innerlich ist, ist jedoch eine Frage der spirituellen Reife: Und also müssen nach dem wahren sinn des geistes auch viel männer noch schweigen lernen/ die zwar männer heissen/ und doch nicht einmahl umbgekehrte kleine kindlein in Jesu worden/ und zum himmelreich tüchtig/ geschweige andere zu lehren geschickt sind. Diese […] sollen lernen schweigen/ wie der Geist ihnen gebeut. Darum lasse sichs ein ieglicher den heiligen Geist aus dem wort zeigen/ ob und was er reden solle/ damit ers rede/ als Gottes wort. Sonst sinds reden eines befleckten gefallenen weibes/ ja klingende schellen und leere schwäßer/ welche schweigen sollen.56
Nach Sprögel ist das Weibliche – wie überhaupt in ihrer Epoche – negativ konnotiert. Da Sprögel für sich aber das Recht auf religiöses Reden beansprucht, sah sie sich anscheinend nicht als »ein gefallenes weib«. Aus dieser Passage wird klar: Susanna Margaretha Sprögel verstand sich selbst als Mann.
Zusammenfassung Im Fall von Susanna Margaretha Sprögel verleiht die Sophia einer Autorin nicht nur das Recht, ihre Ansichten zu veröffentlichen, sondern erlaubt es ihr auch, ein neues Modell für die Ehe zu entwickeln. Die »rechte, wahre neue geburt« sieht sie in einer Ehe, wo Eheleute »in einer unzertrennten Gestalt und Art« als Partner leben, wo Männer und Frauen gleich mächtig sind. Als Gottfried Arnold sein Geheimnis der Göttlichen Sophia 1699/1700 veröffentlichte, hatte auch er die traditionelle Ehe noch scharf kritisiert. Ein Jahr später heiratete er Anna Maria Sprögel. Stellte diese Beziehung die Art von Ehe dar, die Susanna Margaretha Sprögel befürwortet hatte? Sicher ist, dass die Sophia-Lehre Frauen (und Männer) ermutigte, sich und die Welt mit neuen Augen zu sehen. Nach dieser Lehre wurde das weibliche Geschlecht nicht nur erzeugt, um dem männlichen behilflich zu sein, sondern das Weibliche war ein intrinsischer Teil der Gottheit und der Schöpfung und daher positiv, nicht negativ, konnotiert. Anstatt die Schuld für den Sündenfall einseitig auf die Frauen als Töchter Evas zu schieben, ließen sich nun beide Geschlechter als Produkte von Adams Sünde interpretieren. Die Vorstellung, Männer hätten gemäß eines göttlichen Plans über Frauen zu herrschen, verlor in vielen pietistischen Kreisen ihre theologische Begründung. Frauen konnten sich innerhalb dieser Gemeinschaften neuen Aufgaben stellen und neue Rollen übernehmen. Vor dem Hintergrund der theologischen Sophia-Lehre konnten Frauen in einigen pietistischen Gruppierungen Führungsrollen übernehmen, die weit über das hinausgingen, was die säkulare Aufklärung tolerierte. Pietisten forderten traditionelle Hierarchien in vielerlei Weise heraus, indem sie die Welt nach religiösen Prinzipien reformieren wollten. Religiöse Dissiden56
Ebd., 329 f.
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ten führten nicht nur kirchliche Innovationen ein, sie experimentierten auch mit allen denkbaren Sozialstrukturen, die von der Erziehung über Geschlechter-Rollen bis hin zu möglichen Formen des Familienlebens reichten. Viele ihrer Ideen überdauerten das 18. Jahrhundert nicht. Pietistische Klöster und »spirituelle Ehen« konnten sich nicht durchsetzen. Nach ca. 1760 endeten die radikalsten pietistische Experimente, einschließlich der beachtlichen Erweiterung der Rolle der Frau in religiösen Belangen. Trotzdem haben diese pietistischen Versuche, das Leben anders zu gestalten, den Denkhorizont der Zeitgenossen erweitert. Eine pietistische Praxis, die sich durchsetzte, war z. B. das Schreiben von Frauen. Die pietistische Idee, dass jeder für sein eigenes Seelenheil verantwortlich sei, führte zusammen mit der pietistischen Betonung der Selbstbeobachtung und der sorgfältigen Verfolgung der eigenen religiösen Entwicklung dazu, dass immer mehr Frauen und Laien zur Feder griffen. Sophia, »die göttliche Weisheit«, inspirierte auf diesem Weg tatsächlich viele Frauen. Als Frauen zunehmend ihre Schriften verfassten und veröffentlichten, wurden traditionelle Vorstellungen, dass solche Tätigkeiten – wie auch jegliche öffentliche Aktivität – unpassend für Frauen seien, aufgeweicht. Stereotypen über die angebliche Unfähigkeit von Frauen wurden nach und nach diskreditiert. Diese Erweiterung der Möglichkeiten für Frauen (und auch Männer), zu schreiben und zu veröffentlichen, ist als eine der dauerhaftesten – und weisesten – Beiträge des Pietismus für die moderne Welt einzustufen.
Kaspar Bütikofer
Die Rezeption Böhmes durch den Zürcher Pietisten Johann Heinrich Locher Eine mikrohistorische Untersuchung über die Bedeutung Böhmes Jakob Böhme wird gerne als Vater des radikalen Pietismus bezeichnet. Diese Bezeichnung geht auf Emanuel Hirsch zurück und dient theologiegeschichtlich der scharfen Abgrenzung zu Philipp Jakob Spener und dem ›eigentlichen‹, d. h. kirchlichen Pietismus.1 In der Geschichte der neueren evangelischen Theologie zog Hirsch die Trennlinie zwischen Böhme und Spener. Er widmete Jakob Böhme ein ganzes Kapitel und untersuchte darin dessen Wirkung auf den radikalen Pietismus. Er ging so weit, den radikalen Pietismus als eine Seitenbewegung der pietistischen Zeit zu bezeichnen. Seiner Ansicht nach trat durch das Eintreten Speners für ein tätiges Laienchristentum eine ältere Seitenlinie der Reformation an die Oberfläche. Überlieferungen von Schwärmertum, Täufertum und mystischem Spiritualismus der Reformationszeit […], das Weiterwirken von Gedanken und Anregungen gewisser Eingänger, vor allem Jakob Böhmes […], – dies alles miteinander bahnte sich nun im schwärmerischen Pietismus einen Weg ins Freie […].2
Hirsch stellte die theologische Konzeption Böhmes jener von Spener als komplementär gegenüber. Böhme wurde gegen Spener, den Erneuerer und Reformer der orthodoxen Theologie, scharf abgegrenzt; seine spekulative Sonderlehre bedeute für die wesentlichen Dogmen der evangelischen Theologie, wie Schöpfungslehre, Sündenfall oder Gnadenwahl, eine Auflösung und Zerstörung der kirchlichen Lehre.3 Es sei der Böhmismus, der über »Speners Grenzziehungen« hinausgehe und den schwärmerischen, pietistischen Separatismus darstelle.4 Folgte man Hirsch, so gäbe es zwei Formen von Pietismus mit zwei unabhängigen, wenn nicht geradezu entgegengesetzten ideen- und theologiegeschichtlichen Grundlagen: Spener hier und Böhme dort. Der eine dringt auf die Erneuerung der Kirche von innen heraus, der andere steht als Heterodoxer außerhalb der Kirche und dringt auf deren Zersetzung und Auflösung. 1
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Emanuel Hirsch: Geschichte der neueren evangelischen Theologie. Bd. 2. Gütersloh 1951, 209; vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. I. A. der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. v. Martin Brecht u. a. Göttingen (im Weiteren mit der Sigle »PuN«), Bd. 8 (1982), 23 ff. Hirsch (Anm. 1), 208. Ebd., 214. Ebd., 239.
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Kaspar Bütikofer
Die in der älteren Pietismusforschung aufgestellten Trennlinien werden in der neueren Forschung zwar aufrechterhalten, aber ganz allgemein als unscharf relativiert. Die Tauglichkeit der Begriffe wie radikaler oder schwärmerischer Pietismus wird angezweifelt. Bei beiden Begriffen handelt es sich um Fremdbezeichnungen. Die Einteilung pietistischer Strömungen in radikale und kirchliche erscheint daher heute als eher ungeeignet. Es ist zudem eine gewisse Durchlässigkeit zwischen den Strömungen zu beiden Polen hin feststellbar.5
I Im Folgenden will ich nicht näher auf die aktuelle Diskussion über den kirchlichen und den radikalen Pietismus eingehen. Die einleitend wiedergegebene Position von Hirsch, die heute in dieser Form als überholt gilt, soll lediglich illustrieren, dass die Rolle Jakob Böhmes stark mit der Frage des radikalen Pietismus verknüpft ist. Ist Jakob Böhme eine Nebenfigur in der Entwicklung des Pietismus? Ist er eine allenfalls interessante, aber absonderliche Randerscheinung? Markiert seine Rezeption einen kurzen und vorübergehenden Auswuchs eines frommen Aufbruchs? Oder ist er gar ein maßgeblicher Teil der pietistischen Bewegung und nahm Einfluss auf sie, ähnlich wie Arndt, Spener oder Francke? Steht Böhme im Zentrum des pietistischen Denkens und Glaubens? Ist er in Tat und Wahrheit der Vater des radikalen Pietismus? Ist er die Einheit stiftende Figur für den radikalen Pietismus? Die große Bedeutung Jakob Böhmes für den Pietismus ist anerkannt und unbestritten. Umstritten ist hingegen die Frage, welche Rolle er effektiv im Pietismus gespielt hat. Die Beantwortung dieser Frage hängt stark von der makrohistorischen Konzeption des Pietismusbegriffs ab. H.-M. Rotermund hat zwei idealtypische Betrachtungsweisen aufgezeigt, die nach wie vor sehr hilfreich sind, um die Problematik der Verortung pietistischer Strömungen verstehen zu können. Die erste Betrachtungsweise geht davon aus, dass der Pietismus eine Erweckungsund Erneuerungsbewegung innerhalb der lutherischen (und reformierten) Kirche war. Dementsprechend erscheint der radikale Pietismus als eine wesensfremde Bewegung, ähnlich wie das Täufertum während der Reformation. Die zweite Betrachtungsweise nähert sich dem Phänomen von der anderen Seite: Der Pietismus erscheint hier als ein Wiederaufleben von Strömungen und Motiven, die nach der Reformation abgedrängt worden waren und nun in neuer Gestalt in der Kirche aufbrachen. »Man kann dann den Pietismus als eine Bewegung ansehen, in der hallescher und schwärmerischer Pietismus die Konsequenzen nur verschieden weit ausgezogen haben.«6 Welcher Konzeption der Vorzug gegeben werden soll, 5
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Martin Brecht: Der radikale Pietismus – die Problematik einer historischen Kategorie. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hrsg. v. Wolfgang Breul u. a. Göttingen 2010, 11–18. Hans-Martin Rotermund: Orthodoxie und Pietismus. Valentin Ernst Löschers ›Timotheus verinus‹ in der Auseinandersetzung mit der Schule August Hermann Franckes (Th A 13).
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ist für Rotermund an die Frage geknüpft, »wo der Pietismus, geschichtlich gesehen, seine Wurzeln hat«. Es gelte erst diese Frage zu entscheiden, bevor man sich Klarheit über die Definition des Pietismusbegriffs verschaffen könne.7 Meiner Meinung nach besteht die Problematik aber nicht bloß darin, dass die geschichtlichen Wurzeln des Pietismus dessen Begriff bestimmen, sondern eben auch darin, dass die gewählte Begriffsbestimmung wiederum die Frage nach den geschichtlichen Wurzeln determiniert. Der Versuch, mit einem engeren und einem weiteren Pietismusbegriff zu operieren, mag daher hilfreich sein und erlaubt, mit dem Definitionsdilemma flexibel umzugehen. Eine Klärung vermag auch dieser methodische Ansatz nicht zu erreichen. Eine andere zielführende Herangehensweise kann ein mikrohistorischer Ansatz darstellen. Ein Wechsel der Optik vermag die »Innenseite der Fakten in den Blick«8 zu rücken. Nicht die Pietismuskonzeption soll im Zentrum stehen, sondern ein einzelnes Individuum. Es soll uns nicht eine große Persönlichkeit, kein Begründer oder Vater einer bestimmten pietistischen Spielart beschäftigen. Die Bedeutung Böhmes und dessen Rezeption in der frühen Phase des Pietismus kann am Beispiel des Zürcher Kaufmanns Johann Heinrich Locher (1648–1718) aufgezeigt werden. Anhand des mikrohistorischen Ansatzes sollen die Wahrnehmung, die Denk- und Lesewelt eines Pietisten untersucht werden. Wie entwickelt und lebt er seine Frömmigkeit? Was formt ihn? Wie interpretiert er die Umwelt? Und ganz konkret: Welche Bedeutung hat für ihn Jakob Böhme? Wie und warum liest er ihn? Wie rezipiert er ihn? Die Beantwortung dieser Fragen soll die Bedeutung Böhmes für den Pietismus anhand der Lebenswelt einer Einzelperson klären helfen. Es versteht sich beim gewählten Ansatz von selbst, dass die gewonnenen Erkenntnisse nicht verallgemeinert und auf eine Makroebene transferiert werden können. Aber die Lebenswelt eines Individuums soll einen konkreten Eindruck vermitteln und ein Spannungsfeld zwischen einer theoretischen Pietismuskonzeption einerseits und der individuellen Wahrnehmung eines Pietisten andererseits aufbauen. Für eine solche mikrohistorische Herangehensweise eignet sich der Zürcher Kaufmann und Pietist Johann Heinrich Locher sehr gut. Über ihn sind mehrere Quellen vorhanden; wir verfügen über ein Inventar seiner Bibliothek, und zudem bestehen von ihm mehrere Selbstzeugnisse. Er war im frühen Zürcher Pietismus ein wichtiger Akteur. Er wirkte als Organisator und Integrator der Frömmigkeitsbewegung in der Limmat-Stadt; über ihn liefen viele Kontakte mit Gleichgesinnten in der Schweiz und Deutschland. Sein Netzwerk reichte von den Niederlanden bis nach Italien. Er war meistens gut und schnell über die Entwicklungen innerhalb der pietistischen Strömungen informiert. Über ihn fanden neue Ideen und Bücher eine rasche Verbreitung unter den Glaubensgenossen, weit über die Stadtmauern von Zürich hinaus. Locher spielte für die Entwicklung des Pietismus in seiner Heimatstadt eine wichtige Rolle und war alles andere als ein Außenseiter des frühen Zürcher Pietismus. Vielmehr war er so etwas wie der Wortführer der
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Berlin-Ost 1959, 100–107, hier: 104, zit. n. Schneider, Pietismus (Anm. 1), 22. Ebd., 104. Otto Ulbricht: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2009, 14.
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ersten Pietistengeneration. Als Laie nahm er aber nicht öffentlich an theologischen Auseinandersetzungen teil und trug auch nicht zur umfangreichen pietistischen Bücherproduktion bei.9 Locher war keine herausragende Persönlichkeit des Pietismus, die automatisch in den Brennpunkt der Forschung gerät. Seine Bedeutung für die Pietismusforschung erschließt sich erst aus der näheren Beschäftigung mit dem Zürcher Pietismus.
II Johann Heinrich Locher schildert seinen Lebens- und Glaubensweg in seinem Selbstzeugnis »Freimüthiges GlaubensBekanthnus« ausführlich.10 Der Text gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil beschreibt Locher seine religiöse Entwicklung zum Pietismus, die ihn über mehrere Etappen und Krisen führte. Die Schilderung gipfelt in der Wiedergeburt und geht über in einen zweiten Teil, der der Darlegung der Kernelemente seiner religiösen Überzeugung dient. Hier nimmt Locher mehrmals direkt Bezug auf Jakob Böhme und dessen Begrifflichkeiten. Bis zu seiner Wiedergeburt durchlebt Locher drei Krisen unterschiedlicher Intensität. Die Krisen sind für ihn wichtige persönliche Wendepunkte auf dem Weg zum pietistischen Glauben. Die Art und Weise, wie er die Krisen meisterte, sagt einiges über seine Wahrnehmung und Interpretation der Welt aus. Und weil diese drei Krisen durch die Lektüre von Büchern ausgelöst oder bewältigt wurden, erfahren wir auch etliches über die Lesewelt und die Verarbeitungsweise der Texte durch den Zürcher Kaufmann. Dadurch erhalten wir einen ersten Eindruck von der Rolle der gelesenen Autoren für die Ausdifferenzierung der pietistischen Weltanschauung bei Locher. Lochers Werdegang in Begleitung von Büchern habe ich anderswo ausführlich dargestellt.11 Ich werde mich hier auf die kurze Schilderung der drei Krisen beschränken und die Rolle der darin zu Rate gezogenen Bücher darstellen. Die erste Krise Lochers war eine tiefe Glaubenskrise und erfasste ihn während der Adoleszenz mit etwa 14 oder 15 Jahren. Locher war zwischen die Konfessionen geraten, nachdem er als Jugendlicher von zu Hause ausgerissen war und ein glückliches halbes Jahr bei katholischen Pflegeeltern im süddeutschen Raum verbracht hatte. Wieder zurück in Zürich beschäftigte ihn – ganz Kind des konfessionellen Zeitalters – die quälende Frage, welche Lehre nun die richtige sei, die neu kennen gelernte katholische oder die reformierte seiner Eltern. Locher las daher die Bibel, die Werke Calvins, diverse Katechismen und besuchte fleißig die Predigten in der Hoffnung, eine Antwort zu finden. Er kam aber zu keinem Entscheid: 9
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Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Probleme der bibliographischen und editorischen Erschließung pietistischer Literatur. In: Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. Hrsg. v. Georg Jäger u. a. Weinheim 1988, 83–111. Zentralbibliothek Zürich (im Weiteren mit der Sigle »ZBZ«) Ms. S 276, Nr. 27: Freimüthiges GlaubensBekanthnus [Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700. Kaspar Bütikofer: Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721). Göttingen 2009.
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Weilen aber gewahret, daß ein jeder die biblische Schrifft nach seinem Sinn deüthet und trehet und sich selbst zum meister darüber macht, brachte mir solches mehr Schwehrigkeit im gemüth, besonders weil mich nicht mächtig befande den ungezweiflet rechten verstand der Schrifft also zufaßen, daß ich entweder parthey hette gäntzlich beifallen, und darmit mein gemüth berüwigen können.12
Ein himmlisches Wunder habe ihm den Weg aus seiner konfessionellen Verwirrung gewiesen. Von einem tiefen Gebet aufstehend, habe er überraschend das erste Buch des Wahren Christentums von Johann Arndt neben sich liegend gefunden. Die Lektüre der Schrift vermochte ihn zu beruhigen; er fand die gesuchte Antwort auf die konfessionelle Frage in einer irenischen Religiosität. Für ihn waren nicht mehr länger die dogmatischen Glaubenslehren ausschlaggebend, sondern eine Frömmigkeit, die ihr Zentrum in der Askese fand. Eine Askese, die das Individuum im täglichen Ringen mit den Sünden auf die Seite der Tugend führen soll und so zur Voraussetzung der Wiedergeburt wird.13 Locher brachte in der Folge sein Leben in harter Arbeit zu und absolvierte eine Lehre als Kaufmann bei seinem wohlhabenden Onkel Heinrich Römer. Die zweite Krise war eine ethische Krise. Sie war weniger heftig als die erste und ein Ausfluss seiner asketischen Frömmigkeit, von der sich Locher die Überwindung der Sünde erhoffte. Als junger Kaufmann wurde er im Auftrag seines Onkels für sechs Jahre in die Handelsmetropole Venedig entsandt. Hier hatte er die Gelegenheit, mit allen christlichen Konfessionen in Kontakt zu treten: Katholiken, Lutheranern, Armeniern und Orthodoxen. Auch mit dem Islam kam er in Berührung. Locher konnte sich hier in seiner irenischen Grundhaltung üben und bestärken. Dennoch irritierte ihn eine allen Glaubensrichtungen gemeinsame Eigenschaft: Er beobachtete, »daß bey allen durchgehens die Nathürlich verderbten affecten oder neigungen platz funden«. Und er seufzte: Hilff Herr dann die Heiligen haben abgenommen, und der wahrhafftige ist wenig unter den menschen kindern, ein Jeder redt lügen mit seinem nechsten mit falschen löfftzen und Sie reden mit doppeltem Hertzen. Item Ps: 14. Sie waren all nit ein anderen verböseret, da war keiner der guts thate, ja Daruf forschete ich fehrner in mir Selbsten, und fande eine gliche verderbtums auch in mir und daß in meinem fleisch nichts guts wohne.14
Die Entdeckung der eigenen Neigung zum sündigen Leben und die Einsicht, dass mit der Askese alleine dem Hang zur Sünde nicht beizukommen sei, stürzte Locher in tiefe Zweifel. Dank einer »göttlichen Schickung« fand er auch diesmal den Weg aus der Krise: Er beschäftigte sich mit mystischer Literatur. Er las Tauler, Thomas von Kempen und die Deutsche Theologie. Die intensive Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen Mystik mündete schließlich in Lochers Wiedergeburt. Für Locher bedeutete Wiedergeburt die Geburt aus Gott, das Verlassen des alten fleischlichen und sündigenden Adams und das Werden eines neuen geistigen Menschen.15 12 13 14 15
Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 2 f. Bütikofer (Anm. 11), 136. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 4 ff. Ebd., 7.
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Mit dem Wiedergeburtserlebnis war Lochers Entwicklung zum Pietisten noch nicht ganz abgeschlossen. Auch als »Neüwe Creatur« musste er in der alltäglichen Welt bestehen können. Auch wenn er jetzt in seiner Selbstwahrnehmung ein neuer Mensch war und sich innerlich der geistigen Welt zugehörig fühlte, so war er immer noch Teil einer unvollkommenen Welt. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der inneren Welt, dem Ich, und der äußeren Welt, dem realen Alltag, löste eine dritte und letzte Irritation aus. Diese Krise war nicht mehr virulent, sie war primär weltanschaulicher Natur. Das als irritierend empfundene Spannungsfeld beschreibt Locher wie folgt: Nachdem ich nun erkannte den eigentlichen Willen unseres Gottes, ließe Ich mich nit mehr von menschen Irr machen, sonder trachtete solche wahrheit in mir zu bevestigen, will Ich aber immerzu auch mit zimlich vilen Welt-geschäfften beladen ware, durch welche meine schwache gedechtnus, das Schon gefaßete unachtsamblich wider verlohre, befliße ich mich meine Ruwstunden mit lesung solcher Schrifften und bücheren zu zubringen, welche mir die gemeinschafft Jesu Christi kräfftig beybringen und die H. Bibel: Schrifft uns menschen verheißene himlische Schätz und Reichthümber besser zu lehren erkennen tüchtig sein mochten.16
Auch diese Krise meisterte Locher mit Hilfe von Büchern. Ein Wunder oder eine göttliche Schickung war nicht mehr nötig. Es reichte ein »von Gott hoch Erlüchtete[r]« Autor: Jakob Böhme. Seine Schriften empfand Locher als sehr »dienstlich«. Folgt man Lochers Glaubensbekenntnis, so kam er während seines Aufenthaltes in Venedig erstmals mit einer Schrift von Jakob Böhme in Kontakt. Hier lernte er drei Gleichgesinnte kennen, mit denen er sich über die schwer verständlichen Schriften austauschen konnte: den Katholiken Peter Erich, einen nicht näher bekannten lutherischen Kaufmann und den Arzt und Theologen Nikolaus Zaff aus Graubünden, der in Venedig vermutlich als Seelsorger der Reformierten wirkte. Hier vertiefte sich Locher insbesondere in die Lektüre des Mysterium Magnum. Über seine Herangehensweise an die Texte Böhmes und die damit verbundenen Mühen und Nöte notierte Locher, er lese Böhme in der Absicht, daß ich die darinn enthaltene gar hoch und tiffe geheimbnußen, welche ich nit faßen könte ohne beurtheilung stehen ließe, […]. Dann Insonderheit sein Buch Mysterium magnum oder Erklehrung über das 1. Buch Mosis mir zu mehrerem Verstand der H: Bibl: Schrifft und belustigung in Rechtschaffener Liebe Gottes und des Menschen wohl dienende.17
In der Auseinandersetzung mit Jakob Böhme fand Lochers Hinwendung zur pietistischen Frömmigkeit ihren Abschluss. Das Wiedergeburtserlebnis hatte Locher bereits erfahren, aber in Böhme fand er Halt und ein Zentrum seines Glaubens. Mit dessen Hilfe konnte er sein pietistisches Weltbild abrunden und stabilisieren. Aus quellenkritischer Sicht ist es jedoch fraglich, ob sich Locher tatsächlich in Venedig erstmals mit Schriften von Böhme auseinandersetzte. Vermutlich kam 16 17
Ebd., 10 f. Ebd., 11.
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er schon früher in Berührung mit solchen Texten. In der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich befindet sich eine mehrbändige Sammlung von Abschriften mystischer Werke, wie Meister Eckhart, Tauler, Seuse und Thomas von Kempen.18 Die Sammlung umfasst unter anderem zwei Bände mit Schriften von Jakob Böhme. Sie enthalten auch die Sendbriefe in einer niederländischen Übersetzung. Die Sammlung der Abschriften, die fast alle von einer Hand stammen, wurde in der Mitte des 17. Jahrhunderts angelegt,19 und die Bände tragen das Exlibris der Familie Römer. Alles deutet darauf hin, dass es sich bei diesem Liebhaber mystischer Schriften um Heinrich Römer,20 Lochers Onkel, handelt.21 Großvater Römer stammte aus Maastricht und ließ sich als protestantischer Glaubensflüchtling in den 20er Jahren des 17. Jahrhunderts in Zürich nieder, wo er eines der bedeutendsten Handelshäuser der Stadt begründete.22 In dessen Kontor absolvierte Locher die Ausbildung zum Kaufmann, mit seinem Onkel als Lehrmeister und Mentor. Anhand der biographischen Notizen Lochers ergibt sich eine erste Zwischenbilanz über die Rolle, die Jakob Böhme bei der Entstehung des Pietismus spielte und wie weit er Einfluss auf Locher nahm: Dieser ist sehr prominent. Böhme steht im Zentrum des Denkens und des religiösen Empfindens von Locher. Aber Böhme steht nicht am Anfang der individuellen Hinwendung zum Pietismus, sondern an deren Ende. Der Theosoph erlangt erst nach Lochers Wiedergeburt seine herausragende Stellung in dessen religiöser Überzeugung. Am Anfang stehen andere Autoren; bezeichnenderweise sind es Johann Arndt und anschließend die deutschen Mystiker, die den jugendlichen Zürcher auf seinem Weg maßgebend beeinflussten und prägten. Böhme spielt in diesem Stadium der Biographie Lochers keine »Vaterrolle«. Von ihm geht kein initiierendes Moment aus. Jakob Böhme ist eine von vielen Strömungen, die im Pietismus aufgegriffen wurden. In ihm flossen ähnlich wie bei Arndt mehrere ältere Traditionsstränge zusammen und verdichteten sich, sodass die Lektüre Böhmes Locher half, eine Vielzahl von Einflüssen einzuordnen. Erst nachdem die Hinwendung zum Pietismus bereits erfolgt war, gab die Lektüre Böhmes der Denkwelt Lochers den letzten Schliff und verlieh dem Ganzen ein besonderes Gepräge. Und allenfalls auch eine gewisse ›Radikalität‹. Dem Anschein nach wurde Böhme erst im Nachhinein in die pietistische Überzeugung eingebaut. Dies lässt sich am zeitlichen Auftreten der Rezeption ablesen. Denn nicht nur das individuelle Beispiel Lochers zeigt, dass der Einfluss von Böhme relativ spät in der Ausformung pietistischer Anschauungsweisen hinzutritt. Hans Schneider vermutet, dass der Einfluss Böhmes auf den radikalen 18 19 20
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ZBZ Ms. Car I 245–262. ZBZ Ms. Car I 260, Sammler von Mystischen Schrifften, trägt die Jahreszahl 1657. Heinrich Römer beteiligte sich auch mit einem namhaften Betrag an den Druckkosten der deutschen Ausgabe der Schriften von Jane Leade, für die Locher in der Schweiz Geld sammelte. Vgl. Bütikofer (Anm. 11), 400. Leider lässt sich kein Dokument von Heinrich Römer finden, das einen Handschriftenvergleich und somit einen eindeutigen Nachweis des Schreibers der Sammelbände erlaubt hätte. Adolf Garnaus: Die Familie Römer von Zürich. 1622–1932. Zürich 1932.
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Pietismus erst ab 1680 zu steigen begann, während er in den Anfangsphasen um 1675 bei den Frankfurter radikalen Pietisten noch keine Rolle spielte. Erst die Edition der Werke Böhmes von 1682 entfachte eine breitere Auseinandersetzung mit dessen Lehre in den Kreisen der Pietisten.23 Das Beispiel Lochers weicht aber insofern von diesem Befund ab, als Lochers intensive Auseinandersetzung mit Böhme viel früher einsetzte und er damals bereits auf Gleichgesinnte zählen konnte. Die Lektüre erfolgte während des Aufenthaltes in Venedig zwischen 1668 und etwa 1674. Die Frage nach der Radikalität, die mit Böhme verknüpft wird, lässt sich am Beispiel Johann Heinrich Lochers nicht eindeutig beantworten. Wie eingangs festgestellt, ist der Begriff des radikalen Pietismus unscharf, und er ist verschieden interpretierbar. Soll Johann Heinrich Locher innerhalb der breiten, auf mannigfaltigen Traditionssträngen beruhenden pietistischen Bewegung verortet werden, ohne dass direkt von seiner Vorliebe für Jakob Böhme auf eine Radikalität geschlossen wird, so kann dies nur annäherungsweise geschehen. Die erste Annäherung ist eine soziale: Wie müssen wir Locher im sozialen Milieu des Zürcher Pietismus einordnen? Johann Heinrich Locher ist kein Außenseiter im Zürcher Pietismus. Er ist vielmehr – wie oben bereits ausgeführt – ein Wortführer und Impulsgeber der ersten Generation von Pietisten. Er ist ein Querdenker seiner Zeit, und es mag sein, dass er in vielen seiner Ansichten pointierter ist und nicht in allen Punkten mit seinen Mitstreitern übereinstimmt. Aber ein Irrläufer ist er nicht. Im Gegenteil, er trachtete danach, (radikale) Auswüchse – bzw. was er dafür hielt – im Kreise der Zürcher Pietistinnen und Pietisten zu verhindern. So stellte er sich beispielsweise gegen die sogenannte Impekkabilitätslehre, die sich um Christian Theodor Wolther und Georg Ziegler verbreitete, oder er versuchte seinen Freund Johann Heinrich von Schönau aus der labadistischen Gemeinde in Friesland zurückzuholen, weil er die Bildung von neuen Glaubensgemeinschaften für falsch erachtete.24 Locher stellte sich gegen radikale oder separatistische Momente. Es stellt sich weiter die Frage nach der sozialen Einordnung. Die gesellschaftliche Stellung Lochers passt in die soziale Struktur des pietistischen Milieus. Als Kaufmann zählt er zwar zu einer Minderheit, denn die erste Generation des Zürcher Pietismus war getragen von Theologen. Letztere machten 40 Prozent der Gruppe aus. Die Kaufleute waren mit 13 Prozent aber bereits die drittstärkste Gruppe. Allgemein gesagt wurde der Zürcher Pietismus von einem Milieu getragen, das sich nach unten von den Handwerkern und nach oben von der Nobilität abgrenzte. Locher zählte als kleiner Kaufmann zu dieser Schicht in der sozialen Mitte der Zürcher Ständegesellschaft, der das Gros des Zürcher Pietismus entstammte.25 Locher stand weder weltanschaulich noch sozial außerhalb der pie23
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Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Die Geschichte des Pietismus. Bd. 1. Hrsg. v. Martin Brecht. Göttingen 1993, 394; Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: PuN 9 (1983), 140; vgl. Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002, 282 ff. Bütikofer (Anm. 11), 143 u. 374 ff. Ebd., 62–67.
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tistischen Bewegung Zürichs; dies öffnet Raum für die Frage, wie der Zürcher Pietismus als Ganzes zu bewerten ist. Innerhalb des schweizerischen und zürcherischen Pietismus gab es abwechselnd Phasen des Reformstrebens und der Separation. Diese Phasen sind eng an die sozial- und politikgeschichtlichen Ereignisse geknüpft: Wo der Pietismus als reformerische Kraft integriert wurde, dort entwickelte er sich tendenziell zu einem kirchlichen Pietismus. Wo hingegen die Pietistinnen und Pietisten verfolgt wurden, sei es von der Obrigkeit, sei es von den Kircheninstanzen, dort ist tendenziell eine Separation zu beobachten.26 In Zürich sind deutliche separierende Momente nach dem Scheitern der kirchlichen und politischen Reformbestrebung von 1713 und dem Einsetzen der Pietistenverfolgung durch die Obrigkeit zu beobachten. Erst in der Endphase der Verfolgung sind Ansätze einer beginnenden Ausdifferenzierung der ursprünglich breit gefächerten pietistischen Strömung in einen radikalen und einen kirchlichen Flügel zu erkennen. Erst in diesem Moment findet eine vorsichtige interne Abgrenzung statt.27 Vergleicht man den Zürcher Pietismus mit dem Spener’schen oder Halle’schen Pietismus, so sind bei den Zürchern radikale Tendenzen feststellbar. Die weltanschauliche Distanz zwischen den Zürchern und den Hallensern lässt sich an der Beziehung zwischen den beiden ablesen. Die Zürcher nahmen lebhaft Anteil am Betrieb und an der Entwicklung des Francke’schen Waisenhauses,28 und mehrere Zürcher Exponenten standen mit August Hermann Francke in Briefkontakt.29 Doch die Bindung war nicht so stark, dass die Zürcher ihre Kinder nach Halle in die Erziehungsanstalt des Waisenhauses geschickt hätten: Zwischen 1704 und 1752 drückten 86 Kinder aus der Schweiz die Schulbank im Waisenhaus. Davon stammten 48 aus Graubünden, 21 aus Bern und neun aus Schaffhausen. Lediglich je ein Sprössling aus Zürcher und Basler Familien ließ sich in der Francke’schen Einrichtung ausbilden.30 Der hohe Anteil an Bündnern mag der schulischen Situation in den reformierten Gebieten des bi-konfessionellen Kantons geschuldet sein. Dass aber nur ein Schüler aus Zürich den Weg nach Halle fand, muss mit einer gewissen ideologischen Distanz zwischen den beiden pietistischen Strömungen erklärt werden. Die Ausstrahlung des Halle’schen Pietismus blieb auf die Zürcher anscheinend doch recht beschränkt. Offensichtlich fanden im Zürcher Pietismus ›radikale‹ Ansätze durchaus Zuspruch: Dies lässt sich wiederum gut am Verhalten Johann Heinrich Lochers ablesen. Deutlich ersichtlich wird dies an seiner Vorliebe für Bücher von Autoren, die eher der radikalen Richtung zugeordnet werden, wie beispielsweise das Ehepaar Petersen, Antoinette Bourignon oder Jane Leade. Hingegen interessierte er sich kaum für die Schriften Philipp Jakob Speners. Von diesem finden sich bloß 26
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Vgl. Rudolf Dellsperger: Der Pietismus in der Schweiz. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 2. Hrsg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, 588–616; Johannes Wallmann: Kirchlicher und radikaler Pietismus. In: Der radikale Pietismus. Hrsg. v. Wolfgang Breul u. a., 19–43, bes. 37; Schneider, Pietismus (Anm. 23), 136 f. Bütikofer (Anm. 11), 494–499. J. Jürgen Seidel: Die Anfänge des Pietismus in Graubünden. Zürich 2001, 89. Karl Weiske: August Hermann Francke und die Schweiz. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte. NF. 45 (1926), 88–116, hier: 88 f. Vgl. ebd., Anhang, 114 ff.
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zwei eher marginale Schriften in der umfangreichen Bibliothek Lochers. Auch das von Locher intensiv gepflegte Beziehungsnetz ist dem radikalen Pietismus zuzuordnen: Locher unterhielt einen regelmäßigen Briefwechsel mit Loth Fischer, dem Verleger philadelphischer Schriften in Utrecht, und er machte auf seiner ausgedehnten Reise zur labadistischen Kolonie in Wieuwerd in Frankfurt halt und besuchte dort die radikalen Pietisten. Er übernachtete im Haus von Christian Fende und wurde in den Kreis der Frankfurter Radikalen eingeführt. Hier lernte er Johann Jakob Zimmermann und Johann Jakob Schütz, mit dem er früher schon Briefe gewechselt hatte, persönlich kennen.31
III Allein die Lektüre Jakob Böhmes ist noch kein ausschlaggebendes Kriterium für die Zuordnung eines Pietisten zu einer radikalen oder kirchlichen Richtung. Es kann weiter gefragt werden nach einer allfälligen inhaltlichen Bestimmung des radikalen Pietismus. Hans Schneider umreißt auf F. Ernest Stoeffler basierend einen knappen Katalog von im radikalen Pietismus mit großer Regelmäßigkeit wiederkehrenden Elementen. Hierzu zählt er die Wiedergeburtserfahrung und die gefühlsmäßige Vereinigung mit Gott, das Motiv der Liebe als Kern des Christentums, die reservierte Distanz zur Welt und zur als äußerlich empfundenen Kirche, eine fromme Lebensführung, die sich an urchristlichen Maßstäben misst, und den Drang nach Freiheit von theologischen, kirchlichen und politischen Beschränkungen.32 Es stellt sich die Frage: Lassen sich solche Elemente auf den Einfluss Jakob Böhmes zurückführen? Ist Böhme der Lieferant häufig wiederkehrender Werte des radikalen Pietismus? Die Rolle Böhmes und sein Einfluss auf das Denken Johann Heinrich Lochers kann gut an seinem Glaubensbekenntnis abgelesen werden. Nachdem Locher sein Selbstzeugnis nach einem biographischen Teil über die religiöse Suche in der Wiedergeburt kulminieren und abschließen lässt, geht der Text über in die ausführliche Darlegung der religiösen Weltsicht. Diese wird jeweils kurz durch biographische Einschübe unterbrochen, jedoch nur noch, wenn es gilt, die Bedeutung Jakob Böhmes für den dargelegten Erkenntniserwerb herauszustreichen. Ein elementares Problem, das Locher zeitlebens beschäftigte und das auch am Ausgangspunkt seines Glaubensbekenntnisses steht, ist die distanzierte Haltung zu seiner Konfession. Diese Haltung teilt er mit Jakob Böhme – auch wenn er sie nicht unmittelbar bei ihm bezog, und er verwendet eine ähnliche Terminologie für seine Kirchenkritik: Die vielfeltikeit der menschlichen gemüthsneigung in partheilickkeit, da bald nicht zwen zufinden die Eins von glych gesinnet weren, […] Sonderlich wenn ich horte von so großer
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Bütikofer (Anm. 11), 383. F. Ernest Stoeffler: German Pietism in the Eighteenth Century (SHR 24). Leiden 1973, 215; vgl. ebenfalls: Schneider, Pietismus (Anm. 1), 30.
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partheilichkeit der Religionen, als Papistisch, Atheistisch oder Calvinistisch. dachte schon damals in meinem Gemüth, daß es anders nicht als übel sein könnte, weil die menschliche gesellschaft dardurch zertrennet, daß Sie sich unter einander verachten, haßen, ja verfolgen und töden, darumb Ich gedachte, wann ich under ein oder anderer solcher Sect gebohren und erzogen were (dann ich damals nit wuste daß wir Züricher Calvinistisch oder Zwinglisch genannt werden) wollte Ich in meinen mannbaren Jahren nicht mithalten, sonder ohne partheilichkeit nach Rechten Wahrheit forschen, und Gott bitten, daß Er mich durch seinen Geist leiten und Erlüchten möchte, damit nicht meine Seele und Seligkeit an falschen menschen vertrouten sonder in seinem Liecht selbs zu sehen gelangte.33
Mit diesen Worten beginnt Locher sein Glaubensbekenntnis. Gleich einleitend bezieht er eine heterodoxe Position und definiert seine irenische Haltung in der Abgrenzung zu den Konfessionskirchen, die er als parteilich und schädlich bezeichnet. Er nimmt auch seine eigene Konfession nicht aus und stellt sie auf die gleiche Ebene mit der katholischen und mit der lutherischen Kirche. Locher hat bei Johann Arndt als Antwort auf seine große Glaubenskrise die irenische Denkweise kennen gelernt. Die radikale Distanz und Kritik an den Konfessionskirchen fand er jedoch bei Böhme. Die Kirchen werden hier als Hort der falschen Meinungen und des »Schul-Tands« dargestellt,34 der universelle Anspruch wird ihnen abgesprochen. Locher geht innerlich auf Distanz zur Kirche, verzichtet aber auf eine äußerst harte Kritik, wie sie bei Böhme angetroffen werden kann. Für ihn ist die Kirche ein Hort der Unwiedergeborenen und ein Feigenblatt der Heuchelei im Gottesdienst: »Solche Heücheleÿ gebrauchen alle vnwidergebohrne die Fromben aber gebrauchen die Nackte Wahrheit, bekennen Ihre Sünde, bereüwen dieselben, bekommen auch vergebumg vnd Heiligung.«35 Die Suche nach dem richtigen, d. h. ›wahren‹ Glauben jenseits der konfessionellen Glaubensformeln und orthodoxen Dogmen ist ein grundlegendes Element, das Locher mit Jakob Böhme verbindet. Die Suche nach der Wahrheit ist das Motiv des Freimüthige[n] GlaubensBekanthnus. Diese Suche verbindet den biographischen Teil mit dem weltanschaulichen. Denn im zweiten Teil will er die Früchte seines Suchens nach der Erkenntnis Gottes seinen Mitstreitern darlegen: Nachdem nun klarlich gezeiget worden, wie mein gemüth in ansehung so vielerley Religionen sich verwicklet, aber durch die Gnaad und Barmhertzigkeit Gottes sich wider erhollet und zu recht gekommen, so kan ich nit weniger thun, als die erkandte theüre wahrheit freymüthig zubekennen, dann ich habe Lehr Christi: Bettend so werden Ihr menschen. Suchend so werden Ihr finden. Klopftend an, so wird Eüch aufgethan werden.36
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Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 1 f. Der Begriff der Parteilichkeit der Konfessionskirchen geht auf Kaspar Schwenckfeld und Sebastian Franck zurück, er findet sich bei Böhme als Meinungen oder Meinungsstreitereien, vgl. Eberhard H. Pältz: Jacob Böhmes Gedanken über die Erneuerung des wahren Christentums. In: PuN 4 (1977/78), 108 f. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 32 f. Zum überparteilichen Standpunkt und zur inneren Distanz zur Konfessionskirche vgl. Schneider, Pietismus (Anm. 23), 136. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 13.
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Das persönliche Erkenntnisstreben, die innere Unruhe, die Locher in seinen Krisen erlebte und intellektuell in einer eklektischen Wissensaneignung verarbeitete, beschreibt er hier unter Zuhilfenahme der Bergpredigt (Mt 7,7) und bringt damit seine religiöse Ausgangslage sowie seinen Durchbruch im Wiedergeburtserlebnis zum Ausdruck. Ganz ähnlich beschreibt auch Jakob Böhme immer wieder sein Schauen und Forschen. Dieser betont mit dem Matthäus-Zitat, dass man Gott und sich selbst auf dem persönlichen soteriologischen Weg erkennen müsse.37 Die ähnlich gelagerten Grundeinstellungen zur Frage der Heilsfindung und die Betonung des individuellen Erkennens und Erfahrens des Religiösen bei Böhme und Locher berühren sich auch in der Epistemologie. Das Erkenntnisvermögen dessen, was Locher in seinem Glaubensbekenntnis darlegt, beruht auf den »Augen des Geistes«.38 Diese Augen des Geistes öffneten sich ihm erst mit der Wiedergeburt. Erst nach der Geburt in und durch Gott sei es dem Wahrheitsliebenden und Suchenden vergönnt zu erkennen; erst dann werde ihm im Sinne des Matthäus-Zitates »aufgetan«. Hinter diesem Erkenntnisproblem steht die Überzeugung Jakob Böhmes, dass mit der Vertreibung Adams aus dem Paradies sich das Erkenntnisvermögen des Menschen verdunkelt habe. Er bringt dies bildlich zum Ausdruck in der Verhüllung des Gesichtes Moses: Allein Moses redet von der Tafel GOttes, welche durchgraben war mit den zehn Geboten, daß man kan hindurch sehen ins Paradeis: den Deckel hänget er vor sein Augenlicht, […] darum daß der Mensch irdisch ist worden; so soll er das Irdische wieder ablegen, alsdann soll er mit Josua oder Jesu ins gelobte Land das Paradeises gehen, und nicht mit Mose in der Wüste dieser Welt bleiben, da ihme der Deckel dieser Welt vorm Paradeis hanget (3P 17.23).39
Mit dem Paradies ist allegorisch die Wiedergeburt gemeint. Weil der Mensch das Paradies, oder anders gesagt die Gemeinschaft mit Gott, verloren habe und irdisch geworden sei, fehle ihm der Durchblick ins Paradies; die Erkenntnis des Göttlichen bleibe im verwehrt. Er müsse in der Wüste der fleischlichen, materiellen Welt herumirren. Erst wer wiedergeboren sei, könne die geistige Welt und Gottes Wirken in der Welt verstehen und habe den Zugang zum richtigen Verständnis der Bibel sowie dunkler mystischer Texte. Locher teilt diese Epistemologie, die sich in ein irdisches und geistiges Erkennen gliedert. Er beschreibt beispielsweise den schwierigen Zugang zum Verständnis des Mysterium Magnum in dieser Weise, wenn er schreibt, er habe die Bücher des hoch erleuchteten Böhme als äußerst hilfreich empfunden,
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Jacob Böhme: Theosophia Revelata. Oder: Alle göttliche Schriften, Faksimile-ND der Ausg. von 1730. Hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart 1955 ff. – Epistolae Theosophicae Oder Theosophische Send-Briefe (Epist), 55.12 f.; De tribus principiis, oder Beschreibung der Drey Principien Göttliches Wesens. 1619 (3P), 2.5. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 14. Diese Passage bildet das Motiv des Frontispiz’ der Ausgabe des Mysterium Magnum von 1682, vgl. Jacob Böhme: Theosophia Revelata. Oder: Alle göttliche Schriften, Faksimile-ND der Ausg. von 1730. Hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart 1955 ff. – Mysterium Magnum oder Erklärung über das Erste Buch Mosis. 1622/23 [im Weiteren mit der Sigle »MM«].
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deswegen ich solche mit großem yfer und aufmerksambkeit lase, und zwar mit solcher absicht, daß ich die darinn enthaltene gar hoch und tiffe geheimbnußen, welche ich nit faßen könte ohen beurtheilung stehen ließe, bis mir Gott nach seinem H: Willen mehrere Erkandtnus und auffschließung geben möchte, und mich dem so ich wol begreiffen und verstehen könte, Settigte, und Gott darfür danken.40
Für Locher steht fest, dass es eine irdische und eine geistige Art des Erkennens gebe. Und weil er sich wiedergeboren wähnt, kann er Gott in sich wirken lassen und so zum richtigen Verständnis des Theosophen gelangen. Die zwei Erkenntnisarten, die irdische und die geistige, sind für ihn denn auch der Grund, weshalb die »Kinder Gottes« verfolgt werden: »Diese Lehr [= Lochers Glaubensbekenntnis] ist den unwidergebohrenen menschen welche durch die Natürliche [= fleischliche] vernunfft allein geleitet sind, ärgerlich, anstößig ja unleidlich, deswegen sie solche mit höchstem haß anfinden und verfolgen.«41 Die spekulative Erkenntnismethode, das Schauen Gottes, wird bei Böhme am deutlichsten in der Auslegung der Schöpfungsgeschichte. Sowohl in den Drey Principien Göttliches Wesens als auch im Mysterium Magnum finden wir keine philologische Interpretation der Schrift. Das Erkenntnisstreben Böhmes gilt Gott. Dessen Kraft und Wort sind das Ziel, denn diese sind dem Sichtbaren und Stofflichen verborgen, »doch durch und in den [sichtbaren] Elementen wohnet, und durch das empfindliche [äußerlich wahrnehmbare] Leben und Wesen wircket [Gottes Kraft und Wort], wie das Gemüthe im Leibe« (MM Vor. 2). Die in der sichtbaren Welt verborgene geistige Welt stellt für Böhme das große Mysterium dar. Die unsichtbare geistige Welt sei in der sichtbaren äußerlichen (also der stofflichen) Welt verborgen. Im Menschen finde sich aber ein Funke dieser verborgenen geistigen Kraft, weshalb der Mensch im Grund der Seele befähigt sei, das »Mysterium magnum« zu verstehen (MM Vor. 9). Dieser Funke im Gemüt sei es, der zur Wiedergeburt und zur wahren Erkenntnis befähige. Diese erkenntnistheoretische Überzeugung verleiht Böhme die Gewissheit, um sagen zu können: »Und soll uns niemand für unwissend ausschreyen, denn ob ichs wol nicht weiß, so weiß es aber Christus in mir, aus welcher Wissenschaft ich schreiben soll« (MM 18.1). Locher teilt diese spekulative Hermeneutik vollumfänglich. In einem Brief an seinen pietistischen Freund Christoph Lutz, Spitalprediger in Bern, legt er dar, wie ein Wiedergeborener die Bibel liest: Wer nun die heilige biblische Schrifft liset, anderst als wie sie durch den Finger Gottes selbsten in das Hertze geschrieben ist, der lieset Sie nicht wie sichs gebührt und wie man soll, […] und solle man den welcher Sie lißt oder nicht liset nicht so leichtlich oder lieblos urtheilen, sonderlich wan es ein Mensch von gutem Willen ist, der auf dem Weg der Widergeburth wandelt in seinem ineren Grunde, in welchem ineren Grunde Er auch offters die Bibel liset, wan Er schon kein aüßerlich Buch oder Schrifft vor sich hat, dan Er lieset den aüßeren Buchstaben nicht anders, als nur zu Erweckung des inneren Gesichts und Auges, durch welches Er Gotes lebendiges Wort in sich lesen und […] lernen kan.42 40 41 42
Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 11. Ebd., 13. ZBZ Ms. S 276, Nr. 6, 101 ff.; Bütikofer (Anm. 11), 169.
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Das spekulative Textverständnis der Bibel teilt Locher mit Böhme; doch er scheint es nicht ursprünglich von ihm bezogen zu haben. Im Glaubensbekenntnis resümiert er seine Einsicht, die er aus der breiten Auseinandersetzung mit den Texten der deutschen Mystik gewonnen hat. Es seien die Werke von Tauler und Thomas von Kempen sowie die Deutsche Theologie gewesen, »welche mir den verstandt der Heil: Schrifft, nicht so fort nach dem bloßen Buchstaben, sonder vornemblich nach dem Geist und Geistlich anzusehen lehrten«.43 Locher stand zu diesem Zeitpunkt am Vorabend seines religiösen Durchbruchs, und er fand mit dieser spekulativen Textauslegung, wonach er suchte: seine intellektuell erfahrene Wiedergeburt. Locher folgte anscheinend einer mystischen Tradition, die auf Meister Eckhart zurückging,44 bevor er sich mit Böhme auseinandersetzte. Er rezipierte bereits früher die Vorstellung, wonach erst eine Vereinigung mit dem Göttlichen stattfinden müsse, damit die innere Erkenntnis bzw. das innere Schauen im Abgrund möglich werde, sodass das innere lebendige Wort Gottes erfahrbar werde. Was die Epistemologie betrifft, so stützt sich Locher nicht direkt auf Böhme. Sie treffen sich vielmehr auf der Grundlage ähnlicher Autoren, die beiden den Weg zu einem spekulativen Textverständnis wiesen. Wie beschäftigte sich Johann Heinrich Locher mit Jakob Böhme? Was stand im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Görlitzer Philosophen? Der kurze biographische Abriss und die drei prägenden Krisen haben bereits einen Eindruck der religiösen Themen geliefert, die den Zürcher Kaufmann sein Leben lang beschäftigten. Dabei war die Wiedergeburt das alles bestimmende Ereignis. Es ist daher nicht erstaunlich, dass auch die Wiedergeburt den Kern seiner Auseinandersetzung mit Böhme darstellte. Locher erlebte eine intellektuell erfahrene Wiedergeburt, die eng mit der epistemologischen Frage der echten Gotteserkenntnis und -erfahrung verknüpft war. Es waren das ›innere Auge‹ und die Fähigkeit, die Schrift im Geiste lesen zu können, die ihm das Rüstzeug in die Hand gaben, mit dem er seinen religiösen Durchbruch schaffen konnte. Seine Wiedergeburt war für Locher nicht bloß ein einmaliges Ereignis, sie war auch eine stetige Auseinandersetzung mit sich und der Welt. Für Locher geschieht die Wiedergeburt nicht auf einmal, sondern sie erfolgt »staffelweise« in mehreren Etappen.45 Wiedergeburt wird auch nach Böhme dynamisch verstanden, als ein an die Emanation angelehnter stetiger Prozess: »Also ist auch der Sohn Gottes aus allen Kräften seines Vaters von Ewigkeit immer geboren und nicht gemacht […]. Denn des Vaters Kraft gebäret den Sohn von Ewigkeit immerdar. So nun der Vater würde aufhören zu gebären, so wäre der Sohn nicht mehr.«46 Das Kontinuum der Geburt sei die Kraft Gottes, in der das Potential der Wiedergeburt bestehe. An einer anderen Stelle in der Aurora beschreibt Böhme das unablässige Wirken Gottes in der Welt als ein Balgen zweier Tiere: 43 44 45 46
Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 6. Vgl. Kurt Flasch: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. München 2010. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 25. Jacob Böhme: Theosophia Revelata. Oder: Alle göttliche Schriften, Faksimile-ND der Ausg. von 1730. Hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart 1955 ff. – Aurora oder Morgen-Röthe im Aufgang (1612/13; im Weiteren mit der Sigle »Aur«), 3.22.
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Du mußt allhie wissen, daß die Gottheit nicht stillestehet, sondern ohn Unterlaß wirket und aufsteiget als ein liebliches ringen, Bewegen oder Kämpfen, gleichwie zwei Kreaturen, die in großer Liebe miteinander spielen und sich miteinander halsen oder würgen. […] Und so eines überwunden hat so gibt’s nach und lässet das andere wieder auf die Füße (Aur 11.49).
Das Ringen und Streiten sei ein Wesensmerkmal der Welt und des Seins. Dieses unablässige Ringen und Wirken Gottes ist es, das Locher in den Bann zieht. Für ihn stellt es sich dar als der »häuffige Streith zwüschendt der alten geburdt und der neüwen geburdt, dem alten und neüwen menschen des fleisches und des Geistes«.47 Es handelt sich hier um das Motiv des Wiedergeborenen, der nach wie vor in der realen Welt tätig sein müsse, oder wie es Locher ausdrückte: »von menschen Irr« gemacht und mit »vilen Welt-geschäften beladen« sein. Diese Dualität der inneren und äußeren Welt belastete den wiedergeborenen Locher in seiner dritten Krise, und er verarbeitete diese Spannung mit Hilfe von Böhmes Schriften. Ein erster Ausweg, den ihm dessen christliche Philosophie bot, war die Vorstellung vom Mikro- und Makrokosmos. Diese Vorstellung von der kleinen Welt im Menschen und der großen Welt außerhalb half ihm, seine Stellung in der Welt zu definieren. Gemäß der Mikrokosmos-Makrokosmos-Konzeption ist die kleine Welt eine Spiegelung der großen. Der Mensch sei demnach eine kleine Welt, die die Eigenschaften der großen Welt in sich trage (Epist 22.7). Die Auseinandersetzungen, Konflikte und Kriege der Welt werden ins Subjekt getragen. Die Eigenschaften der Welt werden zu charakterlichen Eigenschaften des Menschen gemacht. Mit einem Vorgriff auf die Terminologie Böhmes beschreibt Locher im Glaubensbekenntnis die verzweifelte Situation nach dem Scheitern seiner asketischen Frömmigkeit: Also fande ich die große Welth außerth und die kleine Welth in mir gantz gleich; Weil aber die Güthe und Gnad Gottes noch ein füncklin der begird zum guten überbleiben ließe, achtete ich weislich zuthun mich zum selbigen fünklin zu wenden als zum verborgenen Schatz im Acker, nach welcher zugraben die Zeith nicht übel angewandt sein könte.48
Locher empfand seinen eigenen Charakter als genau so verdorben, wie er die Welt wahrnahm. Innere und äußere Welt sind Spiegelbilder voneinander. Also galt es für ihn, das Ich selbst umzuwandeln, damit es zu einem Spiegelbild der geistigen Welt werde. Dazu musste er nach dem Funken im Gemüt oder dem Schatz im Acker suchen, die in der bildlichen Sprache der Mystik die innere Veranlagung zur Wiedergeburt symbolisieren. Die Konsequenz der Verdoppelung der Welt in eine irdische und eine geistige in Verbindung mit der Mikro- und Makrokosmos-Vorstellung führte zu einer Verdoppelung des Menschen. Ganz in Böhme’scher Manier beschreibt Locher die in seiner Wiedergeburt gefundene Erkenntnis: Also habe und erkandte [ich] zween menschen, wie außereth mir in der großen also auch in mir in der kleinen welth: Namlich Adam und CHristum, fleisch und Geist; Erkandte auch die wahrheit deßen was stehet Rom: 8. V. 1. So ist nun nichts verdammliches an denen die in 47 48
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Christo Jesu sind, die nicht nach dem fleisch wandlend, sondern nach dem Geist. V. 5. dann die da fleischlich sind die sind fleischlich gesinnt, die aber Geistlich sind, die sind geistlich gesinnet. V. 6 aber geistlich gesinns sein ist leben und friede.49
Durch die Auseinandersetzung mit sich selbst entdeckte Locher zwei Menschen oder antagonistische Charaktereigenschaften in sich. Zwei Eigenschaften, die entweder dem Geist oder dem Fleisch, Christus oder dem sündigenden Adam zuzuordnen seien. Beide Eigenschaften können als antagonistische, psychologische Konstanten des Menschen verstanden werden. Lochers Absicht war es, den Menschen und das menschliche Geschlecht zu verstehen und zu beschreiben. Und er entwickelte seine Anthropologie in starker Anlehnung an die Drey Principien Göttliches Wesens. Diese Schrift zitierend beschreibt er die zwei widerstreitenden Seiten des Menschen: [Der] Mensch. Jac: Bohms 3 Princ: 3.16. 17. Ist ein vermischte persohn[.] Die vier Elementen[:] Dero Quint Essenz die Sternen, vnd das Hertz der Essenz die Sonne machten diese Welt und enthielten alle wunder in sich. Weil aber keine Creatur war die solche wunder offenbaren konnte, als nur allein das Bild vnd gleichnus Gottes der mensch, welcher die Züchtige Jungfrauw der Weisheit Gottes in sich hatte: So trang der Geist dieser Welt also Hart auf die bildtnus nach der Jungfrauwen, hiermit seine Wunder zu offenbaren, vnd (NB. der Geist dieser Welt) besaß den menschen, darvon erst seinen nammen mensch kriegete, als ein vermischte persohn.50
Der Mensch steht für Locher, ganz in Übereinstimmung mit Böhme, im Spannungsfeld zwischen der materiellen, durch die vier Elemente gebildeten Welt einerseits und der geistigen oder himmlischen Welt andererseits. Und der Mensch befinde sich in einem Dilemma. Er müsse sich entscheiden, welcher Welt er sich zuwenden wolle. Ganz nach der Vorstellung Böhmes trug auch in Lochers Anthropologie die irdische Welt den Sieg über die himmlische davon, sodass der Mensch seine Ebenbildlichkeit mit Gott verloren habe51 und zu einem dualen Wesen geworden sei, das zwischen gut und böse, zwischen himmlisch und fleischlich hin und her gerissen sei. Der Mensch sei zweifach, er stehe zwischen den beiden Welten, wobei ihn die irdische beherrsche. Als ›vermischte Person‹ besitze der Mensch eine zweifache Veranlagung. Es bestehe nicht bloß die Neigung zum Bösen und zur materiellen Welt, sondern es sei auch die Möglichkeit zum Guten und Geistigen im Menschen angelegt. Bei Böhme heißt es: »Auch so haben wir die Erkentniß und Wissenschaft, daß wir in uns haben die vernünftige Seele, welche in GOttes Liebe ist, welche unsterblich ist: und so sie von ihrem Gegensatz nicht überwunden wird, sondern kämpfet wieder ihren Feind als ein geistlicher Ritter« (3P Vor. 12). Ganz ähnlich äußert sich Locher, wenn er von der ›züchtigen Jungfrau der Weisheit Gottes‹ spricht. Denn sie verkörpert in der Terminologie Böhmes das Potential im Menschen,52 der irdischen Welt mit ihren 49 50 51 52
Ebd., 9 f. Ebd., 29. Vgl. MM 16.1. »Die Jungfrau aber, als die Göttliche Kraft stehet im Himmel und Paradeis, und spiguliret [spiegelt] sich in der irdischen Qualität der Seele« (3P 13.9).
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Sünden widerstehen zu können. Als einstiges Ebenbild Gottes besitzt der Mensch die göttliche Erkenntnismöglichkeit im Sinne eines übrig gebliebenen Restpotentials, das auch himmlische Jungfrau oder Sophia genannt wird. Die himmlische Jungfrau erschließt die Möglichkeit, die wahre Welt erkennen zu können, und kontrastiert den natürlichen oder fleischlichen Menschen, der über die Sinne bloß zur Erkenntnis der irdischen Welt gelangen kann. Mit dem Entwurf einer dualen Psychologie war die große Frage der Zeit, wie das Böse in die Welt komme, noch nicht restlos beantwortet. Die theologische Herausforderung bestand darin zu erklären, warum ein gütiges und allmächtiges Prinzip das Böse zulassen und die Sünde erlauben konnte.53 Gibt es in der Gottheit einen Willen zum Bösen? Die Frage der Existenz des Übels angesichts der Güte Gottes ist die zentrale Problemstellung der Drey Principien Göttliches Wesens.54 Auch das »Freimüthige GlaubensBekanthnus«, in dem Locher explizit die Lektüre dieser Schrift verarbeitete, dreht sich um diese epochale Fragestellung. Für Böhme steht fest, dass Gott der Ursprung des ganzen Universums sei: »So wir von GOtt wollen reden, was Der sey und wo Der sey? so müssen wir ja sagen, daß GOtt selber das Wesen aller Wesen sey: Denn von Jhme ist alles erboren [und] geschaffen« (3P 1.1). Zugleich klammert er aber das Böse aus der Eigenschaft Gottes aus und betont, »daß das Böse nicht GOtt heisse und sey« (3P 2.1). Aus dieser argumentativ schwierigen Lage befreit sich Böhme mit der Theorie der drei Grundprinzipien Gottes. Es bestehen für den Theosophen drei Modi des göttlichen Seins analog der Trinität oder den drei Elementen des Paracelsus. Vereinfacht ausgedrückt gibt es drei Formen, in denen Gott sich dem Menschen zeigt. Das erste ›Principium‹ sei Gott der Vater. Dieses stehe für das Herbe und Bittere und bedeute den Zorn Gottes und das alles verzehrende Feuer. Aus ihm sei der Teufel »geurständet« worden. Das zweite ›Principium‹ sei das Licht und der »Liebes=Quell«. In ihm finde die Geburt des Sohnes statt. Das dritte ›Principium‹ sei die Erschaffung der materiellen Welt. In ihr könne der Mensch das erste oder das zweite ›Principium‹ besser und klarer erkennen. Diese drei Formen, wie sich Gott dem Menschen äußert, haben direkt auch einen Einfluss auf den Menschen, denn er stehe zwischen den ersten beiden ›Principii‹. Der Mensch müsse sich zwischen Himmel und Hölle entscheiden (3P 7.2). Die beiden Äußerungsformen Gottes repräsentierten auch zwei Welten, die Welt der verborgenen Naturkräfte, des Schmerzes und der Hölle sowie die Welt des Lichtes, der Liebe und des Paradieses. Und diese Welten hätten auch im Mikrokosmos – dem Menschen – eine Entsprechung. Das Individuum müsse sich entscheiden, in welcher der beiden Welten es – um mit Koyré zu sprechen – seinen »ontologischen Platz«55 finden wolle. Soll der Mensch den dunklen Mächten der Lebensgeister und Affekte, dem ›Zornreich Gottes‹, oder soll er als 53 54 55
Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Hamburg 1996, 62. Vgl. Alexandre Koyré: La philosophie de Jacob Boehme. Paris 1929 (ND New York 1968), 179 f. Koyré spricht in diesem Zusammenhang wiederholt von »lieu ontologique«, vgl. ebd., u. a. 197.
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Wiedergeborener dem ›Liebesreich‹ und der geistigen Erkenntnis durch das Licht anhängen?56 Diese Vorstellung vom dreifachen Wesen Gottes erlaubte es Böhme, den Antagonismus zwischen Gut und Böse direkt in die menschliche Psyche zu transportieren. Der Mensch selbst wird so gemäß den drei Prinzipien des göttlichen Wesens zu einer ›vermischten Person‹: Darum ist uns zu gedencken des grossen Streits in uns (3P 25.3). In dieser Welt=Geburt [= der Mensch nach dem Fall] liegen zwey Reiche offenbar, Als GOttes Liebe=Reich in Christo, und GOttes Zorn=Reich in Lucifer; In aller Creatur sind die zwey Reiche im Streit, denn im Streite ist der Urstand aller Geister, und im Streite des Feuers wird das Licht offenbar (MM 26.27).
Diese Konstruktion ermöglichte es Böhme, dem Menschen die Verantwortung über das Böse zu geben (MM 26.62 ff.). Indem er den Streit als ein Grundprinzip einführte, resultierte daraus zudem ein ausgesprochen dynamisches Welt- und Menschenbild.57 Johann Heinrich Locher interessierte sich in seinem Glaubensbekenntnis nicht direkt für Böhmes eigenwillige Auslegung des Wesens Gottes. Ihn interessierte vielmehr, wie Gut und Böse in die Welt kamen und wie sie zu widerstreitenden Eigenschaften im Menschen wurden. Dazu folgte Locher über weite Strecken der Genesis-Auslegung Böhmes: Als aber die weisheit Gottes sahe wie der mensch lüsterned ward vom Geist dieser welt, sich mit den 4 Ellementen zu vermischen, so kam das gebodt v. sprach: du solt nit Eßen von dem Baum der Erkandtnus gutes und Bößes. Bis hier Jac. Bohm welches hier einzurücken nöthig funden vmb beßern verstandts willen, weil vnser Zeche [= träge] begriffenlichkeit den rechten vnd wahrhafften verstand so gar schwerlich fassen will.58
Locher zitiert hier wörtlich eine Schlüsselstelle in der Auslegung des Sündenfalls durch Böhme. Der Abfall Adams von Gott sei demnach nur sekundär mit dem Konsum der verbotenen Frucht verbunden. Bei Böhme heißt es provokativ: »Es war nicht um ein Apfel=Biß zu thun« (3P 17.1). Dem Sündenfall sei ein Ringen zwischen den zwei Prinzipien des göttlichen Wesens vorausgegangen. In diesem Ringen sei Adam dem Geist der Welt erlegen. Das Essen des Apfels habe bloß den Kampf zwischen den beiden Prinzipien besiegelt: Erst mit dem Sündenfall sei Adam irdisch geworden und das Böse habe als dominierendes Element Einzug in die Welt gehalten (3P 17.22). Die Sündenfalllehre Böhmes, welcher Locher in seinem Glaubensbekenntnis folgt, internalisiert den Abfall von Gott. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Fehltritt Adams: Der Sündenfall wird so zu einer generellen menschlichen Eigenschaft. Der Sündenfall ist nicht ein über die Menschen verhängtes Verdikt, er findet vielmehr im Menschen, in seiner Psyche, statt. Und er äußert sich im 56 57 58
Zum Durchbruch des gelassenen Willens ins zweite ›Principium‹ vgl. Hans Grunsky: Jacob Böhme. Stuttgart 1956, 159 ff. Vgl. beispielsweise 3P 10.35. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 29 f. – Locher zit. wörtlich 3P 17.17.
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ewigen Antagonismus zwischen Gut und Böse. Es ist eine Folge der Vertreibung aus dem Paradies, dass der Mensch zu einer ›zweifachen Person‹ wurde. Der Sündenfall wird bei Böhme verinnerlicht und stetig fortgeschrieben. Direkt auf die Drey Principien Göttliches Wesens Bezug nehmend beschreibt Locher den Fall des Menschen und den Verlust der Ebenbildlichkeit mit Gott: Hier lehrte ich verstehen wie der zum Bilde Gottes erschaffene mensch, deßen lust, Gott und sein H: Wesen allein gewesen sich von Gott ab zum WeltGeist gewendet, also daß die Geister des gestirns [= der materiellen Welt59] anstadt Gottes des menschen Hertz eingenommen v. beherrschen, welche das Bild Gottes in Ihme verdunklet vnd unzeliche thierische Bilder, ungestalte Larven vnd verstellungen in menschen erwecket, deßen sich der mensch selbsten Schemmete, vnd anstadt der verlorhenen Göttlichen, seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten suchete.60
Mit dem Verlust des Paradieses kam endgültig das Böse in die Welt. Dieses ist gemäß Böhme eine innerliche, menschliche Eigenschaft. Der MikrokosmosMakrokosmos-Entsprechung folgend ist das Böse aber auch in der äußeren Welt vorhanden: »Dieweil sich denn Adam und Heva hatten in den Geist dieser Welt begeben, und lebten in zweyen, also in dem heiligen Element vor GOtt und dann auch in der Ausgeburt der vier Elementen […], so wurde auch zweyerley Kinder aus ihnen geboren« (3P 20.67): Kain und Abel. Diesen Gedankengang greift Locher an mehreren Stellen in seinem Glaubensbekenntnis auf, und er entwickelt, immer auf Böhme gestützt, einen doppelten Stammbaum der alttestamentarischen Stammväter.61 Der eine Baum steht für das Gute und Fromme und der zweite Baum für das Böse und das Sündhafte. Locher bezeichnet diese zwei Stammbäume bzw. die duale Psychologie auch als »zwey Völker« in uns.62 Interessant ist hier nicht nur die Spiegelung des ›zweifachen Menschen‹ in der äußeren Welt, sondern auch, dass das Gute nach wie vor vorhanden und der Mensch nicht von vornherein vollends mit der Erbsünde behaftet ist. So habe er das geistige Vermögen, mit dem er im Paradies ausgestattet gewesen sei, nicht ganz verloren. Böhmes Auffassung zufolge, der Locher hier über weite Strecken in redundanter Weise folgt, bestehe somit Hoffnung für das Individuum. Es gehe darum, das Gute in sich zu suchen und herauszufinden, wie viel noch vom Abelschen Stammbaum vorhanden sei. Das ist denn auch das Grundcredo der Drey Principien Göttliches Wesens, »daß er [der Mensch] sich selbst recht lerne erkennen« (3P Vor. 1). Es ist das Motiv des Suchens und Anklopfens, das Locher zeit seines Lebens beschäftigte. Zwar habe sich der Mensch von Gott ab- und der materiellen Welt zugegewendet und die Ebenbildlichkeit mit Gott sei verloren. Doch der Mensch sei nicht ganz aufgegeben. Für Locher besteht eine große soteriologische Hoffnung: »Also ward mir aufgeschloßen, die Lehr von den Schlangensaamen vnd den Weibessaamen.«63 Die bildlich gefasste Lehre des »Weibssamens«64 ent59 60 61 62 63 64
Vgl. MM 13.7 ff. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 30. Ebd., 33. Ebd., 13 u. 15. Ebd., 21. Vgl. 3P 18.
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lehnt Locher direkt bei Böhme. Es ist die bei Böhme auch als ›Sophia‹ benannte Weisheit Gottes, die dem Suchenden die Pforte zur Gottseligkeit aufschließen könne. Sprichst du: Was ist die Neue Wiedergeburt? […] suche nicht das Reich dieser Welt also harte, es wird dir ohne das genug anhangen: so wird dir entgegnen die züchtige Jungfrau hoch und tief in deinem Gemüthe; die wird dich führen zu deinem Bräutigam, der den Schlüssel hat zu den Thoren der Tieffe (3P 16.54). Darum kans alleine alhier in diesem Leben geschehen, weil deine Seele im Willen des Gemüths stecket, daß du die Thoren der Tieffe zersprengest, und zu GOtt durch eine neue Geburt eindringest (3P 16.53).
Das Ziel der Suche ist die wahre Erkenntnis Gottes. Es ist die Aufrichtung der Ebenbildlichkeit mit Gott und der Durchbruch des zweiten ›Principii‹ des göttlichen Wesens im Menschen. Hier schließt sich der Bogen zur Wiedergeburt. Erst nach seiner intellektuell erfahrenen Wiedergeburt vertiefte sich Locher in die Werke Jakob Böhmes. Hier suchte er die Auseinandersetzung mit seinem religiösen Erlebnis. Und hier fand er eine Weltanschauung, in der das individuell prägende religiöse Ereignis zum zentralen Moment wird. Er versuchte das omnipräsente Thema der Wiedergeburt, wie er es in Böhmes Schriften angetroffen hatte, in eigene Worte zu fassen: W[e]ill ich aber noch selbs Schwach bin von dem Zustand des menschen vor dem Sündenfahl zureden, vnd außerth der Neüwen geburdt aus Gott solches nit mag verstanden werden, so wollen wir nit Hinder sich zurück, sonder fürsich auf Christum dem anderen Adam vornehmlich sehen, darnebent aber den gefallenen vnd verderbten menschen auch betrachten, als umb deßentwillen Chistus Jesus mensch worden ist, damit Er Ihn aus der verderbnus erretten, vnd das Göttliche Ebenbildt in Ihme wider aufrichten möge, durch die überschwenklichkeit der Göttlichen Liebe, welches eigentlich meines gloubens grund und fundament ist vnd weil solche Liebe sich auf alle menschen namlich vom Ersten bis auf den allerletzten durch mannes saamen gezeügeten menschen sich erstrecket, so ist die Liebe des Menschen vnd zwahr gegen alle menschen unauflöslich darmit verknüpffet, ja die Liebe des Nebendt menschen (keinen außgenommen) ist das erste Kennzeichen daß wir Gott lieben.65
Locher folgt hier eng der Wiedergeburtskonzeption Böhmes. Wiedergeburt ist für ihn die individuelle Überwindung des Sündenfalls und die Wiederherstellung der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott. Sie bedeutet, dass der erneuerte Mensch zu einem neuen (anderen) Adam werde und sich so dem geistigen Menschen des Paradieses annähern könne. Eine bedeutsame Rolle in diesem Prozess bildet das Liebesmotiv. Die Liebe zu Gott sei das bewegende Moment auf dem Weg zur Wiedergeburt und es sei die Liebe zu den Mitmenschen, die einen Gradmesser derselben darstelle. Mit der starken Gewichtung der Liebe verlässt Locher die Tradition der spätmittelalterlichen Mystik. Er übernimmt in dieser Ausprägung die Lehre der drei Prinzipien des göttlichen Wesens, wonach Gott im Modus des zweiten ›Principii‹ sich den Wiedergeborenen als Liebe darstellt. Gemäß Locher kann ein jeder den Sündenfall überwinden und wiedergeboren werden. Deutlich wird dies, wenn er schreibt, dass sich die Liebe Gottes auf alle Menschen erstre65
Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 26 f.
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cke: Die Anlage zur Wiedergeburt sei in jedem vorhanden, sie scheine jedoch verschüttet zu sein und müsse neu aufgerichtet werden. Locher überschreitet mit seiner Vorstellung von der Wiedergeburt endgültig die Grenzen seiner Konfession. Er gerät in Konflikt mit den 1619 auf der Synode der Reformierten von Dordrecht gefassten Lehrsätzen66 sowie mit der Helvetischen Konsensusformel von 1675.67 Lochers Überzeugung, dass der Mensch den Sündenfall in der Wiedergeburt überwinden könne, widerspricht diametral der reformierten Dogmatik und ist häretisch. Die »Einhellige Formul Der Reformierten Eidgenößischen Kirchen« vertritt im 13. Lehrsatz die Ansicht der Supralapsarier: »So ist hiermit der Mensch nach dem Sündenfall von Natur/ und seinem ersten Ursprung an/ eh und bevor er einiger thätlichen Sünden beschuldigt wird/ dem Zorn und Fluch GOttes unterworfen.« Die Sünde Adams sei ausnahmslos auf alle Menschen übergegangen und die ganze Menschheit sei verdorben und von Gott grundsätzlich verworfen. In dieser Erbsündenlehre ist ein ›Aufrichten der Gottähnlichkeit‹ in der Wiedergeburt nicht vorgesehen. Auch nicht vorgesehen ist ein versöhnlicher Gott der Liebe und Barmherzigkeit. Die Konsensusformel führt dies im fünften und sechsten Lehrsatz näher aus und negiert ein Christusbild, wie es Locher in seiner Wiedergeburtskonzeption entwirft. Jesus ist hier gerade nicht der Vermittler zwischen Mensch und Gott, der den Menschen durch Liebe aus seiner Verderbnis rettet. Christus ist gemäß der Konsensusformel nicht für alle gestorben; er wird vielmehr als Vollstrecker der Gnadenwahl beschrieben.68 Es ist denn auch die Prädestination, die das bedeutende häretische Moment in der Glaubensauffassung von Locher darstellt. Sein Glaube an die soteriologische Wirkung der Wiedergeburt lässt sich nicht vereinbaren mit einem Auserwähltsein einiger aus der Masse der verdorbenen Menschheit ohne Berücksichtigung des Glaubens, der Taten oder Verdienste.69
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Georg Plasger/Matthias Freudenberg (Hrsg.): Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart. Göttingen 2005, 221–229; Johannes Pieter van Dooren: Dordrechter Synode. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9 (1982), 140–147. ZBZ Ms. B 185 [Religions=Sachen welche sich in Reformierter Eydgenossenschaft zugetragen Von jahr Christi 1680 bis 1701], Nr. 2, FORMULA | CONSENSUS | Ecclesiarum Helveticarum Reformatarum, | CIRCA | Doctrinam de Gratia universali & connexa, | aliaque nonnulla capita. O. O. o. J. ZBZ Ms. B 185, Nr. 2, FORMULA | CONSENSUS, 5 f. u. 16. Satz, 14f u. 25. »Gott der Herr hat vor der Welt grundlegung in Christo Jesu unserem Herrn einen ewigen Fürsatz gemacht/ in welchem Er auß pur lauterem Wolgefallen seines willens/ ohne Vorsehung einiges Verdienstes der Werken oder Glaubens/ zu lob und Ehr seiner Herrlichen Gnad/ eine gewüsse und bestimmte Anzahl der Menschen; welche da mit den übrigen in gleicher Verderbnuß und allgemeinem Blut begriffen/ und also mit der Sünd behaftet/ ihm fürkommen; außerwehlt/ damit sie in der Zeit durch Christum/ ihren einzigen Mittler und Bürgen Heil und Selig gemachet/ und so wol durch dessen Verdienst/ als des heiligen widergebährenden Geistes allmächtige Kraft/ kräftiglich beruffen/ wiedergeboren/ und mit dem waren Glauben und Seligmachender Buß begabet werden.« ZBZ Ms. B 185, Nr. 2, FORMULA | CONSENSUS, 4. Satz, 12 f.
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Locher tritt in diversen Selbstzeugnissen gegen die Prädestination auf.70 Auch in seinem Glaubensbekenntnis wendet er sich gegen die Gnadenwahl. Er schreibt: »Also kan der mensch weder von Natur noch durch verdienste das Reich Gottes erlangen, sonder allein durch den glauben in Christo Jesu, durch deßen Geist und Krafft Er von neuwem gebohren werden muß.«71 Er schließt mit dieser Aussage die Prädestination, aber auch die Werkheiligung aus; das Heil liegt für ihn einzig in der Wiedergeburt. Mit dieser Ansicht kann er sich auch auf seine Böhme-Lektüre stützen. Die Kritik an der Prädestination ist in diesen Werken allgegenwärtig. Beispielsweise dort, wo Böhme die Prädestination direkt mit seiner scharfen Ablehnung der Kirche als Babel in Verbindung bringt: »Wie wohl die Kirche zu Babel alhier viel von der Gnaden=Wahl aus GOttes Fürsatz wil rumpeln, und hat dessen doch so wenig Erkentniß als der Thurm zu Babel von GOtt, dessen Spitze solte bis an Himmel reichen« (3P 20.68). Für Böhme wie auch für Locher ist ihre antagonistische Anthropologie nicht mit der Prädestination zu vereinbaren. Ihnen schwebt vor, dass der Mensch sich für die Wiedergeburt einsetzen muss, durch die er das Heil erlangen kann. Die Differenz zwischen den sich bei Jakob Böhme bedienenden Pietisten und der reformierten Orthodoxie wird anhand eines Bibelzitates ersichtlich. Der zehnte Lehrsatz der Dordrechter Canones stützt sich auf Röm 9,11 ff. (»Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst«), um den Schriftbeweis zu erbringen, dass Gott einige bestimmte Personen aus der allgemeinen Masse der Sünder erwähle, noch bevor sie geboren würden und mit der Sünde in Kontakt gekommen seien. Locher zieht aus demselben Zitat den gegenteiligen Schluss: Daß aber solche zwey Völker als Juden und Heiden, Esau und Jacob in jedem menschen sich befinden, welche durch fleisch und Geist unterschieden werden ist in dem 8then Cap: [Röm] auch gelehrt worden und solchs lehrt auch der Geist Gottes durch die gantze heil: Schrift […]. Auß diesem erhellet sich wie die Lehr von der Ewigen Erwehlung vnd verwerffung von vielen, so übel vnd unrecht gelehrt vnd verstanden werden, welche doch ein rechten verstand gantz recht ist, den Gott erzeigte sein Wolgefallen an Habel vnd an Kain Es spricht aber Gott zu Kain Gen: 4. V. 7 Wann du fromb bist, so bistu angenehm, bistu aber nit fromb so ruwet die Sünd vor der Thür. Aber laß du Ihr nit Ihren willen, sonder Herrsche über sie.72
Locher wendet sich direkt gegen die Prädestinationslehre. Hier prallen zwei konträre Menschenbilder aufeinander. Für ihn ist die Heilsfindung kein über die Menschheit seit Anbeginn der Welt verhängtes Verdikt. Der Mensch ist für ihn nicht bloß Spielball des unergründlichen Willen Gottes, der Mensch muss hinsichtlich des Heils aktiv werden; Locher betont die Freiheit und die Verantwortung des Individuums: Für ihn ist die Heilsfindung eine im Inneren des Menschen stattfindende Auseinandersetzung mit den Anlagen zum Guten und Bösen.
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Bütikofer (Anm. 11), u. a. 373–383. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 14. Ebd., 15 f.
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IV Die Frage, wie das Böse in die Welt komme, ist die Kernfrage in Lochers Glaubensbekenntnis. Diese Frage ist ebenfalls das dominierende Problem in den Drey Principien Göttliches Wesens. Und diese Frage ist das verbindende Element zwischen Locher und Böhme. Von hier aus entwickelt Böhme – und in seinem Gefolge auch Locher – ein dynamisches Welt- und Menschenbild, das im Widerspruch zum reformierten Bekenntnis steht. Was dabei entsteht, ist ein neuer Blick auf den Menschen und sein Heil. Die dialektische Metaphysik, die Idee der inneren Spannung und der inneren Kämpfe im Sein sowie die Idee der göttlichen Natur und der Freiheit des Seins73 sind das Faszinierende an Böhme, das auch den Zürcher Pietisten fesselte. Die Attraktivität des Theosophen besteht, um es mit Eberhard H. Pältz auszudrücken, in der Leiblichkeit, im Wirklichkeits- und Weltbezug des Glaubens.74 Es waren der Weltbezug und das Konzept des Ringens der inneren Mächte, die Locher aus seiner dritten Glaubenskrise befreiten. Dank der Lektüre der Schriften Böhmes konnte er den fehlenden Bezug der spätmittelalterlichen Mystik zum Alltagsleben eines jungen Kaufmanns überwinden. Die kontemplative, tendenziell passive Frömmigkeit half ihm, den Weg zu seinem Wiedergeburtserlebnis zu ebnen, doch die Mönchsmystik des Mittelalters konnte ihm keinen Bezug zur Welt herstellen. In diesem Stadium begann Locher mit der Lektüre Böhmes. Das hier entdeckte dynamische Welt- und Menschenbild erweiterte und ergänzte seine an der mystischen Tradition entwickelte Religiosität und verlieh dem Ganzen eine aktive Note. Der Mensch, das Ich, wird zum Zentrum der Auseinandersetzung und zum Ort des Glaubens. Der Bezug zur Welt und zum Sein, den Böhme herstellte, erweiterte die Attraktivität für Locher noch zusätzlich, indem ein philosophisch-religiöses System entwickelt wird. Aus den Selbstzeugnissen Lochers wird deutlich sichtbar, wie er diese Weltanschauung aufsog, wie er mit den dunklen und unsystematischen sowie teils widersprüchlichen Schriften ernstlich rang. Locher war zeit seines Lebens ein eklektischer Autodidakt, und er fand im philosophischen Gebäude des Theosophen Halt und Stabilität. Jakob Böhme war für ihn nicht der Schlüssel zum pietistischen Glaubensverständnis. Dessen Schriften las er erst nach seinem religiösen Durchbruch. Die Rolle Böhmes beschränkt sich in der geistigen Entwicklung Lochers auf die des Vollenders. Die Rolle des Initiators oder des Schlüssels zur Wiedergeburt kam ihm nicht zu. Das heißt aber nicht, dass die Auseinandersetzung mit Böhmes Schriften für Locher kein prägendes Erlebnis war. In ihnen fand er den Abschluss seiner großen Suche. Mit ihnen rundete er sein Weltbild ab. Hier fand er Halt und Gewissheit. Bei Jakob Böhme kam er auch mit einer gehörigen Portion ›radikaler‹ Auffassungen in Berührung. Zwar hatte er bereits mit Johann Arndt seine konfessionellen Bande gelockert und sich eine irenische Haltung angeeignet. Spätestens aber mit Böhme geriet er in Widerspruch zu den protestantischen Glaubensbekenntnissen, 73 74
Koyré (Anm. 54), 169 f. Pältz (Anm. 34), 93.
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indem er die Möglichkeit des individuellen Heils, das aktiv in der Wiedergeburt verfolgt werden kann, verfocht und so den Supralapsarismus seiner Konfession ablehnte. Aber Locher eignete sich die kirchenkritische Sichtweise Böhmes nicht an, der die Kirche als »Kainskirche« oder »Babel« schalt. Locher verhielt sich der Kirche gegenüber eher indifferent. Er bemängelte zwar die »Heucheley im Gottesdienst«, aber er interessierte sich mehr für die geistige, unsichtbare Kirche der Kinder Gottes. Die ›radikale‹ Position Lochers bestand in erster Linie in seiner häretischen Vorstellung von der Wiedergeburt. Neben dieser geistigen Erneuerung durch die Überwindung der äußeren Welt, die er im Kern aus der Beschäftigung mit der mystischen Tradition entwickelte und anschließend in der Weltanschauung Böhmes als Dreh- und Angelpunkt festigte, schöpfte Locher eine Reihe von Elementen aus den Werken des Theosophen, die Stoeffler als konstitutive Elemente des radikalen Pietismus bezeichnete: Hervorzuheben ist besonders die universelle Liebe Gottes, wie sie im zweiten »Principio« Böhmes als Basis für das individuelle Heil angelegt ist. Zu erwähnen sind weiter die reservierte Position gegenüber der Kirche und der Drang, sich von religiösen Dogmen und Zwängen zu befreien. Ein wichtiges, aber bei Stoeffler nicht erwähntes Element ist zudem die Betonung der Freiheit des menschlichen Willens, die logischerweise aus der dialektischen Metaphysik und der Ablehnung der Prädestination folgt und im Zürcher Pietismus ein allgegenwärtiges Thema bildete.
Johann Anselm Steiger
Jacob Böhmes Rettung Friedrich Brecklings Anticalovius (1688) als Apologie des mystischen Spiritualismus Wer sich mit der Rezeption Jakob Böhmes im Spiritualismus des 17. Jahrhunderts befasst, kommt an der Beschäftigung mit Friedrich Breckling1 nicht vorbei. Breckling, geboren am 5. Februar 1629 in Handewitt bei Flensburg als Sohn eines Pfarrers, der dem Geiste und der Frömmigkeit Johann Arndts2 nahestand, studierte ausgiebig an namhaften Universitäten und bei den bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit: Bei dem lutherischen Ireniker (und Landsmann) Georg Calixt sowie bei dem Naturphilosophen und Juristen Hermann Conring in Helmstedt, außerdem bei den führenden Köpfen der lutherischen Orthodoxie in Königsberg, Wittenberg (Abraham Calov, Johann Andreas Quenstedt), in Leipzig (Johannes Hülsemann), in Jena (Johannes Musäus, Johann Ernst Gerhard) und in Gießen (Justus Feurborn). Im Jahre 1654 weilte Breckling während eines Studienaufenthaltes in Hamburg, während dessen er die Stadtbibliothek3 nutzte und durch die Lektüre der Schriften des spätmittelalterlichen Mystikers Johann Tauler, der Werke Joachim Betkes sowie Christian Hoburgs für den mystischen Spiritualismus gewonnen wurde. Seither standen die Selbstverleugnung (abnegatio sui), die Nachahmung des Leidens Christi (imitatio Christi), die apokalyptische Hoffnung auf den baldigen Anbruch des tausendjährigen Reichs und die Überzeugung, der Geist Gottes wirke direkt auf den und im Glaubenden ohne Vermittlung durch das Medium des äußeren – d. h. geschriebenen und gepredigten – Wortes und 1
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Zum Forschungsstand vgl. Dietrich Blaufuß: Art. »Breckling, Friedrich«. In: Theologische Realenzyklopädie 7 (1981), 150–153, und ders.: Art. »Breckling, Friedrich«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, Bd. 2 (2008), 161 f. Vgl. überdies Britta Klosterberg: Provenienz und Autorschaft. Die Quellen von, zu und über Friedrich Breckling in Bibliothek und Archiv der Franckeschen Stiftungen. In: Pietismus und Neuzeit 33 (2007), 54–70. Magdolna Veres: Johann Amos Comenius und Friedrich Breckling als ›Rufende Stimme aus Mitternacht‹. In: Ebd., 71–83. Vgl. jetzt Friedrich Breckling (1629–1711). Prediger, ›Wahrheitszeuge‹ und Vermittler des Pietismus im niederländischen Exil. Hrsg. v. Brigitte Klosterberg u. Guido Naschert. Halle a.S. 2011 (Kleine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen 11). Vgl. Hans Schneider: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621). Göttingen 2006 sowie Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die ›Vier Bücher vom wahren Christentum‹. Hrsg. v. Hans Otte u. Hans Schneider. Göttingen 2007 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 40). Vgl. Werner Kayser: 500 Jahre wissenschaftliche Bibliothek in Hamburg. 1479–1979. Von der Ratsbücherei zur Staats- und Universitätsbibliothek. Hamburg 1979 (Mitteilungen aus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg 8).
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die Sakramente, in Brecklings Gedanken im Vordergrund. 1655 wurde Breckling in Straßburg u. a. mit Johann Konrad Dannhauer und dessen Schüler Philipp Jakob Spener bekannt. Nach einem ersten Aufenthalt in den Niederlanden, wo Breckling weitere Kontakte mit spiritualistischen Kreisen knüpfte (Elias Taddel, Ludwig Friedrich Gifftheil u. a.), wurde er 1657 Feldprediger bei den königlichdänischen Truppen und 1659 Prediger in Handewitt bei Flensburg als Gehilfe seines Vaters. Im Jahr darauf veröffentlichte Breckling ein Pamphlet mit dem Titel Speculum Pastorum4 gegen die aus seiner Sicht geistlose lutherische babylonische ›Mauerkirche‹, die die persönliche Frömmigkeit der Glaubenden zu wenig fördere und zu lax auf die Notwendigkeit der Heiligung (sanctificatio), also der ethischen Besserung, hinweise. Vor ihrer Publikation sandte Breckling eine handschriftliche Fassung dieses Textes an das Flensburger Konsistorium und an Stephan Klotz (1606–1668),5 der seit 1636 als schleswig-holsteinischer Generalsuperintendent in Flensburg fungierte und seit 1639 zudem Propst und Pfarrer an St. Nikolai ebendort war. Das Speculum artikuliert eine radikal-spiritualistische Kritik an der in Brecklings Augen geistlosen und verwahrlosten lutherischen Kirche und ruft diese zur entschiedenen Umkehr auf. Erst nachdem Klotz trotz wiederholter Aufforderung von Seiten Brecklings auf die Denkschrift nicht reagierte, überstellte dieser sie nach Amsterdam, um sie drucken zu lassen und dem dänischen König zuzusenden. Einiges spricht dafür, dass Klotz Breckling keine Entgegnung zuteil werden ließ und ihn mehrfach verwarnte, um ihn zu schützen. Offensichtlich jedoch war Breckling keineswegs geneigt, solchen Schutz in Anspruch zu nehmen, sondern legte es geradezu darauf an, einen Konflikt heraufzubeschwören. Auch die Verhandlung des casus vor dem Flensburger Konsistorium, das Breckling auf Verleumdung des Predigtamtes und auf Nichtbeachtung der gültigen Zensurvorschriften verklagte, vermochte nicht, den Beklagten zum Widerruf zu bewegen. Schließlich wurde Breckling durch die Pröpstesynode von seinem Amte suspendiert und der Fall zur weiteren Veranlassung an die weltliche Obrigkeit überwiesen. Offenbar war geplant, Breckling in die Festung Rendsburg bringen und inhaftieren zu lassen. Zuvor jedoch wurde Breckling im Hause des königlichen Hausvogtes unter Arrest gestellt, und ihm gelang die Flucht. Breckling berichtet in seiner chronikartigen Autobiographie: 4
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Vgl. Friedrich Breckling: SPECULUM Seu Lapis Lydius Pastorum: Darinnen alle Prediger und Lehrer dieser letzten Welt sich beschawen/ und nach dem Gewissen/ als für Gottes alles sehenden und richtenden Augen/ ohne Heucheley ihrer selbst/ ernstlich prüfen und examiniren sollen […]. Amsterdam 1660. Vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Tl. 2. Stuttgart 21990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9,II), hier: Bd. 2, 761, Nr. 5.1 u. 5.2. Es handelt sich (abgesehen von der 1653 gedruckten Gießener Disputation [Dünnhaupt II, 761, Nr. 4]) um Brecklings Erstling. Sein Epitaph (mit Porträt) befindet sich in der Kirche St. Nikolai in Flensburg. Vgl. Bernhard Meißner: Lateinische Inschriften in Flensburg. Flensburg 1984 (Schriften der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte e. V. 33), 123–129, und Ludwig Rohling: Die Kunstdenkmäler der Stadt Flensburg. München u. a. 1955 (Die Kunstdenkmäler des Landes SchleswigHolstein 7), 183 f.
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Anno 1660 habe Jch mein Speculum Pastorum geschrieben, darauff bin Jch den 6 Februarii vorgefodert und vom Predigampt suspendieret und den 15 Martii condemnieret, umb incarceriret und nach Rensburg gebracht zu werden, den 18 hab Jch mich nach Risemoer[,] Foer[,] Gluckstadt und Hamburg begeben und bey Hans Simon Holtzbecker meine Herberge genommen[,] von dar bin Jch nach Haarburg bey Henrich Behtel und nach Bremen bey Jonas Wycker und so durch Wilsum[,] Cloppenburg[,] Haselun[,] Lingen[,] Neuhuysen[,] Hardenberg[,] Zwoll[,] Campen und Amsterdam mich begeben […].6
Generalsuperintendent Klotz bat in seinem am 16. März 1660 abgefassten Bericht den dänischen König darum, er möge den Gesandten in Den Haag veranlassen, sämtliche Exemplare des Speculum konfiszieren zu lassen. Breckling reagierte hierauf mit einer dezidiert gegen Klotz gerichteten Kampfschrift mit dem Titel Veritatis triumphus.7 Breckling versteckte sich – wie er berichtet – nach seiner Flucht u. a. auf Föhr, ging dann nach Hamburg, wo sich aufgrund des vergleichsweise toleranten Klimas nicht wenige Gleichgesinnte aufhielten, um schließlich in den Niederlanden Zuflucht zu finden. Dort wirkte er von 1660 bis 1667 als lutherischer Pfarrer in Zwolle und heiratete 1667 Elisabeth Crouse, die Tochter eines Ehepaares, das zu Brecklings Gemeinde gehörte. Das Mädchen hatte ekstatische Erlebnisse und wurde von Breckling ins Pfarrhaus aufgenommen, woraufhin Aufruhr entstand, dem Breckling dadurch begegnete, dass er das Mädchen heiratete. Vor der Hochzeit am 23. April 1667 entstand wiederum große Unruhe, da die ehemalige Hausangestellte [Anna Schutten] behauptete, er [Breckling] habe ihr die Ehe versprochen. Zudem beschuldigte man ihn, er habe mit ihr sexuelle Beziehungen unterhalten, unter anderem in der Kirche auf der »Gotteskiste«, einem Gegenstand, der sowohl zur Aufbewahrung der Kirchengelder als auch zur Feier des Abendmahls verwendet wurde.8
1668 wurde Breckling erneut seines Amtes enthoben und privatisierte fortan zunächst in Zwolle, von 1672 an in Amsterdam und später (1690 bis zu seinem Tod 1711) in Den Haag. Breckling ernährte sich jetzt mehr schlecht als recht von Korrekturarbeiten, wurde aber auch unterstützt von Gönnern wie Philipp Jakob Spener und der Fürstäbtissin Elisabeth von Herford und legte eine höchst fruchtbare literarische Produktivität an den Tag. Ob bzw. inwieweit Breckling als ein Böhmist anzusehen ist, mag kontrovers diskutiert werden und soll sogleich in Erwägung gezogen werden. Zunächst sei 6
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Friedrich Breckling (1629–1711). Autobiographie. Ein frühneuzeitliches Ego-Dokument im Spannungsfeld von Spiritualismus, radikalem Pietismus und Theosophie. Hrsg. und komm. von Johann Anselm Steiger. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 109), 23 f. Ernst Feddersen: Kirchengeschichte Schleswig-Holsteins. Bd. 2: 1517–1721. Kiel 1935, 342–346. Erich Hoffmann: Flensburg von der Reformation bis zum Ende des Nordischen Krieges 1721. In: Flensburg. Geschichte einer Grenzstadt. Hrsg. v. der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte. Flensburg 1966 (Schriften der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte 17), 73–168, hier: 139 f. Paul Estié: Die Auseinandersetzung von Charias, Breckling, Jungius und Gichtel in der lutherischen Gemeinde zu Kampen 1661–1668. In: Pietismus und Neuzeit 16 (1990), 31–52, hier: 46. Näheres bei Paul Estié: Die Entlassung Friedrich Brecklings als Pfarrer der Lutherischen Gemeinde zu Zwolle, 1667–1668. In: Pietismus und Neuzeit 18 (1992), 9–39, hier: 13–15.
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indes auf den Umstand hingewiesen, dass Breckling eine wichtige, wenngleich mittelbare Schlüsselfunktion im Hinblick auf die frühneuzeitliche Böhme-Rezeption zukommt. Johann Georg Gichtel (1638–1710), der Regensburger Rechtsanwalt, hielt sich 1664 während einer Reise, auf der er Baron Justinian von Welz begleitete, bei Breckling in Zwolle auf und wurde von diesem für den mystischen Spiritualismus gewonnen. Nach der Ausweisung aus seiner Vaterstadt Regensburg im Jahre 1665 war Gichtel erneut in Zwolle. Er wurde dort 1668 wegen seines Eintretens für Breckling sowie der Veröffentlichung eines Schmähgedichtes gegen die weltliche und kirchliche Obrigkeit an den Pranger gestellt, nachdem der lutherische Arzt Th. H. Pietsch ihn denunziert hatte, und der Stadt verwiesen. Sodann wirkte Gichtel in Amsterdam als Führer eines spiritualistischen Konventikels. Hier besorgte Gichtel gemeinsam mit einigen Mitstreitern9 die erste Gesamtausgabe der Schriften Jakob Böhmes,10 die 15 Bände umfassend 1682 in Amsterdam erschien.11 Mit der Gewinnung Gichtels für die spiritualistische Bewegung gelang Breckling also eine wichtige Weichenstellung im Hinblick auf die erstmalige umfassende editorische Erschließung der Werke Böhmes und damit mittelbar auch hinsichtlich der Böhme-Rezeption. Wirkungen der Böhme’schen Theosophie begegnen in Brecklings Œuvre auf Schritt und Tritt. Die wohl ausführlichste Befassung mit dem Böhme’schen Erbe liegt in Brecklings im Jahre 1688 gegen seinen ehemaligen akademischen Lehrer Abraham Calov12 und dessen Anti-Böhmius13 (1684) gerichteter Schrift vor. Das 9
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Vgl. Carlos Gilly: Zur Geschichte und Überlieferung der Handschriften Jacob Böhmes. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzung und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007 (Pimander. Texts and Studies published by the Bibliotheca Philosophica Hermetica 16), 39–54, hier: 43. Jacob Böhme: Des Gottseeligen Hoch=Erleuchteten JACOB BÖHMENS Teutonici Philosophi Alle Theosophische Wercken. Darinnen alle tieffe Geheimnüsse GOttes/ der ewigen und zeitlichen Natur und Creatur/ samt dem wahren Grunde Christlicher Religion und der Gottseeligkeit/ nach dem Apostolischen Gezeugnüß offenbahret werden. Theils aus des Authoris eigenen Originalen/ theils aus den ersten und nachgesehenen besten Copyen auffs fleissigste corrigiret. Und Jn Beyfügung etlicher Clavium so vorhin noch nie gedruckt/ nebenst einem zweyfachen Register. Den Liebhabern Göttlicher und Natürlicher Weißheit zum besten an Tag gegeben. [Hrsg. v. Johann Georg Gichtel]. 15 Bde. Amsterdam 1682 (Forschungsbibliothek Gotha Phil. 8° 120a/4). Vgl. Bernard Gorceix: Johann Georg Gichtel. Théosophe d’Amsterdam. O. O. 1975. D. A. Vorster: Protestantse Nederlandse mystiek. Amsterdam 1948, 154–156. Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus den späteren Auflagen. Hrsg. v. Hans-Jürgen Schrader. 7 Tle. in 4 Bdn. Tübingen 1982 (Deutsche Neudrucke: Reihe Barock 29/1–4), hier: Bd. 3, 192–215. Zu den Streitigkeiten in Kampen vgl. Estié, Auseinandersetzung (Anm. 8). Ferdinand van Ingen: Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. Bad Honnef 1984, 6, 20–22. Vgl. Kenneth G. Appold: Abraham Calov’s doctrine of vocatio in its systematic context. Tübingen 1998 (Beiträge zur Historischen Theologie 103). Abraham Calov: ANTI-BÖHMIUS, In quo docetur, QUID HABENDUM DE SECTA JACOBI BÖHMEN/ SUTORIS GÖRLICENSIS? AN QVIS INVARIATAE AUGUST. CONFESSIONI ADDICTUS, SINE DISPENDIO SALUTIS AD EANDEM SE CONFERRE, VEL IN EA-
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Buch – ein Rarissimum, denn nur ein einziges Exemplar ist heute noch nachweisbar – trägt folgenden gleichermaßen wortreichen wie programmatischen Titel: ANTICALOVIVS sive Calovius cum Asseclis suis prostratus et Jacob Bôhmius Cum aliis testibus veritatis defensus. Darin gelehret wird was von D. Abraham Calovii, Pomarii Francisci und anderer falschgelehrten Büchern/ Apologien und Schrifften wider Jac. Böhmen/ Hermannum Jungium, I. C. Charias M. Henricum Amerßbach/ mich und andere Zeugen der Warheit zuhalten sey. Vnd ob ein recht Christlicher Lehrer oder zuhörer Darin mit D. Calovio, Pomarius und andern Feinden der Warheit übereinstimmen. Vnd des Iacob Böhmens/ Jungii/ Seidenbechers/ Grosgebawers unserer und anderer zeugen der Warheit Personen und Schrifften ohne verletzung seines gewissens und übertretung des Wortes Gottes also richten und verdammen könne wie D. Calov, Pomarius, Artus, Francisci der unverständige gerrard Antognossius und andere so unGöttlich gethan haben/ und eben darin sich selbst verdammlich machen/ darin sie uns richten. Dabey zugleich des sel. J. Böhmen und vieler anderer Zeugen der Warheit Vnschuld gerettet und verthätiget wird/ vnd angewiesen/ was doch von Jacob Böhmen Person und Schrifften nach dem Grunde der Warheit zuhalten seye/ und wie solche mißbrauchet/ theils recht gebrauchet werden können? Vnd Ob ein rechter Christ mit gutem Gewissen in solcher falschen Lehrer Richter und Verfolger Kirchen oder Gemeinschafft sich begeben bleiben und beharren könne/ welche also die Warheit und dessen zeugen von sich außstossen lästern und verfolgen? Oder ob Er nicht vielmehr von solchen Verfolgern außgehen und zu dem Hauffen der Verfolgeten übergehen/ und mit den klugen Jungfrawen dem Bräutigam entgegen gehen/ und dem Lamb auff dem Berge Zion nachfolgen solle/ Nach Gottes Wort und Befehl an uns alle 2. Cor. 6. Matt. 25. Apoc. 14. 18.14
Die Lektüre dieses Textes hinterlässt einen höchst zwiespältigen Eindruck. Zunächst fällt das üble und über lange, ja ermüdende Passagen sich redundant fortsetzende Geschimpfe insbesondere über Abraham Calov ins Auge, das bezüglich Schärfe und Radikalität kaum einen Wunsch offenlässt. Als wollte Breckling die polemische Klimax sogleich an den Anfang seiner Schrift stellen, tituliert er den Wittenberger Theologen einleitend so: Abraham Calovius ein Doctor, Professor, Pastor, Primarius, Senior und Superintendens, Theologus und Philosophus, das Omne & Factotum zu Wittenberg. Haereticae Pravitatis Inquisitor, der Vornemster ketzermacher unter uns/ der ein gantzes ketzer=Register und Catalogum librorum Prohibitorum alß einen newen Indicem Expurgatorium nach dem Bild des alten Thiers gemacht/ weil Er ihm einbildet und unternimpt der grösseste Pabst und älteste Haupt der Lutherischen kirchen zu sein/ und der das meiste Recht und höchste macht hat nach seinem eigenen kopff und Sinn alles zu verdammen und verurtheilen/ was nicht seinen Sectirischen Meinungen Zufält/ noch sein Thierisches Bild der Eigenheit anbeten wil.15
Nun pflegte auch Calov mit seinen spiritualistischen Gegnern keineswegs zimperlich umzugehen, doch fällt im direkten Vergleich von Brecklings und Calovs
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DEM PERSEVERARE POSSIT? Quae Quaestio TREDECIM RATIONIBUS NEGATUR, Et Coronide sub finem additâ DE ADMIRANDA ET GRATIOSA CONVERSIONE NON PAUCORUM EX SECTA ILLA FANATICA ET PHANTASTICA, VEREQVE QVAKERICA, Ad multorum desideria, & solicitam instantiam tandem divulgatus […]. Wittenberg 1684 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel H 441.4° Helmst.), weitere Auflagen 1690 u. 1692. Die Schrift wurde ohne Angabe des tatsächlichen Druckortes Wesel publiziert. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart MC Theol. oct. 2170. Dünnhaupt (Anm. 4) II, 780, Nr. 46. Breckling, Anticalovius (Anm. 14), Bl. A 1v.
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polemischen Schreibweisen auf, dass ersterer sich des weitaus schärferen Tones bedient und es – durchaus anders als bei dem Wittenberger Theologen – zu einer Diskussion der strittigen Sachfragen, der man einen gewissen Grad an Sachlichkeit attestieren könnte, eigentlich gar nicht kommt. Die wahren, weil vom Heiligen Geist erleuchteten Christen und Theologen finden sich Brecklings Sicht der Dinge zufolge einzig und allein außerhalb der ›babylonischen Mauerkirche‹ und jenseits des von der verwerflichen Weltgelehrsamkeit des Aristotelismus, der Buchwissenschaft und dem geistlosen Disputationswesen infizierten akademischen Lehrbetriebes an den Universitäten und deren Theologischen Fakultäten. Die »recht Philosophische Weißheit«, so Breckling im Anschluss an Böhme, »bestehet nicht in den Büchern davon geschrieben/ sondern in einem inwendigen Liecht und Gabe GOttes/ dadurch wir alle auswendige Dinge im Liecht der Natur durchsehen«, ebenso wie »rechte Theologia in einem inwendigen Gnaden=Liecht und Glauben Christi und seines Geistes bestehet«.16 Die ur-spiritualistische Skepsis dem Buchstaben, den Büchern und den Bibliotheken als Nicht-Behältnissen von Geist gegenüber artikuliert sich – wie kaum anders zu erwarten – auch bei Breckling, freilich auch bei ihm ohne eine selbstreflexive oder gar selbstkritische Erörterung der Frage, ob es nicht eine contradictio in adjecto darstellt, dass ausgerechnet die Kritik an der Buchgelehrsamkeit sich nicht nur sporadisch des kritisierten Mediums selbst bedient, sondern zahlreiche Bücherregale füllt. Böhmes Theosophie ist laut Breckling nicht nur der sowohl aristotelischen als auch platonischen Philosophie weit überlegen, vielmehr ist Böhme in Brecklings Sicht der Dinge der erste Philosoph, der überhaupt diese Bezeichnung verdient. Böhmes Lehre betrachtet Breckling als Inbegriff einer vom Heiligen Geist gestifteten Eröffnung des sonst verstellten Blickes auf die lingua naturae und die signaturae rerum, wogegen die gängigen philosophischen Optionen als am bloß Äußeren haftende und nicht zum Kern vordringende Lehrsysteme verblassen müssen. Man habe, so Breckling, bißher nichts gewissers noch gründlichers in der Philosophi gehabt/ daß wir weder des Himmels Characteren und Rede/ noch der Natur Sprache und Signaturen/ weder die Sterne am Himmel mit ihren Nahmen und Würckungen noch die Kräuter unter unsere Füsse mit ihren Kräfften und Kennzeichen recht erkennen/ verstehen; einsehen/ nennen und ihre Centralische Kräffte offenbahren können/ und GOTT sich über unsere Blindheit erbarmet/ und den Deutschen einen deutschen Philosophum erwecket/ der uns die rechte Wurtzel und Gründe aller verborgenen Weißheit viel besser als Aristoteles/ Plato und alle Philosophi beschreibet […].17
Die platonische und aristotelische Philosophie belegt Breckling mit den Epitheta ›heidnisch‹, ›falsch‹ und ›fleischlich‹. Der grundlegenden Aufgabe, vor die sich schon das antike Christentum gestellt sah, und die Frage, die zu lösen noch das Bestreben der Gelehrten des 17. Jahrhunderts überkonfessionell war, wie nämlich das Erbe der heidnischen Antike in Einklang zu bringen sei mit der jüdisch16 17
Ebd., Bl. E 1v. Ebd., Bl. E 1r.
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christlichen Tradition, wie also Athen und Jerusalem zusammenzubringen seien – dieser Aufgabe erteilt Breckling hier eine fundamentaler kaum denkbare Absage. In Böhmes Theosophie sieht Breckling die Alternative zur vom Aristotelismus fächerübergreifend geprägten Schulgelehrsamkeit schlechthin; Böhme habe etwa von Paracelsus wichtigste Impulse erfahren. Böhmes Lehre stellt in den Augen Brecklings einen prominenten Fortschritt dar, doch einen solchen, der sich im Hinblick auf das nun anbrechende Zeitalter des Geistes und dessen Licht der Erkenntnis wie die verheißungsvolle Morgenröte ausnimmt und letztlich Prolepse ist einer noch ausstehenden, wahrhaft eschatologischen Geistfülle. Noch ist J. Böm nur wie ein Morgenstern zu achten/ gegen der Vollheit aller Göttlichen und natürlichen Weißheit und Erkäntnüß/ die wie eine helle Sonne nach ihm aufgehen soll/ von welcher Vollheit der Rosen= und Lilien=Zeit und dessen vollkommenen und vielfältigen Gaben J. Böm als ein Vorläuffer offt zeuget […].18
Dass Böhme sich nicht ausführlich und im Zusammenhang zu den grundlegenden Glaubensartikeln, insbesondere zur Rechtfertigungslehre geäußert habe, liegt Breckling zufolge schlicht darin begründet, dass er sich diesbezüglich ganz auf dem Boden der durch Luther erneut ans Licht gebrachten Lehre der Heiligen Schrift stehen sah, so wie er sich hinsichtlich der Lehre von der Vita Christiana einig mit Johann Arndt gewusst habe. Daß Jacob Boem von den Glaubens=Artikeln und der Rechtfertigung wenig geschrieben/ kompt daher/ daß solches alles was zum Glauben und Glaubens Leben gehöret/ schon in der Heil. Schrifft zur Gnüge verfasset/ und durch Lutherum schon gründlich geoffenbaret/ bezeuget und reformiret war: Gleich wie auch was zur Reinigung deß Hertzen und Auffrichtung deß Christlichen Lebens dienen konte/ überflüssig durch Johann Arnd/ Stephanum Prätorium/ und andere beschrieben war. darumb er solches mit Fleiß vorbey gegangen […].19
Demgemäß steht Luther bei Breckling für die Reformation des Verständnisses der Heiligen Schrift und ihrer Lehren, stehen Johann Arndt und seine Anhänger, zu denen Breckling auch Stephan Prätorius20 rechnet, für die Reformation des christlichen Lebens; Böhme aber ist der Initiator der Reformation der Philosophie. Wahre Christen sind Breckling zufolge von den falschen anhand der empirisch fassbaren Faktizität zu unterscheiden, dass sie verfolgt und verketzert werden. Zwar ist der frühneuzeitliche Spiritualismus geprägt von einem konsequenten Dualismus von Fleisch und Geist, Äußerlichem und Innerlichem, Kontingentem und Transzendentem, Alt und Neu, dem zufolge der Heilige Geist sich an keinerlei äußerliche Medien zu binden fähig oder willens ist, sondern sich nur innerlich im Menschen zur Geltung bringt und daher auch in äußerlich verfassten Institutionen wie insbesondere der ecclesia visibilis nicht anzutreffen ist, sondern nur in der Geistkirche. Doch die Negation der äußerlichen Konkretwerdung und 18 19 20
Ebd., Bl. E 2r. Ebd., Bl. E 3r. Vgl. Eckhard Düker: Freudenchristentum. Der Erbauungsschriftsteller Stephan Praetorius. Göttingen 2003 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 38)
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Visibilität der wahren Geistbegabung stößt merkwürdigerweise im Spiritualismus, auch in demjenigen Breckling’scher Prägung, dort an ihre Grenze, wo mit der Behauptung aufgewartet wird, im Verfolgtsein durch die als Pharisäer und Schriftgelehrte geziehenen orthodoxen Theologen und ihrer kirchlichen Behörden würden das wahre Christentum und die Gegenwart des Heiligen Geistes nun doch äußerlich und sinnenfällig greifbar. In diesem Zusammenhang nimmt es nicht wunder, dass Breckling sogleich im Eingangsteil seines Anticalovius die Gelegenheit ergreift, auf seine oben erwähnte Verfolgung durch den Generalsuperintendenten Klotz zu sprechen zu kommen, die Breckling gewissermaßen als Ausweis seiner Glaubwürdigkeit, ja mehr noch: als Legitimation seiner theologischen Existenz versteht. Als Verfolgter sieht sich Breckling in einer Reihe mit den alttestamentlichen Propheten Jeremia und Amos, auch mit dem durch die papale Bürokratie verfolgten Luther stehen, während – welch ungeheure Verkehrung! – der in Wittenberg auf der cathedra Lutheri sitzende Calov sich als Papst der lutherischen Kirche aufspiele. Calov, so Breckling wachet […] alß ein blinder wächter und auffseher über alle wahnsinnigen Quäcker und Rasenden/ die sich bißher wie Jeremias und der Kühhirt Amos im Hause Gottes hervor gethan/ solche nicht allein im leben unverhört und ehe sie sich verantwortet/ nach seiner eigen geraubten macht und Gottheit/ ärger alß den [sic! recte: der] Pabst den Luther zu Verdammen/ und also in eigener Sache wie der D. Klotz in Holstein wieder mich/ Kläger/ Zeuge/ Notarius/ Richter und Verdammer zu seyn und bleiben/ sondern auch nach ihrem todte wider ihre Leiber und Seelen zu wüten/ und so es Jhm müglich wäre dieselbige mit zeitlichen und ewigen fewer zu Verbrennen: ärger alß die Phariseer die noch derer Propheten Gräber baweten/ welche ihre Väter erwürget hatten.21
Brecklings Bestreben ist es, mit seinem Anticalovius als Apologet für all diejenigen aufzutreten, die Calov in sein »ketzer=Register«22 eingetragen hat – u. a. für »den Sel. Joachimum Betkium, Lud. Frid. Gifftheiln/ Abr. von Franckenberg/ Laur. Seidenbecher/ M. Amerßbach«23 usw. und, nicht zu vergessen, für sich selbst. Es erübrigt sich fast der Hinweis darauf, dass Calovs Ketzerregister genau die Namen enthält, die sich auch in Brecklings Listen der testes veritatis finden. Derartige Listen hat Breckling, wie nicht zuletzt sein handschriftlicher Nachlass24 belegt, zahlreich geführt und bekanntermaßen Gottfried Arnold für seine Unpartheiische Kirchen- und Ketzerhistorie25 zur Verfügung gestellt. Nicht Böhme und seine Theosophie Calov gegenüber in Schutz zu nehmen, ist der vornehmste Zweck des Anticalovius, sondern dem mystischen Spiritualismus als ganzem eine apologetische Rechtfertigung angedeihen zu lassen, die in dem gegen Calov ge21 22 23 24 25
Breckling, Anticalovius (Anm. 14), Bl. A 1v/2r. Ebd., Bl. A 2r. Ebd. Einen Überblick über ihn verschafft Cornelia Hopf: Handschriftliche Brecklingiana in der Forschungsbibliothek Gotha. In: Pietismus und Neuzeit 33 (2007), 48–53. Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688. Frankfurt a. M. 1729 (11699–1700) (ND der dritten Ausg. 1729, Hildesheim u. a. 21999 [11967]).
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richteten, freilich retourkutschenartigen Vorwurf gipfelt, nicht die Dissenter und Separatisten betrieben Sektiererei, er – Calov – selbst sei vielmehr ein Separatist, insofern er sich wie alle lutherische Mauerkirchenchristen vom Heiligen Geist und der durch ihn gestifteten Gemeinschaft absondere. Alle eigene vermengung und Zusammenbindung der Menschen auch in den besten Kirchen ohne GOttes Geist ist GOtt eben so hoch zu wieder/ als die eigen absonderung/ wir kennen Niemand und so auch keine Lehrer noch Kirche nach dem Fleisch/ was nicht durch Christi Geist im Geist und in der Warheit mit Christo und unter einander im lebendigem Glauben und Liebe zusammen vereiniget und verbunden ist/ das ist keine Kirche Christi/ sondern ein eigen Secte und Rotte die sich von Christi Geist und Gemeinschafft abgesondert hat wie die Galaten und Papisten/ Wer Christi Geist nicht hat der ist nicht sein glied/ Lehrer/ Priester/ Kirchen/ Reich/ Tempel oder gesandter.26
Als eine wichtige Etappe der Böhme-Rezeption im 17. Jahrhundert kann der Anticalovius m. E. nur bedingt angesehen werden, da es Breckling kaum um die als spezifisch böhmesch anzusehenden Philosophumena und Theologumena zu tun ist als vielmehr darum, als Schutzschriftsteller für diejenigen aufzutreten, die sich der Theosophie des Görlitzer Autodidakten und Schuhmachers im weitesten Sinne verpflichtet fühlen. Bemerkenswert freilich ist, dass Breckling Böhme zwar einerseits unzweifelhaft als Mitglied der wahren Geistkirche ansieht, er aber zugleich den Rat gibt, es mit der Wertschätzung der Schriften Böhmes nicht zu weit zu treiben. So spricht Breckling zwar von Böhmes »Wunderbahren Schrifften«,27 warnt aber im selben Atemzug davor, ihnen dieselbe Wertschätzung zu zollen wie der Heiligen Schrift. Somit richtet sich Breckling gegen die Anhänger eines übertriebenen Böhmismus, ohne diese beim Namen zu nennen: So sind einige die des S. Jacob Böhmen Schrifften alzuhoch ja bey nahe über die Heilige Schrifft erheben/ und alß in allen unsträfflich Canonisiren wollen/ gleich wie der Antonetten Discipulen ihre Schrifften/ die Labadisten seine und ihre Bücher […].28
Breckling weist den von Calov gegen ihn erhobenen Vorwurf, ein Böhmist zu sein, im Übrigen weit von sich und beansprucht für sich zum einen, der böhmistischen wie der lutherischen Heterodoxie gleichermaßen entgegengetreten zu sein, aber auch, als Apologet für die verfolgten Böhme-Anhänger zu fungieren. Darumb mir niemand verdencken oder für arg auffnehmen kan/ Daß weil D. Calov mich ja mit unter Böhmens Secte und anhang rechnen wil/ Welcher ich doch nicht zugethan bin/ sondern offentlich wieder solche Böhmisten eben so wohl alß wieder die falsche Lutheraner und alle andere Secten und Abgötter auß Menschen geschrieben/ daß ich dennoch für GOttes Gaben und Warheit in Jacob Böhm und für seine unschuld wieder seine Lästerer und verfolger streite/ wie jederman für seine Secte […].29
26 27 28 29
Breckling, Anticalovius (Anm. 14), Bl. A 8r/v. Ebd., Bl. A 3v. Ebd., Bl. A 3r. Ebd., Bl. A 3v.
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Was den rechten Umgang mit den Werken des »GOttesfürchtigen Schumacher[s]«30 anlangt, so empfiehlt es sich Breckling zufolge, die Maxime des paulinischen Eklektizismus zur Anwendung zu bringen, nämlich alles zu prüfen und das Gute bzw. das Beste zu behalten (1Thess 5,21). Nur denen, die in diesem Sinne bestrebt sind, eine kritische Rezeption Böhmes zu betreiben, gilt auch die Verteidigung durch Breckling. Weil Jch nun solche bestraffet die des Sel. J. Böhmens Nahmen und Schrifften zur newen Abgötterey und Secte mißbrauchen: solte ich den nicht den Sel. J. Böhm mit dessen Liebhabern/ welche alles in ihm prüfen/ und die Warheit und das gute annehmen/ wieder ihre Verfolger heissen verthätigen/ und von den Seelen Mördern retten/ die ihn auch nach dem Tode tödten wollen […]?31
Ein nicht leicht lösbares Rätsel allerdings besteht darin, dass Breckling völlig offenlässt, nach welchen methodischen Grundsätzen entschieden werden kann und soll, was das Beste in Böhmes Theosophie denn sei, das zu behalten ist, und aufgrund welcher inhaltlicher Kriterien dieses zu bestimmen sei. Interessanterweise macht Breckling an einer Stelle darauf aufmerksam, dass ausgerechnet editorisch-philologische Unzulänglichkeiten in Böhme-Drucken (gemeint sind hier wohl diejenigen der Amsterdamer Edition der Werke Böhmes) der Verketzerung dieses geistbegabten Autors Vorschub geleistet haben. Erasmus Francisci, der 1685 mit seiner umfänglichen Schrift Gegen=Stral Der Morgenröte32 an die Öffentlichkeit getreten war, beziehe sich, so berichtet Breckling, auf eine Passage im Mysterium magnum, um Böhme eine verfehlte Trinitätslehre zu bescheinigen – aber ganz zu Unrecht, denn es handele sich um einen verderbten Text, wie der Vergleich mit einer älteren Edition ausweise, die Breckling freilich nicht präzise benennt. Daß Herr Francisci dem Jacob Böhmen beymisset und anziehet auß dem 7. Cap. 5. Mysterii Magni/ als wenn Jacob Böhm alldar geschrieben/ Daß GOTT Dreyfaltig im Wesen sey Solches ist eine Drückfaute/ Denn in meiner alten Edition stehet/ wir Christen sagen GOTT sey Dreyfaltig/ aber einig im wesen.33
Man wird annehmen dürfen, dass Breckling diverse Böhme-Drucke besessen hat. Unter den Büchern, die Breckling in den Jahren 1703 und 1709 den Francke’schen Anstalten in Halle übermacht hat,34 befindet sich indes kein einziges Werk Böh-
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Ebd., Bl. A 3r. Ebd., Bl. A 5r/v. Erasmus Francisci: Gegen=Stral Der Morgenröte/ Christlicher und Schrifftmässiger Warheit/ Wider das Stern=gleissende Jrrlicht Der Absondrung von der Kirchen und den Sacramenten; Jn gründlicher Erörterung der fürnehmsten Haupt=Fragen und Schein=Sätze heutiger Böhmisten/ wie auch beygefügter Untersuchung/ was von deß Jacob Böhms Schrifften zu halten sey/ hervorleuchtend: Manchen Verirrten/ zur Wiederkehr auf den rechten Weg/ wolmeynendlich angewiesen. Nürnberg 1685 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Yv 667.8° Helmst.). Breckling, Anticalovius (Anm. 14), Bl. B 2r. Vgl. Breckling, Autobiographie (Anm. 6), 96 f. mit Anm. 1042.
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mes.35 Offensichtlich hat Breckling nicht seinen gesamten Buchbesitz nach Halle gegeben, was auch daraus hervorgeht, dass unter den heute in der Bibliothek der Francke’schen Stiftungen aufbewahrten Beständen aus Brecklings Besitz die Schriften seiner engsten Freunde und Weggefährten weitestgehend fehlen.36 Diesem Umstand ist es auch geschuldet, dass es leider nicht möglich ist, anhand von Anstreichungen, Marginalien etc. die Art und Weise von Brecklings BöhmeStudium zu rekonstruieren. Breckling zufolge ist Böhme als eine so integre wie gelehrte Christperson anzusehen, die zeit ihres Lebens der lutherischen Kirche zugetan war. Wer Böhme kritisieren wolle, müsse zunächst unter Beweis stellen, »das er selber besser und frommer für Gott ist als Jacob Böhm gewesen.«37 Doch nicht nur die Profilierung Böhmes als eines »gütige[n], trewe[n], einfältige[n], freundliche[n], sanfftmühtige[n], Christliche[n], auffrichtige[n], Tugendsahme[n], Liebreiche[n] und gehorsahme[n] GOTTES Mensch[en]«38 ist Ausdruck der hohen Wertschätzung, die Breckling dem Görlitzer zollt. Vielmehr ist es Breckling auch darum zu tun, unmissverständlich klarzumachen, dass Böhme – ganz im Sinne des cusanischen Ideals der docta ignorantia – ein von Gott auserwähltes Werkzeug war, um diejenigen zu beschämen, die sich für weise halten, ohne es wahrhaft zu sein. Und weil unsere heutige falschgelehrten in allen Secten und Facultäten ihnen so viel einbilden/ so hat GOTT einen einfältigen Schuster erwehlet/ und dem solche hohe und tieffe Weißheit und verborgenheiten gegeben zu schreiben/ Dafür alle hochgelehrten müssen verstummen und bekennen sie verstehens nicht/ es ist ihnen zu hoch/ und daran alle selbst weise Doctores anlauffen/ fallen und zu Schanden werden müssen/ so sich dawieder aufflehnen oder solches verlästern wollen.39
Die lutherisch-orthodoxe Kritik an Böhme brandmarkt Breckling mithin als Ausweis eines solchen Unverstandes, der über die Kapazität, der von Gott selbst eingegebenen Theosophie auf die Spur zu kommen, nicht verfügt, vielmehr in der Weltweisheit gefangen ist. Hier befleißigt sich Breckling einer charakteristischen, eben spiritualistischen Entzifferung von 1Kor 1,18 ff., der zufolge Gott sich derjenigen bedient, die von der Welt für Narren gehalten werden, um diejenigen, die sich irrtümlicherweise weise dünken, ihrer Torheit zu überführen. […] daher wir Gott billig mit Christo dancken das er solches den weisen und klugen verborgen/ und den unmündigen und verrachteten [sic!] geoffenbahret hat/ weil GOTT nicht die weisen erwehlet umb die Narren zu schanden zu machen/ sondern die thörichten/ wenn er 35
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37 38 39
Vgl. Britta Klosterberg: Libri Brecklingici. Bücher aus dem Besitz Friedrich Brecklings in der Bibliothek des Halleschen Waisenhauses. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hrsg. v. Udo Sträter u. a. Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen 17), 871–881, hier: 878. Vgl. ebd.: »Nach Drucken Taulers […], Jakob Böhmes […] oder Paracelsus’ sucht man ebenso vergeblich wie nach den Schriften Christian Hoburgs […], Ludwig Friedrich Gifftheils oder Joachim Betkes […], letzteres Personen, die Breckling persönlich kannte und die sein Denken maßgeblich beeinflusst haben.« Breckling, Anticalovius (Anm. 14), Bl. C 7v. Ebd., Bl. C 7v. Ebd., Bl. C 8r.
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die Selbst=weisen wil fangen/ verstricken und zu schanden machen/ wie man die Fische mit Erd=würmen an den Angeln fänget.40
So gesehen ist Böhme nicht nur ein Instrument Gottes im Hinblick auf das von Paulus in 1Kor 1 beschriebene Programm, durch das Wort vom Kreuz die Weisheit als Torheit zu decouvrieren und die göttliche Torheit als sapientia vera zu etablieren. Vielmehr steht Böhme Brecklings Sicht der Dinge zufolge auch in einer Traditionslinie, die weit zurückreicht, nämlich bis hin zu den Aposteln, die der Sohn Gottes weg von ihren Fischernetzen rief und mit der Ausrichtung der Botschaft des Evangeliums beauftragte. »Und so thut Gott noch grosse dinge durch die kleinen/ Narren/ Fischer/ Schuster und einfältigen Kinder.«41
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Ebd., Bl. C 8v. Ebd.
Martin Mulsow
Abraham Hinckelmann und die Genealogie von Böhmes »Grund=Irrtum«
1. Der Hamburger Revers Wenn man eine »Geschichte des Irrtums« schreiben würde, dann wäre eine Etappe in dieser Geschichte die Reduktion von Ketzerei auf Grundirrtümer, die Philipp Jakob Spener vorgenommen hat.1 An die Stelle von Ansteckungsangst vor Häresie tritt bei ihm ein Vertrauen auf die Integration verirrter Positionen bei gleichzeitiger Immunität vor Irrtümern.2 Es sei nötig, frei und ohne Hass auf der gesicherten Grundlage ausgiebiger Lektüre über deviante Positionen zu urteilen. Diese Revision fand in den 1680er Jahren statt, fast gleichzeitig mit der Gichtelschen Edition von Böhmes gesammelten Werken.3 Aus diesem Grund gab es in Deutschland eine enge Verquickung der Causa Böhme mit dem, was Martin Gierl eine »Kommunikationsreform« theologischen Streitens genannt hat, und zugleich mit der Emergenz von so etwas wie gebildeter Öffentlichkeit.4 Die traditionelle Wahrnehmung von Böhme und den »Schwärmern« – alle über einen Kamm geschoren – war so, wie es ein zeitgenössisches Gedicht ausdrückt: Was Weigel hat gelehrt/ was tolle Pansophisten In ihrer Heuchelei vor Nattern-Brut gehegt/ Was Böhmens Schwindel-Geist/ was Quäcker/ Labadisten Was Chiliasten-Schwarm ans Tages-Liecht gelegt/ Das ist durch Träumerey im thörichten Gehirne Der neuen Heiligen itzt wieder auffgeflammt/ Der Quietisten/ Pietisten Geist/ der Schleicher Irrgestirne.5 1
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Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, 293. – Ich baue im Folgenden auf meine Untersuchung auf: Den ›Heydnischen Saurteig‹ mit den ›Israelitischen Süßteig‹ vermengt: Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann und Johann Peter Späth. In: Scientia Poetica 11 (2007), 1–50, von der ich einzelne Passagen übernehme. Ebd., 278. Jakob Böhme: Alle theosophische Wercken. Amsterdam 1682. Gierl (Anm. 1), 290 ff. Eine Poetische Dancksagung an Alle Unbenannte hohe Häupter/ Welche ihre nachdrücklichen Edicta, wider alle alte und neue Schwärmer/ sonderlich aber die Pietisten, dergleichen keine ärgere und gefährlichere Irrgeister nach Arii Zeiten in der Kirchen Gottes jemahls auffkommen/ in= und ausser ihren Landen publiciren lassen/ Auffgesetzt/ Von einem Liebhaber der Wahrheit. In: Herrn von Emmerichs übergebene unterthänigste Klage/ Wider die
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So sah man es auch in Hamburg, bis auf einige wenige Hauptpastoren, die die Spenersche Wende zur Abkehr von der bedingungslosen Verketzerung mitgemacht hatten. Ihnen wollte die Majorität im März 1690 einen »Revers« aufzwingen. Es war ein interner Radikalenerlass, denn man wollte unter den Pastoren nur orthodoxe, nicht aber solche, die dem Pietismus nahestanden.6 Drei Pastoren, Johann Heinrich Horb, Johann Winckler und Abraham Hinckelmann verweigerten die Unterschrift; sie sahen nicht ein, dass sie sich von bestimmten Inhalten distanzieren sollten, die etwa den Chiliasmus oder Jakob Böhme betrafen, ohne dies vorher genau untersucht zu haben. Horb sagte, er habe Böhme nie gelesen, wie solle er ihn dann verurteilen? Der Name Böhme spielte innerhalb der Hamburger Debatten die Rolle eines Lackmustests.7 In Böhme sahen die Orthodoxen alles kondensiert, was sie fürchteten und bekämpften: gnostische, kabbalistische, hermetische Ideen, die sich unter den »Enthusiasten« und »Fanatikern« verbreiteten, prophetische und chiliastische Wahnvorstellungen, eine Unterminierung rationaler Theologie und disziplinierter Gesellschaft. Nun war es aber keineswegs so, dass Horb, Winckler und Hinkelmann Böhme-Anhänger waren. Nein, ihnen, den Spener-Freunden, ging es von Anfang an um die Freiheit der Lehre und Predigt, nicht um »enthustiastische« Weltanschauungen. Sie wollten nur nicht von vornherein als häretisch verurteilen, was erst zu prüfen war. So hat Spener denn auch vorgeschlagen, im Fall Böhme die Rechtgläubigkeit mit einem Streitschriftendisput »für und wider« zu klären;8 und Hinckelmann hat den Vorschlag aufgegriffen und entsprechend Viertzig Wichtige Fragen vorgelegt, die Kriterien für eine Entscheidung an die Hand geben würden.9 Warum sich gerade Hinckelmann dazu berufen fühlte – oder von Freunden dazu gedrängt wurde – werden wir noch sehen. Hinckelmann war einer der begabtesten Orientalisten im Deutschland seiner Zeit. 1652 geboren, hatte er in Wittenberg unter Calov studiert, war dann Pastor von St. Nicolai in Hamburg geworden, 1687 auf Speners Rat aber ins pietistisch beeinflußte Gießen gegangen. 1688 hat man ihn nach Hamburg zurückberufen, diesmal als Pastor der Katharinenkirche.10 In Hamburg war seit 1684 bereits der Spener-Freund Johann Winckler Pastor von St. Michaelis, und seit 1685 Speners Schwager Johann Heinrich Horb Pastor von St. Nicolai. Damit hatte sich eine kleine Gruppe hochgebildeter,
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Quacker=Pietistische Schwärmer und Frey=Geister […]. Im Jahr Christi 1703, 27–30, hier: 28. Zur Situation in Hamburg vgl. Hermann Rückleben: Die Niederwerfung der Hamburgischen Ratsgewalt. Kirchliche Bewegungen und bürgerliche Unruhen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Hamburg 1970. Vgl. zum Folgenden auch den Beitrag von Sibylle Rusterholz in diesem Band. Ich danke Frau Rusterholz dafür, dass sie mir ihren Text zur Verfügung gestellt hat. Philipp Jakob Spener: Die Freyheit der Gläubigen. Frankfurt a. M. 1691, 105 f. Vgl. Helmut Obst: Jakob Böhme im Urteil Philipp Jakob Speners. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 23 (1971), 22–39. Abraham Hinckelmann: Viertzig Wichtige Fragen/ Betreffende die Lehre/ so in Jakob Böhmens Schrifften enthalten/ Allen deroselben Liebhabern zu Christlicher Beantwortung fürgeleget. O. O. 1692. Zur Biographie vgl. DBA 540, 28–68.
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orientalistisch interessierter, büchersammelnder Theologen gebildet, die meinten, der orthodoxen »Ketzermacherei« die Stirn bieten zu können. Sie bezogen eine schwierige Stellung zwischen den Böhmianern und Separatisten einerseits und der lutherischen Orthodoxie andererseits, die sie nun ihrerseits als »Pietisten« verunglimpfte und – ungerechtfertigterweise – möglichst nah an die »Schwärmer« heranrückte.
2. Die Vierzig Fragen Die Vierzig Fragen wurden, wie das Vorwort zeigt, am 3. Dezember 1692 beendet. Es ist wichtig zu sehen, dass sie nur der Eröffnungsschachzug in einem größeren Spiel gewesen sind, keineswegs aber so etwas wie eine fertige Schrift. Hastig verfasst, unter dem Druck der zunehmenden Kontroverse auf den Kanzeln und in den Buchläden, bieten sie eher so etwas wie den Rahmen für eine künftige Diskussion. Anhand von theologischen Grundfragen an das Böhme’sche Werk und sicherlich noch auf der Basis einer lückenhaften Lektüre der Gichtelschen Ausgabe stecken sie einige Pflöcke ein, an denen weitere Debatten nicht mehr vorbeigehen konnten. Vorausgeschickt wird von Hinckelmann dabei ein an Spener gemahnender Grundsatz: »Diese gegenwärtige Fragen haben keinen anderen Zweck als eine unpassionirte Untersuchung der Warheit.«11 Daher würden sie zu »sanfftmütiger« Beantwortung vorgelegt. Aufgefordert waren nun also die Böhme-Anhänger, sich auf die sachliche Auseinandersetzung einzulassen. Bisher, klagt Hinckelmann, wäre auch von dieser Seite nur Polemik gekommen. Man habe die Gegner Böhmes entweder »als passionirte blinde Leute/ die solche hohe Geheimnisse zu fassen viel zu ungeschickt wären« verachtet, oder man habe ihnen vorgeworfen, »es sey Jacob Böhme noch nie recht untersuchet/ sondern nur auff weniger Männer Auctorität schlechthin verdammet worden.« Diesen Vorwurf wollte Hinckelmann nun gegenstandslos machen. Schon der Titel der Schrift war eine Anspielung für Böhme-Kenner, denn Balthasar Walther, der Böhme-Freund und -Anhänger, hatte selbst eine Schrift mit dem Titel Vierzig Fragen verfasst, in der Böhmes Antworten enthalten waren. Sie war postum 1648 erschienen.12 Dass dieser Bezug auf Balthasar Walther für Hinckelmann nicht unwichtig war, wird sich noch zeigen. Auf 15 Quartseiten jedenfalls formuliert Hinckelmann seine Fragen, denen er als »Antworten« zumeist Zitate aus den 11 12
Hinckelmann, Viertzig Wichtige Fragen (Anm. 9), fol. A2r. [Balthasar Walther:] Vierzig Fragen von der Seelen Urstand/ Essentz/ Wesen/ Natur und Eigenschafft/ was sie in Ewigkeit sey?/ Verfasset von einem Liebhaber der grossen Geheimnüssen und beantwortet durch Jacob Böhm. Amsterdam 1648. Zu Balthasar Walther vgl. Leigh Penman: A Second Christian Rosencreutz? Jakob Böhme’s Disciple Balthasar Walther (1558–c.1630) and the Kabbalah. With a Bibliography of Walther’s Printed Works. In: Western Esotericism. Hrsg. v. Tore Ahlbäck. Turku 2008, 154–172; ders.: »Ein Liebhaber des Mysterii, und ein großer Verwandter deßselben.« Toward the Life of Balthasar Walther: Kabbalist, Alchemist and Wandering Paracelsian Physician. In: Sudhoffs Archiv 94 (2010), 73–99. Vgl. auch den Beitrag von Penman in diesem Band.
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Böhme’schen Werken, allen voran dem Mysterium Magnum entgegenstellt. So lautet die erste Frage: »Ob Jacob Böhme warhafftig/ und in dem Sinn darin die Christliche Kirche allezeit nach Gottes Wort gestanden/ lehre/ dass in der Gottheit drey selbst=ständige Personen von Ewigkeit seyn/ Vater Sohn und heiliger Geist?«13 Es geht also um die Trinität – den Kern der christlichen Lehre. Hinckelmann beantwortet die Frage mit einer Passage aus dem Mysterium Magnum14: »Wir Christen sagen: Gott sey dreyfaltig/ aber NB. Im Wesen: Daß aber in gemein gesagt wird/ Gott sey dreyfaltig in Personen/ das wird von den Unverständigen übel verstanden/ auch wohl von theils Gelehrten: Denn NB. Gott ist keine Person/ als nur in Christo/ sondern Er ist die ewig=gebährende Krafft/ und das Reich samt allen Wesen: Alles nimmt seinen Uhrstand von Ihm.« Hinzu kommt noch ein weiteres »entlarvendes« Zitat. So geht es weiter, zunächst ebenfalls zum locus De Deo: Sieht Böhme die erste Person der Gottheit, abgesehen vom Sohn, als Gott an? Nein, wie weitere Zitate belegen.15 Ist das göttliche Wesen für Böhme etwas jeweils anderes im Vater, im Sohn und im Heiligen Geist? Nein. Liegt nach Böhme der Ursprung des Bösen wie des Guten im göttlichen Wesen? Ja, wie wiederum das Mysterium Magnum mit seinem Kapitel über die Zwey principien belegt. Ist Böhmes Lehre von den Quell-Geistern in der Heiligen Schrift gegründet? Hier begegnet dem Leser zum ersten Mal der seltsame Umstand, dass Hinckelmann keine Antwort gibt. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um eine rhetorische Taktik handelt. Eher ist zu vermuten, dass zum Zeitpunkt, als der Verleger Hinckelmann das Manuskript unter der Feder hinwegzog, dieser noch nicht Belegstellen für alle Fragen beisammen hatte – zumal solche Fragen, die wie diese nicht direkt mit Zitaten zu beantworten waren, sondern umgekehrt Ausführungen über die Bibel oder eben andere Quellen erfordert hätten. Die sechste Frage lautet: Sind nach Böhme alle Dinge aus dem göttlichen Wesen heraus geschaffen? Diese Frage wird später, wie wir sehen werden, noch eine große Rolle spielen. An dieser Stelle wird sie nur mit einem ganz kurzen Beleg affirmativ beantwortet. Die siebte Frage: Hat Böhme diese Theorie aus der heidnischen Philosophie gelernt? Eine Antwort wird wiederum nicht gegeben. Hinckelmann scheint sie offenzulassen oder auf eine spätere Bearbeitung zu verschieben. Es geht nun fünf Fragen lang mit christologischen Themen weiter (8–12), dann folgen Themen der Satisfaktionslehre und des Verdienstes Christi durch sein Opfer für die menschliche Sündenschuld (13–19); weiter geht es mit Fragen der Gnadenwahl: Ist der glaubende Mensch mit Christus vereinigt? (20) Ist Christus nur die Gnadenwahl selbst? (21) Ist das göttliche Licht in allen Menschen – nämlich das, was Böhme als ›Sophia‹ bezeichnet? (22) Die Antwort ist hier nur pauschal: »Videantur Böhmiana scripta passim«. Wird dieses Licht eine Person mit Christus? (23) Und weiter zur Frage der Seligkeit: Können auch Hei13 14
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Hinckelmann, Viertzig Wichtige Fragen (Anm. 9), fol. A3v. Böhme, Alle theosophische Wercken (Anm. 3), Tl. 13: Mysterium magnum, Oder Erklärung über das Erste Buch Mosis […] Darinnen Das Reich der Natur, und Das Reich der Gnaden erkläret wird. Amsterdam 1682, 34 § 5. Böhme, Mysterium Magnum (Anm. 14), Kap 7, 35 f. § 14.
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den die Seligkeit erreichen? (24) Diese Frage, die die Orthodoxie verneinte, hatte Böhme, wie Hinckelmann zeigt, bejaht. Es folgen Fragen zu den Sakramenten, vor allem zur Taufe bzw. zur doppelten Taufe (25–30), zum Abendmahl (31–34, auch 37), sowie zu einzelnen zusätzlichen Punkten: Besteht die Sündenvergebung bloß in der Änderung des Herzens? (35) Wird bei Böhme die Absolution des Priesters zum bloß äußerlichen Zeichen gemacht? (36) Hat der Sensus Mysticus in Mose, so wie ihn Jacob Böhme im Mysterium Magnum beschreibt, seinen Grund? (38) Ganz am Ende stellt Hinckelmann noch zwei Fragen zur Herkunft und zur Rezeption – ohne dies noch zu beantworten: »Ob Jacob Böhmens Lehre nicht in Grunde mit Schwenckfelds/ Paracelsi und Weigelii Lehre einerley sey?« (39), und »Ob Jacob Böhmens Schrifften der Kirchen mehr nützlich oder schädlich seyn?« Kein Zweifel: Hinckelmanns Vierzig Fragen sind gleichsam ein Work in Progress. Sie markieren einen Zwischenstand: schnell publiziert – offenbar wegen der Aktualitätsnöte –, doch noch auf einer schmalen Quellenbasis und ohne bereits auf alle Fragen eine Antwort geben zu können. Immerhin erfüllen sie ihren Zweck als Angebot an die Öffentlichkeit, sich anhand dieses Kriterienkataloges Gedanken über die Orthodoxie von Böhmes Christentum zu machen.16
3. Reaktionen Eine ganze Reihe von Schriften haben diese Fragen zu beantworten gesucht.17 Vor allem war es ein Autor, der sich hinter den Initialen »J. J. M.« verbarg, der es unternahm, Böhmes Lehre als orthodox im Sinne der Lutherischen Kirche zu verteidigen. »J. J. M.« ist als Johann Jakob Zimmermann aufzulösen, ein Württembergischer, in Hamburg lebender Spiritualist.18 Zimmermann benutzte zuweilen das Pseudonym Johann Matthäi, und auf dieses Pseudonym spielen die Initialen wohl an. Seine Schrift trägt den Titel: Verlangete Christliche Beantwortung Deren Viertzig Wichtigen Fragen, betreffende Jacob Böhmens Lehre, so in seinen Schrifften soll enthalten sein, Welche von (S. T.) H. Abraham Hinckelman D. […] sanfftmüthig zu beantworten in öffentlichen Druck fürgeleget worden/ Gantz unpassionirt und unpartheyisch […] entworffen […] Von J. J. M. E. D., 16
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Diese Kommunikation mit der Öffentlichkeit war im späten 17. Jahrhundert immer stärker geworden. Vincent Placcius etwa hatte Kollegen dazu aufgerufen, mit ihm zusammen anonyme und pseudonyme Schriften ihren wahren Verfassern zuzuordnen, Wilhelm Ernst Tentzel verstand seine »Monatlichen Unterredungen« als ein Organ, das Informationen aus der Gelehrtenrepublik anforderte und sie dann weitergab. Nimmt man dies als ein Symptom, dann könnte es Indiz für eine Kommunikationsreform der Gelehrtenrepublik sein, die noch weitergehend war als von Gierl (Anm. 1) anvisiert. Vgl. Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1700, 1155; vgl. auch den Beitrag von Sibylle Rusterholz in diesem Band. Zu Zimmermann (1644–1693) vgl. ADB 45, 270 f. Zimmermann hatte schon 1691 Böhmes Orthodoxie verteidigt: Orthodoxia theosophiae Teutonicae-Bohemianae contra Holtzhausium defensa, das ist: Geistliche Untersuchungen der holtzhäusischen Anmerkungen über und wider Jacob Böhmens Auroram. Frankfurt a. M./Leipzig 1691.
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»Amsterdam« 1693. Darin beantwortet er nicht nur die Fragen im Sinne von Böhmes Orthodoxie, sondern stellt auch vierzig unbequeme Gegenfragen an den lutherischen Klerus. Hinckelmanns Termini »sanfftmütig«, »unpassionirt«, »unpartheyisch« werden – ob nun ironisch oder nicht – von Zimmermann aufgenommen, wie sie ja auch wenig später durch Gottfried Arnold zu größerer Prominenz kommen sollten. Bevor Hinckelmann auf das »Responsum propempticum«, wie er es nennt, antworten konnte, warf sich sein Freund Johann Winckler in die Bresche, mit einem Send-Schreiben An Dero HochEhrwürden Herrn Abraham Hinckelmann […] Betreffend Einige Anmerckungen über die Viertzig Sätze, Welche ein ohnbenamter Liebhaber des Böhmens zum Grunde der Antwort auff die gedruckte fürgetragene 40 Fragen von Jacob Böhmens Lehr gelegt, erschienen wohl im Februar oder März 1693.19 Doch das konnte nicht das letzte Wort gewesen sein. Es war klar, dass Hinckelmann mit einer richtigen Untersuchung nachziehen musste, sobald er Zeit gefunden hatte, seine Böhme-Studien zu vertiefen und seine eigenen Fragen abzuarbeiten. Das dauerte etwa fünf Monate, von Anfang März 1692 bis Ende April 1693. Dann war es soweit: Hinckelmann konnte nun ein umfassendes Buch vorlegen, von zwar nur 124 Seiten, aber dichtgedrängt mit Textkenntnis und Gelehrsamkeit. Er nannte das Buch Detectio fundamenti Böhmiani, Untersuchung und Widerlegung der Grund=Lehre die in Jacob Böhmens Schriften verhanden. Auch jetzt hatte er noch unter höchstem Zeitdruck geschrieben, denn sein Verleger Georg König hatte ihn gedrängt, noch vor der Leipziger Messe fertigzuwerden, sodass das Buch dort verkauft werden konnte. Hinckelmann musste auf einige letzte Kapitel über den schädlichen Einfluss der »Grundlehre« in der Kirche verzichten, aber er verschob dies auf die Einleitung der von ihm geplanten Ausgabe der Schrift von Photios gegen die Manichäer.20 Hinckelmann geht in seiner an den »Hertzlich-geliebtesten Bruder« Winckler gerichteten Vorrede der Detectio auf Wincklers Sendschreiben an ihn ein, und er benutzt Zimmermanns Antwort auf die Vierzig Fragen, um anhand von dessen Böhme-Verteidigung in dialogischer Weise die Belege gegen den Schlesischen Mystiker noch zu präzisieren.21 Doch die Detectio war viel mehr als eine gründliche Widerlegung von Böhmes Theosophie geworden; sie war zugleich ein gelehrtes Schatzkästchen voller Digressionen zur Kabbala, zu den Ssabiern, zu
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Hamburg 1693. Vgl. zu Winckler Claudia Tietz: Johann Winckler (1642–1705) – Anfänge eines lutherischen Pietisten. Göttingen 2008 (nur die Darmstädter Zeit); Johannes Geffcken: Johann Winckler und die Hamburgische Kirche in seiner Zeit (1684–1705). Hamburg 1861. J. N. J. C. Detectio fundamenti Böhmiani, Untersuchung und Widerlegung Der/ Grund-Lehre/ Die/ In Jacob Böhmens Schrifften verhanden. Worinnen unter andern der Recht-gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabalae, wie auch der Ursprung alles Fanaticismi und Abgötterey der Welt entdecket wird. Hamburg 1693, 123. Detectio (Anm. 20), 6 »Wir wollen aber in dieser Untersuchung die vornehmsten Lehren aus den neulichst fürgelegten 40. wichtigen Fragen nehmen/ und erweisen/ daß die Irrthümer Jacob Böhmens/ deren in selbigen gedacht worden/ hierauff beruhen.«
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heidnischen und ägyptischen Religionslehren, und es enthielt eine Reihe weitreichender Thesen zur Religionsgeschichte.22 Der Entlarvungsgestus, die »detectio«, war hingegen nichts Besonderes, sondern ganz im Stil der Zeit. Im gleichen Jahr 1693 hat zum Beispiel auch ein Mediziner23 mit den Initialen »E. I. H« in Mülheim eine Schrift Der entlarvte Jacob Böhm veröffentlicht. Darin möchte er die »vom Authore selbst verdeckten Wege an[…] zeigen/ wodurch er seine scientiam erlanget […].«24 Der Mediziner hatte nämlich bemerkt, »dass dessen seine sonderliche Meinungen aus des Theophrasti Schrifften genommen sind«.25 Da die Theologen aber nicht bewandert in den ParacelsusSchriften seien, hätten sie diesen Umstand bei ihren Widerlegungen nicht recht sehen können, so der Autor. In der Tat waren es neben den Theologen offenbar vor allem auch Mediziner, die sich an das Examinieren des Böhme’schen Werkkorpus machten. Einer dieser Mediziner schrieb Hinckelmann auf die Vierzig Fragen hin, dass es Parallelstellen bei Robert Fludd gebe, und auch Hinckelmann verfolgt diese Spur einer möglichen Quelle von Böhmes Theosophie weiter.26
4. Die Detectio Doch die Detectio kommt viel systematischer daher, als nur eine Spurensuche und Abgleichung theologischer loci zu sein. Hinckelmann schreibt jetzt auf der Grundlage einer breiten Textkenntnis – er zitiert aus dem Mysterium Magnum, der Gnaden-Wahl, den Sex puncta, den Theosophischen Sendbriefen und anderen Schriften – und er glaubt, den archimedischen Punkt gefunden zu haben, aus dem sich alle Lehren Böhmes entwickeln lassen. Diesen Punkt bezeichnet er als »Grund=Irrtum«. Nicht von ungefähr zitiert er mit Abraham Heidanus einen cartesisch beeinflussten Theologen, der 1678 selbst ein Werk De origine erroris geschrieben und dort – in Laktanzscher Terminologie – die These von der Willensfreiheit des Menschen als einen Grundirrtum gebrandmarkt hatte, aus dem der Sozinianismus entsprungen war.27 Hinckelmann verweist nicht auf De origine erroris, aber auf die dort oft mitgedrucke Diatribe de Socinianismo, in der betont wird, dass man von einer Grundidee ausgehend, die wie Strahlen in das System diffundiere, ein ganzes Werk begreifen könne.28 22 23
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Vgl. Mulsow, Den ›Heydnischen Saurteig‹ mit den ›Israelitischen Süßteig‹ vermengt (Anm. 1). Der entlarvte Jacob Böhm/ Oder Gründliche Anzeigung/ wie dessen so genandte Theosophische Schrifften anzusehen/ und woher ihm solche Wissenschaften erwachsen sind […]. O. O. 1693: mit der Chiffre: M. D. (Medicinae Doctor) ZVVISCH I I V D SYLV V VV. Der entlarvte Jacob Böhm (Anm. 23), fol. A2v. Ebd., fol. A2r. Detectio (Anm. 20), 68; zum Fludd-Einfluß schon 62–68. Abraham Heidanus: De origine erroris. Amsterdam 1678. Es geht um die Ausgabe: De origine erroris libri octo. Additi sunt tractatus duo: prior, diatriba de socinianismo; alter, iudicium de universa […]. Amsterdam 1671; vgl. Detectio (Anm. 20), 5.
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Genauso möchte es Heidanus mit dem »Systema Bohemiana« machen, wie er es nennt; er bringt also eine quasi-cartesische Systematizität in die Diskussion. Wenn es in Jöchers Gelehrtenlexikon heißt, Hinckelmann habe nach seinem Tod »im Manuscript [ein] Systema der Theologie Jac. Böhmens« hinterlassen,29 deutet das darauf hin, dass er entweder neben der Detectio eine Kladde über Böhmes »System« führte, aus der er sich für das Buch bediente, oder dass er nach der Detectio (er lebte nach der Publikation des Buches nur noch knappe zwei Jahre) weiter an der systematischen Rekonstruktion Böhmes arbeitete. Jedenfalls bestimmt Hinckelmann in systematischer Weise als »Grund=Irrtum« die »Grund=Lehre so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten«: »GOTT hat alle Dinge/ sichtbare und unsichtbare aus seinem Göttlichen Wesen geschaffen/ dergestalt/ dass Er sie nicht ohne einiger albereit verhandener Materie/ sondern aus sich selbst und seinen eigenen Wesen als einer universal-Materie hervor gebracht.«30 Das war der in Frage 6 bei den Vierzig Fragen angesprochene, in der Tat neuralgische Punkt: Gott schafft nicht aus dem Nichts, sondern aus einer Materie, die zugleich sein eigenes Wesen ist. Systematisch gehört dieser Punkt zum großen Komplex der Trinitätslehre, und so nimmt es nicht wunder, dass die ersten Seiten des Hinckelmann’schen Traktates in den gewohnten anti-sozinianischen Bahnen laufen, in denen damals so vieles an Polemik abgehandelt wurde. Die Seiten gehören bereits zu dem, was Hinckelmann die »Untersuchung« von Böhmes Grundirrtum nennt. Auf knapp 70 Seiten werden in lockerer Weise die Anklagepunkte der Vierzig Fragen durchgegangen, zunächst, um Böhmes Theorien zu verstehen und auch ihren geistesgeschichtlichen Kontext zu eruieren. Dabei scheut sich Hinckelmann nicht vor langen Exkursen. Der längste erfolgt im Zusammenhang mit der in den Vierzig Fragen unbeantwortet gebliebenen Frage 5: Ist Böhmes Lehre von den QuellGeistern in der Heiligen Schrift gegründet? Denn Hinckelmann kann hier mit originären Forschungen zur jüdischen Kabbala aufwarten, anhand eines bisher nicht in der Literatur erwähnten Sefer Meliah (oder besser Sefer Peliah) eines Rabbi Elkana ben Jerucham.31 Der Text gibt vor, aus einer sehr frühen Zeit zu stammen: 29 30 31
Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexikon. Bd. 2. Leipzig 1750, 1613. Detectio (Anm. 20), 1. Vgl. Johann Christoph Wolf: Bibliotheca Hebraea. Bd. 1. Hamburg 1715, 196–200; Bd. 3. Hamburg 1727, 126–128. Von dem angeblichen Verfasser Elkana (Elchanan) ben Jerucham (Jerocham) ben Abigedor weiß man nichts. Aber der Sefer Pelia ist im Zusammenhang mit dem Sefer Kana bekanntgeworden, der vom gleichen Verfasser stammt. Vgl. Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. Bd. 9. Berlin 1932, 866–869, Art. »Kana, Buch«; Heinrich Graetz: Geschichte der Juden. Leipzig 1853–1876. Bd. VIII, 222 f. und 449–455; Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M. 1967, 230 f. Scholem hat betont, dass der Sefer Pelia zur zentralen Lektüre des Sabbatai Zwi gehört hat. Vgl. weiter Joseph Dan: Jewish Mysticism. Bd. II: The Middle Ages. Northvale, NJ 1998; zur neueren Forschung auch Moshe Idel: Messianic Mystics. New Haven 1998, 192 ff. Idel siedelt den unbekannten Verfasser im Zirkel von Joseph Ashkenazi und R. David ben Yehudah he-Hasid an und sieht seine Komposition im byzantinischen Reich. Der Sefer Pelia ist ein Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der Genesis. Scholem (230 f.): »Hier gibt es überhaupt nur noch Symbole, und die Welt der Zeichen bedeutet, wenn unabhängig von den in ihr erscheinenden Symbolen gesehen, gar nichts mehr.«
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um 4000 nach der Weltschöpfung, also etwa 240 nach Christi Geburt. Hinckelmann sammelte – soweit er sie nicht schon geerbt hatte – jüdische, griechische, arabische, syrische und persische Manuskripte und hat in wenigen Jahrzehnten einen beachtlichen Schatz von Texten zusammengetragen, aus dem er für seine Arbeit schöpfen konnte. Anhand des Sefer Peliah kann er sagen, dass zwar die oberen drei Sephirot als die drei Personen im göttlichen Wesen verstanden werden können.32 Die unteren sieben Sephirot aber, so Hinckelmann dezidiert, lassen sich »mit Böhmens Quell-Geistern auch nach der besten Cabalisten Erklährung« nicht »zusammen reymen«.33 Die Trinität, so folgert Hinckelmann aus der von ihm rezipierten Christlichen Kabbalistik, sei nicht vom Platonismus in das Christentum eingeführt worden, sondern bereits den alten Juden bekannt gewesen und von dort ins Christentum übernommen worden.34 Die These vom Platonischen Ursprung der Trinitätslehre, wie sie von einigen Sozinianern und Arminianern vorgebracht wurde, lehnte er entsprechend ab. Man sieht hier, dass das Studium rabbinischer Literatur für Hinckelmann nicht so sehr als das Interesse an einer anderen Religion verstanden werden darf, sondern aus apologetischen Zwecken gegen neuere anti-trinitarische Einwürfe erfolgte. Und auch das Studium islamischer Geistesgeschichte kann, ganz im Sinne eines Theodor Hackspan und anderer, ähnlich apologetische Zwecke gehabt haben, zur Rekonstruktion ursprünglicher biblischer Lehre.35
5. Religionsgeschichte Doch Hinckelmanns Detectio ist nicht nur eine ausführliche Beantwortung der vierzig Fragen mit gelehrten Exkursen. Unter der Hand ist sie ihm zu einer umfassenden religionsgeschichtlichen Abhandlung geworden, sodass sich die ursprüngliche Gliederung nach dem Fragenkatalog überkreuzt mit einer neuen, systematischen Gliederung nach sechs Hauptthesen. Denn auf die 70 Seiten »Untersuchung« folgen nochmals 70 Seiten »Widerlegung«. Diese Widerlegung des Böhme’schen »Grund=Irrtums« nun macht die eigentliche Bedeutung der Schrift aus. Sie gliedert sich in sechs »Beweiß«-Schritte: I: »Diese Lehre ist nicht in den untrüglichen Worte Gottes gegründet.« (70); II: »Diese Lehre streitet mit 32
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Vgl. Sefer Jezirah. Hrsg. v. Johann Stephan Rittangel. Amsterdam 1642. Zur Theorie der Sephirot vgl. Gershom Scholem: Die mystische Gestalt der Gottheit in der Kabbala. Zürich 1961. Detectio (Anm. 20), 20. Zu Böhmes Theorie der Quellgeister vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998, 198–204. Detectio (Anm. 20), 24. Zur Christlichen Kabbala vgl. Christliche Kabbala. Johann Reuchlins Wirkung. Hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Siegmaringen 2003. Vgl. Dietrich Klein: Inventing Islam in Support of Christian Truth: Theodor Hackspan’s Arabic Studies in Altdorf 1642–6. In: History of Universities (ed. M. Feingold) XXV/1 (2010), 26–55.
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der jenigen/ welche in Gottes untrüglichen Worte geoffenbahret ist.« (74). III: »Diese Lehre hält auch nach dem Zeugniß der noch übrigen gesunden Vernunfft viel ungereimte und unzulässige Dinge in sich.« (80). IV: »Diese Lehre hat von denen Heyden ihren Ursprung und ist von uralten Zeiten unter ihnen biß auff den heutigen Tag in Schwange gegangen.« (84). V: »Diese Lehre hat in und außerhalb der Kirchen den Grund zu allen Fanatischen Wesen geleget.« – eine indirekte Beantwortung der Frage 40 (92). VI: »Diese Lehre ist die Mutter und Quelle gewesen der urältesten Abgöttery in der Welt.« (106). Dass Böhmes Lehre nicht offenbarungskonform sei und der Offenbarung zum Teil auch widerspreche, sind erwartbare Argumentationen eines lutherischen Pastors. Dass aber eine Lehre gekonnt aus »uralten Zeiten« hergeleitet wird, geschieht nicht immer oder geht zumindest meist nicht gut. Hinckelmann sieht die Ursprünge des Dualismus mit den Zoroaster zugeschriebenen chaldäischen Orakeln oder Oracula magica und ihrer Feuerverehrung.36 Von dort lässt sich seiner Ansicht nach eine Entwicklung über die Chaldäer zu den Ägyptern erkennen. Von Ägypten aus – da ist Hinckelmann ganz traditionell – habe sich diese problematische Lehre nach Asien und Europa ausgebreitet. Grundlage für solche Großthesen sind zum Teil etymologische Befunde (oder sagen wir lieber: etymologische Spekulationen) über die Bedeutungsgleichheit von arabischen Worten mit griechischen Namen. Orpheus etwa sei über die arabische Wurzel »Arapha« als »weiser Mann« zu verstehen – was zugleich viel sagt über die Kopräsenz der prisca theologia in Europa und im arabischen Kulturraum. Umgekehrt gibt es nach Hinckelmann eine europäische Präsenz der alten astrolatrischen Lehre der Ssabier, die nach Maimonides das eigentliche Urheidentum gebildet haben. Druiden und Barden seien nichts anderes als deren nordwesteuropäische Nachfahren. Und innerhalb der heidnischen Traditionen gebe es eine Strömung von »enthusiastischer« Häresie, die ganz besonders zu Böhme hinführe und in seiner Lehre aufscheine, dass es im Zentrum der Seele ein göttliches Feuer oder Licht gebe. Daraus leiten sich dann (wiederum aus der häretischen »Grundoperation«) die weiteren Thesen her, dass die »Erleuchtung« und »Wiedergeburt« als Erweckung und Befreiung dieses Lichts aus dem Körper und der leiblichen Seele geschieht, dass die Erleuchtung mit einer Prophetie aus Allwissenheit heraus verknüpft ist und dass in diesem Zustand eine Vereinigung des Menschen mit Gott erreicht wird.37 Der Neuplatonismus und dann die Sufi-Mystik haben solche Lehren transportiert. Man erkennt, dass Hinckelmann eine Doktrin, die wir als neuplatonischgnostisch zu bezeichnen geneigt sind, bereits in sehr frühen »orientalischen« Traditionen wurzeln sieht, zum Teil sicherlich bedingt durch die (von heute aus gesehen falsche) Frühdatierung mancher seiner Gewährstexte.38 Den Einfluss des 36 37 38
Detectio (Anm. 20), 84; zu diesem Komplex vgl. Michael Stausberg: Faszination Zarathustra. Zoroaster und die Europäische Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin 1998. Detectio (Anm. 20), 92 f. Man vgl. neuere ›orientalisierende‹ Hypothesen von Rohde bis Burkert: Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Tübingen 5/61910; Walter Burkert: The Orientalizing Revolution. Cambridge (MA) 1992.
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Platonismus – und insbesondere das Faktum der »mit der Schrifft vermengte[n] Platonische[n] Philosophie«, also die Platonisierung des Christentums – versteht er eher als ein spätes, verstärkendes Phänomen, das den enthusiastischen Urtypus mit verführerischer Rhetorik garniert.39
6. Familiengeheimnisse Als Hinckelmanns Detectio erschienen war, gab er einige Exemplare des Druckes an Freunde. Einer von ihnen war Detlev Marcus Friese, ein ehemaliger gräflichrantzauischer Rat und Bibliothekar, Mitglied des Collegium imperiale historicum.40 Friese benutzte die Gelegenheit, mit Hinckelmann über Böhme zu reden. Hinckelmann vertraute ihm an, dass Böhme keine Zeile von allen solchen Schriften gemacht; Der ein guter einfältiger Bürger und Handwercker gewest/ dabey aber die Biebel und andere geistliche Bücher viel gelesen/ bey seinem sehr Christlichen und exemplarischen Leben/ männiglich daraus und zur Lebens-Besserung vorgeschwätzet/ und dahero sich bey seines Geleichen in Verwunderung/ bey anderen in Ruff besonderer Wissenschaft gebracht. Als inzwischen der Pastor selbigen Orts/ Walter/ ein sehr gelahrter/ und in Philosophia verschlagener Mann/ welcher sonderlich hierbey die Arabischen Schriften wol gelesen/ und sich zu nutzen gemachet/ in besondere Speculationes/ verfallen/ und davon zu Papier/ folgends zum Druck gebracht/ hätte selbiger (um nicht erkannt/ gefeindet und verfolget zu werden) jenes Namen gebraucht/ doch mit dessen Bewilligung/ welcher dadurch ein Enthusiast und sonderliche Offenbarungen zu haben/ geglaubet worden. Als aber der Pastor fortgefahren mehres zu schreiben/ und er darüber in Verdacht und starcke Verfolgung gekommen/ hätte er gar von dort weichen/ ja seinen Namen aus Walter in Hinkelmann ändern müssen/ wäre weiter in solche Drangsal gerathen/ daß er seine Kinder müssen ein Handwerck/ und referentis h. e. Hinckelmanni Vater die ApothekerKunst lernen lassen.41
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Detectio (Anm. 20), 93 f.; S. 94 zitiert Hinckelmann Gregor von Nazianz Orat. XXII mit den Worten: »Die Bezauberungen der Platonischen Wohlredenheit/ sind zum Unglück in unsere Kirche/ nicht anders als Egyptische Plagen/ gekommen.« Zur Perspektive des Platonismus vor dem Hintergrund des Orients vgl. Udo Reinhold Jeck: Platonica Orientalia. Aufdeckung einer philosophischen Tradition. Frankfurt a. M. 2004. Zu Friese (1634–1710) vgl. Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 1. Kopenhagen 1744, 198 f.; Seine Bibliothek und Briefe hat er an die Marienstift-Bibliothek in Stettin vermacht. Vgl. die biographischen Angaben in Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke. Bd. 1: Briefwechsel. Hrsg. v. Detlef Döring. Berlin 1996, 391. Friese hatte Kontakte zu Leibniz, Pufendorf, Paullini, Boecler u. a. Vincentius Placcius: Theatrum anonymorum et pseudonymorum. Hamburg 1708, Tl. II: De scriptis pseudonymis, 582. Ich danke Carlos Gilly, dass er mich bei der Tagung auf die familiären Beziehungen Walther – Hinckelmann aufmerksam gemacht hat. Vgl. auch Carlos Gilly: Zur Geschichte und Überlieferung der Handschriften Jacob Böhmes. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007, 39–54; ders.: Zur Geschichte der Böhme-Biographien des Abraham von Franckenberg. In: Ebd., 329–364 (und Anm. 440–445, bes. Anm. 42 auf 444).
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Das ist eine abenteuerliche Geschichte, die Hinckelmann da Friese erzählt, eine Geschichte, die von Dissimulation, Verfolgung und Identitätswechsel handelt. Hinckelmann bat seinen Zuhörer dabei, »solche vertrauliche Nachricht unter uns beyde bleiben zu lassen/denn es ihme bey damaliger Zeit grossen Verdruß machen würde […].«42 Das war klar, denn die mögliche direkte Verbindung Hinckelmanns zu Böhme war von großer Explosivität. Dabei hatte Hinckelmann in der Detectio bereits angedeutet, dass er Böhmes Schriften nicht als von diesem selbst verfasst ansehe. Dort allerdings hatte er den Verdacht auf Tobias Kober gelenkt: Ich mag hierbey nicht läugnen/ daß ich in meiner von einigen Jahren her geführten Meynung/ daß Böhmes Weißheit aus Fluddi Operibus geholet sey/ nicht wenig gestärcket worden/ als ein vornehmer und in der Natur hoch-erfahrner Mann/ der auf einer berühmten Evang. Universität mit grossen Nutzen und Ruhm lebet/ als ich eben über dieser Arbeit war/ und Fluddi Schriften vor mir liegen hatte/ an mich schrieb/ und mir aus unverdienter Liebe einige dubia über meine herausgegebene Fragen communicirte/ unter anderem auch einige loca aus den Flud (den er aber nicht anders als unter den Namen eines grossen Philosophi mir bedeutete) anzog/ und dabey schrieb: Er getraute ihm das Juramentum credulitatis abzulegen/ es wären J. Böhmes Schriften auß niemand anders/ als auß diesen Philosopho fundamentaliter und originaliter genommen/ und zwar von D. Tobia Kobero, alß der mit Böhmen vertraut umbgegangen/ und sonder Zweiffel damahls schon diese principia auß dem neuen PhilosophoMedico genommen/ die er aber auß Furcht selbst zu publiciren ihm nicht getrauet hat: gestalt er ein gelahrter/ curiöser und frommer Mann gewesen/ wie seine Scripta Medica bezeugen. Wobey ich gerne gestehe/ daß auch durch Böhmen viel mag confundiert worden seyn.43
Hier verschweigt Hinckelmann – auch wenn er die Passage ostentativ an das Ende des ersten Teils setzt –, dass er nicht Kober, sondern Walther für den eigentlichen Vermittler der Spekulationen eines Fludd und anderer an Böhme hielt. Zusammengenommen aber besagen die Passage aus der Detectio und die Briefmitteilung Frieses, dass Hinckelmann auf jeden Fall auf einen gelehrten Mann im Umkreis Böhmes als Verfasser setzte; er selbst wohl mehr auf Walther, andere auf Kober. Er konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass der Schuster aus Görlitz seine Schriften, die voll von Bezügen auf komplexe alte Traditionen waren, selber geschrieben habe. Was aber ist von Hinckelmanns Rekonstruktion seiner eigenen Familiengeschichte in Verknüpfung mit der Geschichte der Entstehung von »Böhmes« Werken zu halten?44 Abraham Hinckelmann ist am 2.5.1652 in Döbeln (Mittelsachsen) geboren (aber im Taufbuch nicht zu finden). »Sein Vater soll Martin H. geheißen und Senator und Apotheker in Döbeln gewesen sein; seine Mutter wird Anna, geb. Dreißig, genannt.« Martin Hinckelmann wiederum war der Sohn von Benedikt Hinckelmann, einem kurfürstlichen Leibarzt und Hofalchemisten in Dresden, der in der Tat Böhme gut kannte. Martins Schwester war Ursula Victoria
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Ebd. Detectio (Anm. 20), 68. Vgl. dazu auch Martin Mulsow: Die Aufklärung der Enkel. Familiendynamik und Ideengeschichte – drei Fallbeispiele. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 170, 23.7.2011, 26. Ich übernehme daraus einige Passagen.
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Hinckelmann.45 In welchem Verhältnis Benedikt Hinckelmann wiederum zu Balthasar Walther stand, ist unklar. War Hinckelmann Walthers Stiefbruder?46 War er der Schwager von Walther?47 Es scheint, dass irgendeine enge Verbindung tatsächlich bestanden haben muss – wenn auch keine Identität. Hinckelmanns abenteuerliche Vermutung, Walther habe seinen Namen in Hinckelmann geändert, um sich vor Verfolgung zu schützen, ist seltsam. In Frieses Bericht scheint einiges durcheinander zu gehen (hat sich Friese falsch erinnert oder hatte Hinckelmann selbst so unklare Informationen?): Walther ist dort Pastor in Görlitz, nicht Arzt. Man könnte sich fragen, ob es sich um einen Bruder Walthers handeln könne, aber das ist unwahrscheinlich, denn da Hinckelmann behauptet, Walther habe »die arabischen Schriften wol gelesen«, ist wohl doch auf Balthasar Walther mit seiner Orient-Reise Bezug genommen. Placcius, der den Friese-Brief in seinem Theatrum anonymorum et pseudonymorum abdruckt, hat sich bei Heinrich Dornemann erkundigt, dem Archidiakon von St. Nicolai in Hamburg, der ihm 1696 bestätigt hat, dass in Hinckelmanns Bibliothek tatsächlich immer noch Böhme-Manuskripte zu finden wären.48 Das nimmt Placcius – wie auch die Erwähnung Benedikt Hinckelmanns in einem Böhme-Brief – als Bestätigung, dass Hinckelmann Recht haben könne. Er bemüht sich dabei um größtmögliche Transparenz und Glaubwürdigkeit, da er weiß, dass seine Offenlegungen erhebliche Wirkung auf die Hamburger Öffentlichkeit haben mussten und viele sonst den Verdacht hätten, hier würde das Ansehen des verstorbenen Pastors in den Schmutz gezogen.49 45
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Aus dem Jahr 1667 findet sich im Stadtmuseum Ingolstadt eine Urkunde (Urk. A 633), auf der ein Benedictus Hinckelmann unterschreibt, der Apotheker ist wie B. Hinckelmann d. Ä., allerdings Assistent der Bruderschaft Maria de Victoria in Ingolstadt. Ob es sich dabei um einen – womöglich älteren – Bruder A. Hinckelmanns handelt, der die Profession seines Vaters ausübte und nach dem Großvater benannt war, allerdings zum Katholizismus konvertierte? Oder einen Bruder des Vaters, Martin Hinckelmann? So Penman, Ein Liebhaber (Anm. 12), aber ohne Gründe zu nennen. Gilly (Anm. 41), 47, schreibt, Walther sei mit B. Hinkelmann verschwägert gewesen. Auf welche Weise? Ist die Schwester des einen mit dem anderen verheiratet gewesen? Dann hätte A. Hinckelmann ja tatsächlich familiäre Bande zu Walther. Aber kann die innerfamiliäre Überlieferung so schlecht gewesen sein, dass A. Hinckelmann zu einer völlig falschen Vermutung über einen Identitätswandel von Walther zu B. Hinckelmann kommen konnte? Vgl. auch Carl Brockelmann: Katalog der orientalischen Handschriften in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Die arabischen, persischen, türkischen, malaiischen, koptischen, syrischen und äthiopischen Handschriften. Hamburg 1908, Ndr. 1969, Nr. 80. Hinckelmanns eigener handgeschriebener Katalog seiner Manuskripte befand sich ebenfalls in der SUB Hamburg, Cod. hist. litt. 42, 1–19. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist er verschollen. Nach Hinckelmanns Tod wurde ein gedruckter Katalog herausgegeben: Johann Gottfried Starcke: Bibliotheca manuscripta Abrahami Hinckelmanni. Hamburg 1695 (in SUB Hamburg unter der Signatur AB 203 war Johann Christoph Wolfs Handexemplar des Katalogs vorhanden, in den er seine eigenen Signaturen eingetragen hat [allerdings Kriegsverlust]; Wolf hat Hinkelmanns Manuskripte von J. Morgenweg aufgekauft). Placcius (Anm. 41), 582f: »Quod testimonium [von Dornemann] 1696. D. 7. Novembris vir omni fide dignissimus datum permisit hic publice memorare: cum mortuo nocere amplius non possint, nec intersit publice tantam rem una non sepeliri cum sepulto. […] Illius etiam ibidem [im Böhme-Brief] memorati Hencelmanni Benedicti, praenomen fuisse, ipsumque Medicum professione, ex Clarissimo J. U. Candidato fori nostril Procuratore et Advocato
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Überhaupt ist der Hamburger Kontext bei all dem entscheidend. Wichtig ist es vor allem, sich Abraham Hinckelmanns Innenperspektive zu vergegenwärtigen – die eines Mannes, der mitten im brodelnden Hamburger Pietismusstreit zur Überzeugung kam, er selbst wäre der Enkel des Verfassers der anstößigen Schriften, an denen sich die gewalttätigen Wirren in der Hansestadt entzündet hatten. Und er durfte dies auf keinen Fall verraten, sonst wäre er entweder gelyncht oder zumindest als automatischer »Böhmianer« angeprangert worden. Dabei machte Hinckelmann – so muss man es wohl interpretieren – in den Jahren zwischen 1691 und 1694 einen schmerzhaften Ablösungsprozeß von der eigenen Familiengeschichte durch. Im Zuge seiner gelehrten Auseinandersetzung mit Böhmes Philosophie rang er sich in den Vierzig Fragen und mehr noch in der Detectio zu einer fundierten, religionsgeschichtlich argumentierenden Kritik durch, die Böhmes Lehre als Nachfahrin von uralten Grundirrtümern aus Zeiten der alten Perser und der Gnosis sah. Er war hin- und hergerissen zwischen Familienloyalität, auch der Loyalität zu den Spenerianern einerseits – und der Orthodoxie andererseits. In einem Brief an Spener vom März 1690 hat sich Horb jedenfalls darüber beklagt, dass Hinckelmann bezüglich Böhmes »sehr schwanke«.50 Er schwankte zwischen Wincklers Ablehnung und Horbs Sympathie. 1691 fing er eine vertrauliche Korrespondenz mit Johann Benedikt Carpzov an, dem Leipziger Theologen und Pietisten-Gegner,51 und ging auch mit Johann Friedrich Mayer, seinem alten Freund, wieder vertraulicher um.52 Offenbar gibt es in diesen Jahren eine langsame Abkehr vom Pietismus, möglicherweise nicht zuletzt wegen menschlicher Unzulänglichkeiten Horbs. 1693 allerdings wird Hinckelmann durch Mayers Unmäßigkeit im theologischen Streit wieder in das Lager und zu einer Parteinahme für Horb zurückgetrieben.53 Im Juni 1693 – die Detectio war im April erschienen – gab es ja sogar Morddrohungen auf der Kanzel gegen Horb.
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celeberrimo amico meo singulari et viro optimae fidei, ac viduae Dni Doctoris et Pastoris Hinckelmanni, hic demortui, superstitis, Curatore legitime confirmato, m. Augusti 1698. coram addidici, et confirmatum aliquoties audivi.« Die Passage bestätigt im Übrigen die für die naturwissenschaftliche Kultur aufgestellte These Stephen Shapins, dass Glaubwürdigkeit im späten 17. Jahrhundert zu einer Schlüsselkategorie wird – nicht nur in Naturwissenschaft und Technik, sondern – vor allem bei einem so bewußt öffentlich innerhalb der Gelehrtenrepublik agierenden Mann wie Placcius – auch im Bereich der Historia literaria. Vgl. Steven Shapin: A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England. Chicago 1994. Zu Placcius’ »Öffentlichkeit« Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2007, 217–246. Horb an Spener, 19. März 1690, Archiv der Franckeschen Stiftungen A 139, zit. n. Rückleben (Anm. 6), 112. Hier wären die Briefe zwischen Carpzov und Hinckelmann aufzufinden. Anfragen von mir in an die UB Leipzig und SUB Hamburg wurden negativ beschieden. Zu Carpzov (1639–1699) vgl. Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzov (1639–1699). Hrsg. v. Stefan Michel u. Andres Straßberger. Leipzig 2009. Horb an Bielefeld, 16.Juli 1691, SUB Hamburg Sup.ep. 26,44. Zit. n. Rückleben (Anm. 6), 130. Vgl. Rückleben (Anm. 6), 130 f.
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Was heißt all dies für die Situierung von Hinckelmanns Verhältnis zu Böhme? Die Vierzig Fragen und die Detectio fallen beide in die Zeit von Hinckelmanns Wiederannäherung an die Orthodoxie. Berücksichtigen wir dabei Hinckelmanns Vorstellung von seiner eigenen Familiensituation – nämlich der leibliche Enkel des Verfassers der Böhme’schen Schriften zu sein –, dann sind diese Jahre der Wiederannäherung an die Orthodoxie und der sicherlich schmerzhaften Abkehr von der eigenen familiären Herkunft eine Abkehr, die durch die Publikation halb coram publico vollzogen wurde. Halb insofern, als nur wenigen Eingeweihten Hinckelmanns familiärer Hintergrund (oder das, was er für ihn hielt) bekannt war. Umso mehr muss ein ungeheurer Druck auf ihm gelastet haben, in der aufgeheizten polemischen Situation Hamburgs auch noch jemand zu sein, der jederzeit als »Böhme-Enkel« hätte bloßgestellt und angeprangert werden können. Daher ist es nur zu verständlich, wenn Hinckelmann Friese um strenges Stillschweigen bittet. Zu dieser Abrechnung mit dem eigenen Erbe passt der Umstand, dass just im Jahr 1692, als Hinckelmann die Vierzig Fragen erscheinen lässt, Benedict Hinckelmanns theosophische Manuskriptsammlung zum Verkauf angeboten wird.54 Hat Abraham Hinckelmann Einfluß auf diese Sammlung gehabt? Sie war – so vermutet Carlos Gilly55 – nach dem Tod seines Großvaters an den Schwiegersohn Andreas Gantzland gegangen, den Mann seiner Tochter Ursula Veronica. Gantzland war 1663 in Dresden gestorben. Wohin die Sammlung danach gegangen ist, ist nicht ganz klar. Es scheint aber durchaus möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass Abraham Hinckelmann Kontakt zu seiner Tante hatte und sie zum Verkauf bewegte.56 Vielleicht war die Abwendung vom Familienerbe ein Prozess, der die ganze Familie beschäftigte. Hat sich die Familie auf unauffällige Weise ihres belastenden Erbes entledigen wollen? War es mehr als nur Vorsicht, sondern für Abraham Hinckelmann selbst ein demonstrativer Akt der Trennung, der Verabschiedung seines Erbes? Hat er geglaubt, einige kabbalistische und arabische Manuskripte aus dem Familienbesitz stammten unmittelbar von Walther und hätten nicht nur auf Böhme gewirkt, sondern Walther beim Verfassen der Schriften, die 54
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Vgl. die Auflistung in Wilhelm Ernst Tentzels Monathlichen Unterredungen von 1692, 258–274; vgl. Gilly (Anm. 41), 48 u. 53. Ein großer Teil der Sammlung wurde offenbar durch Hermann von der Hardt für die Universitätsbibliothek Helmstedt angekauft. Hardt hatte 1689/90 mit Hinckelmann korrespondiert. Von 1689 und 1690 gibt es drei Briefe des pietistisch sozialisierten Orientalisten Hermann von der Hardt an Hinckelmann; Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Ms. K 328. Von der Hardt war in diesen Jahren seit kurzer Zeit Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Helmstedt. Aus Gillys, Fußnoten 405 f., wird nicht ganz klar, warum Gilly vermutet, dass die Handschriftensammlung von B. Hinckelmann an Gantzland ging und nicht über Martin H. an Abraham H. Auf jeden Fall müßte wohl noch geklärt werden, ob und wie die Böhme-nahen Handschriften, die A. Hinckelmann benutzt hat (cf. Detectio), in seinen Besitz gekommen sind. Auch durch den Großvater Benedikt Hinckelmann? Ist dessen Sammlung dann aufgespalten worden in einen Teil, der an die Tochter Ursula bzw. Gantzland ging und einen Teil, der an Sohn Martin Hinckelmann und dann weiter an dessen Sohn Abraham Hinckelmann ging? Ein Indiz dafür könnte sein, dass gerade Hinckelmanns Korrespondent von der Hardt einen Teil der Bibliothek aufkaufte. Vgl. Anm. 54.
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dann unter Böhmes Namen zirkulierten, beeinflusst? Dann wären Hinckelmanns Betrachtungen über solche Manuskripte in der Detectio in ganz neuem Licht zu sehen. Auf jeden Fall muss sich Hinckelmann dabei in hohem Maße ambivalent gefühlt haben. Noch immer behielt er bei sich ja den großen Schatz an orientalischen und kabbalistischen Handschriften, den er selbst aus dem Besitz seines Großvaters geerbt hatte und weiterhin um neue Handschriften vermehrte. Aus Familientradition war er ein ausgewiesener Kenner der Kabbala und gab in Nebensätzen auch zu, dass er die jüdische Mystik schätzte. Also hat Hinckelmann einen inneren Spagat unternommen, wenn er dennoch Böhmes Kabbalistik ablehnte und sich zunehmend auf die Seite der Orthodoxen schlug. Erst als deren Matador Mayer so weit ging, Hinckelmanns Kompagnon bei der Ablehnung des Eides, Horb, jenseits allen gesellschaftlichen Anstandes niederzumachen, als Horb dem Stress nicht mehr gewachsen war und starb, schwenkte Hinckelmann nochmals um und hielt es – aus Solidarität – wieder mit den Pietisten.
7. Desiderate Ich komme zum Schluss. Hinckelmanns in der Detectio versteckte skizzenhafte Religionsgeschichte ist sein Vermächtnis. Johann Christoph Wolf hat es zehn Jahre später dankbar aufgenommen und im Manichaeismus ante Manichaeum weitergeführt.57 Vermächtnis ist die Skizze geblieben, weil Hinckelmann schon zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Detectio tot war, niedergestreckt vom Ärger der hocherhitzten Pietismus-Streitigkeiten. Ein gutes halbes Jahr nach Erscheinen der Detectio, am 24. November 1693, wurde auf einer tumultuarischen Versammlung der Bürgerschaft, unter Anführung von Johann Friedrich Mayer, die Absetzung Horbs beschlossen, der unter anderem ein Buch des französischen Mystikers Pierre Poiret auf Deutsch herausgebracht hatte.58 Nachdem Horb Ende Januar 1695, wie erwähnt, ein gesundheitliches Opfer der bis aufs Messer gehenden und die Stadt bis an den Abgrund des Bürgerkriegs spaltenden Kontroverse geworden war, erlitt Hinckelmann am 11. Februar desselben Jahres einen Blutsturz und starb. Die Schmähschrift, die der letzte Sargnagel für Hinckelmann war und seinen Blutsturz auslöste, kam nicht einmal von orthodoxer, sondern von radikalpietistischer Seite und war ein anonymes Machwerk von Johann Wilhelm Petersen: Stimme des Herrn an D. Abrah. Hinckelmann, Pastoren in Hamburg, als er sich mit Feigenblättern in seinem Entschuldigungsschreiben bedeckte.59 So wurde Hinckelmann zwischen den Fronten zerrieben. 57
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Vgl. Martin Mulsow: Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg. In: 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hrsg. v. Anselm Steiger. Berlin 2005, 81– 112; Ralph Häfner: Die Fässer des Zeus. Ein homerisches Mythologem und seine Aufnahme in die Manichäismusdebatte in Deutschland am Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Scientia Poetica 1 (1997), 35–61. Vgl. Rückleben (Anm. 6). O. O. 1694.
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Ein Desiderat der Forschung bleibt – neben der verwickelten Familiengeschichte –, das genaue Verhältnis der Hamburger »pietistischen« Häresiologie zur »orthodoxen« Leipziger zu klären. Dabei sollte klar sein, dass inhaltlich-theologische Differenzen zwischen diesen scheinbaren Lagern nicht bestehen, allenfalls Unterschiede im Ton des Umgangs mit den Häretikern.60 Hat Hinckelmann Jakob Thomasius mit seinen einflussreichen Häresie-Genealogien in dessen Schediasma historicum von 1665 rezipiert?61 Hat er Ehregott Daniel Colbergs monumentales Platonisch-Hermetisches Christenthum, 1690/91 erschienen und stark von Thomasius abhängig, gekannt?62 Beide Autoren werden mit keiner Silbe erwähnt. Das ist erstaunlich, da hier doch thematisch eine solche Nähe zu Hinckelmanns Religionsgeschichte vorliegt und man in Hamburg sehr genau verfolgte, was im übrigen Deutschland erschien. Durchaus zitie