Offenbarung und Episteme: Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert 9783110288612, 9783110288230

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Offenbarung und Episteme: Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert
 9783110288612, 9783110288230

Table of contents :
Einleitung
I. Phasen der Böhme-Rezeption im 17. Jahrhundert
Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger. Die zentralen Argumente der Streitschriften von ihren Anfängen zu Lebzeiten Böhmes bis zum Ende des 17. Jahrhunderts
Jacob Böhmes polemischer Konflikt mit Gregorius Richter
Böhme’s Student and Mentor: the Liegnitz Physician Balthasar Walther (c.1558–c.1630)
Ein Politiker als Böhmist. Johann Angelius Werdenhagen (1581–1652) und seine Psychologia Vera J[acobi] B[öhmii] T[eutonici] (1632)
Konvergenzen in der ›poetischen‹ Böhme-Rezeption Abraham von Franckenbergs und Daniel Czepkos
Böhme-Rezeption am Hof von Christian August von Pfalz-Sulzbach
Heilsbedeutung und spekulative Alchemie. Böhme-Rezeption bei Quirinus Kuhlmann
Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit
The Reception of Jacob Böhme and Böhmist Theosophy in the Geheime Figuren der Rosenkreuzer
Die Evidenz der mystischen Schau. Pierre Poirets Aufnahme Jacob Böhmes im Kontext der Querelle du pur amour
Böhme-Rezeption in England und deren Rückwirkung auf den frühen deutschen Pietismus. Jane Lead und das Ehepaar Petersen
Jakob Böhmes »göttliche Sophia« und Emanzipationsansätze bei pietistischen Autorinnen
Die Rezeption Böhmes durch den Zürcher Pietisten Johann Heinrich Locher. Eine mikrohistorische Untersuchung über die Bedeutung Böhmes
Jacob Böhmes Rettung. Friedrich Brecklings Anticalovius (1688) als Apologie des mystischen Spiritualismus
Abraham Hinckelmann und die Genealogie von Böhmes »Grund=Irrtum«
Fromme Irrlehren. Zur Böhme-Rezeption bei More, Newton und Leibniz
»Pythagorische Lehrsätze«. Schwärmerkritik und Konsensdenken bei Daniel Colberg, Heinrich Wilhelm Clemm und Friedrich Christoph Oetinger
II. Die Wirkungsgeschichte Böhmes bis an das Ende des 18. Jahrhunderts
Streitbare Irenik. Religiöse Toleranz, poetische Kritik und die Reflexion religiöser Diversität bei Jakob Böhme und Johann Conrad Dippel (1673–1734)
Das Bild Jakob Böhmes im Unterricht Hoher Schulen deutschsprachiger Länder (1670–1740)
»Tanta verborum confusione«. Die Rezeption von Franckenbergs Bericht durch Arnold und Mosheim
Die »große Reinigung« vom »gemeinen Geiste«. Zu den Umständen der Entstehung der dritten Böhme-Gesamtausgabe 1730/31 und zu ihrem philologischen Ertrag
Jacob Böhme in der Historia literaria – mit einem Blick auf Jacob Bruckers kritische Philosophiegeschichte
Die Rezeption des englischen Böhmismus im Leibniz-Wolffianismus (Canz, Ploucquet, Schelling sen.)
Theosophie in der Aufklärung. Friedrich Christoph Oetinger
Jacob Böhme und Karl Philipp Moritz
Gegenaufklärung und Böhme-Rezeption in Frankreich: Louis Claude de Saint-Martin
Abendvortrag
Vernunftdiktatur und Sprachdiktatur. Jakob Böhme bei Gottsched und Adelung
Register
Autorinnen und Autoren

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Frühe Neuzeit Band 173

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Offenbarung und Episteme Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert

Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt

De Gruyter

In memoriam Theodor Mahlmann (1931–2011)

ISBN 978-3-11-028823-0 e-ISBN 978-3-11-028861-2 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

%LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/ Boston Satz: Tiesled Satz & Service, Köln Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

WILHELM KÜHLMANN/FRIEDRICH VOLLHARDT Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I. Phasen der Böhme-Rezeption im 17. Jahrhundert SIBYLLE RUSTERHOLZ Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger. Die zentralen Argumente der Streitschriften von ihren Anfängen zu Lebzeiten Böhmes bis zum Ende des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . .

7

BO ANDERSSON Jacob Böhmes polemischer Konflikt mit Gregorius Richter . . . . . . . . . . .

33

LEIGH T. I. PENMAN Böhme’s Student and Mentor: the Liegnitz Physician Balthasar Walther (c.1558–c.1630) . . . . . . . . . . . .

47

JOST EICKMEYER Ein Politiker als Böhmist. Johann Angelius Werdenhagen (1581–1652) und seine Psychologia Vera J[acobi] B[öhmii] T[eutonici] (1632) . . . . . . . . . . . . . . .

67

JAN MOHR Konvergenzen in der ›poetischen‹ Böhme-Rezeption Abraham von Franckenbergs und Daniel Czepkos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

ROSMARIE ZELLER Böhme-Rezeption am Hof von Christian August von Pfalz-Sulzbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 HARALD HAFERLAND Heilsbedeutung und spekulative Alchemie. Böhme-Rezeption bei Quirinus Kuhlmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

VI JOACHIM TELLE Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit . . . . . . . 165 THEODOR HARMSEN The Reception of Jacob Böhme and Böhmist Theosophy in the Geheime Figuren der Rosenkreuzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 RALPH HÄFNER Die Evidenz der mystischen Schau. Pierre Poirets Aufnahme Jacob Böhmes im Kontext der Querelle du pur amour . . . . . . . . . . . . . . . . 207 BURKHARD DOHM Böhme-Rezeption in England und deren Rückwirkung auf den frühen deutschen Pietismus. Jane Lead und das Ehepaar Petersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 LUCINDA MARTIN Jakob Böhmes »göttliche Sophia« und Emanzipationsansätze bei pietistischen Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 KASPAR BÜTIKOFER Die Rezeption Böhmes durch den Zürcher Pietisten Johann Heinrich Locher. Eine mikrohistorische Untersuchung über die Bedeutung Böhmes . . . . 259 JOHANN ANSELM STEIGER Jacob Böhmes Rettung. Friedrich Brecklings Anticalovius (1688) als Apologie des mystischen Spiritualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 MARTIN MULSOW Abraham Hinckelmann und die Genealogie von Böhmes »Grund=Irrtum« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 ERIC ACHERMANN Fromme Irrlehren. Zur Böhme-Rezeption bei More, Newton und Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . 313 FRIEDRICH VOLLHARDT »Pythagorische Lehrsätze«. Schwärmerkritik und Konsensdenken bei Daniel Colberg, Heinrich Wilhelm Clemm und Friedrich Christoph Oetinger . . . . . . . . . . 363

VII

II. Die Wirkungsgeschichte Böhmes bis an das Ende des 18. Jahrhunderts

KRISTINE HANNAK Streitbare Irenik. Religiöse Toleranz, poetische Kritik und die Reflexion religiöser Diversität bei Jakob Böhme und Johann Conrad Dippel (1673–1734) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 HANSPETER MARTI Das Bild Jakob Böhmes im Unterricht Hoher Schulen deutschsprachiger Länder (1670–1740) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 CECILIA MURATORI »Tanta verborum confusione«. Die Rezeption von Franckenbergs Bericht durch Arnold und Mosheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 GÜNTHER BONHEIM Die »große Reinigung« vom »gemeinen Geiste«. Zu den Umständen der Entstehung der dritten Böhme-Gesamtausgabe 1730/31 und zu ihrem philologischen Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 DIRK WERLE Jacob Böhme in der Historia literaria – mit einem Blick auf Jacob Bruckers kritische Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 HANNS-PETER NEUMANN Die Rezeption des englischen Böhmismus im Leibniz-Wolffianismus (Canz, Ploucquet, Schelling sen.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 FRIEDEMANN STENGEL Theosophie in der Aufklärung. Friedrich Christoph Oetinger . . . . . . . . . . 513 ALBERT MEIER Jacob Böhme und Karl Philipp Moritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 MARTIN SCHMEISSER Gegenaufklärung und Böhme-Rezeption in Frankreich: Louis Claude de Saint-Martin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561

VIII

Abendvortrag

WILHELM KÜHLMANN Vernunftdiktatur und Sprachdiktatur. Jakob Böhme bei Gottsched und Adelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617

Einleitung

In der New History of German Literature (2004) wird in einem eigenen Kapitel Jakob Böhme porträtiert, »who came to produce a body of work of enormous intellectual abundance and impressive eccentricity […]. The influence his work exercised in both longevity and breadth is amazing.« Hier wie in vergleichbaren Handbuchartikeln wird neben den Schriften des Autors, die viele Disziplinen berühren (Literatur-, Religions- und Wissenschaftsgeschichte, Theologie, Philosophie), stets auch die gesamteuropäische Bedeutung erwähnt, und dies nicht ohne Grund: Es handelt sich um eine unabsehbare Wirkung, die vom 17. bis weit in das 20. Jahrhundert reicht. Über das 18. Jahrhundert und die Romantik bis hin in die literarische Moderne lassen sich Böhmes Spuren, dabei oft zugleich die des Hermetismus, verfolgen. Während wir über manche dieser Rezeptionsstationen inzwischen wenigstens punktuell gut informiert sind und auch die hermetischen Strömungen der Frühen Neuzeit in den letzten Jahren verstärktes wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen haben, fehlt es an einer Darstellung, welche die verzweigten und konträren Auseinandersetzungen um und mit Böhme genauer erfasst. Der vorliegende Band möchte hier, wenn nicht eine Lücke zur Gänze schließen, so doch einige wichtige Erkenntnisschneisen in ein oft noch unerschlossenes kulturgeschichtliches Dickicht schlagen, dabei auch die ältere verstreute Forschung sichten und aufnehmen. Die hier zusammengestellten Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die vom 21. bis 24. April 2010 in München stattfand. Der erste Abschnitt der Wirkungsgeschichte Böhmes umfasst den Zeitraum zwischen 1620 und ca. 1790; er wird hier erstmals auf breiter Grundlage untersucht und dargestellt. Eine der Leitfragen war dabei, ob Rationalität verschiedene Formen haben kann und wie das Œuvre Böhmes in dieser Hinsicht einzuordnen ist und eingeordnet wurde. Lassen sich unter dem von William James geprägten Begriff des ›Subuniversums‹ geschlossene Sinnwelten beschreiben, deren Geltung völlig unabhängig davon ist, ob sie mit unserem Wissen oder dem Alltagsverstand und seiner Wirklichkeit in irgend einem Zusammenhang stehen? Das betrifft die theoretische Physik ebenso wie die Symbolwelten der Dichtkunst. Für kaum einen Bereich der Literatur-, Wissenschafts- und Religionsgeschichte scheinen diese Überlegungen einen größeren heuristischen Wert zu besitzen als für die magisch-hermetischen Traditionen der Frühen Neuzeit, in denen Böhme steht. Uns geht es dabei nicht um ein aus seinen Werken entwickeltes neues Bild des Theosophen, sondern um eine empirisch-histo-

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Wilhelm Kühlmann / Friedrich Vollhardt

rische Bestandsaufnahme der verschiedenen Denkkonzeptionen, in denen Böhmes Schriften bei diversen Autoren zur Geltung kamen. Hier lässt sich auch zeigen oder zumindest erahnen, welche Bedeutung diese mit der mechanistischen Naturwissenschaft konkurrierende theosophisch-hermetistische Weltsicht für die Entwicklung des modernen Denkens insgesamt hat. Dieser Befund hat zu Kontroversen geführt: Die mit Frances A. Yates verbundene These (»through magic to science«) ist nicht unwidersprochen geblieben. Denn die zu einer – um einen Begriff von Brian Vickers aufzunehmen – »mystical philology« führende Natursprachenlehre Böhmes kann auch, systematisch betrachtet, als Ausdruck einer Mentalität verstanden werden, die von unserer Wissenschaftskultur prinzipiell unterschieden und mit dieser inkommensurabel ist. Lehnt man den Relativismus in der Frage nach den Prinzipien der Rationalität ab, lässt sich eine theoriegeschichtliche Einordnung (und Bewertung) der Böhme’schen Position gewiss in einer vom modernen Rationalismus diktierten Weise vornehmen. Sie läuft allerdings Gefahr, den theoretischen Anspruch und die innere Schlüssigkeit des alternativen Paradigmas zu verkennen. Im Gegenzug ist daher vorgeschlagen worden, die spezifische Erkenntnisleistung des Analogiedenkens zu untersuchen und die Hermetik als eigenen Rationalitätstyp zu klassifizieren. Beide Sichtweisen neigen zur Generalisierung. Zu überlegen ist mit Thomas Leinkauf, ob man dem Denktyp, welchem die Schriften Böhmes zuzuordnen sind, nicht eher gerecht wird, wenn man dessen Intention als eine auf Konsistenz zielende und insofern rationale Form der Selbstverständigung des Menschen in einer von Krisen bestimmten Phase der frühneuzeitlichen Religionsgeschichte zu fassen versucht. Um die verschiedenen Stufen und scharf konkurrierenden Positionen in der Rezeption Böhmes zu beschreiben, mussten auseinanderstrebende Disziplinen und Methoden vereinigt und ein tiefgestaffeltes Quellenmaterial ausgewertet werden. Einer solchen diachronen Synopse sollte das – zunächst einteilige – Tagungsprojekt dienen (eine Fortsetzung ist vorgesehen). Unsere Aufgabe bestand zunächst darin, die kontrastiven und konfliktreichen Rezeptionswege und -modalitäten sowie Positionsnahmen in der Auseinandersetzung mit Böhme in gegenseitiger Beleuchtung und im Œuvre wichtiger kultureller Repräsentanten zu erhellen und in den jeweiligen mentalen, diskursiven, literarischen, medialen und sozialen Konstellationen zu verankern; Kontinuitäten, Diskontinuitäten, wechselnde Rezeptionsinteressen und Affinitäten, auch Abbrüche, Wiederaufnahmen und Erinnerungen nachzuweisen und damit eine Konfliktzone nicht nur der Denk-, sondern auch der Sprach- und Literaturgeschichte (zeitweilig auch der Justizgeschichte) über den deutschen Sprachraum hinaus sichtbar zu machen. Als Organisatoren des Symposions gilt unser Dank allen Beteiligten, die zum Gespräch über die Böhme-Rezeption und die frühneuzeitliche Theosophie (und deren Kritiker) beigetragen haben, darunter auch den Moderatoren, die einzelne Diskussionen in den Sektionen geleitet haben. Für die großzügige Finanzierung der gesamten Tagung danken wir der Fritz-Thyssen-Stiftung sowie dem Sonderforschungsbereich 573 »Autorität und Pluralisierung in der Frühen Neuzeit«. Bei der Vorbereitung des Kolloquiums hat Christine Hott, die Sekretärin im Münch-

Einleitung

3

ner ›headquarter‹, wie stets große Umsicht bewiesen und damit wesentlich zu dem Gelingen der Veranstaltung beigetragen. Die Einrichtung der Manuskripte und die Arbeit am Register lagen in den Händen von Frieder von Ammon und Jost Eickmeyer, denen wir für das – nicht selbstverständliche – Engagement und die Sorgfalt bei der schwierigen redaktionellen Tätigkeit herzlich danken. Schließlich gilt unser Dank Birgitta Zeller und Dr. Ulrike Krauß von der Edition Niemeyer im Verlag Walter de Gruyter sowie den Kollegen von der Frühen Neuzeit, die das Erscheinen des Bandes ermöglicht haben. Gewidmet ist das Buch dem Andenken an unseren Freund Theodor Mahlmann (15. September 1931 – 26. Juli 2011), der nicht allein diese Tagung durch seine quellenkundigen Beiträge zur Theologiegeschichte bereichert und inspiriert hat. Heidelberg und München, im Februar 2012

Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt

I. Phasen der Böhme-Rezeption im 17. Jahrhundert

Sibylle Rusterholz

Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger Die zentralen Argumente der Streitschriften von ihren Anfängen zu Lebzeiten Böhmes bis zum Ende des 17. Jahrhunderts Ein erster Blick auf das Ganze In den Jahren 1621/22 hat Böhme sich erstmals gegen Angriffe von Balthasar Tilcke auf noch ungedruckte Schriften, insbesondere die Aurora oder Morgenröthe im Aufgang und Von der Menschwerdung Jesu Christi, schriftlich verteidigt. Mit dem zu Beginn des Jahres 1624 – Böhmes Todesjahr – anonym erschienenen Weg zu Christo setzte dann eine Flut polemisch-apologetischer Schriften ein, die erst am Ende des Jahrhunderts mit einem letzten großen Streitschriftenensemble, ausgelöst durch den sogenannten Hamburger Revers (1690),1 sowie mit den großen systematisierenden Überblicksdarstellungen Ehregott Daniel Colbergs zum Platonisch-Hermetischen Christentum (1690/91) und mit Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700), die beide die Böhme-Streitschriften aus dem Rückblick auf das Jahrhundert mit einbeziehen, abebbte. Der Görlitzer Primarius Gregor Richter reagierte noch im März 1624 mit einem in lateinischen Versen verfassten, vernichtenden Judicium auf den Weg zu Christo. Wenig später und wohl auf Betreiben Richters, der Unterstützung gegen den ketzerischen Schuster bei den benachbarten Pfarrherren angemahnt hatte, setzte sich Peter Widmann zunächst in einer Predigt noch vor Ostern gegen Böhme zur Wehr, die dann im Sommer als Christliche Warnung/ Für einem new außgesprengeten Enthusiastischen Büchlein […] Mit Approbation der Theologischen Facultet zu Leipzig im Druck erschien. In den 1630er Jahren erfolgt eine deutliche Zäsur im Streitschriftengeschäft – Franckenbergs Theophrastia Valentiniana, die eine subtile Verteidigung Böhmes enthält, wurde erst 1703 anonym im Anhang der Kirchen- und Ketzerhistorie gedruckt –, bis die Polemik dann zu Beginn der 40er Jahre auf holländischem Boden erneut einsetzt, ausgelöst durch einen massiven 1

Zum Begriff ›Streitschriftenensemble‹ und zur Praxis des Refutierens vgl. Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 129), 31 f. – Zum Hamburger ›Revers‹ vom 14. März 1690 vgl. ebd., 48–59. – Wertvolle bibliographische Hinweise verdanke ich dem anlässlich der Ausstellung zum 50-jährigen Bestehen der Amsterdamer Bibliotheca Philosophica Hermetica erschienenen Studienband und Ausstellungskatalog: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007 (Pimander 16), bes. dem Dokumentationsteil (477–529).

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Sibylle Rusterholz

Angriff des orthodoxen holländischen Theologen David Gilbert, den der schlesische Adlige und Böhme-Anhänger Johann Theodor von Tschesch (1595–1649) mit einer Zwiefachen Apologia (1644) zurückweist. Ebenfalls in Amsterdam erscheinen 1643 Christian Becmans, eines reformierten Theologen aus Anhalt Exercitationes Theologicae. Sie enthalten auch ein ausführliches Böhme-Kapitel, das sich aber in erster Linie gegen Angelius Werdenhagen und dessen Kommentar zu seiner lateinischen Ausgabe von Böhmes Viertzig Fragen von der Seelen (1632) richtet, Böhme selbst also meist nur indirekt durch die WerdenhagenBrille wahrnimmt. In den 1650er und 60er Jahren wird es ruhiger um Böhme, bis die Auseinandersetzung sich Ende der 1670er Jahre wieder schwerpunktmäßig nach Deutschland zurückverlagert. Auslöser dieser geographischen Verschiebung dürfte Quirinus Kuhlmanns Schrift Der Neubegeisterte Böhme gewesen sein, mit der er 1674 von Leiden aus bestimmte Vertreter der lutherischen Orthodoxie und sogenannten Reformorthodoxie direkt angesprochen und polemisch herausgefordert hatte, indem er u. a. Böhme-Zitate neben solche des Rostocker Universitätstheologen Heinrich Müller (1631–1675) stellt und so ganz verblüffende Übereinstimmungen hinsichtlich eines von beiden geforderten »Tatchristentums« (gegenüber einem unfruchtbaren »Wortchristentum«) dokumentiert.2 Auf diese Herausforderung reagierte 1684 der bekannte Wittenberger Theologe Abraham Calov mit seinem Anti-Böhmius, in quo docetur, quid habendum de Secta Jacobi Böhmen […], indem er (das zeigt bereits der Titel) Böhme mit den sogenannten Böhmisten, also auch mit den häufig bizarren und überzogenen Äußerungen Kuhlmanns identifiziert und so ein reichlich schiefes Bild von Böhme vermittelt, dessen Einseitigkeit Friedrich Breckling 1688 in seinem Anticalovius zum Teil korrigiert.3 Zwischen 1634 und 1678 waren zahlreiche Böhme-Schriften erstmals in Amsterdam gedruckt worden, und diese ganze Herausgebertätigkeit fand ihre Krönung mit der ersten Gesamtausgabe von 1682, was Erasmus Francisci in seiner 1685 in Nürnberg erscheinenden, rund 800-seitigen gegen Böhme und die »heutigen Böhmisten« gerichteten Schrift Gegen=Stral der Morgenröte […] mit den Worten kommentiert: Diß ist einmal gewiß/ daß die Böhmische Schrifften/ so/ wie sie jetzo/ aus Holland/ eine Zeit hero/ wie die Kröten aus einem Morast/ wieder hervor gekrochen/ nichts anders/ als ein Mißbrauch heiliger Schrifft/ Ausleschung ihres wahren und heilsamen Verstandes/ und rechtes Ertzgifft der Seelen seyn […].4

In dieselbe Richtung ging die 1679 erschienene Schrift des thüringischen Pfarrers Johannes Möller mit dem auf Böhme zielenden Titel Der Fanatische Atheist, die 1685 mit einer anonymen Wolgemeinte[n] Gegen=Erklärung zurückgewiesen wurde. 2 3 4

Vgl. Quirinus Kuhlmann: Der Neubegeisterte Böhme. Hrsg. und erl. von Jonathan Clark. 2 Tle. Stuttgart 1995, hier: Tl. I, 66 f., 70 f. u. ö. Zu Friedrich Brecklings Anticalovius vgl. den Beitrag von Johann Anselm Steiger in diesem Band. Erasmus Francisci: Gegen=Stral der Morgenröte […]. Nürnberg 1685, 759. – Für die ausführlichen Titel vgl. das chronologische Verzeichnis der Streitschriften im Anhang.

Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger

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Der Streit um Böhme wurde ab 1690 im Zusammenhang der zwischen Pietisten und Orthodoxen ausbrechenden Streitigkeiten vor allem in Hamburg ausgetragen. Im weiteren Zusammenhang der Hamburger Unruhen fand 1691/92 ein interessanter Schlagabtausch statt zwischen Johann Christoph Holtzhausen, Freund und ehemaliger Amtskollege Speners in Frankfurt, und dem unter dem Pseudonym Johannes Matthaeus schreibenden württembergischen Pfarrer Johann Jacob Zimmermann, der wegen seines Eintretens für das kopernikanische, heliozentrische Weltbild des Amtes enthoben worden war und in den späten 80er Jahren bis kurz vor seinem Tod 1693 in Hamburg weilte.5 Das 1691 erscheinende Matthaeus/Zimmermann’sche Buch trägt den provokanten Titel: Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae contra Holtzhausium defensa, Das ist: Christliche Untersuchungen der Holtzhäusischen Anmerckungen Uber und wider Jacob Böhmens Auroram […],6 worauf Holtzhausen 1692 mit einem zweiten, über 400-seitigen Traktat mit dem sprechenden Titel konterte: Capistratus Bohmicolarum Rabula, Das ist: Klarer Beweiß/ Daß das jenige Geschwätz/ womit einer unter dem Namen M. Johannis Matthaei verlarveter/ Vorsprecher der Böhmistischer [sic!] Rotte Meine Anmerckungen/ Uber Jacob Böhmens Schrifften/ sonderlich Auroram, jüngst angegrieffen/ so falsch/ gottloß und unverschamt ist/ Daß er von Recht deßwegen für der Christlichen Kirchen und seinem eigenen Gewissen verstummen muß […]. So gingen erklärte Christen miteinander um! Indem man Böhme als Repräsentanten der radikalpietistischen Gruppen betrachtete und mit den separatistischen Tendenzen der sogenannten Böhmisten identifizierte, geriet dieser zunehmend in den Brennpunkt des Interesses, ja avancierte zum eigentlichen Prüfstein der Rechtgläubigkeit. Mit dem Ziel, Klarheit zu schaffen (und hierin von Spener ausdrücklich unterstützt),7 legte der Hamburger Hauptpastor Abraham Hinckelmann 1693 Viertzig wichtige Fragen/ Betreffende Die Lehre/ so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten zu »Christlicher Beantwortung« vor und doppelte noch im selben Jahr mit seiner Detectio Fundamenti Böhmiani, Untersuchung und Widerlegung der Grund=Lehre/ Die in Jacob Böhmens Schrifften verhanden nach, was bis 1696 eine ganze Welle von Antworten und Gegenantworten auslöste. Zeichen der zugespitzten Lage ist, dass alle BöhmeBefürworter ihre Antworten pseudonym respektive anonym veröffentlichten, während die Gegner mit vollem Namen zeichneten – mit zwei Ausnahmen allerdings, einem ungenannten Arzt (E. I. H. M. D.), der 1693 den Theologen mit dem Hinweis auf den verdammungswürdigen Paracelsus als Hauptquelle Böhmes (und entsprechenden Nachweisen) auf die Sprünge helfen wollte und einem Katholiken (dem einzigen!), der unter dem Pseudonym Gerardus Antognossi 1686 eine Schrift veröffentlichte, die Böhmes Lehre mit der der gnostischen Ketzer 5 6

7

Zur Biographie Zimmermanns vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2. verbess. u. verm. Aufl. Stuttgart 1993. Tl. VI, 4344. Matthaeus/Zimmermann bezieht sich hier auf Johann Christoph Holtzhausen: Teutscher Anti-Barclajus, Das ist: Ausführliche Untersuchung Der gantzen Quäckerey und Apologiae Roberti Barclay […] Sampt einem Kurtzen Anhang einiger Anmerckungen Uber Jacob Böhmens Schrifften/ sonderlich seine so genandte Auroram: Zur Warnung und Verwahrung gegen solche falsche Lehre. Franckfurt am Mayn 1691. Vgl. Gierl (Anm. 1), 292 u. Anm. 141.

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Sibylle Rusterholz

gleichsetzte. Bemerkenswert ist diese lateinische Schrift vor allem deshalb, weil der Autor keinerlei direkte Böhme-Kenntnis hat, sondern diese indirekt aus von Tscheschs Zwiefacher Apologia und deren Zitaten aus der polemischen Schrift des Holländers Gilbert bezieht, ein Problem, das auch bei anderen Autoren, die gegen Böhme schreiben, allerdings nicht derart krass, zu beobachten ist. Das Rätsel der Pseudonyme ist bis heute nicht in jedem Fall zweifelsfrei gelöst. Immerhin kann ich wenigstens einiges ausschließen. So tritt der bereits genannte Johann Jacob Zimmermann alias Matthaeus nicht, wie bisher meist angenommen, in unserem Zusammenhang unter zwei weiteren ›Pseudonymen‹ auf: als Liebhaber der Wahrheit, der auf Hinckelmanns Fragen mit mehreren Veröffentlichungen antwortet, und unter den Initialen J. J. M. E. D,8 da es sich – wie eine genaue Lektüre aller Schriften ergibt – bei den Genannten um zwei verschiedene Personen handelt, also nur einer der beiden (wie ich meine J. J. M. E. D.) mit Zimmermann identisch sein kann.9 8 9

So bei Dünnhaupt (Anm. 5), 4344. Dafür sprechen folgende Gründe: a) Gegen die Identität von J. J. M. E. D und dem anonymen Liebhaber der Wahrheit spricht, dass letzterer im Anhang zu seiner Freundliche[n] Antwort ([1694], 58) erklärt, ihm sei noch vor deren Drucklegung, also noch 1693, eine mit den Initialen »J. J. M. E. D.« gezeichnete Entgegnung auf die 40 Fragen Hinckelmanns sowie Hinckelmanns Detectio Fundamenti Böhmiani (beide 1693) zuhanden gekommen. Der Liebhaber der Wahrheit unterscheidet hier also deutlich zwischen sich selbst und J. J. M. E. D., den er im Folgenden dann gegenüber Hinckelmann verteidigt. In dem Zusammenhang erklärungsbedürftig ist insbesondere die Tatsache, dass der Liebhaber der Wahrheit und J. J. M. E. D. auf Hinckelmanns sechste Frage – »Ob Jacob Böhme nicht beständig lehre/ daß alle Dinge aus dem göttlichen Wesen geschaffen seyn« – entgegengesetzte Antworten geben, was der Liebhaber der Wahrheit mit der jeweils unterschiedlichen Perspektive der Antwortenden erklärt (Freundliche Antwort [1694], 58). Dies wiederum nimmt Aletophilus (d. i. Johann Friedrich Mayer) in seinem Send=Schreiben an […] Abraham Hinckelmann (1694) zum Anlass für die Behauptung, dass »die Herrn Böhmisten ihren Vorgänger selbst nicht verstehen« (13). b) Gegen die Identität von Matthaeus/Zimmermann mit dem Liebhaber der Wahrheit spricht deren gegensätzliche Beurteilung eines möglichen Zusammenhangs Böhmes, insbesondere der Qualitätenlehre, mit der Kabbala. Während Matthaeus/Zimmermann Übereinstimmungen zwischen Böhme und der Kabbala sieht, wovon noch ausführlich die Rede sein wird, unterstützt der Liebhaber der Wahrheit in diesem Punkt die Meinung Hinckelmanns, der einen solchen Zusammenhang strikt verneint (vgl. Liebhaber der Wahrheit: Detectio detectionis [1696], 73). Gegen des Liebhabers der Wahrheit Ablehnung von Übereinstimmungen Böhmes mit der jüdischen Kabbala scheint das Argument zu sprechen, die Schriftmäßigkeit der Lehre von den sieben Quellgeistern (das betrifft Hinckelmanns fünfte Frage) sei nicht nur mit Schriftstellen aus dem Neuen Testament (etwa Apoc 1,4 u. 5,6, wo von den »sieben Geistern« die Rede ist) erwiesen, sondern werde auch durch Sacharja 4,10 (»[…] jene sieben, welche sind des Herren Augen, die alle Lande durchziehen«) bestätigt, weil nämlich das hebräische Wort für Auge (‫ )עין‬zugleich Quelle bedeute, womit Böhmes Terminus ›Quellgeister‹ als geradezu kongeniale Bezeichnung erscheint. Dieses scheinbar kabbalistische Argument (die Doppelbedeutung eines Worts verweist auf einen tiefen Sinnzusammenhang) dient dem Liebhaber der Wahrheit jedoch lediglich zum Erweis der behaupteten Schriftmäßigkeit von Böhmes Qualitätenlehre und nicht zum Erweis von Übereinstimmungen zwischen der Qualitätenlehre und der kabbalistischen Lehre von den zehn Sefirot. – Wer aber ist der Liebhaber der Wahrheit, der in mehreren Schriften Böhme gegenüber Hinckelmann verteidigt? Hauptanliegen ist ihm dabei stets, die Übereinstimmung von Böhmes Lehre mit der Schrift und mit der lutherischen Theologie zu erweisen. Soviel lässt sich mit einiger Sicherheit behaupten:

Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger

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Nachzutragen ist noch, dass es auch unter den Böhme-Gegnern einen Aletophilus gibt, sodass der griechisch-lateinische und der deutsche Liebhaber sich im Namen der Wahrheit bekämpfen, wobei allerdings Aletophilus, hinter dem sich der streng orthodoxe Johann Friedrich Mayer (1650–1712) – für alle sichtbar – verbirgt, ohne es zunächst zu merken, eher für als gegen Böhme argumentiert, womit er Hinckelmann, dem er sein Send=Schreiben widmet, einen Bärendienst erweist.10 Denkbar wäre, dass sich so unterschwellige Vorbehalte gegen den deutlich liberaleren Hinckelmann Luft verschaffen, gegen jenen Hinckelmann, der sich 1690 geweigert hatte, den bereits erwähnten, von Mayer mitverantworteten und unterstützten Revers zu unterschreiben, der u. a. eine Verurteilung Böhmes (unter eidlicher Bekräftigung) vorsah.11 Zum Abschluss dieses ersten Überblicks über die Böhme-Streitliteratur des 17. Jahrhunderts ist noch Johann Frik zu nennen, Pfarrer am Ulmer Münster und Lehrer der Logik, der, von Podagra befallen, während Jahren an Haus und Bett gefesselt war und die freie Zeit auf Anraten seiner Vorgesetzten zu ausgedehnter Böhme-Lektüre verwandte. Die Früchte dieser jahrelangen Lektüre, die mindestens bis 1688 zurückreicht (Quirinus Kuhlmann wird als noch lebend erwähnt), wurden am Ende des Jahrhunderts unter dem Titel Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer/ So auß dessen eigenen Schrifften gezeiget/ und auß H. Schrifft widerlegt werden in einem 700 Druckseiten umfassenden Band (ausdrücklich als Fragment!) aus dem Nachlass veröffentlicht. Kaum einer der Böhme-Gegner hatte eine so umfassende Textkenntnis wie der podagrakranke Johann Frik; was er daraus macht, ist dann allerdings eine andere Frage. Was ich hier in einem notgedrungen summarischen Überblick vorgestellt habe, umfasst Texte von mehr als 4 500 Druckseiten, was mich gelegentlich ob der Tollkühnheit des von mir gewählten Themas fast verzweifeln ließ – bis sich mehr und mehr zeigte, dass diese ganze Textmasse sich auf wenige, sich immer

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es muss sich um einen dem Pietismus nahe stehenden lutherischen Theologen mit philosophischem Horizont handeln. Er ist im Übrigen unter den Böhme-Verteidigern der Einzige, der das von diesen so verpönte syllogistische Schlussverfahren gelegentlich anwendet (z. B. Freundliche Antwort [1694], 68 f. u. 72–74), dessen sich sonst die Böhme-Gegner, z. B. Peter Widmann (Christliche Warnung [1624]) und Christian Becman (Exercitationes Theologicae [1643]) ausgiebig bedienen. c) Für die Identität von Matthaeus/Zimmermann und J. J. M. E. D. spricht die Vermutung, dass die Initialen »J. J. M.« (so bezeichnet ihn Hinckelmann in seiner Vorrede zur Detectio Fundamenti Böhmiani und macht indirekt deutlich, dass er dessen Identität kennt) auf Johann Jacob Matthaeus (= Johann Jacob Zimmermann) anspielen, der 1693 in Hamburg weilte und, auch das macht das Vorwort indirekt deutlich, in persönlichem Kontakt mit Hinckelmann stand. Darüber hinaus aber gibt es auch inhaltliche Gründe, insbesondere beider konsequente Einbettung Böhmes in den Traditionshorizont »fortschreitender Offenbarung« (vgl. dazu Anm. 82 u. 83). Vgl. Aletophilus, Send=Schreiben an Abraham Hinckelmann (1694), 20 f., und Anonymus [Liebhaber der Wahrheit]: Eine Abfertigung des Sendschreibens Aletophili (1696), 48–50. Zum Hamburger ›Revers‹ vgl. neben Gierl (Anm. 1) Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen. In: Geschichte des Pietismus. Bd. I: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hrsg. v. Martin Brecht. Göttingen 1993, 281–389, hier 344–352.

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wiederholende und wenig variierte Grundfragen reduzieren lässt. Davon soll nun im Folgenden die Rede sein.

Erleuchtung gegen Quellenabhängigkeit In praktisch allen Schriften der Böhme-Gegner spielt die Frage nach Böhmes Quellen eine große Rolle, und diese Frage ist stets gekoppelt mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit der von ihm selbst und seinen Freunden behaupteten Erleuchtung. Abraham Hinckelmann formuliert den Zusammenhang so: Es spreche dafür, »daß ein Mann nicht aus unmittelbahrer Göttlicher Eingebung schreibe« (was Böhme und seine Anhänger so nie behauptet haben), wenn man beweisen könne, dass dieser seine »meisten Lehren aus einen [sic!] andern Scribenten geholet«, und das »Kalb damit er gepflüget« sei im Falle Böhmes Robert Fludd.12 Andere nennen Paracelsus als Hauptquelle und schließen, Böhmes »himmlische Offenbahrungen« stammten aus des Theophrasti Schriften, seine Lehren seien das Ergebnis der Lektüren eines schwachen Gehirns und »irriger Lehrmeister«.13 Für Francisci hat Böhme seine Lehre aus vielerlei Lesefrüchten »zusammen geklaubt« und seine angebliche Erleuchtung sei als »raptus melancholicus« Frucht geistiger Überanstrengung und damit eher ein Fall für die Mediziner.14 Aletophilus/Mayer schließlich: »In welchen Scribenten Jacob Böhmens/ als eines ungelehrten Mannes/ gebräuchlichen termini und vermeinten Sachen anzutreffen seynd/ aus demselben sind auch die vorgebrachten Lehr=Sätze genommen« – auch er tippt auf Fludd –, um dann mit der abenteuerlichen These aufzuwarten, »es habe derjenige/ der ihm die terminos übersetzet hat/ auch die gantzen Texte erkläret/ und folglich im Anfange die Lehr=Sätze zu Papier gebracht/ so lange/ biß er [Böhme] durch die Übung etwas abzufassen geschickt gemacht worden« – und dieser angebliche Lehrmeister sei Böhmes Arzt Tobias Kober gewesen.15 – Nach 12

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Abraham Hinckelmann: Detectio Fundamenti Böhmiani […] (1693), 61. – Zur Bestätigung seiner These führt Hinckelmann zahlreiche Übereinstimmungen zwischen Böhme und Fludd an (ebd., 61–67), und zwar in der Annahme, Böhme habe direkt aus Fludds lateinischen Werken übersetzt (»vertirt«, 63), und dies alles ohne zu bedenken, dass Fludds mehrfach herangezogene Philosophia Mosaica (z. B. 67) erst 1638, 14 Jahre nach Böhmes Tod, gedruckt worden ist. Auf diese chronologische Unstimmigkeit haben die Böhme-Befürworter prompt hingewiesen (Liebhaber der Wahrheit, Detectio detectionis [1696], 63, und ders., Abfertigung des Sendschreibens Aletophili [1696], 13–15), während Aletophilus [Johann Friedrich Mayer] dem entgegenhält, dass die Fundamente der späteren Werke Fludds in dessen frühen Werken schon enthalten gewesen seien (Send=Schreiben an Abraham Hinckelmann [1694], 5). Dass die vermeintlichen Übereinstimmungen zwischen Böhme und Fludd durch eine gemeinsame Quelle, etwa die Kabbala, bedingt sein könnten, ziehen weder Böhmes Gegner noch seine Verteidiger in Betracht. Anonymus [E. I. H. M. D.]: Der entlarvete Jacob Böhm […] (1693), 22 u. 40. Francisci, Gegen=Stral der Morgenröte (1685), 748 u. 752. Aletophilus, Send=Schreiben an Abraham Hinckelmann (1694), 4 f. – Hier zeigen sich ebenso wie bei Hinckelmann bereits Merkmale jener »Theorie einer kollektiven Autorschaft«, die Johann Christoph Adelung ein knappes Jahrhundert später in seiner Geschichte der menschlichen Narrheit im Hinblick auf Böhme vertreten wird. Vgl. hierzu Friedrich Voll-

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orthodoxer Lehre ist die unmittelbare Offenbarung mit den Aposteln abgeschlossen, weshalb den Böhme-Gegnern so viel daran liegt, Böhmes Lehren mit seinen angeblichen Quellen zu identifizieren und damit die Frage der Erleuchtung im negativen Sinn zu beantworten. Die Frage nach den offensichtlichen Differenzen zwischen den genannten Quellen und Böhmes Lehre wird nicht gestellt, auch nicht von seinen Anhängern, von denen nur einer darauf verweist, dass Böhme an seinen angeblich völlig kongruenten Quellen gelegentlich auch Kritik übt – z. B. an Valentin Weigel.16 Nun gibt es aber auch den umgekehrten Fall: dass nämlich einer der Böhme-Anhänger in zustimmendem Sinn auf eine Quelle verweist. Zimmermann alias Matthaeus erklärt in seiner gegen Holtzhausen gerichteten Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae […] Das ist […] Gründl. Vertheidigung der Alt=Evangel. Lehre des hocherleucht. J. Böhmens: »daß der Grund der Böhmischen Mysterien im Buch Jezirah, welches […] dem heiligen Patriarchen Abraham zugeschrieben wird/ offenbahrlich enthalten« sei.17 Was ist damit gemeint? Das Sefer Jezira – Buch der Schöpfung – beschreibt die Entstehung der Welt aus den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets und den zehn Grundzahlen bzw. zehn Sefirot. Der konvertierte Jude Johann Stephan Rittangel, Orientalist an der Königsberger Universität, hatte 1642 eine lateinische Übersetzung des Sefer Jezira vorgelegt, die er mit einem ausführlichen christlichen Kommentar versah. Die sogenannte christliche Kabbala, im 15. Jahrhundert von Pico della Mirandola und Johannes Reuchlin entwickelt, geht von der Annahme aus, die Kabbala entstamme apostolischer Zeit und stelle eine Art Urchristentum innerhalb des Judentums dar, eine uralte Weisheit, die es neu zu entdecken gelte. Rittangel nun deutet das Sefer Jezira gemäß dieser Prämisse christlich um und verbindet den Beginn des Buchs der Schöpfung mit dem ersten Kapitel des Sohar, dem klassischen Zeugnis der Kabbala vom Beginn des 14. Jahrhunderts, das den absoluten Anfang und die »Theogonie der Gottheit« beschreibt.18 Matthaeus, der sowohl den Sohar wie das Sefer Jezira kennt, entdeckt in den Texten und den Kommentaren Rittangels, die eine ausführliche Darstellung der kabbalistischen Lehre von den zehn Sefirot enthalten, auffallende Parallelen zu den Lehren Böhmes: etwa in der sachlichen und wörtlichen Entsprechung des hebräischen Ensoph (wörtlich: ohne Ende) mit Böhmes Ungrund (»Ein Ding/ so kein Ende hat/ das ist ein Ungrund«).19 Er trifft sich damit mit einem der besten Kabbalakenner des letzten

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hardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin 2009 (DFG Symposion 2006), 89–123, hier: 101 f. Anonymus [J. J. M. E. D.]: Verlangete Christliche Beantwortung Deren Viertzig wichtigen Fragen […] (1693), 53 (unter Hinweis auf Böhmes Sendbrief 12,59 f.). Johannes Matthaeus [Johann Jacob Zimmermann]: Orthodoxia Theosophiae TeutonicoBöhmianae […] (1691), 65. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Das Buch Jezira in der christlichen Tradition. In: Das Buch Jezira. Hrsg. v. Eveline Goodman-Thau u. Christoph Schulte. Mit Nachworten von Moshe Idel u. dems. Berlin 1993 (Jüdische Quellen 1), 45–64, hier: 53. Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 72.

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Jahrhunderts, mit Gershom Scholem, der in seiner deutschen Übersetzung des ersten Sohar-Kapitels unter ausdrücklichem Verweis auf Böhme das hebräische Ensoph mit Ungrund wiedergibt.20 Eine weitere Sinn- und Sachparallele sieht Matthaeus zwischen den obersten drei Sefirot (Keter, Chochma, Binah) und der christlichen Trinität, die er wiederum mit Böhmes drei Principien in Beziehung setzt mit den Worten: »von denen Jacob Böhmens drey Principia deß Göttlichen Wesens herstammen.«21 Analoge Parallelen ergeben sich zwischen den unteren sieben Sefirot und Böhmes Qualitätenlehre bzw. den sieben Quellgeistern, wie sie in der Aurora noch heißen. So ergibt sich eine Art Wechselwirtschaft: Die kabbalistischen Texte verweisen auf Böhme und werden umgekehrt mit spezifisch Böhme’schen Termini erläutert, was sich vor allem dort anbietet, wo Matthaeus Rittangels lateinische Notae ins Deutsche übersetzt.22 Etwas Ähnliches lässt sich rund 70 Jahre später bei Friedrich Christoph Oetinger beobachten, der vielfach kabbalistisches Gedankengut von Böhme her interpretiert, besonders deutlich in seiner Interpretation der Kabbalistischen Lehrtafel der Prinzessin Antonia in Bad Teinach von 1763. Nachdem Matthaeus/Zimmermann vorweg in einem längeren Exkurs dargestellt hat, wie nahe Böhmes »Redens=Art und tieffe Erkäntnüß mit der uhrältesten Theologia eintreffe«, wovon sein Gegenpart Holtzhausen offenbar wenig verstehe, wie er leicht süffisant bemerkt,23 geht er über zur Widerlegung der 77 strittigen Punkte, die Holtzhausen aus der Aurora gegen Böhme zusammengestellt hat, wobei deren »christliche Untersuchung«, wo immer es sich sachlich anbietet, aus der Perspektive christlicher Kabbala erfolgt. Die Reaktion Holtzhausens ließ nicht lange auf sich warten, und sie fiel so heftig aus, wie es der schon zitierte Titel Capistratus Bohmicolarum Rabula erwarten ließ. Weil es Matthaeus in seinem großen »Defensions=Buch« wider ihn an Stoff gemangelt habe, habe er »auß allen dunckeln Winkeln einen Dreck=Hauffen zusammen samlen« müssen.24 Zu Böhmes Verteidigung habe die Bibel nicht ausgereicht, weshalb der »Lügen=Teuffel und Schrifft=Verkehrende Irrgeist« Matthaeus/Zimmermann »die ärgeste Feinde Christi und des Evangelii/ nemlich/ die verstockten Rabbinen/ Cabalisten und Juden« mit ihren »Lügen« habe aufbieten müssen.25 Holtzhausen steigert sich in einen wahren Rausch der Empörung und lässt kein gutes Haar an der Kabbala, womit er nebenbei seine von Matthaeus/Zimmermann behauptete Ignoranz vollauf bestätigt. Obwohl er berichtet, die Jezira-Ausgabe Rittangels ausgeliehen und gelesen zu haben, verstellt ihm sein offensichtlicher Antisemitismus die Einsicht, dass hier ein zum Christentum konvertierter Jude die tiefen christlichen Wurzeln der Kabbala zu 20 21 22

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Gershom Scholem: Die Geheimnisse der Schöpfung. Ein Kapitel aus dem Sohar. Berlin 1935, 79. Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 70. Vgl. etwa ebd. 67 u. 101, wo Matthaeus Böhmes metaphorische Rede vom »unaufflößlichen Band« (welches die Quellgeister/Qualitäten in Gottes ›ewiger Natur‹ verbindet) in die Rittangelsche Darstellung der Sefirotlehre hinübernimmt. Ebd., 78. Johann Christoph Holtzhausen: Capistratus Bohmicolarum Rabula […] (1692), 117. Ebd., 101 u. 100.

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erweisen versucht. Die ganze Sache fand dann insofern ein tragisches Ende, als Holtzhausen unmittelbar vor seinem Tod schwere Gewissensbisse ob seiner unverhältnismäßigen Ausfälle gegen Böhme empfand und, wie Spener berichtet, in mehreren Briefen von ihm habe getröstet werden müssen.26 Es gibt nun aber noch eine zweite, gewichtigere Reaktion auf Matthaeus’/ Zimmermanns Verteidigung der Rechtgläubigkeit Böhmes aus kabbalistischer Perspektive. Abraham Hinckelmann hatte dem Untertitel seiner Detectio Fundamenti Böhmiani als weiteren Programmpunkt hinzugefügt: »worinnen […] der Recht=gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabalae […] entdecket wird«. Und diesen rechtgläubigen Sinn der alten jüdischen Kabbala will er ausdrücklich gegen Matthaeus/Zimmermann verteidigen, der sich »gegen den treuen Knecht GOttes/ meinen lieben Herrn Holtzhausen« mit der These vom Zusammenhang der kabbalistischen Sefirot-Lehre mit Böhmes Qualitätenlehre vergangen habe, während er (Hinckelmann) versichert sei, »daß der Juden sieben Sephirot mit Böhmens Qvell=Geistern/ auch nach der besten Cabalistischen Erklährung sich nicht lassen zusammen reymen.«27 Zum Beweis lässt er über 15 Druckseiten eine kundige Darstellung der Sefirotlehre folgen, wobei er sich von vornherein die Sicht der christlichen Kabbala zu eigen macht, weil doch über die Kabbala »ein Christe/ durch das Licht des Neuen Testaments erleuchtet/ viel besser urtheilen kan/ als alle Juden.«28 Wir haben hier den merkwürdigen Tatbestand, dass sowohl Matthaeus/Zimmermann wie Hinckelmann, der als Orientalist die kabbalistischen Texte im Original lesen konnte, dass also zwei gleichermaßen sachkundige Männer, die sich beide auf Rittangel berufen und mit dessen christlicher Umdeutung des Sefer Jezira identifizieren, hinsichtlich Böhme zu diametral entgegengesetzten Urteilen kommen, und das, obwohl in Hinckelmanns Untersuchung alle wichtigen Belege aus verschiedenen Böhme-Schriften zitiert werden, die die strukturellen Analogien zwischen Böhmes ›System‹ und der Kabbala unübersehbar machen: die Übereinstimmung der Lehre vom »ungeoffenbahrten Gott« (Ensoph) mit Böhmes Lehre vom Ungrund z. B., die Hinckelmann als nicht schriftgemäß vom Tisch wischt (»Wo findet man solch Zeug doch in GOTTES Wort«),29 ohne zu bedenken, dass die Vorstellung vom »ungeoffenbahrten« Gott in der Kabbala wie bei Böhme mit der Sefirot- bzw. der Qualitätenlehre unabdingbar zusammengehört, geht es doch in beiden Fällen um einen innergöttlichen Offenbarungsprozess. Viele andere, kaum zu übersehende, weil mit Böhme-Zitaten bestens belegte Analogien kommen hinzu: die nahezu identische 26

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Vgl. De Vita et Scriptis oder Historischer Bericht von dem Leben und Schriften Jacob Böhmens V: Mehrere Merckwürdigkeiten von J. Böhmens Wohnung und Begräbniß=Platz; von seiner Person und Beruff: nebst umständlicher Wiederholung aller seiner Schriften. In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. X. (21988), 68 f. (mit Originalzitaten Speners). Im Weiteren mit der Sigle »SS«. Vgl. auch Helmut Obst: Jakob Böhme im Urteil Philipp Jakob Speners. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 23 (1971), 22–39, hier: 36. Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 20. Ebd., 20 f. Ebd., 6 u. 8.

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Farbtheologie bei Böhme und in der Kabbala,30 der Christusbezug von Böhmes 5. Qualität und deren Äquivalent in der Sefira Tifereth, in der Hinckelmann einen Hinweis auf den Messias ausmacht,31 und insbesondere die ins Auge springende strukturelle Ähnlichkeit in der Auffassung des Bösen, dessen Ursprung die Kabbala ebenso wie Böhme in der Gottheit selbst grundgelegt sieht – selbstverständlich ohne dass innergöttlich vom Bösen in ethisch-moralischem Sinn gesprochen werden kann, was sowohl bei den Böhme-Befürwortern wie bei den Gegnern allzu oft in Vergessenheit gerät. Insgesamt erhält man den Eindruck, Hinckelmann verstehe viel von Kabbala und zeige wenig Engagement, Böhme zu verstehen – trotz der reichhaltigen Quellenbelege. Grund dafür ist die Schreibsituation. Die Textsorte Streitschrift respektive die theologia elenchtica verlangt nicht abwägendes Verständnis, sondern strikte Widerlegung aller der ›reinen Lehre‹ zuwiderlaufender Äußerungen und nimmt dafür eine polemisch-verengte Perspektive in Kauf.32 Was nun allerdings verblüfft, ist die Tatsache, dass Hinckelmann der angeblich ›rechtgläubigen‹ Kabbala jenen Grundirrtum bescheinigt, den er zum Grundirrtum Böhmes erklärt, aus dem alle übrigen Irrtümer sich herleiten: die Annahme nämlich, »daß alle Dinge aus dem Göttlichen Wesen erschaffen« seien.33 Ist dies nicht ein massiver Selbstwiderspruch? Hinckelmann befand sich insofern in einer Zwickmühle, als er als erklärter Liebhaber der Kabbala34 deren völlig unqualifizierte Aburteilung durch den Freund Holtzhausen zurechtrücken musste, andererseits aber jeden Anschein der Übereinstimmung Böhmes mit der ›rechtgläubigen‹ Kabbala zu vermeiden hatte, wollte er nicht Matthaeus/Zimmermann Recht geben, den es doch zu widerlegen galt. Wohl berufen sich beide, Matthaeus/Zimmermann wie Hinckelmann, auf Rittangel und dessen christliche (Um-)deutung des Sefer Jezira, doch klammert Hinckelmann die ganze Ungrund30

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Ebd., 26 f.– Zu Analogien zwischen Böhmes Farbtheologie und der Kabbala vgl. Sibylle Rusterholz: Elemente der Kabbala bei Jacob Böhme. In: Mystik und Schriftkommentierung. Hrsg. v. Günther Bonheim u. Petra Kattner. Berlin 2007 (Böhme-Studien 1), 15–45, hier: 34 f. u. Anm. 39. Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 31. Vgl. auch 21, 26 u. 29. Zur theologia elenchtica vgl. Gierl (Anm. 1), bes. 60–81. Das Recht zum »Schmähen« wie das der »Gegen-Beschimpfung« war im Rahmen der theologia elenchtica durchaus vorgesehen und erlaubt (ebd., 158). Mit den Pia Desideria (1675) setzte Spener neue Akzente, indem er der »defensiven Aggression der Polemik« eine »progressive Irenik gelebter Frömmigkeit« entgegensetzt, d. h. er mahnt eine Reform des Streitens und der Streitmittel an (ebd., 278), was sich in seiner vorsichtig abwägenden Haltung gegenüber dem Streitobjekt Böhme niederschlägt, durch die ein offizielles Verdammungsurteil von kirchlicher Seite verhindert werden konnte. Vgl. dazu Obst (Anm. 26). Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 36. – Vgl. Hinckelmanns grundsätzliche Überlegungen: »Hier wird der verständige Leser leicht mercken/ warumb ich eben nach der Grund=Lehre forsche. Denn wie ein jedes Hauß seinen Grund hat/ welcher/ wo er zerschüttert wird/ das gantze Hauß zugleich Noth leidet: so ist es mit allen andern Wissenschafften nicht allein/ sondern auch mit denen in der Christenheit entstandenen Secten eben so bewandt/ daß wenn ich den Grund mercken und umbwerffen kann/ das gantze Gebäude zugleich mit hin fällt […]. Daher man mit Recht sagen mag/ daß wer in jedweder Religions=Neuerung nur das Hertze und Grund recht einsehen und heben kan/ der habe der gantzen Sache schon geholffen« (ebd., 4 f.). Er liest in seiner Freizeit kabbalistische Texte, vgl. ebd., 36.

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Problematik aus dem krypto-christlichen Zusammenhang aus und betrachtet sie als sekundäre Überformung »aus der Griechischen/ oder auch einiger Völcker in Orient Philosophie.«35 Er kann dies tun, weil er im Gegensatz zu Matthaeus/ Zimmermann, der an der zeitüblichen Zuschreibung des Sefer Jezira an Abraham festhält,36 dieses für jünger hält (wohl alt, aber nicht von Abraham),37 womit er eine für seine Zeit fortschrittliche Position einnimmt, auch wenn diese sich (noch) nicht wissenschaftlich-aufklärerischem Impetus, sondern streittaktischen Gründen verdanken mag.38 Er liefert damit ein einleuchtendes Exempel für den von Martin Gierl thematisierten »Einfluß der Streitform auf die Genese von Streitinhalten«.39

Das Nichts und die Herkunft des Bösen Der Vorwurf, Böhme mache das göttliche Wesen zur »Materie aller Dinge«,40 steht in engstem Zusammenhang mit der Frage, ob Böhme die orthodoxe Lehre von der creatio ex nihilo verletze oder nicht, und diese Frage wird in nahezu allen Streitschriften pro und contra thematisiert. Das kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werde. Interessant scheint mir vor allem die Diskussion um den Begriff des Nichts, und zwar deshalb, weil sie deutlich macht, wie fremd die Tradition spekulativer Mystik (die ja in der von Luther und Arndt edierten Theologia Deutsch durchaus noch präsent war) am Ende des 17. Jahrhunderts dem orthodoxen Luthertum geworden ist.41 Ein allerdings extremes und in diesem Sinn 35 36

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Ebd. Das Sefer Jezira werde »einhellig von den alten und neuen Rabbinen dem heiligen Patriarchen Abraham zugeschrieben« (Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae [1691], 65). Damit ist dessen nicht zu hinterfragende Autorität garantiert. Vgl. Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 22 u. 75 f. Zur »entschleiernden Historisierung der pseudoepigraphischen Texte« in der frühen Aufklärung, insbesondere des Sefer Jezira, vgl. Schmidt-Biggemann (Anm. 18), 61–64. – Den Beweis der Unvereinbarkeit Böhmes mit der ›rechtgläubigen‹ Kabbala führt Hinckelmann nicht nur anhand des Sefer Jezira, sondern er zieht noch ein von einem gewissen Rabbi Elkana stammendes, angeblich sehr altes kabbalistisches Manuskript bei, das tatsächlich aber erst aus dem späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert stammt. Hier bedient sich also auch Hinckelmann der Beweiskraft angeblicher Anciennität kabbalistischer Texte. Zu Elkana vgl. Martin Mulsow: Den ›Heydnischen Sauerteig‹ mit dem ›Israelitischen Süßteig‹ vermischt: Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann und Johann Peter Späth. In: Scientia Poetica 11 (2007), 1–50, hier: 9 f. Vgl. Gierl (Anm. 1), 169. Mit dieser Formulierung (Detectio Fundamenti Böhmiani [1693], 4) spitzt Hinckelmann die sechste seiner Viertzig wichtige[n] Fragen/ Betreffende die Lehre/ so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten (1693, unpag.) – »Ob Jacob Böhme nicht beständig lehre/ daß alle Dinge aus dem Göttlichen Wesen geschaffen seyn?« – erheblich zu. Schon Peter Widmann hatte (unter Berufung auf Nicolaus Hunnius) die Theologia Deutsch für ketzerisch erklärt und deren Verfasser mit Thomas a Kempis, Schwenckfeld, Weigel und Tauler unter die gefährlichen Schwärmer und Enthusiasten gerechnet (Christliche Warnung für einem new außgesprengeten Enthusiastischen Büchlein [1624], 14). Des unbekannten Autors Rede von der (mystischen) ›Gelassenheit‹ gilt ihm als bloßes ›Geschwätz‹ (ebd., 10).

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nicht zu verallgemeinerndes Beispiel dafür gibt der podagrakranke Johann Frik, dem Böhmes Rede von Gott als »Ungrund« und »Nichts« nur noch Anlass ist für einen entsetzen Kommentar: »Dieses ist nicht nur eine vermessene Verwegenheit/ sondern eine verdammliche Gottlosigkeit/ von dem Majestätischen GOtt zu sagen/ daß er einmahl in der Ewigkeit Nichts gewesen«.42 Und jene berühmte Stelle aus De signatura rerum (6,8), mit der Böhme (allerdings nicht im Sinne historischer Abhängigkeit) die ganze jahrhundertealte Tradition spekulativer Mystik in einem großartigen Paradox zusammenfasst: »Gott hat alle Dinge aus Nichts gemacht und dasselbe Nichts ist Er selber« gilt Frik als Gipfel der Blasphemie und eine verborgene »Anführung zur Atheisterey«.43 Aus der Perspektive polemisch verengter Orthodoxie ist es nur folgerichtig, mit Hinckelmann die Tradition der Theologia mystica in Bausch und Bogen abzulehnen.44 Das orthodoxe Verständnis der creatio ex nihilo als nicht zu hinterfragender Beweis göttlicher Allmacht45 bewahre zudem davor, Gott für die Erschaffung auch des Bösen verantwortlich zu machen.46 Die Thematik des Bösen ist denn auch ein vieldiskutiertes Problem. Zentraler Streitpunkt ist die angebliche »Abtheiligkeit« Gottes in Böhmes Lehre von den zwei ewigen Principien Finsternis und Licht. Die Gegner kontern entweder mit

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Wie sich leicht aus dem Gesamtzusammenhang nachweisen ließe, war die Identität des Verfassers des anonym erschienenen Weg[s] zu Christo Widmann, trotz gegenteiliger Beteuerungen, sehr wohl bekannt. Johann Frik: Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer […] (1700), 296. Ebd., 287. – Zur Bedeutung des ›Nichts‹ im Sefer Jezira mit Ausblicken auf die christliche Tradition der mittelalterlichen Mystik vgl. Gershom Scholem: Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes. In: Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M. 1996 (11970), 53–89. Scholem verweist auf die Umdeutung, die die Vorstellung der creatio ex nihilo im Prozess der Rezeption durch die mittelalterliche Mystik (bis zu Böhme) erfährt: die Schöpfung aus Nichts wird zur Schöpfung aus Gott selber. Vgl. insbesondere 62–74. – Zur Thematik des ›Nichts‹ vgl. auch Alois Haas: Das Nichts Gottes und seine Sprengmetaphorik. In: Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit. Hrsg. v. Henriette Herwig, Irmgard Wirtz u. Stefan Bodo Würffel. Tübingen 1999 (Festschrift für Peter Rusterholz), 53–70. So Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 103. – Dass es neben derart radikaler Ablehnung der mystischen Tradition in der lutherischen Orthodoxie auch Bestrebungen einer »reformationstheologischen Transformation der vorgegebenen mittelalterlichmystischen Traditionslinien« gab, darauf hat Johann Anselm Steiger hingewiesen. Vgl. ders.: Heinrich Varenius’ Rettung von Johann Arndts ›Wahrem Christentum‹. In: Bernhard Varenius (1622–1650). Hrsg. v. Margret Schuchard. Leiden 2007, 27–57, hier: 44 f. – Zur innerprotestantischen Diskussion der unio mystica vgl. die umfassende Darstellung durch Theodor Mahlmann: Die Stellung der unio cum Christo in der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts. In: Unio. Gott und Mensch in der nachreformatorischen Theologie. Hrsg. v. Matti Repo u. Rainer Vinke. Helsinki 1996 (Veröffentlichungen der Finnischen Theologischen Literaturgesellschaft 200/Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft 35), 72–199. Holtzhausen, Capistratus Bohmicolarum Rabula (1692), 261: »Es ist ja bey dem Articul von der Schöpffung sonderlich in acht zu nehmen das fürtreffliche argument, die unendliche Allmacht Gottes zu beweisen/ nemlich/ daß ER ein solcher herrlicher/ Allmächtiger GOtt ist/ der auß nichts etwas/ ja alles machen kan/ und gemacht hat […].« Vgl. Hinckelmann, Detectio Fundamenti Böhmiani (1693), 17.

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dem zigfach wiederholten Argument: »das sagt die Bibel nicht« oder aber mit dem Hinweis auf die uralte Ketzerei der Gnostiker, die ebenfalls wie Böhme eine »Abtheilung des göttlichen Wesens« und »zween wiederwärtige Götter« gelehrt hätten.47 Zweifellos ist Böhmes Metaphysik des Bösen etwas vom Schwierigsten und zugleich Faszinierendsten seiner Lehre überhaupt. Es verwundert deshalb nicht, dass auch die Böhme-Befürworter sich selten derer abstrakter Dialektik gewachsen zeigen.48 Die klarste Gegenargumentation gegen den Vorwurf, Böhme lehre, der Teufel sei Teil Gottes, findet sich bei Matthaeus/Zimmermann. Ich gebe nur einige Stichworte: Im Ungrund »sind alle Contraria und Contradictoria […] impliciert und verknüpfft« gleichsam als eine »rechte und lincke Hand«;49 es gibt also keine »Abtheilung« und damit auch kein Böses, weil in der »Concordantz« Finsternis und Licht nicht als separate Größen offenbar sind. Dennoch aber ist das Böse (im nicht-moralischen Sinn), ist die Negativität des ersten Princips eine (wie Matthaeus/Zimmermann sagt) »höchst=nothwendige Eigenschafft der ewigen Offenbahrung GOttes«.50 Soweit ich sehe, ist Matthaeus/Zimmermann der einzige, der auf diesen für das Verständnis Böhmes außerordentlich 47

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Vgl. Anonymus [E. I. H. M. D.], Der entlarvete Jacob Böhm (1693), 10 f. – Der ungenannte Verfasser beschließt seine Entlarvung der Böhme’schen Schriften mit der im Wortsinn vernichtenden Aufforderung: »ad vulcanum« (ebd., 45). – In der unter dem Pseudonym Gerardus Antognossi veröffentlichten lateinischen Schrift: Novi Apellis, ne Sutor ultra crepidam […] (1686), die sich durch keinerlei direkte Böhme-Kenntnis auszeichnet, wird als blasphemisch gebrandmarkt, dass Böhme mit seiner ›Principienlehre‹ zwei Götter behaupte und damit die Ketzerei der Gnostik noch übertreffe (»Et quia blasphemum portentum duorum principiorum ad extra, id est, duorum Deorum placet […]«, 32), während Hinckelmann umgekehrt den Skandal darin sieht, dass Böhme die beiden Principien in Gott vereinige: »Aber das ist gewiß/ daß soweit keiner der alten Ketzer gekommen/ die doch von den [sic!] Ursprung des Bösen so viel greuliche Irrthümer auf die Bahn gebracht. Sondern sie dichteten lieber zwo Götter/ einen bösen der in alten Testament kund geworden/ und einen guten der sich in neuen Testament geoffenbahret; als daß sie hätten vorgegeben/ in des dreyeinigen Gottes Wesen wäre das Böse was in der Natur gewürcket wird/ als in seiner eigenen Mutter und Ursprung verborgen.« (Detectio Fundamenti Böhmiani [1693], 76). Eine gewisse Ausnahme bildet Abraham von Franckenberg, der in seiner frühen Schrift Theophrastia Valentiniana […] (1627), die sich der Bitte eines Freundes um ein Urteil über die Lehre des Gnostikers Valentinus, insbesondere über dessen Lehre vom Bösen, verdankt, dem gnostischen Dualismus mit dem Verweis auf den komplementären Zusammenhang von Böhmes beiden ewigen Principien begegnet. Vgl. Sibylle Rusterholz: Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme. Versuch einer Neubestimmung aufgrund kritischer Sichtung der Textgrundlagen. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Bd. I. Hrsg. v. Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), 205–241, hier: 234 f. Die zu Lebzeiten Franckenbergs nicht veröffentlichte Theophrastia Valentiniana ist (u. a.) eine erste subtile Verteidigungsschrift Böhmes, auch wenn sie nach Form und Anlass dem Typus des Elenchus nicht eigentlich entspricht. – Franckenbergs Freund Johann Theodor von Tschesch hingegen, dem es in seiner gegen David Gilbert gerichteten Zwiefache[n] Apologia (1644/1676) darum geht, als Beitrag zu seinem besseren Verständnis Böhme mit Böhme zu erklären und darüber hinaus dessen Konformität mit der Schrift zu erweisen, argumentiert gelegentlich äußerst ungeschickt, insbesondere wenn es um die Dialektik des Bösen bzw. den komplementären Zusammenhang der beiden ›ewigen‹ Principien geht (so etwa 164–167). Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 102. Ebd.

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wichtigen Punkt hinweist: die Notwendigkeit von ›Duplizität‹ und ›Schiedlichkeit‹ für die innergöttliche Offenbarung der ›ewigen Natur‹, die jedoch niemals ›Trennung‹ ist. Da Ewigkeit per definitionem jede zeitliche Sukzession logisch ausschließt, kann es keinen »Wechsel der Finsternüß und Lichts in der Uncreatürligkeit Gottes« geben, das eine bleibt stets im anderen aufgehoben, verbunden mit einem »unaufflößliche[n] Band«.51 In dem folgenden Satz meint man bereits den Schelling der bekanntlich stark von Böhme geprägten Freiheitsschrift (1809) zu hören: »In der Creatürligkeit aber darinnen Trennung geschehen mag/ kan solches wol böse [d. h. moralisch böse] werden.«52 Die Symbolik der rechten und linken Hand macht deutlich, dass Matthaeus/Zimmermann auch im Hinblick auf die Metaphysik des Bösen aus der Perspektive der Kabbala argumentiert in der Absicht, die strukturellen Analogien zwischen Böhme und der Kabbala auch in diesem wichtigen Punkt zu verdeutlichen.53 In den schöpfungstheologischen Zusammenhang der Frage nach der Herkunft des Bösen gehört natürlich auch die Lucifer-Thematik, die die Streitliteratur vor allem auf die Frage nach dem Zeitpunkt der Erschaffung der Engel und des Engelsturzes zuspitzt, während die Freiheitsproblematik im Zusammenhang mit Lucifer kaum thematisiert wird. Abweichend von orthodoxer Lehre ist die in Gen 1 geschilderte Schöpfung der Welt für Böhme Folge des voraus liegenden luciferischen Falls. Das hat notwendig hermeneutische Implikationen, denn offensichtlich lässt sich Böhmes Schriftdeutung nicht so ohne weiteres mit dem orthodoxen Sola-scriptura-Gebot vereinbaren. Demgegenüber verteidigt Johann Christoph Holtzhausen (neben anderen) den absoluten Vorrang des sensus historicus und sieht durch die allegorisch-typologische (figurale) Auslegung die Unfehlbarkeit der Schrift infra51

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Ebd., 102 u. 101. Die Böhme-Gegner weisen diese Argumentation gelegentlich als Schwindel und Ausweichmanöver zurück, das von der Konsequenz, Gott sei Schöpfer des Bösen, ablenken solle: Böhmes »unauflößliches Band« [der Principien in Gottes ›ewiger‹ Natur] sei »das liederliche Band/ damit er seine Augen verbindet/ daß er die Warheit nicht sehen kan« und damit »ein starcker Strick deß Satans« (Frik, Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer [1700], 549). Während Holtzhausen in diesem Zusammenhang von »der erdichteten Schwärmerischen gottlosen distinction/ der ewigen Uncreatürlichkeit/ und Creatürlichkeit« spricht (Capistratus Bohmicolarum Rabula [1692], 323), scheut sich Erasmus Francisci nicht, Böhmes Auffassung des Bösen, die den Teufel zum Teil Gottes mache, als »Zote« zu bezeichnen (Gegen=Stral der Morgenröte [1685], 762). Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 102. – Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. Mit Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Horst Fuhrmans. Stuttgart 1991, 90: »Allein wir haben ein für allemal bewiesen, daß das Böse, als solches, nur in der Kreatur entspringen könne, indem nur in dieser Licht und Finsternis oder die beiden Prinzipien auf zertrennliche Weise vereinigt sein können. Das anfängliche Grundwesen kann nie an sich böse sein, da in ihm keine Zweiheit der Prinzipien ist.« Zu weiteren nahezu wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Böhme und Schelling vgl. Sibylle Rusterholz: Jacob Böhmes Deutung des Bösen im Spannungsfeld von Tradition und Innovation. In: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Hrsg. v. Claudia Brinker u. a. Bern 1995, 225–240, hier: 232 u. Anm. 28 u. 234 u. Anm. 39. Zu Analogie und Differenz zwischen Böhme und Gnostik bzw. Kabbala vgl. Rusterholz, Jacob Böhmes Deutung des Bösen im Spannungsfeld von Tradition und Innovation (Anm. 52), 232 u. 238–240, und dies., Elemente der Kabbala bei Jacob Böhme (Anm. 30), 15–45.

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ge gestellt. Dass das gelegentlich zu erheiternden Ergebnissen führen kann, zeigt seine Argumentation gegen Böhmes Deutung von Gen 1,2: Lucifers Fall hat sich (nach Böhme) auf kosmischer Ebene ausgewirkt als ›Zusammenziehung‹ (compaction) der ursprünglich lichten, nicht-materiellen Schöpfungsnatur zu finster-starrer Materie, »und synd freylich«, wie Matthaeus/Zimmermann erläuternd hinzufügt, »auch hierauß die harte Felsen und Steine geworden/ und haben sich zusammen gezogen.«54 Holtzhausen kontert in grotesk-komischer Verwechslung der Seinsebenen: »[…] daß die Felsen und Steine hart sind/ das ist ihre natürliche und von Gott angeschaffene gute Eigenschafft. Sintemal wir harte Steine und Felsen zum bauen nöthig haben. Was hält man von weichen Steinen?«55

Natursprache und die Frage nach dem ›richtigen‹ Abendmahlsverständnis Einen harten Stein des Anstoßes bildet Böhmes Natursprachenlehre. Die Auseinandersetzung über eine uns heute eher fern gerückte Thematik ist deshalb besonders interessant, weil hier nochmals und in seltener Klarheit jene beiden grundsätzlich verschiedenen Sprachauffassungen aufeinander treffen, die seit Platons Kratylos bestimmend wurden und deren eine im Zuge der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, zumindest im Bereich der Sprachwissenschaft, zunehmend an Bedeutung verliert, auch wenn sie im Bereich der Theologie – etwa bei Oetinger, Baader und Hamann – durchaus noch ein Thema bleibt. Es geht um die Frage, ob (entsprechend der kratylischen Position) zwischen Wort und Ding, Zeichen und Bezeichnetem ein ursprünglich wesenhafter, natürlicher Zusammenhang bestehe (physei), oder aber ob die Verbindung zwischen Wort und Ding eine willkürlich gesetzte sei (thesei). Die Böhme-Gegner plädieren für die letztgenannte, die Böhme-Anhänger verteidigen die erstgenannte Position. Dabei finden sich bei den Gegnern von Böhmes natursprachlichen Auslegungen neben rein emotionalen Verurteilungen (»Alfenzerey«, »Pickelherings-« und »Narrenpossen« u. ä.)56 ernst zu nehmende, zukunftsweisende Argumentationen: Böhmes vom deutschen Einzelbuchstaben, entweder von dessen Form oder von dessen Artikulation ausgehende Auslegungen biblischer Texte (insbes. Gen 1,1: »Am Anfang…«) oder auch einzelner im Zusammenhang seiner Lehre wesentlicher Begriffe (wie etwa TINCTUR) würden, so Aletophilus/Mayer, in anderen Sprachen

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Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 107. – »Steine« wird von Böhme als Metapher und Sammelbegriff für die durch Lucifers Abfall verursachte grobe Materie gebraucht. Vgl. etwa Von der Menschwerdung Jesu Christi I, 2,8. In: SS, Bd. IV, 12: »[…] daß aus der himmlischen Wesenheit sind Erde und Steine worden […]; darauf dann die Schöpfung dieser Welt, als des dritten Principii ist erfolget« – wie sie die Genesis beschreibt. Holtzhausen, Capistratus Bohmicolarum Rabula (1692), 289. Vgl. Frik, Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer (1700), 179, und Johann Christoph Holtzhausen: Teutscher Anti-Barclajus (1691), 1168 u. 1184.

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notwendig zu anderen Ergebnissen führen.57 Dem hält der anonyme Liebhaber der Wahrheit entgegen, die Verschiedenartigkeit der Bezeichnungen eines Dinges rühre daher, dass jedem Ding nicht nur eine, sondern viele Signaturen innewohnten, weshalb dasselbe Ding, je nachdem an welcher inneren Signatur die Sprache sich orientiere, in den verschiedenen Sprachen je unterschiedlich ausgesprochen und bezeichnet würde, was im Übrigen für die Herrlichkeit und den Perspektivenreichtum der Schöpfung spreche.58 Die gegensätzlichen Sprachauffassungen lassen sich anhand zweier Zeugnisse verdeutlichen, die zeitlich relativ weit auseinander liegen und nicht direkt aufeinander Bezug nehmen: an Christian Becmans lateinischen Exercitationes Theologicae (1643) und Matthaeus’/Zimmermanns Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), wobei der letztgenannte mir zudem Gelegenheit bietet, ein kurzes Streiflicht auf die Thematik der media salutis, im Besonderen auf den Streit um die ›richtige‹ Abendmahlslehre zu werfen. – Christian Becman vertritt eine vollkommen rationale Sprachauffassung. Wenn Böhme anhand der einzelnen Buchstaben respektive anhand der Buchstabenteile des Wortes TINCTUR deren sprachtheologisch tieferen Sinn ent-deckt, indem er am Buchstaben T das dreifache I als Hinweis auf den Vater, im Buchstaben I einen Hinweis auf »das geborne I.«, auf IEsus, und im N »das dreyfache I im Geiste« ausmacht, er also die drei ersten Buchstaben auf die Trinität bezieht, während die Sieben-Zahl der Buchstaben des ganzen Worts auf die sieben Qualitäten verweist,59 so kontert Becman mit der Feststellung der Beliebigkeit solcher Auslegung, die sich mit gleichem Recht anhand eines anderen siebenbuchstabigen Wortes mit mehreren dreiteiligen Buchstaben, etwa anhand des Wortes ›FVNCTIO‹ bewerkstelligen ließe, was er dann entsprechend durchexerziert.60 Becman schließt den historisch richtigen, negativ gewerteten Hinweis auf exegetische Methoden der Kabbalisten an, in deren Tradition er Böhme sieht.61 Das führt uns wiederum zu Matthaeus/Zimmermann, der im Gegensatz zu Becman und im Einklang mit Kratylos von einem wesenhaften Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem ausgeht, was sich an einem auf den ersten Blick wenig bedeutsamen Hinweis auf den Böhme-Anhänger Abraham von Franckenberg im Anhang zur Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae able57

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Aletophilus, Send=Schreiben an Abraham Hinckelmann (1694), 11, § 11 u. 12. – Ganz ähnlich argumentiert Frik, Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer (1700), 179. Anonymus [Liebhaber der Wahrheit], Abfertigung des Sendschreibens Aletophili (1696), 29. Christian Becman: Exercitationes Theologicae (1643), 440 f. bezieht sich hier auf Böhmes Tabulae Principiorum in: SS, Bd. IX, 64. Vgl. Becman, Exercitationes Theologicae (1643), 440, Sp. 2–441, Sp. 2. »Non Prophetae, non Apostoli, non alii viri Dei: sed Cabalistæ ita eviscerant voces Hebræas aut Græcas, ut è singulis earum literis vel dictionem, vel sententiam, vel etiam mysterium aliquod procreent.« (ebd., 441, Sp. 1). – Mit der symbolischen Deutung der graphischen Form einzelner Buchstaben nimmt Böhme ein Element kabbalistischer Exegese auf. Allerdings kennt die ›alte jüdische Kabbala‹ die Ausdeutung einzelner Buchstabenteile (mit Ausnahme des hebräischen Jod) nicht, wohl aber die christliche Kabbala. Vgl. hierzu Rusterholz, Elemente der Kabbala bei Jacob Böhme (Anm. 30), 41 f.

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sen lässt. In diesem Appendix oder Anhang diskutiert Matthaeus/Zimmermann verschiedene Vorwürfe, die die Böhme-Gegner ins Spiel gebracht haben.62 Einer dieser Vorwürfe lautet: »Im heiligen Abendmahl empfangen wir nicht den Leib/ sondern nur die Mumia Christi.«63 Dazu sei anzumerken, so Matthaeus/Zimmermann, daß die gute Leute allen anzeigen nach/ in der Meynung seyn/ ob verstünde J. Böhme nur ihre Apotheckerische Mumiam, i. e. verdorretes Menschen=Fleisch/ oder doch die Apotheckerische Specerey die Todten zu salben/ weil sie setzen: nur eine Mumiam […], [während Böhme] durch die Mumiam/ wie Herr Abraham von Franckenberg es aus seinem Ursprung deduciret/ einen solchen Balsam des Lebens verstehet/ der da ist die Menschheit Christi nach seiner Krafft/ und die rechte Mum-IAH oder Gabe Gottes oder himmlisch=ausgeschütte Salbe und Specerey/ wodurch der halbtodte Mensch wieder neue Kräfften krieget und zum ewigen Leben erquicket und gestärcket wird.64

Die Stelle, auf die sich Matthaeus/Zimmermann hier ohne Quellenangabe bezieht, findet sich in Franckenbergs Raphael oder Artzt=Engel (1639/1676), wo von der »allerheilsamste[n] MUM IAH« als der »universal-Tinctur des Lammes« die Rede ist, in welcher allein »das Heil und der Trost unsers Lebens« stehe.65 Die besondere Schreibweise des um einen Buchstaben erweiterten Wortes »deducirt« insofern den Ursprung des von Böhme im Zusammenhang des Abendmahls gebrauchten Wortes »Mumia«, als Franckenberg mit der graphischen Hervorhebung des hebräischen Gottesnamen ›IAH‹ an eine in der ›alten jüdischen Kabbala‹ gebräuchliche exegetische Technik anknüpft.66 Damit ist für Matthaeus/Zimmermann der zugleich göttliche und menschliche, geistliche und leibliche Sinn abgebildet und beglaubigt, auf den Böhme zielt, wenn er Christi Einsetzungsworte so kommentiert: […] Er saß bei ihnen am Tische, und zerriß nicht das gebildete Wesen seines Leibes; sondern er gab ihnen die geistliche Menschheit, als die Kraft seines Leibes und Blutes, seine eigene Mumiam, darinnen die Göttliche und menschliche Kraft verstanden wird; welche Mumia ein wahres menschliches Wesen aus Fleisch und Blute ist, und ein geistliches Fleisch ist, daraus das sichtbare Bilde wächset, und mit dem sichtbaren Bilde gantz Eines ist.67 62

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Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 305–352. Der Appendix ist untertitelt: Anhang einer Summarischen Erinnerung/ Betreffend die andere Widerfechter der Göttlichen und durch das einfälltigste [sic!] Werckzeug/ den J. Böhmen eröffneter Mysterien/ welche nicht ohne Betrübung/ ja Lästerung des H. Geistes/ und dahero erwachsender hoher Seelen=Gefahr zutreten werden. Ebd., Nr. VIII, 343. Ebd., 344 f. Abraham von Franckenberg: Raphael oder Artzt=Engel. Amsterdam 1676, 19. Vgl. Sibylle Rusterholz: Elemente christlicher Kabbala bei Abraham von Franckenberg. In: Christliche Kabbala. Hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Ostfildern 2003 (Pforzheimer Reuchlinschriften 10), 183–197, hier: 194. – Zu den hebräischen Gottesnamen vgl. Johann Maier: Die Kabbalah. Einführung – Klassische Texte – Erläuterungen. München 1995, 19– 23. Jacob Böhme: Von Christi Testament des H. Abendmahls, 3,2. In: SS, Bd. VI, 89. Vgl. auch ebd., 5,7–9 (113), wo Böhme die katholische, reformierte und lutherische Abendmahlsauffassung gegeneinander stellt. Hier wird deutlich, dass er sich vor allem vom lutherischorthodoxen Gedanken der ›Realpräsenz‹ abgrenzen will (§ 5,9), den z. B. Erasmus Francisci

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Damit dürfte deutlich geworden sein, wie unendlich fern sich die beiden Sprachauffassungen stehen. Für Böhme und seine Anhänger beruht Sprache nicht auf menschlicher Setzung, nichts ist zufällig, alles, vom einzelnen Wort bis hin zum Teil des einzelnen Buchstaben ist von Belang, wird zum Gefäß und Abbild göttlicher Geheimnisse, ist doch der Mensch über die Sprache am unmittelbarsten mit dem Schöpfergott verbunden.68 Sowohl der Böhme-Kritiker Becman wie der Böhme-Verteidiger Matthaeus/Zimmermann stellen Böhmes Sprachtheologie in den Zusammenhang kabbalistischer Traditionen – der eine unter negativem, der andere unter positivem Vorzeichen. Die Diskussion um die spezifisch lutherisch-orthodoxen Inhalte wie iustificatio sola fide, imputatio, den rechten Gebrauch der media salutis verläuft in der Streitliteratur oft unbefriedigend, weil (die von Spener beklagte) historisch falsche Gleichsetzung Böhmes mit den »Böhmisten« eine differenzierte Darstellung auf engem Raum nahezu verunmöglicht.69 Allgemein lässt sich sagen, dass es Böhme stets um die lebenspraktisch wirksame Anverwandlung der Glaubensinhalte geht, ganz im Sinne Arndts, der in der Vorrede zum Wahren Christenthum betont, es sei »nicht genug GOttes Wort wissen«, sondern man müsse »dasselbige auch in die lebendige, thätige Übung« bringen.70 Es ist auffallend, dass in der Streitliteratur um Böhme die Themen der spekulativen Mystik die praktischen Glaubensfragen absolut überwiegen. Das dürfte mit der orthodoxen prinzipiellen Ablehnung eklektischer Rezeption zusammenhängen, wonach – entgegen der Devise »Prüfet alles, das Gute behaltet« (1Thess 5,21) – um des möglicherweise

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(Gegen=Stral der Morgenröte [1685], 771) vertritt, der Böhmes Abendmahlsauffassung eine »vermessene und vorwitzig-klügelnde Enthusiasterey« nennt und feststellt: »Empfingen wir/ im H. Abendmal/ nur die Mumiam des Leibs und Bluts Christi; so hätte der HErr nicht gesagt: Das ist mein Leib der für euch gegeben; diß mein Blut/ das für euch vergossen wird. Es ist nicht nur die Mumia oder der geistliche Leib/ sondern der rechte wahre Leib Christi […]/ und sein wahres Blut […].« Es ist dieser Sprachoptimismus, den Böhme mit der Kabbala teilt. Für einmal ist es nicht der Buchstabe, der tötet, es ist der Buchstabe, der lebendigen Sinn schafft. Und das gilt für Böhme wie für Franckenberg nicht mehr nur für die hebräische, sondern ebenso für die deutsche Sprache, was für die Gegner einen weiteren Kritikpunkt darstellt. Vgl. etwa Aletophilus, Send=Schreiben an Abraham Hinckelmann (1694), 12, und die Gegenreaktion vom anonymen Liebhaber der Wahrheit, Abfertigung des Sendschreibens Aletophili (1696), 27: Als »erste Tochter der Natur=Sprache« sei das Hebräische wohl »am kläresten«, jedoch sei nicht allein das Hebräische als motivierte Sprache zu betrachten, sondern – in gradueller Abstufung – jede Sprache. Eine durchaus wünschenswerte gründliche Darstellung der Auseinandersetzung mit den spezifisch lutherisch-orthodoxen Inhalten in der Böhme-Streitliteratur könnte sich den facettenreichen, sehr differenziert argumentierenden Beitrag von Steiger, Heinrich Varenius’ Rettung von Johann Arndts ›Wahrem Christentum‹ (Anm. 44), zum Vorbild nehmen. Johann Arndt: Sechs geistreiche Bücher vom Wahren Christenthum. Schaffhausen 1755 (1. Aufl. der ›Vier Bücher vom Wahren Christenthum‹ 1610), unpaginierte Vorrede, [2]. – Anonymus [J. J. M. E. D. = Johann Jacob Zimmermann] sieht Böhme ausdrücklich im Zusammenhang mit Arndt unter Verweis auf dessen ›Wahres Christentum‹ (Buch I, Cap. 9: »Durch das jetzige unchristliche Leben wird Christus und der wahre Glaube verläugnet«) und zitiert Johann Valentin Andreae, der von seiner Zeit sage, »daß Christum bekennen für Orthodox, ihme aber nachfolgen für Ketzerisch gehalten werde« (Verlangete Christliche Beantwortung deren Viertzig wichtigen Fragen betreffende Jacob Böhmens Lehre [1693], 19).

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»untermengten Guten willen das offenbahre Böse« einer Lehre nicht gut zu heißen sei, wie Holtzhausen betont.71

Können Heiden selig werden? Auf einen viel diskutierten Punkt, der die tiefen Differenzen zwischen den Böhme-Gegnern und seinen Verteidigern noch einmal verdeutlicht, möchte ich zum Schluss noch hinweisen: auf die Differenzen, die sich an der Frage »Können Heiden selig werden?« entzünden. Ein recht=gläubiger Christ darf mit niemand um die Religion streiten: Er streitet nur wieder sich selber, wieder Fleisch und Blut, und trachtet dahin, wie er GOttes Werck in der Liebe des Nächsten möge wircken […].72 Nicht bin allein Ich also; sondern es sind alle Menschen also, es seyn gleich Christen, Juden, Türcken oder Heiden, in welchem die Liebe und Sanftmuth ist, in dem ist auch GOttes Licht.73

Auf diese beiden Böhme-Stellen aus der ersten Schutz=Schrift wieder Balthasar Tilcken und der Aurora beziehen sich die Gegner immer wieder, um Böhme der Ketzerei zu beschuldigen – mit folgenden Argumenten: Böhme leugne die Notwendigkeit des Leidens Christi;74 Christi Genugtuung werde für nicht notwendig erachtet. Entgegen der Meinung der »Herren von der Singularitet und Absonderungsstiffter« (der Böhmisten) sei Seligkeit nur innerhalb der Kirche möglich, betont Francisci,75 und ein anonymer Gegner macht seiner Empörung über die zitierte Aurora-Stelle Luft mit den Worten: »heisset das nicht den Zaun um den Weinberg der Christlichen Kirchen niederreissen/ und den Bund der heiligen Tauffe samt dem Glauben und wahrer Erkenntnis Gottes für unnöthig schätzen«?76 Johann Christoph Holtzhausen geht noch einen Schritt weiter, indem er die Pflicht zur Polemik und den Vorrang der Lehre vor der Liebe betont: »dann es heißt nicht die Liebe/ sondern das Wort bringet ewiges Leben« – wo keine rechte Lehre sei, sei auch keine wahre Heiligung im Leben möglich.77 – Die Böhme-Befürworter verweisen zu seiner Verteidigung auf das Exempel Kornelii

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Holtzhausen, Capistratus Bohmicolarum Rabula (1692), 160. Vgl. auch ebd., 379. – Zur Auseinandersetzung über die Gültigkeit der paulinischen Maxime innerhalb des Pietismus vgl. Gierl (Anm. 1), 501–513 (Eklektik und Pietismus). Erste Schutz=Schrift wieder Balthasar Tilcken, § 89. In: SS, Bd. V, 15. Aurora 22,52. In: SS, Bd. I, 328. Zu diesem von David Guilbertus in seiner Admonitio adversus Scripta Boehmiana (1643) erhobenen Vorwurf vgl. Johann Theodor von Tschesch: Zwiefache Apologia (1676), 167 f. Francisci, Gegen=Stral der Morgenröte (1685), 696. Anonymus [E. I. H. M. D.], Der entlarvete Jacob Böhm (1693), 18 f. Holtzhausen, Capistratus Bohmicolarum Rabula (1692), 141.

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(Apg 10, 34 f.)78 und das Schriftwort: »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet« (Mt 7,1 und Röm 2,1). Die Verdammung aller Heiden widerspreche zudem der Natur des »allgütigsten VATERS«,79 ja einer der Böhme-Verteidiger verneint (in an Lessing gemahnender Weise) den Absolutheitsanspruch jeder Religion mit dem Hinweis, jeder halte nur das für wahr, wohinein er zufällig geboren sei, wodurch das babylonische »Contra=Spiel« sich stets erneuere, während nicht die Religionsformel, sondern allein die Tat zähle.80 Böhme selbst sieht weit in die Zukunft voraus, wenn er in der zweiten Schutz=Schrift wieder Balthasar Tilcken sagt: »Was unsere Väter haben mit Verachten und Spotten eingebrocket, das werden ihre Kinder mit Schwertern und Schlägen ausessen.«81

Argumentationsstrategien und ihre Prämissen Ich möchte abschließend die Argumentationsstrategien der Befürworter und Gegner noch einmal gegenüberstellen und nach den unterschiedlichen Prämissen fragen, die die Befürworter und die Gegner jeweils vereinen. – Die Gegner sind bemüht, eine angebliche ›Erleuchtung‹ Böhmes zurückzuweisen und sie tun dies, indem sie ihn mit seinen Quellen völlig deckungsgleich identifizieren und ihm damit jede Originalität absprechen. Für die Gegner ist mit der Heiligen Schrift die Offenbarung abgeschlossen, die Schrift ist eindeutig, der absolute Vorrang des sensus historicus ist die logische Folge davon. – Die BöhmeAnhänger gehen grundsätzlich von der Wahrheit des im 19. Kapitel der Aurora geschilderten Durchbruchserlebnisses aus, in dem sie die schriftstellerische Tätigkeit Böhmes begründet sehen. Quellenübereinstimmung wird positiv gesehen, sie schließe Erleuchtung nicht grundsätzlich aus. Auf Differenzen zwischen Böhme und bestimmten Quellen wird gelegentlich hingewiesen, aber kein besonderer Wert gelegt. Matthaeus/Zimmermann legt weitreichende Analogien zwischen Böhme und der Kabbala überzeugend dar. Wie aber stellt er sich die Übermittlung vor, eine Frage, die uns heute so brennend interessiert? Das überraschende Ergebnis: Die Frage wird von Matthaeus/Zimmermann nicht gestellt, sie interessiert ihn nicht! Wir erinnern uns an seine Formulierung: der »Grund« von Böhmes Mysterien sei im Buch Jezira »offenbahrlich« enthalten. Diesen ›Grund‹ gelte es vollends sichtbar zu machen, ja die Deutschen hätten Ursache, dem Allgütigen GOtt zu dancken/ daß er uns die allerschönste Geheimnüssen/ welche in der Patriarchen und anderer Hebreer Theologia speculativa und philosophia divina, oder wahrer

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Vgl. etwa Anonymus [J. J. M. E. D.], Verlangete Christliche Beantwortung deren Viertzig wichtigen Fragen (1693), 42. Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 252. Anonymus: Wolgemeinte Gegen=Erklärung (1685), 24 f. Zweyte Schutz=Schrift wieder Balthasar Tilcken, § 317. In: SS, Bd. V, 162.

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Cabala […] Buchstäblich verborgen gelegen/ durch diesen einfältigen Werckzeug/ den Jacob Böhmen/ […] eröffnet hat.82

Anders als den Gegnern geht es ihm nicht um den Nachweis historischer Quellenabhängigkeit. Im Hintergrund steht für ihn der (von der Orthodoxie abgelehnte) Gedanke fortschreitender Offenbarung, eine Prämisse, die er mit sämtlichen Böhme-Anhängern teilt.83 Das hat Konsequenzen für das Schriftprinzip: nicht der sensus literalis wird bevorzugt, sondern der sensus allegoricus, gilt es doch, alte Wahrheiten mit neuen Augen klarer zu sehen. Matthaeus/Zimmermann kann sicher nicht Böhmes Orthodoxie im Sinne der für die Gegner maßgeblichen Confessio Augustana invariata und der Konkordienformel nachweisen, aber er ist derjenige unter allen Verteidigern Böhmes, der dank kabbalistischer Perspektive viel zum besseren Verständnis Böhmes beiträgt. Dabei rücken vor allem jene Aspekte von Böhmes Philosophie in den Vordergrund, die im 18. und 19. Jahrhundert eine breite Wirkung entfalten werden: bei Oetinger, bei Goethe, bei Schelling, Hegel und Schopenhauer. Nach Gershom Scholem hat Böhme »die von den Kabbalisten intendierte Weltschau noch einmal unabhängig entdeckt«.84 Damit bestätigt der rationale Denker des 20. Jahrhunderts – wohl ungewollt – die Sicht der BöhmeAnhänger: den Gedanken fortschreitender Offenbarung.

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Matthaeus, Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae (1691), 65. – Vgl. die sehr ähnliche Argumentation bei J. J. M. E. D. [Zimmermann], Verlangete christliche Beantwortung deren Viertzig wichtigen Fragen (1693), 17 (Satz 26) u. 20 (Satz 34). – Auch der anonyme Autor der Wolgemeinte[n] Gegen=Erklärung (1685) sieht Böhme als Werkzeug für »so wunderweise Aufsiegelungen der in den Prophetischen und Apostolischen Schrifften bis auf diese letzte Zeit verdeckt gebliebene Geheimnüsse« (9). Der ungenannte Liebhaber der Wahrheit nimmt hier eine gewisse Sonderstellung ein (ein weiteres Indiz gegen die Identität mit Matthaeus/Zimmermann, vgl. Anm. 9b), indem er den Gedanken fortschreitender Offenbarung nicht explizit auf den Gesamtverlauf der Geschichte, wohl aber auf die unterschiedlichen »gradûs« der Erleuchtung Böhmes als Einzelperson bezieht, was bedeutet, dass auch der Erleuchtete gelegentlich irren könne; vgl. Detectio detectionis (1696), 83. Scholem, Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes (Anm. 43), 82.

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Anhang

Verzeichnis der Streitschriften Der besseren Übersicht halber in chronologischer Anordnung, zum Teil unter Berücksichtigung der Entstehungsdaten. 1624 Richter, Gregor: Judicium […] de Fanaticis Sutoris Enthusiastici Libris: quorum tituli sunt 1. Morgen Röthe im Auffgange. 2. Der Weg zu Christo. 3. Von wahrer Busse […]. Görlitz: Johannes Rhamba 1624. Widmann, Peter: Christliche Warnung/ Für einem new außgesprengeten Enthusiastischen Büchlein/ dessen Titul/ Der Weg zu Christo/ Dadurch kürtzlich vnd einfeltig/ doch gründlich vnd schrifftmässig erwiesen wird/ wie gedachtes Büchlin gantz verdächtig/ Ketzerisch/ vnd der heiligen Schrifft zu wider. Zuvor öffentlich pro Concione am Sontage JUDICA angestellet/ Jetzo aber vmb der Einfeltigen willen/ vnd der Warheit zu stewer/ in öffentlichen Druck gegeben […]. Leipzig: Abraham Lamberg 1624. 1627/1703 Anonym [Abraham von Franckenberg]: Theophrastia Valentiniana. Das ist: Ein unpartheyischer schrifft- und natur-mäßiger bericht uber ein Fragmentum von der Lehre Valentini, genommen aus einem büchlein, welches durch Gerhardum Lorichium anno 1540 zu Cöln edieret, und Vallum Religionis Catholicae intituliret […]. In: Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie. Bd. 2. Hildesheim 1967 (ND der Ausg. Frankfurt a. M. 1729). Supplementa, S. 1216–1235. Die vermutlich 1627 entstandene Schrift wurde erstmals 1703 in den Supplementa der Kirchen- und Ketzerhistorie gedruckt.

1643 Becman, Christian: Exercitationes Theologicæ […]. Amsterdam: Johannes Janssonius 1643. Darin: Exercitatio XXII: In qua (praemissis nonnullis de usu Logicae ac Philosophiae in sacris, de animâ, deque aliis) candidè judicatur de Jacobi Behmii libris, et nominatim de Psychologiâ, quam Johannes Angelius Werdenhagen è linguâ Germanicâ vertit in Latinam, et recens, unà cum introductione ac paraenesi, edidit: S. 419–459.

Guilbertus, David: Admonitio adversus scripta Boehmiana. Utrecht 1643. Zuerst niederländisch: Christelijke Waerschouwing/ Thegens De Gruwelijcke Boecken Van Jacob Böhmen […]. Amsterdam: Anthoni Tielemans 1643.

Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger

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1644/1676 Von Tschesch, Johann Theodor: Zwiefache Apologia, und Christliche Verantwortung auf die fünf lästerlichen Hauptpuncte Davids Gilberti von Utrecht […] Wider die Person und Schriften des theuren und hocherleuchteten Manns Jacob Böhmens […] getreulich in unsere Hochteutsche Muttersprach übersetzet von einem Liebhaber Göttlicher Geheimnisse. [Amsterdam: Christoph Cunrad] 1676. Im Anhang: Drei Judicia über Böhmes ›Aurora‹ (S. 269–273) sowie zwei Briefe (S. 273– 275). – Zuerst niederländisch: Eerste apologie ende Christelycke voorberecht, op die viif hooft-puncten der lasteringen Dav. Gilberti […] tegen de persoon ende schriften […] Jacob Boehmens. Amsterdam 1644.

Guilbertus, David: Apologia admonitionis […]. Utrecht 1644. Zuerst niederländisch: Eerste Apologia ofte Verantwoordinge der heylighe waerheydt: teghens de Godts-lasteringhen der Behemisten […] door eenen die hem selven noemt Johannem Theodorum von Tschesch. Amsterdam: Anthoni Tielemans 1644.

1679 Wagner, Tobias: Propemticum Judicium Theologicum de Scriptis Jacobi Boehmi […]. Tübingen: Johann-Heinrich Reisl 1679. Wagner verwechselt insgesamt 12 x Böhmes Aurora mit Paul Felgenhauers Morgenröthe der Weißheit (1629), bezieht also wiederholt seine Argumente aus der falschen Quelle.

Möller, Johann: Der Fanatische Atheist, Aus des Ertz=Enthusiasten Jacob Böhmens gottlosen Büchern/ Allen hierdurch etwa gefährten Evangelischen Christen zu heilsamer Verwarnung […]. O. O.: o. Drucker 1679. 1684 Calov, Abraham: Anti-Böhmius, in quo docetur, quid habendum de secta Jacobi Böhmen […]. Wittenberg: Christian Schrödter 1684. 1685 Anonym: Wolgemeinte Gegen=Erklärung über die Theosophische Schrifften/ Des von GOtt hoch=erleuchteten Jacob Böhmens: Aus Veranlassung des unter dem Namen Johann Möllers […] Vor wenig Jahren über dieselbe aus dem Reiche der Finsternuß herfürgegebenen verläumbderischen Urtheils/ der Fanatische Atheist genannt […]. O. O.: o. Drucker 1685. Francisci, Erasmus: Gegen=Stral Der Morgenröte/ Christlicher und Schrifftmässiger Warheit/ Wider das Stern=gleissende Irrlicht Der Absonderung von der Kirchen und den Sacramenten; In gründlicher Erörterung der fürnehmsten Haupt=Fragen und Schein=Sätze heutiger Böhmisten/ wie auch beygefügter Untersuchung/ was von deß Jacob Böhms Schrifften zu halten sey […]. Nürnberg: Wolfgang Moritz Endter 1685.

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Sibylle Rusterholz XVII: Was von dem Jacob Böhmen/ und dessen Schrifften/ zu halten? S. 712–804. – Im Gefolge von Tobias Wagner (1679) macht auch Francisci sich des crimen falsi schuldig, indem er gelegentlich, nicht durchgängig, Böhmes Aurora mit Paul Felgenhauers Morgenröthe der Weißheit (1629) verwechselt.

1686 Pseudonym [Gerardus Antognossi]: Novi Apellis, ne sutor ultra crepidam. Sive novi sutoris Jacobi Bohemi Pseudotheosophia, et pro eodem, Nob. Joan. Theodori Tschesch, Futilis Apologia. […] Frankfurt a. M.: Johann Philipp Andreae 1686. 1688 Breckling, Friedrich: ANTICALOVIVS sive Calovius cum Asseclis suis prostratus et Jacob Bôhmius Cum aliis testibus veritatis defensus. Darin gelehret wird was von D. Abraham Calovii, Pomarii Francisci und anderer falschgelehrten Büchern/ Apologien und Schrifften wider Jac. Böhmen/ Hermannum Jungium, I. C. Charias M. Henricum Amerßbach/ mich und andere Zeugen der Warheit zuhalten sey. […]. [Wesel:] : o. Drucker 1688. 1690/91 Colberg, Ehregott Daniel: Das Platonisch=Hermetische Christenthum begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, Unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer/ Rosencreutzer/ Qväcker/ Böhmisten/ Wiedertäuffer/ Bourignisten/ Labadisten/ und Quietisten […]. Frankfurt a. M./Leipzig: M. G. Weidmanns 1690/91. Kap. VIII: Von Jacob Böhmen Schwärmerey, S. 307–328.

1691 Holtzhausen, Johann Christoph: Teutscher Anti-Barclajus, Das ist: Ausführliche Untersuchung Der gantzen Quäckerey und Apologiae Roberti Barclay […] Sampt einem Kurtzen Anhang einiger Anmerckungen Uber Jacob Böhmens Schrifften/ sonderlich seine so genandte Auroram: Zur Warnung und Verwahrung gegen solche falsche Lehre. Frankfurt a. M.: Johann David Zunner/ Johann Dieterich Friedgen 1691. Anhang: S. 1155–1202.

Pseudonym [Johannes Matthaeus = Johann Jacob Zimmermann]: Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae contra Holtzhausium defensa, Das ist: Christliche Untersuchungen der Holtzhäusischen Anmerckungen Uber und wider Jacob Böhmens Auroram […] Nebens einem Anhang/ worinnen andere Anti=Bömisten kürtzlich beantwortet werden. Frankfurt a. M./Leipzig: H. Wilhelmi 1691 (2. unveränd. Aufl. 1698). Appendix oder Anhang: S. 305–352.

Jacob Böhme im Licht seiner Gegner und Anhänger

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1692 Holtzhausen, Johann Christoph: Capistratus Bohmicolarum Rabula, Das ist: Klarer Beweiß/ Daß das jenige Geschwätz/ womit einer unter dem Namen M. Johannis Matthaei verlarveter/ Vorsprecher der Böhmistischer Rotte Meine Anmerckungen/ Uber Jacob Böhmens Schrifften/ sonderlich Auroram, jüngst angegrieffen/ so falsch/ gottloß und unverschamt ist/ Daß er von Recht deßwegen für der Christlichen Kirchen und seinem eigenen Gewissen verstummen muß […]. Frankfurt a. M.: Johann David Zunner/Johann Dieterich Friedgen 1692. 1693 Anonym [E. I. H. M. D.]: Der entlarvete Jacob Böhm/ Oder Gründliche Anzeigung/ wie dessen so genandte Theosophische Schrifften anzusehen/ und woher ihm solche Wissenschafften erwachsen sind/ Nebst angehengeter Dissertation, De Adeptis. O. O.: o. Drucker 1693. Hinckelmann, Abraham: Viertzig Wichtige Fragen/ Betreffende Die Lehre/ so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten/ Allen deroselben Liebhabern zu Christlicher Beantwortung fürgeleget. Hamburg: In Schultzischen Buchladen 1693. Anonym [J. J. M. E. D. = Johann Jacob Zimmermann]: Verlangete Christliche Beantwortung Deren Viertzig Wichtigen Fragen/ betreffende Jacob Böhmens Lehre/ so in seinen Schrifften soll enthalten seyn/ Welche von […] Abraham Hinckelman D. Allen Liebhabern derselbigen sanfftmüthig zu beantworten/ in öffentlichen Druck fürgeleget worden […]. Amsterdam: o. Drucker 1693. Winckler, Johann: Send=Schreiben An Dero HochEhrwürden Herrn Abraham Hinckelmann […] Betreffend Einige Anmerckungen über die Viertzig Sätze/ Welche ein ohnbenamter Liebhaber des Böhmens Zum Grunde der Antwort auff die gedruckte fürgetragene 40 Fragen von Jacob Böhmens Lehr gelegt. Hamburg: Peter Ziegler 1693. Die Schrift reagiert auf die Antwort von J. J. M. E. D. [Johann Jacob Zimmermann], noch bevor Hinckelmann diese zu Gesicht bekommen hatte.

Hinckelmann, Abraham: Detectio Fundamenti Böhmiani, Untersuchung und Widerlegung Der Grund=Lehre/ Die In Jacob Böhmens Schrifften verhanden. Worinnen unter andern der Recht=gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabalae, wie auch der Ursprung alles Fanaticismi und Abgötterey der Welt entdecket wird. Hamburg: Georg König 1693. 1694 Anonym [Liebhaber der Wahrheit]: Freundliche Antwort/ Auff die 10. ersten/ von den XL. Fragen/ […] Herrn Abraham Hinckelmannns/ […] Betreffend die Lehre/ so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten. Gestellet von einem Liebhaber der Warheit. O. O.: o. Drucker 1694. In einem ›Anhang‹ (S. 58–80) nimmt der anonyme Verfasser Bezug auf die 1693 ebenfalls anonym veröffentlichte Schrift von J. J. M. E. D. [Johann Jacob Zimmermann] sowie

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Sibylle Rusterholz auf Hinckelmanns Detectio Fundamenti Böhmiani, d. h. die vorliegende Schrift dürfte bereits 1693 geschrieben worden sein.

Pseudonym [Aletophilus = Johann Friedrich Mayer]: Send=Schreiben An Tit. Herrn Abraham Hinckelmann […] Betreffend den Haupt=Grund der Lehre/ so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten. Leipzig: o. Drucker 1694. 1694/1696 Anonym [Liebhaber der Wahrheit]: Continuatio Der Freundlichen Antwort Auff die andern Zehen Fragen Tit. Herrn Abraham Hinckelmanns/ […] betreffend die Lehre/ so in Jac. Böhmens Schrifften enthalten. Woran loco Appendicis beygefügt ist: I. Detectio detectionis Hinckelmannianae, worinn erwiesen wird/ das vermeynte Fundament: Gott sey die Materi aller Dinge/ sey nicht Böhmens Fundament; Da dann zugleich im Beschluß außgeführet wird auß den fürnehmsten Lehrern/ Auff was Weiß die Welt auß Gott sey. II. Eine Abfertigung des Sendschreibens Aletophili, Gestellt Von einem Liebhaber der Warheit. Frankfurt a. M.: Johann David Zunner 1696. Detectio Detectionis: S. 59–108; Abfertigung des Sendschreibens Aletophili: S. 1–57, d. h. die Reihenfolge des separat paginierten Anhangs entspricht nicht dem Gesamttitel der Schrift, was wohl auf einem Versehen des Druckers beruht. Die dreiteilige Schrift dürfte 1694 entstanden sein.

1699/1700 Arnold, Gottfried: Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie. Frankfurt a. M.: T. Fritsch 1699–1700 (31730; ND Hildesheim 1967). Von Jacob Böhmen: S. 1130–1157.

1700 Johann Frik: Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer/ So auß dessen eigenen Schrifften gezeiget/ und auß H. Schrifft widerlegt werden. Samt einer Vorrede Eliae Veiels […]. Ulm: Ferdinand Mauch 1700. Postum. Die Vorrede von Veiel stammt vom 23. Februar 1697, eine zweite Vorrede der Söhne des verstorbenen Autors ist auf den 9. März 1699 datiert. Die Schrift entstand über viele Jahre hinweg u. wurde noch zu Lebzeiten Quirinus Kuhlmanns begonnen, der 1689 starb.

Bo Andersson

Jacob Böhmes polemischer Konflikt mit Gregorius Richter

Vorbemerkung In einem Sendbrief vom April 1624 an einen anonymen Adressaten charakterisiert Jacob Böhme seinen Konflikt mit dem Görlitzer Oberpfarrer Gregorius Richter auf folgende Weise: »es stürmet Satan wieder Christum und Christus wieder den Satan«.1 Die hier benutzte rhetorische Figur der antimetabole drückt den grundlegenden Dualismus des intensiven Konflikts zwischen den beiden Kontrahenten aus.2 Böhme fordert zur dringenden Stellungnahme auf; der Leser wird aufgefordert, eine Wahl zwischen Böhme und Richter zu treffen, d. h. eine Wahl zwischen Gott und dem Teufel. Konflikte dieser Art, in denen Gegner auf intensive Weise im Sinne eines grundsätzlichen Dualismus Gott vs. Teufel diabolisiert werden, kommen im theologischen Diskurs der Frühen Neuzeit häufig vor.3 Mit Hilfe eines Aktantenmodells werde ich das strukturelle Muster beschreiben, das solchen Konflikten 1

2

3

Jacob Böhme: Epistolae theosophicae, oder Theosophische Send-Briefe (1618–1624). In: Ders.: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961 (im Weiteren mit der Sigle »SS«), hier: Bd. IX, Epist. 59:2. – Im Folgenden wird durch einfache Angabe der Briefe und Abschnitte nach dieser Ausgabe zitiert. Zu Böhmes Gebrauch der rhetorischen Figur der antimetabole, die für sein dialektisches Denken auch eine wichtige Rolle spielt, vgl. Bo Andersson: Jacob Böhmes Denken in Bildern. Eine kognitionslinguistisch orientierte Analyse der Wirklichkeitskonstruktion in der Morgen Röte im auffgang (1612). Tübingen 2007, 453 ff. Zur theologischen Polemik der Frühen Neuzeit vgl. u. a. Birgit Stolt: Wortkampf. Frühneuhochdeutsche Beispiele zur rhetorischen Praxis. Frankfurt a. M. 1974 (Respublica Literaria 8); Barbara Bauer: Die Rhetorik des Streitens. Ein Vergleich der Beiträge Philipp Melanchthons mit Ansätzen der modernen Kommunikationstheorie. In: Rhetorica 14 (1996), 37–71; Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Plancks-Instituts für Geschichte 129); Thomas Gloning: The Pragmatic Form of Religious Controversies around 1600. A Case Study in the Osiander vs. Scherer & Rosenbusch Controversy. In: Historical Dialogue Analysis. Hrsg. v. Andreas H. Jucker u. a. Amsterdam/Philadelphia 1999 (Pragmatics & Beyond, New Series 66), 81–110; Ingvild Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts. Argumentation, Form und Funktion. Frankfurt a. M. 2003 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1855) und Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 104).

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zugrunde liegt und auch den Konflikt zwischen Böhme und Richter prägt. Bevor ich dieses Aktantenmodell diskutiere, gehe ich auf den Begriff Polemik kurz ein.

Theologische Polemik Polemik Polemik ist, wie Jürgen Stenzel in einem wichtigen Beitrag hervorgehoben hat, aggressive Rede.4 Wie er selbst betont, kann jedoch nicht alle aggressive Rede als Polemik bezeichnet werden. Von Beschimpfung unterscheidet sich Polemik z. B. darin, dass man in der Polemik unbedingt argumentieren muss, was in einer Beschimpfung nicht notwendigerweise der Fall ist. Polemik wird von Stenzel so charakterisiert, dass es darin um mehr oder minder gestaltete Rede (in mündlicher oder schriftlicher Form) geht, die Themenbereiche betrifft, die einer Argumentation zugänglich sind (Politik, Wissenschaft, Kunst, Theologie usw.). Polemik muss außerdem öffentlich ausgetragen werden.5 Um die polemische Kommunikation zu beschreiben, entwickelt Stenzel einen Begriff der polemischen Situation, die aus vier Elementen besteht: Polemisches Subjekt ist der Polemiker. Den Angegriffenen nennt er polemisches Objekt. In einer Wechselpolemik tauschen beide die Rollen. Der indirekte oder direkte Adressat polemischer Rede ist die polemische Instanz. Der polemische Prozess handelt von einem polemischen Thema. Dieses Thema muss kontrovers sein und eine ausgiebige Energiequelle für Aggressionen darstellen, es muss also intensive Wertgefühle aktivieren können.6 In einer polemischen Rede soll der Polemiker seine Person und Sache als richtig und wertvoll nach den Maßstäben der polemischen Instanz darstellen; der Angegriffene und seine Sache dagegen müssen als minderwertig erscheinen. Für Stenzel folgt Polemik dem Schema eines säkularisierten Manichäismus, das die Beteiligten in die Extremregionen von Licht und Finsternis auseinandertreibt. Der Rolle des polemischen Subjekts als vir bonus steht der Gegner als vir malus 4

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6

Jürgen Stenzel: Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik. In: Kontroversen, alte und neue. Akten d. VII. Internationalen Germanisten-Kongresses in Göttingen 1985, hg. v. Albrecht Schöne. Bd. 2: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit, hg. v. Franz-Josef Worstbrock. Tübingen 1986, S. 3–11, 2). Für gute Übersichten über Polemik (mit weiterführender Literatur), vgl. Sigurd Paul Scheichl: Art. »Polemik«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Hrsg. v. Jan-Dirk Müller. 117–120. Berlin/New York 2003, und besonders Hermann Stauffer: Art. »Polemik«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Hrsg. v. Gert Ueding. 1403–1415. Darmstadt 2003. Interessante grundsätzliche Überlegungen zur Polemik, u. a. zu deren öffentlichem Charakter, findet man auch in Wilfried Barner: Was sind Literaturstreite? Über einige Merkmale. In: Literaturstreit. Hrsg. v. Hans-Jürgen Bachorski u. a. 374–380. Bielefeld 2000 (Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 47:4). Stenzel, Rhetorischer Manichäismus (Anm. 4), 5 f.

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gegenüber. In theologischen Polemiken, z. B. in denen der Frühen Neuzeit, ist dieser Manichäismus natürlich nicht säkularisiert. Der vir bonus und der vir malus repräsentieren hier – nach den Voraussetzungen der jeweiligen polemischen Perspektive – Gott bzw. den Teufel. Ich werde jetzt versuchen, diesen manichäischen Charakter der Polemik in einem Modell der theologischen Polemik etwas näher zu erläutern.

Das Aktantenmodell In einer ausführlichen, diskursanalytisch basierten Erörterung vom Unterschied zwischen Ideologie und Theorie hat Peter V. Zima, aufbauend auf der Semiotik von Algirdas Julien Greimas, die These aufgestellt, dass sich eine Ideologie als eine Erzählung mit bestimmten Aktanten beschreiben lässt; dies im Unterschied zu der in der Wissenschaft vorherrschenden Theorie mit einem offenen Wahrheitshorizont7. Diese Aktanten sind nach Greimas’ Werk Strukturale Semantik die folgenden8: Auftraggeber, Anti-Auftraggeber, Subjekt, Anti-Subjekt, Objekt, Helfer und Widersacher. Diese Aktanten – außer dem ›Objekt‹ – lassen sich paarweise anordnen. Ein Aktantenmodell dieser Art kann, wie wir sehen werden, für die Analyse von theologischer Polemik der Frühen Neuzeit sehr fruchtbar sein. Um das Modell vollständig zu machen, möchte ich allerdings ein weiteres Element hinzufügen, nämlich das Anti-Objekt, d. h. das Ziel der Bestrebungen des Anti-Subjekts. Durch die Einführung des Aktanten ›Anti-Objekt‹ wird die paarweise Anordnung der Aktanten konsequent durchgeführt.9 Wenn man als Beispiel für dieses Aktantenmodell eine der zentralen polemischen Schriften Luthers gegen Thomas Müntzer, den Brief an die Fürsten zu Sachsen (1524) nimmt, ergibt sich folgendes Schema:10 Auftraggeber: Gott Anti-Auftraggeber: Teufel Subjekt: Luther Anti-Subjekt: Müntzer Objekt: Religiöse und gesellschaftlich-soziale Zustände im Sinne der lutherischen Reformation Anti-Objekt: Religiöse und gesellschaftlich-soziale Zustände im Sinne von Müntzer Helfer: Die Fürsten von Sachsen, Anhänger der Wittenberger Reformation und der Ordnung Widersacher: Anhänger Müntzers

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10

Peter V. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik. Tübingen 1989. Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Braunschweig 1966. Das Modell der Aktanten müsste eigentlich noch zusätzlich erweitert werden, indem die verschiedenen Möglichkeiten der Abhängigkeit der Aktanten voneinander beschrieben werden. Martin Luther: Ein Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist [1524]. In: Ders., Studienausgabe. Bd. 3. Hrsg. v. Hans-Ulrich Delius. Berlin (DDR) 1983, 85–104.

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In seinen anti-lutherischen Flugschriften zielt auch Müntzer aus seiner Perspektive auf ›religiöse und gesellschaftlich-soziale Zustände nach den Intentionen Gottes‹; diese erstrebten Zustände unterscheiden sich vor allem in den Jahren 1524/25 wesentlich von den von Luther (und den anderen Wittenberger Reformatoren) angestrebten. Was Müntzers anti-wittenbergische Polemik betrifft, braucht man nur die Plus- und Minuszeichen der Aktanten in den Texten der Gegner umzukehren, um diejenigen zu erhalten, die den theologisch-politischen Diskurs bei Müntzer prägen. Gott ist für Müntzer der eigene Auftraggeber, während Luther für ihn das Anti-Subjekt ist, das die Intentionen des Teufels, des Anti-Auftraggebers, ausführt usw. Das skizzierte Aktantenmodell vermag einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung eines zentralen Aspekts der theologischen Polemik der Frühen Neuzeit zu leisten, und zwar zur Erklärung der darin zutage tretenden außerordentlichen Intensität in der Diabolisierung theologischer Gegner. Nach diesem Modell implizieren sich in theologischer Polemik nämlich die beiden Positionen gegenseitig.11 Es bestehen nur zwei Alternativen: Gott oder Teufel, was bedeutet, dass im Rahmen dieses Modells jede Verteufelung des Gegners ein Argument für die Richtigkeit der eigenen theologischen Position darstellt. Die Möglichkeit, die Wahrheit in einer dritten Position zu finden, existiert in einem dualistischen Universum dieser Art nicht (tertium non datur). Die Negation der Negation ist nach den gegebenen polemischen Voraussetzungen mit der eigenen Position des polemischen Subjekts notwendigerweise identisch.12

Böhmes Konflikt mit Gregorius Richter Das hier skizzierte Aktantenmodell für theologische Polemik in der Frühen Neuzeit bildet eine wichtige Grundvoraussetzung dafür, auf welche Art Böhmes Konflikt mit Gregorius Richter ausgetragen wurde. Dieser Konflikt hatte bekanntlich schon im Jahre 1613 angefangen, als Richter entdeckte, dass sein Gemeindemitglied ein häretisches Buch, also die Morgenröte, verfasst hatte. Böhme wurde von Richter in einer Predigt als falscher Prophet angegriffen, die Morgenröte beschlagnahmt und ihrem Verfasser ein Schreibverbot auferlegt.13 11

12 13

Vgl. zu Argumentationen dieser Art die Ausführungen zu »mutually implicative standpoints« in Frans H. van Eemeren u. a.: Reconstructing Argumentative Discourse. Tuscaloosa/London 1993, 68 ff. Eine weitere Frage im Rahmen theologischer Polemik ist, wie man die Relation zwischen Auftraggeber und Anti-Auftraggeber sieht; diese Frage ist ja gerade das Theodizeeproblem. Über den Streit zwischen Richter und Böhme informiert am ausführlichsten Werner Heimbach: Das Urteil des Görlitzer Oberpfarrers Richter über Jakob Böhme. Eine kultur- und geistesgeschichtliche Untersuchung »Mit Poltern, Pantoffeln und Pasquillen«. In: Herbergen der Christenheit. Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 1973/74 (1975), 97–151 (Beiträge zur deutschen Kirchengeschichte 9). In der Literatur zu Böhmes Biographie und seiner intellektuellen Umwelt finden sich auch mehrere Darstellungen. Vgl. u. a. Herrmann Adolph Fechner: Jakob Böhme. Sein Leben und seine Schriften, mit Benutzung handschriftlicher Quellen dargestellt. In: Neues Lausitzisches Magazin 33 (1857), 408–420; Richard Jecht: Lebensumstände Jakob Böhmes. In: Neues Lausitzisches Magazin 100 (1924), 215–221 u.

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Der Konflikt zwischen Richter und Böhme hat sich in Böhmes Todesjahr wesentlich zugespitzt, was vor allem damit zusammenhing, dass Böhmes Buch Der Weg zu Christo in Görlitz anonym erschienen war. Als der Name des Autors bekannt wurde, ließ Richter u. a. seinen bekannten Pasquill herausgeben, der von Böhmes Feder dann eine Antwort erhielt in Briefen an Anhänger, einem Sendschreiben an den Rat der Stadt Görlitz sowie in einer polemischen Schrift gegen Richter.14 Die Argumentation in diesem intensiven theologischen Konflikt soll im Folgenden etwas näher beleuchtet werden.15 Wie in Stenzels theoretischen Ausführungen zur Polemik deutlich wird, findet man in einer polemischen Situation also vier Elemente: das polemische Subjekt, das polemische Objekt, die polemische Instanz und das polemische Thema. Die beiden ersten Elemente sind in Richters Schrift der Oberpfarrer selbst bzw. Böhme, das polemische Thema ist vor allem das der theologischen Autorität. Es stehen in diesem Konflikt nämlich zwei grundsätzliche religiöse Positionen einander gegenüber, die der amerikanische Religionswissenschaftler Bruce Lincoln als Religion des Status quo bzw. Religion des Widerstandes (»religion of the status quo« und »religion of resistance«) bezeichnet hat.16 Richter vertritt als ordinierter Amtsträger eine kirchliche Institution, während Böhme sich auf eine andere Autorität beruft, und zwar auf die unmittelbare Erfahrung der transzendenten Realität.17 Diese beiden Positionen lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Eine wichtige polemische Instanz schließlich ist der Rat der Stadt Görlitz; Richter will zeigen, dass die Stadt wegen des Häretikers Böhme religiös und politisch gefährdet sei und dass der Rat hier eingreifen müsse.18 Gleichzeitig möchte er wichtige Vertreter der Görlitzer Öffentlichkeit für seine Position gewinnen, um dadurch einen noch stärkeren Druck auf den Rat ausüben zu können. Die beiden Kontrahenten versuchen aber auch eine weitere Öffentlichkeit mit ihren Schriften zu erreichen. Wichtige Adressaten für Böhme finden sich beispielsweise im Kreis seiner Anhänger.

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242–247; Will-Erich Peuckert: Das Leben Jacob Böhmes. In: SS, Bd. X, 161–183; ErnstHeinz Lemper: Jacob Böhme. Leben und Werk. Berlin (DDR) 1976, 86–110, und Andrew Weeks: Boehme. An Intellectual Biography of the Seventeenth-Century Philosopher and Mystic. Albany (NY) 1991, 209–212. Einen lateinisch-deutschen Paralleltext findet man in Jecht, Lebensumstände Böhmes (Anm. 13), 242–245. Im vorliegenden Beitrag wird die deutsche Übersetzung nach Heimbach, Das Urteil (Anm. 13), 97–100, zitiert. Für eine ausführliche Diskussion dieses Konflikts vgl. Andersson, Böhmes Denken in Bildern (Anm. 2), 38–65. Bruce Lincoln: Holy Terrors. Thinking about Religion after September 11. Chicago/London 2 1996, 79 ff. Der Frage der rhetorischen Funktion solcher Hinweise auf eigene religiöse Erfahrung wird in Andersson: »Du Solst wissen es ist aus keinem stein gesogen«. Studien zu Jacob Böhmes Aurora oder Morgen Röte im auffgang. Stockholm 1986 (Stockholmer germanistische Forschungen 33), ausführlich nachgegangen. Zur wichtigen Rolle der Öffentlichkeit für die Polemik vgl. u. a. Barner, Was sind Literaturstreite? (Anm. 5), 376 ff.

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Die verschiedenen Teile von Richters Pasquill sind im März 1624 entstanden; sie sind auf den 7., 26. und 27. März datiert.19 Durch die Wahl des Lateinischen kommt deutlich zum Ausdruck, dass sich Richter an die gelehrte Öffentlichkeit der Stadt Görlitz wendet. Weil Böhme, der bekanntlich des Lateinischen nicht mächtig war, bereits Ende März vom Inhalt der von Richter publizierten Schrift weiß und am 10. April seine ausführliche Apologia. Oder Schutzrede beendet, muss er also schon kurz nach Richters Veröffentlichung zu einer deutschen Übersetzung des Textes Zugang gehabt haben. Seine gelehrten Freunde sind ihm dabei sicherlich behilflich gewesen.

Richters Pasquill gegen Böhme In seinem Pasquill gegen Böhme konstruiert Richter seine Polemik nach dem Prinzip eines grundlegenden Dualismus. Das polemische Objekt Böhme soll mit dem Teufel assoziiert werden, was durch mehrere Techniken erzielt wird, während Richter selbst in seiner Rolle als polemisches Subjekt als Diener Gottes hervortreten will. Richter präsentiert sich schon auf der Titelseite der Schrift als »OberPfarrer in seiner Landes-Stadt Görlitz« (›Ministri Ecclesiæ patriæ primarii‹).20 Seine Autorität soll sich hier aus seinem Amt ergeben, denn als ordentlich berufener Geistlicher habe er das Recht und die Kompetenz, geistliche Dinge zu beurteilen, während dies einem Laien wie Böhme natürlich nicht zustehe. Schon durch die Selbstpräsentation als »Ober-Pfarrer« hat Richter eine Position in der Religion des Status quo beansprucht, die ihm Böhme in diesem Rahmen nicht streitig machen kann. Richter als Subjekt handelt also mit Gott als Auftraggeber. Um Böhmes Position zu entkräften, wird auch schon auf der Titelsite angegeben, dass Richters Schrift das Urteil über die fanatischen Bücher des enthusiastischen Schusters enthält, wobei drei Titel erwähnt werden: Morgen-R=the im Aufgang, Der Weg zu Christo und Von wahrer Busse.21 Böhme soll hier in seinem image getroffen und mit Schlagwörtern diffamiert werden, die in der theologischen Polemik der Zeit gegen abweichende Ansichten häufig gebraucht wurden. Böhmes theologische Autorität soll durch den Hinweis darauf zurückgewiesen werden, dass er Schuster ist und also kein kirchliches Amt besitzt und dass er daher kein 19

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Gregorius Richter: Judicium Gregorii Richteri Gorlicii … Fanaticis Sutoris Enthusiastici Libris: quorum tituli sunt. 1. Morgen Röthe im Auffgange. 2. Der Weg zu Christo. 3. Von wahrer Busse … Görlitz 1624. Ebd., Bl. A [1]r. Die beiden letzten Titel beziehen sich natürlich auf Böhmes 1624 in Görlitz erschienene Schrift Der Weg zu Christo, die aus den beiden Teilen Von wahrer Busse und Von wahrer Gelassenheit besteht. Für eine Reproduktion der Titelseite dieses Werkes (wo 1622 fälschlicherweise als Erscheinungsjahr angegeben ist) und Information über die drei davon bekannten Exemplare, vgl. Carlos Gilly: Zur Geschichte und Überlieferung der Handschriften Jacob Böhmes. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam/Stuttgart-Bad Cannstatt 2007 (Pimander 16), 39–54, hier: 40 f.

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Recht habe, sich zu theologischen Fragen überhaupt zu äußern. Stattdessen beruft er sich auf eigene religiöse Erfahrung. Die Schlagwörter »enthusiastisch« und »fanatisch« beziehen sich gerade auf diesen Anspruch der (falschen) theologischen Autorität durch die angebliche Erfahrung des Göttlichen und haben in der evangelischen Kirche Tradition seit den Konflikten mit dem sogenannten Linken Flügel der Reformation.22 Schon auf der Titelseite seines Pasquills versucht also Richter zu etablieren, wer seines Erachtens der Auftraggeber bzw. Anti-Auftraggeber im Konflikt mit Böhme ist. Er selbst handle im Auftrag Gottes, der Auftraggeber seines Gegners sei der Teufel. Bei Richter wird dies nicht explizit ausgedrückt, sondern eher angedeutet. Jeder zeitgenössische Leser, der mit den Einstellungen der Religion des Status quo sympathisierte, konnte jedoch ohne weiteres verstehen, dass der Oberpfarrer die wahrheitsbezogene Position des von Gott in das kirchliche Amt ordentlich Berufenen vertrat und dass die Schlagwörter »enthusiastisch« und »fanatisch« auf den teuflischen Charakter des Auftrages zu beziehen waren, den Böhme – das polemische Objekt der Schrift – angeblich ausführt. Richters Gebrauch von Andeutungen ist interessant, da eine solche Technik ein wichtiges rhetorisches Mittel der vituperatio, also des Tadels, ist. Wie Unterstellungen in der Polemik eingesetzt werden können, behandelt u. a. Melanchthon in seiner Rhetorik unter diesem Begriff. Zu den Techniken der vituperatio gehört für Melanchthon beispielsweise die calumnia, die die Entstellung und Verdrehung von untadeligen Äußerungen und Handlungen betrifft, »durch die etwas, das zu Recht gesagt oder geschehen ist, schlecht gemacht wird«.23 So kann der Redner z. B. von einem Sachverhalt aus auf dessen Grund oder Ursache schließen, und auch die beste Tat kann als fragwürdig und negativ erscheinen, wenn dem Handelnden böse Absichten unterstellt werden.24 Den zweiten Teil des Pasquills leitet Richter mit den Worten ein, dass der Schuster der Antichrist sei (Sutor Antichristus), was eine explizite Verteufelung des Gegners darstellt. Der Rest dieses Teils ist antithetisch aufgebaut; den positiven Pol bildet Christus, den negativen Böhme. Die rhetorische Technik Richters ist hier die evidentia, das Vor-Augen-Führen, das stark auf die emotionale Beeinflussung des Lesers ausgerichtet ist.25 Christus und Böhme werden als ge22

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Zum polemischen Konflikt zwischen den Wittenberger Reformatoren und Thomas Müntzer, vgl. u. a. Bo Andersson: Bilden av motståndaren som djävulens redskap. Philipp Melanchthons polemiska pamflett mot Thomas Müntzer (1525). In: Ordets makt och tankens frihet. Hrsg. v. Rut Boström Andersson. Uppsala 1998, 43–52. Philipp Melanchthon: Elementa rhetorices. Grundbegriffe der Rhetorik. Hrsg., übers. und komm. von Volkhard Wels. Berlin 2001 (Bibliothek seltener Texte in Studienausgaben 7), 263. Welche Möglichkeiten in der Frühen Neuzeit bestanden, identische oder fast identische menschliche Handlungen grundverschieden einzuschätzen, und zwar als göttlich oder teuflisch bewirkt, beleuchtet Peter Dinzelbacher: Heilige und Hexen. Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit. München 1995. Es handelt sich hier um eine außerordentlich wichtige rhetorische Technik. Vgl. dazu u. a. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. 2 Bde. München 21973, §§ 810– 820, und Gerard Paul Sharpling: Towards a Rhetoric of Experience. The Role of Enargeia in the Essays of Montaigne. In: Rhetorica 20 (2002), 173–192.

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genwärtig dargestellt und mit der rhetorischen Frage angesprochen, wem man glauben solle: »dir/ du wahrhaftiger HErr Christe? oder dir Schuster und deinem Drecke?« (›tibi, veracißime CHRISTE? An tibi Sutori, stercorisbusque tuis?‹).26 Wie bei allen rhetorischen Fragen ist die Antwort schon in der Formulierung der Frage gegeben, obwohl an das Urteilsvermögen des Publikums appelliert wird. In der antithetischen Gegenüberstellung von Christus und Böhme setzt Richter seine vituperatio des Gegners fort. Christus sei beispielsweise vom Heiligen Geist mit Öl gesalbt worden; den Schuster habe der Teufel mit Dreck besudelt. Christus habe die Menschen auf das Wort und die heiligen Sakramente gewiesen; der Schuster weise auf Verzückungen und Träume hin, die die gläubigen Herzen des wahren Glaubens berauben. Christus habe das Volk öffentlich gelehrt; der Schuster pflege heimlich in finsteren Winkeln zu stecken. Christus habe nicht königliche Ehre gewollt; der Schuster wollte, wenn er nur könnte, wohl ein König und Gott sein. Weiter wird u. a. Böhmes angebliche Trunksucht getadelt. Die Gegenüberstellungen münden im Schluss, dass man Böhmes Bücher als Teufelsdreck und äußerste Raserei meiden sollte. Christus wird darum gebeten, dass er die Werkzeuge des Satans steuere und sein Wort nicht verdunkelt werden lasse. Die hier angedeuteten Argumente in der Gegenüberstellung von Christus und Böhme sind von Richter sorgfältig gewählt, indem sie deutliche Indices für den teuflischen Auftrag Böhmes enthalten und wichtige Mittel der vituperatio des Gegners sind. Seine »Träume und Verzückungen« könnten nur vom Teufel herstammen, da sie religiöse Unwahrheit verbreiteten; sie beraubten gläubige Menschen des wahren Glaubens. Die Vermeidung der Öffentlichkeit, das Stecken »heimlich in finstern Winkeln« (›Sutor in obscuris clàm solet esse locis‹)27 ist ein Argument, das schon von Luther in seiner Polemik gegen Müntzer benutzt wurde.28 Die Vermeidung der Öffentlichkeit sei ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Gegner nicht im Auftrag des Heiligen Geistes handele, denn zu den Früchten des Geistes gehöre gerade der Freimut; wem ein solcher Freimut fehle, der müsse nach dem Tertium-non-datur-Prinzip ein Vertreter des Teufels sein. Schließlich suggeriere Böhmes angebliches Streben nach hohen Titeln, dass er von der luziferischen Sünde par excellence, der superbia, betroffen sei.29 Richter hat also auf geschickte Weise Beispiele ausgewählt, die seinen Gegner als einen im teuflischen Auftrag Handelnden ausweisen. Der Hinweis auf ausgewählte Zeichen wird hier als rhetorische Argumentationstechnik benutzt, wobei diese als Indiz für eine bestimmte Sachlage eingesetzt werden.30 Je stärker die Verteufelung des

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Richter, Judicium (Anm. 19), Bl. A ijv. Ebd., Bl. A iijr. Vgl. Andersson, Du Solst wissen (Anm. 17), 55 f. Dies ist eine in zeitgenössischer theologischer Polemik traditionelle Argumentation: »Der superbia-Vorwurf gegen Ketzer ist am Ende des 16. Jahrhunderts längst zum Topos geronnen« (Bremer, Religionsstreitigkeiten [Anm. 3], 279). Für die Argumentation mit Indizien, vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. 2 Bde. Hrsg. u. übers. von Helmut Rahn. Darmstadt 1972–1975, V,9,5. Vgl. auch Melanchthon, Elementa rhetorices (Anm. 23), 79 ff., und Lausberg, Handbuch (Anm. 25), §§ 358 ff.

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Gegners glaubhaft gemacht werden kann, desto kräftiger wird die Unterstützung für die Wahrheit der eigenen theologischen Position des Görlitzer Oberpfarrers. Wer sind im Aktantenmodell aber die Helfer und Widersacher? Bei der Analyse dieser Aktanten sind weitere Aspekte des Pasquills zu beachten, nämlich die (impliziten) Schlüsse, die sich aus der theologischen Argumentation ziehen lassen, denn hier treten die sozialen Komponenten der Schrift hervor: Theologische Unordnung führe zu sozialer Unordnung.31 Besonders deutlich wird diese Botschaft in der letzten Zeile der Schrift, wo der Leser auf die Geschichte der Jahre 1525 und 1535 hingewiesen wird (›Videantur historia Annorum 1525. & 1535. [&]c.‹).32 Die erste dieser beiden Jahreszahlen spielt natürlich auf den Bauernkrieg an, vor allem auf das Wirken Thomas Müntzers, während sich die zweite Jahreszahl auf das Täuferreich zu Münster bezieht. In beiden Fällen handelt es sich um bedeutungsträchtige Beispiele dafür, zu welchen sozialen und politischen Unruhen angeblich teufelsinspirierte Lehren führen können. Auch hier begnügt sich Richter mit einer Andeutung; der Leser muss selbst die Schlüsse ziehen. Damit die Gefahren der gegnerischen Position eindringlich vor Augen geführt werden können, bedient sich Richter der Metapher des Schiffbruchs. Dieses Bild impliziert allerdings auch, dass die Gefahren nicht unbedingt zum Untergang führen müssten; sie ließen sich durch geschicktes Handeln vermeiden. Das Bild deutet hier eine Situation an, die man sich so vorstellen muss, dass der Oberpfarrer auf die gefährliche Klippe zeigt – Jacob Böhme –, damit der Steuermann des Schiffes – der Rat der Stadt Görlitz – begleitet von den intensiven Ermahnungen von Seiten der Passagiere und der übrigen Besatzung – der Görlitzer Bürger – einen Kurs wählt, der den sonst unvermeidlichen Schiffbruch verhindern kann. Im Rahmen des Aktantenmodells geht es also darum, die Görlitzer zu Helfern im Kampf gegen die Böhme’sche Häresie zu machen. Für Richter ist die Lösung klar: Böhme und seine Anhänger müssen der Stadt Görlitz verwiesen werden. Dies ist die ausdrückliche Konklusion seines Pasquills gegen Böhme. Das Aktantenmodell in Richters Pasquill hat somit folgende Gestalt: Auftraggeber: Gott Anti-Auftraggeber: Teufel Subjekt: Gregorius Richter Anti-Subjekt: Jacob Böhme Objekt: Verbreitung der wahren christlichen Lehre, soziale Ordnung Anti-Objekt: Die von Böhme vertretenen Lehren des Teufels, soziale Unordnung Helfer: Aktuelle und potentielle Anhänger Richters Widersacher: Anhänger Böhmes, und diejenigen, die ihn dulden

Das rhetorische Ziel Richters besteht also darin, die Helfer in ihrer Überzeugung zu stärken und zum Handeln gegen Böhme zu veranlassen. Den Widersachern 31

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»The defence of the ecclesiastical order was closely linked, it was indeed identical, with the defence of the social and political order. Enthusiasm, which was tantamount to individual ›inventions‹, was perceived as a serious threat to that order.« (Michael Heyd: »Be Sober and Reasonable«. The Critique of Enthusiasm in the Seventeenth and Early Eighteenth Centuries. Leiden/New York/Köln 1995 [Brill’s Studies in Intellectual History 63], 41). Richter, Judicium (Anm. 19), Bl. A [4]v.

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steht die Möglichkeit des Übertritts zur »richtigen« Seite offen; wenn sie diesen Schritt aber nicht unternehmen wollen, müssen sie das Schicksal des Anti-Subjekts teilen und die Stadt Görlitz verlassen. Der Görlitzer Oberpfarrer Gregorius Richter ging in seiner Polemik gegen Jacob Böhme also von einer Aktantenkonstellation aus, die ihm als ordiniertem Theologen hohe Autorität im kirchlich-theologischen Diskurs der Zeit verlieh. Von dieser Position aus versucht er, Böhme zu disqualifizieren. Die diskurstheoretisch und rhetorisch interessante Frage, die sich im Hinblick auf Böhme ergibt, ist, wie er sich gegen diese Angriffe des Oberpfarrers verteidigen konnte. Welche Möglichkeiten bestanden für Böhme, Richters Argumentation zu entkräften? Dieser Frage soll in den folgenden Ausführungen näher nachgegangen werden.

Jacob Böhmes Verteidigung gegen Richters Angriffe In Briefen an Anhänger, in einer schriftlichen Verantwortung an den Rat von Görlitz und in einer umfangreichen Apologia. Oder Schutzrede hat sich Böhme mit Richters Angriffen auseinandergesetzt und sie zurückzuweisen versucht. Eine Gruppe bilden dabei die Briefe und die Apologia, wo die argumentative Strategie darin besteht, den Gegner intensiv zu verteufeln und seine Autorität in Frage zu stellen, während Böhme im Schreiben an den Rat sich der Technik bedient, sich selbst als unschuldiges Opfer darzustellen, das ungerechterweise vom wütenden Oberpfarrer der Stadt angegriffen worden sei. Der teuflische Auftrag des Gegners wird von Böhme im Schreiben an den Rat nur leise angedeutet, da eine allzu intensive Verteufelung des Gegners zur behaupteten Demut und Passivität des zu Unrecht Angegriffenen hier sicherlich schlecht passen würde. Auf den pragmatischen Kontext und das Anliegen des jeweiligen Textes ist bei der Analyse der Argumentation und der rhetorischen Techniken stets zu achten.33 Der umfangreichste einschlägige Text ist Böhmes Apologia. Oder Schutzrede, die auf den 10. April 1624 datiert ist.34 Böhme bedient sich darin der Technik der refutatio und baut seine Schrift so auf, dass er die Angriffe Richters Zeile für Zeile aufgreift, um sie zu widerlegen; die Disposition der drei Teile folgt genau der Einteilung in Richters Schmähschrift.35 Ich werde im Rahmen meiner 33 34 35

Für eine ausführliche Analyse von Böhmes Polemik gegen Richter vgl. Andersson, Denken in Bildern (Anm. 2), 49–65. Die Edition von Böhmes Handschrift findet sich in Jacob Böhme: Die Urschriften. 2. Tl. Hrsg. v. Werner Buddecke. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, 251–280 Dies ist eine traditionelle polemische Technik: »The body of a text of a pamphlet is typically arranged into different points or articles. A point typically consists of two components: the rendering or quotation of the opponents view and the retort« (Gloning, The Pragmatic Form [Anm. 3], 89). Böhme folgt hier interessanterweise einer Textpraxis, die ihren Ursprung in der universitären und juristischen Tradition hat: »It [die Einteilung in Artikel oder Punkte] can be found in the university disputationes as well as in different forms of legal disputes. Around 1600, this form of organization was customary in quite different communicative domains« (Ebd., 91).

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Ausführungen auf dieses umfangreiche Werk nicht näher eingehen, sondern konzentriere mich auf einen der polemischen Sendbriefe, und zwar auf den Brief, den Böhme wohl am 5. April an Martin Moser gerichtet hat.36 In diesem kurzen Text tritt deutlich zutage, wie Böhme das hier behandelte polemische Aktantenmodell aktualisiert; im Vergleich zu Richters Pasquill jedoch mit umgekehrten Vorzeichen. In seinem Brief an Martin Moser tritt Böhme mit dem Anspruch auf, dass ihn Gottes Hand bisher geführt und zur Erkenntnis der rechten Wahrheit gebracht habe, mit der er auch vielen anderen Menschen diene.37 Seinen Anspruch, im Auftrag Gottes zu handeln, erhärtet Böhme durch den weiteren Hinweis, dass andere Menschen – u. a. Moser – durch sein Wirken die transzendente Realität erfahren haben. Er bezeichnet sich auch an einer anderen Stelle des Briefes als Gottes Werkzeug, das die Wahrheit vertritt.38 Er behauptet weiter, so hoch von Gott geachtet zu sein, dass er mit dem Siegeszeichen Jesu Christi gezeichnet worden sei. Durch diese seine bevorzugte Stellung lässt sich für ihn die Reaktion des Teufels und seines Werkzeugs Richter erklären. Vor diesem Siegeszeichen sei der Teufel nämlich so erschrocken, dass er vor Zorn zerbersten möchte. Deswegen habe er große Sturmwinde aus seinem Meer des Todes über Böhme erweckt – so wird hier Richters Polemik gegen Böhme metaphorisch beschrieben – und grausame Wasserstrahlen auf ihn geschossen, und zwar mit der Absicht, ihn zu ersäufen.39 Die Wahrheit von Böhmes Erkenntnis wird hier mit Hilfe einer traditionellen theologischen Argumentation plausibel gemacht, welche ihrer Struktur nach eine rhetorische amplificatio ist, und zwar von der Art der ratiocinatio.40 Bei dieser Art der amplificatio weist man auf die Begleitumstände hin, um indirekt auf die Größe oder das Gewicht des gemeinten Gegenstandes aufmerksam zu machen. Der Teufel würde natürlich nicht mit großen Sturmwinden wüten, wenn Böhmes Wirken keine entscheidende Gefahr für seine Macht darstellen würde. Das Wüten des Teufels fungiert demnach als Beweis für die Wahrheit der Position, die Böhme vertritt, und dadurch für seinen göttlichen Auftrag.41 Seine Vorstellung, dass der Teufel der Auftraggeber Richters sei, wird darüber hinaus durch die Behauptung unterstrichen, dass der »allergröbste Teufel« den Pasquill des Oberpfarrers diktiert habe. Dies sei angeblich nicht nur Böhmes private Meinung, sondern der Pasquill werde fast von allen Gelehrten dem Satan zugeschrieben.42 Durch Richters Pasquill habe der Satan – nach Böhmes Ansicht – »das Pharisäische Hertze« seines Verfassers entblößt. Dies sei durch Gottes Zulassung darum geschehen, 36

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Der Brief – ep 50 in SS, Bd. IX – ist auf den »5. März 1624« datiert. Da sich Böhme darin auf Richters Pasquill bezieht, dessen letzter Teil das Datum »27. März« trägt, handelt es sich hier wohl um einen Schreibfehler. Epist. 50:1. Epist. 50:8. Epist. 50:2. Lausberg, Handbuch (Anm. 25), § 405. Dasselbe Argumentationsmuster findet man bei Luther. Vgl. Hans-Martin Barth: Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers. Göttingen 1967 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 19), 33 f. Epist. 50:5.

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dass die Leute das Gift dieses pharisäischen Herzens kennen gelernen, damit sie es fliehen können.43 Gott lässt also den Teufel und sein Werkzeug Richter wüten, damit sie sich selbst entlarven; auch sie handeln somit – ironischerweise – im göttlichen Auftrag. Das anti-klerikale Schlagwort ›Pharisäer‹ passt hier natürlich besonders gut auf einen Theologen, der einen Menschen verfolgt, welcher – nach Böhmes Behauptung – mit dem Siegeszeichen Christi gezeichnet worden sei.44 Aus der eschatologischen Perspektive, die Böhme auch anlegt, wird ferner behauptet, dass der »rauchende Lösch=Brand, welcher ietzt rauchet«, bald im Feuer verzehrt werde.45 Seine polemische Auseinandersetzung mit Richter bekommt dadurch eine besondere heilsgeschichtliche Dimension. Die Ankunft Christi steht für Böhme bevor, und er ermahnt Moser und andere, als seine Mitstreiter im Glauben zu kämpfen und in Geduld auf die Offenbarung des Herrn Jesu Christi zu warten.46 Zu diesem eschatologischen Prozess gehören Böhmes gerade zu dieser Zeit so aktuelle Vorstellungen von der Generalreformation.47 Die Weisen »mercken die Zeit und sehen die Finsterniß und auch die Morgenröte des Tages«.48 Diese jetzt hervorbrechende Morgenröte ist natürlich auf Böhme und seine einmalige Erkenntnis von Gott, Natur und Geschichte zu beziehen. Nachdem Böhme Ende März 1624 von Gregorius Richter in einem Pasquill angegriffen worden war, beginnt er, in Briefen an treue Anhänger die Angriffe Richters sofort zurückzuweisen. Der Sendbrief an Martin Moser ist hier ein gutes und deutliches Beispiel. Hatte sich Richter in seiner Schrift auf das Aktantenmodell so bezogen, dass er selbst als Subjekt erscheint, das im göttlichen Auftrag handelt und dabei das Werkzeug des Teufels – Jacob Böhme – angeblich entlarvt, so kehrt Böhme Richters Version des Modells um, indem er den Oberpfarrer als rasenden Teufel und seine eigene Person als Werkzeug Gottes und als Nachfolger Christi darstellt. Der Grund für Böhmes Autorität besteht in seiner behaupteten Erfahrung der transzendenten Realität, die aus der Perspektive seiner Religion des Widerstandes nicht übertroffen werden kann. Dass er Recht hat, können die Anhänger bezeugen, da sie dieselben religiösen Erfahrungen gemacht haben. Im Brief an Moser bezeichnet Böhme den Adressaten des Briefes und andere Anhänger als seine »Mitringer«. Deutlich ist, wie Böhme in seinen Sendbriefen versucht, sich der Solidarität seiner Anhänger zu vergewissern. In anderen Sendbriefen werden auch Böhmes Widersacher thematisiert; sie erscheinen u. a. unter 43 44

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Epist. 50:4. Zum Schlagwort Pharisäer in der Polemik der Reformationszeit, vgl. u. a. Friedrich Lepp: Schlagwörter des Reformationszeitalters. Leipzig 1908 (Quellen und Darstellungen aus der Geschichte des Reformationsjahrhunderts 8), 62 ff. Vgl. auch Böhmes Brief an Carl Ender von Sercha vom 1. April 1624, wo es über Richters Pasquill heißt: »ICh füge [sage] dem Juncker, daß gestern der Pharisäische Teufel gantz los worden sey, und mich samt meinem Büchlein zum ärgsten verdammet« (Epist. 52:1). Epist. 50:9. Epist. 50:9. Zu Böhmes Begriff der Generalreformation, vgl. u. a. Pierre Behar: Okkultismus, Politik, Literatur und Astronomie zwischen Prag und Heidelberg. In: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 13 (2003), 21–46. Epist. 50:9.

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der diffamierenden Bezeichnung »des primarii Anhang«.49 Der Ausgangspunkt für Böhmes Argumentation in den Sendbriefen sind also die folgenden Aktanten: Auftraggeber: Gott Anti-Auftraggeber: Teufel Subjekt: Jacob Böhme Anti-Subjekt: Gregorius Richter Objekt: Verbreitung der wahren christlichen Lehre, die Generalreformation Anti-Objekt: Verbreitung der Lehre des Teufels Helfer: Anhänger Böhmes Widersacher: »des Primarii Anhang«

Richtet sich der Görlitzer Oberpfarrer mit seinem lateinischen Pasquill an die gelehrte Öffentlichkeit der Stadt Görlitz als polemische Instanz, so wendet sich Böhme in seinen Briefen an ein Netz von Korrespondenten, das zu der von Richter angesprochenen Öffentlichkeit eine Gegenöffentlichkeit bildet.50 In dieser Gegenöffentlichkeit konnte Böhme an eine Verständigungsgemeinschaft appellieren, bei der er damit rechnen konnte, dass ihre Mitglieder mit seiner Subjektsposition und seiner Perspektive im Sinne einer Religion des Widerstandes durchaus einverstanden waren.

Schlussreflexion In ihrer gegenseitigen Polemik beziehen sich Jacob Böhme und sein Gegner Richter auf ein Aktantenmodell, das für sowohl die Religion des status quo als auch die Religion des Widerstandes gültig ist. Die zwei Kontrahenten berufen sich beide auf ihren göttlichen Auftrag und geben den Teufel als Auftraggeber des Gegners aus. In ihrer jeweiligen Argumentation thematisieren sie auch die Aktanten Helfer und Widersacher. Interessant ist bei Böhme, wie verschiedene Texte unterschiedlich ausgerichtet sind. So wird in den Sendbriefen an Anhänger der Gegner diabolisiert; sein eigenes Wirken sieht Böhme darin auch als Zeichen der sich nahenden Endzeit und der bevorstehenden Generalreformation. In den anderen polemischen Texten fehlt diese letzte Perspektive. Es tritt mit aller Deutlichkeit hervor, dass das skizzierte Aktantenmodell für theologische Konflikte die Grundlage für die Argumentation in den hier behandelten Texten von Richter und Böhme bildet. Weil dieses Modell so fest etabliert ist, können sich die beiden Polemiker in vielen Fällen mit Andeutungen begnügen und sich darauf verlassen, dass der Leser die »richtigen« Schlüsse ziehen wird. Dadurch wird auch an das Urteilsvermögen des Publikums appelliert. So49 50

Vgl. z. B. Epist. 53:15. Die wichtige Rolle solcher Korrespondenznetze wird in der Einleitung zu Abraham v. Franckenberg: Briefwechsel. Eingel. u. hrsg. v. Joachim Telle. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, diskutiert.

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wohl der humanistisch gebildete Richter als auch der Autodidakt Böhme gehen vom selben Aktantenmodell aus, und sie stellen sich beide in ihrer Polemik als geschickte Rhetoriker heraus. Die Frage, die man abschließend stellen kann, lautet, inwiefern das hier beschriebene Modell immer noch aktuell ist. Dies ist tatsächlich der Fall. Der schon erwähnte amerikanische Religionswissenschaftler Bruce Lincoln behandelt in seinem Buch Holy Terrors die Polemik zwischen George W. Bush und Osama bin Laden im Oktober 2001 nach dem amerikanischen Angriff auf Afghanistan. Durch Lincolns Textanalysen wird deutlich, dass auch diese Polemik dem hier behandelten Aktantenmodell folgt: »Both men constructed a Manichaean struggle, where Sons of Light confronted Sons of Darkness, and all must enlist on one side or another, without possibility of neutrality, hesitation, or middle ground.«51 Eine Diskussion auch dieses rezenten Beispiels wäre sehr interessant; sie würde hier allerdings viel zu weit führen.

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Lincoln, Holy Terrors (Anm. 16), 20.

Leigh T. I. Penman

Böhme’s Student and Mentor: the Liegnitz Physician Balthasar Walther (c.1558–c.1630)

At an auction held in Berlin on 15–16 February 1910, Ludwig Feyerabend, director of the Kaiser-Friedrich-Museum in Görlitz, Saxony, secured an elegant piece of sixteenth-century art from the estate of the recently-deceased stage actor, Adalbert Matkowksy. Although larger, more refined, and more valuable works were available, Feyerabend’s prize was a small, glass Kabinettscheibe depicting St Christopher, patron saint of travelers:

Fig. 1: Balthasar Walther: St. Christopher (c.1575–1600). Encaustic on glass. Reproduced from Ernst-Heinz Lemper: Jakob Böhme. Leben und Werk. [East] Berlin 1973. Copyright holder unknown.

This tiny encaustic, however, was acquired not on account of its intrinsic artistic appeal, but rather because of its presumed historical significance to the city of Görlitz. The provenance of the piece suggested it had originated from a house of one of Görlitz’s greatest sons, the theosopher Jacob Böhme (1575–1624). One

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confirmation of its legendary origins appeared on the reverse of the object, in the form of a signature of a man known intimately to Böhme himself, and one famed as a major influence on his philosophy: Balthasar Walther (1558–c.1630).1 Whether or not this piece, conforming to its legendary origins, indeed belonged to Böhme, or was created by the same Balthasar Walther known to history as a physician, kabbalist and mentor of Böhme, remains in question.2 Installed in 1911 in the window of the museum’s Jacob-Böhme-Stube in the Ruhmeshalle, there it stayed until it was lost or destroyed during the second world war. Today, only a black and white image of the obverse survives. Barring an unlikely rediscovery, no opportunity thus exists to compare the signature which once graced its reverse to samples of Walther’s own handwriting.3 Nonetheless, both the artwork itself as well as its beguiling history are fitting emblems of Walther’s historical legacy. This is not only because of his own halflegendary travels across Europe, Africa and the Holy Land in search of esoteric wisdom, but also because, much like St. Christopher, questions have circulated concerning Walther’s own importance and influence, not only upon Böhme’s philosophy, but also as part of broader Paracelsian and dissident networks within sixteenth and seventeenth century Europe. For, despite the attention lavished on Böhme, comparatively little attention has been paid to Walther, a man who occupied a key and perhaps unique place within Böhme’s intellectual world, as a figure of influence not only in the Rezeptionsgeschichte of Böhme’s thought, but 1

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This article is a significantly shortened and revised version of Leigh T. I. Penman: Ein Liebhaber des Mysterii, und ein großer Verwandter desselben. Toward the Life of Balthasar Walther: Kabbalist, Alchemist and Wandering Paracelsian Physician. In: Sudhoffs Archiv 94/1 (2010), 73–99. The present article incorporates some new research, as well as corrections to the earlier version. It appears largely in the format in which it was delivered at the conference which engendered this volume. For information and advice I am indebted to Paul Ferguson, Dr. Grantley McDonald, Dr. Rafał Prinke, Dr. Robert Schweitzer, Prof. Joachim Telle, Prof. Andrew Weeks, Matthias Wenzel and Marius Winzeler. Research for this article was supported by the Günther-Findel-Stiftung zur Förderung der Wissenschaften at the Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, and the Deutscher Akademischer Austausch Dienst. See Rudolph Lepke: Sammlung Adalbert Matkowsky, Berlin: Ausstellung […] Versteigerung […]. Berlin 1910; Ludwig Feyerabend: Die Oberlausitzer Gedenkhalle mit KaiserFriedrich-Museum. Görlitz 1912, 41, where he describes the piece as »eine köstliche Schmuckscheibe in enkaustischer Malerei des 16. Jahrhunderts.«; See further M. Asche: Art. »Walther, Balthasar, Glasmaler«. In: Allgemeines Lexicon der bildenden Künstler. ThiemeBecker, ed. Leipzig 1942, Bd. 35, 346. For a bibliography of Walther’s work, in addition to a bibliography of secondary literature, see Leigh T. I. Penman: Art. »Walther, Balthasar«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, forthcoming. Marius Winzeler of the Görlitz Kulturmuseum, successor to the Kaiser-Friedrich-Museum, stated in a personal communication to me the following concerning the artist: »Möglicherweise stammte der Glasmaler aus der in Breslau und Dresden tätigen gleichnamigen Künstlerfamilie, mehr ist aber nicht zu ihm bekannt.« Nonetheless, as the following discussion emphasizes, it is entirely in character that Walther would choose to paint an image of St Christopher, patron saint of travelers, given his propensity for embellishing the extent and duration of his own travels. The legendary provenance of this image should not therefore be dismissed entirely out of hand.

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also, crucially, in its Entstehungsgeschichte. The present article is a contribution to further understanding Walther’s manifold roles in these various contexts.

Walther’s Life to c. 1590 Walther was born around 1558, in the duchy of Liegnitz, Silesia.4 Thereafter, he studied at the University in Frankfurt an der Oder, matriculating in 1579 as »Balthasar Waltherus Liginicensis.«5 At the time of Walther’s birth, Liegnitz was a region with a significant Schwenckfelder population, and it is possible that Walther may have been raised within the faith.6 Walther’s course of study in Frankfurt appears to have been medicine, while his contribution of several Gelegenheitsgedichte to various pamphlet publications indicate his early aptitude and interest in poetic expression. By 1585 Walther was in Zerbst, at the court of Joachim Ernst of Anhalt.7 There he had printed his first major work, a devotional poem of six quarto leaves, entitled Ode dicolos tetrastrophos.8 This text emphasized, according to an indeterminate Protestant character, the necessity of following Christ’s teachings. It gave, however, no hint of the decisive turn that Walther’s life was about to take. For in the Summer of 1587, Walther journeyed, perhaps for the first time, to the Upper Lusatian city of Görlitz, ostensibly to attend the wedding of a friend.9 But a perhaps unexpected result of Walther’s trip would be his life-changing contact with members of Görlitz’s burgeoning Paracelsian community.10 Chief among their number was the mathematician, cartographer, and several-times Ma4

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Walther’s date of birth can be fixed by Paul Nagel’s letter to Arnold Kerner of 30 September 1621 (Leipzig, Universitätsbibliothek [hereafter Leipzig UB] Ms 0 356, fol. 36r), in which Nagel reveals that Walther was born sixty three years prior. Earlier, Richard Jecht: Die Lebensumstände Jakob Böhmes. In: Jakob Böhme. Gedenkgabe der Stadt Görlitz zu seinem 300jährigen Todestage. Hrsg. v. Richard Jecht. Görlitz 1924, 64, speculated that Walther »muß etwa 10 Jahre älter als Böhme gewesen sein.« Ältere Universitäts-Matrikeln. I: Universität Frankfurt a. O. Hrsg. v. Ernst Friedlander, Georg Liebe u. Emil Thenner. Leipzig 1887, 270b. Horst Weigelt: Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien. Berlin 1973, passim. Walther would also contribute a poem to a publication honoring the prince after his death. See: Trostschrift […] Herrn Georgen Fürsten zu Anhalt […]. Zerbst 1587, sig. C7r. Walther might have found employment either at his court in Dessau, or the Zerbst Gymnasium, which was established by the prince in 1583. Balthasar Walther: Ode dicolos tetrastrophos totum redemtionis opus, à Christo Seruatore nostro humano generi praestitum, breuiter complectens […]. Zerbst 1585. Balthasar Walther: Coniugio doctissimi et hvmanissimi viri, domini Francisci Croschelii Svervsiensis, sponsi: et pvdicißimæ virginis Dorotheae Peucerianæ, IOACHIMI filiæ, Gorlicensis, Sponsa. Görlitz 1587. This pamphlet was discovered in late 2007 by Matthias Wenzel in the collections of the Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften, Görlitz. I thank him for bringing it to my attention. See Ernst-Heinz-Lemper: Görlitz und der Paracelsismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 18 (1970), 347–360, although this text must be used with caution.

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yor of Görlitz, Bartholomäus Scultetus (1540–1614).11 While the precise circumstances of their initial contact is unknown, Scultetus’s Diarium (unfortunately lost) shows that on 19 July 1587 the pair convened for a lengthy meeting. Evidently, they had much in common. Walther returned to Görlitz to visit Scultetus on 19 February, 1 August and 26 December 1588. Throughout this time, Walther’s enthusiasm for magical, Paracelsian and kabbalistic texts was evidently growing. For on one or more of these occasions, Walther borrowed from Scultetus a number of magical and Paracelsian treatises in manuscript. One volume of copies prepared by Walther from the texts borrowed from Scultetus is located today in the Lübeck Stadtbibliothek.12 A fat quarto volume, it contains extracts and full texts of some seventeen magical and (Pseudo-)Paracelsian tracts, in both Latin and German. In terms of its content, the Lübeck codex is mostly magical. It begins with extracts from the Latin Picatrix,13 continues with two short German tracts attributed to Paracelsus: an account of a transmutation completed in 1527, and a text entitled Die heimliche Offenbahrung Hermetis. A short work on celestial kabbalah then precedes a lengthy Latin version of the strange Liber Raziel, one of the most infamous angel magic texts of the late Renaissance.14 Several other works, by Trithemius, Petrus d’Abano, Paracelsus and »Hermes Trismegistus« round out the volume. With these texts in his possession, Walther possessed a unique sampling of dissident astrological, magical and esoteric wisdom of his age. Throughout the manuscript, there appear marginal notations which reveal the relationship of these texts to works in Scultetus’s collection, in addition to providing information on when and where Walther created this copy: Gorlicii ex scripto Cracovij Rhetici scriptj Barthol. Scultetij 21 Febr. Ao 1567. Ex huius scripto B. Waltherij Iun. 30 Aprilis Ao 89 novi calen. Harper[sdorf]. (fol. 88r) Ex scriptis Cracovi h[abet] Scultetus & Waltherus ab eo […] (fol. 91r) 1 May Anno 89 Harpersdorf ex Bart. Scultetij (fol. 94v) Ex libri Bartholomaii Sculteti Gorlitiani et scripti 3 Mai […] (fol. 110v)

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On Scultetus see Martin Reuther: Der Görlitzer Bürgermeister, Mathematiker, Astronom und Kartograph Bartholomäus Scultetus (1540–1614) und seine Zeit. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Hochschule Dresden 5 (1955/56), 1133–1162; Ernst Koch: Moskowiter in der Oberlausitz und Bartholomäus Scultetus. In: Neues Lausitzisches Magazin 83 (1907), 1–90; 84 (1908), 41–109 u. 225–290; 86 (1910), 1–80; Richard Jecht: Bartholomäus Scultetus. Görlitz 1914; Ernst-Heinz Lemper: Voraussetzungen zur Beurteilung des Erfahrungs- und Schaffensumfelds Jakob Böhmes. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois M. Haas. Wiesbaden 1994, 41–70, esp. 48–55; Joachim Telle/Wilhelm Kühlmann: Corpus Paracelsisticum. Bd. 2. Tübingen 2004, 705–728. Lübeck, Stadtbibliothek, Ms. math. 4˚ 9. For a brief analysis of this fragment, see David Pingree: Picatrix. The Latin Version. London 1986 (Studies of the Warburg Institute 39), xxiv-xxvii. On the Liber Raziel, see Reimund Leicht: Astrologumena Judaica. Tübingen 2007.

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3 Mai Ao 89 novi Calend. ex Sculteto Gorlitiano Mathem. (fol. 111r) Scriptum Bartol. Sculteti Gorlitiani Mathem. libris. 6 Mai Ao 89 calendarium novum computatum in Harpersdorff. (fol. 126r)15

These statements are significant, for they allow us to link the Lübeck codex to a further manuscript evidently prepared by Walther from material given him by Scultetus, which was formerly in the Rhediger collection of the Breslau Stadtbibliothek.16 Described by Kurt Goldammer as one of the »most valuable [collections] of the surviving theologica« of Paracelsus, this manuscript was lost during the second world war. We are aware of its content, however, firstly due to two careful bibliographical descriptions by Goldammer and Karl Sudhoff, in addition to a typescript of its contents, prepared by Goldammer for his edition of Paracelsus’s theological works.17 From these we are aware that the majority of the Breslau folio consisted of Paracelsus’s commentaries on Matthew. However, there were also commentaries on Luke and the prophets Isaiah and Daniel, in addition to a collection of sermons, general theologica, and a significant selection of commentaries on the Psalms. Several of these texts contained tantalising references to Paracelsus’s belief in an enduring mystery school of kabbalistic and spiritual wisdom: the extracts »Ex alio fragmento super Matthaeum« and the »Ex enarrationibus super Matthaeum quarum prine: est 3. cap.« being representative of this particular type of work.18 Although there was apparently no mention of Walther or Scultetus in the Breslau manuscript, we know that it is linked to the Lübeck codex, and indeed for the following reasons: both manuscripts consist of texts copied from Scultetus’s collection; both were prepared in the village of Harpersdorf, Silesia; both were prepared during the same period – August 1588 – Pentecost 1589 (Breslau), May – July 1589 (Lübeck); both were prepared on the same paper, two varie-

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A final date appears on fol. 171r of the text: »Trotzendorff 16 Decemb. Ao 90. Ex. lib. Abrah. Maffredi.« Maffred is more commonly known as Abraham Meffert, sometime Stadtphysikus in Liegnitz, and likewise a collector of Paracelsian manuscripts. Shortly before 1600, Meffert prepared a copy of a prophetic work by Paul Lautensack, which survived until the second world war (former Breslau, Stadtbibliothek R 292). On Meffert see Berthold Kreß: The Manuscripts and Drawings by Paul Lautensack (1477/78–1558) and his Followers. 3 vols. Phil. Diss. Cambridge 2006. While the original MS was lost during the second world war, it was fully transcribed before its disappearance. For the mysterious fate of the Breslau manuscript see the thorough introduction in Paracelsus: Theologische Werke I: Vita Beata, Vom seligen Leben. Hrsg. v. Urs Leo Gantenbein. Berlin 2008, 51 f., especially n. 307. Important descriptions of the manuscript appear in Paracelsus: Sämtliche Werke. 2. Abteilung. Theologische und Religionsphilosophische Schriften. Hrsg. v. Kurt Goldammer. Stuttgart 1955, IV/1, xxxv-xxxviii; Karl Sudhoff: Kritik der Echtheit der Paracelsischen Schriften: II. Theil. Paracelsische Handschriften. Berlin 1898, 499–538. Sudhoff: Paracelsische Handschriften (not. 17), 507 f. Concerning Paracelsus’s commentaries on Matthew, see Arlene Miller-Guinsburg: Paracelsian Magic and Theology: A Case Study of the Matthew Commentaries. In: Kreatur und Kosmos. Internationale Beiträge zur Paracelsusforschung. Hrsg. v. Rosemarie Dilg-Franck. Stuttgart 1981, 125–139.

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ties bearing distinct watermarks from mills in Bautzen and Silesia, and, finally;19 according to bibliographical descriptions, both manuscripts bore similar scribal techniques, including the use of multiple columns, in the reproduction of the texts. However, the Harpersdorf connection is significant not only for the connection it provides to the Breslau manuscript, and thus Walther’s intellectual background. As Horst Weigelt has demonstrated, Harpersdorf was the centre of an energetic Schwenkfelder network.20 Given Walther’s origins in the former Schwenkfelder stronghold of Liegnitz, the Lübeck and Breslau manuscripts may, therefore, also provide evidence of an enduring connection between Walther and Schwenckfelder communities in Silesia. Furthermore, these manuscripts provide, perhaps for the first time, indisputable proof of Walther’s long-suspected interest in magical and kabbalistic wisdom. The texts copied out into these manuscripts may also provide key directions in searching for influences on the thought of Jakob Böhme.

Walther’s Orientreise Walther’s movements following his time in Harpersdorf are not presently known. He first resurfaces in the historical record nearly a decade later, in 1597. In that year, Walther decided to undertake a journey to Africa, Asia Minor and the Holy Land, in what is perhaps the most celebrated, and mythologized, event of his career. According to Abraham von Franckenberg, the express purpose of Walther’s visit was to set himself »in search of the true hidden wisdom, which one might call kabbalah, magic, alchemy, or, more correctly, theosophy.«21 But the records of Walther’s journey are fraught with inconsistencies, concerning both the duration of Walther’s trip, as well as its intent. Both Franckenberg and Johann Angelius Werdenhagen state that Walther spent six years engaged in his travels in the Orient; a report which, although undoubtedly coaxed from Walther himself, was nonetheless inaccurate. Contemporary sources, not least of which include one of Walther’s own publications, demonstrate that he actu-

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Kurt Goldammer: Einleitendes. In: Paracelsus: Sämtliche Werke. 2. Abt. (not. 17), vol. IV/1, xxxviii, mentions watermarks of the arms of the city of Budissin (Bautzen), which was produced by the Bautzen paper mill between 1557–1599, as well as a wheel with eight spokes, of unknown middle and eastern German provenance. Both watermarks can be clearly seen, respectively, after fol. 142v and on fol. 165r-v in the Lübeck codex. Weigelt (not. 6), 195–212. Concerning a prophet in Harpersdorf in 1590, whose visions of the imminent Last Judgment attracted a following of some several thousand persons, amongst them many Schwenkfelders, Paracelsians and perhaps even Walther himself, see F. Lucæ: Schlesiens curieuse Denckwürdigkeiten […]. Frankfurt a. M. 1689, 352; G. Wernsdorfius & G. Liefmannus: Dissertatio historica, de Fanaticis Silesiorum […]. Wittenberg [1698], sig. C1r. Abraham von Franckenberg: Gründlicher und warhafter Bericht von dem Leben und Abschied des in Gott selig-ruhenden Jacob Böhmens […]. In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961 (»SS«), hier: Bd. X, 15.

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ally spent a little over eighteen months on his travels.22 The circumstances of his journey are, however, of immense interest. In late May of 1597, Walther accompanied a Polish diplomatic retinue led by Stanislas Golski, on a magna legatio to the Sublime Porte of the Ottoman Empire in Constantinople. We are presently unaware in which capacity Walther was attached to the legation; he may have been a physician to the group, or he may have been a pilgrim utilising the diplomatic unit for protection while travelling in Ottoman territories. The aim of the mission was straightforward: the Poles intended to secure territorial concessions for the Polish-Lithuanian Commonwealth in the disputed territory of Moldavia.23 Although partially divided between Polish and Turkish rulers, the majority of the disputed territory was then under the control of the infamous Wallachian voivode, Michael the Brave (1558–1601). Golski’s legation stayed in Michael’s court in Targoviste for several months, during which time Walther gathered materials for a biographical account of the voivode, a celebrated and influential Brevis et vera descriptio of Michael’s life and deeds, which was ultimately printed upon Walther’s return in Görlitz in 1599 (see fig. 2). In early August, the retinue departed for Constantinople, where it remained in negotiation with the Ottoman authorities until November 1597.24 Concerning his further movements, Walther states only the following in the dedication to his book on Michael the Brave: Before I undertook some further wanderings abroad I sent a copy of my translation [of documents concerning Michael] from the Porte of Sultan Mehemet III in manuscript form (because no printers are anywhere to be found in any of the territories under Ottoman tyranny) by way of friends who were returning home by that route through Moldavia along with His Excellency, the Polish Ambassador Stanislas Golski.25

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Johann Angelius Werdenhagen: Ψυχολογια vera I. B. T. XL Quæstionibus explicata, et rerum publicarum vero regimini: ac earum Maiestatico iuri applicata. Amsterdam 1632, 63 f.: »Ipse [Walther] mihi retulit, quod in hoc conatu integrum sexennium in Ægypto, Arabia, & illis vicinis terris confecisset.« This account was repeated by Franckenberg in his Bericht (not. 21), 15. Ilie Corfus: Mihai Viteazul si Polonii. Cu documente inedite in anexe. Bucharest 1938, 30–35; Ilie Corfus: Michel le Brave et la Pologne. In: Revue Roumain d’Histoire 3 (1975), 483–498, at 491. The presence and activities of the Polish legation in Constantinople are referred to by Edward Barton (c.1533–1598), the English Ambassador to the Ottoman Porte, in several letters to England. See Anna Kalinowska: Dzialalnosc Ambasadora Angielskiego w Konstantynopolu Edwarda Bartona a Stosunki Polsko-Tureckie (1589–1597). In: Przeglad Historyczny 94/3 (2003), 251–268. Walther reports that he saw an important Ottoman politician at Barton’s Constantinople residence, see Walther: Brevis et vera descriptio (not. 24), 5: »[…] prout eundem una cum socio vel competitore in Oratoris Anglorum palatio vidimus.« Walther: Brevis et vera descriptio (not. 25), sig. A2v: »Ante ulteriorem peregrinationem per amicos, cum illustrissimo Polonorum legato Domino Stanislao Golscio, Castellano Haliciensi, Capitaneo Barensi, Patrono observandissimo, isthac per Moldaviam in patriam revertentes, in scriptis (quod universa tyrannis Osmannica typis careat) ex Sultani Mehemetis III Porta transmittebam.«

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But where precisely did these »further wanderings« lead Walther? From the elaborate gifts he offered to Scultetus upon his return to Görlitz in 1599, we know that Walther visited Greece, Cyprus, Damascus, Jerusalem, and the deserts of Jordan: On 19 August 1599 Balthasar Walther visited his mother-in-law’s bath house garden and laid out the items he had collected since 1597 when he journeyed outwards (ausgewandert) from Poland through Walachia, Greece, Asia, Syria, Egypt and the Mediterranean.26

It remains in question as to what Walther’s motivation and intentions were upon his travels. Was he engaged on a simple pilgrimage to Jerusalem, or was he actively seeking rare magical, kabbalistic and scientific works there? According to his young friends Werdenhagen and Franckenberg, it was the latter option that motivated him. Yet there is no evidence to suggest Walther knew Hebrew or Arabic, so we don’t know how effective any such quest for the magical wisdom of the Orient would have been. Equally, there appears to exist no textual evidence of Walther securing tracts upon his journey: if he had carried back something more than the typical trappings of a pilgrimage, these would likely have found mention by Scultetus in his diary.

New Directions Following his return to Europe, Walther, now in his early forties, embarked upon a period of his life which he later attempted to suppress. Indeed, in describing his adventures to his young friend and biographer Werdenhagen, he remarked that after his Orientreise, he had simply returned to Silesia, where after he encountered Böhme.27 But Walther was here attempting to suppress knowledge of his relationship with one of Boehme’s bitterest opponents; the antinomian chiliast from Langensalza in Thuringia, Esajas Stiefel (1561–1627).28 Stiefel’s name, along with that of his nephew Ezechiel Meth, is one known to all who have dipped into Böhme’s corpus, for Böhme wrote two refutations of Stiefel’s doctrines. But in many 26

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Jecht, Die Lebensumstände Jakob Böhmes (not. 4), 63: »Aug. 19 [1599] Balthasar Walther, so seither An. 1597 von Polen aus durch die Walachei, Graecium Asiam Syriam Aegyptum und per mare medit gewandert, in der Schwiegermutter Badegärtlein kommen und seine mitgebrachten Sachen ausgelegt. Ich habe empfangen ein gemein Kreuz vom Oelbaum [mit eingelegten Heiligtum geschnitzt], zwei Paternoster, eines de terra Adami bei Damasco schwarz, das andre von Oelbaumholz ex monte Oliveti, Johannisbrot ex deserto Bethabarae, 4. Samen der Baumwolle aus der Insel Cypern.« Werdenhagen, Ψυχολογια vera (not. 22), 64: »Verum quùm nec ita obtinuisset votum, rediit in Patriam Silesiam, ubi tunc offendit Theosophum nostrum in magna simplicitate domi suæ quidem, sed non sine persecutione viventem.« On Stiefel see Gottfried Arnold: Fortsetzung und Erläuterung […] der unpartheyischen Kirchen- und Ketzer-Historie […]. Frankfurt a. M. 21729, 32–52; Paul Meder: Der Schwärmer Esajas Stiefel. Ein kulturgeschichtliches Bild aus Erfurts alter Zeit. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 20 (1899), 93–128; Ulman Weiß: Die Lebenswelten des Esajas Stiefel, oder vom Umgang mit Dissidenten. Stuttgart 2007.

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Fig. 2:29 Balthasar Walther: Brevis et vera descriptio rerum ab illustrissimo, amplissimo et fortissimo militiae contra patriae suae Reique Publicae Christianae hostes Duce, ac Domino Domino Ion Michaële, Moldaviae Transalpinae sive Walachiae Palatino gestarum […]. Görlitz 1599, Title page. Courtesy of Imaging Services, Harvard College Library.

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Balthasar Walther: Brevis et vera descriptio rerum ab illustrissimo, amplissimo et fortissimo militiae contra patriae suae Reique Publicae Christianae hostes Duce, ac Domino Domino Ion Michaële, Moldaviae Transalpinae sive Walachiae Palatino gestarum […]. Görlitz 1599. The text was dedicated to Scultetus and Sebastian Hoffmann, a brother in law of the Schwenkfelder noble and later a supporter of Böhme, Michael von Ender. On this see Heinrich Kramm: Studien über die Oberschichten der mitteldeutschen Städte im 16. Jahrhundert: Sachsen, Thüringen, Anhalt. Wien 1981, 520; Johannes Trillmich: Sebastian Hoffmann, ein Görlitzer Bürgermeister um 1600. In: Neues Lausitzisches Magazin 90 (1914), 1–30. This work has been translated several times into Romanian, and has indeed secured Walther an honoured place in the historiography of that country. See Dan Simonescu: Cronica lui Baltasar Walther despre Mihai Viteazul în raport cu cronicile interne contemporane. In: Studii şi materiale de istorie medie 3 (1959), 7–99. A bibliography of the various Latin and Romanian editions of Walther’s Brevis et vera descriptio may be found in Penman: Art: Walther, Balthasar (not. 1).

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ways, both men were flipsides of the same coin. Confronted with similar social, religious and metaphysical crises, Stiefel, like Boehme, attempted to answer questions regarding the nature of the human soul, as well as the Menschwerdung Christi, albeit in dramatically different ways. For Stiefel, if a person fully absorbed Christ and his teachings he then himself became, in essence, like Christ. It was an idea that Walther evidently found intoxicating, at least initially, but one that Böhme, of course, rejected. As the philosopher wrote some years later in 1622, »one must at all times distinguish the human from the Godly, and human will from the will of God.«30 It was a lesson Walther would eventually heed, but only several years after he met Böhme and intensely studied the philosopher’s works. Between 1609 and 1621, Walther regularly visited Stiefel at his houses outside Erfurt in Thuringia. He periodically communicated money to the prophet, and spread his name far and wide, such as in the Schwenkfelder communities in and around Straßburg. Walther’s intellectual interests were also evidently expanding during this time, beyond his early appreciation of magical and Paracelsian literature. He continued to collect various occult works and works of heterodox religiousity, such as a Clavis philosophiae attributed to Valentin Weigel, which, as Carlos Gilly has pointed out, he passed on to other followers of Böhme.31 Yet Stiefel’s circle itself provided Walther with important connections, perhaps foremost among them the Torgau chiliast, alchemist and astrologer Paul Nagel (†1624), a figure to whom I shall later return (see fig. 3).32 It would not be until 1617 Böhme first came to Walther’s attention, perhaps through the Schwenkfelder nobleman Karl von Ender (c.1568–1624), or other mutual friends in Görlitz.33 Böhme first mentioned Walther in a letter to Ender dated 18 January 1618, indicating that Walther had sent him forty questions concerning the soul to answer.34 Obviously impressed with Walther’s gravitas, and perhaps also seduced by his magical wisdom and tales of travel in the Orient, 30 31

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Jacob Böhme: Anti-Stifelius II. In: SS, Bd. V, 199–346, at 224. Leipzig UB, Ms. Rep. 106 IV I, fol. 29v-34v, »Clavis Philosophiae, Schlüssel oder Zugang zur Himmlischen undt Irrdischen Weißheit.« Weigel’s authorship of this text was confirmed by Carlos Gilly: Wege der Verbreitung von Jacob Böhmes Schriften in Deutschland und den Niederlanden. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007, 413. Leipzig UB, Ms 0 356, contains letters from Nagel, Esajas Stiefel, Ezechiel Meth, Paul Felgenhauer, Johann Rehefeldt and others which shed considerable light upon the movements of actors on the fringe of Böhme’s circle. On Nagel see Leigh T. I. Penman: Climbing Jacob’s Ladder. Crisis, Chiliasm and Transcendence in the Thought of Paul Nagel (†1624), a Lutheran Dissident during the Time of the Thirty Years’ War. In: Intellectual History Review 20/2 (2010), 201–226; Joachim Telle: Art. »Nagel, Paul«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, hier: Bd. 8, 493–495. For the role of Ender, see Will-Erich Peuckert: Das Leben Jakob Böhmes. In: SS, Bd. X, 127 f. Paul Nagel dedicated a Prognosticon astrologicum: Das ist, Natürlich, gründliche Weissagung aus Krafft, Wirckung und geheimer Bedeutung des gestirnten Himmels […] aus rechten Grunde der warhafftigen Astronomiae auffs Jahr MDCXXI. Goßlar [1620], to Ender and another Böhme supporter, Kaspar von Fürstenau. Jacob Böhme: Epistolae Theosophicae. In: SS, Bd. IX, 1.17.

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Böhme intended to answer these queries in the form of a short tractate, and thereby win Walther to his cause. The forty questions were probably representative of the fundamental metaphysical problems which defined Walther’s character during this period; a complex of questions sparked by roaring contemporary debates on piety, devotion, and the nature of true Christianity. What can I do to ensure my salvation? How can I transcend the turmoil of the physical world? What is the nature of the true psychology? Probably, Walther posed similar queries to Stiefel, and perhaps to yet others.35 Ultimately, Böhme would struggle with the task of answering Walther’s questions for almost four years. In the meantime, however, it appears that the two men encountered each other regularly. It was probably during these meetings that, as famously related by von Franckenberg, Walther castigated Böhme for the cobbler’s lack of respect for rituals of custom and diet, a disagreement which led Böhme to label Walther as »Mosaisch« and »Hartmännisch«.36

Fig. 3: Paul Nagel, from the title page of his Prognosticon astrologicum (1619). Courtesy of Imaging Services, Harvard College Library.

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Ibid. Abraham von Franckenberg, Bericht […] (not. 21), 15: »[Walther war] in seiner Diæt und allem Thun sehr strenge, und wie J. B. meldete, gar Mosaisch und Hartmännisch gehalten, auch nicht wol vermercket, daß Jacob Böhm hingegen mehr frey- und sanftmüthig oder indifferent, und ohne eigenwehligen Aufsatz gewesen.«

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Nevertheless, despite their differences, and the fact that Böhme had not yet provided any answers to his forty questions, Walther’s admiration for Böhme’s philosophy was growing. Already in 1617, he had won Christian Bernhard of Sagan to Böhme’s theosophy, just as he would later convert the Liegnitz physician Friedrich Krause; both of whom would become significant figures in the distribution of Böhme’s works.37 Walther’s enthusiasm for Böhme’s ideas was indeed so great, that in a letter dated 7 June 1620, Böhme warned him »not to commit my writings into the hands of every one, for they belong not to every one«38, and entreated Walther to, wherever possible, conceal his name. It was probably on account of Böhme’s warning, and not as a rapt celebration of the philosopher’s unique insights, that Walther began referring to Böhme under the codename philosophus teutonicus.39 Philosophical pursuits aside, Walther also enjoyed a run of employment during this period. From mid 1619 until early May of 1620, and perhaps again intermittently thereafter, Walther was employed in the Dresden laboratories of Johann Georg I, Prince-Elector of Saxony, preparing medicaments under the directions of the Elector’s personal physician.40 Following a brief break spent largely in Leipzig41 and Görlitz,42 Walther received another appointment, this time at the tiny court of August von Anhalt-Plötzkau (1575–1653), a figure of central significance to the early propagation of the Rosicrucian manifestos, during the winter and spring of 1620–21.43 Yet as Walther worked away in Plötzkau, drama was unfolding elsewhere. Someone had communicated several of Stiefel’s writings to Böhme, asking for the theosopher’s opinion.44 By 28 April 1621, Böhme’s friendly but firm critique of Stiefel’s philosophy, which indeed recognised the antinomian as a kind of kindred spirit – just as Walther evidently saw him – was complete. For Walther, who must 37

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Böhme, Epistolae Theosophicae (not. 34), Bd. IX, 26.2 (to Bernhard, 7 June 1620); 30.6 (to Krause, 17 July 1622). Walther probably met Krause through Nagel’s circle, for Krause is mentioned several times in their correspondence before his conversion to Böhme’s philosophy. See Leipzig UB, Ms 0 356, fol. 19r (10 October 1620) u. 21r (21 October 1620). Jacob Böhme: Epistolae Theosophicae. In: SS, Bd. IX, 7.1: I have here used John Sparrow’s translation, from Jacob Böhme: The Way to Christ Discovered […]. London 1648, sigs. K2rK4v. Interestingly, in the correspondence of Paul Nagel, Böhme is referred to only as »teutonicus«, indicating that Walther, and Nagel, took heed of Böhme’s words. See Erich Worbs: Balthasar Walther. Ein Porträt aus dem schlesischen Frühbarock. In: Schlesien 11 (1966), 11, 13, who cites a document in the Dresden Hauptstaatsarchiv, Loc. 32 668. I have been unable to see this document while preparing the present article. Leipzig UB, Ms 0 356, fol. 21r-v. Nagel to Kerner, 19 Oct. 1620, mentions that mail for Walther could be deposited at an address on Nicolai Straße in Leipzig. Jacob Böhme: Ungedruckte Sendbriefe. In: Jacob Böhme. Urschriften. Hrsg. v. Werner Buddecke. 2 Bde. Stuttgart 1966, 2. Tl., 404 (Sendbriefe IV, perhaps to Christian Bernhard, dating from ›Frühjahr 1620‹). Böhme, Epistolae Theosophicae, Bd. IX, 12.76; Concerning August, see J. Chr. Beckmann: Historie des Fürstenthums Anhalt. Zerbst 1710; Carlos Gilly: Adam Haslmayr. Der erste Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer. Amsterdam 1994, 118–133. Will-Erich Peuckert: Einleitung. In: SS, Bd. V, 10 suggests that Walther himself was responsible.

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have read this tract with growing sensation of torn loyalty, the situation would only become more uncomfortable. From Plötzkau, Walther headed directly to the court of the count of Gleichen in Ohrdruf. While there can be little doubt that Count Johann Ludwig welcomed Walther’s services and medical expertise enthusiastically – not only because as a youth he also desired to travel to the Holy Land45 – Walther’s appointment undoubtedly owed more to the influence of the countess Erdmuth Juliane (1587–1633). An early convert to Stiefel’s teachings, a friend of the pedagogue Wolfgang Ratke, and a collector of Rosicrucian and magical books, before Walther’s arrival she had already installed Ezechiel Meth as court alchemist and appointed Stiefel himself as manager of her Erfurt residence.46 Given Stiefel’s ever-more exacting demands of loyalty and Walther’s growing enthusiasm for Böhme’s work, the relationship disintegrated rapidly in such close quarters. Shortly after July 1621, prompted by Böhme’s critiques and the newfound opposition of his friend Paul Nagel to Stiefel’s ideas, Walther attempted to personally convert Stiefel to Böhme’s theosophy. Stiefel, perhaps understandably, exploded in a rage, and forbade Walther to consult such material in the future.47 By October of 1621, as Nagel reports, Walther’s break with Stiefel’s increasingly-strained and ever-expanding messianic doctrines was complete. Walther even went so far as to author a Latin tract directed against his former spiritual mentor. Although the text no longer survives, it represents Walther’s decisive break with Stiefel’s sect, and the beginning of an invigorated evangelical campaign on Böhme’s behalf throughout the Holy Roman Empire.48

Final Movements Having quitted the Gleichen court, Walther headed north. By February 1622, he was in Lüneburg, where he apparently remained until the Easter of 1623.49 It was there that he must have made the acquaintance of Leonhard Elver (1564– 1631) a friend of Joachim Jungius,50 who would become an influential member 45 46 47

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Caspar Sagittarius: Gründliche und ausführliche Historia der Grafschafft Gleichen […]. Frankfurt a. M. 1732, 453. Erfurt, Bibliothek des Evangelischen Ministeriums, Ms 83, fol. 440r-v. (Zacharias Hogel: Chroniken von der Stadt Erfurt, 320–1628). Leipzig UB, Ms. 0 356, fol. 32r. Nagel to Kerner, 30 June 1621: »Undt ist darzu kommen, dz Herr Balth: Walther Gräff Leibmedicus, des Jacob Böhmes schrifften H. Stifelio gezeiget, solche approbiret undt gelobet, drübe Stiefel: hefftige erzündert und H. Bal: Wal: davon abgewahret.« Ibid., fol. 36r. Nagel to Kerner, 30 September 1621. Neither the tract nor its true title has yet been located. The text in question is also mentioned by Johann Rehefeldt in a letter to Kerner dated 5 March 1622 (fol. 43r). Böhme, Epistolae Theosophicae, Bd. IX, 22.7. »Herr Balthasar Walther hat mir aus Lüneburg, alda er sich ietzo aufenthält, geschrieben und anbefohlen, den Juncker zu salutiren.« Donald R. Dickson: The Tessera of Antilia. Utopian Brotherhoods and Secret Societies in the Early Seventeenth Century. Leiden 1998, 91.

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of Böhme’s wider circle. By 10 May 1622, for example, Paul Nagel had already dedicated one of his major works, the Astronomiae Nagelianae to Elver.51 Supplied by scribes with additional copies of Böhme’s works to distribute, while in Lüneburg Walther was apparently occupied almost full-time with spreading the cobbler’s philosophy. Böhme additionally indicates in several letters that Walther, along with Nagel, were garnering interest for his writings at the Leipzig book fair and indeed throughout Saxony.52 Walther would also visit Lübeck on occasion, where he made the acquaintance of Joachim Morsius (1593–c.1643), another important figure in Böhme’s reception.53 Like many other luminaries of his time, Walther left an elaborate and fascinating message in Morsius’s Album Amicorum, which warrants further attention.54 Recorded on the feast day of the Three Kings or of the Epiphany (6 January), Walther’s poetic entry appears to make reference to Böhme’s philosophy of human perfectionism, especially in the lines concerning becoming »a new citizen in the seed of Christ«. It also plays, once more, into Walther’s practice of selfpresentation as an adept who has endured unimagined hardships in pursuit of piety and esoteric wisdom: IN DIEM MAGORUM WAL[T]HERO NATAL[I] Anno 1623 B.[W.?] Lux iterum genialis adest, in Luce Magorum Quâ sacra, caussa novi Nominis, Unda fuit55 Ergo tot ærumnis tanto discrimine rerum Quod fragilem servas; gratia Christe tibi. Amplius oro; novum veteremque remitte reatum Vivifico lotus sanguine tingar ego. Spiritus irradiet tenebras: Sapientia lustret; Detque tuam custos Angelus ire viam Mole ruinosæ carnis vitæque solutus, Dum novus in Christi germine civis ero. Ille Dies verè genialis & integer ævi: Lumine quo potiar fulgidiore Dei. O miser hâc; illâ quam fiam Luce beatus: Quâ desiderio fata fidesque favent.56

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Paul Nagel: Astronomiae Nagelianae fundamentum verum […]. [Halle] 1622. Nagel also reveals more information concerning the circumstances of the dedication in a letter to Arnold Kerner, 22 September 1622. (Leipzig UB, Ms 0 356, 64r.) See especially Böhme, Epistolae Theosophicae, Bd. IX, 71.4 f. See also Heinrich Schneider: Joachim Morsius und sein Kreis. Zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts. Lübeck 1929, 36–44. Lübeck StB, MS. hist. 25,4°, 826–827. This obscure reference may be the result of Walther’s contact with Eastern Orthodox tradition, which celebrates the feast of the circumcision and naming of Christ (celebrated on 1 January in western Christendom) with the feast of the epiphany (6 January), in which case the »wave« of blood from the circumcision is the cause of »the new name.« A concluding notice, in Morsius’s hand, states »Balth. Waltheri Silesij, Equitis Hierosolÿmitani amicißimi manus.« I thank Grantley McDonald for the translation.

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Walther, on the feast day of the Three Kings/ [6 January] 1623 B. W./ Once more the genial day is here, on the day of the Magi,/ On which feast occurred a sacred wave, the cause of a new name./ Thanks then to you, o Christ, that you preserve one [made] so fragile/ By so many miseries, by so many vicissitudes of fate./ And I pray one thing more: forgive my sins, both old and new,/ And I shall be washed in the life-giving blood./ Let the Spirit illumine the darkness, and may wisdom sweep over it,/ And may my guardian angel grant me to travel your path,/ Free from the mass of ruinous flesh and life/ Until I am a new citizen in the seed of Christ./ That day will be truly genial and the consummation of the age,/ When I shall drink of the brighter light of God./ O, as I am wretched in that light, just so I will be blessed in that light,/ When fate and faith gratify my desire.

The reverse of the page features an additional poem in a different meter by Walther, recorded in Morsius’s hand, perhaps at a later date.57 Walther, now approaching seventy years of age, armed with freshly prepared copies of Böhme’s writings, clearly made a dramatic impression on Morsius. One text from the aforementioned Lübeck manuscript – which evidently passed into Morsius’s possession following Walther’s death – an account of the creation of a transmutation supposedly reproduced from strange figures on the pommel of Paracelsus’s sword, was printed in Morsius’s Magische Propheceyung Aureoli Philippi Theophrasti Paracelsi (1625),58 under the title Mysterium Lapidis Philosophorum, ex MS codice Balthasaris Waltheri Silesij.59 Morsius there praised Walther as his »amicus carissimus.«60 The publication also featured two short poetic pieces, signed with the initials »B. W.«, which were undoubtedly composed by Walther himself.61 Yet if Walther was considered by his friends and colleagues as a master of occult studies, he also remained an active student, always striving to uncover and understand the abstruse depths and byways of Böhme’s philosophy. One of the last works he received from the cobbler was a short tract entitled Principia sind der geoffenbarte Gott, oder das ausgesprochene Wort, completed by Böhme in March of 1624. A copy of this text, in Walther’s hand, may be found in the Biblioteka Uniwersytecka in Breslau. Comprising a simplified explanation of some of Böhme’s idiosyncratic terms and concepts, a letter by Böhme to Joachim Morsius of 20 April 1624 makes clear that he authored the work according to the request of Walther, El-

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»Non plumis ratio suis beatæ/ ad culmen sapientiæ volabit:/ Mens in mirifico renita Christi/ Ihsüh sanguine, culmen hoc adorat./ O quaternio, Trinitas, Monasque,/ Vniter radio Colenda mentis./ Balthazar Waltherus Eques Hierosolÿm. f[ecit]«. This may be rendered as: Reason will fly to the summit of blessed reason,/ But not under the power of its own wings./ The mind, relying on the miracle-working blood of Christ/ Adores this summit./ O Trinity and Monad, to be worshipped in unity/ By the fourfold ray of the mind/ Balthazar Walther Knight of Jerusalem wrote this. I thank Grantley McDonald for the translation. Anastasius Philaretus Cosmopolita [Joachim Morsius]: Magische Propheceyung Aureoli Philippi Theophrasti Paracelsi, von Entdeckung seiner 3. Schätzen […]. No Place 1625. Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, Signatur N–A 841. Ibid., fol. B1r–B1v. This comment conclusively demonstrates that Lübeck StB, Ms. math. 4˚ 9 was once in the possession of Morsius, as has long been suspected. Ibid., fol. B1r. The fragments may be found in Ibid., fol. B4r u. B4v, respectively.

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ver, and Morsius himself.62 Whether this was for the benefit of the three gentlemen themselves, or as a tool for reaching yet more sympathisers, remains unknown. Although in the Spring of 1624 we find Walther attending the Leipzig book fair in order to distribute Böhme’s works, it becomes increasingly difficult to trace Walther’s movements following Böhme’s own death in November of the same year. One person with whom he certainly had contact, however, was the aforementioned Werdenhagen.63 A former philosophy professor at Helmstedt, sometime member of the Lüneburg town council and a possessor of extensive connections to crypto-heterodox networks in the United Provinces and the Holy Roman Empire, it was Werdenhagen who in 1632 printed a Latin translation and political instrumentalisation of Böhme’s Vierzig Fragen von der Seelen under the title Ψυχολογια vera.64 In the lengthy introduction to this tract, Werdenhagen made it clear that Walther had met with him on several occasions in Lüneburg to discuss and analyse Böhme’s responses to his forty questions, events which ultimately inspired Werdenhagen to set the book in print.65 But Walther himself would not long outlive Böhme, although the exact date of his death is, like his life, shrouded in some mystery. Franckenberg tells us, in an account authored in 1651, that Walther died in Paris, although he did not specify a date. In the 1920s, the French philosopher Alexander Koyré asserted that Walther »est mort en 1625 à Paris.«66 This claim, however, cannot possibly be true: a letter of October 1626 from the Erfurt physician Johann Rehefeldt to Arnold Kerner in Leipzig – members both of Esajas Stiefel’s further network – demonstrates that Walther was alive and well at this time.67 Another possible date was communicated by Georg Rudolf, Duke of Breslau, to August of Anhalt-Plötzkau, in a letter dated 9 March 1652. There, Rudolf reported simply that »Walterus ist todt.«68 62

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Breslau, Biblioteka Uniwersytecka, AKC 1975/263, fol. 33r-51v. The text in question was reprinted in SS, Bd. IX, 111–116. Böhme refers to the circumstances surrounding the composition of this tract in a letter to Morsius of 20 April 1624: »Was aber anlanget den Grund der hohen natürlichen Geheimnissen, dessen der Herr um mehrer Erläuterung nebenst Herrn Waltern und Herrn Leonhard Elvern begehret, wolle er bey Herrn Waltern darum nachfragen: Dann ich habe euch und ihm eine Erklärung, nebenst andern neuen Schriften mitgeschicket; so euch dieselben belieben, so könnet ihr sie lassen nachschreiben, ihr werdet gar grosse Erkentniß darinnen finden.« See Böhme, Epistolae Theosophicae, Bd. IX, 55.11. On Werdenhagen, see Horst Dreitzel: Johann Angelius von Werdenhagen. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. IV: Das heilige Römische Reich, deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Helmut Holzhey. 2 Bde. Basel 2001, Bd. 1, S. 689–693. Werdenhagen, Ψυχολογια vera (not. 22). On this edition, see Werner Buddecke: Die Jakob Böhme-Ausgaben. 2. Tl.: Die Übersetzungen. Göttingen 1957, 1–4. The dedication was dated at Leiden, 16 December 1631. Werdenhagen, Ψυχολογια vera (not. 22), sigs. C5r–C5v: »Interim tamen nobis solamen non leve attulit collegium illud Lunæburgicum, quod piæ conversationi destinabamus cotidiè quum nobiscum esset D. Balthasar Waltherus, cui 40. Quæstiones hujus libelli de Anime natura debentur.« Alexandre Koyré: La Philosophie de Jacob Boehme. Paris 31979, 49. Leipzig UB, MS 0 356, fol. 91r. Johann Rehefeld to Arnold Kerner, 4 October 1626. Oranienbaum AHStA, Abt. Köthen, A 17a, Nr. 50, fol. 282v.

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While this may indicate, as Carlos Gilly has suggested, that Walther died around 1650, I personally believe that Walther was already dead sometime before the end of 1631. For, in the introduction to the Ψυχολογια vera, its dedicatory epistle signed on 16 December 1631, Johann Angelius Werdenhagen reported that his ›summus amicus‹ Balthasar Walther was already dead.69

Aftermath Following his death, Walther was subject to a reception history of his own which, although far less diverse than that of Böhme, is not without its own highlights – the Kabinettscheibe secured by Ludwig Feyerabend for the people of Görlitz in 1912 being only a very late, although interesting, manifestation. Specific aspects of this reception, such as the popularity of the story of Walther’s travels in search of wisdom, were probably perpetuated by Walther himself, who in his later years may not have been averse to exaggerating his earlier achievements. If this is the case, then the Kabinettscheibe of St Christopher could indeed have been an authentic relic from Böhme’s inner circle, and an appropriate emblem indeed for Walther’s life, both as it was lived, and later imagined. During the 1630s and again in the 1650s, Walther was feted by his youthful disciples Werdenhagen and Franckenberg as a learned, experienced and disciplined theosopher and expert in Oriental magic and kabbalah, who had spent six long years in the Orient, scouring foreign lands for magical wisdom. Walther’s reputation as a master of esoteric arts was further buttressed later that same decade, when he was accused by Gottfried Richter, editor of the Torun edition of Böhme’s works, of injecting kabbalistic ideas into the eighteenth chapter of Böhme’s otherwise pious Mysterium Magnum (1624). There, Böhme had written of Exodus 34:29 that Moses had not received two tablets of stone from God atop Mt. Sinai, but instead a second covenant »written upon a globe (Kugel).«70 Of this troubling statement, Richter wrote: What the author [Böhme] here states appears to contradict the clear text of Moses (Exodus 34:1, Deuteronomy 10:1 and 1st Kings 8:9), which expressly speak of stone tablets. This may be explained thusly: the thoughts of Jacob Böhme of blessed memory concerning the two globes [sic! Böhme only mentioned one] upon which the law was recorded derived from a conversation with Dr. Balthasar Walther, who read it in Reuchlin, and lived with Böhme for an entire quarter-year.71 69 70 71

Werdenhagen, Ψυχολογια vera (not. 22), 63. SS, Bd. VII, 121; »[G]leichwie Moses die Tafeln zerbrach, und Gott Mose eine andere Schrift auf eine Kugel gab.« This statement was reprinted in Anon: Mehrere Merckwürdigkeiten von J. Böhmens Wohnung und Begräbniß; von seiner Person und Beruff: nebst umständischer Wiederholung aller seiner Schriften. In: SS, Bd. X, 91: »Es findet sich in den Collectaneis des jüngern Richters eine dienliche Anmerkung/ so in dieses Buch Myst. Mag. gehört/ und zwar zum 19. Cap. § 20 [sic! the reference should be to Chapter 18 § 20] der letzten Zeilen wo Autor schreibet: Wie Gott Mose eine andere Schrifft auf eine Kugel gab. Dabey besagter Collector folgends

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Richter may indeed have been right: such a globe is mentioned in Reuchlin’s De arte Cabalistica, where he writes that »the kabbalists believe that God first recorded his covenant (legem) onto a fiery globe, applying dark fire to white fire.«72 Given Walther’s demonstrated esoteric interests through the Lübeck and Breslau manuscripts, it would be unusual indeed if he did not also know Reuchlin. In the 1690s, Walther’s reputation would be subjected to what was almost certainly its strangest instrumentalisation, when the Hamburg Orientalist and Lutheran pastor Abraham Hinckelmann (1652–1695), in a letter to a friend, claimed to be Walther’s grandson, and insisted that Böhme »did not write a single line« of the works attributed to him, which were rather authored by Walther himself. In this peculiar example of the construction of a personal mythology, Hinckelmann, who in fact was related to Walther through his paternal grandfather, was evidently trading on the physician’s reputation of being an expert in Oriental wisdom in order to advance his own ambitions as an Orientalist and philologist, while simultaneously disgracing Böhme’s legacy.73 Curiously, there is no concrete evidence that Walther knew any language outside German, Latin and Polish. The notion that Walther was somehow responsible for Böhme’s works, was in part a recognition of his reputation as a master of occult wisdom, as well as a bizarre refraction of his contribution to Böhme’s Vierzig Fragen. In any event, rumour of Walther’s expertise would only grow. It would come to widespread attention in the eighteenth century, when Zedler’s influential Universal-Lexicon featured an article which considered the idea that Walther, if he did not indeed write the works attributed to Böhme, then at least closely edited them, adding and subtracting passages from them at his whim: Böhme is said to have sent [Walther] his books, so that he might read through and improve them, for which reason some hold, that Walther had changed much of their content, striking out passages and adding new ones according to his whim, although this is a matter disputed by others.74

The surviving manuscript corpus of Böhme’s works in fact demonstrates that Walther made no such corrections or amendments to Böhme’s œuvre. Nonetheless, even if partially a product of an initial self-promotion, there can be no doubt that Walther earned his legendary reputation as a master of occult

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erinnert: Daß allhie, der Autor scheinet wider den klaren Text Mosis, Exod 34:1, Deut 10:1, 1 Reg 8:9 zu schreiben/ der von steinern Taffeln expresse schreibet/ damit verhält sichs also: des sel. Jacob Bœhmens Teut. Meinnung von den 2. Kugeln/ darauf das Gesetz geschrieben/ rühret her aus mündlicher Conversation mit Dr. Balthasar Walthern, der es beym Reuchlino gelesen/ und ein ganz viertel Jahr beym J. B. gewohnet.« Johannes Reuchlin: De arte cabalistica. Hagenau 1517, sig. lxiiiv. See Peter Dahlmann: Schauplatz der Masquirten und Demasquirten Gelehrten. Leipzig 1710, 308–314. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollstandiges Universal-Lexicon, 64 vols., Leipzig 1732– 1750, LII, 1828: »[S]oll ihm [d. h. Walther] Böhme seine Bücher zugeschickt haben, daß er sie durchgehen und ausbessern möchte, weswegen auch einige dafür halten, er habe nach eigenem Gefallen vieles darinne geändert, ausgestrichen und hinzugethan, welches aber andere verneinen.«

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wisdom. With the discovery in Lübeck of magical – and in Breslau of Paracelsian – manuscripts in Walther’s own hand, we can finally confirm his magical and kabbalistic interests, proof that in the past has proved elusive.75 The content of these manuscripts also provide important roadsigns for those seeking to further identify and research the influences and sources of Böhme’s theosophy. But while there may be some debate, and much work to be done concerning Walther’s influence on the Entstehungsgeschichte of Böhme’s philosophy, I would like to conclude with a concrete example of the significance of Walther to Böhme’s Rezeptionsgeschichte. Walther’s activities as a promoter of Böhme’s works – in France, Greece, Italy, the United Provinces and throughout the Holy Roman Empire – are well known. But additionally, Walther directly influenced the first ever appearance of any of Böhme’s corpus in print. This was not, however, as part of the scheme to publish Böhme’s Der Weg zu Christo in Görlitz in 1624.76 Rather, it was in his provision of a manuscript of Böhme’s first work, the Morgen Röte im Aufgang to his friend, the chiliast Paul Nagel, sometime in 1619 or 1620. Nagel, who spent several months laboriously copying the text, saw echoes of his own unique millenarian philosophy lurking within Böhme’s abstruse pronunciations. In the opening chapter of his Prodromus Astronomiae Apocalypticae (1620), Nagel therefore excerpted some thirty paragraphs of the twelfth chapter of Böhme’s Morgen Röte, concerning the three angelic kingdoms of Lucifer, Uriel and Michael.77 When the Königsberg pastor Philip Arnoldi replied to what he believed were Nagel’s »abscheuliche Gotteslasterungen« in the aptly named Anti-Nagelius of 1621, Walther had in fact unwittingly encouraged the first debate over Böhme’s ideas to appear in print.78

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John Schulitz: Böhme und die Kabbalah. Eine vergleichende Werkanalyse. Frankfurt a. M. 1993, 16: »Eine direkte Linie zwischen der Tradition der christlichen Kabbalah der humanistischen Periode und dem von der Böhme-Forschung weitgehend unbeachteten Kabbalisten und Arzt Dr. Balthasar Walther ist bis heute noch nicht erwiesen.« Jacob Böhme: Der Weg zu Christo. In zweyen Büchlein. […] Gestellet Durch einen Liebhaber Gottes/ und der recht gründigen warheit. [Görlitz] 1622 [i. e. 1624]. Paul Nagel: Prodromus astronomiae apocalypticae. Welcher uns fürstellet/ die gewisse warhafftige fundament der Weissagung […]. Danzig 1620, sigs. C1r–C3r. See Philipp Arnold: Antinagelius, Das ist: Gründlicher Beweiß/ Daß nach dieser Welt Zustande nicht ein tertium Seculum oder dritte irrdische Zeit […] zu hoffen sey […] Etzlichen vermeynten Argumenten/ welche M. Paulus Nagelius in seinen Calendern und Schrifften/ zu behauptung seines Schwarms/ daß Anno 1624. noch ein güldenes Seculum auff Erden solte angehen […] entgegen gesetzt. Königsberg 1621, 80–95; Leigh T. I. Penman: The First Appearance of Jacob Böhme’s Work in Print. In: Notes and Queries 255/3 (2010), 419–421; Leigh T. I. Penman: Repulsive Blasphemies. Paul Nagel’s Appropriation of Unprinted Works of Valentin Weigel and Jakob Böhme in his Prodromus astronomiae apocalypticae (1620). In: Daphnis 38 (2009), 599–622.

Jost Eickmeyer

Ein Politiker als Böhmist Johann Angelius Werdenhagen (1581–1652) und seine Psychologia Vera J[acobi] B[öhmii] T[eutonici] (1632) Unter den frühen deutschen Böhme-Anhängern des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts finden sich oftmals sozial randständige oder zumindest prekäre Gestalten: neben einer Reihe wandernder Scholaren wie Balthasar Walther z. B. exilierte Spiritualisten wie Friedrich Breckling, visionäre Quietisten wie das Ehepaar Petersen1 oder nomadisierende Quintomonarchisten wie Quirinus Kuhlmann, dessen Neu-begeisterter Böhme wohl die spektakulärste Aneignung des Görlitzer Schusters durch einen Barockdichter darstellt.2 Bevor man jedoch vorschnell aus diesem Befund den frühen Böhmismus als eine Erscheinung des »linken Flügels«, der Abseitigen oder Beziehungswahnsinnigen charakterisiert,3 sollte man ein weiteres Rezeptionszeugnis hinzunehmen, dessen Urheber sich so gar nicht zu dem gerade hypothetisch entworfenen Sozialprofil fügen will. Es handelt sich um die ΨΥΧΟΛΟΓΙΑ Vera, die 1632 anonym in Amsterdam erschien und deren Verfasser, Johannes Angelius Werdenhagen, immerhin ein von vielen Fürsten umworbener norddeutscher Diplomat, renommierter Hansehistoriker und zeitweise Professor in Helmstedt war. In der Forschung wird dieses Buch in aller Regel als Übersetzung eines Böhme-Textes behandelt, namentlich der Viertzig Fragen von der Seelen, ohne auf die spezifische Beschaffenheit und Komposition des Werkes oder die eventuell ablesbaren Intentionen und spezifischen Modifikationen seines Verfassers näher einzugehen. Bevor es nun in seiner Anlage, kritischen Ausrichtung und Argumentationsstruktur genauer betrachtet wird, scheint eine biographische Skizze des Autors angezeigt, zumindest im Hinblick auf die lebens- und bildungsgeschichtlichen Hintergründe, die man hinter diesem Beispiel einer frühen Böhme-Rezeption ausmachen kann. 1

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Zu den Genannten vgl. die Beiträge von Leigh Penman, Johann Anselm Steiger und Burkhard Dohm in vorliegendem Band. – Beizuziehen ist zur Abrundung des Bildes die zeitgenössische, von Michael Le Blon zusammengestellte Liste früher Böhme-Anhänger. Sie ist nun zugänglich in: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007 (Pimander 16), 451–456. Grundlegend nach wie vor: Sibylle Rusterholz: Jakob Böhme und Anhänger. In: Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hrsg. v. Helmut Holzhey u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Basel 2001, 61–142. Quirinus Kuhlmann: Der neubegeisterte Böhme. Hrsg. u. erl. von Jonathan Clark. 2 Tle. Stuttgart 1995 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 317/318). Zum ›Beziehungswahn‹ Kuhlmanns vgl. etwa Harald Haferlands Beitrag in diesem Band.

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1. Das intellektuelle Profil Werdenhagens bis 1632 Wer sich für die durch häufige Ortswechsel geprägten Lebensumstände Werdenhagens interessiert, ist neben Mollers Cimbria litterata und Gottfried Arnolds Unpartheiischer Kirchen- und Ketzerhistorie4 auf ältere Darstellungen wie Henkes Ausführungen zur Universität Helmstedt (1833), Zimmermanns ADB-Artikel von 1896 und eine mosaikartige biographische Skizze in den Geschichtsblättern für Stadt und Land Magdeburg von 1903 angewiesen.5 Einige wenige verstreute Briefe sowie Aussagen aus eigenen und fremden Werken können das Bild des Autors wenigstens reliefartig hervortreten lassen. 1581 in Helmstedt geboren, bezieht Werdenhagen sehr früh die Universität am Ort, wo er nicht nur den renommierten Humanisten Johannes Caselius (1533–1613) hörte,6 sondern auch noch den Primarius für Theologie Daniel Hofmann (1540–1611) erlebt haben dürfte, welcher mit seiner scharfen Trennung von philosophischer Erkenntnis und religiöser Wahrheit jenen ›Hoffmannschen Streit‹ auslöste, an dessen Ende er sich der lutherischen Orthodoxie, v. a. seinem Widersacher Cornelius Martini (1568– 1621) geschlagen geben musste und 1598 die Hochschule verließ.7 Werdenhagen zeigte sich jedenfalls während seiner kurzen Zeit als Professor Ethices dortselbst als Hofmannianer, wenn er sich scharf gegen die Philosophie des Aristoteles und 4

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Vgl. Gottfried Arnold: Unparteiysche Kirchen- und Ketzerhistorie […]. Schaffhausen: Hurter 1740, Bd. II, 405b–410a; Bd. III, 350b/351a. – Kaspar Heinrich Starck: Lubeca Lutherano-Evangelica, das ist der Kayserlichen/ Freyen/ und des Heil[igen] Römischen Reichs Hanse- und Handelsstadt Lübeck Kirchen-Historie. Hamburg 1724, 807–812. – Johann Moller: Cimbria Literata, Sive Scriptorum Ducatus Utriusque Slesvicenses et Holsatici, Qvibus et Alii Vicini Qvidam Accessentur, Historia Literata Tripartita. Havniæ: Orphanotrophium Regium 1744, Bd. 2, 966–970. Ernst Ludwig Theodor Henke: Georg Calixtus und seine Zeit. Bd. I: Die Universität Helmstädt im sechzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Kirchen- und Literär-Geschichte. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1833, hier: 246–252; Paul Zimmermann: Art. »Werdenhagen, Johann Angelius«. In: ADB 41 (1896), 759–762; F. Neubauer: J. A. Werdenhagen. In: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 38 (1903), 59–130. Der kurze biographische Abriss bei Alfred Voigt: Über die Politica generalis des Johann Angelius von Werdenhagen (Amsterdam 1632). Erlangen 1965 (Erlanger Forschungen, Reihe A, 17), 8–11, ist mittlerweile ergänzungsbedürftig. – Vgl. jetzt auch knapp zusammenfassend Jost Eickmeyer: Art. »Werdenhagen, Johann Angelius«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, hier: Bd. 12 (2011), 301b–304a. Zu Caselius vgl. jetzt den umfassenden Artikel von Raimund B. Sdzuj: Art. »Caselius, Johannes«. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenchaftliches Verfasserlexikon. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. Red.: Klaus Kipf. Berlin/New York 2011, hier: Bd. 1, 478–497. Ernst Schlee: Der Streit des Daniel Hofmann über das Verhältnis der Philosophie zur Theologie. Theilweise nach handschriftlichen Quellen. Diss. Marburg 1862; Johannes Wallmann: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, 52 u. 76; knapp auch Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550–1650. Berlin 1988, 156/157; Markus Friedrich: Die Grenzen der Vernunft: Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600. Göttingen 2004 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 69), 19–68.

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seiner ›gottlosen Nachkommenschaft‹, der »Thomistae, Scotistae, Albertistae et Moderni« wandte, vor allem aber gegen die »Rationisten« und »Ratiocinisten« unter seinen Zeitgenossen. Oder, um aus einer von mehreren Reden über den Verus Christianismus zu zitieren, die er zur Säkularfeier der Reformation 1617 hielt: »Spiritus eas [Doctrinas Christianismi] docet, non Aristoteles; gratia, non ratio; affectus, non syllogismus.«8 Aber noch schlägt sich Werdenhagen ab 1601 anscheinend ohne akademischen Abschluss als Privatlehrer in Helmstedt durch, bevor er ab 1606 als Hofmeister verschiedener junger Adliger auf Reisen geht, die ihn u. a. nach Jena, Altdorf,9 Tübingen, Straßburg und Heidelberg sowie für drei Jahre an die Universität Leipzig führen.10 Dort lernte er den umtriebigen Alchemomediziner Joachim Tancke (1557–1609) kennen, dessen europaweite Wirkung als Verfasser und Herausgeber paracelsistischer und chymiatrischer Schriften Udo Benzenhöfer, Joachim Telle und Wilhelm Kühlmann herausgearbeitet haben.11 Tanckes unverwüstlicher Paracelsismus, auf dessen Grundlage er nicht nur die »medicina Galeni«, sondern auch die »philosophia [v. a. Physica] Aristotelis« verwarf, dürfte bei Werdenhagen auf offene Ohren gestoßen sein. Zumindest setzte er dem Leipziger Mediziner ein Denkmal, indem er ihn in der hier in Rede stehenden Psychologia neben Paracelsus selbst, Valentin Weigel, Johann Arndt, Oswald Croll und anderen in die Reihe der wahrhaften Weisen in Christo stellt.12 Ja: Er verfasst sogar einen panegyrischen Nachruf, den er 1610 unter dem Titel Κωλύτης funeris, in memoriam Joachimi Tanckii in Altenburg drucken ließ und dem Freund und Briefpartner des Verstorbenen, dem Alchemiker und kaiserlichem Leibarzt Martin Ruland d. J. (1569–1611) dedizierte. Werdenhagen lobt dort den Freund nicht nur als einen der größten Ärzte und Alchemiker der Zeit, sondern erinnert auch an seine persönliche Begegnung mit

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Verus Christianismus, fundamenta religionis nostræ continens, octo orationibus secularibus in acad[emia] Iulia habitis explicatus, quum annus Lutheranus et Iuleius celebraretur. Magdeburg: Bezel 1618, 532. Neubauer (Anm. 5), 60, Anm. 2, weist auf die dort geschlossene Bekanntschaft mit Konrad Rittershusius hin. Dass beide im Briefkontakt standen, Werdenhagen auch ein Hochzeitscarmen für Ritterhausen drucken ließ, zeigt die Supellex Epistolica Uffenbachii et Wolfiorum. Hrsg. u. bearb. von Nilüfer Krüger. Hamburg 1978 (Katalog der Handschriften der Staats- u. Universitätsbibliothek Hamburg 8), Tl. 2, 852b u. 1091 (auch ebd., 1038a, einen Brief Simon Tolmanns an Werdenhagen verzeichnet). Vgl. Neubauer (Anm. 5), 60. Joachim Telle: Zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alchemia medica unter besonderer Berücksichtigung von Joachim Tanck. In: Humanismus und Medizin. Hrsg. v. Rudolf Schmitz. Weinheim 1984 (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 11), 139–157; Udo Benzenhöfer: Joachim Tancke (1557–1609). Leben und Werk eines Leipziger Paracelsisten. In: Paracelsus und Paracelsisten. Vorträge 1984/85. Hrsg. v. Sepp Domandl. Wien 1987 (Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 25), 9–81. – Weiteren Aufschluss zu Tancke und seiner Stellung unter Alchemikern und Paracelsisten der Zeit verspricht der dritte Band des Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Hrsg. und erl. v. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Bd. 3. Berlin/New York (im Druck), vgl. dort die Nr. 155–160. (Ich bedanke mich für den freundlichem Hinweis der Herausgeber.) Vgl. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 625.

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dem Arzt, der seine damaligen Schützlinge, Gottlob-Werner13 und Wolf-Gebhard von Warberg von einem schweren Fieber geheilt habe.14 1611 begann die eigentliche politische Karriere des Helmstedters, da ihn Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel und ab 1613 sein Sohn Friedrich Ulrich als Gesandten u. a. nach Straßburg, Dresden und Hamburg schickten. Friedrich Ulrich war es auch, der ihm 1616 den Ethik-Lehrstuhl verschaffte, bis ihn seine allzu nonkonformistischen Äußerungen, auch gegenüber dem immer noch amtierenden Martini, 1618 zum Verzicht auf die Professur und zum Umzug nach Magdeburg zwangen.15 Hier widerfuhr ihm knapp vier Jahre später Ähnliches, als er sich als Stadtsekretär, der sich inzwischen bei Auseinandersetzungen innerhalb der Hanse (v. a. mit Hamburg) verdient gemacht hatte,16 im ›Habitualstreit‹ auf die Seite der Opponenten, namentlich Andreas Cramers, seines Freundes Wencel Schilling und Johannes Schraders schlug. Aus den Todten/ Reinen vnd richtigen Theologen/ die sich vmb die Kirchen Christi sehr wol verdienet haben/ vnd fuer denen dieser Calumniant kein wort hette fuerbringen koennen/ zapffet er [Werdenhagen] insonderheit an den fuertrefflichen Theologum, Jacobum Andreæ, Schmidelinum […]. Vnter den lebendigen Theologis mus von gedachten Werdenhagen und Diffamanten/ mit den hoehesten injurien angegriffen werden/ der hochgelarte vnd von allen ehrliche Leuten hochgeehrte Theologus/ herr D[octor] Lucas Osiander, bey der Universitet Tybingen Professor, Cantzeler und Probst der Kirchen daselbst […].17

Mag es auch der in Wittenberg von der Magdeburger Pastorenschaft gedruckte Streitschrift Controversia Crameriana, aus der diese Passage entnommen ist, darum zu tun sein, die Gegner in möglichst schlechtem Licht erscheinen zu lassen, so können aus den polemischen Äußerungen doch Qualitäten der Position Werdenhagens extrapoliert werden, der sich offenkundig mit nicht gerade unbedeutenden Köpfen der Orthodoxie, v. a. des schwäbischen Luthertums aus13 14

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Bei Neubauer (Anm. 5), 61, fälschlich: Gottlieb Werner. Κωλύτης funeris, in memoriam Ioachimi Tanckii, Medic[i] Lips[iensis] & Chim[ici] Clarissimi, Magnifico & Clarissimo Martino Rvlando, Consiliario, Med[ico] & Chim[ico] Cæsareo, Consecratus. Altenburgii in Misnia 1610, D2r/D2v; zum Lob Tanckes vgl. v. a. ebd., E2v/ E3r. Vgl. dazu Henke (Anm. 5), 248–251. Zu Magdeburg während Werdenhagens Tätigkeit dort vgl. Heinrich Rathmann: Geschichte der Stadt Magdeburg von ihrer ersten Entstehung an bis auf gegenwärtige Zeiten. 4 Bde. Magdeburg 1800–1816, Bd. IV, 135–155. Neubauer (Anm. 5), 63–65. Controversia Crameriana Magdeburgensis, Das ist/ Warhafftige beschreibung des entstandenen Magdeburgischen Kramerischen Kirchenstreits. Darinnen der Ursprung/ Häupthandel/ versuchte Beylegung/ und hinderniß der gantzen Controversiae ausführlich gewiesen wird. Wider den genandten M. Andreae Crameri Gründlichen Bericht […] In Druck gegeben, Durch die Pastores […] des Ministerii zu Magdeburg. Wittemberg, 1624, 637/638; an anderer Stelle versäumen es die Autoren nicht, auf Werdenhagens umstrittene acht Helmstedter Reden vom ›Wahren Christentum‹ hinzuweisen, die ihn bereits als unzuverlässig gekennzeichnet hätten (ebd., 74). Zum Streit vgl. Friedrich (Anm. 7), 193–201. Vgl. Rathmann (Anm. 15), 152–155. Zum weiteren Kontext des Arndt-Streites jetzt: Johann Anselm Steiger: Johann Arndts »Wahres Christentum«, Lukas Osianders Kritik und Heinrich Varenius’ Arndt-Apologie. In: Frömmigkeit oder Theologie? Johann Arndt und die »Vier Bücher vm wahren Christentum«. Hrsg. v. Hans Otte u. Hans Schneider. Göttingen 2007, 263–291.

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einandersetzte. Dass sich unter ihnen mit Osiander ein scharfer Kritiker Johann Arndts befand, kann als Beleg für Werdenhagens andauernde Nähe zu Arndt gelten, wobei dem Braunschweigisch-Lüneburgischen Hofmedicus Melchior Breler (1589?–1627),18 wie bereits Johannes Wallmann hervorhob, eine wichtige Vermittlungsfunktion zukommen dürfte. Breler war nicht nur einer der letzten Schüler und vehementesten Verteidiger Arndts, sondern stand in den 1620er Jahren in Brief- und wohl auch persönlichem Kontakt mit Werdenhagen, der seinerseits ja beste Verbindungen zur Wolffenbütteler Linie des Fürstengeschlechts unterhielt, wohl auch diplomatisch für August I. von Braunschweig-Lüneburg tätig war.19 Dass den Äußerungen des Stadtsekretärs (wie die Controversia unterstellt20) vielleicht auch eine flacianische oder gnesiolutherische Anschauung zugrundeliegt, belegt eine andere Streitschrift Werdenhagens, mit der er sich etwa zeitgleich, allerdings unter dem palinodischem Pseudonym Chilobertus Jonas Westphal[us] Ase. Jun[ior] in den Konflikt zwischen dem Erzstift Magdeburg bzw. dessen Administrator Christian Wilhelm von Hohenzollern und dem Magdeburger Domkapitel einmischte.21 Im dritten Teil seiner Polemik fasst Werdenhagen knapp die mittelalterliche Theorie vom Recht der Laien auf die Bischofswahl zusammen und stärkt so Christian Wilhelms Position – auf der Grundlage von Flacius Illyricus.22 Mit der Besetzung des Erzstifts durch Wallenstein 1625, der sich verschärfenden Kriegslage in Norddeutschland und dem Domkapitel als erklärtem Feind, musste Werdenhagen Alternativen erwägen. Auf teils gefährliche Wegen gelangte er, unterdessen zum Geheimen Rat Christian Friedrichs und Christians IV. von Dänemark avanciert, von Braunschweig über Hamburg (wo der Rat der Stadt ihn 1627 beinahe an die Kaiserlichen ausgeliefert hätte) schließlich in die Niederlande.23 Die fünf folgenden Jahre in Leiden bildeten für Werdenhagen die bis dato friedlichste und zugleich literarisch produktivste Zeit seines Lebens. Gerade in den Jahren 1631 und 1632 erscheinen insgesamt sechs seiner bedeutendsten Werke, allen voran die umfängliche Geschichte der Hanse De rebus publicis hanseaticis earumque nobili confoederatione tractatus (vier Tle.), die 18

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Zu diesem bis dato wenig erforschten Mediziner, der ebenso im Umkreis Arndts wie dem der Paracelsisten um Morsius und dem der frühen Rosenkreuzer um Andreae eine Rolle spielte, vgl. die Ausführungen bei Wallmann (Anm. 7), 31–34, 36–40. Genaueres bietet Hans Schneider: Der fremde Arndt: Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555– 1621). Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 48), v. a. 18 mit Anm. 63 u. 149 f. (zum Paracelsismus). Den Stand gegenwärtiger Forschung bietet Joachim Telle: Art. »Breler, Melchior«. In: Killy Literaturlexikon (Anm. 5), Bd. 2, 172a/b. Vgl. Wallmann (Anm. 7), 38/39; ebd., 39, Anm. 59, ein Brief Brelers an August mit eingelegtem Schreiben Werdenhagens. Von dessen Tätigkeit für den Lüneburger berichtet Philipp Julius Rehtmeier [i. e. Heinrich Bünting?]: Braunschweig-Lüneburgische Chronica, Oder: Historische Beschreibung der Durchlauchtigsten Herzogen zu Braunschweig und Lüneburg […]. Brunsvic 1722, Bd. 3, 1409. Den Kontakt zwischen ihm und Breler erwähnt auch Schneider (Anm. 18), 73. Controversia (Anm. 17), 637. Zum Konflikt, der Schrift und ihrer Wirkung, die sie (in zweiter Auflage 1624!) entfaltete, vgl. Neubauer (Anm. 5), 71–81 u. 176. Ebd., 74. Ebd., 81–94.

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bereits in den Entstehungsjahren mehrere Ausgaben erlebte und 1642, erweitert und mit zahlreichen Merian-Stichen versehen, in Frankfurt neu aufgelegt wurde.24 In drei weiteren Publikationen des Jahres 1632 sind Werdenhagens Interessen der Zeit gleichsam gebündelt erkennbar: Einerseits erscheint in Leiden seine kommentierte Ausgabe von Theophrasts Charakteren, andererseits die staatstheoretische Schrift Politica generalis in Amsterdam25 und ebendort auch die mit reichlichem Beiwerk versehene Übertragung Jacob Böhmes.26 Alle drei Werke weisen inhaltliche Gemeinsamkeiten und Überschneidungen auf und deuten zugleich auf frühere Positionen zurück, durch die Werdenhagen in Konflikt mit kirchlichen und akademischen Autoritäten geriet. Am greifbarsten erscheint dies im Theophrast-Kommentar, wenn Werdenhagen seine durchaus moralisierende Kommentierung mit philosophiegeschichtlichen Wertungen durchsetzt, die den Eresiten, immerhin Nachfolger des Aristoteles als Scholarch des Peripatos, möglichst weit vom verhassten Rationalismus abzugrenzen und stattdessen eine starke platonisch-ciceronische Tradition glaubhaft zu machen suchen. Leitbegriff ist dabei die »pietas«, an der Platon alles ausgerichtet habe, während Aristoteles hingegen die »virtuosa pietas« seines Vorgängers geradezu zerstört habe.27 Doch wird gegen die ›narristotelische‹ ratio nicht nur die wahre Frömmigkeit sondern auch der hohe Gefühlsanteil derselben ausgespielt: Im Gegensatz zum Stagiriten haben neben anderen Weisen der Antike vor allem Platon und Cicero »die Frömmigkeit offenbar mit solch glühender Leidenschaft der Seele dargestellt«.28 Mit affectus und pietas sind somit Eckpfeiler einer strikt anti-rationalistischen, tendenziell spiritualistischen Frömmigkeit benannt, die sich unschwer mit Positionen Böhmes vereinbaren ließen. Was die politischen Schriften angeht, so sind die Querverbindung zu philosophischen und theologischen Debatten zunächst weniger deutlich erkennbar, doch findet sich hier ebenfalls eine deutliche Auf-

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Vgl. zu den Auflagen ebd., 127 f. Zu den Illustrationen: Lucas Heinrich Wüthrich: Das druckgraphische Werk von Matthäus Merian dem Älteren. Bd. 2. Basel 1972, hier: Nr. 56. Theophrasti Eresi Characteres ethici sive morum descriptiones: graece et latine. Cum notis & monitis Joannis Angelii Werdenhagen. Lugduni Batavorum: Maire 1632; vgl. Zur Theophrast-Rezeption jetzt: Sandra Richter: Charakter und Figur. Zur Rezeption der Charakterologie des Theophrast von Eresos seit dem 16. Jahrhundert bis zu Wielands »Abderiten«. In: Medizinische Schreibweisen. Hrsg. v. Nicolas Pethes u. ders. Tübingen 2008 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 117), 145–170. – Johannes Angelius Werdenhagen: Introductio Universalis in omnes Respublicas, Sive Politica Generalis. Amsterdami: Apud Guilielmum Blaeu 1632. Außerdem erschien im selben Jahr ein volkssprachlicher Traktat, in dem Werdenhagen (unter Pseudonym) gegen die lutherische Orthodoxie sowie eine institutionalisierte Frömmigkeit generell zu Felde zieht: Angeli Mariani Offene Hertzens-pforte oder Getreue freye Einleitung zu dem wahren Reich Christi. Leiden: Jacob Marci 1632 (vier Auflagen bis 1699); dazu Arnold, Ketzerhistorie (Anm. 4), 406a; Moller, Cimbria litterata (Anm. 4), 970. – Zum weiteren Lebensweg Werdenhagens, der hier ausgespart werden kann, vgl. Zimmermann (Anm. 5), 762; Neubauer (Anm. 5), 103–121; Voigt (Anm. 5), 10; Eickmeyer (Anm. 5), 302b/303a. Vgl. Werdenhagen, Theophrasti characteres (Anm. 25), 16–20. Ebd., 157: »Si respicias Platonem aut Ciceronem inter alios gentium sapientes, illi certe tam fervida animi affectione describunt pietatem.«

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wertung platonischer Positionen.29 Sie lassen sich aber einerseits aus der späteren Auseinandersetzung mit Hermann Conring (1601–1681), dem anderen großen Politiktheoretiker der Zeit, Helmstedt-Absolventen und dezidierten Aristoteliker, zugleich Kritiker des Hermetismus erschließen.30 Andererseits stehen Werdenhagens politiktheoretische Überlegung im Wechselverhältnis mit seiner BöhmeRezeption, wie gleich zu zeigen sein wird. Wann und wie genau Werdenhagen zuerst mit Böhmes Gedankengut in Kontakt kam, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Möglicherweise ist an niederländische Einflüsse zu denken, etwa an den kleinen aber rührigen Kreis früher Böhme-Interessenten um Theoderich Grave und Abraham Willemsz van Beyerland, deren letzterer zum wichtigsten Sammler und Propagator von Böhmes Schriften in den Niederlanden werden sollte;31 vielleicht hat auch die frühere Prägung im Kreis um Tancke in Leipzig eine Rolle gespielt, doch mag es einstweilen genügen, in seinem intellektuellen Werdegang, der von Jugend an durch starke anti-rationalistische Tendenzen unter dem Einfluss Johann Arndts sowie durchgehende theologische und administrative Konflikte mit der vorherrschenden lutherischen Orthodoxie bei immer stärkerer Betonung eines affektiv aus der Geistigkeit des Einzelnen entspringenden Religiosität geprägt war, die intellektuelle Grundlage zu sehen, auf der aus dem gelehrten Diplomaten ein Böhmist werden konnte.

2. Werdenhagens ΨΥΧΟΛΟΓΙΑ vera Während die konkreten Anfänge seiner Beschäftigung Werdenhagens mit Böhme zunächst im Dunkeln bleiben müssen, lassen sich für seine Auswahl gerade 29 30

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Werdenhagen, Politica (Anm. 25), 81 (I,11,1: »imitator Christianissimus«). Dazu Voigt (Anm. 5), 19 u. 21/22. Zu Conring: Michael Stolleis: Die Einheit der Wissenschaften – zum 300. Todestag von Hermann Conring (1606–1681). Helmstedt 1982 (Beiträge zur Geschichte des Landkreises und der ehemaligen Universität Helmstedt 4), hier: 11–13 zum politischen Aristotelismus in Helmstedt, an dem Conring festhielt, den er gleichwohl auf seine Weise aktualisierte. Vgl. ferner: Horst Dreitzel: Hermann Conring und die politische Wissenschaft seiner Zeit. In: Hermann Conring (1606–1681). Beiträge zu Leben und Werk. Hrsg. v. Michael Stolleis. Berlin 1983 (Historische Forschungen 23), 135–172. Zu Conrings wenig beachteter philologisch gegründeter Kritik am Hermetismus vgl. Edwin Rosner: Hermann Conring als Arzt und Gegner Hohenheims. In: Hermann Conring (s. o.), 87–120, bes. 107–109. Vgl. die Ausführungen bei Carlos Gilly: Wege der Verbreitung von Jacob Böhmes Schriften in Deutschland und den Niederlanden. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt (Anm. 1), 71–98, hier: 81 f., sowie Gilly: Zur Entstehung und Wirkung der Handschriftensammlung Abraham Willemsz van Beyerlands. In: Ebd., 99–132. – Zum Komplex der niederländischen Rezeption insgesamt vgl. ferner: Ferdinand van Ingen: Böhme und die Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. Bad Honnef 1984 (Nachbarn 29); Midori Nakamura: Jan Luykens Böhme-Rezeption in seinem Emblembuch Jezus en de Ziel. In: Daphnis 34 (2005), 231–254. – Dass Werdenhagen später umgekehrt als Vermittler Böhme’scher Handschriften in die Niederlande fungierte, hat jüngst ebenfalls Carlos Gilly aufgezeigt (Gilly, Wege [s. o.], 92).

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der Viertzig Fragen, die Böhme zwischen 1618 und 1620 mit Antworten versah, plausible Gründe aufzeigen. Denn Balthasar Walther (1558 – ca. 1630), seinerseits Alchemomediziner, der an der Abfassung der Viertzig Fragen während eines Aufenthaltes in Görlitz unmittelbar beteiligt war, gehörte zum Freundeskreis Werdenhagens, wie es bereits Abraham von Franckenbergs Gründtlicher und wahrhafftiger Bericht vom Leben und Abschied des in Gott seligruhenden Jacob Boehmens (1651) nahelegt.32 Dass Werdenhagen übrigens nicht nur mit Walther, sondern auch Franckenberg selbst sowie dessen böhmistischen Gewährsleuten (Seidenbecher, Gifftheil u. a.) in Kontakt stand, belegt allein Franckenbergs Briefwechsel reichlich.33 In der Widmungsvorrede an einige Lüneburgische, Bremer und Braunschweiger Honoratioren, allen voran den Landkanzler des Dänischen Königs, Theodor Bussius (1584–1631)34, gedenkt Werdenhagen selbst des täglichen Umgangs mit »Dr. Balthasar Walther, dem ich die vierzig Fragen dieses Büchleins über die Natur der Seele zu verdanken habe«.35 Allerdings ist auch eine frühere Vermittlung 32

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Abraham von Franckenberg: Gründtlicher und wahrhafftiger Bericht vom Leben und Abschied des in Gott seligruhenden Jacob Boehmens. In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961 (in Weiteren unter der Sigle »SS«, hier: Bd. X (1961), 14 (cap. I, § 17) u. 105/106 (cap. VI, § 7). – Zu Walther vgl. Leigh T. I. Penman: A Second Christian Rosencreutz? Jakob Böhme’s Disciple Balthasar Walther (1558–c. 1630) and the Kabbalah. With a Bibliography of Walther’s Printed Works. In: Western Esotericism. Hrsg. v. Tore Ahlbäck. Turku 2008, 154–172; ders.: »Ein Liebhaber des Mysterii, und ein großer Verwandter desselben.« Toward the Life of Balthasar Walther: Kabbalist, Alchemist and Wandering Paracelsian Physician. In: Sudhoffs Archiv 94 (2010), 74–99; ders.: Art. »Walther, Balthasar«. In: Killy Literaturlexikon (Anm. 5), Bd. 12 (2011), 129b–131b; schließlich desselben Beitrag in diesem Band. Vgl. Abraham von Franckenberg: Briefwechsel. Eingeleitet u. hrsg. v. Joachim Telle. Stuttgart 1995, 66, 68, 100 (eine theosophische Dedikationsepistel Franckenbergs an Werdehagen v. 1637), 265 (Seidenbecher schreibt an Franckenberg über ein Treffen mit Werdenhagen 1650), 266/267 (Seidenbercher schreibt Franckenberg 1650, er habe Werdenhagen in Lübeck getroffen und mit ihm über Gifftheil gesprochen) u. 333, wo Werdenhagen als direkter Adessat in Betracht gezogen wird. Bussius starb vor Veröffentlichung des Werkes, doch da die Vorrede auf den 15. Dezember 1631 datiert ist, konnte er noch als Widmungsempfänger gelten, wird sogar an einer Stelle direkt angesprochen: Johann Angelius Werdenhagen: Psychologia vera J[acobi] B[öhmi] T[eutonici] XL Quæstionibus explicata, et rerum publicarum vero regimini; ac earum Maiestatico iuri applicata. Amsterdam: Janssonius 1632, c5r (addressatio an Bussius); c6r: Datierung; S. 356 gedenkt Werdenhagen gemeinsamer Gespräche über staatsphilosophische Themen. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), c5r/c5v. – Ob mit dem »Collegium Lunaeburgicum«, von dem Werdenhagen ebd., c5r spricht, eine über einen Gelehrtenzirkel hinausgehende Institution gemeint ist, konnte ich bislang nicht ermitteln. Die von Conrads behandelte Ritterakademie wurde erst 1655/1656 gegründet: Norbert Conrads: Ritterakademien der Frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert. Göttingen 1982 (Schriftenreihe der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 21), 217/218, 293, 365/366. Vgl. auch Klaus Bleeck: Adelserziehung auf deutschen Ritterakademien. Die Lüneburger Adelsschulen 1655–1850. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1977 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, 89). Rethmeiers Lüneburgisch Chronica (Anm. 19) gibt jedenfalls keinen Aufschluss.

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der Schrift vorstellbar. Aus einem Brief aus dem unmittelbaren Umkreis Böhmes, den Carlos Gilly kürzlich in Auszügen publiziert hat, geht hervor, dass bereits kurz nach 1617 Abschriften einzelner Werke, darunter die Viertzig Fragen von der Seelen nach Lübeck zu Johannes Staricius (ca. 1580–nach 1626) und damit in das Einzugsgebiet des Magdeburger Hanse-Spezialisten Werdenhagen exportiert worden sind.36 Bei seiner in Amsterdam bei Janssonius gedruckten Ausgabe hütet sich Werdenhagen wohlweislich den Namen Böhmes unverhüllt in den Werktitel zu setzen. Den Eingeweihten freilich dürfte das Kürzel »J. B. T.«, das den Namens-Initialen jenes gängige Epitheton »Teutonicus« hinzufügt und somit auf die u. a. von Walther bezeugte Titulierung als »Philosophus Teutonicus« zurückgreift,37 unschwer erschließbar gewesen sein.

2.1 Die Übersetzung Das Herzstück des Werkes bildet Werdenhagens lateinische Übersetzung von Böhmes Antworten auf Walthers vierzig Fragen über die Seele. Eine direkte Übersetzungskritik ist schwer durchzuführen, da Werdenhagen offenbar ein Manuskript vorlag, das von jenen vier Abschriften abweicht, welche die Herausgeber der Gesammelten Werke Böhmes 1715 und 1730 benutzt haben.38 Es weist keine Absatzzählung auf, wie sie in späteren Ausgaben üblich wurde, und bietet einige Textveränderungen, die auf eine besondere Überlieferung hindeuten könnten. Insgesamt scheint er sich aber deutlich stärker an seine originale Vorlage gehalten zu haben als etwa in seiner selektierenden und umarbeitenden Übertragung von 36

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Gilly, Wege (Anm. 31), 76. – Zu dem Böhme-Freund und Propagator Staricius vgl. jetzt Joachim Telle: Art. »Staricius, Johann«. In: Killy Literaturlexikon (Anm. 5), Bd. 11, 181a– 182a. Auf Walther als Namensgeber verweist Ernst-Heinz Lemper: Jakob Böhme. Leben und Werk. Berlin (Ost) 1976, 17 (ohne Quellenangabe). Psychologia vera, oder Viertzig Fragen von der Seelen, Ihrem Urstand/ Essentz/ Wesen/ Natur und Eigenschaft/ was sie von Ewigkeit in Ewigkeit sey: verfaßet von D[octore] Balthasar Walthern, Liebhaber der großen Geheimniße/ und aus tiefem Grunde Goettlicher Erkenntniß durch den gottseligen und hocherleuchteten Deutschen Theosophum, Jacob Boehmen/ beantwortet im Jahr 1620. Dabey am Ende gefueget ist Das umgewandte Auge von der Seelen und ihrer Bildniß. Gedruckt im Jahre des ausgeborenen großen Heils 1730. In: SS, Bd. III (1942), 1–178: 40 Fragen; 179–184: Das umgewandte Auge). – vgl. Werner Buddecke: Die Jakob-Böhme-Ausgaben. 2. Tl.: Die Übersetzungen. Vaduz 1957 (Arbeiten aus der Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen N. F. 2), 3. Jetzt beizuziehen ist die überarbeitete Neuausgabe: Jacob Böhme. Verzeichnis der Handschriften und frühen Abschriften. 1934 durch Werner Buddecke erstmals hrsg. Überarb. v. Matthias Wenzel unter Mitarb. v. Daniela Friese u. Karin Stichel. Görlitz 2000 (Schriftenreihe der städtischen Sammlungen für Geschichte und Kultur Görlitz N. F. 32), 48–53. – Zu den generellen text- und überlieferungskritischen Problemen der genannten Ausgaben vgl. Günther Bonheims Aufsatz in diesem Sammelband. Im Rahmen dieser Studie können Böhmes Viertzig Fragen nicht philosophisch ausgedeutet werden. Ich verweise dazu auf: Alexandre Koyré: La philosophie de Jacob Boehme. Paris 2 1971 (Bibliothèque d’histoire de la philosophie), 279–301; Pierre Deghaye: La naissance de Dieu ou La doctrine de Jacob Boehme. Paris 1985 (Collection Spiritualités Vivantes. Série Christianisme), 146–195.

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Jean Bodins wirkmächtigem staatstheoretischen Werk Six Livres de la République (1576), die er 1636 für seine Synopsis siue medulla in sex libros Johannis Bodini de republica benutzte.39 Dennoch lassen sich an einem punktuellen Vergleich der lateinischen Version Werdenhagens mit dem, was seit dem 18. Jahrhundert als textus receptus firmiert, zumindest die Strategien des Helmstedters für die Übertragung der teils schwer verständlichen Diktion Böhmes aufzeigen. Dazu wähle ich eine Passage aus der ersten Antwort über den Ursprung der Seele am Anbeginn, in der Böhme mittels einer spekulativen Teilung von »Licht-Leben« und »Feuer-Leben« die beiden »Wurzeln« der Seele entsprechend seiner Prinzipienlehre vorstellt.40 Der deutsche Text lautet nach der Ausgabe von 1730: So stellet ihme nun des Lichtes Begehren ein Model vor, seines gleichen, darinn die Ewigkeit offenbar stehet, als alles das jenige, welches der Geist in der ewigen Kraft GOttes von Ewigkeit in Ewigkeit in sich findet. Dasselbe Model ist nicht GOtt, die Ewigkeit selber, dann es anfaenget sich im Geiste, und ist des Geistes Wunder, welche er von Ewigkeit suchet und findet; und stehet in GOttes Auge als eine Figur; und sind alle Wunder des Ungrundes der Ewigkeit darinnen, und werden im Lichte der Majestaet ersehen, als ein Wunder in vielen unendlichen Wundern. Und das ist ein Bilde GOttes, eine Jungfrau voller Reinigkeit und Zucht, und keine Gebaererin: dann der H. Geist eroeffnet alleine die Wunder in der Kraft.41

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Vgl. Neubauer (Anm. 5), 129; zu Bodin als wichtigstem politischen Theoretiker des Absolutismus vgl. überblicksartig: Thomas Gergen: Art. »Bodin, Jean«. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hrsg. v. Albrecht Cordes, Heiner Lück, Dieter Werkmüller u. Ruth Schmidt-Wiegand. Zweite, völlig überarb. und erw. Aufl. Berlin 2008, Bd. 1, 692–694; ferner Julian H. Franklin: Jean Bodin and the Rise of Absolutist Theory. Cambridge 1973. – Speziell Werdenhagens Rezeption ist neuerdings stärker erforscht; vgl. Roland Crahay: Dalla ›République‹ de Jean Bodin alla ›Synopsis‹ di Johann Angelius Werdenhagen (1635): un rinnovamento dei concetti religiosi e politici. In: Rivista storica italiana 104 (1992), 629– 677. Zur Synopsis vgl. außerdem die neueren Beiträge von Diego Quaglioni: Un breviario politico per i principi: La »Synopsis« di Johan Angelius Werdenhagen (1635 e 1645). In: La società dei principi nell’Europa moderna (secoli XVI–XVII). Hrsg. v. Chritoph Dipper u. Mario Rosa. Milano 2005 (Quaderni dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 66), 247–262; ders.: Il ›Breviario politico‹ di J. A. Werdenhagen (1635–1645). In: Il potere come problema nella letteratura politica della prima età moderna. Hrsg. v. Saffo Testoni Binetti. Firenze 2005 (Politeia 25), 153–166; außerdem Laura Bianchin: Dove non arriva la legge. Dottrine della censura nella prima età moderna. Bologna 2005 (Annali dell’ istituto storico italo-germanico in Trento, Mon. 41), 293–328. Vgl. dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Das Geheimnis des Anfangs. Eine spekulative Betrachtung im Hinblick auf Böhme. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 24), 113–127. Vgl. auch im weiterem Kontext: Susanne Edel: Die individuelle Substanz bei Böhme und Leibniz. Die Kabbala als tertium comparationis für eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung. Stuttgart 1995 (Studia Leibnitiana, Sonderh. 23), 112–162, bes. 155–160. Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 17 f. (1: 45–47.)

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Werdenhagens Übertragung dieses mit einigen intrikaten Termini, etwa dem notorischen »Ungrund« oder der Sophien-Gestalt als Spiegelung des dreifachungeteilten Gottes,42 gespickten Passus liest sich wie folgt: Hinc lucis appetitus suæ similitudinis modulos sibi sistit, in quibus æternitatem manifestè videt; nempè omne illud, quod Spiritus in æterna Virtute Dei, ab æterno in æternum in sese invenit. Iste modulus sive Idea est cum Deo æternitas ipsa. Namque incipit se in Spiritu, & mirabilia Spiritus continet, quæ ille ab æterno quærit & invenit, & idea sive modulus ille in Oculo Dei situs est instar figuræ, unde Idea est, in qua omnia mirabilia abyssi æternitatis continentur, quæ in luce æternitatis conspiciuntur, tanquam unum mirabile in multis & infinitis mirabilibus. Atque hæc quidem est imago Iehovæ, virgo plena puritatis & castitatis, nunquam parturiens. Namque Spiritus Iehovæ solus patefacit illa mirabilia in virtute.43

Abgesehen von der abweichenden Einteilung der Absätze, die, wie erwähnt, auch auf Überarbeitungen der späteren Böhme-Herausgeber zurückgehen mögen, scheint die Übertragung wortgetreu, setzt im Anschluss an mystischen Sprachgebrauch »abyssus« für den »Ungrund« und bildet zum großen Teil sogar die Satzstrukturen Böhmes nach. Bei genauerer Lektüre treten freilich die interpretierenden Züge in Werdenhagens Übersetzung zutage: Der unscheinbare Wechsel vom Singular »ein Model« zum etymologisch analogen, gleichwohl nun im Plural firmierenden »modulos« deutet die gedankliche Richtung bereits an. Spätestens wenn der Übersetzer erläuternde Wendungen einfügt, sieht man sich einer platonisierenden Lesart der Böhme’schen Seelen-Genese konfrontiert: »modulus sive Idea« weist, auch durch die Hervorhebung des mit Majuskel versehenen Graezismus auf eine prägnante Deutung des »Models« als platonische Idee. Diese allein auf der genannten Ergänzung beruhende Deutung wird nun subtil stark gemacht: Bei der nächsten Nennung im selben Absatz ist das Verhältnis von Erläuterung und Erläutertem bereits umgekehrt, wenn es »idea sive modulus« heißt: Als wäre der Böhme’sche Terminus, latinisiert, lediglich eine Explikation des platonischen. Und wenn die ›Idee‹ sogar noch ein drittes Mal genannt wird, dann spitzt sich das Erläuterungsverhältnis zwischen Text und Übertragung noch weiter zu, da Werdenhagen nun einen Begründungszusammenhang insinuiert: »unde idea est« setzt nun terminologisch die Idee mit dem lat. »figura« gleich, das seinerseits auf Böhmes formulierung fußt, das Model sei im Auge Gottes »als eine Figur«.44 Werdenhagen überträgt zwar korrekt »instar figurae« lässt die Konno42

43 44

Beide Elemente der Böhme’schen Philosophie können hier nicht umfassend erläutert werden. Vgl. zum Ungrund nur: Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozeß der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, 89–123; zur Sophia: Ferdinand van Ingen: Die Jungfrau Sophia und die Jungfrau Maria bei Jakob Böhme. In: Gott, Natur und Mensch (Anm. 39), 147–163 – vgl. auch Lucinda Martins Aufsatz in diesem Band. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 95/96. Die mannigfachen Interpretamente, die sich an Böhmes verschiedenen, auch in Illustrationen immer wieder auftauchenden Figurationen des Auges (Gottes) sowie an die Prävalenz des Gesichtssinnes in seiner Philosophie knüpfen, müssen hier außer Acht bleiben. Ich verweise dazu auf: Gudrun Schleusener-Eichholz: Die Bedeutung des Auges bei Jacob Böhme. In:

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tation der Uneigentlichkeit jedoch fallen, indem er vielmehr den Bild-Charakter der »figura« betont und sie solchermaßen in das Vorbild-Abbild-Verhältnis einer platonisierenden Ideenlehre überführen kann. Eine augenfällige Differenz habe ich bislang ausgeklammert: Während der deutsche Text die Identität von Model und Gott ausschließt (»ist nicht GOtt«), verzeichnet das Lateinische unzweifelhaft ein Gemeinschaftsverhältnis; »est cum Deo æternitas ipsa.« Fraglich scheint mir allerdings, ob hier eine Umdeutung Werdenhagens vorliegt, denn die 1730er Ausgabe könnte auch schlicht einen Fehler des Herausgebers oder des Kopisten bieten, der »ni(ch)t« statt »mit« gelesen hat, zumal gerade die Ewigkeit des Models bzw. der »idea« hier vorausgesetzt zu sein scheint.45 Interessant ist freilich, dass Werdenhagen statt »Majestaet« abermals »aeternitas« setzt. Auch dies mag auf Textvarianten zurückzuführen sein, könnte aber auch einen Hinweis darauf bieten, dass der Politiktheoretiker Werdenhagen einen einschlägig besetzten Begriff bewusst meidet.46 Auch hier kann freilich nur eine breiter angelegte Übersetzungskritik womöglich zu haltbaren Thesen führen. Einstweilen sei nur ein weiteres Exempel für die Deutbarkeit von Werdenhagens Übertragung angeführt, das zugleich dessen Reflexion hinsichtlich politischer Terminologie aufzeigt. Zur Beantwortung der elften Frage über den Sitz der Seele im Menschen liefert Böhme eine hoch metaphorisierte Darstellung von Position und Wirkkraft derselben: Aber der rechte Feuer-Schmid im Centro sitzt im Hertzen, und fuehret sein Regiment mit dem Geiste im Kopfe, da hat er sein Rathhaus, als das Gemuethe und die fuenf FuerstenRaethe, als die fuenf Sinnen, welche aus den fuenf Geistern des Verstandes entstehen […]. Die Seele sitzt wol im inneren Principio, aber sie regieret auch im aeussern, als im Gestirn und in Elementen, wo sie aber nicht ein Affe ist, und laest sich fangen, so ist sie deren genug maechtig: und das Aeussere muß sich baendigen lassen, so die Seele sich in GOtt versenkket, und kommt aber auf dem Braut-Wagen wieder ins Aeussere, daß sie den H. Geist zum Beystand hat; es hilft kein Wehren des Teufels, sie zerstoeret ihm sein Nest, und treibet ihn aus, er muß in Spott und Schanden stehen.47

Werdenhagen übersetzt: Verùm ille verus ignis Faber in centro, in corde sedet, & imperium suum cum Spiritu in capite gerit; ibi curiam suam tenet, nempe Animum & sensus internos, & quinque principales Consiliarios (Fursten Raehtn) videlicet quinque sensus, qui ex quinque spiritibus intellectus exurgunt […]. Tum quoque in secundo[?] Principio hæc ita se habent, sed illa etiam in externo regit, nimirum in Astris & elementis, ubi tamen non est simia, & se capi patitur; satis eorum potens est, & externum ejus subjugationi obnoxium esse cogitur, si Anima se

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Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), 461–492; Christoph Geissmar: Das »Wunder=Auge der Ewigkeit«. In: Gott, Natur und Mensch (Anm. 39), 23–39. Man erkennt: Eine genaue Untersuchung der interpretierenden Tendenzen in Werdenhagens Übertragung dürfte ertragreich sein, muss aber jedenfalls auf Grund einer historischkritischen Böhme-Edition, zumindest einer genaueren Kenntnis von Werdehagens Vorlage geschehen. Anderswo allerdings findet sich der Terminus im lat. wie im dt. Text; vgl. etwa Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 80 (9:2), mit Werdenhagen: Psychologia (Anm. 34), 199. Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 82 (10:5).

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in Jehovam demergat, & sic curru sponsali in externa provehatur, ut Spiritum Sanctum sibi adsociatum gerat. Diaboli obluctatio nihil prodest, nidum ei suum diripit, eumque expellit prorsus, ut in ludibrium & sui dedecus incidat.48

Abermals fällt die relativ große Texttreue des Lateinischen auf, das zum Teil sogar die deutsche Syntax gegen die lateinische nachahmt (»nidum ei suum diripit«). An einer Stelle ist der lat. Text sogar tendenziell unklarer, da »illa« im dritten zitierten Satz nur ad sensum durch anima ergänzt werden muss. Das wohl konditional aufzufassende Satzgefüge »wo sie aber nicht ein Affe ist, […] so« erkennt Werdenhagen nicht, da er durch lokales »ubi« die Sätze verknüpft und somit die Macht der Seele über die äußere Welt behauptet. Böhme hatte sie noch unter die Bedingung gestellt, dass sie sich nicht als »Affe« geriere, also sich von der äußeren Welt zu sehr vereinnahmen lasse. Entscheidend ist jedoch, dass dies eine der wenigen Passagen ist, an denen Werdenhagen eine deutsche Erläuterung einfügen muss. Seine »principales Consiliarios« erläutert er durch »Fursten Raehtn«, was nicht nur Rückschlüsse auf die Textgestalt seiner Vorlage zulässt, sondern auch als besondere Hervorhebung zu werten ist. Denn semantisch entsprechen die consiliarii ja weitgehend den ›Räten‹, sodass hier kaum eine Unsicherheit des Übersetzers vermutet werden darf. Vielmehr scheint es ihm wichtig festzustellen, dass die hier gewählte Metaphorik aus Reichs- und Kommunalpolitik (imperium, curia, consiliarii) nicht seine interpretierenden Zutaten, sondern Elemente in Böhmes Originaltext darstellen. – Zwei Befunde lassen sich an diesen beiden Vergleichen festmachen, die sich durch umfangreichere Textarbeit sicher vermehren ließen: Werdenhagen übersetzt mit großem Augenmerk auf Äquivalenz; dort, wo er explizierend überträgt, ist er bemüht, Böhme in einen platonisierenden Kontext zu rücken, was mit Blick auf dessen monotheletistisch organisierte Prinzipienlehre durchaus naheliegt;49 schließlich macht er, wenngleich noch nicht kommentierend, auf die Verwendung politischer Terminologie aufmerksam, da diese seiner politischen Ausdeutung der Psychologia vera, auf die gleich einzugehen sein wird, entgegenkommt. Um Werdenhagens Strategien der Präsentation und Funktionalisierung von Böhmes Werk ausführlicher zu illustrieren, möchte ich im Folgenden auf die Paratexte eingehen, die immerhin 443 von 714 Druckseiten und damit den Löwenanteil des Buches ausmachen. Werdenhagen umgibt seine Böhme-Übersetzung mit dreierlei Arten von Texten, die sich weniger textsortenspezifisch oder nur 48 49

Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 203/204. – Die hier ausgelassenen Passagen sind einander äquivalent. Zu Böhme im Kontext eines theologischen Platonismus vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichtliche Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Anja Hallacker u. Boris Bayer. Berlin/New York 2007 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 2), 124–128; ders.: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998, 205–303, speziell zu Böhme v. a. 296–300. Böhmes Willensbegriff behandelt u. a. im Rückgriff auf die Viertzig Fragen: Günther Bonheim: »Denn das ist aller Verdammten Qual: Daß sie wollen.« Böhmes Willensphilosophie im Kontext der Schriftauslegung. In: Philosophie des Willens. Böhme, Schelling, Schopenhauer. Hrsg. v. dems. u. Thomas Regehly. Berlin 2008 (BöhmeStudien 2), 45–64.

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durch ihren Adressatenbezug als vielmehr inhaltlich differenzieren lassen: einen theologischen, einen politischen und einen poetischen Rahmen. Diese drei ›Umhegungen‹ des theologisch brisanten Kerntextes können einander tendenziell durchdringen, seien aber hier um der Darstellung willen getrennt voneinander betrachtet.

2.2 Der theologische Rahmen Der Autor spannt den theologischen Rahmen auf verschiedene Weisen. Greifbar wird er jedoch unmittelbar in der Epistola Dedicatoria, die beinahe die ersten drei Lagen des Werkes ausfüllt (a2v–c6r). An den Beginn seiner Einleitung setzt Werdenhagen das Wort Gottes als Richtschnur des Lebens und teilt daraufhin die Menschen gemäß ihrer Einstellung zu jenem auf: auf der einen Seite die falschen Christen, denen die Bibel inhaltlich widersprüchlich und ästhetisch unzulänglich erscheine, womit er gleich zweien seiner alten Gegner, einem zunehmend rationalistischen Luthertum und der humanistischen Gelehrtenrepublik, Paroli bietet.50 Eine ganz ähnliche Abrechnung findet sich auch in der Vorrede zur Politica generalis, auf die Werdenhagen an dieser Stelle verweist und somit beide Werke, trotz oberflächlicher Differenzen, verklammert.51 Auf der anderen Seite stehen die wahren Christenmenschen, die Werdenhagen in deutlicher Anlehnung an Johann Arndt durch die Verbindung von reinem Leben (»sanctitate vitæ«) und Erneuerung des Herzens (»cordis regeneratione«) kennzeichnet.52 Anhand dieser Dichotomie organisiert Werdenhagen die gesamte Widmungsvorrede, indem er die Frontstellungen seiner Helmstedter Zeit aufgreift: Der Themenstellung sich nähernd, fragt er im Anschluss an 1 Kor 2,14 nach dem »homo Ψυχικός«53 und 50 51

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Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), a3v. Werdenhagen, Politica (Anm. 25), die Leservorrede B3r–B5r; anspielen dürfte er konkret auf die Hyprokrisie-Schelte B4v, etwa prägnant: »Veluti nec mihi Politicus verus est, qui non sit solidus Christianus, probi & integri cordis, homo justus & verax in omnibus. Reliquos, licet gesticulationes morum & hypocriticas artes varias, & magna cum sumptuum jactura apparatus addidicerint, ne pro obulo quidem mihi emerem, ajebat amicus.« – »Wie für mich auch niemand ein wahrer Politiker [im Sinne eines für den Staat lebenden und für ihn nützlichen Menschen] ist, wenn er kein standhafter Christ ist, starken und reinen Herzens, ein gerechter und wahrhaftiger Mensch in allen Dingen. ›Mögen die Anderen auch die feinen Hantierungen der Weltläufigkeit und verschiedene Künste der Verstellung, auch Zurüstungen mit großspuriger Verschwendung von Gütern gelernt haben, so möchte ich sie doch um keinen Pfennig geschenkt haben‹, sagte ein Freund.« Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), a4r. – vgl. etwa Johann Arndt: Von wahrem Christentumb. Die Urausgabe des ersten Buches (1605). Kritisch hrsg. und mit Bemerkungen versehen von Johann Anselm Steiger. Hildesheim u. a. 2005 (Philipp Jakob Spener: Schriften, Sonderreihe, 4 = Johann-Arndt-Archiv 1), 25 [27]: »Also solte nicht in jhm [dem Christenmenschen] seyn/ leben vnd wircken denn Gott lauter allein/ vnnd das ist die höchste Vnschuldt/ Reinigkeit/ vnd Heyligkeit deß Menschen« sowie ebd., 38 [43]: »Vnd durch deß H. Geistes Krafft vnnd Wirckung wirdt der Mensch new geboren:« Vgl. dazu auch: Schneider (Anm. 18), 216–246.– Es mag überdies kein Zufall sein, dass Arndts erstes Buch in 40 Kapitel aufgeteilt ist und somit eine zu Böhmes vierzig Antworten analoge Struktur aufweist. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), b1r.

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gewinnt aus dem weiteren Kontext des Korintherbriefes und seiner berühmten Abwertung der menschlichen Weisheit ein Mittel, die theologische Zweiteilung in eine intellektuelle zu überführen.54 Die im weltlichen Sinne Gebildeten sind der Panurgie verdächtig, die der Autor in beinahe wörtlicher Wiederholung seiner anti-rationalistischen Reden zum ›Wahren Christentum‹ darstellt: »λογισμούς ratiocinationes (syllogisticasve in terminis Metaphysicis conclusiones)« seien der wahren Erkenntnis Gottes nicht nur abträglich, sondern ihr geradezu entgegengesetzt.55 Die argumentative Binnenstruktur in Werdenhagens Text ist recht einfach: Allgemeine Fragen und Eröterungen des Christenmenschen werden durch deutlich mit dem Kürzel »NB« abgesetzte Kommentare unterbrochen, die eine Konkretisierung des Gesagten vornehmen, wie etwa die gerade zitierte Zuspitzung auf die aristotelische Schulmetaphysik. Neben reichlich eingestreuten biblischen Belegstellen zieht Werdenhagen überdies eine kleinen Kreis von Autoritäten heran, namentlich (den jungen) Luther und Johann Arndt.56 Für einen Großteil der Paratexte zur Psychologia vera greift Werdenhagen auf ihn zurück, knüpft mithin an seine frühe Position im Hoffmann-Streit und an die Aktivitäten des ArndtApologeten Breler an. – Die Widmungsempfänger werden zum Schluss erwartungsgemäß zu den wahren Christen gezählt und mit einem Seitenblick auf politische Verhältnisse dazu aufgerufen, Deutschland aus den Fängen der allgemeinen falschen Religion und der »Ethnici Christiani« zu erretten.57 Es tritt bereits im Widmungsbrief ein weiterer Aspekt hinzu, der sich durch das gesamte Werk des streitbaren Gelehrten zieht: autobiographische Äußerungen. Sie bilden den äußersten Punkt der Konkretion, wenn Werdenhagen etwa nicht nur die Gottferne des Rationalismus im Allgemeinen beklagt, sondern auch (postum) seinen alten Lehrer Daniel Hofmann gegen die »Rationales« verteidigt: Quod quùm olim rectè cerneret Dan[iel] Hoffmannus, & illum Rationales ejus adversarii tam acriter exagitarunt, rectè respondit; quod non intelligeret abusum talis Philosophiæ in Verbo Dei condemnatum; sed ipsum usum verum, veriorem, verissimum, quem ita putarent: quum res se non aliter haberet, quam si aquam infunderes igni, & tenebras cum luce commiscere laborares, ubi mutua expellentia sese nequaquam possunt inter se connecti; sed quod prædominium obtinet, illud hostem suun evomendo expuit.58 54 55 56

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Vgl. ebd., b3r/b3v/b4r. Ebd., b4v: »vernünftelndes Logisieren (oder im metaphysischen Bereich syllogistische Schlüsse)«. Textbeispiele etwa: Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), b5r/b5v (Luther: die Welt sei des Teufels, ja der Teufel selbst, insbesondere die Großen, Gelehrten und Gebildeten); c1v (Luther: Kirchenpostille); c2r/c2v (Luther: Postille zum Dreikönigstag; Arndt: Postille zum Sonntag ›Esto mihi‹). Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), c4v in einer affektreichen, mit rhetorischen Fragen durchsetzten Peroratio. Ebd., b7r/b7v, zitiert b7r: »Als Daniel Hoffmann einstmals dies mit Recht feststellte und die ›Vernünftler‹, seine Feinde, ihn hart bedrängten, antwortete er mit Recht, dass er nicht eine falsche Anwendung einer solchen Philosophie auf das Wort Gottes als verdammt auffasse, sondern die Anwendung selbst als wahrhaftig, ja sogar für am wahrhaftigsten [verdammt], die sie als solchen ansähen. Da diese Angelegenheit sich nicht anders verhalte, als wenn einer sich abmühe, Wasser ins Feuer zu gießen und die Dunkelheit mit Licht zu mischen,

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In diese Kategorie persönlicher Anmerkungen gehört auch der bereits kurz erwähnte Verweis auf Balthasar Walther, der auch eine der nur sehr spärlichen deutlicheren Anspielungen auf den Verfasser der Vierzig Fragen bietet: Die wahre Theologie, welche dieser ihm nahegebracht habe, wird nun beim Namen der Theosophia genannt und deren Lehrer der »Teutonicus«.59 Die Honoratioren Braunschweigs, Bremens und Oldenburgs standen dem Lüneburger Böhmisten-Kreis offenbar nahe genug, sodass Werdenhagen sich hier auf brisante Terminologie einlassen durfte. Während sich der Autor für die Dedikation an christliche gebildete Herren von Stand auf knappe Verweise auf biblische und theologische Referenzwerke beschränken konnte, musste er den theologischen Rahmen in der eigentlichen Leservorrede (c6v–e5r) klarer zutage treten lassen: Am Schluss dienen drei seitenfüllende (übersetzte) Zitate und ein Verweis dazu, den bereits angedeuteten Kanon von Autoritäten zu befestigen: Es werden drei Passagen Luthers präsentiert, aus der Postilla von 1532 (über die heidnischen Verderber des göttlichen Wortes und die Erleuchtung durch den Heiligen Geist) sowie aus dem Traktat von der Freiheit des Christenmenschen (über die Freiheit der christlichen Seele von allen weltlichen Machtansprüchen sowie über den Primat der geistigen Offenbarung Gottes gegenüber ›heidnischen‹ also altgläubigen Riten), gefolgt von einem langen Auszug aus Johann Arndts Vorrede zur Theologia Deutsch, und zwar aus der theologiekritischen Kampfansage der Ausgabe von 1597, die Arndt selbst in den Folgeausgaben ab 1605 mit stärkerem Akzent auf Bußbereitschaft und asketische Weltflucht umformulierte.60 Indem er diese Texte nennt und sogar ausführlich einrückt, spricht Werdenhagen ihnen allerdings nicht nur eine Funktion für die eigene Argumentation im jeweiligen Zusammenhang zu. Vielmehr sollen sie sich auch auf das Rezeptionsverhalten der Mittelstücks, Böhmes Seelen-Spekulation, auswirken, indem sie den Text in eine Traditionslinie stellen, die

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während doch durch die wechselseitige Abstoßung sich beide auf keine Weise untereinander verbinden können; sondern derjenige Teil, der die Oberhand habe, sein feindliches Element ausspeit, um es von sich zu schleudern.« – Dass Werdenhagen gerade Hoffmanns Metapher von Feuer und Wasser zitiert, die einander Feind seien, mag bereits ein subtiler Vorgriff auf Böhmes Antworten sein, wo diese Unvereinbarkeit für die elementenmystisch grundierte Erklärung der Abneigung zwischen Geist und Körper herangezogen wird; vgl. Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 98 (17:1), bzw. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 228. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), c5v. Luther (d4r: Postilla 1532; d5r: De libertate Christiana; d6r: De magistratu seculari, 2; e1v: ebd., 17) und Johann Arndt (e2r–e4v: Vorrede zur »Theologia Teutonica«); vgl. letztere mit: Die teutsche Theologia. Das ist: Ein edles büchlein, vom rechten Verstande, was Adam und Christus sey, und wie Adam in uns sterben, und Christus in uns leben sol. [Hrsg. v. Johann Arndt]. Halberstadt: Koste 1597. (Dass Werdenhagen auch hier ›funktionalisierend‹ übersetzt, wäre an einem detaillierten Textvergleich aufzuweisen.) – Zu Arndts Vorrede s.: Hermann Geyer: Verborgene Weisheit. Johann Arndts »Vier Bücher vom wahren Christentum« als Programm einer spiritualistisch-hermetischen Theologie. Berlin/New York 2001 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 80/I–II), Tl. 1, 91–98; im weiteren Kontext: Wallmann (Anm. 7), 1–19, zur Teutschen Theologia bes. 11 f.; Inge Mager: Johann Arndts Vorreden zum Ersten Buch »Von Wahrem Christentumb« zwischen 1605 und 1616. Ein Beitrag zu seiner Veröffentlichungsgeschichte. In: Frömmigkeit oder Theologie? (Anm. 17), 201–229, hier bes. 203–210.

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auf das ›wahre Christentum‹ im Arndt’schen Sinne und auf ein ursprüngliches, ›eigentliches‹ Luthertum zurückgeht, zugleich aber durch die indirekte Referenz auf den ›Franckforter‹ eine starke mystische Einfärbung erhält.

2.3 Der politische Rahmen Auch der politische Rahmen tritt bereits in der Widmungsepistel deutlich zutage, nicht nur wenn der Autor sich auf sein eigenes staatstheoretisches Werk bezieht, sondern auch, wenn er die Weigerung, dem Wort Gottes gemäß zu handeln, als Problem der politischen Sphäre darstellt: Sed clamant [falsi Christiani] statim, quoties vir Politicus se in Verbo Dei cottidiè in conversatione quavis homines exercere, idque ad praxin vitæ veram revocare studeat, quod talis falcem suam in alienam messem mittat […].61

Auch der Politiker mit den christlichsten Absichten muss, so scheint es, an der Masse der falschen Gläubigen in seinem Volk scheitern. Zugleich insinuiert Werdenhagen hier aber auch geschickt, dass wahres Christentum selbstverständlich Richtschnur auch des politischen Handelns sein müsse. Deutlicher noch als im Widmungsbrief gewinnt der politische Rahmen in der Leservorrede Gestalt: Der Autor wendet sich zunächst an den christlichen Leser, nimmt dann aber unmittelbar die Perspektive des Politikers ein und wirft die Frage nach dem Verhältnis von Herrschaft als »majestas« und den verfassten Staatsformen auf.62 Angesichts der gerade zurückliegenden Kriegswirren auf deutschem Boden kann Werdenhagen die Problematik mühelos an die Gegenwart zurückbinden, in der er allenthalben Staaten verfallen sieht. Eine schulmäßige Unterscheidung der Staatsformen, wie er sie bereits in der Politica generalis vorgenommen hatte, nämlich in reine und gemischte, wobei die reinen wiederum in Monarchien und Polyarchien unterschieden werden,63 geht unvermittelt zur theologisch-naturphilosophischen Spekulation über, indem Werdenhagen nun die Analogie einer monarchischen Staatsform mit der Herrschaft der Seele über den Körper herstellt und sich dazu auf eine Physica hermetica, wohl das Naturæ Sanctuarium des Heinrich Nollius (ca. 1583–1626) beruft, das 1619 in Frankfurt gedruckt wurde. Exempla ubivis extant ante oculos, quam pronæ sint omnes Respubl[icae] ad ruinam, & subversionibus suis expositæ; velut corpus morbidum sanitati semper reluctatur, quùm balsamus vitæ non adeo fit in eo firmus, sed semper, sua laboret imbecillitate ceu optimè præ

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Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), a3v: »Wenn aber ein Politiker darum bemüht ist, sich täglich auf das Wort Gottes und die Menschen zu einer Bekehrung zu lenken und sie so zu einer echten Lebenspraxis aufzurufen, schreien sie [die falschen Christen] sofort, dass er in fremden Revieren wildere […].« Ebd., c6v. Vgl. Werdenhagen, Politica (Anm. 25), 98–101 (II,1,1–10).

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Jost Eickmeyer cunctis id Medicus explicat in Phys[ica] Herm[etica] lib[ro] 10. c[apitibus] 11. & 12. quem heîc consule attentus.64

Nollius, der sich seit seiner Tätigkeit als Magister in Jena (1605) intensiv einer hermetischen und paracelsistisch geprägten Alchemo-Medizin zuwandte, stand später in Kontakt mit Moritz von Hessen-Kassel, dem notorischen Förderer alchemischer und chymiatrischer Studien, und bekleidete 1615 bis 1620 das Amt des Medizinprofessors am Gymnasium illustre in Steinfurt.65 Dort verfasste er jenes hermetische Kompendium, auf das Werdenhagen hier rekurriert. In dessen Widmungsbrief wendet der Autor sich scharf gegen die etablierte Schulmedizin und Philosophie und propagiert eine General-Reformation aller Künste und Wissenschaften am Leitfaden von Theosophie und hermetischer Eschatologie,66 ein Programm, das sich mutatis mutandis zu Werdenhagens lebenslangem, auch in den Paratexten zu seiner Böhme-Übersetzung überall greifbaren, Bemühen um eine ›neue‹ Wissenschaft fügt. – Nachweislich stand Nollius mit einflussreichen Männern der Chymiatrie, etwa dem Marburger Rudolf Goclenius, aber auch mit dem Umkreis der Rosenkreuzer, namentlich Heinrich Morsius, in Kontakt, dessen Verbindungen zu Werdenhagens Lüneburger Gewährsmann Melchior Breler oben schon erwähnt wurde. Wenngleich ein direkter Kontakt des Magdeburger Syndicus mit dem Steinfurter Professor bis dato nicht bezeugt ist, kann dieser dennoch zum weiteren Umkreis des seit seiner Leipziger Zeit alchemisch interessierten gezählt werden und als Gesinnungsgenosse in der Bemühung um die Ablösung der aristotelischen (in seinem Fall: galenischen) Schulwissenschaft durch eine neue Theosophie gelten. Werdenhagen unterstreicht die Wichtigkeit des Sanctuarium, indem er nicht nur konkret auf dessen zehntes Buch verweist, sondern es im Nachsatz nachdrücklich zur Lektüre empfiehlt. Dies ist insofern von Bedeutung, als sich dort, durchmischt mit hermetischen und astro-medizinischen Elementen, auch eine Perspektive auf die Seele als Monarchin des Körpers findet, Nolls

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Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), c7r: »Überall stehen Beispiele vor Augen, wie sehr alle Staatsformen zum Untergang geneigt und ihrer eigenen Umkehrung ausgesetzt sind; ebenso wie ein kranker Körper sich stets der Gesundheit widersetzt, solange das Heilmittel des Lebens nicht stark in ihm wirksam ist, sondern er fortwährend an seiner Gebrechlichkeit leidet. Dies erläutert am besten von Allen der Arzt im zehnten Buch der Physica Hermetica, im elften und zwölften Kapitel, das du hier sorgfältig beiziehen sollst.« Diese und die folgenden Hinweise zu Nollius’ Leben und Kontakten verdanke ich den Herausgebern des Corpus Paracelsisticum, in dessen drittem Band (Anm. 11) ein Text Nolls erschlossen und biographisch ausführlich kontextualisiert wird (Nr. 170). Für die Möglichkeit der Voreinsicht sei Hrn. Prof. Kühlmann herzlich gedankt. Vgl. zusammenfassend auch Wilhelm Kühlmann: Art. »Nollius, Henricus«. In: Killy Literaturlexikon (Anm. 5), Bd. 8, 628a–630b. Henricus Nollius: Naturae Sanctuarium: Quod Est, Physica Hermetica; In Studiosorum Sincerioris Philosophiae gratiam, ad promouendam rerum naturalium veritatem, methodo perspicua & admirandorum Secretorum in Naturae abysso latentium Philosophica explicatione decenter in undecim libris tractata. Frankfurt a. M.: Rosa 1619, hier: 3–5 (›Epistola Dedicatoria‹).

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hermetische Naturkunde damit bereits in inhaltliche Nähe zu Böhmes Seelenlehre rückt.67 Man müsse also, folgert Werdenhagen, die wahre Natur der Seele kennen, um dann die Frage nach der Einrichtung sowohl der Seele als auch per analogiam der Einrichtung des Staates beantworten zu können.68 Den vielen Meinungen, die es über die Seele gibt, setzt Werdenhagen die folgende Überzeugung entgegen: Der spiritus Christi sei die einzige Richtschnur für die Erkenntnis des wahren Christen;69 hingegen seien diejenigen, die sich allgemein für Christen halten, aber christliche Heiden sind, die wahren Häretiker und irrten demnach über die Beschaffenheit der menschlichen Seele.70 Hier mischen sich nun abermals politische, theologische und philosophiekritische Argumentation: Rückgriffe auf heidnische Philosophien, v. a. abermals auf Aristoteles, der die Sterblichkeit der Seele gelehrt habe,71 werden insgesamt diesem christlichen Heidentum zugeordnet, während dem wahren Christen die Heilige Schrift genug ist, bzw. er danach strebt, mittels der Nachfolge Christi den alten Adam in den neuen »innerlichen« Menschen zu verwandeln: Domi quidem habemus nos Christiani, quod expetimus; eo longe feliciores aliis, quod S[acra] Scriptura, satis abunde nos cuncta docere possit modo nos ritè Spiritui Christi submitteremus, penes quem est omnis veritas; & tamen ad Ethnicismum ejusque habitus profanos perdite reucrrimus; ibique nos doctores ejus Dei creamus, nostros informatores: Ex tenebris lucem accendere stulti cupimus. […] An non potius illi hæretici sint pessimi, qui nos extra Christum & ejus imitationem unicam ad ethnicismum provocando ducunt, quàm qui nos ex veteri Adamo in internum hominem novum revocet.72

Obwohl Böhme hier nicht namentlich genannt wird, ist gerade der letzte Satz dazu angetan, ihn vor dem Hintergrund einer ebenso auf Böhme wie auf Arndt zu beziehenden Lehre von der Nachahmung Christi und der Verwandlung gerade des inneren Menschen, nicht nur vom Vorwurf der Irrlehre freizusprechen, sondern ihn sogar zum einzigen wahren Seelenführer gegenüber den vielen wahren Ketzern zu stilisieren.73 Überdies verweist die Formulierung von den profani ha67 68 69 70

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Nollius, Sanctuarium (Anm. 55), 616–627 (10, 9: ›De homine, eius anima rationali‹), hier bes. 626 f. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), c8r. Ebd., d2r/d2v. Ebd., d2v/d3r: »Als Christen haben wir [alles] bei uns, was wir wünschen; weitaus glücklicher als andere, da die Heilige Schrift uns ausführlich genug alles lehren kann, solange wir uns nur dem Geist Christi recht unterordnen, bei dem alle Wahrheit ist. Und doch kehren wir in heilloser Weise zum Heidentum und seinen weltlichen Gewohnheiten zurück und erwählen uns dort Gelehrte dieses Gottes als unsere Lehrer: Wir Narren wollen aus der Finsternis Licht schlagen. […] Ob nicht eher jene weitaus schlimmere Ketzer sind, die uns von Christus und seiner einzig möglichen Nachfolge fortlenken, um uns zum Heidentum auszurufen, als jener, der uns aus dem Alten Adam zum inneren Menschen zurückruft?« Ebd., d2r. Ebd., d1v/d2r. Zum »Alten Adam« und der Umkehr der Seele bei den Genannten vgl. Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 36 f. (1:134–136); Arndt, Christentumb (Anm. 52), 29 [31]–35 [41] (Kap. 2).

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bitus deutlich auf den Habitualstreit zurück.74 In diesem Kontext der engen Verknüpfung von politischer und theologischer Sphäre gewinnt der bereits erwähnte Textauszug aus Luthers Freiheit des Christenmenschen an Bedeutung, da er die zweifache Applikation der Seelenlehre auf den Bereich des politischen Handelns zeigt: Einerseits sei die christliche Seele von jedem politischen Zwang unabhängig zu halten – eine in spiritualistisch-böhmistischer Perspektive besonders brisante Forderung, die letztlich ein orthodoxes Luthertum ebenso infragestellt wie die politische Geltung der Confessio Augustana –, andererseits müsse der Staat nach dem Modell der menschlichen, christlichen Seele eingerichtet sein, um Bestand zu haben. Programmatischer Internalismus und eine Staatslehre unter dem Primat eines biblizistischen Christentums werden somit untrennbar verflochten. Diese beiden Rahmen, deren gegenseitige Vermengung hier hinreichend deutlich geworden sein sollte, werden im letzten Teil von Werdenhagens Psychologia geschlossen, wenn der Autor in einer mehrere hundert Seiten umfassenden Appendix die »Applicatio Iuris Majestatici cum Libertate in Republ[ica] justa« am Leitfaden der Analogie zur vollendeten Verfassung des Körpers unternimmt.75 Neben mannigfachen Rückgriffen auf die vorangegangenen vierzig Antworten Böhmes fließt abermals viel Autobiographisches ein, etwa Werdenhagens Wirken im Hanse-Konflikt zwischen Magdeburg und Hamburg sowie der Habitualstreit. Im Einzelnen stützt sich der Autor (wie bereits in der Politica Generalis76) auf eine lange Reihe staatsrechtlicher Autoritäten, vor allen anderen Bodin,77 unter den Deutschen insbesondere Christoph Besold78 und Benedict Carpzov.79 Wie vollzieht nun Werdenhagen diese Analogie, gemäß der Böhmes Psychologie politisch auszudeuten sei? Nachdem er in der nun schon bekannten Gelehrtenschelte die widerstreitenden Meinungen über Freiheitsrechte einer- und Majestätsrechte andererseits gestreift hat, beginnt er mit der eigentlichen Auslegung, die sich zunächst am Begriff der maiestas orientiert.80 Aus den Antworten des verschiedentlich als »θεοδίδακτος« bzw. »Theosophus« gerühmten Böhme81 zieht er die schon zuvor virulente Passage über den Fall Adams heran: Rectè quidem faciunt, & quàm optimè in eo conveniunt omnes, quod Majestatem animæ ipsi humano in corpore, adsimilent. Jam verè an non Anima est forma hominis? Quomodo igitur ea potest infringi? Quomodo ex centro suo moveri? forma enim rei destructa, aut in

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Vgl. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), d3r, wo die »Habitualistae« als Gegner genannt sind. Ebd., 353–368, hier bes. 355 f.; auch 359. Dazu: Voigt (Anm. 5), 18–21. Vgl. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 354. Vgl. ebd., 354 u. 358. Z. B. ebd., 354. Zu komplizierten Geschichte dieses Begriffs in den politischen Wissenschaften der Frühen Neuzeit umfassen: Horst Dreitzel: Monarchiebegriffe der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz. Bd. I: Semantik der Monarchie. Köln/Weimar/Wien 1991. Zu den gleichfalls seine Inspiration betonenden Ehrentiteln vgl. etwa Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), d3v, 72, 353, 355 u. 364 (dort auch als Bezeichnung für die wahren Christen insgesamt), 368.

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minimis vitiatâ, certè ipsa res corrumpitur, uti id satis diductè superius noster explicavit Theosophus in lapsu Adamico, ut inde in hanc monstrositatem hujus mundi homo ex Paradiso præcipitatus sit.82

Während Werdenhagen zunächst die klassische, an Aristoteles’ De anima angelehnte Bestimmung der Seele als forma corporis variiert,83 weist er dann auf die Dezentrierung, ›Entmachtung‹ der Seele hin, als die Böhme die Vertreibung aus dem Paradies beschrieben habe. Dort ist in der Tat vom »Willen-Geist« Adams die Rede, der im prälapsaren Zustand »in GOtt gewohnt« habe, durch das Streben nach »Witz« aber nun »in der Angst« stehe.84 Geht es Böhme darum, den Tod im Rahmen seiner Kosmogonie einzuführen, so deutet Werdenhagen diesen Vorgang in einer terminologischen Volte – er identifiziert den »Willen-Geist« Adams mit dessen Seele – als Verlust der seelischen Majestät. Auf diese Analogie muss es ihm freilich ankommen, denn nur so kann er die Schlussfolgerung ziehen, dass in einem korrupten Staatswesen keine Majestätsrechte eingefordert werden dürften.85 Werdenhagen macht sich nun daran, die für eine politische Lesart der Viertzig Fragen unumgängliche Übertragbarkeit der Seele auf das Staatswesen zu verteidigen. Denn die etablierte und anerkannteste (metaphorische) Konstruktion der Staatstheorie war ja seit je und bis Bodin, Hobbes, gar bis Kantorowicz – diejenige nach einem Körper-Modell.86 Doch gerade diese Übertragbarkeit weiß der Autor zu nutzen, indem er nun die Seele mit dem regimen des Staates identifizieren87 und mithin die beste Einrichtung des Staates nach dem Vorbild der besten Einrichtung eines Christenmenschen auffassen kann: als unbedingte Ausrichtung auf den Geist Gottes.88 Wer nun eine genauere Exegese des Böhme-Textes, vielleicht eine über diese allgemeine Strukturparallele hinausgehende Übertragung des mystischen Traktates auf die Sphäre der politischen Theorie und Praxis erwartet, wird freilich von Werdenhagen enttäuscht. Denn der Gelehrte stellt lapidar fest: 82

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Ebd., 355: »Mit Recht handeln sie [Staatstheoretiker], und stimmen aufs Beste darin überein, wenn sie sie [die Majestät im Staat] mit der Majestät der Seele im menschlichen Körper vergleichen. Ist denn die Seele nicht wahrhaftig die Form des Menschen? Wie also könnte sie gebrochen werden? Wie aus ihrem Mittelpunkt vertrieben? Wenn nämlich die Form eines Dinges zerstört oder auch nur im Mindestens beschädigt ist, so verdirbt sicherlich das ganze Ding, wie dies weiter oben hinreichend ausführlich unser Theosoph am Fall Adams erläutert hat, auf den hin der Mensch aus dem Paradies in die Grässlichkeit dieser Welt gestürzt wurde.« Vgl. Aristoteles: De anima. Hrsg. v. David Ross. Oxford 1961, 412b5/6; zur Rezeption des Werkes in der Renaissance vgl. knapp Michael Stadler: Renaissance: Weltseele und Kosmos, Seele und Körper. In: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Hrsg. v. Gerd Jüttemann, Michael Sonntag u. Christoph Wulff. Göttingen 2005, 180–197, v. a. 189a–193b Böhme, Viertzig Fragen (Anm. 38), 36 (1:134). So Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 355 (in Fortführung des Gedankens): »Quare certè nulla heic juris Majestatici in corrupto statu Reipubl[icae] defensio esse poterit […].« Vgl. (mit manchem Seitenblick auf poetische Texte): Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Hrsg. v. Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann u. Ethel Matala de Mazza. Frankfurt a. M. 2007, bes. 55–101. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), 356. Vgl. ebd., 358 f. (mit reichen Belegen aus der Heiligen Schrift).

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Jost Eickmeyer Verum si quis rectè analogiam eam, quam Anima habent in corpore humano cum regiminis Majestate, prout eam Theosophus in introducto tractatu de Deo explicat, considerarit, facilius omnia poterit secum & in veritatis natura pensitare. Sed in hoc quisque lector manet monendus mihi, ne temerè heic quid præcipitet. Etenim admodum ardua sunt & sacra, quæ proponit iste sua doctrina mystica. Ideoque necessum est, ut benè præparatum quisque in pietate pectus aut cor huic lectioni afferat, ceu ipse monet autor sacer, quùm non omnibus, sed saltem verè & solidè piis Christianis & in Christo vividè renatis hunc scripserit libellum; […].89

Einem solchen, nach spiritualistischen Maßgaben (»vividè renatis«) vorbereiteten Leser wird nun die weitere politische Ausdeutung der Viertzig Fragen überlassen, während sich der Rest dieser »Applicatio« abermals der scharfen und ausführlichen Kritik an neuheidnischer Schulphilosophie und theologischer Orthodoxie und dem Lob Böhmes zuwendet.90 Immerhin hat er in seiner Übersetzung, wie die zweite der oben (II.1) verglichenen Stellen zeigt, einige Hinweise zur Interpretation angelegt. Bevor nun aus diesen Beobachtungen Schlussfolgerungen auf Werdenhagens ›Politisierung‹ Böhmes gezogen werden, soll zumindest noch kurz der dritte, nämlich poetische Rahmen beleuchtet werden, den der Autor um Böhmes Text legt.

2.4 Der poetische Rahmen Werdenhagens Übersetzung sind eine Reihe von poetischen Paratexten beigegeben, deren erster Teil sich in der üblichen Form von Widmungsgedichten nach den Vorreden findet (e5v–f4r). Neben den typischen Lobgedichten und Anagrammen aus der Feder von Freunden und Gelehrten aus dem Umkreis des BraunschweigLüneburgischen Hofes sind auch drei geistliche Poeme zu finden, die vom Autor selbst stammen dürften: Ein jambisches Gedicht, das als »Meditatio cottidiana« die praktische Einübung in die Jesus-Frömmigkeit befördern soll,91 sowie zwei Psalmparaphrasen in alkäischer Strophenform.92 Werdenhagen zeigt sich hier als versierter lateinischer Poet, hatte er doch wenige Jahre zuvor seine verstreuten Jugendgedichte – um einige allzu antikisierenden Texte vermindert – neu

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Ebd., 359: »Wer diese Analogie, welche die Seele im menschlichen Körper mit der Regierung im Staat aufweist, wie sie schon der Theosoph im einleitenden Traktat über Gott erläutert, recht bedenkt, dürfte er alles bei sich und in der Natur der Wahrheit mit Leichtigkeit erwägen. Aber dabei bleibt mir noch, jeden Leser zu warnen, dass er darin nichts überstürtze. Denn es sind schwierige und heilige Dinge, die er in seiner mystischen Lehre darbietet. Deshalb ist es erforderlich, dass ein jeder, in seiner Frömmigkeit gut vorbereitet, sein Gemüt oder sein Herz an diese Lektüre heranführt, wie auch der heilige Verfasser selbst mahnt, da er nicht für alle, sondern nur für die wahrhaft und standhaft frommen und die in Christo lebendig wiedergeborenen Christen dieses Buch geschrieben habe. Ebd., 360–368. Ebd., e5v/e6r. Ebd., e6r–e7r (Ps 56) u. e7r/e7v (Ps 64).

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herausgegeben.93 Diesen Rahmen schließt Werdenhagen am Schluss des Werkes auf, soweit ich sehe, ungewöhnliche Weise. Zwar finden sich auch hier längere Gedichte, in deren erstem Christoph Herwich den Autor als »vates« und christlichen Dichter preist,94 worauf Adam Siber in spiritualistisch grundierter Diktion das wahre Christentum propagiert und einige Poeme auf Luther-Worte beisteuert.95 Doch auf mehr als zehn vorausgehenden Seiten versammelt Werdenhagen sieben Gedichte, teils Kasualcarmina, seiner ›Gegner‹, nämlich späthumanistischer Poeten, darunter der Helmstedter Humanist Caselius, Martin Brasch und sogar der kurpfälzische Bibliothekar und berühmte Dichter Paul Schede Melissus.96 Dass der Zweck dieser Einschaltungen keineswegs in der Herstellung von ›Dialogizität‹ oder gar einem ästhetischen Wettstreit zwischen weltlicher und geistlicher Dichtung besteht, macht bereits die Einleitung deutlich. »juvat saltem paucula è multis barbariæ istius horrendæ huc carmina producere, ut effervescentiam mortalium quisque pius agnoscere discat.«97 Auch der diesen ›grausigen Erzeugnissen‹ nachgestellte Absatz beginnt vielsagend: En, bone Lector, hæc scandala hominum publica & blasphema in suis elegantiis profanissimis: tantus fremor erat passim exultationis & ubique fragor simul jubilationum istis profanitatis perditæ obstinatis cultoribus.98

Die Neujustierung der Wissenschaften, wie Werdenhagen sie sein Leben lang in der Abkehr vom aristotelischen Rationalismus, hin zu einer spiritualistisch unterfütterten Theospohie gefordert hat, macht demnach auch vor der Dichtung nicht halt. Vergleicht man seine eigenen Oden zu Beginn mit diesen Texten und seiner Verurteilung, so kann man eine streng inhaltliche Hierarchisierung feststellen: Die lyrische Paraphrase biblischer Texte sowie die praktische Andachtsfrömmigkeit stellen lizite Formen der Poesie dar, während jede mit antikisierender Diktion und rhetorischem ornatus auf weltliche Themen zielende Poesie abgelehnt wird. Ein solches Erziehungsprogramm, das einerseits an die poetische Praxis des Calvinismus erinnert, andererseits auf die Andachtsfrömmigkeit pietistischer oder quietistischer Zirkel vorausweist, gehört offenbar zu Werdenhagens Kampf für den wahren Christianismus und wider einen allenthalben wütenden Ethnicismus.

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Pomatum Juvenilium liber I: Lyrica continens, ab Ethnicismo vindicata et pietati Christianae restituta. Leiden 1629. Werdenhagen, Psychologia (Anm. 34), S.529–537. Ebd., 541 f. Ebd., 513–525. Ebd., 513: »Es genügt, hier nur einige wenige Gedichte aus der Masse dieses abscheulichen Barbarentums anzuführen, sodass jeder fromme Leser das aufgeblasene Brausen der Menschen zu erkennen lernt.« Ebd., 525: »Sieh, guter Leser, diese öffentlichen Ärgernisse und Lästerungen der Menschen in ihrem überaus heidnischen Glanz: So groß war überall das Getöse der Freude und allerorts zugleich das Tönen des Jubels über diese Musensöhne, die sich einem verderblichen Heidentum hartnäckig hingaben.«

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Fazit Werdenhagens Funktionalisierung von Böhmes Viertzig Fragen Trägt man die hier angestellten Beobachtungen, die in einer ausführlicheren Studie zu vervollständigen verlohnte, zusammen, so ergibt sich die Frage: Wie politisch ist Werdenhagens sehr genaue Übersetzung der Böhme’schen Psychologia? Zunächst ist festzuhalten, dass bereits die Übersetzung selbst dem Streben geschuldet ist, Böhmes Werk in einem breiteren Gelehrtenkreis jenseits des deutschsprachigen Raume bekannt zu machen.99 Sie entspringt also Werdenhagens Interesse an der Verbreitung Böhmes und hat möglicherweise in der Vorbereitung der niederländischen Übertragungen und Böhme-Ausgaben eine Rolle gespielt, was freilich künftige Forschung aufzuweisen hätte. Sodann hat sich der Autor trotz des immensen Apparates, den seine Übersetzung umgibt, mit einer präzisen politischen Deutung merklich zurückgehalten. Die oben auszugsweise zitierte Applicatio der Antworten Böhmes fällt quantitativ sehr schmal und inhaltlich allenfalls andeutend aus. Es scheint Werdenhagen vielmehr darum gegangen zu sein, Böhme in den geistigen Schnittpunkt verschiedener theologischer (Luther, Arndt) und naturkundlicher (Nollius) Strömungen der Zeit zu stellen, deren Vertreter er in den Paratexten nennt, verteidigt, exzerpiert und als Eideshelfer, wenn nicht ›testes veritatis‹ anführt.100 Die in ständiger Repetition dem Leser eingeprägte Frontstellung des wahren, auf die innerliche Frömmigkeit des Einzelnen gerichteten Christentums gegen einen mit aristotelischem Rationalismus und lutherischer Orthodoxie gewappneten Feind beleuchtet einerseits Werdenhagens stets polemische, oft prekäre Stellung in der Gelehrtenzunft seiner Zeit, macht jedoch tendenziell auch den Görlitzer Schuster als »sacer Theosophus« zur rettenden Waffe im, mitunter eschatologisch grundierten, Kampf für die reine christliche Lehre. Vor diesem Hintergrund kann man Werdenhagens Psychologia Vera vielleicht am besten als stärker an Böhmes eigenem Schaffen ausgerichtetes Komplementärwerk zu seiner Politica generalis sehen: Auch dort durchziehen Böhme-Zitate das gesamte Werk, in den ersten beiden Büchern meist aus dem Dreifachen Leben des Menschen (1620), im dritten aus dem Mysterium Magnum (1623).101 Eine politische Ausdeutung der jeweiligen Passagen und Zitate findet freilich auch dort kaum statt, kann auch, nach der oben zitierten Kautel Werdenhagens selbst, dass Böhmes Lehre nur den Wenigen, den wahren Christen zugänglich sei, nicht ohne Weiteres 99

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Neben den Viertzig Fragen finden sich noch aus anderen Texten Böhmes, u. a. aus dem Dreifachen Leben, Auszüge übersetzt und in der Appendix beigegeben (Werdenhagen, Psychologia [Anm. 34], 580–621). Zu dieser Darstellungsstrategie fügen sich auch zwei umfangreiche, hier ausgesparte Teile des Werkes, eine Art Geschichte des Dissidententums als derjenigen Bewegung, die das ursprüngliche Christentum durch die Jahrhunderte bewahren wollte (368–413; mit 14 eingerückten Briefen Luthers); ferner eine Sammlung von »Probatissimorum Ecclesiæ Doctorvm sententiæ«, 104 Aphorismen von Paulus über Origenes bis Jean Gerson, Matthias Vegius und Pico della Mirandola, die bereits ein eigenes Buch mit separater Vorrede bilden. Werdenhagen, Politica (Anm. 25), passim, bes. 368–376 (3,26) mit einer deutlich böhmistisch eingefärbten Anthropologie; summarisch: Voigt, Politica (Anm. 5), 51–60.

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stattfinden. Doch indem er im einen Werk einen zentralen Böhme-Text in Gänze präsentiert und zumindest Hinweise auf mögliche politische Deutungsaspekte gibt, lenkt er zugleich die Rezeption seiner Politica generalis auf eine speziell böhmistisch grundierte Lektüre. Wie aber wird man ein solcher wahrer Christ, reinen und standhaften Herzens? Auf diese Frage gibt womöglich Werdenhagens wenig später erschienene Offene Hertzens-Pforte eine Antwort, indem sie, nun in der Volkssprache verfasst, tendenziell jedem Lesefähigen eine Anleitung zum verus Christianismus bieten will. Würde man in einer größer angelegten Studie diese drei Texte zueinander in Beziehung setzen und daraufhin interpretieren, würde womöglich ein Großprojekt Werdenhagens kenntlich werden, eine Art Anleitung zum christlichen Leben des Einzelnen, ebenso wie des Staatsgefüges, deren einzelne Teile im Jahr 1632 ans Licht kamen und lediglich in umgekehrter Reihenfolge zu lesen wären. – Ein solches auf mehrere, inhaltlich, sprachlich und formal ganz unterschiedliche Werke angelegtes Unternehmen, das, wie bereits diese kursorische Analyse gezeigt hat, durchaus paränetische Züge trägt, stellte dann in der Tat einen singulären, ja spektakulären Fall der frühneuzeitlichen Böhme-Rezeption dar. Werdenhagen zumindest sollte auch nach 1632 sowohl seine politische Karriere als auch sein Engagement für ein spiritualistisch geprägtes Christentum fortführen. 1637 wird er sogar zum kaiserlichen Reichsrat und in den Adelsstand erhoben, zugleich bleibt er ein humanistisch geprägter Erasmianer, wie Beiträge zu mancher Friedensschrift der 1640er Jahre zeigen.102 Und schließlich förderte er spiritualistische und quietistische Zirkel in Norddeutschland, was u. a. ein lobendes (deutsches) Geleitgedicht zu einem geistlichen Werk der Anna Owena Hoyers dokumentiert.103 Als Johann Conrad Kanz 1745 Werdenhagen in die Fortsetzung von Reitzens pietistischem Sammelwerk Historie der Wiedergebohrnen aufnimmt,104 wird er diese bemerkenswerte Doppelstellung des Politikers als Böhmisten unterstreichen, indem er ihn einerseits als »trefflich gelehrten Politicus« einführt, ihm zugleich rückhaltlos »das Sigel aller Zeugen der Wahrheit« zuspricht.105 102

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Vgl. z. B. Werdenhagen: Diæ pacis et concordiæ efflagitationes, ex D[esiderii] Erasm[i] Roterod[ami] et aliis clarissimis auctoribus in scenam reproductæ. Frankfurt a. M.: Matthäus Merian 1642. – Dazu: Otto Herding: Erasmische Friedensschriften im 17. Jahrhundert: Precatio ad Dominum Jesum pro Pace Ecclesiae. In: Boek, bibliotheek en geesteswetenschappen. Opstellen door vrienden en collega’s van dr. Cornelis Reedijk geschreven ter gelegenheid van zijn aftreden als bibliothecaris van de Koninklijke Bibliotheek te ’s-Gravenhage. Hrsg. v. Willem R. H. Koops. Hilversum 1986, 151–156. Es ist greifbar in: Anna Ovena Hoyers: Geistliche und weltliche Poemata. Nachdruck d. Ausgabe Amsterdam: Elzevier 1650. Hrsg. v. Barbara Becker-Cantarino. Tübingen 1986 (Deutsche Neudrucke: Reihe Barock 36), 2. Johann Heinrich Reitz: Historie der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe des Erstdrucks aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745). Mit e. werkgeschichtlichen Anhang der Varianten u. Ergänzungen aus den späteren Auflagen hrsg. v. Hans-Jürgen Schrader. Tübingen 1982 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 29), Bd. 4, 80–92 (Tl. 7, Hist. 3). – Vgl. dazu: Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ »Historie der Wiedergebohrnen« und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989 (Palaestra 283), bes. 93–107. Reitz, Historie (Anm. 104), Bd. 4, 80 u. 91.

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Konvergenzen in der ›poetischen‹ Böhme-Rezeption Abraham von Franckenbergs und Daniel Czepkos

›Zwischen Jakob Böhme und Angelus Silesius‹, so wurde die geistesgeschichtliche wie literarhistorische Position Abraham von Franckenbergs und Daniel Czepkos schon vor längerer Zeit bestimmt;1 in dieser Perspektive hat man die Bedeutung beider in erster Linie darin gesehen, Böhmes theosophisches Gedankengut in die Literatur vermittelt zu haben.2 Doch der Nachweis einer direkten Böhme-Rezeption in ihren Schriften ist nur scheinbar trivial. Nicht wenige Motive und Gedankenfiguren in Böhmes theosophischem System sind in den spiritualistischen und naturphilosophischen Lehren der Frühen Neuzeit weit verbreitet. Sie konnten auch in anderen Quellen wahrgenommen werden, nicht nur vom Gelehrten Franckenberg mit seiner offenbar weithin bekannten privaten Bibliothek,3 sondern auch von Czepko, der sich als junger Mann in jenen Kreisen des schlesischen Landadels bewegte, in denen spiritualistische Lehren diskutiert wurden.4 Neuerdings wird denn auch nicht Franckenbergs Abhängigkeit von, sondern im Gegenteil seine Selbstständigkeit gegenüber Böhme betont,5 und auch in 1

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Vgl. Theodoor Cornelis van Stockum: Zwischen Jacob Böhme und Johann Scheffler: Abraham von Franckenberg (1593–1652) und Daniel Czepko von Reigersfeld (1605–1660). Amsterdam 1967 (Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afd. Letterkunde N. R. 30,1). Vgl. etwa, unter unterschiedlichen Vorzeichen, Karl Vietor: Probleme der deutschen Barockliteratur. Leipzig 1928, bes. 19–21; Werner Milch: Einleitung. In: Daniel von Czepko: Geistliche Schriften. Hrsg. v. Werner Milch. Darmstadt 1963 (Einzelschriften zur Schlesischen Geschichte 4. Unver. reprogr. ND der Ausg. Breslau 1930), IX–XLIV. Für Franckenberg vgl. Wolfram Buddeke: Die Jacob Böhme-Autographen. Ein historischer Bericht. In: Wolfenbütteler Nachrichten 1 (1972), 61–87, hier bes. 62. Zu Franckenbergs Bibliothek vgl. John Bruckner: Abraham von Franckenberg. A bibliographical catalogue with a short-list of his library. Wiesbaden 1988 (Beiträge zum Buchund Bibliothekswesen 25). Ein Zeugnis ihres Ruhms bietet Theodor Wotschke: Wilhelm Schwartz. Ein Beitrag zur Geschichte des Vorpietismus in Schlesien. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 64 (1930), 89–126, hier: 93 f. Vgl. grundlegend Werner Milch: Daniel von Czepko. Persönlichkeit und Leistung. Breslau 1934 (Einzelschriften zur Schlesischen Geschichte 12), sowie Siegfried Sudhof: Daniel von Czepko. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Unter Mitarb. zahlreicher Fachgelehrter hrsg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, 227–241. Vgl. Sibylle Rusterholz: Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme. Versuch einer Neubestimmung aufgrund kritischer Sichtung der Textgrundlagen. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Hrsg. v. Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), 205–241, hier: 230: »Obwohl Franckenberg in wesentlichen, zu seiner Zeit äußerst brisanten und umstrittenen Fragen die Position Böhmes übernimmt, und zwar auch

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seinem Briefwechsel hat man eine »weitgehende Abstinenz gegenüber unzweifelhaft von Böhme geprägten Termini« festgestellt.6 Franckenberg nimmt den Philosophus Teutonicus innerhalb eines breiten Traditionsstroms wahr, und er verwandelt dessen Begrifflichkeiten mitunter der eigenen Terminologie an. Auch Czepkos wichtigste Gewährsleute hat die ältere Einflussforschung nur unsicher benennen können,7 nicht zuletzt, weil stets mit Filterung und Brechung älterer Literatur durch die ihm unmittelbar vorangehenden Leser zu rechnen ist: »Seit wir mit Bestimmtheit sagen können, daß Czepko sich vielfach eng an Franckenberg angeschlossen […] hat, wird der Versuch […] noch aussichtsloser: Alles, war er brauchen konnte, fand sich ja in dem Wirrwarr von Notizen, Hinweisen und Anmerkungen, mit denen Franckenbergs Schriften durchsetzt sind.«8 Hinzu kommt, dass alles, was mündlich in den schlesischen Landadelskreisen oder auch in der Stadtkultur Breslaus kursiert sein mag, für uns nicht mehr zu rekonstruieren ist.9 Entsprechend kann sich der Nachweis eines Böhme-Einflusses nicht damit zufriedengeben, isolierte Begriffe und Schlagworte aufzuführen, die im 17. Jahrhundert auch anderweitig verfügbar waren. Zu unterscheiden ist zwischen Affinitäten, Strukturhomologien und tatsächlichen Abhängigkeiten, und zu berücksichtigen sind dabei die unterschiedlichen Schreib- und Argumentationsbedingungen in verschiedenen Textsorten und -gattungen. Diese Perspektive versuche ich im Folgenden zuzuspitzen, indem ich über den Bereich von Sachprosa hinaus poetische, literarische Texte einbeziehe (so prekär eine solche Unterscheidung für die Frühe Neuzeit auch sein mag). Dann stellt sich eine Frage, der bisher weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde: ob sich Charakteristika einer spezifisch poetischen Böhme-Rezeption bestimmen lassen. Eine solche Frageperspektive könnte dazu beitragen, die erstaunlich breite und vielschichtige Wirkung von Böhmes Schriften in schärferen Konturen nachzuzeichnen. Dabei dürfte allerdings der Hinweis auf Gattungstraditionen noch zu kurz greifen, wenn man mit ›poetischer Qualität‹ auf Momente einer generellen Schreibweise abzielt. Ich setze zunächst bei einer Gegenüberstellung von Czepkos Trostschriften und seiner Epigrammsammlung Sexcenta Monodisticha Sapientum an. In einem zweiten Schritt perspektiviere ich die gewonnenen Ergebnisse neu, indem ich Czepkos Epigramme mit Franckenbergs Traktat Raphael oder Artzt-Engel im Hinblick auf ihre textuelle Faktur und auf Vorgaben für Rezeptionsmodi vergleiche. Insofern Czepkos Epigramme nicht nur als poetische, sondern auch als ›religiöse‹ Texte gelten wollen, lässt sich eine Gemeinsamkeit zu Franckenbergs Traktat beschreiben, die nicht textsortenspezifisch oder gattungstraditionell,

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dann, wenn diese der Lehre Luthers zuwiderläuft […], wäre es verfehlt, ihn als reinen Parteigänger oder gar Sprachrohr Böhmes zu betrachten.« Vgl. insbesondere Joachim Telles Einleitung zu seiner Edition von Franckenbergs Briefen, anhand derer zahlreiche Mystifizierungen des ›Böhme-Apostels‹ Franckenberg zurechtgerückt werden konnten (Abraham von Franckenberg: Briefwechsel. Eingel. und hrsg. v. Joachim Telle. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 17–57, bes. 37–50; Zitat: 40). Vgl. die Diskussion bei Milch, Czepko (Anm. 4), 123 ff. Ebd., 132. – Zu möglichen Wegen, auf denen der junge Czepko Kenntnis von Böhmes Theosophie genommen haben konnte, vgl. Milch, Einleitung (Anm. 2), bes. XXVII–XXXIV. So schon ebd., XXI.

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sondern kommunikationstheoretisch zu begründen wäre. Vorausgesetzt ist dabei erstens die Annahme, dass Literatur im 17. Jahrhundert (noch) nicht vollständig in ein Subsystem ausdifferenziert ist, innerhalb dessen sich Textproduktion, -distribution und -rezeption mit ihren jeweiligen Geltungsansprüchen vollzögen; sondern dass Literatur in der Vormoderne in historisch je wechselndem Maße in Geltungszusammenhänge von Macht und Heil und deren Repräsentation eingebunden ist, und dass dieser externe Primat sich auch als in die Textstrukturen selbst eingeprägt beschreiben lässt. Diese Prämisse wäre zwar ebenso für andere gesellschaftliche Teilbereiche anzusetzen. Eine Gemeinsamkeit zwischen den ›literarisch‹ lyrischen und den traktathaften Texten, wie hier vorgeschlagen, lässt sich aber, das ist die zweite Prämisse, mit Blick auf ihre jeweils prekären Referentialisierungsleistungen begründen. Gott kann, die Transzendenz kann individuell erlebt werden; davon zu berichten bleibt stets eine heikle Angelegenheit, und nachdrücklich illustriert dies unter anderem Jakob Böhmes Arbeit an der Darstellung seines Erweckungserlebnisses.10 Literatur wiederum ist stets herausgehoben aus einer Alltagskommunikation, insofern sie einer konstitutiven Spannung zwischen referentiellem und figurativem Sprechen unterliegt: Als religiöse konstituiert und behandelt, bespricht oder adressiert Kommunikation das Andere von Kommunikation (Gott/Transzendenz, individueller Glaube/Bewusstsein), als literarische funktioniert sie über ästhetische Differenz beziehungsweise poetische Selbstreferenz.11

Aus der Gemeinsamkeit ihrer prekären Referentialisierung ergeben sich weitere Parallelen zwischen religiöser und literarischer Kommunikation: Wenn ›Sinn‹ nicht mehr nur in Kategorien von Wahr und Falsch codiert werden kann – ganz einfach, weil diese Prädikationen nicht sicher getroffen werden können –, dann wird Bedeutungshaftigkeit gerade auch in Momenten der Intensität geschaffen. Intensität kann in Texten unter anderem mit rhetorischen Mitteln geschaffen werden: durch bildhaftes Sprechen etwa. »Durch die tropische Sprache werden als neuartig und andersartig geltend gemachte Sachverhalte mit Rekurs auf Bekanntes versprachlicht, also Unvertrautes in Vertrautes ›übersetzt‹.«12 Daraus ergibt sich wiederum eine Anmutungsqualität, die, auch hierfür wäre Böhme ein Beispiel, ebenso als Zumutung empfunden werden kann.13

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Vgl. Alois M. Haas: Sprache und Erfahrung in Böhmes Aurora. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 24), 1–23. Peter Strohschneider: Vorbericht. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. v. dems. Berlin/New York 2009, IX–XIX, hier: XII f. Hartmann Tyrell/Volkhard Krech/Hubert Knoblauch: Religiöse Kommunikation. Einleitende Bemerkungen zu einem religionssoziologischen Forschungsprogramm. In: Religion als Kommunikation. Hrsg. v. dens. Würzburg 1998 (Religion in der Gesellschaft 4), 7–29, hier: 10. Von der Zumutung religiöser Kommunikation hat Niklas Luhmann gesprochen: Religion als Kommunikation. In: Religion als Kommunikation (Anm. 12), 135–145, hier: 140: »Wenn es

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Böhmes Theosophie legt, wie jeder offenbarungsreligiöse Entwurf, »einen Schnitt (Gott/Mensch) in die Welt«.14 ›Offenbarung und Episteme‹, die Formel, mit denen die Herausgeber dieses Bandes Jakob Böhmes Position im Geistesleben des 17. Jahrhunderts und den epistemologischen Status seiner Schriften (wie auch seiner Persona) in der Rezeption markierten, spricht dann zweierlei an: den Zusammenhang zwischen individuell Erlebtem und seiner Kommunikation und Kommunizierbarkeit, für den historisch verfügbare Wissensbestände und ihre Ordnung Raster zur Verfügung stellen; und die Arbeit am Kommunizierten, das (ehedem wie heute) als visionär Geschautes für schlechthin exzeptionell erklärt oder über Kontextualisierungsarbeit in Traditionslinien eingeholt werden kann.15

1. Transzendentalrhetorik Rhetorisch überformt ist selbstverständlich jede gelehrte Rede in der Frühen Neuzeit. Mit Figuren der Wiederholung, der effektvollen Verkürzung, mit Gradationen und anderen Mitteln zur Wirkungssteigerung ist also stets zu rechnen. Böhmes Schriften allerdings können näherhin in einer Traditionslinie gesehen werden, die im Hochmittelalter im Rahmen einer theologischen Rezeptionsästhetik formuliert ihren Ausgang nimmt. In Auseinandersetzung mit der obscuritas der biblischen Sprache und mancher patristischer Texte konnte eine im weitesten Sinne integumentale Rede gegenüber einer auf reine Kommunizierbarkeit ausgerichteten Sprache (sei es die Alltagssprache, sei es die elaborierte Sprache

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zu religiös sinnvoller Kommunikation kommt […], wird dem Teilnehmer Religion zugemutet: Es wird nicht über ihn, es wird mit ihm gesprochen.« Niklas Luhmann/Peter Fuchs: Reden und Schweigen. Frankfurt a. M. 1989, 73, Anm. 5. – Zur Mystik ebd., 70–100. Während der Druckvorbereitung dieses Bandes erschien der Aufsatz von Peter-André Alt: Paradoxie als Medium religiösen Wissens. Mystisch-hermetische Semantik und poetische Struktur. In: KulturPoetik 11 (2011), 21–46, dessen Stoßrichtung sich in einigen Punkten mit meinem Beitrag berührt. Alt zielt auf die Leistungen von »Literatur als eigene[m] Ort der Wissensproduktion« (22); dazu beobachtet er Verfahren in hermetisch geprägten ›literarischen‹ Texten, jene Paradoxien zu bearbeiten, von denen das christliche Glaubenssystem geprägt ist. Problematisch scheint mir dabei, dass Alt diskursive Ordnungen als der poetischen Sprache vorgängig denkt: »der Akt der poetischen Darstellung [bewirke] selbst eine Umgestaltung religiösen Wissens. Er […] formt es neu […]« (27). So wird eine strukturelle Affinität zwischen religiöser Lehre und poetischem Verfahren, die ich oben mit ›prekärer Referentialisierung‹ angesprochen habe, in eine schlichte Dichotomie von Wahrheit und Lüge gedrängt (»Nur indem sie lügt, kann die Literatur zur Wahrheit finden; allein in den widerspruchsvollen Zeichen der Poesie kommt Gott zur Sprache«, 28). Ich würde einen solch strikten Fiktionalitätsbegriff (25 u. 28 f.) weicher fassen und davon ausgehen, dass poetische Texte an der Formierung einer Episteme selbst teilhaben (das ist selbstverständlich eine andere Perspektive als die hier eingenommene, nach der Wirkung von Böhmes Schriften fragende). – In der Sache (Alt vergleicht Epigramme Czepkos und Schefflers mit den Weisheitssätzen des Corpus hermeticum) argumentiert die Studie oberflächlich informiert und fällt vielfach hinter den Forschungsstand zurück.

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wissenschaftlicher Verständigung) verteidigt, ja sogar valorisiert werden.16 Dem höchsten, letztlich unbegreiflichen Gegenstand könne keine Sprache angemessen sein, die als Medium auf die von und in ihr transportierten Inhalte diaphan sei; und zwar, weil eine solche Sprache eine Kommunizierbarkeit der Transzendenz immer schon voraussetzt. Stattdessen ist die Sprache der Bibel dunkel, bildhaft und darum mehrdeutig; so regt sie zu wiederholten Lese- und Interpretationsbemühungen an. Sie spricht in einer Weise von Gott, »die rational, d. h. theologisch am ehesten mit Hilfe eines für die Redekunst bereitgestellten Beschreibungsrepertoires nachvollzogen werden kann«. Eine solche »Transzendentalrhetorik« kann »den Verständnishorizont für die vielfältigen sprachlichen Annäherungen an das Unsagbare methodisch [vorbereiten]«.17 Dass Böhme sich mit der gleichen Grundproblematik auseinanderzusetzen hat, ist offensichtlich: »Wie seine Vorgänger schreibt er unter der paradoxen Voraussetzung, dass ein Wissen von den göttlichen Geheimnissen weder von der natürlichen menschlichen Erkenntnis erreicht werden kann noch als begriffliche Aussage zu vermitteln ist.«18 Wiederholt weist er darauf hin, dass rein rational nicht nachvollzogen werden kann, was er zu sagen hat. Wovon Böhme schreibt, ist völlig nur für den erfassbar, der die Unterweisung nicht mehr nötig hat: »Alhier hebet die Vernunft an zu speculiren, und will es fassen; gehet aber nur um den Circul von aussen um, und kann nicht darein, dann sie ist haussen, und nicht im Worte des Lebens Circkel.«19 So muss er in Analogien zu erweisen suchen, was differenzlogisch nicht denkbar ist. Das Wort von der »Transzendentalrhetorik« ließe sich gut auf Böhme beziehen; es bezeichnete dann kein der Theologie zugeordnetes Propädeutikum, sondern die rhetorische Durchformung seiner Texte selbst. Diese unterliegen ja zum Großteil schon dem Paradox, in die diskursive Linearität überführen zu müssen, was als gleichzeitig zu denken wäre. »Es hat nicht den Verstand, als w(ren die sieben Eigenschaften getheilet, und w(re eine neben der anderen, oder eher als die anderen«, so Böhme im Mysterium Magnum. »Man muß nur in StFckwerck also reden, daß mans kann schreiben, und den Sinnen entwerfen, dem Leser nachzusinnen […].«20 Es mag unter anderem der Versuch sein, den Eindruck von Gleichzeitigkeit in die Linearität der diskursiven Entwicklung hinüberzuretten; jedenfalls sind Böhmes Gedankengänge von Wiederholungsstrukturen bestimmt, die semantische Bezüge gewissermaßen auf der Oberfläche der Druck- (ebenso wie Brief-)seite selbst schon abbilden: 16

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Vgl. Peter von Moos: Was galt im lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur? Eine theologisch-rhetorische Antwort des 12. Jahrhunderts. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. v. Joachim Heinzle. Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14), 431–451. Ebd., 439, 440. Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. In: Literarische und religiöse Kommunikation (Anm. 11), 89–123, hier: 96. Jakob Böhme: Mysterium Magnum 2,4 (SS, Bd. VII, 8). – Die Werke Böhmes werden zit. n. der Ausgabe Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961 (im Weiteren mit der Sigle »SS« abgekürzt). Jakob Böhme: Mysterium Magnum, 6,22 (SS, Bd. VII, 34).

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Jan Mohr Durch diese flächige Darstellungstechnik werden zentrale Ausdrücke untereinander vernetzt. So entsteht beim Leser Bedeutung nicht nur durch rationalen Nachvollzug von linear Mitgeteiltem, sondern ebenso sehr durch die Rezeption wiederkehrender Schlüsselwörter, die bereits durch ihre punktuelle Präsenz im Text – d. h. noch nicht durch ihre syntagmatische Verknüpfung – bestimmte Inhalte suggerieren.21

Auf die Verbindung von hoch konnotativer Rede und Relationierbarkeiten auf der Fläche der Druckseite wird es mir im Folgenden noch ankommen. Der angestrebten Vieldeutigkeit könnte eine diskursive Vermittlung allein nicht gerecht werden. Böhme deckt analogische Beziehungen im Sprachmaterial in Anlehnung an die Techniken der frühneuzeitlichen, christlichen Kabbala auf, wie sie etwa Johannes Reuchlin in De verbo mirifico (1494) und in De arte cabalistica (1517) prominent präsentiert hatte.22 Ihre gleichsam ontologische Basis hat diese Technik in der Signaturenlehre der Frühen Neuzeit, die ein verborgenes Netz von Realbeziehungen zwischen den Dingen annimmt und durch deren Bezeichnung dieses angezeigt sieht. Böhmes Texten unterliegt das Konzept einer motivierten Sprache: Spiegelt sich in ihnen die Schöpfung durchs Wort, die im Wort schon alles enthielt, so wollen sie in sich die Menge an Auslegungen enthalten, der sie ihre Eindeutigkeit opfern. Jegliche Technik der Vieldeutigkeit […] liegt hier nahe. Der zerstreute Sinn, der diskursiven Fortgang ausläßt oder überspringt, ist mit dem Geheimnis der Natur in Gott koextensiv.23

Nicht nur die Beweglichkeit des Lesers, auch seine Bereitschaft zum Weiterdenken ist da schon von vornherein eingefordert. Auch darin läge eine Parallele zur mittelalterlichen, theologisch motivierten Lizenz für die rhetorische Durchformung inspirierter Rede: Ebenso wie die Theologen des 12. Jahrhunderts »den Lesern hermeneutisches Verantwortungsgefühl, die Freiheit des Urteils zutrauten«,24 21

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Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin/New York 1994 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N. F. 108), 44. Allerdings ist nicht von einer Abhängigkeit Böhmes von der Kabbala auszugehen; vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Das Geheimnis des Anfangs. Einige spekulative Betrachtungen im Hinblick auf Böhme. In: Gott, Natur und Mensch (Anm. 10), 113–127; ders.: Jakob Böhme und die Kabbala. In: Ders. (Hrsg.): Christliche Kabbala. Ostfildern 2003 (Pforzheimer Reuchlinschriften 10), 157–182; Andreas B. Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar 1998, bes. 150–152. – Zu Reuchlin: Wilhelm Schmidt-Biggemann: Einleitung. Johannes Reuchlin und die Anfänge der christlichen Kabbala. In: Ders. (Hrsg.): Christliche Kabbala. Ostfildern 2003 (Pforzheimer Reuchlinschriften 10), 9–48. Harald Haferland: Mystische Theorie der Sprache bei Jacob Böhme. In: Theorien vom Ursprung der Sprache. Hrsg. v. Joachim Gessinger u. Wolfert von Rahden. Bd. 1. Berlin/New York 1989, 89–130, hier: 98. – Zu Böhmes motiviertem Sprachverständnis Gardt (Anm. 21), bes. 46–48 u. 68–108; Wolf Peter Klein: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins. Berlin 1992, 203– 216; Richard Nate: Natursprachtheorien des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Sprachtheorien der Neuzeit I. Der epistemologische Kontext neuzeitlicher Sprach- und Grammatiktheorien. Hrsg. v. Peter Schmitter. Tübingen 1999 (Geschichte der Sprachtheorie 4), 93–115, bes. 100–102. Moos (Anm. 16), 445.

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rechnet Böhme mit einem Leser, der zu eigenem Weiterdenken bereit ist. Seine Texte »wollen ausgelegt sein, obwohl sie doch selbst schon auslegen«.25

2. Cepkos Trostschriften (Consolatio und Parentatio) Ab 1633, vielleicht schon 1632, hält sich der junge Czepko auf dem Sitz der Freiherrn Czigan von Slupska in Dobroslawitz bei Cosel auf. Die Czigans gehören zwar zum katholischen Landadel, sind aber theosophischen und im weiteren Sinne hermetischen Spekulationen gegenüber sehr aufgeschlossen. Hier schreibt Czepko für die junge Barbara Czigan nach dem Tod von deren Schwester die Trostschrift Consolatio ad Baronissam Cziganeam. Der in vier Bücher gegliederte Prosatext bedient sich einer ganzen Reihe jener Motive, die für spiritualistische wie für naturphilosophische Spekulationen des 16. und 17. Jahrhunderts charakteristisch sind; so des neuplatonistischen Emanationsgedankens, der Gleichsetzung von Tod und Ruhe oder der Gedankenfigur, dass die Seele als ein Funke von Gott in die geschaffene Kreatur eingesetzt sei.26 Zugleich ist die Argumentation durchzogen von Vorstellungen, die sich unmittelbar auf Böhme beziehen lassen. Am Anfang der Schöpfung steht für Czepko das ungeschaffene, prädikatlose Eine, Böhmes Gott im Ungrund nahe stehend. Dieses »Nicht«27 »setzt sich zum Mittel in das innerste der Natur, und also wird das Einige« (208). Aus diesem emaniert die gesamte Schöpfung, und zu ihm kehrt sie in stufenweise ablaufender Läuterung zurück, indem sie die – seit der Antike bekannte – Goldene Kette bildet; zugleich ist angedeutet, dass dieser Prozess nicht als primordial, sondern als unablässig sich vollziehend zu denken ist. Diese Vorstellung mag von Böhme – möglicherweise auch schon durch Franckenberg vermittelt – angeregt sein, sie ist aber zumindest nicht eng auf dessen Konzept der Theo- und Kosmogonie abgestimmt. Den Gedanken, dass die Natur in allen Geschöpfen, belebten wie unbelebten, wirke, entwickelt Czepko so weiter, dass er an einen Pantheismus gemahnt: »Gott bekennet die Creatur, und die Creatur bekennet wiederumb Gott, und also sind sie eines und Gott, nicht als Creatur, sondern als Gott« (219). Gott »wircket alles in der Natur, durch die Natur, und ist die Natur« (227). Dabei entfällt zumindest die Unterscheidung zwischen dem Gott im Ungrund und dem Gott, der sich selbst eine Verfassung gegeben, darin erste Prädikate angenommen und die Schöpfung initiiert hat; für Böhme ist der Ungrund unerreichbar für Welt und Mensch, auch wenn dieser zu Gott zurückfindet.28 25 26 27

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Haferland (Anm. 23), 98. Die gedanklichen Kernpunkte fasst Annemarie Meier: Daniel Czepko als geistlicher Dichter. Bonn 1975 (Studien der Germanistik, Anglistik und Komparatistik 33), 30–37, zusammen. Czepkos Texte werden zit. n. der Ausgabe: Daniel Czepko: Sämtliche Werke. Hrsg. v. HansGert Roloff u. Marian Szyrocki. 6 Bde. [8 Tlbde.] Berlin/New York 1980–1997 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 94, 128, 130, 131, 141, 146, 150, 152), hier: Bd. V, 149–308, hier: 207. Danach auch die folgenden Zitate (im Haupttext nachgewiesen). Niklaus Largier hat auf diese notwendige Differenzierung hingewiesen: Die Mitte der Zeit: Apokatastasis als Naturerfahrung in Daniel Czepko’s ›Consolatio ad Baronissam Cziga-

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Dieser scheinbare Pantheismus kann dann folgerichtig zur Behauptung einer partiellen Wesensgleichheit von Gott und Mensch führen: »Denn so fern dem Menschen alle zufällige Dinge entnommen werden, so fern ist er mehr Gott als Mensch.« (171) Tatsächlich scheint Czepkos Gedankengang aber auf Böhme zu basieren; denn die Ununterschiedenheit von Seele und Gott wird gerade mit derjenigen Gedankenfigur begründet, mit der Böhme seinen Gott im Ungrund dem Gott vorschaltet, der sich sich selbst gegenüber geoffenbart und eine Verfassung gegeben hat: »Denn er [der Mensch] ist nichts, er weiß nichts als Gott allein, darumb ist er nichts, als Gott, und Gott selbst weiß keinen Unterscheid zwischen ihm und dem Menschen, sonst müste er sich unterscheiden.« (171) Trivial wäre es, den zweiten Teil dieses Satzes zu verstehen im Sinne von: ›Gott kennt keinen Unterschied zwischen sich und Mensch, denn sonst gäbe es ja einen Unterschied.‹ Der Infinitiv »sich unterscheiden« bezieht sich doch wohl auf das Böhme’sche Konzept von Gott, der sich im Unterschied zur Welt eben nicht unterscheidet, der im ›Ungrund‹ absolut frei ist und keinerlei Bedingungen unterworfen, wie er etwa im ersten Kapitel der Gnadenwahl beschrieben wird. Diese Differenzierung und das Konzept eines Gottes, der nicht mit einem Denken in Differenzen erfasst werden kann, scheinen bei Czepko im Hintergrund zu stehen. Sie werden begrifflich allerdings weder ausgeführt, noch werden die konzeptuellen Reibungen mit pantheistischen Bildern angesprochen. Immer wieder lotet Czepko die Grenze zwischen Gottebenbildlichkeit und Gottgleichheit aus: Aber die Natur geust sich nicht in das Bild des Spiegels, nur die Gestalt des Antlitzes. Also muß sich das Göttliche Wesen entbilden in einem guten Menschen; Aber, indem es geschiehet, so stürtzt es seine Natur, und alles, das es leisten mag, über den Willen. Dann dis wesentliche Bild übersetzet den Willen, und der Wille folget dem Bilde in der Menschlichen Seele, und diese Entgiessung des Wesens hat den ersten Ausbruch aus der Natur, und zeucht sich in alles, was die Natur und Wesen kan und vermag, und die Natur entgeust sich gantz und gar mit dem Wesen in das Bild, und gäbe das Wesen der Seele nicht alles der Natur und dem Göttlichen Licht wieder, und stürtzte nicht, was es empfangen, in den Abgrund aller Wesen: ich spräche: Gott wäre nicht seelig. (248)

Ähnliches ließe sich auch an anderen Stellen zeigen: Das Konzept der Böhme’schen Theo- und Kosmogonie ist für den schlesischen Rezipientenkreis der ersten und zweiten Generation attraktiv; Czepko nimmt es in seine eigenen Gedankengänge aber eher punktuell auf und nivelliert es mit anderen pantheistischen oder panvitalistischen Konzepten. Denn ein gedanklich strikt kohärentes Werk ist die Consolatio nicht: Diese groß angelegte Rede von der Überwindung des Todes beginnt ganz quietistisch (erstes Buch), steigt zu christosophischer Lehre fort (zweites Buch), redet dann einer parazelsischen Naturlehre das Wort (drittes Buch) und mündet im letzten Buch in eine auch für das Luther-

neam‹. In: Homo medietas. Aufsätze zu Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Festschrift für Alois Maria Haas zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Claudia Brinker-von der Heyde u. Niklaus Largier. Bern u. a. 1999, 221–239, hier: 230.

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tum tragbare Lehre von der höchsten Freiheit des Menschen: Der unbedingten Nachfolge Gottes ein.29

1660, wenige Monate vor seinem eigenen Tod, verfasst Czepko eine Leichenrede auf die mit knapp drei Jahren verstorbene Prinzessin Louise, eine der beiden Töchter des Piastenherzogs Christian. Diese Parentatio ist überformt von triadischen Strukturen, und dies auf allen Konstitutionsebenen des Textes, von der Wortebene (Reihung von Substantiven oder Adjektiven) bis hin zur semantischen Tiefenstruktur.30 In der Entwicklung der topischen Bestandteile einer Totenrede (Lob, Klage, Trost)31 nutzt Czepko die Gelegenheit, dem Adressatenkreis sein naturphilosophisches und christosophisches Konzept und sein Verständnis von der Bedeutung des Todes zu entwickeln. Und eben deswegen, weil sie nicht in ihrer repräsentativen Funktion aufgeht, ist die Parentatio auch für unseren Zusammenhang interessant. Die Rede ist in drei Fassungen erhalten; der am 17. März 1660 vorgetragenen Version (I.), einer für die Drucklegung entworfenen, wesentlich erweiterten Fassung (II.) und der Druckfassung, in der die Erweiterungen weitestgehend getilgt sind (III.). Von drei imaginierten Emblemen her entwickelt Czepko die Pointe, dass ein dreijähriges Kind aus verschiedenen Gründen für den Tod geradezu prädestiniert, nämlich für das Jenseits überaus gut gerüstet sei. In der erweiterten, dann nicht gedruckten Fassung II verdoppelt er die Auslegung der imaginierten Embleme durch eine jeweils an Erwachsene gerichtete. In diesen drei Zusätzen nun argumentiert er vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Naturspekulation und hermetischer Lehren. Dass dabei die Auferstehung in Analogie zu alchemischen Prozessen erklärt wird, muss noch keineswegs auf einen Böhme-Einfluss hindeuten; für die Engführung von Tränen der Reue und »MAGNET-BALSAM« oder »SALPETER-LAUGE«32 kann zunächst das rhetorische Prinzip arguter Metaphorik in Anschlag gebracht werden. Die Mahnung zur Umkehr und der Hinweis »DAS HIMMELREICH IST INWENDIG IN EUCH« (431) verweist so gut auf Valentin Weigels Konzept der Herzenskirche wie auf Böhme.

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Milch, Czepko (Anm. 4), 131. Vgl. Sibylle Rusterholz: Rhetorica mystica. Zu Daniel Czepkos Parentatio auf die Herzogin Louise. In: Rudolf Lenz (Hrsg.): Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. Bd. 2. Marburg 1979, 235–253; daneben auch Ferdinand van Ingen: Daniel von Czepkos Consolatio ad Baronissam Cziganeam. Tröstung, Rhetorik, Psychologie. In: Die oberschlesische Literaturlandschaft im 17. Jahrhundert. Im Auftrag der Stiftung Haus Oberschlesien hrsg. v. Gerhard Kosellek. Bielefeld 2001 (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien), 171–192. Vgl. zur Textsorte consolatio grundlegend Peter von Moos: Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur über den Tod und zum Problem der christlichen Trauer. 4 Bde. München 1971/72 (Münstersche Mittelalter-Schriften 3), und zum Epicedium des 17. Jahrhunderts, das den gleichen rhetorischen Grundsätzen folgt, Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), 89–147. Daniel Czepko: Parentatio (II) auf die Herzogin Louise (erweiterte Fassung). In: Sämtliche Werke (Anm. 27), Bd. V, 409–447, hier: 418. Die folgenden Nachweise im Haupttext.

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An einer Stelle allerdings wählt Czepko Formulierungen, die man sich ohne Böhme kaum vorstellen kann. Beim dritten zu imaginierenden Emblem solle man sich als Pictura ein »STÜCKE UNGEPRÄGTES GOLD« (431) denken. Das an Erwachsene sich richtende Motto lautet »SPIRITUS CONSUMMATUS« (433), ›der vollendete Geist‹. Die These, dass man zur Erlangung der Vollkommenheit in seinen Ursprungs- und Ruhepunkt zurückkehren müsse – also auch hier der RückkehrGedanke –, wird mit Argumenten aus drei Wissens- (oder Vorstellungs-)bereichen ausgeführt, der Alchemie, der Magie und der Kabbala. Die Magie, »die einige wahrhaffte und göttliche MAGIA oder die verborgene Weißheit Gottes« (436), schwankt konzeptuell zwischen einer Geheim- oder Offenbarungslehre und einem Prinzip im Wirken Gottes, das gewissermaßen quer zum Böhme’schen Konzept des Willens – und deswegen mit diesem nicht recht koordinierbar – die Selbstentäußerung Gottes initiiert und bestimmt: »Also sucht diese MAGIA ihren Urstand in dem Geiste Gottes, durch deßen Regung in dem ewigen Nichts die Sucht, und in dieser der Göttliche Willen, und aus ihm das Wesen aller Dinge entstanden.« (436) Czepkos Magie kann nicht mit dem Böhme’schen Willen identifiziert werden, ist aber gleichwohl auf ihn bezogen: Dann wer hat im Anfange die Sucht: in ihr den ewigen Willen: in ihm die Bildung, in ihr das Wesen rege gemacht, und die unermeßlichen Gebaüde, das UNENDLICHE REICH, Gott zu seinem Throne, den großen Himmel den Engeln zu ihrer Wohnung und die schöne Welt den Menschen zu ihrer Herrschafft aus dem Ungrunde heraus geführet? Die MAGIA.33

Czepko folgt Schritt für Schritt Böhmes theo- und kosmogonischem Konzept:34 Gott ist zuerst der ungeschaffene, einige, ununterschiedene Gott im »Ungrunde« oder, im voranstehenden Zitat, das »ewige[ ] Nichts«; er wird so bezeichnet in Negation zu allem Diskursivierbaren, weil der Mensch das Un-Bedingte nicht wahrnehmen kann und also als Gegenteil von Etwas nur Nichts wahrnimmt. Als ununterschiedener hat Gott einen ungerichteten Willen, die »Sucht«. Indem Gott dann sich selbst eine Verfassung gibt, also sich eine erste Bedingung auferlegt, erfährt diese Sucht eine Richtung, sie wird zum »ewigen Willen« des selbstverfassten Gottes, und aus diesem »Willen« heraus erfolgt die Schöpfung; und zwar werden zuerst die Urformen der ewigen Natur (»Bildung«) und dann die ›reale‹ Welt geschaffen. Weitere Differenzierungen der Böhme’schen Kosmogonie sind nun freilich ausgelassen, aber ihr ganz entsprechend ist es der gerichtete Wille, der die Schöpfung initiiert, zunächst den transzendenten Bereich für Gott selbst und die Engel, dann den immanenten Bereich, die »schöne Welt den Menschen zu ihrer Herrschafft«. All dies Geschaffene hat seinen Ursprung in Gott selbst, im »Ungrund[ ]«, aus dem es emaniert.

33 34

Ebd., 436 f. – Vgl. zu Böhmes Magia-Konzept: Sex Puncta Theosophica. Oder Von Sechs Theosophischen Puncten (1620), Punkt V (SS, Bd. IV, 93–96). Vgl. auch Siegfried Wollgast: Morphologie schlesischer Religiosität in der Frühen Neuzeit. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Hrsg. v. Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), 113–190, hier: 164.

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Punktuelle Bezugnahmen auf Böhme’sche Gedanken lassen sich in Czepkos geistlicher Prosa nachweisen, in den frühen wie in den späten Schriften. Ein exklusiver Referenzpunkt ist damit aber nicht bezeichnet; die in der Parentatio entwickelte Vorstellung von Alchemie, Magie und Kabbala »ist kaum mehr in Einklang zu bringen mit dem, was noch Böhme darunter versteht«.35 Czepko integriert Denkmodelle aus neoplatonistischen, paracelsistischen, kabbalistischen und weiteren naturphilosophischen und hermetischen Lehren in seinen Entwurf. Dieses Versammeln von Argumenten aus verschiedenen Diskurshintergründen verdankt sich der Logik der philosophia perennis, die von einer transhistorischen und transkulturellen Kontinuität basaler philosophischer Fragestellungen ausgeht.36 Diskursiviert ist mit diesem Begriff um die Mitte des 16. Jahrhunderts eine gelehrte Praxis des Zusammentragens von Weisheitslehren, die in eigentlich unterschiedlichen Diskurstraditionen stehen. Eine solche Praxis unterliegt zwar auch Böhmes Schreiben, aber ganz ungewöhnlich ist bei ihm der Grad, mit dem er die verfügbaren Angebote seinem eigenen Konzept integriert; und insofern ist es vielleicht tatsächlich »nicht zuviel gesagt, wenn man Böhme den Anspruch unterstellt, die Supertheorie der Zeit geben zu wollen«.37 Hingegen wird man bei aller »Klarheit« im Aufbau und in der rhetorischen Gestaltung, »die nichts mit dessen [Böhmes] Verworrenheit und wunderlichen Vorstellungen […] gemein hat«,38 aus Czepkos beiden Trostschriften kaum ein geschlossenes Konzept rekonstruieren können;39 möglicherweise ein Hinweis darauf, dass in diskursiven Schriften (und hier handelt es sich zudem um repräsentative Gelegenheitsschriften) eine Aufnahme von Elementen aus Böhmes System nur unter konzeptuellen Brüchen zu bewerkstelligen ist, weil diese überaus implikationsreich und kaum zu isolieren sind. Im nächsten Schritt gehe ich einer solchen Aufnahme in Czepkos Epigrammsammlung Sexcenta Monodisticha Sapientum nach, die unter dem verdoppelten Begründungs- und Rechtfertigungszusammenhang nicht nur geistlicher, sondern auch poetischer Rede stehen.

3. Czepkos Sexcenta Monodisticha Sapientum Viele der in den diskursiven Schriften Czepkos entwickelten Gedanken finden sich im Hauptwerk seiner geistlichen Lyrik, der Epigrammsammlung Sexcenta Monodisticha Sapientum, wieder: so die Emanationsvorstellung, das Konzept eines Buchs der Natur, die Notwendigkeit für den Menschen, um- und in seinen Ursprung zurückzukehren, die Vorstellung einer inneren Kirche, die Suche 35 36 37 38 39

Milch, Einleitung (Anm. 2), XLII. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998. Haferland (Anm. 23), 93. Milch, Einleitung (Anm. 2), XX. Vgl. etwa zur Consolatio ebd., XXXII–XXXIV.

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nach Ruhe. »Nicht wenige Epigramme« erscheinen tatsächlich »als eigentliche Versifizierungen von Stellen aus der ›Consolatio‹«.40 Indem nach Spezifika einer poetischen (und hier näherhin epigrammatischen) Bearbeitung Böhme’scher Theosopheme zu fragen sein wird, richtet sich mein Interesse auf das Zusammenspiel von diskursiven Gehalten, Textstrukturen und phänomenalem Anmutungscharakter im Lektüreprozess. Die Monodisticha versammeln 600 Epigramme, ausschließlich Zweizeiler, in sechs Büchern zu je 100 Epigrammen. Jeder Hundertergruppe ist ein Sonett vorangestellt, das seinerseits von einem eigenen Motto und einer Subscriptio – so könnte man in Analogie zum ›klassisch‹ dreiteiligen Aufbau des Emblems das unter dem Sonett notierte zweite Motto bezeichnen – angereichert ist. Außerdem schreibt jedes Sonett dem Leser eine bestimmte Rolle zu, richtet sich also etwa »AN LESENDEN«, »AN FORSCHENDEN«, »AN SEELIGEN«.41 Diesem sechsteiligen Arrangement ist nun ein Widmungsgedicht von mehr als 500 Versen Länge vorangestellt, flankiert von einigen weiteren Nebentexten. Im Widmungsgedicht, nach der adaptierten antiken Gedichtform als Phaleucus bezeichnet, nimmt Czepko mehrere poetologische Selbstverortungen vor. Einerseits empfehlen die Monodisticha sich dem Adressaten als geeignet für die Stunden der Muße und greifen so den bekannten Nebenstundentopos auf.42 Andererseits tritt das Ich dieses Phaleucus mit enormem Selbstbewusstsein auf und gesteht seinen Epigrammen einen höheren Erkenntnisanspruch zu als den etablierten Wissenschaften, die je mit einem prominenten Vertreter aufgeführt sind. Gegen deren nur zeitliche, immanente Erkenntnisreichweite setzt das Ich seine Sinnsprüche, die auch einen transzendentalen Stellenwert hätten.43 Das dabei zugrundegelegte Konzept vom Fall des Menschen und von den zwei Büchern der Natur und der Schrift, über die man wieder zum Ursprung in Gott finden solle, nimmt Böhme’sche Gedanken und Begriffe auf, prominent das »FIAT« und die Betonung des Aussprechens und Aushauchens: Die NATUR ist ein Licht, das vorgebrochen, Als das ewige FIAT ward gesprochen: Das im I seinen Ausfluß hat gefunden, Der ohn Ende sich an das A gebunden: Und so allen Geschöpffen eingegeben 40

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Meier (Anm. 26), 70; vgl. auch Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Barock-Mystik. Tübingen 1988, 191. Einige knappe Beispiele bei Milch, Einleitung (Anm. 2), XXXVIII. Daniel Czepko: Sexcenta Monodisticha Sapientum (Sämtliche Werke [Anm. 27], Bd. I,2, 517–672, hier: 545, 567 u. 652). – Die einzelnen Epigramme werden im Folgenden mit Angabe von Buch (römische Ziffern) und Nummer (arabische Ziffern), die Sonette, wie hier, unter Angabe der Seite im Haupttext nachgewiesen, das Einleitungsgedicht (ebd., 524–542) mit Angabe der Verse. Phaleucus, V. 81–108; zum Topos Andreas Palme: »Gedichte haben auch jhr Glücke:« Die Sinngedichte Friedrich von Logaus und ihre Rezeptionsgeschichte. Erlangen, Jena 1998 (Erlanger Studien 118), 36–46; Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, 212–222. Zur im Phaleucus entworfenen Wissenschaftssystematik vgl. Milch, Czepko (Anm. 4), 148– 164.

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Geist und Wesen, Gestalt, und Licht und Leben. Dieses FIAT, das ist das Wort und Wesen, Das Gott selbsten war, und Gott hat erlesen: […].44

Unter den folgenden 600 Zweizeilern finden sich weitere Bezüge auf Böhme; aber selten fallen sie so deutlich aus wie in den eben zitierten Versen des Einleitungsgedichts. Die epigrammatische Ökonomie der Verknappung, von Czepko mit seiner strikten Beschränkung auf Zweizeiler aufs Konsequenteste durchgeführt, lässt keinen Raum, die Bezüge auf welche Quellen und Anregungen auch immer deutlich zu markieren.45 Das ›Fiat‹ kann man im Epigramm IV 53 wiederfinden, aber nicht notwendig muss man diesen Bezug herstellen; denn dort ist vom »ewge[n] Wort« die Rede, und damit ist nicht unbedingt der Böhme’sche Gedanke einer perpetuierten Schöpfung aufgenommen. Ebenso könnte man an eine von Anbeginn an bestehende Gültigkeit der Schöpfung durch das Wort denken, und das stünde durchaus im Einklang mit dem biblischen Schöpfungsbericht.46 I 24 lässt an Böhmes Konzept von Licht- und Zornqualität denken, die in Gottes Wesen zusammenfallen: »Bey Gott ist Gnad und Zorn. Die Glut bringt beyde für, | Die umb Ihn ist, giebt Tod: die in Ihm, Krafft und Zier.« Aber auch hier könnte man zögern: Weckt der zweite Vers nicht auch Assoziationen mit dem alttestamentarischen Gott, der sich einen eifernden Gott und ein verzehrendes Feuer (Dt 4,24) nennt? Dessen Zorn wäre auf einer anderen Ebene anzusiedeln als Böhmes viel abstraktere Gedankenfigur, auch wenn dieser sich in der Gnadenwahl gerade auf die Deuteronomium-Stelle bezieht, um seine Gegenüberstellung von Licht- und Zornqualität zu illustrieren. In einem Epigramm des sechsten Buchs spürt Czepko den Bestandteilen des Wortes ›Mensch‹ nach (VI 69): M – – ENS M – – EINS. ENS: Das gemeint dich MENSCH: MENS sondert dich in dir: Denn MENS das bringt mein ENS, und MEINS mein EINS herfür.

In der Gnadenwahl stellt Böhme Reflexionen über ›Mens‹ und ›Ens‹ an, auf die Czepko sich möglicherweise bezieht. Für Böhme wird »Jm MENS […] die lebendige Wesenheit, welche geistlich ist, verstanden, als ein gantz geistlich Wesen«; »[u]nd im ENS wird das Leben der sieben Eigenschaften der Natur verstanden, als das empfindliche wachsende Leben […].« ›Ens‹ verwiese demnach auf die kreatürliche, ›Mens‹ auf die geistig-seelische Seite des Menschen; und diese Differenz (Czepko: »sondert dich in dir«) wird allererst durch die ›Mens‹ gesetzt. Gleichwohl geht bei Böhme die ›Mens‹ dem ›Ens‹ vorauf: »Jm MENS wird ver44 45

46

Phaleucus, V. 321–328. Angelus Silesius wird in seinem Cherubinischen Wandersmann nicht nur in der Vorrede, sondern gelegentlich auch in Fußnoten unter einzelnen Epigrammen klarstellen, wie einzelne möglicherweise provozierende Formulierungen gemeint seien. Vom »ewge[n] Wort« ist auch in II 79 zu lesen, dort liegt die Assoziation mit Böhme näher; ich komme auf II 79 zurück.

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standen die G=ttliche heilige Kraft in der Fassung des Worts […]«.47 Und so ist es nur stimmig, wenn im Epigramm das »MENS […] mein ENS« hervorbringt. Die Parallelführung mit ›meins‹ und ›eins‹ aber öffnet die präzise auf Böhme beziehbaren Verse auf kaum mehr exakt zu bestimmende Assoziationsräume: Wird hier die Abgrenzung des Ich gegen ein Außen (»MEINS mein EINS«) mit der Kraft des göttlichen Wortes analog gesetzt, sodass in ihr das meditierende Individuum sich seiner bewusst werden kann? Ein anderer Zweizeiler zerlegt das Wort »M. ENS. CH.« in drei Komponenten, die auf »MENS«, »ENS« und auf den »CHrist[en]« (VI 50) im Menschen verweisen; keine weitere Reflexion schließt sich an, sodass man in ihnen den Christen als verstandesmäßiges, kreatürliches und gläubiges Wesen bestimmt sehen kann, aber nähere Böhme-Bezüge nicht nachzuweisen sind. Von der prinzipiellen Unterscheidung geistig-körperlich oder beseelt-kreatürlich geht zwar auch Böhme bei seiner Reflexion über ›Mens‹ und ›Ens‹ aus; sie ist aber ihrerseits nur eine Interpretation basalerer Konzepte von der ›doppelten Natur‹ des Menschen, auf die Czepko sich bezieht. Die in der epigrammatischen Verdichtung nur vagen Bezüge auf konkrete philosophische oder spiritualistische Lehren, seien sie heterodox oder nicht, haben möglicherweise dazu beigetragen, dass man die Monodisticha gelegentlich unter dem eher unverbindlichen Signum ›Pantheismus‹ verbucht hat.48 Eine ganze Reihe von Zweizeilern mögen Argumente dafür liefern; wenn sie aber nicht für sich, sondern in einer ›konjizierenden Lektüre‹ wahrgenommen werden, zeigt sich, dass das synkretistische naturphilosophische Konzept doch auch deutlich Böhme’sche Züge trägt. In einem Epigramm des ersten Buchs wird die schon im Phaleucus (bes. V. 317 ff., 497 ff., 535 ff.) stark gemachte Gedankenfigur der zwei-Bücher-Lehre aufgenommen; das ihm folgende Gedicht hat jenen IndexCharakter der Schöpfung zum Thema, der sich zwanglos aus der frühneuzeitlichen Signaturenlehre ableiten ließ (I 71; 72):49 EINIGE DAS GETHEILTE. Wie Gott und Mensch, so ist geeint NATUR und SCHRIFFT, Wol dir, wann Seel und Leib auch so zusammen trifft. DAS LEBEN REDET. Ich hatte kaum das Licht in dieser Welt erkiest, Da schrie ein iedes Ding mir sämmtlich zu: Gott ist.

47 48

49

Alle Böhme-Zitate: Gnaden-Wahl 5,1–4 (SS, Bd. VI, 51); die Verwendung der Antiqua-Type ist durch Kapitälchen wiedergegeben. Kemper (Anm. 40), 183–207: »Pantheismus als Selbstbefreiung des Menschen (Czepko)«; Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550–1650. Berlin 1988, bes. 839–841; ders.: Morphologie (Anm. 34), 164; zuletzt Alt (Anm. 15), 35. Friedrich Ohly hat darauf hingewiesen, dass der frühneuzeitlichen »Signaturenlehre das radikal Neue eigen [sei], daß die Signaturen strikt immanent in die Natur hineinweisen« (Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit. Bemerkungen zur mittelalterlichen Vorgeschichte und zur Eigenart einer epochalen Denkform in Wissenschaft, Literatur und Kunst. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Uwe Ruberg u. Dietmar Peil. Stuttgart, Leipzig 1999, 6).

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Zwei Gedanken werden hier enggeführt, die sich jeweils in eigenen Textreihen durch die Sammlung der Monodisticha verfolgen lassen. Mit I 72 wird die Frage nach der Möglichkeit einer Gotteserkenntnis aus der Erkenntnis der ›natura loquax‹50 aufgeworfen, bleibt aber zunächst wenig konturiert: Gemahnt die sinnvoll eingerichtete Welt lediglich an Gott als ihren Schöpfer, oder ist sie näherhin geeignet, einen Weg der Gottessuche zu initiieren und zu begleiten? Das folgende Epigramm (I 73) greift den Gedanken auf und stellt entschiedener Naturhermeneutik als Weg zur Gotteserkenntnis vor. Ganz ähnlich III 10: »Das Gräslein ist ein Buch, suchst du es aufzuschliessen, | Du kanst die Schöpffung draus und alle Weisheit wissen.« Die Verse scheinen sich zwar auf innerweltliche Erkenntniszusammenhänge zu beschränken. Ihre Überschrift allerdings deutet an, dass »alle Weisheit« mehr meinen könnte als ein Wissen über die Immanenz der gottgeschaffenen Natur: »ALLES VOLL GOTT.« Das lässt sich pantheistisch lesen, und es wäre dann nur folgerichtig, dass die Erkenntnis der Natur und die Gottes miteinander verschränkt sind. In einem anderen Gedicht wird ebenfalls Naturdeutung auf das Erkennen von Gott bezogen. Aber nicht in pantheistisch begründeter Verschränkung, sondern in einer gestaffelten Abfolge, so heißt es hier, seien die einzelnen Erkenntnisschritte aufeinander bezogen. Das lässt an die neuplatonistische Emanationslehre denken; sie scheint hier aber im Sinne der Böhme’schen Theo- und Kosmogonie akzentuiert zu sein, wenn auch das ›Fiat‹ eine eigenständige Phase bildet (II 79): GOTT: WORT: NATUR: Folg ihr, biß daß du siehst das ewge Wort: ES SEY. So kommst du der NATUR, dem WORT, und GOTTE bey.

Die Verse sind, bedenkt man die ihnen zugrunde liegenden Konzepte, nicht ohne Risiko. Denn anders als in der neuplatonistischen Vorstellung von der Goldenen Kette, die im Ausfluss alles Geschaffenen aus Gott und der sukzessiven Läuterung und Rückkehr zu ihm gebildet wird, ist bei Böhme ja ein Bruch gedacht zwischen Gott im Ungrunde und dem im ›Fiat‹ sich selbst entäußernden Gott. Gott im Ungrunde aber kann nicht erkannt werden, er ist ›Nichts‹, die Negation aller Prädikate. »So kommst du […] GOTTE bey«? Von hier lohnt sich ein Blick zurück zum Ausgangspunkt der so gebildeten Reihe, wo die Fragen nach Gotteserkenntnis und Gottebenbildlichkeit zusammengeschlossen sind (I 71): Die beiden Bücher der Schrift und der Natur werden dem Du ja nicht als ›Medien‹ der Verkündigung und der Heilslehre genannt, sondern sie illustrieren eine Verbindung von Gott und Mensch, die der Leser auf sich selbst zu übertragen hat: Sein ihm von Gott eingegebener und sein kreatürlicher Anteil sind in Einklang zu bringen. Das scheint einer Wesensgleichheit von 50

So der Titel eines naturkundlichen Thesaurus von 1630. Vgl. Wolfgang Harms, Heimo Reinitzer: Einleitung. In: Natura loquax. Naturkunde und allegorische Naturdeutung vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit. Hrsg. v. dens. Frankfurt a. M. u. a. 1981 (Mikrokosmos 7), 7–16, hier: 12.

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Gott und Seele das Wort zu reden, wie sie auch in IV 70 formuliert ist (»Gleich ist die Seele Gott […]«); es steht aber anderen Epigrammen entgegen, die sehr genau darauf halten, dass die Seele nur als Bild Gottes und ihm nur ähnlich zu beschreiben sei (IV 38, V. 2: »Was sie [die Seele] im BILDE hat, das hat der Höchst im WESEN.«). Der Widerspruch wird – freilich nur punktuell – entschärft in IV 68 (»GOTTES-BILD, GOTT«) und in V 55, das eine Wesensgleichheit von Bild und Ursprung postuliert: EBEN/: DASSELBIGE:/ BILD. Gott und sein Bild sind gleich. Du siehst ein einges Wesen: Wann du das DEIN in IHM: das SEIN in DIR erlesen.

Man könnte der vorgeführten Lektüre entgegenhalten, dass sie Zusammenhänge gegen den Text herstelle; dass sie Gedichte aus dem ersten mit solchen aus dem dritten und vierten Buch der Monodisticha zusammenschließe und eigene Abfolgen schaffe, die der überlieferte Text so nicht kennt. Dieses Argument ließe sich zunächst mit Hinweis auf Lesepraxen in der Frühen Neuzeit entschärfen. Es sind Modi gelehrten Lesens bekannt, die nicht so sehr die Gesamtaussage eines Textes oder die Stellung eines Argumentes im entwickelten Gedankengang zu erfassen suchen, sondern wesentlich interessegeleitet sind und einen Text durchaus eklektisch wahrnehmen.51 Und denkbar ist eine Praxis geselligen Lesens, das in gemeinschaftliches Reflektieren übergehen (und sich darin weiter vom Text ablösen) kann. Ähnliches, wenn auch spielerischer grundiert, führt Georg Philipp Harsdörffer in seinen Frauenzimmer-Gesprächsspielen vor. Zweitens aber ist der oben illustrierte Lesemodus in der Struktur der Monodisticha selbst angelegt; sie stellen ja keine Sammlung im Sinne nachträglicher Kompilation dar, sondern eine vom Verfasser verantwortete, wie locker immer strukturierte Komposition.52 Sie ist beschreibbar als eine parataktische Reihung von kurzen, in sich abgeschlossenen Einzeltexten ohne weitere hierarchische Organisation, die mit einer Gliederung in sechs Teile und einer programmatisch teleologischen Ausrichtung in den Sonetten konkurriert. Denn in den Sonetten vor den sechs Hundertergruppen wird tatsächlich inszeniert, dass der Lesende allmählich zu Gott finde, wie es der Phaleucus an einer Stelle selbstbewusst ankündigt.53 In unmittelbarer Abfolge gelesen, markieren sie eine Aufstiegsbewegung, 51

52

53

Vgl. im Überblick Helmut Zedelmaier: Lesetechniken. Die Praktiken der Lektüre in der Neuzeit. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Helmut Zedelmaier u. Martin Mulsow. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64), 11–30. Dass der weitgehende Konsens seitens gattungstheoretischer Forschung, das Epigramm sei unter anderem durch Isoliertheit von seinem Kotext zu definieren, gerade den Epigrammbüchern und -sammlungen der Frühen Neuzeit nicht gerecht werde, ist die These von Jan-Steffen Mohr: Epigramm und Aphorismus im Verbund. Kompositionen aus kleinen Textformen (Daniel Czepko, Angelus Silesius, Friedrich Schlegel, Novalis). Frankfurt a. M. u. a. 2007 (Mikrokosmos 78): Die strukturalistische Bestimmung trage den historisch erwartbaren Gebrauchszusammenhängen und den vom Textarrangement selbst angebotenen Funktionalisierbarkeiten nicht im nötigen Maße Rechnung. »Also machen die Menschen diese Reime | Durch den Weg der Natur mit Gott geheime […]« (Phaleucus, V. 377 f.).

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die zunächst scheitert und dann durch eine Bewegung nach innen ersetzt wird; sie führt den Leser von seiner Rolle als »LESENDE[M]« zu der als »BEFREYTE[M]« und schließlich als »SEELIGE[M]« (545, 610, 652). In dieser Rolle erlebt er den mystischen Durchbruch als unmittelbar bevorstehend: »Hier beschleust das Sechste Hundert, numehr fält der SABBATH ein […]« (652). Diese klare Linearität bietet der Text aber nur in den Sonetten an. In den Epigrammen selbst ist kaum eine inhaltliche Gewichtung nach den sechs Hundertergruppen und in Abstimmung mit den jeweiligen Sonetten zu erkennen.54 So aber entfaltet sich in den Monodisticha ein Sinnzusammenhang auch unabhängig von theologischen oder philosophischen Referenzen, punktuell gar gegen diese.55 Seine Konstitution ist auf den Prozess der Lektüre verlagert. Deutlich lädt Czepko dazu ein, die Gedankensplitter der Zweizeiler als Anregung und Anfang zu eigenem Weiterdenken zu begreifen. »MEHR DENCKEN, ALS LESEN« ist das die ersten hundert Epigramme einleitende Sonett unterschrieben (545); und Czepko adressiert seinen Epigrammzyklus an Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar, seit 1651 Haupt der Fruchtbringenden Gesellschaft, als »Der Zuversicht lebende, die Fruchtbringende Gesellschafft werde mit mir das Ende der Dinge bedencken […]« (522). Das mag zum Teil einer Konvention vormoderner Geselligkeit56 und nicht zuletzt dem Anlass der Adresse selbst verpflichtet sein (mit den Monodisticha bewarb sich Czepko auf Empfehlung Franckenbergs um Aufnahme in die Gesellschaft);57 dahinter steht aber auch die Vorstellung eines gemeinsamen Philosophierens und Spekulierens, das in der textuellen Faktur der Monodisticha selbst angelegt ist. Böhme-Gedankengut wird mitunter deutlich aufgerufen, rückt aber in andere Gedankenbewegungen ein. Es verliert dabei sein präzises philosophisches Profil und gewinnt an konnotativen Bezügen. So bieten sich beinahe stets assoziative Verknüpfungen zum voranstehenden und zum folgenden Zweizeiler an. VI 53, eine kurze Feier des unabsehbar weiten Sternenhimmels, lässt sich mit seiner Überschrift (»UNENDLICH«) kontrastiv auf das nachstehende Epigramm beziehen; die ganz ohne Pointierung oder Folge54

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Vgl. etwa Milch, Einleitung (Anm. 2), XXXVII f.; Sudhof (Anm. 4), 236; Friedrich Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Die Wandlungen im religiösen Bewußtsein Daniel Czepkos (1605– 1660). In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 51 (1932), 480–511. Allerdings scheint es etwas dramatisiert und zugleich die Möglichkeiten integumentaler Rede überschätzend, wenn Kemper ([Anm. 40], 191) davon ausgeht, die argut verkürzte Schreibform der Distichen sei »ein vorzügliches Medium zur Artikulation von häretischen Auffassungen, welche der Eingeweihte verstand, ein Zensor aber nicht voll zu greifen vermochte«. Tatsächlich wurden die zum Druck bestimmten Monodisticha zensiert und sind nur in einer Abschrift von 1723 erhalten. Zu den Hintergründen vgl. Werner Milch: Drei zeitgenössische Quellen zur Biographie Daniel von Czepkos. In: Euphorion 30 (1929), 257–281; das dort mitgeteilte Schreiben von Czepkos damaligem Sekretär Zacharias Allert jetzt auch in Czepkos Sämtlichen Werken ([Anm. 27], Bd. 6, 242–252, hier: 250 f.). Vgl. Wolfgang Adam (Hrsg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28). – Wenn man den älteren Darstellungen glauben darf, entspricht dies eben der Praxis der Kreise des schlesischen Landadels, in denen Czepko sich bewegte; vgl. Wilhelm Wyrtki: Czepko im Mannesalter. Diss. masch. Breslau 1923, 103 f. (zit. in Milch, Einleitung [Anm. 2], XIX–XXI; kritisch dazu Milch, Einleitung [Anm. 2]). Die Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft scheiterte aus ungeklärten Gründen.

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rung auskommende Beobachtung leitet dann hinüber zur Reflexion auf den »URSPRUNG« des schön eingerichteten Kosmos – freilich in spezifisch Böhme’scher Konzipierung; es ist nicht einfach »Gott«, der den »Himmel« (VI 53) geschaffen hat. Das Wort vom Ursprung ist wörtlich zu verstehen, Czepko paraphrasiert, in starker Verknappung, die Böhme’sche Theo- und Kosmogonie (VI 54): URSPRUNG. Der Abgrund ist das NICHT. Das Nicht ist dann die Sucht, Draus kam die Welt und ich: Gott hat es bloß vermocht.

Wiederum das folgende Epigramm schafft mit der Frage »Wer zehlt die Stern, und rufft mit Nahmen ihnen für?« den Rückbezug zu VI 53 und stellt dem Böhme-Gedicht den (alttestamentarischen) Schöpfergott gegenüber.58 Die deutlichen Böhme-Anklänge sind damit eingedämmt, die devianten Positionen erscheinen wie eingerahmt von schlichter Beobachtung und Bibelallusion. Ein letztes Beispiel: WORT: BROD: IM

BROD: WORT. Dich nährt die Krafft, die aus dem Körnlein also frey, Schoßt, blühet, körnert, reifft: Was ists? Das Wort: ES SEY. UNTERM GERINGEN DAS GROSSE. Das innrg von der Speis erhält dich: das ist schlecht. Schlecht: es ist voller Gott, darum gebrauch es recht. DANCKE GOTT. Wie mild und fromm ist Gott: Du issest seine Güte, Verschwelge sie ja nicht, daß er dich fort behüte.

Diese kurze Folge von Epigrammen aus dem sechsten Buch der Monodisticha (VI 76–78) ist lose verbunden über das semantische Feld ›essen‹. Das erste scheint den Böhme’schen Gedanken von der Schöpfung in Gottes Wort ›Fiat‹ zu enthalten, die in einem immerwährenden Akt des Sich-Entäußerns Gottes perpetuiert sei. Deshalb ist es nicht die Natur und näherhin das Korn an sich, das von Gott geschaffen wurde, sondern die Schöpfung vollzieht und wiederholt sich in jedem einzelnen Korn; und in jedem »BROD« ist folgerichtig die lebenspendende Kraft Gottes enthalten. Diese argumentative Einbettung ist nun nicht ausgeführt; der spezifisch böhmistische Hintergrund ist angeboten, muss aber nicht zwangsläufig mitgedacht werden. Das Epigramm und die beiden ihm folgenden bieten daneben auch andere Konnotationen an. Die Überschrift ist zunächst geeignet, Assoziationen an die Einsetzungsworte zu wecken; dass das dargereichte »BROD« hier nicht etwa Christi Leib sei, könnte für den zeitgenössischen Leser gerade den 58

Es klingen Gen 15,5 (»suspice caelum et numera stellas si potes«) und Ier 33,22: (»sicuti numerari non possunt stellae caeli et metiri harena maris«) an (Zitate nach: Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Hrsg. v. Roger Gryson. 4., verbesserte Aufl. Stuttgart 1994).

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Reiz darstellen, den ein argutes Spiel mit Erwartungen und Enttäuschungen bereiten soll. Der erste Vers und auch noch das folgende erste Kolon erinnert zudem an die neuplatonistische Vorstellung der Schöpfung als eines ewigen Ausflusses von und aus Gott (das »Wort: ES SEY« als diesen Emanationsprozess begründender Akt wäre damit noch nicht abgedeckt). Im folgenden Zweizeiler (VI 77) ist dann die Hülle-Kern-Metaphorik aufgerufen, die zwischen Textoberfläche und darunter verborgener Bedeutung unterscheidet.59 Eine Pointe läge dann im provozierenden Gebrauch von »schlecht«: Denn nicht minderwertig ist das nichtMaterielle der »Speis«, sondern, so muss man wohl lesen, im älteren Wortsinne von ›schlecht‹ schlicht und damit gerade, unverfälscht. Vor dem Hintergrund des voranstehenden Epigramms gelesen, würde dann die Gedankenfigur von der geistigen Nahrung mit dem Böhme’schen Gedanken vom schöpfenden und in die Schöpfung sich entäußernden Gott eine spezifische Füllung erfahren. Vom dritten Distichon VI 78 dann lässt sich ein Bogen zurückschlagen zum ersten der Reihe; von hier aus würde sich auch die Assoziation mit den Einsetzungsworten in der Überschrift von VI 76 verstärken; und man könnte weiter überlegen, ob nicht im Sinne der lutherischen Umdeutung der Eucharistie von der realen Transsubstanziation hin zu einer Gedächtnisfeier eben nicht mehr formuliert ist: du isst Gott, sondern dass das Gott-Essen als nur mehr symbolisiert gedacht ist. Der Böhme’sche Gedanke vom schöpfenden Wort ›Fiat‹ ist eingegliedert in andere (natur)philosophische wie biblische Traditionshintergründe. Das Changieren zwischen Böhme-nahen und dann wieder -fernen Formulierungen wird aber kaum als Bruch wahrgenommen; und eben dies könnte man als die spezifische Leistung der Monodisticha ansprechen, die in der Spannung zwischen epigrammatischer Verknappung und ›offener‹ Struktur begründet liegt. Ferdinand van Ingen hat vor kurzem darauf hingewiesen, dass Böhmes ungewohnte Vorstellungen für ein Dichten attraktiv sein mussten, das dem rhetorischen Prinzip der argutia gehorcht: »Die Lyrik der Schlesier greift die Gedankensplitter des Ungewohnten auf und nutzt sie zu neuartigen poetischen Valeurs.«60 Aber nicht schon in der Aufnahme überraschender Begrifflichkeiten scheint sich eine ›poetische‹ Böhme-Rezeption auszuzeichnen, sondern gegenüber Czepkos Trostschriften liegt allererst in der Offenheit, die den Leser zu eigener Initiative anregt, die Leistung seines Epigrammzyklus.

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Zur Tradition grundlegend Hans-Jörg Spitz: Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends. München 1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften 12), bes. 61–72; Gerhard Ebeling: Art. »Geist und Buchstabe«. In: RGG, Bd. 2, 1290–1296. Ferdinand van Ingen: Jacob Böhme und die schlesischen Dichter Daniel von Czepko, Johannes Scheffler und Quirinus Kuhlmann. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 117), 243–265, hier: 251. Vgl. auch Peter Rusterholz: Jakob Böhmes Naturbild und der Stilwandel der Dichtung vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Gott, Natur und Mensch (Anm. 10), 209–221.

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4. Sinnentgrenzung und philosophia perennis: Franckenbergs Raphael Franckenbergs Schrift Raphael oder Artzt-Engel, 1639 verfasst, aber erst postum 1676 zum Druck gelangt,61 hat der Forschung lange als »vollkommene Paraphrase Böhmes«62 gegolten. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, hat sie bisher insgesamt wenig Aufmerksamkeit erfahren; das betrifft nicht nur Inhaltlich-Thematisches, sondern insbesondere die textuelle Faktur des Traktats. Das Heilmittel, das unter dem Namen des Erzengels Raphael verkündet wird, richtet sich gegen die metaphysische Versehrtheit des Menschen. Franckenberg entwickelt eine zweigeteilte Kosmogonie »Ausser Creatur« und »In Creatur«, in deren Ordnung der Mensch eigentlich »zu einem warhafftigen/ G=ttlicher Natur theilhaftigen/ Sohne oder Kinde Gottes werden k=nnen«63, wenn er nicht vom Teufel zum Abfall von Gott bewegt worden wäre. So aber ist er sterblich, und sein metaphysisches Heil ist einer »angeerbte[n] Geist- und Leibliche[n] KRANCKHEIT« (12) gewichen. Das ist nun kosmologisch – die göttliche Heilsordnung betreffend – und zugleich auf den Einzelnen bezogen gemeint: Der Sündenfall kann sich – muss aber nicht – in jedem Menschen wiederholen. Die vom Ich des Textes Franckenberg angebotene Medizin ist in zweierlei Weise zu gebrauchen, nämlich »erstlich PROPHYLACTICÈ vor dem Falle« (15) und zweitens therapeutisch für denjenigen, der den Abfall von Gott in seinem eigenen Verhalten aktualisiert und bestätigt hat. Die Medizin selbst besteht aus drei Arzneien, der kabbalistischen oder geistlichen, der magischen und der »CHYMISCHE[N] | Oder sinnlich/ leiblich und im Fleisch empfindliche[n]« (35). Diese letztere Medizin erhält den breitesten Raum; sie speise sich aus fünf Quellen, erstens aus ›geistlichen und leiblichen‹ Elementen, aus Tieren, Pflanzen, Gesteinen und schließlich einer Sparte »Von allerley gemischten Dingen« (39). Unter diesen drei Klassen metaphysischer Heilmittel mit ihren Untersparten werden jeweils Bibelstellen genannt und anzitiert, die als Beleg für das wirkende Prinzip dieser drei Arzneien dienen. Franckenberg ruft neben spezifisch böhmistischen Konzepten und Terminologien ein breites Spektrum alchemistischer (»CHYMISCHE«; S. 35),

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Czepko hatte den Traktat im Manuskript kennen gelernt; davon zeugt nicht nur ein Epigramm (in: Kurtze Satyrische Gedichte V, 42 [Sämtliche Werke (Anm. 27) I,1, 309 f.]. Die Datierung ist wie bei den meisten in den Satyrischen Gedichten zusammengestellten Epigrammen unsicher; einen Hinweis gibt das im gleichen Buch notierte Gedicht 38, das sich auf ein Ereignis des 9. Mai 1645 bezieht), sondern auch die Erwähnung im den Monodisticha vorangestellten Widmungsgedicht (V. 181 f.). Hubert Schrade: Beiträge zu den deutschen Mystikern des 17. Jahrhunderts II: Abraham von Franckenberg. Diss. masch. Heidelberg 1923, 102. Ich zitiere nach dem – auch online einsehbaren – Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München (Signatur: 4 Asc. 346): RAPHAEL oder Artzt-Engel. Auff ehmaliges Ersuchen eines Gottliebenden Medici. A. S. Auffgesetzt von H. Abraham von Franckenberg […] Amsterdam 1676, hier: 7. Hiernach auch die folgenden Nachweise im Haupttext (die Verwendung der Antiqua-Type ist durch Kapitälchen wiedergegeben; wo der Druck Majuskeln verwendet, konnte sie nicht mehr eigens ausgewiesen werden).

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paracelsistischer,64 ›magischer‹,65 kabbalistischer und naturphilosophischer Erkenntnisse auf. Die den Zusammenhalt dieser im weitesten Sinne ›hermetischen‹ Wissenschaften garantierende Basis ist eine quasi metaphysisch erweiterte Signaturenlehre. In Verbindung mit einer neuplatonistischen Emanationslehre stellt das ›Buch der Natur‹ nicht nur ein für den Menschen prinzipiell entschlüsselbares Beziehungs- und Verweissystem innerhalb der Schöpfung dar, sondern es verweist auch zurück auf den Ursprung der Emanation, auf Gott. Aus dem Wissen, dass im Sinne dieses Verweissystems alles mit allem in Beziehung stehe und man diese verborgenen Beziehungen ergründen und benennen müsse, resultiert die textuelle Faktur der Schrift und davon unablösbar ihre typographische Gestaltung. In seinem »im historischen wie im umgangssprachlichen Sinn ›hermetisch‹ anmutenden Schriftbild[ ], das auf den heutigen Leser zweifellos irritierend wirkt«66 dürfte das Hauptfaszinosum des Raphael liegen. Auf den ersten Blick fällt ins Auge, wie der Text umgeben ist von Marginalien, aufgelöst wird in tabellenartigen Schemata und beinahe in jeder Zeile überlagert ist von sekundären Bezügen, indem einzelne Wörter, Silben oder nur Buchstaben typographisch ausgezeichnet werden. Das fordert eine Beschreibung seiner ›Paratextualität‹ geradezu heraus – wobei schnell deutlich werden dürfte, dass das von Gérard Genette vorgelegte, immer noch maßgebliche Theorieangebot zum Paratext hier an seine Grenzen stößt (Genette legt seiner Darstellung weitgehend moderne Texte zugrunde).67 ›Produktionsästhetisch‹ haben diese paratextuellen Elemente im Prinzip durchaus den Status von Paratexten im Genette’schen Sinne: Sie belegen das im Haupttext Gesagte mit auctoritates, verweisen auf weiterführende Literatur, ergänzen den Haupttext oder perspektivieren ihn neu. Schwieriger umzugehen ist mit den tabellenartigen ›Auflösungen‹ des Fließtextes. Die zahlreichen typographischen Hervorhebungen (die Genette ebenfalls noch zu den Paratexten zählt68) dienen natürlich dazu, auf Worte oder Wortbestandteile und damit auf Sachzusammenhänge zwischen den damit bezeichneten Dingen aufmerksam zu machen. Das Wort ›Arznei‹, das für den Text eine zentrale Rolle spielt, wird entsprechend aufwändig (und moderne Textverarbeitungsprogramme heillos überfordernd) erläutert:

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Vgl. Maria Paola Scialdone: »Aller Heilsamste Mum Iah«: Lebensbalsam (pseudo-)paracelsiano e »Selbsterlösung« nel ›Raphael‹ di Abraham von Franckenberg. In: Studi germanici 39 (2001), 7–35. Zum Magie-Begriff in der Frühen Neuzeit vgl. etwa Peter Cersowsky: Magie und Dichtung. Zur deutschen und englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1990, zu Franckenberg 140–153. Rusterholz, Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme (Anm. 5), 231. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M./New York 1989. – Zu neueren Modellbildungen vgl. v. a. die einschlägigen Beiträge in Frieder von Ammon u. Herfried Vögel (Hrsg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Berlin 2008 (Pluralisierung & Autorität 15). Genette (Anm. 67), 14.

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Abb. 1: München: Bayerische Staatsbibliothek: 4 Asc. 346, S. 21 (Ausschnitt)

Während dieser zweite große Abschnitt des Traktats mit den drei Arzneien nicht zwangsläufig vor der Folie Böhmes gelesen werden muss, gibt die am Anfang präsentierte Kosmogonie detailliert die Vorstellungen Böhmes über die Selbstentäußerung Gottes und den Beginn der Schöpfung wieder: 2.

Also fassete Er nun in diesem seinem Vorsatz, einen innigen zu sich selbst gekehrten Willen, oder geistliches Wallen, und aufqu(llen. 3. Und der Wille zog sich in ein kr(ftiges Begehren: (wie der junge Most, in seinem CIRCULIREN, pfleget zu gyren oder zu g(hren.) 4. Und die Begierde gebahr in sich ein dringendes GelFsten, oder S(hnen. 5. Die Lust erweckte ein in sich selber Dringen, Ringen und Bewegen. 6. Und die Bewegung erregete den Geist der AEwigen NATUR im Centr○ verborgen. 7. Und der Geist rFhrete, rieb, rang und drang, s(hnete, (ngstete und erw(rmte sich in und mit sich selber zu einer gem(ßigten W(rmde. 8. Diese W(rmde gebahr auß sich eine grosse umb sich fahende Hitze. 9. Von welcher stieg auf ein subtiler Dampf oder geistlicher RAUCH und Nebel. 10. Dehme folgete der GeRuch, und die EntzFndung, so da war ein G=tliches FbernatFrliches FeUR. 11. In welchem […] das LEBEN, das ist, das AEwige Allm(chtige WORT LICHT und GEIST als ein stilles und sanftes Sausen. (2 f.)

Neben dem Inhalt entspricht auch die phonetische Kette ›Wille, Wallen, quellen‹ Böhme. Allerdings wird Klangähnlichkeit an anderen Stellen des Traktats eher noch weidlicher ausgenutzt, wie die Begründung des Wortes ›Arznei‹ gezeigt hat. Ähnlich im Weiteren: Franckenberg erweitert die kabbalistische Technik der »Temura, die jenen geheimen Sinn durch Umstellung der Buchstaben gewinnt, zu einer Art natursprachlicher Komparatistik, wenn er das hebräische ›RUACH ÆLOHIM‹, den (lebengebärenden) Geist Gottes, der nach Gen 1,2 über den Wassern schwebte, über den Gleichklang mit dem deutschen Wort ›RAUCH‹ auf ›NEBEL‹ bezieht, aus welchem sich durch Umstellung ›LEBEN‹ ergibt«.69 Kabbalistische Spekulationen, die von einem Gleichklang der Wörter auf einen Sachzusammenhang der bezeichneten Dinge schließen, kennt natürlich auch 69

Rusterholz, Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme (Anm. 5), 230 f.

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Böhme:70 Wenn es etwa in der Morgenröthe heißt, dass die »Quell-geister uhrplitzlich mit dem hohen Liechte inficiret oder umbfangen worden«, und kurz darauf vom »Plitz«71 die Rede ist, dann sind die Wörter ›plötzlich‹ und ›Blitz‹ lautlich aneinander angelehnt, und zwar so, dass ein auch sachlicher Zusammenhang plausibel gemacht wird. Die Rede vom »Plitz« ist schon vorbereitet, das Moment des Überraschenden, Plötzlichen wird fortgeführt, beide Worte beglaubigen einander und den Sachverhalt: […] die gesamte Argumentation dient […] der Bestätigung der Validität des metaphysischen Bezugsrahmens, ist im Grunde eine Erscheinungsform dieses alles dominierenden Bezugsrahmens. […] Sämtliche Phänomene der Natur und des geistigen Lebens interessieren nur insofern, als sie dieses Göttliche zum Ausdruck bringen.72

Indem den Klangähnlichkeiten letztlich das Verweissystem der Signaturenlehre zugrundeliegt, plausibilisieren, autorisieren und ontologisieren sie die Böhme’sche Lehre; insofern gehorcht ihre Funktionalisierung einem Prinzip der Ökonomie. In Franckenbergs Raphael wird nun das gleiche Prinzip nicht nur wesentlich ausgreifender genutzt, sondern scheint auch in ganz anderer Weise funktionalisiert zu sein als bei Böhme. Besonders deutlich wird dies, wo die Linearität sprachlicher Aussagen aufgehoben und die einzelnen Terme in die Form von Tabellen gegeben werden.73 Der Raphael ist voll davon. Hier ein – noch verhältnismäßig übersichtliches – Beispiel vom Beginn des Textes:

70

71

72 73

Vgl. Sibylle Rusterholz: Elemente der Kabbala bei Jacob Böhme. In: Mystik und Schriftkommentierung. Hrsg. v. Günther Bonheim u. Petra Kattner. Berlin 2007 (Böhme-Studien 1), 15–45. Jacob Böhme: Morgenröte im Aufgang; zit. n. der Ausgabe: Jacob Böhme: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 143/ Bibliothek der Frühen Neuzeit 6), 9–506, hier: 240 f. Diese Ausgabe gibt den Druck von 1656 wieder, die späteren Drucke haben einen anderen Zeichenstand und lassen die sachliche Nähe von ›plötzlich‹ und ›Blitz‹ nicht mehr erkennen. Gardt (Anm. 21), 41. In den Schriften Böhmes finden sich insgesamt sehr wenige Tabellen (die meisten in den Tabulae principiorum; SS, Bd. IX, 55–74), und diese sind auf eindeutige Zuordnung der korrespondierenden Terme ausgerichtet. Das Gleiche gilt für die Schemata im 47. Theologischen Sendbrief an Gottfried Freudenhammer von 1623 (SS, Bd. IX, 183–204) und für eine »Tabell« im Mysterium Magnum (SS, Bd. VI, 21), die Abraham von Sommerfeld »vom Autore in solcher Form empfangen« habe (SS, Bd. VII, 34) und die zusammenfasst, was die davorstehenden Paragraphen entwickeln.

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Abb. 2: München: Bayerische Staatsbibliothek: 4 Asc. 346, S. 2 (Ausschnitt)

Das hier in der mittleren Spalte notierte »Wesen, Wille, Wort, WFrcken« lässt sich ohne Schwierigkeiten an der Böhme’schen Kosmogonie messen. Dies wird nun aber angereichert. Für eine ›diskursivierende‹ Pharaphrase muss man regelmäßig die Leserichtung ändern, ohne dass aber ein verbindlicher ›Leseparcours‹ vorgegeben wäre. Das Subjekt des Satzes wäre versuchsweise zu paraphrasieren mit »GOTT« (und zwar der dreieinige aus »Vater«, »Sohn« und Heiligem »Geist«, und dieser letzte Bezug wird in der Schreibweise »GOTH« augenfällig) »ALS EJN« »ÆWIG« »Selbst(ndiges Wesen«, »Gen(diger Wille«, »Allwissendes Wort«, »Allm(chtiges WFrcken« »oder« aber (offensichtlich auf »GOTT« bezogen) »GVTT« (an das Böhme’sche »Einige ewige Gute«74 erinnernd), das ausdifferenziert wird zu »Gut«, »Water«, »Suhne«, »Geust« (was man aber je auch anders lesen muss, denn die Klangähnlichkeit enthüllt eine wesenhafte Korrespondenz, sodass »gleichsam« ›ähnlich klingend‹ meint wie auch ›zugleich seiend‹: »Gemutt«, »Wasser«, »Sonne«, »GeIste«). Man sieht: Die Tabelle paraphrasieren zu wollen und dabei alle möglichen Bezüge zu berücksichtigen, ist mit erheblichem Aufwand verbunden. Die Darstellung als solche gehorcht also ebenfalls einem Ökonomieprinzip. Auf den Sinngehalt der Rede wirkt ein derartiges Verfahren aber entgrenzend, um so mehr, als diese Tabelle hier auch noch in einen Satz eingelassen ist, dessen Syntax gleichsam ›aufgesprengt‹ wird: »Von AEwigkheit […] machete […] GOTT […] Jhme selber einen Heiligen Vorsatz […]« (2).75 Der Effekt dieser Aufsprengung ist eine Anreicherung 74 75

Jakob Böhme: Gnadenwahl 1,5 (SS, Bd. VI, 5). Ein Schema in den Tabulae principiorum (SS, Bd. IX, 59) ähnelt den »Lehrgraphiken« (Telle [Anm. 6], 32) des Raphael; ganz anders als dort aber werden alle einzelnen Positionen erläutert. Und das Verhältnis von fünf mal vier tabellarisch angeordneten Wörtern bzw. Wortbestandteilen und der drei Druckseiten langen Erläuterung unterstreicht, wie ökonomisch die tabellenartige Darstellung ist; die mit ihr einhergehende semantische Entgrenzung wird in der Erläuterung (anders als im Raphael) gerade wieder eingeholt. Dabei bleiben Schema

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durch Bezugspotentiale und Sinngehalte. Die Signifikanten proliferieren, ohne dass man an jeder Stelle erkennen könnte, inwiefern das semantische Angebot eines neu eingespeisten Wortes aufgenommen und produktiv gemacht würde. Die Signifikantenkette ›Vater‹ – ›Water‹ – ›Wasser‹ leuchtet ein, aber die Kette »Geist« – »Geust« – »GeIste« bietet wohl weniger etwas Neues, als dass es die Trinität von Vater, Sohn und Geist zu erfüllen hat – generiert die einmal gewählte Matrix der Tabelle in vier Zeilen einen Zwang zur Komplettierung? Auf einen ersten Blick scheinbar überschüssige Terme und die zahlreichen Paratexte, paratextuellen Symbole und Zeichnungen, ja schon die graphische Hervorhebung einzelner Wörter, Silben und Buchstaben stiften Mehrbezüge – polemisch, aus der rational-aufgeklärten Sicht des modernen Betrachters, gesprochen: Sie stiften die Erwartung von Mehrbezügen –, die quer gelagert sind zur Linearität des entwickelten Gedankengangs und die über dessen Semantik hinweg paradigmatische Beziehungen und eine Tiefenstruktur konstituieren. Der Text ist nach einem Prinzip aggregativer Anreicherung organisiert; der in ihm transportierte Sinn aber, der – mehr noch als bei Böhme – »diskursiven Fortgang ausläßt oder überspringt«,76 wird gleichsam organisch angereichert, indem die Aufmerksamkeit auf immer neue, ›reale‹ Sachzusammenhänge gelenkt wird.77 Entsprechend haben in der Lektüre viele Worte nicht zuletzt einen Inzitamentcharakter, sie regen zur Reflexion auch über das textuell Angebotene hinaus an. Mit eben einer solchen Reflexion rechnet der Text mehrfach explizit: Das nur knapp Entworfene sollen die »wFrdigen und verst(ndigen« »grFndlicher erkFndigen und gebrauchen« (40), und die »zur Zeit unaußgemachte, jah nur angefangene Grundlegung mit geh=rigem Fleiß und treuer Nachfolge […] erg(ntzen« (20). Wo Böhme einen im Prinzip geschlossenen (wenn auch nicht in jeder Schrift gleichermaßen ausgearbeiteten) Entwurf vorlegt, dem »Leser weiter nachzusinnen«,78 öffnet Franckenberg sein Modell ganz explizit für weitere Ergänzungen. Denn in der Logik der philosophia perennis gilt es ja, aus allen ergiebigen Wissensbeständen Argumente für den eigenen Gedankengang zu finden und den eigenen, synkretistischen, theosophischen Welterklärungs- und Heilsentwurf zu beglaubigen. Kabbala, Alchemie, Hermetik, Theosophie, (Natur)Philosophie können dabei wahrgenommen werden als Beiträge zu einem transdisziplinären Projekt, das, wie bei Franckenberg perspektiviert, auf einen anagogischen Impetus zielt. Folgerichtig sind dabei auch Sinnangebote zu versammeln, die nicht unmittelbar in die eigene Argumentation Eingang finden. Sie haben trotzdem Geltung, insofern sie als Beiträge zur Wiedergewinnung einer prisca sapientia wahrgenommen werden können. Man kann die philosophia perennis als Ausdruck einer epistemisch plural verfassten Welt verstehen, als deren Letztbegründungszusam-

76 77 78

und Erläuterung getrennt, eine Auflösung der Syntax, wie im Raphael gerade gesucht, ist vermieden. Haferland (Anm. 23), 98. Vgl. Gardt (Anm. 21), 89. Stellvertretend für zahlreiche weitere Male: Theologischer Sendbrief 47 (SS, Bd. IX, 194).

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menhang zwar nach wie vor die von Gott sinnvoll eingerichtete Schöpfung beschworen wird, für deren Erfassung aber keine Erkenntnislehre mehr Exklusivität oder auch nur den Primat beanspruchen kann. Der Synkretismus des Raphael hat diese Pluralisiertheit ebenso zur Voraussetzung wie schon Böhmes Theosophie selbst. Franckenbergs »natursprachliche Komparatistik«79 ist der Versuch einer Zusammenführung heterogener Bestandteile eines verlorenen Wissens um Heil: Um diese epistemologische Ebene wäre Sibylle Rusterholz’ sozialhistorische Einordnung von Franckenbergs Irenik vielleicht zu ergänzen.80 Dabei gibt sich der Text polyhistorisch gesättigt und richtet sich ostentativ nicht zuletzt an eine humanistische Gelehrtenrepublik: »Mit […] seiner Neigung zum Allegat, mit der Eigenart, das Gesagte jeweils mit dem Hinweis auf andere Autoren zu bekräftigen, bewegt Franckenberg sich scheinbar in den herkömmlichen Bahnen des Späthumanismus.«81 Das ist die entgegengesetzte Selbstinszenierung wie bei Böhme, dessen Gegenüberstellung von Erleuchtung und Gelehrtentum und dessen Inszenierung der eigenen simplicitas möglicherweise ebenso eine Reaktion auf die diskursiv unübersichtlich gewordene religiöse Debatte seiner Zeit darstellen.82 Und anders als bei Böhme wird im Raphael de facto ein Lektüreverfahren eingefordert, das sich immer wieder auch von der vorgegebenen Argumentation löst, um die – im wörtlichen Sinne – drum herum aufgebotenen Sinnpotentiale wahrzunehmen, ihnen nachzugehen und sie zueinander in Beziehung zu setzen. Neben der linearen Lektüre wird eine vergleichende eingefordert; und dies noch erheblich nachdrücklicher als bei Böhme. Analoges ließ sich, wenn auch unter ganz anderen Bedingungen der Textstruktur, für Czepkos Monodisticha zeigen. Hier ist es das Nebeneinander von diskreten, in sich abgeschlossenen und aufs Äußerste verdichteten Gedankensplittern, die eben nicht diskursiv miteinander vermittelt werden und deswegen nicht nur in einem komplementären Verhältnis zueinander, sondern auch in Geltungskonkurrenz untereinander wahrgenommen werden können. Auch Czepko zielt, in der Tradition der theologia negativa stehend, nicht auf Eindeutigkeit ab. Anstatt aber 79 80

81 82

Sibylle Rusterholz: Elemente christlicher Kabbala bei Abraham von Franckenberg. In: Christliche Kabbala (Anm. 22), 183–197, hier: 188. Ebd., 197: »Seine Meditationen lassen sich weder auf Techniken der allegorischen Kodierung und Dekodierung reduzieren noch auf die christliche Strategie der Reduktion kabbalistischer Sinnkonstitution auf christliche Allegorese. Sie sind vielmehr Ausdruck des Willens eines irenischen Geistes, den Streit der Konfessionen und Kulturen zu überwinden.« Ebenso Rusterholz, Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme (Anm. 5), 232: »Es ist das Konzept der Philosophia Perennis, das Franckenbergs […] konfessionsirenische Haltung begründet.« Ebd., 232; vgl. Telle (Anm. 6), 34–37. Eine Überlegung Wilfried Barners deutet in diese Richtung: »Es drängt sich die Frage auf, ob die eigentümliche Zentrierung auf ›Einfalt‹ […] so etwas wie eine bestimmte Epochensignatur trage. ›Einfalt‹ als provokative Antwort auf eine überkomplex gewordene religiöse Wirklichkeit?« (Über das »Einfeltige« in Jacob Böhmes Aurora. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hrsg. v. Dieter Breuer u. a. Wiesbaden 1995, Tl. II, 441–453, hier: 453)

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die von vornherein zum Scheitern verurteilte Suche nach einer gültigen Aussage über das ineffabile linear zu gestalten, also für eine durchlaufende Lektüre einzurichten (die dann freilich nicht zum Ziel gelangen könnte), ist in den Monodisticha schon ein durchgehender Weg selbst aufgegeben und eine Entscheidung über Richtung und Progression in der Lektüre dem Leser überlassen. Auch hier »überspringt« der Text »diskursiven Fortgang«. Nicht so freilich der »Sinn«,83 insofern nämlich er sich über die abgeschlossenen Einzeltexte hinweg organisch wie im Raphael entfaltet. In einem Brief an den mit Franckenberg eng befreundeten Wilhelm Schwartz84 markiert Czepko den Hintergrund, der dem anagogischen Anspruch der Monodisticha unterliegt. Die Reime korrespondieren analogisch dem wesenhaften Zusammenhang von Mensch – in Anklang an Böhmes Dreifaches Leben mit den drei Instanzen Seele, Geist und Leib gedacht – und Gott: Weil aber das Menschliche Gemüthe nichts anders als ein Reim und Wiederhall des Göttlichen Wesens ist, habe ich desen Eigenschafft nach meine WEISE LEHREN in kurtze Reime schliessen und faßen wollen. […] Ein iedwedes Wort ist wesentlich in der Seelen: ebenbildisch und geistlich in den Sinnen: aüserlich und leiblich im Munde und Aussprechen. Und das leibliche Aussprechen ist ja nichts anders als ein Wiederhall des Bildes in Sinnen, gleicher gestalt das Sinnische Bild nichts anders ist als ein Abriß des Wesens in der Seele. So hoch diese drey Geburten unterschieden, so sehr sind sie eines im Wesen: und dieses schleust sich schneller als ein Augenblick auf und zu. Ein Reim nun, der in diesem Grunde gemacht, und aus dem Grunde gelesen wird, wie solte er nicht zu dem Grunde das wieder reimende Gemüthe leiten und führen.85

Zwar nicht mit der Inszenierung einer zyklischen Struktur, die den Leser am Ende überraschend doch wieder auf den Anfang verweist, aber in der Lesebewegung vom einzelnen Epigramm zum nächsten, würde man Ähnliches auch für Angelus Silesius’ Cherubinischen Wandersmann zeigen können. Und das an Franckenbergs Raphael gezeigte Prinzip einer Umstellung von semantischer Transparenz auf Opazität, von begrifflicher Klarheit und Stringenz auf konnotative Anreicherung ließe sich etwa an Quirinus Kuhlmanns Kühlpsalter beobachten.86 Diese Umstellung hat nun zweifellos einen epistemologischen und damit historischen Index. Im Bereich der Dichtung ist er wohl mit dem argutia-Ideal zu benennen, das freilich bei Czepko zu anderen Formlösungen führt als bei Kuhlmann, also nicht abgelöst von gattungstraditionellen Vorgaben in Anschlag gebracht werden kann. Auf Affinitäten zwischen der (christlichen) Kabbala, argutem Sprachspiel und der spezifisch Böhme’schen Diktion ist verschiedentlich hingewiesen worden:

83 84 85 86

Haferland (Anm. 23), 98. Über den Breslauer Wilhelm Schwartz informiert Wotschke (Anm. 3). Daniel Czepko: Brief an Wilhelm Schwartz vom 24. April 1646. In: Sämtliche Werke (Anm. 27), Bd. VI, 69 f. Vgl. den Beitrag von Harald Haferland in diesem Band.

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Es liegt im Wesen der spekulativen Schriftauslegung und der hebräischen Sprache, zum gedankenreichen Spiel zu ermuntern. Die Kabbalisten wollten neue, überraschende Möglichkeiten der Übersetzung und Deutung des altvertrauten Bibeltexts geben und dem Leser gleichsam »Aha«-Erlebnisse schenken.87

Vielleicht ist dabei der Spiel-Aspekt allzu sehr betont worden; denn ebenso wie den kabbalistischen Techniken liegt auch Böhmes, Franckenbergs und ebenso Czepkos Schreiben88 die Vorstellung einer motivierten Sprache zugrunde. Das Aufdecken verborgener Bezüge über die Arbeit am Sprachmaterial aber stellt zweifellos einen wesentlichen Impetus im Schreiben aller drei dar (wenn auch bei Czepko weniger zentral): Durch die Entdeckung des passenden Gleichnisses in der Natur überwindet das ingenium des Naturphilosophen die Unzulänglichkeit der Sprache als fixierte Semantik. […] Die Sprache des Naturphilosophen Böhme ist daher eine durch und durch rhetorisch-poetische, insofern sie suggeriert und evoziert, und dadurch die Dunkelheit, in der sich der [Mensch?] durch den Sündenfall befindet [sic!], blitzartig durch ein Gleichnis aufhellt und begrifflich auflöst.89

Die phänomenale Nähe zu barocker argutia ist bei Böhme wie bei seinen Nachfolgern, und dies dürfte das entscheidende Kriterium sein, in der Vorstellung einer motivierten Sprache begründet. Natürlich ist sie zutiefst rhetorisch, aber diese Überformung verdankt sich nicht der ›unverbindlichen‹ Suche nach dem Sprachspiel wie in manchen Spielarten des Konzeptismus, sondern der Suche nach ontologischen Zusammenhängen.90 Diese Zusammenhänge können aber, in dieser Logik nur folgerichtig, nicht schon vollständig angeboten werden, sondern der Leser ist dazu aufgerufen, in der scharfsinnigen Lektüre eigene Beobachtun87

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89

90

Otto Betz: Friedrich Christoph Oetinger als Theosoph und das hebräische Erbe im schwäbischen Pietismus. In: Glauben und Erkennen. Die Heilige Philosophie von Friedrich Christoph Oetinger. Studien zum 300. Geburtstag. Mit einem Geleitwort von Gerhard Schäfer hrsg. v. Guntram Spindler. Metzingen/Würt. 2002, 94–130, hier: 122. Zu Czepkos ›wesentlichem Sprechen‹ vgl. Meier (Anm. 26), 72–79; Sibylle Rusterholz: Barockmystische Dichtung: Widerspruch in sich selbst oder sprachtheoretisch begründete Sonderform? In: Bildungsexklusivität und volkssprachliche Literatur. Literatur vor Lessing – nur für Experten? Hrsg. v. Klaus Grubmüller u. Günther Hess. Tübingen 1986 (Kontroversen, alte und neue. Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Bd. 7), 185–195. Hildegard Eilert: »Die Natur arbeitet mit Höchstem fleiss«: Jakob Böhmes Sprachschaffen und seine Auffassung von der Schöpfung als progressivem Prozess. In: Morgen-Glantz 4 (1994), 155–190, hier: 181. Vgl. auch Italo Michele Battafarano: »Aha-Erlebnisse« im arguten Spiel mit Bildern. Marginalien zur Rezeption der barocken Kabbala von Böhme, Knorr von Rosenroth und der Prinzessin Antonia bei Friedrich Christoph Oetinger. In: Morgen-Glantz 14 (2004), 375–386, hier: 383: »Auch […] Böhme, demontierte und rekonstruierte die Sprache nach einer theologischen Semantik eigener Art, die er erfand und genauso argut barock wie theosophisch begründete, weil er sich dazu geistig und geistlich zugleich inspiriert fühlte.« Wenn Rusterholz, Elemente christlicher Kabbala bei Abraham von Franckenberg (Anm. 79) schreibt: »Wie die Sprachauffassung der Kabbala überhaupt […] ist Franckenbergs Sprachkonzept und dasjenige Czepkos, der hier in seiner unmittelbaren Nachfolge steht, prinzipiell antirhetorisch ausgerichtet« (193), so dürfte sie auf eben diesen Einwand abzielen. Die Frage nach dem Sprachkonzept ist aber keine der Rhetorik, sondern eine der Episteme.

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gen hinzuzufügen und die Suche nach der verborgen-offenliegenden Wahrheit fortzusetzen.

5. Meditationen Die bisherigen Überlegungen haben, indem sie für Böhme wie für die BöhmeRezeption der ersten und zweiten Stunde das »Ideal eines mündigen, dem Schein der Bilder gegenüber resistenten […], weil hermeneutisch durchtrainierten Lesers«91 voraussetzten, mögliche Wege einer rationalen Lektüre bzw. ihre Voraussetzungen nachgezeichnet. Einen solchen semantisierenden Lektüremodus zu rekonstruieren fällt verhältnismäßig leicht; vielleicht, weil die ihm zugrunde liegende Logik von Differenz und Identität in der »Sinnkultur« (Hans Ulrich Gumbrecht) der Moderne ohnehin den dominanten Sinnstiftungsoperator darstellt. Allerdings ist damit nur die eine Seite von Franckenbergs Raphael und der von Böhme beeinflussten Lyrik erfasst. Neben einem Lektüremodus, der nach Bezügen und Differenzen zwischen den einzelnen Gedichtinhalten sucht und das Textangebot der Sammlung nutzt, um über die angebotenen Propositionen hinauszugelangen (bei Czepko, ebenso aber bei Angelus Silesius in seinem Cherubinischen Wandersmann), bzw. der das Zeichendickicht zu durchdringen sucht (etwa bei Kuhlmanns Kühlpsalter), ist auch mit einem Lesen zu rechnen, das die Gedichte zum Anlass frommer Betrachtungen nimmt. Denkbar ist, dass ein solches ›andächtiges‹ Lesen sich bei der Lektüre von den Texten selbst ablöst und in einer ›schwebenden Aufmerksamkeit‹92 zwischen ihnen und eigener Meditation sich bewegt. Das wäre ein Verhalten, wie man es gerade für Andachtsbilder der Frühen Neuzeit kennt. Vielleicht ist der Vergleich nicht zu weit hergeholt; bereits Sibylle Rusterholz zielt auf eine Analogie in der nahegelegten Rezeptionshaltung ab, wenn sie für das Titelkupfer des Raphael – es zeigt das von zahlreichen Böhme-Drucken bekannte Auge als Symbol des Ungrunds, in einem Dreieck und umgeben von zwei konzentrischen Strahlenkränzen, mit einem die Trinität symbolisierenden dreifachen Jod und weiteren hebräischen Schriftzeichen – feststellt: »[…] durch das Ineinanderspiegeln verschiedener Sinnschichten werden solch scheinbar einfache Bilder zu eigentlichen Meditationsvorlagen«.93 Und die funktionale Engführung lässt sich für den Raphael noch um eine sozusagen phänomenale ergänzen, insofern »sich Franckenbergsche Texte sowohl über das Ohr wie über das Auge [erschließen], ja häufig muß man den Text sehen, um ihn zu verstehen«.94 Beim Raphael gilt das für jede Druckseite. Historisch erwartbar ist 91 92

93 94

Moos (Anm. 16), 446. Den Ausdruck verdanke ich Susanne Köbele: Zwischen Klang und Sinn. Das GottfriedIdiom in Konrads von Würzburg Goldener Schmiede (mit einer Anmerkung zur paradoxen Dynamik von Alteritätsschüben). In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hrsg. v. Anja Becker u. Jan Mohr. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), 303–333. Rusterholz, Elemente christlicher Kabbala bei Abraham von Franckenberg (Anm. 79), 190. Ebd., 188; ebenso 192.

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neben dem Typus des umfassend gebildeten Lesers, der des Hebräischen mächtig ist, alle dargestellten Symbole und ihre Bedeutungshintergründe kennt und alle tabellarischen Figuren aufzulösen imstande ist, auch der eines vom Anmutungscharakter der geheimnisvollen Zeichen sich überwältigen lassenden Lesers, der immer wieder aus seiner (rationalen, aufschlüsselnden) Lektüre gerissen und zum Betrachtenden wird. Insofern macht der Raphael auch das Angebot zu einer Lektüre nach dem mittelalterlichen Modell der ruminatio; einer ruminatio unter den Bedingungen von konzeptioneller und medialer Schriftlichkeit95 und einsamem, stillem Lesen. Ein solcher Lesemodus lässt sich aber auch, mutatis mutandis, für die Epigrammsammlungen Czepkos und Schefflers vorstellen. Das ›wiederkäuende‹ Lesen bezöge sich dann in erster Linie auf die Semantik der Texte, deren gedankliche Überschneidungen Effekte der Wiederholung schon per se in sich bergen. Und die kurzen, diskreten Texteinheiten in ihrer arguten Verdichtung sind zumindest geeignet, die Lektüre im Sinne einer Lesediätetik zu kanalisieren und nur ein vergleichsweise geringes Lesetempo zuzulassen: »Die Pausen zwischen den Zweizeilern verstärken zweifellos das meditative Element und geben der Anschauung immer nur momenthafte ›Blicke‹ auf das Gemeinte frei.«96 Eine ›Bildqualität‹ erreichen Czepkos Epigramme in Ansätzen da, wo in den Überschriften Sachverhalte bildlich oder durch die Anordnung einzelner Wörter räumlich visualisiert werden. Dabei könnte sich, ähnlich wie oben für Böhme und den Raphael beschrieben, auch die Aufmerksamkeit vom (Einzel-)Text auf die Fläche der Manuskriptseite verlagern. Vielleicht liegt auch in der Schwierigkeit, einen solchen Text enden zu lassen, eine signifikante Gemeinsamkeit. Der zahlensymbolisch bedeutsame Aufbau von Czepkos Monodisticha spart die Erfüllung am siebten Tag, den »SABBATH« (652), ja gerade aus, anders als im sechsten Sonett angekündigt. Stattdessen findet sich der Leser mit dem letzten Epigramm wieder auf den Anfang der Sammlung verwiesen. Zwar ist das Ende von Johannes Schefflers Cherubinischem Wandersmann (in der 1675 um ein sechstes Buch erweiterten Fassung) optimistischer; aber das »So geh und werde selbst die Schrifft und selbst das Wesen« des letzten Zweizeilers97 ist aus der Lektüre der Sammlung heraus letztlich nicht zu begründen. Vergleichbar der Raphael: Die synkretistische, sich aus kabbalistischen, hermetischen, alchemischen und spezifisch Böhme’schen Quellen speisende Geheimlehre mündet in die Wahrheit biblischer Exempel und damit in das, was ohnehin als wahr gewusst wird. Aus moderner Sicht stellt sich gerade in Francken95

96 97

Zur Unterscheidung zwischen medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit vgl. Peter Koch, Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), 15–43; Wulf Oesterreicher: Verschriftung und Verschriftlichung medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Ursula Schaefer (Hrsg.): Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), 267–292. Kemper (Anm. 40), 190; vgl. ebd., 188–191 (»Epigrammatik als Medium der Meditation«), und Meier (Anm. 26), 100 f. Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Louise Gnädinger. Bibliographisch ergänzte Ausgabe Stuttgart 2000, 285 (Epigramm VI 263).

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bergs Text der ›Weg‹ als anspruchsvoller (und ansprechender) dar als sein ›Ziel‹. Dass die »Grundgedanken« des Raphael »sich durch betäubende Schlichtheit auszeichnen«,98 wie in leicht ernüchtertem Ton konstatiert wurde, wird nirgends so deutlich wie gegen Ende der Schrift, die – aus moderner Perspektive – in keiner Weise einlösen kann, was sie ankündigt. Allerdings müsste man auch diesen Eindruck historisieren: In der Perspektive des 17. Jahrhunderts würde vielleicht positiv bewertet, dass die heterogenen Lehren zuletzt doch in die Verkündigung von Gottes Wort münden und damit eben jenen Letztbegründungszusammenhang erweisen, der den Text über doch in Frage steht. Der eigentliche Effekt der ›Transzendentalrhetorik‹, wie sie bei Böhme vorgeprägt war und unter ganz verschiedenen Vorzeichen in den Monodisticha wie im Raphael weitergetrieben wird, entfaltet sich dann, bei rationaler wie meditativer Lektüre, zuallererst im Akt des Lesens selbst.

98

Telle (Anm. 6), 52.

Rosmarie Zeller

Böhme-Rezeption am Hof von Christian August von Pfalz-Sulzbach

Einleitung Die vorliegende Untersuchung sollte zunächst die Böhme-Rezeption bei Christian Knorr von Rosenroth (1636–1689) zum Gegenstand haben. Dieses Unterfangen erwies sich als unmöglich, denn es zeigte sich, dass der in der Forschungsliteratur immer wieder behauptete Einfluss Böhmes auf Knorr von Rosenroth sich auf Spekulationen beschränkt. So behauptet Salecker in seiner Arbeit über Knorr von Rosenroth von 1931, Knorr sei in den Niederlanden, wo er sich von 1663 an eine unbestimmte Zeit aufhielt, mit Böhmisten-Kreisen in Verbindung gekommen, was sehr wohl möglich, aber nicht belegt ist.1 Er schreibt den Durchbruch Knorrs zur Mystik dem Einfluss Böhmes zu, ohne Belege dafür zu bringen, wobei schon die Charakterisierung Knorrs als Mystiker problematisch ist. Auf solchen Aussagen fußt wohl auch Brian P. Copenhavers ebenfalls unbelegte Charakterisierung, Knorr sei »an ardent reader of Böhme«.2 Wenn man sich klar macht, dass die Tatsache, sich in irgendeiner Weise als Böhme-Anhänger auszugeben, als Zeichen der Heterodoxie gewertet wurde3 und dass Knorr von Rosenroth seine eigenen heterodoxen Schriften anonym publizierte,4 wohl um nicht anzustoßen und seinen Dienstherr Herzog Christian August von Pfalz-Sulzbach nicht in Schwierigkeiten zu bringen, dann ist man nicht erstaunt, keine direkten 1

2

3 4

Kurt Salecker: Christian Knorr von Rosenroth (1636–1699). Weimar/Leipzig 1931, 36. Über Knorrs Beziehungen in den Niederlanden weiß man nichts, da bisher weder Briefe von Knorr noch an Knorr gefunden wurden, kann man nur Vermutungen äußern. Vgl. dazu Guillaume van Gemert: Christian Knorr von Rosenroth und die Niederlande. Die Auseinandersetzung mit Johann Baptist van Helmont. In: Morgen-Glantz 2 (1992), bes. 9–11. Van Gemert schreibt: »mit den zahlreichen heterodoxen Strömungen in den Niederlanden […] wird Knorr sicher in Berührung gekommen sein, wenn sich die zeitgenössischen Lebensberichte hier auch ausschweigen. So ist bei seinem mystischen Interesse eine Kenntnisnahme der Schriften eines Jakob Böhme, die damals in den Niederlanden für den deutschen Markt gedruckt wurden, keineswegs auszuschließen.« (11) Brian P. Copenhaver: Jewish Theology of Space in the Scientific Revolution. Henry Moore, Joseph Raphson, Isaac Newton and their predecessors. In: Annals of Science 37 (1980), 489–548, hier: 507. Vgl. dazu den Aufsatz von Sibylle Rusterholz in diesem Band. Vgl. dazu Rosmarie Zeller: Wissenschaft und Chiliasmus. Heterodoxe Strömungen am Hof von Sulzbach. Wissenschaft und Chiliasmus bei Christian Knorr von Rosenroth, Franciscus Mercurius van Helmont und Henry More. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, 291–307.

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Belege, d. h. weder Zitate von noch Verweise auf Böhme oder gar eine explizite Auseinandersetzung mit ihm zu finden.5 Angesichts dieser Faktenlage muss die Frage nach der Böhme-Rezeption bei Christian Knorr von Rosenroth in zweifacher Weise modifiziert werden, einerseits muss sie auf den Hof in Sulzbach zur Zeit, als sich Christian Knorr von Rosenroth und Franciscus Mercurius van Helmont dort aufhielten, ausgeweitet werden; und andererseits muss sie anders gestellt werden, nämlich: Warum wird immer wieder behauptet, Knorr bzw. Helmont seien von Böhme beeinflusst, ohne dass dafür mit ganz wenigen Ausnahmen konkrete Belege beigebracht werden können? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass wenn Knorr bzw. Helmont mit Böhme in Verbindung gebracht werden, dies weniger aufgrund von konkreten Bezugnahmen dieser Autoren auf Böhmes Schriften geschieht als vielmehr über die Ähnlichkeit gewisser Ideen und Vorstellungen. Böhme funktioniert in diesem Fall eher als Chiffre, als Chiffre für Spuren des Neuplatonismus, der Kabbala, der paracelsistischen Signaturenlehre und spiritualistischer Frömmigkeitsbewegungen, für die man auch andere, allerdings weniger bekannte Autoren als den »philosophus teutonicus« anführen könnte. Man kann von Böhme sagen, was Wilhelm Kühlmann für den Paracelsismus feststellt, dass er »als Integrations- und Identifikationsfaktor der epochalen Bewegungen des transkonfessionellen Dissentismus« fungiert.6 Dass Böhme zu einer Chiffre für nicht-orthodoxe spiritualistische Strömungen werden konnte, hat wohl auch damit zu tun, dass er seinen Anhängern als von Gott inspiriert galt und dass er deshalb eine höhere Wahrheit für sich beanspruchen konnte, was ihn aber andererseits auch besonders angreifbar machte. Das wird besonders deutlich in Henry Mores und Abraham Hinckelmanns Auseinandersetzung mit Böhme. Beide Autoren versuchen mit verschiedenen Argumenten zu beweisen, dass Böhme nicht inspiriert sein konnte.7

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Wie gefährlich offenbar die Interessen des Sulzbacher Hofes waren, zeigt, dass Johann Jakob Schütz Franciscus Mercurius van Helmont in seinen Briefabschriften mit dem Decknamen »Holthalb« bezeichnet (s. dazu Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002 [Beiträge zur historischen Theologie, 119], 233). Wilhelm Kühlmann: Das häretische Potential des Paracelsimus gesehen im Licht seiner Gegner. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, 217–242, hier: 217. More argumentiert damit, dass Böhme Falsches sage, Hinckelmann versucht zu beweisen, dass Böhmes Konzepte von anderen Autoren stammten. Zu Henry More s. Sarah Hutton: Henry More and Jacob Böhme. In: Henry More. (1614–1687); Tercentenary studies. Hrsg. v. Sarah Hutton u. Robert Crocker. Dordrecht u. a. 1990, 157–171. Abraham Hinckelmann: Untersuchung und Widerlegung Der Grund-Lehre/ Die In Jacob Böhmens Schrifften verhanden. Worinnen unter andern der Recht-gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabalae, wie auch der Ursprung alles Fanaticismi und Abgötterey der Welt entdecket wird. Hamburg 1693.

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Sulzbach und Böhme: Hinweise Das in der Oberpfalz gelegene Herzogtum Sulzbach befand sich an der Handelsstraße von Frankfurt am Main nach Prag.8 Es war unter Herzog Christian August (1622–1708) ein nicht unbedeutendes Zentrum für die Beschäftigung mit jenen geistigen Strömungen, die, vom Neoplatonismus herkommend, nach dem großen Zusammenhang von Natur und geistiger Welt, von Makrokosmos und Mikrokosmos suchten. Die geistigen Bestrebungen Sulzbachs gingen dahin, in den mannigfaltigsten Quellen jene ursprüngliche Weisheit, die prisca philosophia oder philosophia perennis, wiederzufinden, die Gott Adam bzw. Moses vermittelt hat. Man befasste sich in diesem Rahmen mit all jenen Wissenschaften, die eine auf Fortschritt ausgerichtete Wissenschaftsgeschichte bis in die jüngste Zeit weitgehend ignorierte: Alchemie, Naturmagie, Kabbala. Sie alle repräsentieren Wege, welche zur Aufschlüsselung der Geheimnisse der Natur und damit der Geheimnisse Gottes führen. Allison Coudert geht so weit, den Hof in Sulzbach unter Christian August als einen rosenkreuzerischen Hof zu bezeichnen in dem Sinne, dass man hier versuchte, die ursprüngliche Einheit der Menschheit wieder herzustellen, wobei man sich notgedrungen gegen die lutherische Orthodoxie stellte.9 Christian August, der sich mehrere Jahre am Hof in Gottdorf aufgehalten hat, kannte sicher die dortige Kunstkammer und auch die Laboratorien, in denen alchemistische Experimente durchgeführt wurden. Hier kam Christian August aber auch mit dem Prediger Christian Hoburg in Kontakt, der seinerseits von Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum beeinflusst, Kontakt zu spiritualistischen und pietistischen Kreisen hatte.10 Im Zusammenhang mit der politisch motivierten Konversion erlitt der Herzog schwere psychosomatische Störungen, welche dazu führten, dass unter anderem Franciscus Mercurius van Helmont (1614–1698) an den Hof berufen wurde. Helmont ist im Geistesleben Sulzbachs wegen seiner Beziehungen zu den Intellektuellen seiner Zeit, insbesondere zu Leibniz und zum Vertreter des Cambridger Platonismus, Henry More, sowie zu Anne Conway und wegen seiner internationalen Ausstrahlung wahrscheinlich die bedeutendste Figur am Sulzbacher Hof. Er hatte von seinem Vater Johann Baptist van Helmont, dessen Aufgang der Arzneikunst Knorr von Rosenroth ins Deutsche übersetzte, Kenntnisse in paracelsistischer Medizin. Helmont war es aber auch, der offenbar den Herzog veranlasste, Christian Knorr von Rosenroth 1668 als Hofrat anzustellen, wobei zu seinen Pflichten gehörte »von denen Wissenschaf8

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Ich stütze mich vor allem auf die Darstellung von Klaus Jaitner: Der Pfalz-Sulzbacher Hof in der europäischen Ideengeschichte des 17. Jahrhunderts. In: Wolfenbütteler Beiträge 8 (1988), 273–404. Allison P. Coudert: The impact of the Kabbalah in the seventeenth century. The life and thought of Francis Mercury van Helmont (1614–1698). Leiden 1999 (Brill’s series in Jewish studies, vol. 9), 108. Jaitner (Anm. 8), 284. Le Blon, der eine französische Übersetzung Böhmes herausbrachte, hat auch die Schriften von Christian Hoburg verlegt. Vgl. dazu Deppermann (Anm. 5), 26, Anm. 103. Hoburg wird auch häufig von Ehregott Daniel Colberg in dessen Platonischhermetischem Christentum als Zeuge für heterodoxe Auffassungen genannt (s. dazu unten Anm. 26).

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ten, die ihme Gott anvertrauet, auf unser Verlangen, uns und unsern Kindern, darzu wir sonderliche Stunden etwa erwehlen möchten, Unterricht« zu geben.11 Von den wissenschaftlichen Interessen des Herzogs zeugt die Einrichtung einer Druckerei im Jahre 1664, die unter anderem 1677 den ersten Band der Kabbala denudata drucken wird, und die Bibliothek mit einem nicht unbeträchtlichen Bestand an katholischen, lutheranischen, calvinistischen Theologica, heterodoxen Schriften12 sowie paracelsistischen, alchemistischen und naturmagischen Werken. Nach Auskunft des Katalogs befanden sich in der Bibliothek über 30 Titel von Böhme, einige sogar mehrfach, ein sehr großer Teil in niederländischer Sprache.13 Von den Böhme-Ausgaben in niederländischer Sprache, die bis Ende der 50er Jahre erschienen sind, scheint man in Sulzbach alle besessen zu haben. Die Einordnung erfolgt von den Bibliothekaren unter drei verschiedenen Rubriken, bis auf drei Ausgaben werden alle in die Rubrik »Philosophi in genere, Metaphysici et pneumatici in specie« eingeordnet. Zwei Schriften Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein […] (1639) und Theosophische Epistel […] (1623) finden sich in der Rubrik »Theologi Calviniani, Causales, Morales, Mystici«, die Gesamtausgabe Alle theosophischen Schriften von 1682 in der Rubrik »Theologi Lutherani Causales, Morales, Mystici«. Die in der Rubrik Philosophie eingeordneten ungefähr 30 Titel sind im Katalog nicht in chronologischer Reihenfolge angeführt, was darauf hindeuten könnte, dass sie alle miteinander erworben wurden. Da die Nummer 10 (Der Weg zu Christo in sechs Büchlein) von 1658 stammt und sich mitten unter den Böhme-Schriften die 1653 herausgekommene Ausgabe von Gabriel Naudés Apologie pour tous les grands personnages, qui ont été faussement supsonnez de Magie findet, kann man annehmen, das Böhmes Schriften, auch wenn sie früher herausgekommen sind, erst in den 50er Jahre, wahrscheinlich Ende der 50er Jahre Christian August erworben wurden. Dies wiederum würde zu einer Nachricht passen, wonach Franciscus Mercurius van Helmont den Fürsten anlässlich der Krönung von Leopold I. zum Deutschen Kaiser 1658 in Frankfurt mit Christoph Le Blon bekannt gemacht haben soll, mit dem er selbst schon lange bekannt war.14 Dass man in Sulzbach mit nicht-orthodoxen Kreisen sympathisierte, zeigt sich auch an der Wahl der lutherischen Pfarrer, die alle während einer gewissen Periode spiritualistischen Kreisen nahe standen, sodass deswegen 1662 sogar eine Un11

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Volker Wappmann: Durchbruch zur Toleranz. Die Religionspolitik des Pfalzgrafen Christian August von Sulzbach Rosenberg. Neustadt a. d. Aisch 1995 (Einzelarbeiten zur Kirchengeschichte Bayern, 69), 215. Man findet insbesondere Schriften von Autoren wie Tauler, Pierre de Yvon, Anna Maria Schurman, Jean de Labadie, Jane Leade, die auch von den Pietisten rezipiert wurden. Die Bibliothek ist leider nicht erforscht, deren Katalog aber auf der Bayerischen Staatsbibliothek erhalten (Signatur: Cbm 578: 1–4 u. Cbm 580: 1–6. Permalink: http://opacplus.bsb-muenchen.de/search?oclcno=162420348). Die Bibliothek selbst ist durch mehrere Erbgänge im Bestand der Staatsbibliothek München aufgegangen. Einen Einblick gibt die Zusammenstellung von Guillaume van Gemert über den niederländischen Bestand der Bibliothek in Morgen-Glantz 19 (2009), 393–449, bes. 416 u. 420 ff. Zum Böhme-Bestand s. unten Anhang. Wappmann (Anm. 11), 167; Coudert (Anm. 9), 35. Zur Beziehung von Helmont zu Christoph Le Blon vgl. Deppermann (Anm. 5), 222–223.

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tersuchung im Herzogtum Sulzbach eingeleitet wurde.15 Der Stadtpfarrer Johann Jakob Fabricius übersiedelte 1667 nach Amsterdam zu Johann Georg Gichtel und stand schon vorher auch mit Breckling in Kontakt. Gichtel selbst soll sich zeitweise in Sulzbach aufgehalten haben.16 1673 bittet man den Frühpietisten Johann Jakob Schütz bei der Suche nach einem neuen Pfarrer für Sulzbach behilflich zu sein.17 Weitere Informationen über die spiritualistischen Bestrebungen am Sulzbacher Hof lassen sich dem Franciscus Mercurius van Helmont betreffenden Protokoll der Inquisition entnehmen. 1662 wurde der jüngere Helmont auf Betreiben von Christian Augusts Cousin Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg gefangen genommen und der Inquisition vorgeführt. Es wird ihm vorgeworfen, er habe eine Kolonie von Juden, Anabaptisten und Quäkern nach Sulzbach gebracht, welche Versammlungen machten, angeregt vom Licht in ihnen, das sie in sich hörten und von dem sie sagten, dass sie durch es bewegt würden. Sie brauchten keine anderen Bücher als Tauler, der sogar von Luther kritisiert werde und den sie in einer korrekten Ausgabe ediert hätten, und einen gewissen Martin Weyer,18 Jakob Böhme und Bücher von Luther, welche mit lauter Stimme an der Tafel des katholischen Fürsten mit Helmonts Erlaubnis gelesen würden. Diese Bücher würden darüber hinaus im Geheimen den Katholiken empfohlen.19 Diese Anschuldigungen konnten nicht bewiesen werden und Helmont wurde aus der Haft entlassen. Ein weiterer Hinweis auf ein mögliches Interesse an Böhme am Sulzbacher Hof bzw. bei Knorr von Rosenroth und Helmont ergibt sich aus den Beziehungen von Johann Jakob Schütz zum Sulzbacher Kreis. Johann Jakob Schütz (1640– 1690), Advokat in Frankfurt, war maßgeblich an der religiösen Entwicklung Philipp Jakob Speners hin zum Pietismus beteiligt. Er stand in engem Kontakt sowohl mit Christian August wie auch mit Knorr von Rosenroth,20 für dessen Evangelienharmonie er einen Verleger suchte, wobei der Kontakt durch Helmont zustande kam. Da Schütz andererseits auch vor 1676 mit den »führenden radikalen Böhmeanhängern« in Nürnberg, dem Ehepaar Doppelmeyer und dem Notar Loth Fischer in Kontakt stand und ihnen wahrscheinlich Böhme-Schriften aus Holland vermittelte, kann er dasselbe allenfalls auch für Sulzbach getan haben.21 Allerdings scheint es, dass Schütz Knorr von Rosenroth vor allem jüdische Literatur aus dem Umkreis der Kabbala besorgt hat. Das alles sind nicht mehr als Hinweise. Auch wenn man keine Böhme-Zitate 15 16 17

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Wappmann (Anm. 11), 184. Vgl. auch Jaitner (Anm. 8), 328–335. Jaitner (Anm. 8), 334. Für die Ausrichtung, die der Pfarrer haben sollte, ist die Bemerkung von Schütz in seinem Brief an Christian August aufschlussreich: »es sind leyder unter den vielen Theologis wenig geistliche.« (Deppermann [Anm. 5], 226, Anm. 23) Gemeint ist offensichtlich der niederländische Mystiker Matthes Weyer, dessen Werk über die Reinigung von den Sünden und der Wiedergeburt sich auf Deutsch und Niederländisch in der Sulzbacher Bibliothek befindet. Weyer wurde auch in Pietisten-Kreisen rezipiert und spielt auch für Johann Jakob Schütz eine Rolle (vgl. Deppermann [Anm. 5], 71 f.). Coudert (Anm. 9) druckt das lateinische Dokument und eine Übersetzung ab (364 bzw. 352). Deppermann (Anm. 5), 65 ff., für die Beziehung Schütz-Knorr vgl. ebd., 222–242. Ebd., 243. Franciscis Gegen-Strahl der Morgenröte […] (Nürnberg 1685) ist nicht zuletzt auch gegen die Doppelmeyers gerichtet.

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in den Schriften von Knorr und Helmont nachweisen kann, so hat der Hof in Sulzbach sicher mit den Ideen sympathisiert, die in den Kreisen von BöhmeAnhängern im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts vertreten werden. Ein weiterer Hinweis könnte sich aus der Beziehung Helmonts zum Cambridger Platoniker Henry More und seiner Freundin Anne Conway ergeben. Henry More hat sich mehrfach mit Böhme auseinandergesetzt.22 Er hat, wie man aus seinen Briefen weiß, auch mit Anne Conway ausführlich über Böhme diskutiert.23 Die Böhme-Lektüre bereitet hier das Interesse am Quäkertum vor, mit dem wiederum auch Helmont sympathisierte.

Hermetischer Platonismus Nachdem nicht mehr konkrete Belege für eine Böhme-Rezeption im Sulzbacher Kreis zu finden sind, soll die Frage anders gestellt werden, nämlich welche Konzepte und Vorstellungen dazu geführt haben, dass man Franciscus Mercurius van Helmont und Christian Knorr von Rosenroth mit Böhme in Beziehung brachte und ihnen immer wieder eine intensive Lektüre von Böhmes Schriften unterstellte, obwohl sie Böhme nirgends zitieren bzw. sich nirgends explizit auf ihn berufen. Bereits am Ende des 17. Jahrhunderts wurden Böhme, Helmont und Knorr von Rosenroth in einem Diskurs, der Platonismus, Kabbala und Pietismus zusammenbrachte, verknüpft.24 Die wohl wichtigsten Repräsentanten dieses Diskurses sind Abraham Hinckelmann mit seiner Detectio Fundamenti Böhmiani25 und

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Henry More hat bereits 1650 ein Einleitungsgedicht (An Introduction to the Teutonick Philosophy) zu Durand Hotthams englischer Übersetzung Böhmes geschrieben. Als Frucht der Diskussion in Ragley hat er 1670 seine Philosophiae teutonica Censurae publiziert. Auch in seinen Divine Dialogues (1688) setzt er sich mit Böhme auseinander. Zur Böhme-Rezeption von Henry More vgl. Sarah Hutton (Anm. 7). 1667 soll man in London alle Böhme-Schriften gekauft haben, um sie nach Ragley zu senden. Vgl. dazu die Einleitung von Sarah Hutton zum Kapitel 7 Quakerism der Conway Letters (The Conway Letters. The Correspondence of Anne, Viscountess Conway, Henry More, and their friends. 1642–1684. Hrsg. v. Marjorie Hope Nicolson. Rev. ed. with an introduction and new material by Sarah Hutton. Oxford 1992, 381). Sarah Hutton: Anne Conway. A Woman Philosopher. Cambridge 2004, 65 f. Vielleicht hat Lady Foxcroft den Anstoss zur Beschäftigung mit Böhme gegeben. Zu diesem Zusammenhang, allerdings ohne expliziten Bezug zu Helmont und Knorr s. Martin Mulsow: Den »Heidnischen Saurteig« mit dem »Israelitischen Süßteig« vermengt: Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann und Johann Peter Späth. In: Scientia Poetica 11 (2007), 1–50, bes. 2 f. Zu Colberg und Hinckelmann s. auch Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin 2009, 89–123, bes. 99 f. Vgl. dazu: Martin Mulsow: Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann. In: Erzählende Vernunft. Hrsg. v. Günter Frank. Berlin 2006, 93–104.

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Ehregott Daniel Colberg mit seinem Platonisch-hermetischen Christentum.26 Beide Autoren kennen neben Böhme die Kabbala denudata und die darin abgedruckte Franciscus Mercurius van Helmont zugeschriebene Schrift Adumbratio Kabbalae christianae. Sie scheinen aber beide weder den Herausgeber der Kabbala denudata noch den Verfasser der Adumbratio zu kennen, Colberg nennt namentlich nur Johann Baptist van Helmont. Für Colberg ist Böhme der Repräsentant des platonischen Christentums schlechthin, er wird immer wieder als Kronzeuge angeführt, so insbesondere in den Kapiteln »Vom Grund der seligmachenden Lehr«, »Von GOtt, seinem Wesen und Werken«, »Von den Mitteln der Seeligkeit«, »Von den letzten Dingen«; zudem ist ihm im ersten Teil ein eigenes Kapitel gewidmet: »Cap. VIII. Von Jacob Böhmen Schwärmerey.« Ein gefährlicher Aspekt dieser Richtung wie später auch des Pietismus bestand in den Augen der orthodoxen Lutheraner darin, dass, wie wir bei Colberg sehen können, die sogenannten platonischen Christen sich von der Lehrmeinung der Kirche emanzipieren, dem äußerlichen Gottesdienst keinen großen Wert beimessen, sondern die innere Erkenntnis Gottes auch mit Hilfe der Erkenntnis der Natur anstreben.27 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang tatsächlich, dass weder Christian Knorr von Rosenroth noch Franciscus Mercurius van Helmont oder Jacob Böhme eine theologische Ausbildung haben. Trotzdem äußern sie sich zu Fragen der Schöpfung, zur Interpretation der Genesis, zum Wesen Gottes und zu den Möglichkeiten, Gott zu erkennen und zwar indem sie die Bibel nicht wörtlich auslegen, sondern einen »Mystischen und verborgenen Verstand der heiligen Schrifft« postulieren, wie Colberg ihnen vorwirft. Eine Auslegungsmethode, die von kabbalistischen Auslegungsmethoden inspiriert sein dürfte.28 Im Folgenden sollen drei Aspekte herausgegriffen werden, die sowohl bei Böhme wie in Sulzbach eine wichtige Rolle spielen: Die Erschaffung der Welt bzw. die Auslegung der Genesis, die Erkenntnis der Natur und damit Gottes, der Weg zur wahren Weisheit und damit Erkenntnis Gottes zu gelangen und die Frage der Natursprache. Dass man in diesen Bereichen Parallelen zwischen Böhme und Knorr von Rosenroth bzw. van Helmont feststellen kann, heißt nicht, dass Helmont und Knorr direkt von Böhme beeinflusst sind. Die Gemeinsamkeiten können vielmehr auf die gemeinsamen Wurzeln ihres Denkens zurückgehen. 26

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Ehregott Daniel Colberg: Das platonisch-hermetische Christenthum: begreyffend die historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten, Weigelianer, Rosencreutzer […]. 2 Tle. Leipzig 1710 [Frankfurt a. M./Leipzig 11690–1691]. Zu Colberg vgl. auch den Beitrag von Friedrich Vollhardt in diesem Band. »Diese Schwärmerey ist nichts anders/ als eine Vermengung vieler aus dem Heydnischen Philosophis/ der Jüdischen Cabala und der Christl. Lehr zusammengerafften Meynungen/ so dahin gehen/ daß sie den Menschen vom Wort Gottes u. dem äuserlichen Gottesdienst abziehen/ und unterm Wahn der eingebildeten Offenbahrungen und innerlichen Gottesdienstes/ auf Platonische Träume führen.« (Colberg [Anm. 26], Tl. 1, 4) »Denn sie lehren/ man müsse die Theologie oder das Christenthum/ lernen 1. aus Göttlicher unmittelbaren Offenbahrung in ihm selbst/ oder aus dem Licht der Natur und der Signaturen aller Dinge. 2. Aus den Erscheinungen und Offenbahrungen der Engel. 3. Aus dem Mystischen und verborgenen Verstande der heiligen Schrifft. Hergegen 4. verwerffen sie den natürlichen Wort-Verstand der Schrifft.« (Ebd., Tl. 2, 4)

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Dies haben teilweise schon die Kritiker dieser Denkrichtung erkannt, wenn sie, wie zum Beispiel Hinckelmann, die Quellen von Böhmes Denken nachzuweisen versuchten, um zu zeigen, dass er nicht inspiriert war, sondern seine Kenntnisse aus Büchern hatte,29 oder wenn sie, wie Colberg, Böhme in den hermetisch-platonischen Zusammenhang stellen.

Selbsterkenntnis als Erkenntnis Gottes Colberg stellt fest, dass das platonisch-hermetische Christentum zwei Wege kenne, um zur Erkenntnis Gottes zu gelangen: Wir finden in ihren/ der Platonischen Christen/ Schrifften ein zweyfaches Principium ihrer Lehr/ die Erkäntnüß unserer selbst/ und die Erkäntnüß der Welt/ Macrocosmum und Microcosmum, Cabalam und Magiam, die inwendige Offenbahrung und das Buch der Natur oder der Lebendigen/ mit einem Worte/ die Erkäntnüß des allgemeinen Welt-Geistes in allen Dingen/ beydes durch die inwendige Erleuchtung des innern Lichts/ als des ewigen Worts/ verbi fiat, und durch die Erkäntnüß der Signaturen oder Caracteren so in dem Buch der Natur geschrieben sind/ das ist/ des inwendigen Lichts/ wie es in den Creaturen verborgen liegt.30

Böhme schreibt in der Tat, dass man keiner andern Mittel bedarf als des großen Buchs »Himmels und der Erden, Sternen und Elementen mit der Sonnen«, noch »viel hundert mal mehr« aber können wir ihn »in uns selber kennen und betrachten«.31 Im 20. Theosophischen Sendbrief präzisiert er noch: »Dann das Buch, da alle Heimlichkeit innen lieget, ist der Mensch selber: Er ist selber das Buch des Wesens aller Wesen, dieweilen er die Gleichniß der Gottheit ist«.32 Das Gleichnis der Gottheit kann der Mensch aber nur sein, wenn er alles eliminiert, was nicht gottähnlich ist, und dies sind vor allem die Affekte. Colberg hebt denn auch gleich auf den ersten Seiten seines Hermetisch-Platonischen Christentums hervor, dass das Ziel des Platonismus sei, Gott gleich zu werden und das Mittel dazu sei »die Erkentniß sein selbst«33. Diese erreiche man durch die Reinigung von den Begierden und Sinnen. Das Ziel ist schließlich der Aufschwung der Seele zur Gottheit, welche oft als Wiedergeburt interpretiert wird. Böhme beschreibt sein Durchbruchserlebnis eben als eine solche Erkenntnis Gottes in seinem eigenen Innern, als eine Wiedergeburt als einen Zustand, der dem im Paradies gleich ist.34 Die Wiedergeburt ist die Voraussetzung für die Gottebenbildlichkeit des 29 30 31

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Vgl. Hinckelmann ( Anm. 7), bes. 61 ff. Colberg (Anm. 26), Tl. 1, 133 f. Zit. n. Sibylle Rusterholz: Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois M. Haas. Wiesbaden 1994, 129–146, hier: 130. Es geht mir hier jetzt nicht primär um die Buch-Metapher, die sich so, wenn ich recht sehe, bei den Sulzbachern nicht findet. Ebd., 130. Colberg (Anm. 26), Tl. 1, 5. Vgl. Rusterholz, Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme (Anm. 31), 132 f.

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Menschen und für die Erkenntnis Gottes. Solche Gedanken lassen sich vor allem in Knorr von Rosenroths Neuem Helicon finden. Am Ende des zweiten Teils gibt es eine Reihe von Gedichten, die die Passion Christi parallelisieren mit der Beherrschung der Affekte, wobei auch die Metapher vom alten Adam, den man kreuzigen solle, fällt: »Fernere Betrachtung/ wie man seinen alten Adam/ das ist/ seine Leidenschafften mit Christo creutzigen solle; genant die verkehrte Passion.«35 Genau dieses Bild kreidet Colberg den platonischen Christen an: »Dieses verstehen sie auch durch die Creutzigung und Tödtung des alten Adams/ und durch die Nachfolge Christi/ welche alle zur Seligkeit hochnöthig sind/ weil sonst die Seele nicht kan purgiret werden. Nachdem sie nun gereiniget […] muß sie in sich selbst kehren in tieffer Gelassenheit und hertzlicher Ergebung in den Willen GOttes. Da wird sie […] durch innerliches Eingeben erleuchtet/ und endlich […] mit Christo/ ihrem ersten Ursprung wieder vereiniget werden.36

In der Tat ist im dritten Teil des Helicon von der Reinigung, ja von der Wiedergeburt die Rede, wobei das Gedicht, welches von der Wiedergeburt handelt, von Henry More stammt.37 Der Mensch muss wiedergeboren werden, um Anteil zu haben an der Gottebenbildlichkeit und an der Erkenntnis der Schöpfung, das ist ein Gedanke, der sich so auch bei Böhme findet.38 Das letzte Lied des Helicon trägt den Titel »Aufmunterung zur Göttlichen Vollkommenheit« und stammt vom Niederländer Adam Boreel, darin findet sich der Vers »Du Himmels Licht! strahl starck von innen.« und es ist vom »Quell der Süssigkeiten« die Rede, der sich in der Seele ausbreiten soll, die in Böhmes Konzeption eine Qualität Gottes ist.39 Es wird hier also jene Metaphorik verwendet, welche den orthodoxen Lutheranern ein Dorn im Auge ist und für welche bei Colberg Böhme als einer der Hauptzeugen herhalten muss. Der Leib sei aus dieser Sicht nur ein Gehäuse für die Seele und worauf es ankomme, sei allein dieses innere Licht. Die Seligkeit bestehe allein in der Erkenntnis seiner selbst, wirft Colberg dieser Richtung vor.40

Die Erkenntnis der Natur und der Welt Das andere Buch der Erkenntnis, ist das Liber naturae, in dem man »vermittelst der angebildeten Signaturen oder Figuren, Lineamenten und Farben, allen Ge35 36 37

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Christian Knorr von Rosenroth: Neuer Helicon mit seinen Neun Musen. Das ist: Geistliche Sitten-Lieder […]. Nürnberg 1684, 49 (Lied XXIII). Colberg (Anm. 26), Tl. 1, 105. Helicon (Anm. 35), 82 (Lied XXXVII), s. auch das Gedicht LVII, in dem ein Mensch beim Abendspaziergang ertrinkt und wiedergeboren wird. Vgl. Rosmarie Zeller: Der Neue Helicon als Schule der Glückseligkeit. In: Morgen-Glantz, 14 (2004), 229–249. Vgl. Rusterholz, Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme (Anm. 31), 132. Helicon (Anm. 35), 181 f. (Lied LXX). Colberg (Anm. 26), Tl. 2, 12 ff., 18; s. auch Tl. 2, 99.

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schöpfen gleichsam in das Hertz und in innerste Natur hineinsehen könnte,« wie Böhme schreibt.41 Er geht sogar so weit, zu behaupten, wenn man Gott nicht aus der Schöpfung erkennen würde, wüsste man nichts von ihm. Er wehrt sich gegen die lutherische Orthodoxie, die ein solches Wissen nicht zulassen will, wenn er schreibt: Und ist mit nichten zu dencken, als ob ein Christ nicht dörfte den Grund der Natur angreiffen, daß er nur müsse ein Klotz und stummes Bilde in der Wissenschaft der Geheimnissen der Natur seyn, wie Babel spricht, man dörft es nicht forschen und wissen, es wäre Sünde.42

Wenn Böhme davon spricht, dass es nötig sei, dass die »Magia naturalis« wieder offenbar werde, und dass »man in der Natur erkenne das ausgesprochene, geformte Wort Gottes«, er also die Natur als gleichwertiges Buch neben die Bibel stellt,43 so würde ich diese Absicht auch dem Sulzbacher Kreis unterstellen. Allerdings wollte man diese Erkenntnisse in Sulzbach weniger durch eine einfache Betrachtung der Signaturen in der Natur als durch eine Erforschung der Schriften, die die Naturgeheimnisse erforschen, erreichen bzw. durch alchemistische und naturmagische Experimente. So kann man erklären, dass 1680, als im übrigen Europa das Interesse längst abgeflaut war, Knorrs Übersetzung der Magia naturalis des Giambattista Della Porta in einer aufwendigen Ausgabe herauskommt. Auch die Übersetzung von Johann Baptist van Helmonts auf paracelsistischen Grundlagen beruhender Artzney-Kunst sowie das Interesse an der Alchemie gehören in den Kontext der Suche nach den Geheimnissen der Natur, die zugleich Geheimnisse Gottes sind.44 Dass die Kabbala ebenfalls zu den Naturgeheimnissen führen soll, legt das Titelblatt nahe, dass uns eine Kabbala in der Pose der Weisheit zeigt, die den Leser in den Tempel des Arcanen führt, welches wie die Umgebung zeigt, zugleich die ober- und unterirdische Natur umfasst.45 Zudem erklärt Knorr in der Einleitung

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Rusterholz, Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme (Anm. 31), 131. Böhme, Mysterium magnum, zit. n. ebd., 135. Rusterholz, Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme (Anm. 31), 135. In der Kabbala denudata findet sich ein alchemistischer Traktat, der nur hier überliefert ist, und Knorr von Rosenroth hat mit seinem Schauspiel Conjugium Phoebi et Palladis sein alchemistisches Wissen zur Schau gestellt. Zum Zusammenhang von solchen Forschungen und der Neigung zur Heterodoxie vgl. Christine Maillard: Eine Wissensform unter Heterodoxieverdacht: die spekulative Alchemie nach 1800. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, 267–289. Vgl. dazu meine Analyse des Titelbildes: Der Paratext der Kabbala Denudata. Die Vermittlung von jüdischer und christlicher Weisheit. In: Morgen-Glantz 7 (1997), 141–169.

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Ich hoffe, daß ich in den Kabbalistischen Schriften der Juden finde, was von der alten barbarisch-jüdischen Philosophie übriggeblieben ist. […] Ich habe keinen größeren Wunsch als daß die Sonne selbst und ihr helles Licht alle Nebel auflöst. Ich habe kaum gehofft, einmal dieses Licht sehen zu können, bis ich dem Lauf des Flusses folgte und zur Quelle selbst kam, welche wie ich hoffe, in diesen sehr alten Büchern entdeckt wird.46

Was Böhme durch seine Erleuchtung erlebt hat, will man in Sulzbach in den Schriften der Alten finden, jenes Licht, das letztlich dazu führt, dass sich Juden und Christen vereinigen können, was wiederum diese Konzepte mit chiliastischen Ideen verbindet. Diese Auffassung, dass in der Schöpfung das Göttliche enthalten ist und dass die Lektüre im Buch der Natur neben der Lektüre der Heilige Schrift zur Erkenntnis Gottes beiträgt, kam in den Augen der auf die Schrift fixierten Lutheraner einer Abwertung der Schrift und damit der Häresie gleich. So moniert auch Colberg folgerichtig, dass die platonischen Christen neben der Bibel die Erkenntnis Gottes auch »aus dem Licht der Natur« und den »Signaturen der Dinge« gewinnen wollen.47 Die Annahme, dass man Gott in der Natur finden könne, impliziert das Interesse an der Art, wie Gott die Welt erschaffen hat und damit an der Auslegung der Genesis und des Schöpfungsberichts. Es ist sicher kein Zufall, dass sich Böhme, Franciscus Mercurius van Helmont und Henry More mit der Deutung des Schöpfungsberichtes befasst haben und dass sie sich damit ein weiteres Mal dem Heterodoxie-Verdacht ausgesetzt haben.48 Hinckelmann nennt denn auch als erstes Kriterium der mit der Schrift nicht zu vereinbaren Auffassungen Böhmes seine Konzeption der Schöpfung: GOTT hat alle Dinge/ sichtbare und unsichtbare aus seinem Göttlichen Wesen geschaffen/ dergestalt/ daß er sie nicht ohne einiger albereit verhandener Materie/ sondern aus sich selbst und seinen eigenen Wesen als universal-Materie hervor gebracht.49

Solche Vorstellungen findet man auch bei Franciscus Mercurius van Helmont, wenn er in seiner Abhandlung The Divine Being schreibt, »God had all things essentially in him before the creation«,50 er ist die Ursache und der Ursprung aller 46

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»[…] in Scriptis Judaeorum Cabbalistica me inventurum sperem, si quid superest Antiquae Philosophiae Barbarica Judaicae […] nihil magis in votis habui quam ut dissipatis omnibus obstantium impedimentorum nubilis sole ipso atque luce ejusdem clariore, frui mihi liceret; quam aspicere posse vix sperari, nisi ipsorum vestigiis insitens rivulroum horum ductu ipsam persequerer scaturiginem; quam in antiquioribus illis libris me inventurum adhuc opinior.« (Kabbala denudata, I, 2, S.75–76) Colberg (Anm. 26), Tl. 1, 131. Böhme hat sich sowohl in Aurora wie in Mysterium magnum zu diesen Fragen geäußert. F. M. van Helmont vor allem in einer Schrift, die er zusammen mit Paul Buchius, einem niederländischen Arzt, geschrieben haben soll: The Divine Being an its Attributes. […] According to the Principles of F. M. B. van Helmont written in Low-Dutch by Paulus Buchius […] and translated in English by Philanglus. London 1693. (Elektronisch zugänglich unter Early English Books.) Henry More in: Conjectura cabbalistica […]. London 1653. Hinckelmann (Anm. 7 ), 1. Helmont, The Divine Being (Anm. 48), 21.

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Rosmarie Zeller

Dinge.51 Dass diese Lehre von der kabbalistischen Emanationslehre herkommt und dass Böhmes Konzept des »Ungrunds« dem »En-soph« der Kabbala entspricht, hat Sibylle Rusterholz nachgewiesen.52 Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Böhme und der Kabbala denudata stellt Colberg her. Er stellt zunächst fest, dass die Lehre der Juden Ähnlichkeiten mit der »Fanaticorum Träumen« habe,53 was man sehen könne, wenn man in der Kabbala denudata den Traktat Adumbratio Kabbalae christiane ansehe, der dem jüngeren Helmont zugeschrieben wird.54 Hier interessiert uns insbesondere die von Colberg hergestellte Beziehung zwischen der Helmontschen Schrift und Böhme. Immer wieder erklärt er das Konzept von Adam Kadmon mit Begriffen Böhmes, er sei »nach Böhmistischer Redens-Art/ die Licht-Welt/ oder der inwendige Christus.«55 Der Verfasser des Traktats unterscheide »fünff Cabalistische Personen« als Emanationen Gottes, dies sei, meint Colberg, nichts anderes »als was Jacob Böhm/ und seines gleichen Irr-Geister schwärmen von den fünff Personen in der Gottheit.«56 Schließlich bezieht er sich nochmals auf Böhme für die Stelle, welche erklärt, wie der Tod in die Welt gekommen sei, nämlich indem sich die Seele von Adam Kadmon dem weiblichen Teil genähert habe. »Jacob Böhmens Lehr/ vom Fall Adams/ so wird man befinden/ woher sie genommen.«57 Wie das Böse in die Welt gekommen sei, ist in der Tat eine Frage, die den Sulzbacher Kreis und Henry More ebenfalls beschäftigt. Die Hinweise von Colberg zeigen, dass er die Nähe von Böhmes Vorstellungen zu kabbalistischen Konzepten, aber auch zu andern Konzepten neuplatonischer Herkunft sehr wohl bemerkt, jedoch sind diese so allgemein, dass sich daraus kein Einfluss Böhmes auf F. M. van Helmont bzw. Ch. Knorr von Rosenroth ableiten lässt. Es handelt sich dabei um einen Komplex von Fragen, die sich zum Teil aus der Logik der Konzepte selbst ergibt. Wenn man annimmt, die Welt sei eine Emanation Gottes, fällt es schwer, das Böse zu erklären, und man muss in diesem Fall das Ende der Welt als Wiederherstellung eines ursprünglichen harmonischen Zustandes begreifen. 51 52

53 54 55 56

57

»[…] he is the Cause or Original of all things« (Helmont, The Divine Being [Anm. 48], 22). Sibylle Rusterholz: Elemente der Kabbala bei Jacob Böhme. In: Mystik und Schriftkommentierung. Hrsg. v. Günther Bonheim u. Petra Kattner. Berlin 2007, 15–45; Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin 2009, 89–123. Colberg (Anm. 26), Tl. 2, 639. Vgl. Hutton, Ann Conway (Anm. 23), 204 f. Colberg (Anm. 26), Tl. 2, 640. Colberg erklärt, die erste Person sei Gott, die zweite der Vater, die dritte die Mutter/ die Liebe, die vierte der Sohn und die fünfte der heilige Geist ([Anm. 26], Tl. 2, 641). An einer andern Stelle schreibt er, dass Böhme neben der Dreifaltigkeit noch zwei andere Wesen, nämlich das Wort und die Weisheit annehme (ebd., 100). Colberg (Anm. 26), 642. Worauf Colberg hier genau anspielt, ist mir nicht klar, vielleicht auf die Erklärungen, die Böhme von Adams Menschwerdung im Mysterium Magnum, Kap. 19 gibt.

Böhme-Rezeption am Hof von Christian August von Pfalz-Sulzbach

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Naturalphabet Böhme wird auch immer wieder als Vorbild herangezogen, wenn von der Natursprache die Rede ist, so vertritt Allison Coudert die Meinung, dass Helmonts Idee des Naturalphabets von Böhme stamme.58 In der Tat gibt es auffällige Gemeinsamkeiten in den Vorstellungen der beiden Autoren über die Sprache, die Adam gesprochen hat. Böhmes Auffassung ist wie diejenige Helmonts, dass Adam, der wie es bei Böhme heißt, »aller Creaturen Eigenschaft gewust« hat, ihnen »Namen gegeben aus ihrer Essentz, Form und Eigenschaft«.59 Folglich, und das ist der eigentlich wichtige Aspekt, kann man aus den Namen auch wieder die Essenz, Form und Eigenschaft der Dinge ablesen. Böhme ist der Meinung, dass diese sich in jeder Sprache abbildet, dass also jede Sprache eine Natursprache ist, allerdings sind die Muttersprachen im Laufe der Zeit korrumpiert worden, aber derjenige, der vom heiligen Geist erleuchtet ist, kann die Natursprache verstehen. Helmont hingegen vertritt die aus der Kabbala abgeleitete Auffassung, dass das Hebräische die Ursprache sei, die Adam von Gott im Paradies gegeben worden ist. Hebräisch ist in den Augen Helmonts zugleich auch die Sprache, die Gott gesprochen hat.60 Beide Autoren vertreten auch die Auffassung, dass die Formung der Buchstaben im Mund ebenfalls die Bedeutung des Wortes enthält, Böhme scheint dabei mehr an ganze Wörter zu denken, Helmont an die einzelnen Buchstaben.61 Bei der Aussprache des Wortes findet daher eine Art Schöpfungsvorgang statt, indem durch die Aussprache die Bedeutung des Wortes entsteht. Helmonts Auffassung des Naturalphabets ist rationaler als Böhmes Konzept der Natursprache, er spricht nirgends davon, dass man erleuchtet sein müsse, um das Naturalphabet zu verstehen. Die Begründung, dass man die Natursprache nur als Inspirierter verstehen könne, führt Henry More auf Böhmes zügellose melancholische Phantasie zurück.62 Hinter Helmonts und Knorrs Natursprachenprojekt steht nicht primär die Erkenntnis Gottes oder der Natur, sondern die Absicht, die Kenntnis des Hebräischen weiter zu verbreiten,63 um dabei letztlich den Juden zu beweisen, dass ihre Anschauungen gar nicht so verschieden sind von den christlichen und dass sie sich daher bekehren können, was wiederum eine Beschleunigung der Herbeiführung des Millenniums bewirken würde. 58 59

60

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»All the major ideas about language in Helmont’s Alphabet of Nature and Thoughts on genesis are scattered throughout the earlier writings of Boehme.« (Coudert [Anm. 9], 96) Mysterium Magnum 19,22. Zit. n. Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin 1994, 90. Vgl. auch Markus Hundt: »Spracharbeit« im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin 2000, 48 ff. Franciscus Mercurius van Helmont: Alphabeti vere naturalis Hebraici brevissima […]. Sulzbach 1667, dt.: Kurtzer Entwurff des eigentlichen Natur-Alphabets der Heiligen Sprache: nach dessen Anleitung man auch Taubgebohrne verstehend und redend machen kan. Sulzbach 1667. Vgl. dazu Allison P. Coudert: Some Theories of Natural Language from the Renaissance to the seventeenth Century. In: Magia Naturalis und die Entstehung der modernen Naturwissenschaften. Wiesbaden 1978 (Studia Leibnitiana, Sonderh. 7), 56–114. Solche Vorstellungen könnten aus der Signaturenlehre des Paracelsus stammen. Hutton, More and Böhme (Anm. 7), 161. Vgl. die Vorrede von Christian Knorr von Rosenroth zu Helmonts Naturalphabet.

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Fazit Es versteht sich von selbst, dass es im Rahmen dieser Untersuchung nicht darauf ankommen kann, Unterschiede zwischen dem Sulzbacher Kreis und Böhme herauszuarbeiten. Es ging vielmehr darum, die gemeinsamen Konzepte hervorzuheben, die die Rede vom Einfluss Böhmes auf diese Autoren erklären können. Eine direkte Auseinandersetzung mit Böhme, wie sie zum Beispiel in Henry Mores Schrift Philosophiae teutonicae censura vorliegt, lässt sich in den Werken Helmonts und Knorrs nicht feststellen. Dass man in Sulzbach mit Ideen Böhmes sympathisierte, ist nicht zu bezweifeln, wie weit aber Böhmes Konzepte direkt in die Schriften Knorrs und Helmonts eingeflossen sind, ist schwer zu sagen. Es könnte sich bei den am Anfang dieser Untersuchung zitierten, nie belegten Aussagen vom Einfluss Böhmes auf das Sulzbacher Projekt, welches kurz zusammengefasst in der Suche nach der prisca philosophia und theologia bestand, um eine Art perspektivische Täuschung handeln, indem man die Gemeinsamkeiten Böhmes mit diesen allgemeinen Bestrebungen, die man mit Richard H. Popkin als dritte Kraft bezeichnen könnte,64 auf Böhme zurückführt, weil man ihn von allen Vertretern in Deutschland am besten kennt. In Wirklichkeit handelt es sich aber bei diesen Gemeinsamkeiten um den Rückgriff auf gemeinsame Wurzeln wie die Kabbala, die Alchemie und die Naturmagie nicht zuletzt paracelsistischer Herkunft, von der sowohl Böhme wie der Sulzbacher Kreis zehren. Man kann sich fragen, ob man in Sulzbach nicht ähnlich wie More und auch andere in Böhme einen »priscus theologus« gesehen hat, in dessen Schriften man viele Wahrheiten finden kann.65 Henry More streicht auch Böhmes Frömmigkeit hervor, seine Demut, brüderliche Liebe und seine Ergebung in Gottes Willen, alles Eigenschaften, welche auch Knorrs Haltung in seinem Neuen Helicon auszeichnen. Andererseits stehen in Sulzbach weniger Frömmigkeitskonzepte im Vordergrund, man entwirft weniger neue Theorien, sondern man versucht, das zu sichten, was schon da ist. Man gibt ältere Werke heraus, indem man sie kommentiert, ergänzt und aktualisiert. Man übt eine Vermittlungsfunktion aus und ermöglicht so einem breiten Benutzerkreis den Zugang zur Wahrheit, was letztlich der Herbeiführung des Millenniums dienen soll.66

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Richard H. Popkin: The Third Force in Seventeenth-Century Thought. Leiden 1992. Hutton (Anm. 7), 163. Sie spricht allerdings von »priscus theologus manqué«. Vgl. dazu Zeller (Anm. 4).

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Anhang

Schriften Böhmes in der Sulzbacher Bibliothek67 Deutsche Schriften Alle Theosophische Schrifften. Amsterdam 1682. In 4 Bänden. (Bd. 2, S. 144, Nr. 19; Buddecke 1, Nr.1) Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein, Von dreyerley Zustand des Menschen und dessen neuen Geburth [Amsterdam] 1639. (Bd. 2, S. 192, Nr. 2; Buddecke 1, Nr. 140) Theosophische Epistel, darinnen das Leben eines wahren Christen beschrieben wird. 1623. (Bd. 2, S. 192, Nr. 2; Buddecke 1, Nr. 140) Zwey Büchlein von Christi Testamenten. 1624. (Bd. 4, S. 120, Nr. 1; Buddecke 1, Nr. 169) Die Porten der Christenheit. Das schöne Perlen Crantzlein Mysterii magni. Magia aus den grossen Wundern. Die Porten zu Babel. Rechter Unterricht der verwirrten Babel. Schluss-rede des recht-Edlen Lilien-Zweigs. Extract etlicher Sendbrieffen. 1624. (Bd. 4, S. 120, Nr. 1; Buddecke Nr. 169)68 Gebethbüchlein auff alle Tage in der Wochen. 1624 (Bd. 4, S. 120, Nr. 1; Buddecke 1, Nr. 180) Zwey Büchlein von Christi Testamenten. Amsterdam, bey Henrico Betkio 1624.69 (Bd. 4, S. 120, Nr. 2; Buddecke 1, Nr. 170) Der Weg zu Christo. In zweyen Büchlein. 1628. (Bd. 4, S. 120, Nr. 3; Buddecke 1, Nr. 15) Von der neuen Wiedergeburth. Vom übersinnlichen Leben. Von der vermischten Welt und ihrer Boßheit. 1628. (Bd. 4, S. 120, Nr. 3; Buddecke 1, Nr. 15)70 Josephus redivivus. Amsterdam bey Veit Heinrichs 1631. (Bd. 4, S. 120, Nr. 3; Buddecke 1, Nr. 166) Trost-Schrifft von denen 4 Complexionen. (Bd. 4, S. 120, Nr. 3; Ausgabe nicht spezifiziert: Buddecke 1, Nr. 138 oder 139) Der Weeg zu Christo in zweyen Büchlein. 1635. (Bd. 4, S. 120, Nr. 4; Buddecke 1, Nr. 16)

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Die Zusammenstellung folgt derjenigen van Gemerts (Anm. 13). In Klammer wird zuerst die Seitenzahl im Katalog (Bd. 2, Cmb Cat 580–2 bzw. 4 Cmb Cat 580–4, s. Anm. 12) angegeben, ergänzt mit der Nummer in der Bibliographie von Werner Buddecke: Die Jakob Böhme-Ausgaben. Ein beschreibendes Verzeichnis. 1. Tl.: Die Ausgaben in deutscher Sprache. Göttingen 1937. 2. Tl.: Die Übersetzungen. Göttingen 1957. Die Schriften sind Bestandteil von Von Christi Testamenten. Allerdings erscheint in Buddeckes Verzeichnis der darin enthaltenden Schriften die erste Schrift Die Porten der Christenheit und die Schrift Magia aus den grossen Wundern nicht. Erscheinungsjahr 1658. Es handelt sich um einen Anhang zu Der Weg zu Christo.

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Rosmarie Zeller

Von der neuen Wiedergeburth. Vom übersinnlichen Leben. Von der Buß. 1635. (Bd. 4, S. 120, Nr. 4; Buddecke 1, Nr. 16)71 Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein, Von dem dreyerley Zustand des Menschen. 1639. (Bd. 4, S. 120, Nr. 4; Buddecke 1, Nr. 140) Theosophische Epistel vom Leben eines wahren Christen. 1623. (Bd. 4, S. 120, Nr. 4; Buddecke 1, Nr. 140)72 Der Weeg zu Christo in zwey Büchlein etc. 1635. (Bd. 4, S. 120, Nr. 5; Buddecke 1, Nr. 16) Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein, Von dem dreyerley Zustand des Menschen. Sendbrieff was im Christ sey. 1639. (Bd. 4, S. 121, Nr. 6; Buddecke 1, Nr. 140). 2 Exemplare. Büchlein de signatura rerum. Das ist: Verzeichnuß aller Dinge wie das innerliche und äusserliche bezeichnet wird. 1635. (Bd. 4, S. 121, Nr. 8; Buddecke 1, Nr. 145)73 De signatura Rerum. 1635. (Bd. 4, S. 121, Nr. 9; Buddecke 1, Nr. 145) Der Weeg zu Christo. Von wahrer Gelassenheit. Von der neuen Wiedergeburth. Vom übersinnl. Leben. Von der Buß. Von der vermischten Welt und ihrer Boßheit. Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein. Theosoph. Sendbrieffe. [Amsterdam?] 1635. (Bd. 4, S. 121, Nr. 9; Buddecke 1, Nr. 16) Der Weeg zu Christo in 6 Büchlein. Amsterdam, bey Henrico Betkio 1658. (Bd. 4, S. 121, Nr. 10; Buddecke 1, Nr. 17) Theosophische Send-Schreiben. Amsterdam, bey Henrio [sic!] Betkio 1558. [recte: 1658]. (Bd. 2, S. 121, Nr. 12; Buddecke 1, Nr. 184) 40 Fragen von der Seelen. Amsterdam, bey Hans Fabeln 1648. (Bd. 4, S. 121, Nr. 13; Buddecke 1, Nr. 129) Trost-Schrifft von denen 4 Complexionen. (Bd. 4, S. 121, Nr. 13; Ausgabe nicht spezifiziert: Buddecke 1, Nr. 138 oder 139) 40 Fragen von der Seelen. Amsterdam, bey Hans Fabeln 1648. (Bd. 4, S. 121, Nr. 14; Buddecke 1, Nr. 129) Mysterium magnum oder Erklährung über das erste Buch Moysis. 1640. (Bd. 4, S. 41, Nr. 6; Buddecke 1, Nr. 164) Mysterium magnum. 1640. (Bd. 4, S. 41, Nr. 7; Buddecke 1, Nr. 164). 2 Exemplare.

Niederländische Ausgaben Van de groote ses Puncten, ghedruckt in t’ Jahr 1642. (Bd. 4, S.41, Nr. 1; Buddecke 2, Nr. 20) Het vierde Boeck, van 40 Vragen over de Siele. 1620. (Bd. 4, S. 41, Nr. 2; Buddecke 2, Nr. 18) Van de Menschwordingh Jesu Christi en van t’ Lyden, Sterven, en van den Dood en Opstandingh Christi. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 3; Buddecke 2, Nr. 19) 71 72 73

Es handelt sich um einen Anhang zu Der Weg zu Christo. Bestandteil von Bedencken über Esaiae Stiefels Büchlein. Buddecke verzeichnet kein Werk mit diesem Titel, der Bibliothekar verzeichnet auf der andern Seite die Titel sehr genau. Da der Untertitel aber mit De signatura rerum übereinstimmt, nehme ich an, dass es sich doch um dieses Werk handelt.

Böhme-Rezeption am Hof von Christian August von Pfalz-Sulzbach

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Het achtste Boeck, de genadige Verkiesing, ofte van den Wille Gods over de Menschen. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 4; Buddecke 2, Nr. 33) Het tweede Boeck, van de drie Principien, van t’ goddelycke Weesen. eodem. (Bd. 4, S. 41, Nr. 5; Buddecke 2; Nr. 16) Het derde Boeck, zynde hooge ende diepe gronden, van t’ drievoudigh Leven des Menschen. (Bd. 4, S. 41, Nr. 5; Buddecke 2, Nr. 17) Eenighe schoone Brieven. 1641. (Bd. 4, S. 41, Nr. 6; Buddecke 2, Nr. 43) Betrachtingh van de goddelycke oppenbaringh in 177 Theosophische Vraghen ghestellt. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 41) Korte Verklaering van ses Puncten. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 21) De hooghwaardighe Poorte van de Goddelycke beschouwelyckheyt. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 32) Een grondelycker berecht van t’ Aerdsche en van t’ himmelsche [sic!] Mysterium. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 29) Verklaringh over de tafel van de drie Principien. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 36) Clavis ofte Sleutel van de vornaamste Puncten en Woorden. 1642. (Bd. 4, S. 41, Nr. 8; Buddecke 2, Nr. 37) Een gebeth-Boeckien. 1641. (Bd. 4, S. 42, Nr. 9; Buddecke 2, Nr. 39) Eenighe schoone Brieven. 1641. (Bd. 4, S. 42, Nr. 9; Buddecke 2, Nr. 43) Een kort berecht van de nieuwe Wedergeboorte. 1642. (Bd. 4, S. 42, Nr. 9; Buddecke 2, Nr. 29) t’ Samen Spraack van t’ bovensinnelycke leven. 1641. (Bd. 4, S. 42, Nr. 9; Buddecke 2, Nr. 30) Van de vier Complexion. 1642. (Bd. 4, S. 42, Nr. 9; Buddecke 2, Nr. 24) Apologien t’gheen Heer Gregorii Richter ende Baltazar Tylcken. 1642. (Bd. 4, S. 42, Nr. 10)74 Een Handt-Boecken, zijnde een welrieckende bloem etc. Vergadert uyt het Hoogduyts. t’ Amstelredam, by Paulus Aerts von Ravensteijn. 1634. (Bd. 4, S. 122, Nr. 15; Buddecke 2, Nr. 5) Den eersten trap tot de Beekeringe [sic!]. 1635. (Bd. 4, S. 122, Nr. 15; Buddecke 2, Nr. 6) Den tweeden trap tot de Beekeeringe. t’ Amstel by Nicolaes van Ravensteijn. 1635. (Bd. 4, S. 122, Nr. 15; Buddecke 2, Nr. 7). 2 Exemplare Zleutel-bloem tweede deel. t’ Amstel by Paulus Aertsz van Ravensteijn. 1635. (Bd. 4, S. 122, Nr. 15; Buddecke 2, Nr. 5). 2 Exemplare Een Handt-Boecken etc. ut supra Nr. 15. 1634. (Bd. 4, S. 122, Nr. 16; Buddecke 2, Nr. 5) Zleutel-bloem etc. ut supra Nr. 15. 1634. (Bd. 4, S. 122, Nr. 17; Buddecke 2, Nr. 5) Den tweeden trap etc. ut supra Nr. 15. 1634. (Bd. 4, S. 122, Nr. 18; Buddecke 2, Nr. 5)

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Die Schrift ist so nicht bei Buddecke verzeichnet, vielleicht handelt es sich um eine Zusammenstellung der zwei einzeln erschienenen Schriften.

Harald Haferland

Heilsbedeutung und spekulative Alchemie Böhme-Rezeption bei Quirinus Kuhlmann

Am 4. Oktober 1689 wird Quirinus Kuhlmann in Moskau verbrannt. Im selben Jahr war er unter fremdem Namen nach Moskau eingereist, um die Herstellung einer jesuelitischen Monarchie zu befördern. Walter Dietze hat im Zuge einer Auswertung auch des Moskauer Aktenmaterials und einer Analyse der Moskauer politischen Zustände die staats- und kirchenfeindlichen Bestrebungen Kuhlmanns neben seinen sozialkritischen und politischen Weissagungen für die bestürzende Hinrichtung des sprachgewaltigen Dichters verantwortlich gemacht1 – der doch jeder konkreten Politik so fern war, wie man es als Dichter nur je sein kann. An Dietzes Diagnose wird man nicht rütteln wollen, doch lassen sich auch Ursachen anderer Art ausfindig machen. Die Wahnvorstellung, im göttlichen Heilsplan eine entscheidende Rolle zu spielen und Gottes Werkzeug bei der Errichtung der kommenden jesuelitischen Monarchie zu sein, die Kuhlmann schließlich glauben ließ, als ›Sohn des Sohnes Gottes‹ auftreten zu können, musste seine gebildeten Kommunikationspartner irritieren und die Vertreter der Konfessionen in der Moskauer Deutschengemeinde verprellen; sie ließen ihn auflaufen und denunzierten ihn. Kuhlmann war schlicht größenwahnsinnig und Opfer eines Christuswahns. Claus Victor Bock hat überdies von Kuhlmanns Beziehungswahn gesprochen.2 ›Beziehungswahn‹ kann man wie ›Größenwahn‹ als klinische Diagnose verstehen. Er besteht darin, nahezu alles, was einem begegnet, auf eine wie immer konstruierte und zwanghaft aufrechterhaltene Identität zu beziehen. Alles hat dann in diesem Kontext Bedeutung. Wer Christus sein will oder auch nur e i n Christus oder nur christusförmig, wird auch triviale Alltagsereignisse noch in Anlehnung an das Neue und Alte Testament auf seine eigene Erwähltheit hin interpretieren. Das riesige Netz von Bezügen nicht nur auf die Bibel, das Kuhlmann in seinem Kühlpsalter entwirft, und der Kühlpsalter selbst heben die Frage nach einer klinischen Diagnose indes auf (man kann Kuhlmann nicht mehr in die Psychiatrie einweisen; heutzutage würde man es vielleicht tun): Hier liegt ein bis ins Letzte literarisierter Beziehungswahn vor, der erklärt und interpretiert werden will und nicht diagnostiziert. Ich zeige Kuhlmanns Beziehungswahn im Folgenden an einem Beispiel auf (I). An seiner Ausprägung ist Kuhlmanns Böhme-Lektüre mit beteiligt, die ich im 1 2

Walter Dietze: Quirinus Kuhlmann. Ketzer und Poet. Versuch einer monographischen Darstellung von Leben und Werk. Berlin 1963, 332. Claus Victor Bock: Quirinus Kuhlmann als Dichter. Ein Beitrag zur Charakteristik des Ekstatikers. Berlin 1957, 106.

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Harald Haferland

Anschluss behandle (II). Ausschlaggebend ist hier, dass Kuhlmann sich in einen Heilsprozess hineingestellt sieht, dessen Rahmen er aus dieser Lektüre gewinnt. Im dritten Teil meines Aufsatzes gehe ich frühneuzeitlichen Vorstellungsformen dieses Heilsprozesses nach, für die eine spekulativ ausgedeutete Alchemie die Vorlage geliefert hat (III).

I

Kuhlmanns Beziehungswahn ist auf dem Hintergrund einer kulturell proliferierenden Manie zu betrachten, die auf verborgene Bedeutungen hinter entdeckten Zeichen und Figuren zurückzugehen sucht. Die Frühe Neuzeit ist voll davon und die Signaturenlehre etwa nur ein Ableger dieser Manie. Für die Dichtung, die im Zeitalter des Barock vielfach Gelegenheitsdichtung ist, stellt die Bindung an Gelegenheiten bzw. an bestimmte Situationen zudem einen ganz eigenen Antrieb der Beziehungsbildung dar. ›Gelegenheit‹ ist für den Kühlpsalter allerdings nicht im Sinne der vielen kleineren und größeren rites de passage – Geburt und Taufe, Geburtstag, Hochzeit, Begräbnis u. a. m. – zu verstehen, denen unzählige Gedichte im 17. Jahrhundert prospektiv zugeordnet und davon betroffenen oder involvierten Personen zugewidmet werden.3 Vielmehr wird im Nachhinein die Entstehungssituation in einer Überschrift ausgewiesen. So durchaus auch etwa schon bei Opitz, wenn auch in ganz harmloser Form: »Gedancken bey Nacht, als er nicht schlaffen kundte«4 bezeichnet bei Opitz die an sich recht unbedeutsame Situation, auf welche die hiermit angekündigte Elegie zurückgeht – eine Situation, die aber eben durch die in ihr entstandene Elegie zu einer gewissen Bedeutsamkeit erhoben wird. Mit ›als‹ wird Bezug auf sie genommen. Die näheren Umstände (Nachts, Nicht-Schlafen-Können, Gedanken) spinnen zusammen mit dem Gedichtinhalt ein Beziehungsgeflecht, und die besondere Entstehungssituation wird so Teil der Bedeutung des Gedichts. Denn dieses geht entscheidend hervor aus der in ihm aufgehobenen Situation. Bei Kuhlmann heißt es etwa: »Als er di Jesuelische Lilirose mitten unter den gefährlichsten Anschlägen des verfluchten Romes in seinem London fortpflanzte […]; gejubiliret zu London an seinem 50 tage den 31 Aug. 1679.«5 Die temporale 3

4 5

Zur barocken Gelegenheitsdichtung vgl. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977. Vgl. auch das große Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Im Zusammenwirken mit der Forschungsstelle Literatur der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück hrsg. v. Klaus Garber. Hildesheim, Zürich, New York 2001 ff. Martin Opitz: Teutsche Poemata. Abdruck der Ausgabe von 1621 mit den Varianten der Einzeldrucke und der späteren Ausgaben. Hrsg. v. Georg Witkowski. Halle 1902, 20. Überschrift zum siebten Kühlpsalm des vierten Buchs. Ich zitiere: Quirinus Kuhlmann: Der Kühlpsalter. Hrsg. v. Robert L. Beare. 2 Bde. Tübingen 1971 (hier: Bd. 1, 227). Ich lasse im Folgenden alle von Kuhlmann vorgenommenen Hervorhebungen (im Druck als Kursivierung und Fettdruck erscheinend) weg, um die Lektüre nicht zu irritieren.

Heilsbedeutung und spekulative Alchemie

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Konjunktion fixiert den Zeitpunkt, dies und alles andere ist in hohem Maße beziehungsvoll und bedarf einer auch biographischen Entschlüsselung: Jesuel, nicht Jesus; Lilie und Rose; Anschläge Roms; Kuhlmanns London; Jubel Kuhlmanns in London; das Datum als Ablauf einer zahlensymbolisch markierten, auf Kuhlmann bezogenen Zeitspanne. Hieraus lässt sich schließen, dass das von Kuhlmann geförderte Wachstum der »Jesuelischen Lilirose« gegen katholischen Widerstand (s. das verfluchte Rom) als Heilsprozess aufgefasst wird und der so überschriebene Psalm zusammen mit dem Moment seiner Entstehung Heilsbedeutung besitzt. Deshalb handelt es sich bei den Gesängen und Psalmen des Kühlpsalters nicht eigentlich um Gedichte in einem Gedichtband, deren Inhalte bloß zu interpretieren wären. Vielmehr gelten sie Kuhlmann als Einschläge Gottes im Rahmen eines Heilsprozesses, in den er als Sprachrohr Gottes involviert ist. Der Gebrauch der temporalen Konjunktion zur zeitlichen Verankerung des heilsbezogenen Beziehungsnetzes ist alt. Vorbild für den Kühlpsalter sind natürlich die biblischen Psalmen, vor denen Überschriften stehen, die nicht selten auf ganz parallele Weise eine Entstehungssituation benennen – freilich fiktiv, da sie im Nachhinein und ohne wirkliche Kenntnis der Entstehungsumstände hinzugesetzt sind. So heißt es in die, qua […] (Ps 18 u. ö.) oder cum […] (Ps 34 u. ö.), und der paratextuelle Charakter der Überschriften macht sich durch den Sprung aus der dritten Person in die erste im folgenden Psalmentext dann ganz deutlich bemerkbar. Kuhlmann übernimmt dies für seinen Kühlpsalter und erreicht mit dem Er-Ich-Wechsel auch eine gewisse Objektivierung der Gedichtinhalte. Jedenfalls bringt das Er das nachfolgende Ich auf Distanz und rückt es in einem Rahmen zurecht. Der Rahmen ist der in der Überschrift mitbezeichnete Heilsprozess, in dem der Psalm seine Rolle spielt. Kuhlmann ist sich nicht sicher über den konkreten Verlauf des Heilsprozesses, weshalb die Überschriften oft auch eine Entschlüsselung vornehmen. Dabei lassen sie die heilsgeschichtlichen Konstruktionen Kuhlmanns jeweils mit hervortreten, die seine Entschlüsselungsarbeit überhaupt erst ermöglichen. Kuhlmann spezifiziert in den Prosaüberschriften die eigenen Lebenssituationen immer durch eine Datums- wie auch durch Ortsangaben. Zahlensymbolisch bestimmten Zeitspannen wie auch Städtenamen können dabei Possessivpronomen an die Seite gestellt werden (s. das eben zitierte »an seinem 50 tage« sowie »sein London«; dies erhellend beginnt dann auch der Psalm: »London, Ort der Lichteswunder,/ in dem Gott mein leid versüsst!«). Die Pronomen halten eine Form der Inbesitznahme fest bzw. markieren eine Besitzanzeige. Man kann vielleicht noch weiter gehen: Kuhlmann selbst sieht sich als Heilsbesitz. London also etwa ›gehört‹ zunächst Kuhlmann; und Kuhlmann ›gehört‹ dann auch London, insofern es einmal zum Ort seiner Erfahrungen mit dieser Stadt geworden ist und London hierdurch zum allgemeinen Heilsort aufgewertet wird. Sein kurzes Leben lang ist Kuhlmann unablässig auf Reisen – besonders oft zu Wasser, nach London etwa im Paketboot –, und die gespannte Erwartung auf die langsam näher rückenden Orte und Städte als Räume des Erlebens von (auch persönlichem) Heil mischt sich mit der Reflexion auf ihre zum Teil welthistori-

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sche Bedeutung.6 Vor der Ankunft stellt Kuhlmann sich auf die Städte ein, und die Psalmen spiegeln sowohl seine Erwartungen wie seine Einschätzung der besonderen Würde des Ortes. Mit der Erfahrung vor Ort geht Kuhlmann dann dazu über, beides zusammen laufen zu lassen. Orte/Städte erscheinen deshalb als besonders gewichtige Gravitationszentren in Kuhlmanns Beziehungsnetzen. In den Prosaüberschriften werden sie deshalb im Verein mit den je genannten Ereignissen ›heilsmythologisch‹ verschlüsselt; mit Recht ist hierfür von Privatmythologie gesprochen worden.7 Ich beginne meine Überlegungen zu Kuhlmanns Böhme-Rezeption mit Hinweisen zu seiner Vorstellung einer – auch in Moskau zu errichtenden – jesuelitischen Monarchie und zu dem Begriff ›Jesueliter‹. Die jesuelitische Monarchie wäre die fünfte nach den vier im biblischen Buch Daniel von Daniel geweissagten, und eine solche fünfte Monarchie spielt in den millenarischen, chiliastischen Bewegungen des 17. Jahrhunderts bereits eine große Rolle.8 Böhme zählt für Kuhlmann dabei primär als Gewährsmann für die bevorstehende Monarchie als Zeit des Heils. Böhmes Schriften werden deshalb an erster Stelle in ihrem Weissagungsgehalt ausgebeutet.9 Kuhlmann nennt die erwartete Monarchie jesuelitisch – und nicht jesuitisch –, indem er dem Buchstaben ›L‹ eine besondere Bedeutungsaufladung angedeihen lässt.10 6

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Ein besonders gewichtiger Fall ist hier Rom, über dessen historische und heilsgeschichtliche Rolle Kuhlmann im Zuge seiner Mittelmeer-Passage nach Konstantinopel, dem »Rom im fernen Morgenlande« (Vorspann zum zweiten Buch, Abschn. 1), und zurück sinniert; so schon beim anfänglichen Passieren Avignons, des »Französischen Roms« (Überschrift zum achten Psalm des zweiten Buchs). Dabei sind gleich mehrere Bedeutungen von ›Rom‹ im Spiel. Wie Kuhlmann mit diesen verschiedenen Bedeutungen und Spezifikationen von ›Rom‹ spielt, hat Eva-Maria Kabisch: Untersuchungen zur Sprache des Kühlpsalters von Quirinus Kuhlmann. Eine exemplarische Studie. Diss. Berlin 1970, 34–40, gezeigt. Vgl. auch unten Anm. 19. Vgl. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 219–261. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Erlösung durch Philologie. Der poetische Messianismus Quirinus Kuhlmanns (1651–1689). In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937–1996). Hrsg. v. Hans Feger. Amsterdam/Atlanta 1997, 243–284, hier: 257 f. – Kuhlmann bezieht sich im Neubegeisterten Böhme (vgl. Anm. 30), 12, auf Ludwig Friedrich Giftheil als den Initiator der Quintomonarchisten. Zu Giftheil s. Martin Lackner: Geistfrömmigkeit und Enderwartung. Studien zum preußischen und schlesischen Spiritualismus, dargestellt an Christoph Barthut und Quirinus Kuhlmann. Stuttgart 1959, 63 f. Vgl. zum weiteren Kontext des Millenarismus im 17. Jahrhundert auch Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Anja Hallmann u. Boris Bayer. Göttingen 2007, bes. Tl. 2. Weitere Anleihen Kuhlmanns bei Böhme stelle ich hier in den Hintergrund. Vgl. Hinweise dazu vor allem bei Sibylle Rusterholz: »Klarlichte Dunkelheiten«. Quirinus Kuhlmanns 62. Kühlpsalm. In: Martin Bircher/Alois M. Haas (Hrsg.): Deutsche Barocklyrik. Gedichtinterpretationen von Spee bis Haller. Bern/München 1974, 225–264, hier: 241 f. u. 247 ff., und Johann Nikolaus Schneider: Kuhlmanns Kalkül. Kompositionsprinzipien, sprachtheoretischer Standort und Sprechpraxis in Quirinus Kuhlmanns Kühlpsalter. In: Daphnis 27 (1998), 93–140, hier: 121–132. Zu Kuhlmanns auch aus der Kabbala herzuleitenden Buchstabenspielen vgl. die Hinweise bei Heinrich Erk: Offenbarung und heilige Sprache im Kühlpsalter Quirin Kuhlmanns. Diss. (masch.) Göttingen 1953, 290 ff.

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So heißt es zur Erläuterung des ›L‹ im Prosavorspann zum vierten Buch des Kühlpsalters: 29. Das heilige El, der nahme des grossen Engels, der mit der Seelen über di Himmel triumfiret, ist Uns durch alle Zehen L nun in dem nahmen Jesueliter widererstattet, und wird bald [als] das Israel der Christen der Jesueliter, das dreieinige Königreich Jesu Christi begrüsset werden.11

›Jesueliter‹ ist von Kuhlmann offensichtlich in Anlehnung an ›Israeliter‹ gebildet worden, da ›Jesuiter‹ oder ›Jesuiten‹ schon besetzt sind. ›Jesuel‹ für ›Jesus‹ taucht zum ersten Mal im zwölften Kühlpsalm des ersten Buchs (V. 962) auf und bezeichnet eine Spezifikation Jesu, nämlich den mit einem Thron ausgestatteten Endzeitherrscher – und z. B. nicht das Kind Jesus.12 Als Endzeitherrscher aber steht er zugleich für die zu erwartende fünfte Monarchie. ›El‹ als der hebräische Allgemeinbegriff für ›Gott‹ und ›Gottheit‹, der oft auch als Suffix von Engelnamen auftaucht – wie etwa beim Engelsfürsten Michael –, wird dabei von Kuhlmann zur Differenzierung der Bedeutung eingefügt.13 Die Jesueliter als Anhänger Jesu stellen demnach den Zusammenschluss jener Christen dar, welche die fünfte, die Endzeitmonarchie tragen. Was die zehn ›L‹ (s. o.: »Das heilige El […] ist Uns durch alle Zehen L nun in dem nahmen Jesueliter widererstattet«) für Kuhlmann bedeuten, müsste ein künftiger Kommentar ausgiebiger erläutern – man braucht auf Schritt und Tritt einen Kommentar für den Kühlpsalter, ohne freilich hoffen zu dürfen, dass alle Beziehungsbildungen wirklich bis ins Letzte aufzuklären wären. Im Folgenden eine Vorarbeit dazu: Im siebten Kühlpsalm des sechsten Buchs liefert Kuhlmann einmal sieben und dann drei Namen von Städten,14 in denen er sich aufgehalten hatte und die für ihn besondere Bedeutung erlangen. Er ruft zunächst stellvertretend die Einwohner an: 4. Lignitzer, Leiptziger, Leidner, Lübekker! Lüneburg, London, Lutecierleut! Siben Planete! Des Lebens aufwekker! […] 5. Löwisches Lyon mit Lesbus, Losanna! Unterdreistädte des Josaphats EL! (V. 12872–12881)15

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Der Kühlpsalter (Anm. 5), Bd. 1, 203. Ich füge bei Zitaten hier und im Folgenden in eckigen Klammern Verständnishilfen und textliche Verbesserungen ein. In der Vorrede zum achten Buch des Kühlpsalters bezeichnet Kuhlmann sich dann selbst als Jesuel. Vgl. auch Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 451 f. Zu Jesuel in der Engelordnung vgl. Erk, Offenbarung und heilige Sprache (Anm. 10), 23 ff. ›Jesueliter‹ soll eine »wegwerffung aller Sectirischer Partheiischer heutiger Nahmen« bedeuten. Vgl. den Quinarius (1680), 16; hier zit. n. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 213. Vgl. »di drei und siben L«, V. 6451, sowie noch einmal »Di zehn L«, V. 14033. Die Sieben und die Drei sind für Kuhlmann grundsätzlich Zahlen mit Heilssignifikanz. Ich zitiere die Gedichte des Kühlpsalters im Folgenden nach den in Beares Ausgabe durchnummerierten Versen.

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Die Siebenergruppe der Städte bildet hier die Planetensphären nach, die Dreiergruppe soll auf den Herrn verweisen, wie er nämlich Josaphat beisteht (»Der Herr war mit Joschafat«, 2Chr 17,3). Über die eingeformte Zahlensymbolik hinaus wird den ›L‹-Städten damit kosmische Erstreckung und Majestät zugesprochen. Die – auf Kuhlmanns Reise- und Lebensweg liegenden – Städte erlangen auf diese Weise eine charakteristische Mächtigkeit der Beziehungsstiftung. Städte stehen bei Kuhlmann immer und immer wieder für Orte, an denen für ihn Zeichenhaftes geschehen oder von denen für die Welt Bedeutsames ausgegangen ist (so steht etwa Görlitz für Böhme16 oder Patmos – in diesem Fall als Insel – für das Offenbarungserlebnis des Johannes17), und/oder sie sind Erfüllungsorte für die Wünsche und Hoffnungen Kuhlmanns. Schon die Überschrift zum ersten Kühlpsalm des ersten Buchs führt eine Kaskade von Städten auf, über die Kuhlmann von seiner Geburtsstadt Breslau aus zu seinen Studienorten Leipzig und Jena gelangte. Gibt es weitere Anhaltspunkte zur Beziehungsbildung – und Kuhlmann greift hierbei gern auch auf die anlautenden Konsonanten zurück –, so gewinnt eine solche Reihe ein heilsästhetisches Gewicht. Als Ästhetik oder Poetik des Heils kann man solche Formen der Beziehungsbildung betrachten, die Kuhlmann gerade auch zur sprachlichen Ausstattung seiner Psalmen findet und ausprägt. Dass die oben genannten Städte alle mit L anlauten, bindet sie zusammen und ist deshalb über die Reihenbildung hinaus doppelt bezeichnend, dreifach bezeichnend gar, wenn das hebräische ›El‹ mitgedacht wird. Beziehungen liegen in dieser Form oft in mehreren ›Packungen‹ übereinander. In dem in die Jahre 1678 f.18 gehörenden, dezidiert biographischen vierten Psalm des dritten Buchs hat Kuhlmann an der Zehnerreihe der L-Städte entlang seine heilsgeschichtlich konstruierte Biographie aufgezogen. In Liegnitz, »Das mich zuerst vor Teutschland schaugebühnt« (V. 3021), erscheint 1668 mit den Grabeschriften Kuhlmanns erste Publikation; Leipzig (V. 3067) wird Studienort; die »dritt-gestalt« Leiden wird Ort der für Kuhlmann so entscheidenden Böhme-Lektüre: »Als Böhme mir mich zeigte klar und hell« (V. 3130). Die »Virdgestalt« Lübeck löst aus dieser Lektüre gewonnene Weissagungselemente ein (V. 3217–3222), und die »fünffgestalt« Lüneburg bringt für Kuhlmanns Lebensweg gleichfalls wichtige negative Erfahrungen (»di Höllwelt«, V. 3283–3288). Dann heißt es: 64. Mein London zog mich fort mit allen kräfften, Das mich empfing als einen Printzen gleich; Es war mein Sechs, des Geistes eigne Quelle, Das mir von Gott zum eigenthum geschenkt. (V. 3295–3298)

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Als sein Geburtsort. Vgl. »Görlitz und Gröningen, Galata, Gades,/ Wundervirstädte der Jesuelspracht!« (V. 12864 f.) Groningen ist neben Leiden der Ort von Kuhlmanns intensivierter Böhme-Lektüre. So besonders im Patmos-Psalm, dem achten des dritten Buchs. Nach der Prosaüberschrift hat Kuhlmann den Psalm in den Jahren 1683 und 1684 noch einmal überarbeitet.

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Hier wird besonders deutlich, wie Orte/Städte als Gestalten des Erlebens und persönlichen Heils geradezu als Heilsbesitz aufgefasst werden, sodass denn von ›meinem‹ bzw. ›seinem London‹ die Rede sein kann, wie es auch in anderen Fällen der Beziehungsbildung durch Besitzanzeige geschieht. Ja, man kann sagen, dass Kuhlmanns Heilsdenken sich über possessive Spezifikationen entfaltet.19 Mit Lutecia/Paris ist »Das siben« (V. 3322) und mit Lyon die »Achtgestalt« der Städte erreicht (V. 3337); zu Lesbos heißt es »du Neunstadt meiner Städte« (V. 3391), und Lausanne ist schließlich die »Zehnstadt« (V. 3441). Die Zehn-L-Konstruktion ist 1682 im sechsten Buch des Kühlpsalters endgültig fest geworden, und zu Lausanne heißt es entsprechend etwa im elften Kühlpsalm des sechsten Buchs: 16. 6. O Losann, mein Saltz und wesen, Das zum zehnden L erlesen! Als zum zweiten ich dich sah, Ward mir Christi Kreuz schon nah. (V. 13303–13306)

Aber schon am Ende des dritten Buchs und in Kuhlmanns »virmahlsibnem Jahr«, das heißt in seinem 28. Lebensjahr (1679), werden die »zehn- und sibenstädt« als feste Gruppe(n) angesprochen (Str. 28 des 15. Kühlpsalms).20 Verbunden wird damit die Ankündigung: »Fall Babel! Fabel, fall! Des Abel El ist kommen!« Es folgen Komposita von ›war‹, ›ist‹ und ›wird‹ in verschiedenen Kombinationen, die in geschweiften Klammern wie in einem Paradigma untereinander gesetzt sind (dabei steht das ›waristwird‹ in der Mitte: »Jehovah waristwird ein ewig Libesflusguskus«, V. 576421), um die Einheit der Heilsgeschichte und die Ewigkeit ihres finalen Zustandes zu bezeichnen. Das Kommen Gottes (hier auch um des Binnenreims willen als Gott Abels gekennzeichnet22) in der zu Ende gehenden Geschichte (›Fabel‹ doppelsinnig hier für ›Geschichte‹?) wird mit der persönlichen Heilsbiographie Kuhlmanns verschränkt. Dabei gelangt das vielsprachige und in disparate Meinungen zersplitterte Babel – das also, was nach Böhme die

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Oft wird dabei auch der possessive Genitiv verwendet. Im folgenden Vers meint dieser allerdings eine Unheils-Spezifikation: »Rom, Romes Rom, das Rom von Rom verirrt!« (V. 5580). Vgl. hierzu auch Kabisch, Untersuchungen (Anm. 6), 35 f., mit deren Überlegungen sich der Vers folgendermaßen paraphrasieren lässt: ›(Päpstliches) Rom, (des historisch-geographischen) Romes (päpstliches) Rom, das (Gottes) Rom von (dem historisch-geographischen) Rom verirrt!‹ Subjekt wäre demnach hier das päpstliche Rom, das die Unheils-Spezifikation des historisch-geographischen Roms darstellt, während Gottes Rom die Heils-Spezifikation darstellt. Gottes Rom wird aber einstweilen durch das päpstliche verdrängt (›verirren‹ transitiv verstanden). Vgl. auch den Vorspann zum vierten Buch, Abschn. 5 aus dem Jahr 1680, wo betont wird, dass die drei Länder Holland, England und Frankreich »in meiner göttlichen Leitung di dritte, sechste und sibende Gestalt, mit ihrem Leyden, London, Lutecia [sind]«. Vgl. in Beares Ausgabe Bd. 1, 198. Zum Reimspiel mit ›Babel‹, ›Abel‹, ›El‹ und ›Bel‹ (= ›Baal‹) vgl. auch Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 166 f.

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Weltgeschichte ausmacht23 – zu Fall. Das 28. Jahr Kuhlmanns wird geradezu zum Subjekt der Heilsgeschichte: »Grosmache heut den Herrn, mein virmahlsibnes Jahr!« (V. 5760). Dabei steht es – im Heilspossessivus – für die besondere heilsbezogene Verfasstheit Kuhlmanns selbst. Ich schließe meinen Kursus ab: »durch alle Zehen L« im zitierten Prosavorspann zum vierten Buch heißt also, dass der Buchstabe, gestützt durch die Zehnheit der für Kuhlmann bedeutsamen L-Städte, die heilsmäßige Bedeutung des ›L‹ in ›Jesueliter‹ sichert; umgekehrt imprägniert das ›El‹ natürlich die Städtereihe als Reihe des Herrn. Im achten Kühlpsalm des sechsten Buchs kann das ›L‹ dann auch als freies Bindemittel dienen und eine neue Städtereihe ›durchgeellt‹ werden: 7. Was Langenau, was Liss und Lednitz bildt Ist itzt, Gottlob, durch A.L.L.E.S. haupterfüllt. EL hat durch EL sein göttlich EL durchELLt: Durch Ulmes Langenau ward Langenau erst offen. Printz Jesus hat di Erden hergestellt. Nun ist nach wunsch der wunsch der Heilgen eingetroffen. Gantz wundersam ward endlich kund Der hochverworffne Kühlzeitbund. (V. 12987–13994)

»A.L.L.E.S.« kürzt hier als bei Kuhlmann immer wieder für die Städtereihe Amsterdam, London, Lutecia/Paris (vgl. soweit auch V. 12888 f.), Edenburg und Smyrna (oder auch Stambul)24 auftauchendes Notarikon einen »Vorbedeutungslauf« (V. 12822) der Begegnung Kuhlmanns mit diesen Städten ab. Langenau, wenige Kilometer vor Ulm, wird von Kuhlmann allerdings wohl nur als auf der Karte aufgesuchter L-Ort angeführt und mit Ulm als Schauplatz der Ulmer Verträge vom 17. Juli 1620 in Verbindung gebracht, die dazu beitrugen, die Regierungszeit des sogenannten Winterkönigs Friedrichs V. von der Pfalz früh zu beenden.25 »Ulmes Langenau« scheint das durch diese Verträge mit schwergeprüfte Langenau,26 das aber der Wiederkehr des nicht nur von Kuhlmann als Papstgegner mythisierten Königs entgegen sehen kann. Wie diese Wiederkehr ist auch der zunächst »hochverworffne Kühlzeitbund« doch noch zu erwarten. Eine solche durch Widerstände hindurchgehende Heilserwartung wird mithin in der Strophe ›durchgeellt‹. Die Kühlzeit ist dabei die Zeit eines Neuen Bundes Gottes mit den Menschen; alle Kühl-Komposita bezieht Kuhlmann über die Gleichheit seines Namens auf sich als Instrument Gottes, das die heilsgeschichtliche Erfrischung, Erquickung 23

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Mysterium Magnum. In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. 7 u. 8 (1958), Kap. 35 u. 36. Bock, Quirinus Kuhlmann als Dichter (Anm. 2), 88. Vgl. zu Friedrich besonders den dritten Psalm des dritten Buchs. Vgl. dazu Erk, Offenbarung und heilige Sprache (Anm. 10), Kap. 4, und Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 176 f. Denn vgl. den Vers der vorhergehenden Strophe: »Der Fridrich ward durch Ulm bewährt.« (V. 12985) Langenau wird wohl nur um des ›L›s willen herbeigezogen.

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(resp. Kühlung in der heißen Jahreszeit) bringen soll, von der in der Petruspredigt der Apostelgeschichte (Apg 3,19 f.) die Rede war. Dort forderte Petrus zur Umkehr auf, ut veniant tempora refrigerii a conspectu domini. Kuhlmann sieht sich im Anschluss daran selbst als Kühlmonarch der bevorstehenden Kühlzeit. Ich bin exemplarisch abgeirrt, um zu demonstrieren, wohin man sich verliert, wenn man sich ein kleines Stück Klärung in einem solchem Beziehungsdelirium verschaffen will. Insbesondere Zahlen und Daten,27 Buchstaben, Namen – von Städten und historischen Personen insbesondere – und Farben dienen Kuhlmann zum Gerüst seines Beziehungsreichs, aber auch etwa die Himmelsrichtungen und die ihnen entsprechenden vier Kontinente sowie unterschiedliche biblische Anhaltspunkte, öfter auch aus der Johannesoffenbarung. So wie in Buchstaben Heilsbedeutung verborgen ist (vgl. »Buchstaben sind auch wesentlichs verstehn!« V. 10934), die es zu entschlüsseln gilt, bilden auch die anderen Komponenten von Kuhlmanns Beziehungsreich aufzuschließende Verschlüsselungszentren. Nicht unwichtig ist es vielleicht, noch einmal zu betonen, dass Entschlüsselung und Verschlüsselung partiell zusammenfallen und dass es sich deshalb dabei um doppelseitige Konstrukte handelt. Stößt Kuhlmann etwa auf die L-Städte, so hilft er nach, um eine runde Zahl von L-Städten zu erreichen. Anstelle von ›Paris‹ greift er zu ›Lutecia‹ und nimmt auch eher zufällige Durchgangsorte mit hinzu; andererseits bleiben für Kuhlmann wichtige Städte wie Amsterdam in dieser Liste unterdrückt. Aus der so erhaltenen Zehnzahl schält er signifikante Teilzahlen heraus, aus denen er weitere Beziehungen herausspinnt. Auch die L-Städte als El-Städte zu fassen, zeigt den Konstruktcharakter. Was herausgeholt wird, wurde zuvor hineingesteckt. Ich kehre noch einmal zum Begriff ›Jesueliter‹ zurück, der in Analogie zu ›Israeliter‹ mit langem ›î‹ auszusprechen wäre, während und weshalb Kuhlmann dazu übergeht, ›Jesuelitter‹ zu schreiben.28 Warum ›weshalb‹? Weil er – so nehme ich an – eine Beziehung zu Jakob Böhmes Begriff des Salitter herstellen will, der in Böhmes Aurora meist in dieser Form geschrieben wird und aus ›Sal nitri‹ (eig. Salpeter) verderbt ist.29 Böhme meint damit – abweichend vom ursprünglich spezifischen Stoffbegriff – alles Materielle, was dann verschiedene Eigenschaften besitzen kann, was also materieller Träger von Eigenschaften und damit konkret ›begreiflich‹, d. h. anfassbar, ist. Gott schafft die materielle Welt unter Zuhilfenahme des Salitters. Wie sich die Eigenschaften im Salitter materialisieren, so Gott in der Zeit des Heils aber nun bei Kuhlmann im Menschenmaterial, in den Jesuelittern, über die und in denen sich sein Endreich realisiert.

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Zu Daten und Zeitspannen vgl. insbes. Schneider, Kompositionsprinzipien (Anm. 9). Der siebte Kühlpsalm des fünften Buchs heißt z. B. das »Hochlobkühllied der Jesuelitter«. Vgl. noch V. 10874, V. 18307 u. ö. Kuhlmann schreibt allerdings selbst ›Salniter‹ (Vorspann zum vierten Buch, Abschn. 15). Vgl. die verderbte Schreibung ›Salitter‹ auch etwa in einem bei Becher (vgl. unten Anm. 69), 776, gedruckten alchemistischen Rezept. Zum Begriff in Böhmes Aurora vgl. die Hinweise von van Ingen im Kommentar seiner Ausgabe: Jacob Böhme: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997, »Morgen-R=te im Aufgangk«, 9–506, hier: 82, Z. 23.

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II Ich muss weiter ausholen, um dies zu erläutern. Kuhlmann liest Ende 1673 und Anfang 1674 nahezu den ganzen Böhme und legt darüber im Jahr 1674 mit der Publikation des Neubegeisterten Böhme Rechenschaft ab. Böhme wird als Kronprophet einer kommenden Jesusmonarchie begriffen, die mit Wehen auf die Welt kommt, deren erste der sogenannte Dreißigjährige Krieg war.30 Ungeachtet seiner selbstbewusst zur Schau gestellten Einfalt oder auch gerade deshalb findet Böhme nach Kuhlmann das Ewige Evangelium, das alle bisher da gewesene Weisheit übersteige31 – im Anschluss daran wird Kuhlmann seinerseits aller gelehrten Anstrengung und ihren Institutionen, den Universitäten, entsagen und sich auf das verlassen, was ihm ›eindictiret‹ wird.32 So will er sich zum Werkzeug Gottes machen. Mit Böhme gewappnet kann er ankündigen: Ich bringe Böhmens Schrifften/ Großmächtige Könige/ und sämtlich übrige nach Standes würden[/] Herrlikeit und Hoheit geehrte Mitglieder des gantzen Luthertums/ vor euch zum Zeugnüsse der Warheit/ ausposaunend/ daß eure Königreiche und Fürstenthümer nebenst allen Herrlikeiten nun sich enden/ wie der Stein/ sonder Hände herabgerissen/ JEsus Christus/ nach Daniels Weissagung/ das Monarchienbild an seine Füße schläget und alles zermalmet. Alle Religionssecten haben ihren Schlus. Die Völkerzerstreuung ist aus. Das Märterrreich wird in ein Freudenreich verwechselt.33

Daniel, der nun zitiert wird, sage voraus, dass »di Fünfte Monarchi oder das Christusreich aufgerichtet wird/ das/ wiwol es tausend Jahr auf Erden währet/ nimmermehr zerstöret wird«. Hieraus leitet Kuhlmann eine Selbstermächtigung ab: »so bald ich den Christen ihren Antichrist gewisen/ wende ich mich zu den Unchristen/ oder Jüden/ Türken/ Heiden/ ihnen weisende die hochheilige Dreifaltigkeit und Einheit Gottes […].«34 Das ist es, was Kuhlmann in den verbleibenden 15 Jahren seines Lebens tun wird. Die bei Böhme notorisch genannte Trias der (heils)blinden Juden, Türken und Heiden35 gereicht ihm zum Missionsplan. »Di Türken/ Juden und Heidenbekehrung ist straks zuerwarten; ein Hirte wird di Völker in eine Herde versammeln.«36 Er will auf seiner Reise zum türkischen Sultan in Smyrna zu diesem vorgelassen werden;37 nach Jerusalem gelingt ihm allerdings nur eine Reise

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Quirinus Kuhlmann: Der Neubegeisterte Böhme. Hrsg. und erläut. von Jonathan Clark. Zwei Tle. Stuttgart 1995, 12. Ich lasse auch hier Kuhlmanns eigene Hervorhebungen in den im Folgenden gebrachten Zitaten wegfallen. Ebd., 30. Die Schreibhaltung drückt sich u. a. durch ein Schreiben wider Willen (ebd., 37) oder durch göttliche Eingebung aus. Vgl. entsprechend etwa auch die siebte Strophe des ersten Gesangs des ersten Buchs des Kühlpsalters (»Jesus war, der ihn regirte«, V. 51). Vgl. dazu auch Schneider, Kompositionsprinzipien (Anm. 9), 123 f. Vgl. Kuhlmann, Der Neubegeisterte Böhme (Anm. 30), 38. Ebd., 49. Böhme, Morgen-R=te im Aufgangk (Anm. 29), 76, 176 ff., 433 u. ö.; Der Neubegeisterte Böhme (Anm. 30), 55; vgl. die Trias auch ebd., 49 u. ö. Zu den Umständen der Reise vgl. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 202–209.

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im Geiste, die als aus dem Geist heraus wirksam gedacht werden muss.38 Ziel der absurden Unternehmungen ist die Herstellung der Einheit der Christenheit in der jesuelitischen Monarchie, Mittel sind die Jesuelitter in ihrer Vorreiterfunktion (vgl. auch »Die Widerkunfft wird aller Welt bekehren/ In Jesuels Vorrennern, den Kühlmännern«, V. 3389–90). Böhme hatte die Einheit der Christenheit in einem anderen Geist als dem herrschenden Geist Babels gefordert. Mitauslösendes Erlebnis für Kuhlmanns missionarischen Eifer ist seine Entdeckung einer Übereinstimmung zwischen den von ihm ausgehobenen Weissagungen Böhmes und denen des Amsterdamer Propheten Johannes Rothe. Rothes Weissagungen zur fünften Monarchie lernt Kuhlmann kurz nach seiner BöhmeLektüre kennen, um dann das Zusammentreffen der Lektüren in guter alter Legendentradition als bestätigende Koinzidenz zu verbuchen. Im später auch gesondert publizierten XV. Kapitel des Neubegeisterten Böhme sammelt er zunächst »Jacob Böhmens des Teutschen Propheten 150. Weissagungen und Offenbahrungen der güldenen Lilien- und Rosenzeit/ oder der glorwürdigsten JESUS-Monarchie«39. Nach Kuhlmann handelt es sich um zu wenig beachtete Weissagungen, »in denen doch di allerschönste harmoni mit dem überausprächtigen Jesusreiche zubefinden. Denn seine Lilien- und Rosenzeit ist nichts anders/ als di fünffte Monarchi«40. Lilie und Rose sind für Böhme und Kuhlmann über ihren traditionellen metaphorischen Gehalt hinaus Indikatoren eines finalen Weltzustandes, der die Endzeit einleitet.41 Sie stellen ursprünglich alchemistische Metaphern für das weiße und das rote Elixier dar, das der Produktion von Silber und Gold und damit den perfekten, finalen Zuständen der als Kontinuum aufgefassten Skala der sieben ›kanonischen‹ Metalle dient. Kuhlmann greift diese Bezeichnungen auf, und sie durchziehen dann vielfach verwortet den ganzen Kühlpsalter: vom »Rosenlilgenstand« ist die Rede (Vorspann zum ersten Buch, Abschn. 14), er will durch die Gnade Gottes »angelilgt« werden (V. 493), eine Person aus seiner Umgebung erscheint ihm als »Wunderlilienfigur« (Überschrift zum achten Gesang des ersten Buchs), »Di Morgenröth durchrosenlilget hoch […]« heißt es (V. 9632), und Kuhlmann sieht sich wiederum mit Jesusblut »belilgt« (V. 1172). Wunder werden »in der rosenlilgenstadt im RosenlilgenOctober sich berosenli38

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Bock, Quirinus Kuhlmann als Dichter (Anm. 2), 70 f., 78–85, hat sie deshalb als schamanistisch bzw. als angelehnt an die Form von Schamanenreisen interpretiert und hieraus die Kategorie des Ekstatikers für Kuhlmann abgeleitet – zweifellos ein anachronistischer Fehlgriff. Die Geistreise steht in der Tradition geistlicher Pilgerreisen, wie sie etwa die Sionpilgerin Felix Fabris – diese wohl in Anlehnung an Seuses Geistprozession (vgl. Seuses Vita in: Heinrich Seuse: Deutsche Schriften. Hrsg. v. Karl Bihlmeyer. Stuttgart 1907, 1–195, hier Kap. XIII) – exemplifiziert. Der Neubegeisterte Böhme (Anm. 30), 54. Ebd., 142. Vgl. bei Böhme insbesondere: De tribus principiis, oder Beschreibung der Drey Prinzipien Göttliches Wesens (1619). In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. 2, 191 ff., 204, 286 f., u. ö. So heißt es etwa (ebd., 316): »Jedoch wollen wirs setzen um der Lilien-Rosen willen: da denn der H. Geist im Wunder wird manche Porten er=ffnen, das man ietzt fFr unm=glich hält, und in der Welt niemand daheime ist, sondern sie sind zu Babel.«

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lgen« (Vorspann zum vierten Buch, Abschn. 10); freilich wäre hier jeweils die richtigere Reihenfolge ›belilirosen‹ zu erwarten, die aber ebenso vorkommt (z. B. V. 14537). Usw. Im folgenden XVI. Kapitel des Neubegeisterten Böhme stellt Kuhlmann in parallelem Aufbau die Entsprechungen von Rothes Weissagungen zu denen Böhmes zusammen. Es läuft darauf hinaus, dass die Bekehrung der Juden, Türken und Heiden durch einen Hirten zu erwarten ist, der die Völker in allernächster Zeit in einer Herde versammelt (s. o.). So heißt es denn später im Kühlpsalter: »Di zeit ist da der Türken, Juden, Heiden!/ Geht schnell mit ihnen ein, eh euch der Zorn ausfegt!/ Weicht von dem Missverstand/ der euch bisher bewolkt,/ […].« (V. 17618–20) Und es heißt: »Der einge Gott sei Eins in ider Nation!« (V. 16627) Es sei entsprechend nur auf die Zeichen zu achten, wie sie »Böhme geweissagt« habe (V. 17385). Böhme hatte sich dabei von einer grundsätzlichen Erwartung leiten lassen: »Alles muß wieder in das Eine, als in das Gantze, gehen, in der Vielheit ist nur ein Streit und Unruhe, aber in dem Einen ist eine ewige Ruhe, und kein Wiederwille.«42 Ein Zustand vor Babel muss demnach wieder erreicht werden.43 Mit den Weissagungen Böhmes und Rothes konvergieren auch Weissagungen einer ganzen Reihe weiterer ›Propheten‹, die Kuhlmann später zu seinen Kühlpropheten macht. Einige entnimmt er der Sammlung Lux e tenebris des Amos Comenius, andere lernt er selbst während seiner Aufenthalte in Amsterdam, London und anderswo kennen. Angesichts der Gewissheit der ausstehenden Zeit des Heils und der zunehmenden Gewissheit Kuhlmanns, jener Hirte zu sein, wird verständlich, dass er die Verhältnisse nicht aus eigener Kraft bewegen, sondern sich nur in die vorgesehene Rolle wie in eine vorgetretene Fußspur stellen musste. Dazu reichte ein letztlich recht kümmerlich gescheiterter, vergeblicher Versuch, den türkischen Sultan zu treffen und zu bekehren, und es reichte, Jerusalem nur im Geiste besucht zu haben. Denn vor Ort musste nichts konkret bewegt werden; das besorgte der von Gott in Gang gesetzte Heilsprozess schon selbst. Es reichte, eine vorbedeutsame Figur gegebenenfalls sogar auch nur unwissentlich auszuzieren, wie es einmal im Kühlpsalter über alle diejenigen heißt, die am Heilsgeschehen teilnehmen, ohne Kuhlmann als ihr Ziel zu erkennen (V. 12085). Freilich hat Kuhlmann einige wenige Jesuelitter gemacht: In Moskau wird ein von Kuhlmann überzeugter bemitleidenswerter deutscher Kaufmann zusammen mit ihm verbrannt. Die Aussage »Vil Völker wünschen mich: es warten Millione« (V. 15446) bleibt indes so sehr Wunschvorstellung wie ein noch zu gründendes Kühlmannopel (vgl. V. 16381 u. ö.). Früh sieht Kuhlmann das »Kühlmannsthum« schon als Voraussetzung des kommenden Jesusreichs (Überschrift zum 15. Kühlpsalm des ersten Buchs, aus dem Jahr 1677). Böhmes Weissagungen prägen Kuhlmanns Naherwartung, aus der heraus er seinen Kühlpsalter schreibt, und Böhme wird hier immer wieder genannt,44 da er 42 43 44

Mysterium Magnum (Anm. 23), 351 f. Vgl. zum Zerfall der Einheit in die Vielheit Hans Grunsky: Jacob Böhme. Stuttgart 1956, 277 f. Besonders eindringlich zusammengefasst ebd., 894 f. In der Einleitung zum fünften Gesang des ersten Buchs spricht Kuhlmann vom ›Böhmisieren‹ (zu Kuhlmanns ›-isieren‹-Bildungen vgl. Leonard Forster: Zu den Quellen des

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den heilsgeschichtlichen Rahmen liefert und für Kuhlmann angezeigt hat, »Ich würde dis, was er noch nicht, ersteigen« (V. 854). Die Reise nach Konstantinopel wird im Vorspann zum zweiten Buch ungeachtet des Spottes und der Verurteilung, die sie auf sich zieht, als Heilsmission aufgefasst, die »über Vernunfft fortläuffet« und einen »übernatürlichen fortgang« noch im selben Jahrhundert fände, auch wenn einstweilen ihr Erfolg nicht absehbar sei. Kuhlmann führt die Reise auf »di übernatürliche erste Hauptbewegung« seiner ja gleichermaßen ungeplanten Böhme-Lektüre zurück, durch die sie ursprünglich angestoßen wurde. Er wünscht, das apokalyptische Tier möge toben, um dem Großtürken den Glauben zu bringen und dann durch sich selbst zu Fall zu kommen. Da Kuhlmann nur Mittler einer neuen Begeisterung ist und nicht selbst der Treiber, muss er nichts tun, als ein Buch mit Weissagungen – gemeint ist des Comenius Lux e tenebris45 – zum Sultan zu bringen und auf dessen Einsicht zu warten. Was geschieht, wird als autokatalytischer Prozess aufgefasst. Gott hat den Prozess angestoßen, nun läuft er von allein weiter. Mit Böhmes sich im kosmischen Primärprozess aneinander entzündenden und sich gegenseitig infizierenden Qualitäten (s. dazu auch unten) stimmt Kuhlmanns Vorstellung des Heilsprozesses darin zusammen, dass hier Intentionen nichts zählen. Böhmes letztlich an Meister Eckhart angelehnte Konzeptualisierung des trinitarischen Prozesses als eines Prozesses, der sich immer und überall und notgedrungen ereignet,46 reinterpretiert auch diesen Prozess noch als einen der sich gegenseitig vorantreibenden, wallenden Qualitäten, die sich je nachdem, welcher Quellgeist Primus ist, d. h. die Oberhand gewonnen hat, in gegenseitigem Gebären, Ringen und Aufsteigen in eine andere Gestalt formieren.47 Was Böhme in zahllosen Selbstparaphrasen beschreibt, erscheint als ein Prozess, in den Willensentscheidungen keinen Eingang finden. Selbst Gott scheint – soweit er mit dem Primärprozess übereinkommt – noch determiniert, auch wenn Böhme solchen Determinismus dann wieder durch gegenteilige Behauptungen aufzuheben versucht.48

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46

47 48

Kühlpsalters. In: Euphorion 52 [1958], 256–271, hier: 258 f.), wobei Kuhlmann im Geiste Böhmes schreibt. Böhmes Name wird noch in V. 853, 3130, 3220, 3530, 6459, 8921, 17385 u. 19732 genannt. Auf die hier gesammelten Weissagungen Christoph Kotters, Christina Poniatovias und Nicolaus Drabitz’ bezieht sich Kuhlmann immer wieder. Vgl. Bock, Quirinus Kuhlmann als Dichter (Anm. 2), 52, und bes. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 144–158, der Kuhlmanns Umgang mit der Sammlung des Comenius bis hin zu ihrer Hinterlegung – für den auf einem Kriegszug befindlichen türkischen Sultan – in Konstantinopel/Stambul zusammen mit einem Begleitschreiben analysiert. »[…] der Vater geb(ret allenthalben den Sohn/ sein H. Wort« (Böhme, Morgen-R=te im Aufgangk [Anm. 29], 110). Vgl. dazu etwa Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Hrsg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1936 ff., Predigten. Erster Band, Stuttgart 1958, Predigt Nr. 6, 97–115, hier: 109 f.: Der vater gebirt sînen sun âne underlâz […]. Vgl. so etwa Morgen-R=te im Aufgangk (Anm. 29), 423. So heißt es etwa ebd., 319, zur menschlichen Willensfreiheit: »Dan ein jeder Mensch ist frey/ und ist wie ein eigener Gott […]«. Der Widerspruch wird in Böhmes Aurora nicht ausgetragen. Im Mysterium Magnum (Anm. 23), bes. Kap. 3, schaltet Böhme in den Primärprozess dann den Willen und die freie Lust ein.

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III Zusammen mit der für ihn zentralen heilsgeschichtlichen Orientierung konnte Kuhlmann einen anderen charakteristischen Zug von Böhmes Denken nicht übersehen, den ich ›spekulative Alchemie‹ nennen möchte. Ich verstehe darunter generell die Anwendung alchemistischer Vorstellungen auf neue und andere Gegenstandsbereiche als nur den der Metalltransmutation. Das geschieht in der Frühen Neuzeit auf breiter Front, so etwa bei Valentin Weigel in der Forderung nach Läuterung des inneren Menschen in Analogie zur Metallläuterung. Dass die Behandlung der Metalle und Stoffe eine Parallele zur ›Behandlung‹ Jesu durch seine Peiniger herzustellen erlaubt, hatte etwa das Buch der heiligen Dreifaltigkeit – neben vielen anderen Korrespondenzen zwischen dem Heilsgeschehen und der Alchemie – schon einmal aufgezeigt.49 Ganz explizit vergleicht auch der ›Wasserstein der Weisen‹ (zum ersten Mal 1619 gedruckt), dem Böhme einiges verdankt, Christus und seine heilsgeschichtliche Rolle mit der alchemistischen Tinktur, die unedle Metalle in edle zu verwandeln erlaubt: Dann gleich wie der Philosophen Stein/ vnd Chymische König/ mit seiner Tinctur den Nutz gibt/ auch diese Kraft und Tugend/ durch seinen vollkommenen Process an vnd in sich hat/ daß er andere vnd vnvollkommene vnd schlechte/ ja ungeachte Metallen tingiren/ vnd zu einem dichten Gold machen vnd immutiren kann. Also auch vnd noch vielmehr thut dieser himmlische K=nig/ ja Grund- vnd Eckstein/ Jesus Christus/ mit seiner gebenedeyten Tinctur, das ist/ mit seinem Rosinfarben Blut vns sFndhaffte/ gebrechliche vnd vnvollkommene Menschen/ von vnsern angeborenen Sordibus vnd Fæcibus einig vnd allein purificiren/ perficiren/ ja plusquam perfect heylen vnd curiren.50

Den Begriff der Tinktur machen sich Böhme wie Kuhlmann zueigen,51 Kuhlmann auch so, dass er die Schriften Böhmes ihrerseits als »Grostinctur« versteht (V. 3549 ff.). Der Begriff ist im 17. Jahrhundert mindestens so prominent wie der Begriff der Signatur. Kultur- und epochengeschichtlich interessanter sind aber sicherlich solche Fälle, in denen die Anwendung alchemistischer Vorstellungen nicht explizit über sprachlich ausgewiesene Vergleiche und Metaphern/Metaphorisierungen bzw. durch uneigentliche Rede und sprachliche Bildlichkeit erfolgt, sondern hintergründiger auf konzeptueller Ebene. Dies geschieht bei Jakob Böhme insbesondere im Zuge seiner Kosmogonie, die das autokatalytische Prozes49

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51

Uwe Junker: Das Buch der Heiligen Dreifaltigkeit in seiner zweiten, alchemistischen Fassung (Kadolzburg 1433). Köln 1986. Zum Verfasser s. Joachim Telle: Art. »Ulmannus«. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. v. Burghart Wachinger u. a. Bd. 11. Berlin/New York 2004, 1573–1580. Eine kritische Ausgabe des Buchs der Heiligen Dreifaltigkeit ist ein Desiderat. – Für Hinweise zu den folgenden Ausführungen danke ich Joachim Telle. Wasserstein der Weisen. Einschließlich aller der in der Ausgabe von 1661 enthaltenen weiteren Schriften. Vollständiger, originalgetreuer Nachdruck der 1661 bei Christoff le Blon in Frankfurt a. M. erschienenen Ausgabe. Freiburg i. Br. 1977, 87 f. Böhme, De tribus principiis (Anm. 41), Kap. 12 u. 13 (135 ff.). Vgl. außerdem die bei Günther Bonheim: Zeichendeutung und Natursprache. Ein Versuch über Jacob Böhme. Würzburg 1992, s. Reg. zu ›Tinctur‹, aufgeführten Stellen. Vgl. bei Kuhlmann etwa V. 3392, 10070 u. 12717.

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sieren von Grundeigenschaften als einen Primärprozess vorsieht, der Kräfte, Farben und Tugenden – wie Böhme gern für die wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge sagt52 – und überhaupt auch die Dinge selbst in der Welt hervorbringt. Voran geht hier u. a. Paracelsus, dem die Trias von Schwefel, Quecksilber und Salz als den Grundstoffen aller Dinge – über die Elemente hinaus – zu verdanken ist. Diese drei machen nämlich letztlich den »grund und die warhafftige Materia« aus, »darauß alle Thiere/ darauß ferner der Mensch beschaffen worden/ beschaffen sind« und damit die organische Natur: So jemandt diese meine Philosophiam lesen und recht verstehen will, der soll wissen, dz SULPHUR, MERCURIUS, SAL, das rechte und beste Richtscheidt und Wegweiser eines jeden Arztes seind/ der da grFndtlich diese Philosophiam verstehn will. […] Das Saltz gibt allen Creaturen die Form und Farb/ der Sulphur aber gibt das Corpus, das wachsen/ unnd die dewung […]. Der Mercurius aber/ wann der geboren ist/ bedarff er zu seiner auffenthaltung/ seiner teglichen nahrung/ weiter allzeit/ des Schwefels und Saltzes zu seinem auffwachsen.53

Paracelsus bzw. hier wohl einer seiner Adepten bringt die Trias zu Beginn der – zu den Pseudo-Paracelsica zu rechnenden – Pesttraktate, in denen die Ansteckungskrankheiten behandelt werden und dazu die Konstitution des Menschen aus den drei Grundstoffen beschrieben wird. Die Ansteckung wird dabei übrigens als etwas behandelt, das nicht vom einen Menschen auf den anderen übergreift, sondern immer in beiden zusammen entsteht: wie der Zorn zwischen Vater und Sohn ein gemeinsames Produkt ist; der Vater kann ihn selbst ›verdauen‹, aber auch auf den Sohn treiben.54 Diese Vorstellung wird dann auch für Böhme wichtig, wenn er das gegenseitige Hervorbringen von Eigenschaften beschreibt.55 Ich zitiere weiterhin eine Stelle aus dem Opus Paramirum des Paracelsus über die Entstehung und Heilung von Krankheiten: Das so da brinnt/ ist der Sulphur, nichts brenndt/ [dan] allein der Sulphur: Das da raucht/ ist der Mercurius/ Nichts Sublimirt sich/ allein es sey dan Mercurius: Das da in Eschen wirt/ ist Sal, Nichts wird zu Eschen/ allein es sey dan Sal.56

Man kann hier sehen, wie Paracelsus seine Trias nach dem Muster der Elemente – als Phasen oder Aggregatzuständen (Erde meint dann Festes, Wasser Flüssiges, Luft Gasförmiges) – als Eigenschaften der Materie reinterpretiert. Schwefel ist letztlich alles, was brennbar ist; was verraucht, verraucht nur, weil und insofern es Quecksilberbestandteile enthält; und was als Asche übrig bleibt, ist immer salzartig. 52 53

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So etwa im Mysterium Magnum (Anm. 23), 6, 9, 11, 37 u. ö. De Pestilitate I. In: Theophrastus Paracelsus: Bücher und Schriften. Hrsg. v. Johannes Huser. Basel 1589, Nachdruck Hildesheim, New York 1971, Bd. 3, 24–68, hier: 31. ›De Pestilitate‹ hat als ein Pseudo-Paracelsicum zu gelten. Ebd., 134. Vgl. mit einer entsprechend ganz analogen Argumentation – auch mit dem Vergleich der Beziehung zwischen Vater und Sohn – Böhme in seinem Mysterium Magnum (Anm. 23), 13 f. Opus Paramirum I. In: Bücher und Schriften (Anm. 53), Bd. 1, 74.

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Nicht nur in organischen Verbindungen, d. h. in Tieren und Menschen, findet sich die Trias, sondern sie liegt auch mineralischen Verbindungen zugrunde: Auff dz folget nun/ dz nur drey zusammen zu nemmen sind/ die ein jedlich Mineral in jhr End bringt: Nemlich der Sulphur, Sal unn Mercurius: die Drey thuns alles. Dann do muß am ersten ein Leib sein/ in dem man wercke/ das ist der Sulphur: Do muß sein die Eigenschaft/ das ist/ die Krafft/ das ist/ der Mercurius: Do muß sein die Compaction/ Congelation/ Coadunation/ das ist Sal: Jetzt ist es daß/ das es werden soll. Nun ist es nicht ein jeglicher Sulphur zum Gold ein Leib/ noch ein jeglicher Mercurius zu arth/ oder ein jeglichs Sal zur Coagulation: Sonder wie vilerley Eisenschmidt/ der zu dem/ der zu dem/ etc. Also da auch. Darumb so hatt Gott verordnet/ daß der Archeus [ein Erzeuger oder eine erzeugende Kraft, die die Dinge formt und damit scheidet] do zusammen bringt/ was zusammen geh=rt als ein Becker/ der ein Brot bacht/ zusammen nimbt/ was zusammen geh=rt: oder ein Weinmann/ der zum Weinbaw zusammen nimbt/ das zum Weinbaw geh=rt. Ein jeglichs wird in sein Ampt predestiniert/ und ein jeglichs findt/ das zu seinem Ampt geh=rt.57

Hier wird ausgeführt, dass es verschiedene Arten der drei Grundstoffe gibt, die wiederum als allgemeine Zustände von Materialität gefasst werden. Man muss nur die richtigen treffen oder herstellen, um über ihre Verbindung zu den erwünschten Mineralien und Metallen zu gelangen. Mit der letztlich aus der Alchemie stammenden Trias von Salz, Schwefel und Quecksilber sowie ein paar weiteren paracelsischen Leitgedanken konnte Böhme leicht weiter philosophieren. Ich möchte indes noch zwei weitere aus der Alchemie stammende Leitvorstellungen herbeiziehen. Ich stütze mich dazu auf das Donum Dei, einen der Vorläufer der in der Frühen Neuzeit überbordenden allegorisch-metaphorisch verfahrenden und auf aufwendige Illustrationen ausgerichteten ›literarischen‹ Alchemie. Der Text dürfte Anfang des 15. Jahrhunderts oder schon vorher in Italien entstanden sein58 und hat einige Wirkung entfaltet, dabei über verschiedene deutsche Übersetzungen auch auf deutsche alchemistische Bildgedichte eingewirkt.59 Kern des Donum Dei sind offenbar zwölf Illustra57 58

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De Mineralibus I. In: Ebd., Bd. 8, 348 f. Dafür spricht u. a. eine pseudepigraphisch motivierte Zuschreibung an Elias von Assisi, der in der mittelalterlichen Alchemie als Autor verschiedener alchemistischer Texte auftaucht. Frühe handschriftliche Überlieferung oder Teilüberlieferung verzeichnen Lynn Thorndike/ Pearl Kibre: A Catalogue of Mediaeval Scientific Writings in Latin. London 1963, 810 (zum Incipit Lapis noster benedictus de animata re est …). Verweise auf italienische Handschriften sowie einen Abdruck einer italienischen Übersetzung bei Giovanni Carbonelli: Sulle fonti storiche della chimica e dell’alchimia in Italia. Tratte dallo spoglio dei manoscritti delle biblioteche con speziale riguardo ai codici 74 di Pavia e 1166 Laurenziano. Rom 1925, 71–83. Als (öfter korrupten) lateinischen Druck vgl. Artefii Arabis philosophi Liber secretus, nec non Saturni Trismegisti, siue Fratris Heliæ de Assisio libellus. Frankfurt a. M. 1685, 60–101. Eine leicht erreichbare deutsche Übersetzung findet sich in: Eröffnete Geheimnisse des Steins der Weisen oder Schatzkammer der Alchymie. Um eine Einleitung vermehrter Nachdruck der Ausgabe Hamburg 1718. Hrsg. v. Karl R. H. Frick. Graz 1976, 787–816 (gegenüber dem italienischen und lateinischen Text stark veränderter Text). Zu deutschen Handschriften vgl. die Hinweise bei Herwig Buntz: Deutsche alchemistische Traktate des 15. und 16. Jahrhunderts. Diss. München 1968, 36, Anm. 4. Zur Tradition deutscher Bildgedichte s. Joachim Telle: Sol und Luna. Literatur- und alchemiegeschichtliche Studien zu einem altdeutschen Bildgedicht. Mit Text- und Bildanhang. Hürtgenwald 1980 (zum Donum Dei s. Reg. u. bes. 100 f.); ders.: Der Sermo philosophicus. Eine deutsche Lehr-

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tionen mit erläuternden Beischriften, von denen einige Spruchbänder haben, auf denen die im Bild dargestellten Figuren sprechen.60 Dass Stoffe bzw. übergängliche stoffliche Zustände der behandelten Ausgangssubstanz als Figuren in versifizierten Texten auftreten und selbst sprechen, geht auf die griechische Alchemie zurück, wo alchemistische Rollengedichte zuerst begegnen.61 Das erste Bild des Donum Dei zeigt einen König und eine Königin; der König sagt: ›Komm, meine Geliebte, wir wollen uns umarmen, um einen neuen Sohn zu zeugen, der seinen Eltern ganz unähnlich sein wird‹, worauf die Königin antwortet: ›Hier komme ich zu dir und bin bereit, einen solchen Sohn zu empfangen, der in der Welt zwischen zwei Bergen geboren werden wird‹. In den beiden letzten Illustrationen stellen sich dann das Elixir ad album sowie das Elixir ad rubeum in Ich-Rede vor. Dazwischen wird ein fiktiver Prozess mit einer Destillation im geschlossenen Gefäß dargestellt, bei dem ›unser Stein‹ durch schwaches Feuer zum Aufsteigen gebracht wird und mehrere Veränderungszustände im Sinne der als Phasen aufgefassten Elemente (fest, flüssig, gasförmig) durchläuft. Im Kern ist daran gedacht, die Ausgangssubstanz in die Grundbestandteile Quecksilber und Schwefel zurückzuführen62 und neu zu konzipieren, u. a. durch feinste Pulverisierung. Die Veränderungen werden in einer Sprache von ausgeprägter Bildlichkeit beschrieben, wobei insbesondere den Farberscheinungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Eine kosmologisch verbrämte und verrätselte Diktion, wie die Tabula smaragdina oder der Tractatus aureus des Hermes sie verwenden, wird öfter herangezogen; beide Texte werden auch zitiert.63 Auf den sich selbst verspeisenden Uroboros-Drachen wird angespielt, und vom Rabenhaupt ist die Rede, das den Zustand vollkommener Schwärze bei der sogenannten Putrefactio

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dichtung des 16. Jahrhunderts über den Mercurius philosophorum. In: Rosarium litterarum. Beiträge zur Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Peter Dilg zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Christoph Friedrich u. Sabine Bernschneider-Reif. Frankfurt a. M. 2003, 285–309. Den neuesten Stand der Forschung präsentiert zusammenfassend Joachim Telle: Art. »Donum Dei«. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon (Anm. 49), Bd. 12, 376–379; ders.: Art. »Donum Dei«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, hier: Bd. 3 (2009), 85a/b. Abbildungen in: Emil E. Ploss u. a., Alchimia. Ideologie und Technologie. München 1970, 155–158, sowie bei Jacques van Lennep: Alchimie. Contribution à l’histoire de l’art alchimique. Brüssel 1984, vgl. Reg. zu ›Donum Dei‹ sowie bes. 87–89 (es fehlt hier Abb. VIII). Hier und in den meisten Handschriften gibt es zwölf Illustrationen; bei Carbonelli, Sulle fonti (Anm. 58) sind es allerdings 14! Vgl. Günther Goldschmidt: Heliodori Carmina quattuor ad fidem codicis Casselani (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 19,2). Giessen 1923, hier besonders die Versdichtung des Heliodor. Vgl. im lateinischen Text S. 87 und im italienischen (Carbonelli [Anm. 58]) S. 77 zu Illustration Nr. VIII. So die Tabula, wenn (im lateinischen Text auf S. 74) gesagt wird, der Stein werde im Bauch des Windes getragen (was das Aufsteigen des Destillats meint), und der Tractatus, wenn es (79) heißt: »Ich bin der Weiße des Schwarzen und der Rote des Weißen und der Gelbe des Roten […]«, was die – freilich so im Donum Dei nicht übernommene – Farbenfolge in Anbetracht der identisch bleibenden Grundsubstanz meint. Die Farben gelten als Anzeiger der chemischen Reaktion.

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bezeichnet. Danach erst können die Weiße und Röte der zwei gesuchten Elixiere oder Tinkturen hervorgehen, die als weiße und rote Rose bezeichnet werden. Dabei sind aber die Veränderungszustände schon in der Ausgangssubstanz enthalten und werden je nur hervor getrieben. Vorausgesetzt ist die Vorstellung, dass die Metalle als übergängliche Stadien/Bereiche eines Kontinuums (wie etwa beim Farbspektrum) ineinander enthalten sind und in einem Läuterungsprozess auseinander hervorgehen bzw. durch Einfärbung hervorgeholt werden können.64 Das Donum Dei beschreibt also den alchemistischen Prozess zur Herstellung der zwei Tinkturen, wie sie zur Erzeugung von Silber und Gold aus den unedlen Metallen zu verwenden sind. Dieser Prozess ist ein erfundenes, fiktives Konstrukt und deshalb – gemessen mit dem Maßstab experimenteller Nachprüfbarkeit – natürlich nicht reproduzierbar. Die Beobachtung verschiedener chemischer Reaktionen führt diese in e i n e m Verfahren zusammen bzw. schreibt sie dem e i n e n ablaufenden Prozess zu. In den verschiedenen Fassungen des Donum Dei werden Zitate und Abschnitte aus weiteren alchemistischen Texten ungekennzeichnet und gekennzeichnet exzerpiert – in der verbreiteten Form der alchemistischen Trümmerliteratur bzw. der Zitat-Florilegien –, die einen insgesamt unfesten Text zur Folge haben.65 Zum Kernbestand dürfte die Tradierung einer Reihe von Dikta und Konzepten der griechischen Alchemie gehören. Hier interessiert die Konzentration auf das eine Verfahren mit nur einem Ausgangsstoff (›unserem Stein‹) in einem Gefäß.66 Die dabei zum Zuge kommende hermetisch-theologisch begründete Einheitsvorstellung hat eine erhebliche Wirkkraft entfaltet.67 Das Verfahren aber hat die Herbeiführung dreier Farbstufen im Sinne der zugehörigen stofflichen Veränderungen zum Ziel: als Schwärzung, Weiß- und Rotfärbung. Die nacheinander eintretenden

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Vgl. diese Vorstellung dann etwa auch bei Böhme, z. B. im Mysterium Magnum (Anm. 23), Kap. 5. Sie taugen deshalb auch nicht zu einer Datierung, wie sie Carbonelli: Sulle fonti (Anm. 58), 71, anhand von Zitaten aus Texten Arnalds von Villanova und des (Ps.-)Thomas von Aquin vornehmen will. Betont wird dies in der griechischen Alchemie z. B. in einem an die Turba philosophorum erinnernden kurzen Textstück aus dem griechischen Codex Parisinus 2327 (Bl. 233rf.), der abgedruckt ist in der Collection des anciens alchimistes grecs. Hrsg. v. Marcellin Berthelot. Paris 1888, Nachdruck London 1963, Bd. 3, 35 f. Hier ist etwa von einem Gefäß, einem Weg und einem Verfahren die Rede (μία καμινός ἐστὶν, καὶ μία ὁδὸς, καὶ ἓν ἔργον). So dann auch in der Turba Philosophorum selbst. Vgl. Julius Ruska: Turba Philosophorum. Ein Beitrag zur Geschichte der Alchemie. Berlin 1931, 156, Z. 5. Nachweise zur Verbreitung der Formel una res, unum vas, una via in der mittelalterlichen Alchemie vgl. bei Dietlinde Goltz/Joachim Telle/Hans J. Vermeer: Der alchemistische Traktat ›Von der Multiplikation‹ von Ps.-Thomas von Aquin. Wiesbaden 1977, 64–66. Nicht nur als Formel taucht sie durch die gesamte Alchemie hindurch immer wieder auf. Die italienische Übersetzung des ›Donum Dei‹ etwa betont sie: Una sola è la pietra, una sola medicina, un sol vaso, un solo fornello un solo andamento, una sola dispositione alla quale nè aggiungiamo, nè leviamo cosa alcuna, se non che nella preparazione teniamo le cose superflue. (Carbonelli, Sulle fonti [Anm. 58], 73)

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Färbungen kommen – wie schon die Reduktion auf nur ein Verfahren – bereits in der griechischen Alchemie vor (als Melanosis, Leukosis und Xanthosis68). Greift das Donum Dei auf die antike Alchemie zurück, so bleiben die hervorgehobenen Momente des ›einen Verfahrens‹ wie auch der Farbenfolge konstante Bestandteile der alchemistischen Überlieferung und werden bis weit in die Frühe Neuzeit von vielen alchemistischen Texten tradiert. So druckt Johann Joachim Becher in seinem 1682 erschienenen Chymischen Glückshafen einen anonymen Traktat ab, der einen Prozess knapp zusammenfasst, wie ihn auch das Donum Dei vorsieht – nur dass die Quecksilber-Schwefel-Theorie hier ausgetauscht worden ist: Dieser Lapis [der Stein der Philosophen bzw. ›unseren Stein‹], nachdem daß das vas zerbrochen/ wird kleingestossen/ und in ein irden Geschirr gethan/ und lutirt/ und nach acht Tagen mit einer Fbersteigenden W(rme calciniert/ biß daß er sich erzeigt/ als Purpur, oder gar rothe Farb/ alsdann wird sich eine Schw(rtze auf dem Grunde des Geschirrs abscheiden/ welche man hinwerffen soll/ und in der Zeit der Kochung offenbaren sich nicht wenige Farben/ als auch in plantis, welcher doch die Artisten nicht weniger als drey notiren: Schwartz/ weiß/ und roth; doch wann es zur weissen kombt/ wird es semen artificum genannt/ das da Krafft hat zu mutiren ein jedes Argentum vivum in Argentum purum. Aber lieber wird es vollend zur R=the perficirt/ so ists semen aurificum. In diesem Werck bedarff man keinerley/ vielerley Oefen noch Geschirr/ noch aquis, oleis diversis, sondern es begnFget sich eines Ofens/ so darzu geschickt ist/ und allein des Goldes und unsers Argenti vivi, je mit einer Unzen Gold zum h=chsten het man genug/ und darff hernach kein Gold mehr darzu thun/ und man darff sich auch keiner sonderlichen Sorg bef=rchten/ dann wenn es einmal eingeschlossen ist/ wird es nicht movirt/ bis zur vollkommenen Kochung. Man darf auch nicht der t(glichen Arbeit/ sondern allein das Feuer zu foviren/ und zum wenigsten wird man in seinem Beruff oder Ambt verhindert/ sondern es weiß das gemeine Volk nichts darumb/ daß man solche Wunder-Secreta tractiret. Also erh(lt einer seine Existimation, und Reputation bey jederm(nniglich/ und wird ihme nichts entzogen.69

Auch hiernach läuft der Prozess in einem einzigen mit Leim verschlossenen Gefäß derart ab, dass die Eigenschaften der Ausgangssubstanz sich bis zu einem perfekten Endzustand verändern, angezeigt durch Farbwechsel. Es ist ein Prozess mit diesen Rahmenbedingungen, den man leicht als eine alchemistische Paraphrase des Heilsprozesses auffassen kann und umgekehrt. Mithilfe der dahinter stehenden Modellvorstellung ließen sich Alchemie und christliche Theologie überblenden. Anhand dieser Modellvorstellung möchte ich eine späte Fassung des kosmogonischen Primärprozesses bei Jakob Böhme analysieren, wie er von Böhme vorher schon vielfach variiert worden ist, wobei er immer wieder die für ihn charakteristischen Konturen erkennen lässt. Mit dem Prozess des Donum Dei ist Böhmes Primärprozess von seiner Anlage her nicht vergleichbar, allerdings bildet er seinerseits auch e i n e n und n u r einen Prozess. Anlässlich der Auslegung der Genesis-Stelle vom Schwefel- und Feuerregen (1Mo 19,24) rekapituliert Böh68 69

So etwa bei Zosimos (Zosime de Panopolis: Mémoires authentiques. Hrsg. und übers. v. Michèle Mertens [Les alchimistes grecs IV]. Paris 1995, 32 u. ö.). Johann Joachim Becher: Chymischer Glückshafen oder große chymische Concordanz und Collection von fünffzehenhundertt chymischen Processen. Frankfurt a. M. 1682, ND Hildesheim/New York 1974, 23.

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me im Mysterium Magnum, dass sich der Mercurius im Salniter, »als im FeuerSchrack anzFndet, da sich denn der Schrack in eine Substanz oder Wesen fasset, welches Schwefel ist«: Denn die drey, als Sulphur, Mercurius und die Saltz-Sch(rfe, sind im Urstande, als sie noch ein Geist sind, nur ein Ding: Wenn sich aber Mercurius, als der Schall des geformten Wortes im Principio, als in seinem ersten Urstande, durch einen Gegenblick beweget, so erschrickt er in sich, das ist, die Bewegung rFget den Urstand der Hitze und K(lte, als den Urstand des ersten Principii nach dem kalten und hitzigen Feuer, welches der Anfang der Wiederw(rtigkeit und des Erschreckens ist, davon der Feuer-Blick [bzw. Feuer-Blitz] oder salnitrische Schrack entstehet, da sich die drey ersten, als Hitze, K(lte und der Schrack, ein iedes in ein eigen Wesen im Schrack impressen und einfFhren: Als die Hitze in Schwefel, und die K(lte in saltzische Art, und der Mercurius in w(sserische Art; und da sie doch nicht gantz geschieden werden, und ein iedes des andern Wesen hat, aber nach Einer Eigenschaft fix wird.70

Charakteristisch ist, dass Böhme die im Prozess erzeugten Eigenschaften durcheinander gehen lässt, Temperatur, Empfindungen und Stoffe wirken ineinander und gehen auseinander hervor. Wobei auch hier Schwefel, Salz und Quecksilber eher als Phasen: als heißer Dampf, feste Kristallisation sowie als Flüssiges verstanden werden. Die Stoffe werden also gar nicht nur als Stoffe gefasst. Der Mercurius wird denn auch bei Böhme durchgehend als Schall (oder Ton oder Laut) konzipiert.71 Manches von dieser ›Logik‹ kann man nur erraten; Mercurius und Salniter (Salitter) erscheinen wie Medien, die einander durchdringen. Der Mercurius erschreckt sich in sich infolge eines inneren Gegensatzes, der sich alsbald als Aufeinandertreffen von Hitze und Kälte darstellt, ein Blitz geht hervor und der Schreck (doch wohl des Donners) bricht sich im Salniter, aus dem heraus sich dann einerseits heißer Schwefelniederschlag und kaltes Salzkondensat materialisieren, während der Mercurius sich vielmehr als Flüssigkeit darstellt; alles miteinander wird endlich fest in den verschiedenen Arten der Dinge. Böhmes ursprünglicher Gedanke in der Aurora war, dass sich eine herbe Kraft im Salitter zusammenzieht und so weitere Eigenschaften mit erzeugt: Siehe/ in diesem ist sonderlich auff siebenerley qualit(ten oder umbst(nde zu mercken: erstlich ist in der G=ttlichen Krafft im verborgen die herbe qualit(t/ das ist eine qualit(t des kernes oder verborgenen wesens/ ein sch(rffe/ zusammenziehung oder durchdringung/ in dem Salitter gantz scharf und herbe/ die geb(hret die h(rtigkeit und auch die k(lte/ und so sie entzFndet wird/ geb(hret sie die sch(rffe/ gleich dem saltze.72

Hierin quellen nun weitere Qualitäten hervor. Böhme überblendet dieses analog zur Pflanzenreifung zunächst ganz konkret gedachte Quellen mit dem trinitarischen Prozess der Geburt des Sohnes und heiligen Geistes –, als sechste Qualität wird der Schall geboren, der Mercurius. Da Gott nach Joh 1,1 die Welt 70 71

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Mysterium Magnum (Anm. 23), 457. Warum, kann man nur raten. Da Böhme oft ganz konkrete Ausgangspunkte sucht, könnte man vermuten, dass er beim Schall oder Klang an klingende, hohle Metallkörper denkt und deshalb auf Mercurius/Quecksilber als Grundstoff der Metalle zurückschließt. Böhme, Morgen-R=te im Aufgangk (Anm. 29), 119 f.

Heilsbedeutung und spekulative Alchemie

163

ganz konkret aus dem Wort bzw. sprechend geschaffen hat, formiert der Schall letztlich die materielle Welt mit. Die Heilsgeschichte erscheint aus dieser Perspektive als Prozess in einem Destillationskolben mit Gott als Artisten, der seinerseits die Befeuerung bewirkt. Der trinitarische Prozess wird nach Analogie des alchemistischen Prozesses reinterpretiert. Wenn Böhme sagt, »Du darffst mich […] für keinen Alchymisten halten/ dan ich schreibe allein in Erk(ntnFß des Geistes/ und nicht durch erfahrenheit«,73 dann trifft das in genau dem Sinne zu, als er Denkformen der Alchemie nicht auf die Goldproduktion, sondern auf das Heilsgeschehen anwendet. Kuhlmann dünnt diese Neukonzeptualisierung dann noch einmal aus, aber auch bei ihm wird Heilsgeschichte als autonomer Prozess verstanden, in dem Gott sich in den Menschen selbst erfährt. Wie im Destillationskolben zeigt der Prozessverlauf sich in Zeichen und Figuren, um sich in einem finalen Zustand einzufinden.74 Dieser erst erlaubt, die Zeichen zu verstehen, in denen er sich vorbildet; er macht gewissermaßen ernst mit ihnen (vgl. »Der ausgang wird di zeichen ernst erklähren«, V. 10949). Ganz entsprechend gestaltet sich das Verhältnis von Figur und Wesen, denn im Wesen erfüllt sich die Figur;75 biblisch inspirierte Präfigurationstheorie und alchemistische Zeichenschau decken sich hierbei. Was aber durch Babel vervielfältigt und verwirrt worden ist, wird am Ende in der Einheit der jesuelitischen Monarchie zusammengeführt. Kuhlmann wandelt die Farben der alchemistischen Prozedur – SchwarzWeiß-Rot – ab, wenn er an die Stelle von Weiß-Rot s e i n Weiß-Blau setzt: In den Offenbarungen Christoph Kotters war er auf die Heilsbedeutung dieser Farbkombination gestoßen, die sich mit den Farben der Fahne seiner Geburtsstadt Breslau assoziieren ließ. Ein bei Kotter öfter genannter, zur Hälfte weißer und blauer Löwe ließ sich mit dem böhmischen und Breslauer Wappenlöwen identifizieren und von Kuhlmann auf sich selbst beziehen.76 Die Farbkombination steht schließlich für Kuhlmann und seine Sendung. Das ›kühlprophetische Weißblau‹ stellt ab dem sechsten Buch des Kühlpsalters in Analogie zum alchemistischen Weiß-Rot die Heilsfarbe dar:77 45. 3. Di Asche ward im goldfas zur Tinctur! Dem goldfas eins zur aller Völker Cur! Das erst und letzt ist seines Mittels schlus, Das mittel ist des erst- und letztens fus. Der Goldgeruch stig A.U.S. der aschen grau Weisblauerer, als i das weisse blau, 73 74

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Ebd., 420. Auf die Parallele zwischen Heils-, kosmogonischem und alchemistischem Prozess weist auch Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 3. Barock-Mystik. Tübingen 1988, 292, hin. Zu Kuhlmanns Präfigurationstheorie vgl. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 174–177 u. 206 f. Vgl. Bock, Quirinus Kuhlmann als Dichter (Anm. 2), 54 f. Auf den weißen Löwen als Wappentier Böhmens und das Wappen Breslaus wird bereits angespielt in den Überschriften zum fünften und achten Gesang des ersten Buchs. Es erscheint aber schon im vierten Psalm des dritten Buchs als »Kühlweisblau« (V. 3487).

164 Nichts BLAUERERS ward vor auf Erd gesehn: Nichts BLAUERERS ist nach auf Erd geschehn! Ost, Nord, West, Sud ward voll vom Goldgeruch, weil Ewigkeit beewiget ihr Buch.

Harald Haferland

(V. 12717–12726)78

Kuhlmann macht sich und seine Sendung hier, im Jahr 1682 in Genf kurz nach Entstehung seiner kleinen Schrift De Monarchia Jesuelitica79, nach einer Art Durchbruchserfahrung selbst zur Tinktur, mit der die noch nicht für die Kühlmonarchie Gewonnenen gleich den unedlen Metallen kuriert werden sollen. Die Herstellung einer Tinktur zum heilsgemäßen Kurieren der Völker bewegt sich noch auf einer erkennbar metaphorischen Ebene. ›BLAUERERS‹ ist als Buchstabenwechsel oder Anagramm von ›Breslauer‹ zu erkennen und durch ›Kuhlmann‹ – als Erfüller aller biblischen Weissagungen – aufzulösen.80 Die Vorstellung aber, dass es überhaupt Farben und Farbintensitäten sind, die einen heilsmäßigen Endzustand charakterisieren, liegt auf einer grundsätzlicheren Ebene. Hier wirkt auch Böhmes spekulative Alchemie bei Kuhlmann nach und sorgt dafür, dass Weiß-Blau – statt Weiß-Rot – als zeichenhafte Farbe des Heils gelten kann. Mit ihr aber zeichnet die Kühlzeit sich ab.

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Zum umfangreichen fünften Kühlpsalm des sechsten Buchs vgl. Dietze, Quirinus Kuhlmann (Anm. 1), 205 f. Vgl. ebd., 209 ff. Vgl. Bock, Quirinus Kuhlmann als Dichter (Anm. 2), 55 mit dem Zitat der zugehörigen Erläuterungen aus dem dritten Lutetierschreiben Kuhlmanns; vgl. auch Werner Vordtriede: Quirinus Kuhlmanns Kühlpsalter. In: Antaios 7 (1966), 501–527, hier: 515 f.

Joachim Telle

Jakob Böhme unter deutschen Alchemikern der frühen Neuzeit

… da spukt allerlei aus drei oder vier Jahrhunderten […], da zuckt Paracelsus auf und Jakob Böhme. Hugo von Hofmannsthal (19271)

Eingedenk der hier in diesen Tagen gestellten Aufgabe, Resultate der neuzeitlichen Böhme-Forschung zu bilanzieren und – vielleicht durchaus dringlicher – sich textlicher Grundlagen und Bereiche der frühneuzeitlichen Böhme-Rezeption zu versichern, mag es sinnvoll sein, sich nun nicht in die vielfältig beschaffenen Lager der protestantischen Orthodoxie zu begeben und hier etwa einen Abraham Kalau (1612/1686) oder Ehregott Daniel Colberg (1659/1698) zu konsultieren, um auf von theologisch-religiösen Kontroversengewittern heimgesuchtem Terrain den Schicksalen Böhmes nachzuspüren. Betreten sei vielmehr ein weitgehend unerkundeter und unzulänglich kartographierter Nebenschauplatz des frühneuzeitlichen Böhmismus, auf dem praktizierende Alchemiker agierten, – nicht zu verwechseln mit Autoren, die geläufige alchemische Fachtermini, ›lapis‹, ›essentia‹, ›tinctur‹, ihrer fachlichen Kontexte beraubten, solche oft zum sprachlichen Gemeingut der Gebildeten zählenden Termini in neue Umwelten versetzten, dabei freilich entalchemisierten und in Diensten etwa spiritualistischer Lehren metaphorisch nutzten. Unsere frühneuzeitlichen dramatis personae sind also weder auf Kanzeln noch in Dichterstuben zu treffen, sondern in ofenbestückten Arbeitsstätten, wo unüberschaubar viele ›Feuerkünstler‹ nicht nur in handschriftlichen oder gedruckten Alchemica blätterten, sondern ihre ›Hände in die Kohlen steckten‹, bestimmte Konzepte der Alchemia medica (Chemiatrie), der Alchemia transmutatoria metallorum oder Alchemia technica in laborantischer Praxis zu verwirklichen suchten, dabei aber eine spezifisch böhmistische Theoalchemie formierten. Die Reihe von Autoren, bei denen sich naturkundliche Darlegungen mit theologischen überkreuzten, so ergeben bereits flüchtigste Blicke im frühneuzeitlichen Alchemicagetürm, besitzt quantitativ einschüchternde Ausmaße. Situiert in einem zwischen heutigen Disziplinen befindlichen Niemandsland, in der Regel gemieden von denen, die es anginge, Literatur-, Theologie-, Philosophie-, Medizin- und Pharmaziehistorikern, geraten theoalchemische Konzepte trotz ihrer einst wohl nicht unerheblichen Virulenzen nur selten in historiographische Visiere. 1

Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927), zit. n. dem Abdruck in: Hugo von Hofmannsthal: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte. Hrsg. v. Mathias Mayer. Stuttgart 2000, 226–245, hier: 240.

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Joachim Telle

Trotzdem kann angesichts der Notwendigkeit, Eigenarten der intrikaten Theosophie Böhmes einlässlicher noch als bislang zu kontextualisieren, eingedenk aber auch der Aufgabe, böhmistische Rezeptionsverläufe möglichst schärfer noch zu konturieren, die Seltenheit historisch-kritischer Erkundungszüge hinein in theoalchemische Schriftenmassive erstaunen. Staunen macht allein schon die Tatsache, dass sich offenbar kaum jemand vom oft gedruckten Wasserstein der Weisen (1619), immerhin der wohl einzigen von Böhme ausdrücklich genannten und zur Lektüre empfohlenen Schrift seiner Zeit,2 alarmieren ließ, obwohl es hier, in biedere Verse gefasst, geradezu programmatisch heißt:3 Die warhafftige Alchimey/ Vnd die rechte Theosophey/ Seynd/ beyde/ also nahe verwand/ Als dem Leib ist die rechte Hand;

Vielleicht noch verwunderter reibt man sich ob nur weniger Erkundungszüge in theoalchemischen Schriftbezirken die Augen, wenn man auf barocke Alchemica mit Titeln wie Auriga chemicus sive theosophiae palmarium4 oder Theologia chymica5 stößt. Und unsere Verwunderung will auch dann nicht weichen, schaut man sich auf den Druckmarkt der Aufklärungszeit um: Sofort fallen mit dem Pseudonym »Theosophia Sternbucta« (1779)6 oder dem Titel Theosophia physico-chymica (1791)7 erschienene Publikationen auf, die bereits auf ihren Titelblät2

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Jakob Böhme: Epistolae Theosophicae, oder Theosophische Send-Briefe. In: Theosophia revelata. Oder: Alle Göttliche Schriften Jacob Böhmens. o. O. 1730 (zit. n. Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. 9 [1956]), Brief Nr. 28 (6. Juli 1622, gerichtet an Christian Steinberg), 100–104, hier: 104, Abschn. 14: »Der Herr lese den Wasser-Stein der Weisen, darinnen ist viel Wahrheit, und dazu klar, welches [Werk] im Drucke ist«. Anonymus: Wasserstein der Weysen. Oder Chymisches Tractätlein/ darinn der Weg gezeyget/ die Materia genennet/ vnd der Process beschrieben wird/ zu dem hohen Geheymnüs der Universal-Tinctur zu kommen. Frankfurt a. M. 1661 (erstmals Frankfurt a. M. 1619), 125. – Zu dieser theoalchemischen Schrift vgl. Joachim Telle in Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011 (im Weiteren zit. als Killy Literaturlexikon), hier Bd. 12 (2011), 156 f. Anonymus: Auriga Chemicus, sive Theosophiae Palmarium. In: Theatrum chemicum. Bd. 3. (Erneute Ausgabe) Straßburg 1659, 834–849. – Erstdruck: Tractatulus chemicus, theosophiae palmarium dictus. Hrsg. v. Nicolas Barnaud. Leiden 1601. Anonymus: Crollius redivivus. Das ist/ Hermetischer Wunderbaum/ Warinn zu sehen/ wie die wunderbahre Werck Gottes von Liebhabern wahrer Chymischer Artzney/ recht zu verstehen/ vnd zu erkennen. Hrsg. v. Anonymus von Feldtaw (Abraham von Franckenberg). Frankfurt a. M. 1635, Buch I-VI: eine »Theologia Chymica« voller »Christlicher Parabolen vnd Ermahnungen«. Theosophia Sternbucta (Ps.): Antwort auf das philosophische Sendschreiben vom […] Steine der Weisen. Berlin 1779. – Geantwortet wird auf John Pordage: Sendschreiben vom […] Steine der Weißheit (erneuter Abdruck Berlin 1779). Anonymus (Gerhard Friederich): Theosophia physico-chymica, das ist, Gottesgelahrheit durch natürliche und chymische Werke erkläret und bewiesen. O. O. 1791: Mit kritischem Hinweis auf Böhme-Rezeptionen unter Freimaurern; im Banne der »hieroglyphischen Waid-

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tern theoalchemische Konzepte zu verstehen gaben, – eben zu einer Zeit, als im aufklärerischen Lager, ernstlich besorgt um den Erhalt der »gesunden Vernunft« und den »Fortgang in der Erkentniß der Wahrheit«, »überall in den Schriften der Goldsucher« eine »besondere Verwandtschaft des chymischen Unsinns mit dem theosophischen und moralischen« diagnostiziert worden ist,8 ja eine Art Theosophierung der »höheren Chemie« manchen Aufklärer schreckte: Seit zweihundert Jahren, so hieß es 1790 unter Aufklärern, habe die Alchemie an die Theosophie gegrenzt, jetzt aber habe die Theosophie die Chemie »ganz und gar verdrängt«, »Alchemie und Theosophie«, so entsetzte man sich in aufklärerischen Kreisen, seien nun »in dieser lezten betrübten Zeit beinahe gleichbedeutende Namen. Wer sonst Alchemist im eigentlichen Sinn des Worts war […], ist iezt Theosoph und Vertheidiger des neuen valentinisch mystisch rosenkreuzerischen Systems«.9 Offenbar spielten Allianzen zwischen Theosophie und Alchemie in der frühneuzeitlichen Kulturgeschichte Deutschlands im Rahmen des Hermetismus eine größere Rolle, als man gemeinhin anzunehmen gewillt ist. Im Übrigen bildeten Einzüge theologischer Autoritäten in das alchemische Sachschrifttum schon zur Zeit Böhmes kein Novum. Die Zahl alchemischer Interpretamente bestimmter biblischer Zeugnisse, vorzüglich der Genesis, des Hohe Lieds oder Jesus Christus gewidmeter Berichte, ist beträchtlich. Da forderte eben zu dieser Zeit der Paracelsist Oswaldus Crollius (um 1560/1608) in seiner wirkmächtigen Basilica chymica (1609) eine zunächst von orthodoxen Theologen, später noch von Rationalisten als skandalös empfundene Rollensynthese, dass nämlich »jeder rechtschaffene Theologus auch ein Philosophus [Arztalchemiker], vnd […] ein jeder […] wahre Philosophus auch ein Theologus« sein müsse, sei doch ›wahre Weisheit‹ nur vom Verbund einer aus dem ›Licht der Gnade‹ geborenen »Theologia« mit einer aus dem ›Licht der Natur‹ geborenen »Philosophia« zu erwarten.10 Auch das erratische Werk des Theoalchemikers Heinrich Khunrath (1560/1605)11 lässt an der Virulenz physikotheologischer Entwürfe aus Alchemikerfedern zur Zeit Böhmes keine Zweifel. Diese um 1600 durchaus im Aufschwung befindlichen Formationsprozesse alchemotheologischer Konstrukte flankierten manche Legenden: Martin Luther (1483/1546) etwa hatte das handwerkliche Wissen der Alchemiker, ihre metallurgischen und destillationstechnischen Fertigkeiten gerühmt und in Destillati-

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sprüche« Böhmes, so zeige ihr »Hirtenbrief«, könnten gewisse Freimaurer nichts Verständliches mehr schreiben (40). Johann Albert Heinrich Reimarus: Ueber die Schwärmerey unserer Zeiten. In: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur. Hrsg. v. Georg Christoph Lichtenberg u. Georg Forster. Jg. 3/2 (1782), 237–255, hier: 243. Anonymus: Taschenbuch für Alchemisten, Theosophen und Weisensteinforscher, die es sind und werden wollen. Leipzig 1790, 29. – Angespielt wird auf die Präsenz alchemischer Lehren des Basilius Valentinus (16. Jh.) und die unter ›Gold- und Rosenkreuzern‹ des 18. Jahrhunderts aktuelle Naturmystik. Oswaldus Crollius: Basilica chymica oder Alchymistisch Königlich Kleynod. Frankfurt a. M. 1623 (deutsche Erstübersetzung; lat. Editio princeps: Frankfurt a. M. 1609), Vorrede, 71 f. – Zu Crollius zusammenfassend Killy Literaturlexikon, Bd. 2 (2008), 504–506, s. v. (J. Telle). Dazu resümierend Killy Literaturlexikon, Bd. 6 (2009), 398–400, s. v. (J. Telle).

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onsvorgängen religiös bedeutsame Allegorien endzeitlicher Geschehnisse, des Letzten Gerichts und der Auferstehung erblickt.12 Eben diese Äußerungen sollten protestantischen Alchemoparacelsisten vom Schlage des Nordhäuser Organisten Johann Schauberdt (gestorben nach 1602) genügen, Luther wider Alchemieverächter in apologetische Dienste zu nehmen,13 bald dann gefolgt von Joachim Tancke (1557/1609): Diesem Leipziger Universitätsmediziner reichte Luthers Bemerkung, dank ›verborgener [»heymlicher«] Wirkkräfte der Natur‹ ließen sich nach Art metallwandelnder Alchemiker »wunderding« vollbringen, um Luther in den Rang eines bedeutenden »Physicus« zu erheben, habe doch dieser »hocherleuchtete Mann« und »bewundernswerte Theologe« nach Alchemikerart weitaus »tieffer« als die aristotelistischen Schulgelehrten »in die Natur gesehen«.14 Da konnte man im alchemischen Sachschrifttum bald auch unversehens auf den protestantischen Pfarrer Valentin Weigel (1533/1588) treffen, der sich in seiner Naturphilosophie gelegentlich auf Paracelsica gestützt hatte, zeitgenössischen Alchemien indes ferne blieb. Ein kleines pseudoweigelianisches Alchemica-Korpus15 erinnert aber daran, dass dieser Spiritualist eben zu der Zeit, als ihn orthodoxe Lutheraner oft in einem Federzug mit Paracelsus als ›Fanatiker‹ brandmarkten,16 von Alchemikern annektiert worden ist, ja ein alchemisierter

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Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden. Bd. 1: Tischreden aus der ersten Hälfte der dreißiger Jahre. Weimar 1912, Nr. 1149, 566 f. Johann Schauberdt: Dedikation (Nordhausen/am Harz 1602). In: Johannes von Padua: […] Consummata sapientia seu Philosophia sacra. Hrsg. v. J. Schauberdt. Magdeburg 1602. – Text auch in: Der Frühparacelsismus. Tl. 2. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Tübingen 2004 (Corpus Paracelsisticum 2); Tl. 3. Tübingen 2012 (Corpus Paracelsisticum 3 [im Druck] (im Weiteren als Sigle »CP II« u. »III«), hier: CP III, Nr. 149. – Zu Schauberdt vgl. ebd., Nr. 147 (Biogramm). Joachim Tancke: Von der Alchimey würden vnd nutz (Leipzig 1609). In: Promptuarium Alchemiae, Das ist: Vornehmer gelarten Philosophen vnd Alchimisten Schriffte vnd Tractat/ von dem Stein der Weisen. Hrsg. v. J. Tancke, Leipzig 1610, (1)6v-(5)v, hier: (4) 3r f.; so auch (2)v. – Zu Tancke s. CP III (Anm. 13), Nr. 155 (hier Biogramm)-160; resümierend J. Telle. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 11 (2011), 426 f. In Druck gelangten (1.) (Ps.-)Weigel: Himmlisch Manna, Azoth et Ignis, das ist: güldenes Kleinod, handelnd von dem köstlichen Eckstein der Natur. In: Andreas Glorez: Eröffnetes Wunderbuch. Regensburg 1700, 533–574; auch erschienen als Einzelausgabe Amsterdam/ Frankfurt a. M./Leipzig 1787 (»neue Auflage«). – (2.) Johannes Aurelius Augurellus: Vellus Aureum, et Chrysopoeia, Seu Chrysopoeia Major et Minor, Das ist/ Gülden-Vließ/ Und Gold-erzielungs-Kunst. Aus dem Lateinischen übersetzt von (Ps.-)Valentin Weigel. Hamburg 1716. – Aufgrund dieser Schriften befand beispielsweise der Theoalchemiker Johann Ludwig Hannemann (Pium, castum et devotum philosophiae adeptae et theologiae orthodoxae osculum, i. e. exercitatio philosophico-mystico-theologica. Hamburg 1696, 97): Weigel »fuerit Adeptus«. – Angesichts dieser Alchemisierung Weigels kann nicht überraschen, dass Alchemikern in einem Catalogus manuscriptorum chemico-alchemico-magico-cabalisticomedico-physico-curiosorum (Wien 1786, 29) zum Kauf Abschriften angeblicher Weigeliana-Autographen theologischen Inhalts und der angeblich aus Weigels Besitz stammenden ›Explicatio in prophetam Danielem‹ Hohenheims angeboten worden sind. Zu den frühneuzeitlichen Wechselbeziehungen zwischen Paracelsismus und Weigelianismus vgl. CP III (Anm. 13), Nr. 125; mit Weigel-Biogramm.

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(Ps.-)Weigel in lehrdichterischer Pose über verborgene Interdependenzen zwischen laborantischer Praxis und »Theologia« belehrte:17 Der antimonio vnnnd das bley, Sint das principal der Alchimey; Die vorgebliche metalla zu tranßmutiren, In sol vnnd luna sie zu figiren. Solches nicht vermag weder sol noch luna Ohne bley vnndt antimonio, Doch kanstu nicht gesein ein rechter Alchimist, Du seiest denn auch ein warer Christ.

Eine außerordentlich steile Alchemikerkarriere insbesondere unter Pietisten war schließlich dem wohl wirkmächtigsten Schriftsteller des frühneuzeitlichen Reformprotestantismus beschieden, Johann Arndt (1555/1621): Seine medizinischnaturkundlichen Kenntnisse – Arndt hatte im Paracelsistennest Basel bekanntlich Medizin studiert, nicht etwa Theologie –, seine wohl zeitweilig vom eng befreundeten Arzt Melchior Breler18 beflügelte Aufgeschlossenheit für laborantische Praktiken, vornehmlich aber seine paracelsistisch unterfütterte Naturphilosophie, wie sie Arndt am markantesten wohl in seinen Darlegungen über ›das große Weltbuch der Natur‹ in seinem ›Best- und Longseller‹ Vom wahren Christentum (Buch IV: Liber naturae) dargetan hatte, boten einer massiv-mystifikatorischen Adeptisierung Arndts beste Nahrung. Verzweigt-vielgestaltige Mystifikationsvorgänge wandelten Arndt seit dem 17. Jahrhundert in einen erfolgreichen Großmeister der Transmutationsalchemie, dazu auch in einen Verfasser einschlägiger Alchemica. Schließlich sollte ein böhmistischer Alchemiker ungewöhnlichen Rangs, Friedrich Christoph Oetinger, in Arndt einen Alchemiker feiern, der sich auf die laborantische Praxis noch weitaus besser verstanden habe als die Alchemikerfürsten Raimundus Lullus und Jakob Böhme, ja erklärte selbst der große Aufklärungstheologe und Alchemiker Johann Salomo Semler, Arndt habe »den sogenannten Proceß [zur Präparation des ›Steins der Weisen‹] in einer sehr leichten und ganz gewissen Formel« besessen und diesen »Proceß« »vielmalen, sogar in seiner Stube, ganz glücklich ausgearbeitet«.19 Doch mit diesen drei hervorragenden Gestalten des frühneuzeitlichen Protestantismus nicht genug: Bald schon wurde nach Luther, Weigel und Arndt von nicht wenigen Alchemikern ein Mann zwangsrekrutiert, der erklärt hatte, er sei

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Ps.-Weigel: De Reconditis Alchimiae et Theologiae. In: Heidelberg, UB, Cod. pal. germ. 782 (um 1600), Bl. 178r. – Der Dichtung voran steht die »Expositio Wigelij de Azot et Ignis«. Beiden Texten gilt folgender Kopistenvermerk (Bl. 179r): »Haec sunt secreta secretorum ex Autographo Wigelli, nemini nisi fidelibus sapientiae filiis reuelanda«. Zu diesem Verfasser medizinischer und religiös-theosophischer Schriften vgl. Killy Literaturlexikon, Bd. 2 (2008), 172, s. v. (J. Telle). Einzelnachweise bei Joachim Telle: Johann Arndt – ein alchemischer Lehrdichter? Bemerkungen zu Alexander von Suchtens »De lapide philosophorum« (1572). In: Strenae nataliciae. Neulateinische Studien. Wilhelm Kühlmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Hermann Wiegand. Heidelberg 2006, 231–246. – Zu Arndt resümierend Killy Literaturlexikon, Bd. 1 (2008), 204–207 (J. P. Wallmann).

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kein »Alchymist« und bar alchemometallurgischer ›Erfahrungen‹,20 der ausdrücklich versicherte, weder die alchemische »Kunst« noch deren laborantischen »Handgriffe« zu kennen,21 ja die »Kunst« deklassierte22 und sich strikt geweigert hatte, auf alchemischen Gebieten Ratfragende über etwas zu belehren, was er selbst nicht könne23: Der Görlitzer Theosoph Jakob Böhme.

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Jacob Böhme: Morgen-Röte im Aufgangk. In: Ders.: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek der frühen Neuzeit 2. Abt. 6), Kap. 22, 420: »Du darffst mich darumb [wegen seiner Darlegungen »Von den Metallen in der Erden«] für keinen Alchymisten halten/ dan ich [Böhme] schreibe allein in Erkändtnuß des Geistes/ und nicht durch erfahrenheit«, doch gab Böhme vor zu wissen, »in wie viel Tagen […] solche dinge [hier: »gold«] müssen praepariret werden«. Böhme, Epistolae Theosophicae (Anm. 2), Brief Nr. 10 (an Abraham von Sommerfeld, 1620), 29–41, hier: 39 f., Abschn. 43: »Ich [Böhme] sehe wol dasselbe [nämlich etwas, was »den Stein der Weisen zu allen Geheimnissen« »öffnet«], aber mir gebühret nicht dasselbe anzurühren, habe auch keine Kunst noch Handgriffe darzu, sondern stelle nur ein offen Mysterium dar: […] bey mir suche niemand das Werck«. Zur Abwehr auf metalltransmutatorischen Unterricht gerichteter Lesererwartungen erklärte Böhme im Vorwort zu seiner von alchemischen und astrologischen Termini sowie mannigfachen Assimilationen der paracelsischen Drei-Prinzipien-Lehre durchsetzten Schrift De signatura rerum oder Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen […]; Item, Wie die äussere Cur des Leibes, aus der Kranckheit, durch seine Gleichheit wieder in das erste Wesen müsse geführet werden […].Darbey Gleichniß-weise der Stein der Weisen, zur zeitlichen Cur, mit dem heiligsten Eckstein der Weisheit, Christo, zur ewigen Cur der neuen Wiedergeburt, eingeführet wird (1622), zit. n. dem Abdruck in der Theosophia revelata (in: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. 6 [1957], 2, Abschn. 5): »Es ist aber nicht meine Meinung, den Menschen in unverstandene, unnütze Kunst, darzu er nicht von GOtt beruffen noch begabet, einzuführen, weil ich sie auch selbsten nicht in [3] der Praxi führe noch treibe, sondern nur die Möglichkeit aller Dinge, nebenst der besten Praxi der neuen Wiedergeburt anmelde, und den von GOtt darzu Begabten zu den äusseren Dingen Anleitung gebe: Dieweil doch ja die Zeit der Eröffnung aller Heimlichkeiten nahet und anbricht«. Böhme, Epistolae Theosophicae (Anm. 2), Brief Nr. 28 (an Christian Steinberg, 6. Juli 1622), 103, Abschn. 12: Böhme erklärt, er habe das, was das »Philosophische Werck der Tinctur« betreffe, »nicht in der Praxi«, es liege »das Siegel GOttes davor«; Abschn. 14: »Wie wolte ich [Böhme] dann andere davon [von der alchemischen Präparation der Tinktur] ausführlich lehren? Ich kann es noch selber nicht machen: Ob ich schon etwas weiß, so soll doch keiner mehr bey mir suchen als ich habe«. – Mangelnde Zeugnisse hinderten Historiker freilich nicht, nach Art böhmistischer Mystifikatoren seine astroalchemische Parabolik zu chemisieren und Böhme unter die praktisch tätigen Alchemikerscharen zu reihen, so etwa Lawrence M. Principe und Andrew Weeks: Jacob Boehme’s Divine Substance »Salitter«: its Nature, Origine, and Relationship to Seventeenth Century Scientific Theories. In: British Journal of the History of Science 22 (1989), 53–61: Böhmes Gebrauch des Terminus »Salitter« bezeuge »a considerable understanding of practical alchemy« (54) bzw. »a knowledge of both theoretical and practical alchemy« (61). Vgl. auch Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution. Chicago, London 2004, 161: Böhmes »Saliter«-Lehre »apparently resulted in part from his practical alchemical work« (arglos formuliert im Anschluß an Principe/Weeks).

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Spätestens seit Werner Buddecke der Böhme-Forschung zu einer bibliographisch soliden Grundlage verholfen hatte,24 weiß man, dass von anonymen Böhmisten unter Titeln wie Idea chemiae Böhmianae adeptae (1690)25 oder Metallurgia Böhmiana (1695)26 vermeintliche ›Anleitungen‹ Böhmes zur laborantischen Präparation des ›Steins der Weisen‹ an Alchemiker adressiert worden sind,27 bei denen es sich um nichts als vorab aus Böhmes De signatura rerum, Mysterium magnum und Aurora gespeiste und assoziativ collagierte Zitatantho24

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Werner Buddecke: Die Jakob Böhme-Ausgaben. Ein beschreibendes Verzeichnis. 1. Tl.: Die Ausgaben in deutscher Sprache. Göttingen 1937 (Hainbergschriften 5); 2. Tl.: Die Übersetzungen. Göttingen 1957 (Hainbergschriften N. F. 2). Idea chemiae Böhmianae adeptae, Das ist: Ein Kurtzer Abriß Der Bereitung deß Steins der Weisen/ Nach Anleitung deß Jacobi Böhm. Wie auch eine Schutz-Schrifft wegen Böhm/ und Seiner Schrifften. Amsterdam 1690: Der Herausgeber rühmt in Böhme einen Alchemiker vom Range eines Pierre Jean Fabre, Michael Sendivogius, Johann Grasse, George Ripley und (im Banne theoalchemischer Legenden) eines Johann Arndt (Vorrede); wie P. J. Fabres Alchymista Christianus (1632) und Hercules piochymicus (1634) sowie dem Wasserstein der Weisen, so könne man auch Böhmes Schriften entnehmen, »daß das grosse Werck [der Alchemiker] mit der gantzen Theologia symbolizirt« (95). Im Übrigen verspricht der Anonymus ein (wohl nicht entstandenes) »Opus physicae Böhmiane« (Vorrede). – Erneute Ausgabe: Kurtze […] Beschreibung des Steins der Weisen, Nach Seiner Materia, aus welcher er gemachet, nach seinen Zeichen und Farbe, welche im Werck erscheinen, nach seiner Kraft und Würckung […] und was insgemein bey dem Werck in acht zu nehmen. Amsterdam 1747. Metallurgia Böhmiana, Das ist: Eine Beschreibung der Metallen/ nach ihrem Ursprung und Wesen/ und wie sie auß dem Mercurio, Sale und Sulphure gebohren werden. Nach deß Jacobi Böhmii Philosophi Teutonici principiis. Amsterdam 1695: Böhme habe nicht ›im Feuer gearbeitet‹ (laboriert); bei seinen alchemischen Lehren handele es sich um göttliches Offenbarungswissen (304). Der Herausgeber rät zur Lektüre J. Arndts (Vorrede) und erwähnt Philipp Jakob Spener (351 f.); seine angekündigten Schriften, ein Traktat »Von der Gebärung der Elemente« (152) und ein Werk zu Böhmes »Von der Gnadenwahl« (27), gelangten wohl nicht in Druck. Vgl. etwa auch: Einleitung Zum Wahren und gründlichen Erkänntnis Des grossen Geheimnisses der Gottseligkeit: GOTT geoffenbaret im Fleisch; Bestehende in einem Kernhafften Auszug Aller Theologischen/ Theosophischen und Philosophischen Schrifften […] Jacob Böhmens, Alles nach dessen Grund-Sätzen Von drey Principien und sieben Eigenschafften der Natur […] verfasset/ […] Nebst […] einem Anhang/ […] von Zubereitung der wahren Medicin, und von dem Philosophischen Werck und Universal. Amsterdam 1718; mit »Appendix, Oder: Kurtzer Anhang/ Des grossen Geheimnisses der Gottseligkeit; Von der Signatur […] aller Creaturen/ […] von dem Ursprung der Kranckheiten/ und der wahren Medicin, […] Von dem Lapide Philosophorum, seiner ersten Materia, dem wahren Process, von der eigentlichen Tinctur der Metallen […]; Aus des Autoris [Böhmes] Schrifften gezogen«. – Kurzer […] Auszug der […] wichtigsten […] Stellen aus den Schriften […] Jakob Böhms, wovon […] die Dritte und lezte Abtheilung die Bereitung des Steins der Weisen in sich enthält. Frankfurt a. M./Leipzig 1762: Mit einem gereimten »Gebeth, um Offenbarung der philosophischen Materie zur Bereitung des Steins der Weisen« (250–256); erneute Ausgaben: Frankfurt a. M./Leipzig 1800, Basel 1800 u. Männedorf o. J. [19. Jh.]. – Die letzte Posaune an alle Völker oder Prophezeyungen des […] Theosophi Jacob Böhmens von naheseyenden Untergang des Antichrists und Babels […], von der Tinctur der Weisen […], nebst andern Geheimnissen mehr. Berlin/Leipzig 1779, 71–76: »Vom finden des Vniversals für Seele und Leib, eine kurze Summa des Philosophischen Werks«. – Theosophische Beschreibung der Tinktur der Weisen und der Cur aller Krankheiten, aus […] Jakob Böhmens Schriften. Berlin/Leipzig 1780.

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logien handelt. Diese vermeintlichen Wegweiser zum ›Stein der Weisen‹, dem ›Naturheiland‹ der Theosophen, aber auch die Überlieferungsgemeinschaft von Böhme-Exzerpten mit Alchemica28 signalisieren kraftvolle Alchemisierungen der Böhme’schen Theosophie, die durchaus auch im anti-böhmistischen Schrifttum aus Theologenfeder vermerkt worden sind29 und deren Ausmaße sich noch beträchtlicher ausnehmen, nimmt man frühneuzeitliche Verzeichnisse alchemischer Sachschriften zur Hand oder beachtet man Lektüreempfehlungen von Alchemikern für Alchemiker. Was ältere Kenner betrifft, die die frühneuzeitlichen Alchemicafluten bibliographisch zu bändigen suchten, so sei hier nur Friedrich Roth-Scholtz (1687/1736) genannt: Ohne Wimpernzucken nahm dieser vorzügliche Alchemicaexperte Böhmes Mysterium magnum in seine Bibliotheca chemica auf, dazu die Idea und Metallurgia,30 ebenso Hermann Fictuld, der sowohl in Böhme31 als auch im böhmistischen Theoalchemiker Georg von Welling32 mustergültige »Magi, Cabbalisten und Theosophen« zu rühmen wußte. Und obwohl Nicolas Lenglet du Fresnoy (1674/1755) in Böhmes Schriften nichts als ›fromme Allegorien‹ aus der Feder eines extremistischen Metaphorikers fand, aber keine Spuren alchemisch belangvoller Lehren33, erhielten in seiner Histoire de la philosophie hermétique (1742) einige Böhmiana einen Platz.34 28 29

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Kassel, Landesbibliothek, 4° Ms. chem. 64 (17. Jh.), Bl. 125r-244v: Böhmiana. So etwa von Johann Frik: Gründliche Untersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer/ So auß dessn eigenen Schrifften gezeiget/ und auß H[eiliger] Shrifft [sic!] widerlegt werden. Ulm 1700. – Frik zählte zu den Verirrungen der Anhänger Böhmes (40), dass sie aufgrund gewisser von Böhme mit Hilfe des Terminus »Lapis philosophorum« formulierter Lehrsätze »ihre gröste und einige Geheimnis in Chymicis und Veränderung der Metallen/ Silber vnd Gold suchen«. Friedrich Roth-Scholtz: Bibliotheca chemica, Oder Catalogus von Chymischen-Büchern. Nürnberg, Altdorf 1727, 30. – Außerdem genannt wird in Verkennung ihres anti-böhmischen Charakters eine Schrift des Monogrammisten E. I. H.: Der entlarvete Jacob Böhm/ Oder Gründliche Anzeigung/ wie dessen so genandte Theosophische Schrifften anzusehen/ und woher ihm solche Wissenschafften erwachsen sind/ Nebst angehengeter Dissertation, De Adeptis. O. O. 1693: Böhme wird als ein »Chymischer Theologus« Paracelsischen Geblüts präsentiert, den zu lesen eine »rechte Hirn-Marter« sei; weil allein gegründet auf »des Schreibers schwaches Gehirn und irriger Lehrmeister Schrifften«, solle man die Böhmiana verbieten (40). Hermann Fictuld: Des Längst gewünschten und versprochenen Chymisch-Philosophischen Probier-Steins Erste Classe, In welcher der […] ächten Adeptorum […] Schrifften […] entdecket worden. Dresden 1784 (erneute Druck der Ausgabe Frankfurt a. M./Leipzig 1753), 54 f. Hermann Fictuld: Der längst gewünschte […] Chymisch-Philosophische Probier-Stein. Frankfurt a. M./Leipzig 1740, 62–65. (Nicolas Lenglet Dufresnoy:) Histoire de la philosophie hermétique. Accompagnée d’un Catalogue raisonné des Ecrivains de cette Science. Bd. 3. Paris 1744 (erstmals Paris 1742), 124: »Cet Auteur [Böhme] est extrêmement métaphorique. Sur sa réputation j’ai cru qu’il contenoit de grands mystéres, je l’ai lû & n’y ai trouvé que quelques dévotes allégories, sans aucune instruction sur la Philosophie Hermetique«. Lenglet Dufresnoy (Anm. 33), 124 f., s. v. Bohem: »De signatura rerum« in französischer Übersetzung (»Miroir temporel de l’Eternité […]. Francofurti. 1669«), Metallurgia (Anm. 26); Theosophia revelata [1730]; Idea (Anm. 25).

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Um orthodoxe Angriffe auf Böhme zu entkräften, behauptete der spiritualistische Prediger Friedrich Breckling (1629/1711) im Zuge seiner Abwehr gegen ihn gerichteter Heterodoxieanklagen von ungenannten »Theosophi/ Medici und Chymisten/ welche durch die Experimental-Philosophiam und Chymiam biß zum Centro/ Grund und Wurtzel aller Dinge« durchdrängen, – eben diese überaus fähigen ›Experimentalphilosophen‹ hätten aus Jakob Böhmes Schriften weit mehr naturkundliches Wissen geschöpft, als ihnen »durch aller Chymisten und RosenCreutzer Bücher je geoffenbahret« worden sei.35 Solche unter religiösen Dissidenten eingeschliffenen Mystifikationen – sie sollten den Görlitzer Theosophen zum ›Hermes Trismegistus Teutonicus Redivivus‹ entstellen36 – nehmen der Tatsache, dass Alchemiker in ihren Sachschriften zur Lektüre Böhmes ermunterten, alles Zufällige. Beflügelt von der Doktrin, dass zwischen ›natura‹ und ›scriptura‹ engste Wechselbeziehungen, insbesondere zwischen dem alchemischen ›Werk‹ und dem Sechstagewerk Gottes oder Geburt, Tod und Auferstehung Jesu Christi naturkundlich aufschlussreiche Analogien bestünden, riet beispielsweise ein in die Wolle gefärbter Hermetiker, der Kieler Universitätsmediziner Johann Ludwig Hannemann (1640/1724) verschiedentlich zur Lektüre des ›Adepten‹ Böhme: »Hic philosophus in suo opusculo de Signatura rerum, & passim in suis scriptis multa egregia de L[apide] P[hilosophorum] habet, ac profundas meditationes ex hac philosophia cum Theologia Symbolizante in medium profert, ac cum erudito orbe communicat«.37 Auch späterhin blieb der ›Adeptus‹ Böhme aktuell. So rückte man gold- und rosenkreuzerischen Anhängern der ›geheimen Naturlehre‹ in hemdsärmeliger Eklektikermanier manche ›Moderni‹ (zum Beispiel M. Sendivogius, P. J. Fabre, Hermann Fictuld, Georg von Welling) gemeinschaftlich mit oft schon seit langem kanonisierten ›Klassikern‹ der Transmutationsalchemie (so 35

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Friedrich Breckling: Anti-Calovius sive Calovius cum Asseclis suis prostratus et Jacob Böhmius Cum aliis testibus veritatis defensus. O. O. 1688, E2r-v, zit. n. Carlos Gilly: Vom äyptischen Hermes zum Hermes Trismegistus Germanus. Wandlungen des Hermetismus in der paracelsistischen und rosenkreuzerischen Literatur. In: Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Peter-André Alt u. Volkhard Wels. Göttingen 2010 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 8), 71–131, hier: 97. – Zu Breckling resümierend Killy Literaturlexikon, Bd. 2 (2008), 161 f. (D. Blaufuß). Metallurgia (Anm. 26), Vorrede, )(2r u. )(3r. Johann Ludwig Hannemann: Instructissima Pharus In Oceano Philosophorum ostendens Viam veram & tutam. Ad ophir auriferum. Kiel 1712, 156 f.: Böhme erscheint unter Verweis auf dessen Sendbriefe neben dem »summus Theologus Philosophus, & medicus divinus Paracelsus«, Raimundus Lullus und Arnald von Villanova als Autorität in der durch die Zeiten umstrittenen Frage über die zeitliche Dauer des alchemischen ›Werks‹ (von Hannemann formuliert aus Kenntnis von Böhme, Sendbrief Nr. 15, an Johann Daniel Koschwitz, 3. Juli 1621. In: Epistolae Theosophicae [Anm. 2], 63, Abschn. 10: Ein gewisser »Proceß« »darf wol erst im siebenten Jahr […] zu End lauffen«); Zitat: 156. – Cato chemicus Tractatus Quo Verae ac Genuinae Philosophiae Hermeticae […] accurate delineantur. Hamburg 1690, A 12 (empfohlen gemeinschaftlich mit J. Arndt, Julius Sperber und Paracelsus). Ausdrücklich als ›Adept‹ figurierte Böhme auch in Hannemanns »Osculum« (Anm. 15), 97 (gemeinsam mit J. Arndt und J. V. Weigel); Otium Friedrichstadiense, seu Tantalus chemicus. i. e. Commentarius Physico-chemicus de L. P. B. Hamburg 1717, 40: »[…] Böhmium in arte divina non fuisse peregrinum vel exulem«.

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etwa Geber, Bernardus Trevisanus, George Ripley, [Ps.-] Paracelsus, Basilius Valentinus) in den Blick, – »nützlich« seien aber insbesondere »scripta mystica«: Der theomedizinische Raphael oder Arztengel von Abraham von Franckenberg (1593/1652)38 und Böhmes Aurora, vor allen anderen Lehrschriften aber ein gewisser Text in Böhmes De signatura rerum, handele es sich doch um einen Basistext für die laborantische Praxis.39 In frühneuzeitlichen Richtungskämpfen unter Alchemikern, ausgetragen beispielsweise zwischen ›Vitriolisten‹, ›Nitristen‹, ›Mercurialisten‹, ›Saturnalisten‹, ›Antimonialisten‹, ›Exkrementisten‹, wurden gewisse Autoren geächtet, andere ignoriert oder gerühmt. Dass man in diesen Kontroversengetümmeln relativ häufig zur Lektüre Böhmes riet, verrät einiges über seine frühneuzeitliche Wirkmächtigkeit. Ob man nun den fränkischen Alchemoparacelsisten Johannes Pharamundus Rhumelius mit Ernst Salomon Cyprian zu den ›zärtlichsten Liebhabern‹ Böhmes zählen darf,40 sei dahingestellt.41 Einen wohl allenfalls selten beachteten Niederschlag fanden Böhmes philosophisch-theologische Spekulationen jedenfalls in der frühneuzeitlichen Salzalchemie:42 Gewiss beruhte die keineswegs selbstverständliche Tatsache, dass angesichts der Unzahl natürlicher Substanzen auffällig viele Alchemiker gerade Salz beschäftigte, teilweise auf der wachsenden Prominenz, die Salz aufgrund der Paracelsischen Drei-Prinzipien-Lehre seit dem 16. Jahrhundert zu genießen begann. Den mächtigen Aufschwung der Salzalchemie begünstigten mit ziemlicher Sicherheit in nicht unbeträchtlichen Ausmaßen aber auch Theoalchemiker von der Art eines Heinrich Khunrath, die Salz allein schon eingedenk seiner bedeutsamen Rolle in der Heiligen Schrift mit besonderer Aufmerksamkeit bedachten. Schließlich trugen die Strahlkräfte gerade der paracelsistischen Drei-Prinzipien-Lehre Böhmes, in der »Salniter« bzw. »Salitter« immerhin einen primaterialen Rang einnimmt, im Verein mit dem Khunrath’schen Werk merklich dazu bei, dass die Salzalchemie nach Zeugnis namhafter Böhmisten, etwa Georg von Wellings, vorab unter laborierenden Theosophen heimisch geworden war, deren heute vielleicht bekannteste Gali38

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Zu dem Freund und ersten Biographen Böhmes, an dessen alchemomedizinischen Neigungen insbesondere seine paracelsistisch-theosophischen Gesundheitslehren im »Raphael« erinnern, vgl. resümierend Killy Literaturlexion, Bd. 3 (2008), 529–531, s. v. (J. Telle). Anonymus: Anweisung eines Adepti hermetische Schriften nützlich zu lesen. Annotiert und hrsg. v. einem »wahren Freymaurer«. Leipzig 1782, 21. – Der Verfasser bezog sich auf den »Proces Christi« (s. Jakob Böhme: De signatura rerum. In: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen [Anm. 20], Kap. 11, 670–700): Hier lehre Böhme, wie man bei der laborantischen Präparation der ›Universalmedizin‹ »nach der Aehnlichkeit der Leidensgeschichte Jesu, mit dem Chaos der Weisen [der arkanen Materia prima der Alchemiker] verfahren« müsse. Ernst Salomon Cyprian: Fernere Anmerckungen von Arnolds Partheylichkeit und Verfälschung der Scribenten. In: Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historien. Bd. 3. Schaffhausen 1742, 113 f. Eine Durchsicht von über fünf seit den 1630er Jahren erschienenen Rhumelius-Drucken einschließlich der »Medicina Spagyrica Tripartita Oder Spagyrische Artzneykunst« (erneute Ausgabe Frankfurt a. M. 1662) lässt an Cyprians Nachricht zweifeln. Vgl. dazu Joachim Telle: »Vom Salz«. Eine deutsche Alchemikerdichtung der frühen Neuzeit über den Gewinn einer Universalmedizin. In: Pharmazie in Geschichte und Gegenwart. Festgabe für Wolf-Dieter Müller-Jahncke zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Christoph Friedrich u. J. Telle. Stuttgart 2009, 457–484.

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onsfigur, der Böhmist Friedrich Christoph Oetinger (1702/1782), im Zuge seiner theoalchemischen Rettungen der »Metaphysic« mittels seiner »Patriarchalphysik« alias Alchemie erklärte, dass der »wahre Chemicus und Nachahmer GOttes« aus »Saltz« ein »wahres süsses Oel« bzw. »das allersüsseste Wesen« und »das universelleste Principium« extrahieren könne.43 Vermutlich formierte sich die wissenschaftsgeschichtlich gewichtige Salzalchemie unter manchen epistemologischen Unsicherheiten, wie sie gerade diffusen, sowohl von Elementen der böhmistischen Theosophie als auch rationalempirischen Verfahrensweisen und laborantischen Praktiken geprägten Gemengelagen eigen sind. Die naturkundlich innovativen Potentiale der philosophischtheologischen Spekulationen Böhmes entluden sich jedenfalls nicht von ungefähr nahezu wuchtig im frühneuzeitlichen Amsterdam. In dieser Böhmistenhochburg wirkte Johann Rudolf Glauber (1604/1670), durchaus ein Großer der barocken Salzalchemie. Über die Feier seiner chemisch-technologischen Leistungen machen Historiographen leicht vergessen, dass Glauber in sich einen hervorragenden ›Feuerphilosophen‹ und Meister einer paracelsistisch geprägten »Halchymia« (»Salzschmeltzung«) mit einem zeitweilig quintomonarchistisch gesinnten Dissidenten verband, der in der Sicht zeitgenössischer Gegner unter dem »schein der wissenschafft«, aber auch einer »angenommenen schein heiligkeit« als ein »newer Prophet« agierte und statt öffentliche Kirchen zu besuchen, »seyner eygenen schwirmerey im Hauß« oblag.44 Für sicher kann man jedenfalls nehmen, dass sich Glauber zu den Lesern des »frommen« Theologen Böhme zählte, den ›Chymicus‹ Böhme, weil kein Practicus und »übel verständlich«, freilich nicht akzeptierte.45 Eben im Amsterdam der 1650er Jahre und hier gemeinsam mit Glauber zum Autorenkreis des Böhme-Verlegers Heinrich Betke gehörig, lebte Johann Hartprecht (um 1610/nach 1661), der ebenfalls eine Salzalchemie verfocht, doch durchaus anders als Glauber seine synkretistischen Salzlehren ausdrücklich mit Elementen der Naturschau Böhmes durchsetzte: Man lernt in diesem einst be43

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Friedrich Christoph Oetinger: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia [1763]. Hrsg. v. Reinhard Breymayer u. Friedrich Häussermann. Tl. 1. Berlin 1977 (Texte zur Geschichte des Pietismus. Abt. VII. 1), 239–244: »Weitere Ausführung des Grundbegriffs vom Saltz«, hier: 240 f., mit dem Hinweis: »wie mir [dem Theoalchemiker Oetinger] der [laborantische] modus [der Extraktion] wohl bekannt ist«. – Über einige Züge der böhmistischen Alchemie Oetingers informiert Ulrike Kummer: Autobiographie und Pietismus. Friedrich Christoph Oetingers »Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten«. Untersuchungen und Edition. Frankfurt a. M. 2010. – Zuletzt resümierend Killy Literaturlexikon, Bd. 8 (2010), 686 f. (R. Breymayer). Antiglauberus (Ps.): Glauberus refutatus […] Daß ist: Ein Hundert Lugen: oder Ohnnützliche […] Chimische Proceß Auß Glaubers […] Schrifften zur Wiederlegung jhres Autoris unnd Erhaltung der Wahrheit an Tag gegeben. O. O. 1661, 1, 85. Johann Rudolf Glauber: Teutschlands Wohlfahrt/ Dritter Theil. (erneute Ausgabe) Prag 1704 (erstmals Amsterdam 1659), 309: »So viel ich [Glauber in den von H. Betke in Amsterdam gedruckten »Theologischen« und »Chymischen Schrifften«] gesehen/ so ist er [Böhme] ein frommer Mann gewesen; Was er aber in Alchymia verstanden/ kan ich nit wissen/ dieses aber weiß man/ daß er niemalen laboriret/ und seine Chymische [310] Schrifften übel zu verstehen: Die Theologische aber von vielen Menschen gelesen werden«. – Zu Glauber zusammenfassend zuletzt Killy Literaturlexikon, Bd. 4 (2009), s. v., 242–244 (J. Telle).

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schrienen Alchemiker einen unterschiedlichsten Autoritäten verpflichteten Eklektiker kennen; seine naturkundliche Grundhaltung maßgeblich geprägt hatten allerdings Werke, von denen Hartprecht dafürhielt, dass sie »ausser der heiligen Schrifft gantz und gar ihres gleichen nicht« hätten und wegen ihres ›unaussprechlichen Nutzens‹ für Alchemiker endlich in hochdeutscher Sprache gedruckt werden müssten: die Werke Jakob Böhmes, – gäben sie doch »aller Dinge hertz und innersten Mittelpunct« zu erkennen,46 stünde hier doch nichts weniger als »die gantze Natur« und deren »circulation bloß und nackend« da, ließen sich »Grund und Wurtzel der Natur« nur im Werk Böhmes aufs »gründlichste« fassen.47 Und eben hier im Amsterdam Glaubers und Hartprechts konnte man schließlich zwei weitere Böhmisten treffen: Ein Freund Samuel Hartlibs und Johann Amos Comenius’ sowie Briefpartner etwa Abraham von Franckenbergs, der Arztalchemiker Joachim Polemann (um 1620/25–nach 1675) ließ hier Heinrich Betke für den Erstdruck seines der paracelsistischen Naturkunde geschuldeten Novum lumen chymicum sorgen (1659), eines dem Sulzbacher Pfalzgrafen Christian August gewidmeten Johann Baptista van Helmont-Kommentars, in dem Jakob Böhme zu den von Polemann am häufigsten aufgerufenen Eideshelfern zählt.48 Und bald dann propagierte hier Georg Ernst Aurelius Reger eine maßgeblich vom »Wundermann« Böhme geprägte Alchemomedizin.49 Angesichts dieses massiven Böhmismus können Spuren des »wydberoemden Philosoph Iacob Böhem« im Werk des holländischen Alchemikers Goossen van Vreeswyck nicht überraschen.50 Gelegentlichen Widerhall fand Böhme überdies im Alchemikerlager unter erklärten Anti-Cartesianern. Böhme munitionierte hier Kampagnen gegen jene 46

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Johann Hartprecht: Erläuterung. In: Johannes Isacus Hollandus: Opus vegetabile. Aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt von J. F. H. S. [Johann Hartprecht]. Amsterdam 1695 (erstmals Amsterdam 1659), 138. J. F. H. S. [Johann Hartprecht]: Der Verlangete Dritte Anfang Der Mineralischen Dinge/ oder vom Philosophischen Saltz; Nebenst der waren Praeparation Lapidis & Tincturae Philosophorum. Amsterdam 1656, 25. – Zu Hartprecht zuletzt Killy Literaturlexikon, Bd. 5 (2009), s. v., 48 f. (J. Telle). Joachim Polemann: Novum lumen medicum. In welchem Die […] Lehre des […] Philosophi Helmontii, Von dem hohen Geheimnis des sulphuris philosophorum […] erkläret wird. Amsterdam 1660. Das Ansehen Böhmes als Alchemiker in Amsterdam unterstreicht auch Polemanns Mitteilung, er habe einem Kenner ›alchemischer Geheimnisse‹ gewisse Texte Böhmes laut vorgelesen. »According to Poleman, this individual turned and with wonder said, is it possible that Boehme came to know these things from his own spirit, for he has written the truth« (J. Polemann/Amsterdam, Brief an Samuel Hartlib/London). Durchaus ähnlich gesinnt hatte sich Polemanns Adressat S. Hartlib zu dieser Zeit unter dem Stichwort ›Lapis Philosophorum‹ notiert, Böhmes »De signatura rerum« beschreibe »the whole processe of the Philosophical Worke«. Darauf aufmerksam machte Ariel Hessayon: ›Gold Tried in the Fire‹. The Prophet TheaurauJohn Tany and the English Revolution. Aldershot 2007, 308. Georg Ernst Aurelius Reger: Gründlicher Bericht Auff einige Fragen/ Bekräfftiget durch drey übereinstimmende Zeugen/ als Der heiligen Schrifft/ Dem Buch der Natur/ und Dem Buch der Menschheit. Hamburg 1683. – 105–121: Scharfer Angriff auf ungenannte Dissidenten, insbes. wohl auf J. G. Gichtel. Goossen van Vreeswyk: De Roode Leeuw, Of het Sout der Philosophen. Amsterdam 1672, 158 f.: »De signatura rerum«-Zitat.

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»pristerlichen pseudo-Theologi« und »Levitischen Medici«, allesamt nichts als »Carthesianische Brillisten«, die die Natur nur »durch Brillen und Microscopien« betrachteten, statt beispielsweise in der Passion Christi ein alchemisch aufschlussreiches ›Gleichnis‹ anzuerkennen.51 Wieder andere Anwälte einer »Christ-Chymischen Warheit«, transkonfessionell gesonnene Alchemiker nämlich, erhofften sich von der Strahlkraft Böhme’scher Lehren eine Überwindung allen konfessionalistischen Haders und Splittertums. Sie hielten sich fähig, vermöge ihrer »Erkantnuß der Natur/ das Geistliche/ so durchs natürliche abgebildet wird/ in Conformität der Schrifft zu lehren«,52 und gossen ihr Credo in eine alle amtskirchlich-theologische Kompetenz unterminierende Devise: »Die Chymie befreyet von Religions-Streit«, einen Böhme beigelegten Satz.53 Zumal es sich oft um Angehörige politisch-sozial und schriftkulturell durchaus hochstehender Schichten handelte – erinnert sei hier nur an Herzog Ernst August von Sachsen-Weimar (1688/1748)54 – gerieten böhmistische Alchemiker schließlich in den Ruch, sie gefährdeten nicht nur die »Religion«, sondern auch den »Staat«, ruinierten alle »göttliche Ordnung« und »bürgerlichen Verfassungen«55: Remedur schaffen, so ein aufklärerischer Fundamentalist, Remedur schaffen könne da allein eine Vernichtung der Bücher Jacob Böhmes, aber auch eines Johann Gottfried Jugel (1707/1786), Emanuel 51

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Anonymus: Das Buch Amor proximi Geflossen aus dem Oehl der Goettlichen Barmhertzigkeit. Geschärffet mit dem Wein der Weisheit. Bekraefftiget mit dem Saltz Der Göttlichen und Natürlichen Warheit. Frankfurt a. M./Leipzig 1782 (Erstdruck: Den Haag 1686; auch Frankfurt a. M./Leipzig 1746). Johann Philipp Maul: [Zahàbh Mizzaphon (hebr.)] Sive medicina theologica, chymico irenica, & christiano-cabbalistica, vorgestellet in der Ersten Continuation curioser und erbaulicher Gespräche Vom Gold von Mitternacht Oder von der Höchsten Medicin, Darinen gezeiget wird/ […] daß die Vergleichung der Geistlichen und Leiblichen Höchsten Medicin, die rechte Cabbala der Alten/ oder wahre Chymie seye. Wesel 1713 (erstmals Wesel 1709), 355. – Maul wiederholte nahezu wörtlich die schon von O. Crollius formulierte Forderung (s. o., 167), dass »die Theologi chymisirten/ und die Chymici theologisirten!« (328). Maul (Anm. 52), Vorrede, nicht paginiert. (Ernst August, Herzog von Sachsen-Weimar:) Zu […] Iehovah gerichtete theosophische Herzensandachten, oder Fürstliche selbst abgefassete Gedancken, wie wir durch Gottes Gnade uns von dem Fluch des Irdischen befreyen und im Gebet zum wahren Lichte […] in Gott eingehen sollen; nebst einigen aus dem Buch der Natur und Schrifft hergeleiteten Philosophischen Betrachtungen von denen dreyen Haushaltungen Gottes im Feuer, Licht und Geist zur Wiederbringung der Creatur. O. O. 1742. – In diesem Zeugnis einer böhmistischen Theoalchemie wird ausdrücklich eine »Religio« propagiert, der »Gottesdienstliche Verfassung«, »aeuserliche Religions-Meynung« bzw. »Sectirische Anhaenglichkeit« nichts gilt (Vorwort). Im Übrigen erklärte der Herzog in Abwehr aufklärerischer Positionen, er hege nicht die »Meynung«, mit seiner Schrift »thoerichte Chymisten […] in ihren verkehrten intentionen zu staercken«. Die »wahre theosophische Weisheit« müsse nämlich keineswegs »ihre Absicht auf die acquirirung groser Reichthümer […] gerichtet haben« (144 f.). Johann Gottlieb Stoll: Etwas zur richtigen Beurtheilung der Theosophie, Cabbala, Magie, und anderer geheimer übernatürlicher Wissenschaften. Leipzig 1786, 14, 22. – Die Hauptwucht der Stoll’schen Attacken galt »Theosophen«, klassifiziert als religiöse Heuchler, die »bey einer scheinbaren Verläugnung ihrer selbst und aller zeitlichen Güter, doch nichts zum Grunde haben als die vortrefliche Kunst, die unedlern Metalle […] in Gold oder Silber zu verwandeln«. Diese »Verirrten« fänden sich keineswegs im »Pöbel«, sondern unter bedeutenden Gelehrten, unter Doctoren und Predigern.

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Swedenborg (1688/1772) und ›tausend anderer alchymistischer und mystischer Schriftsteller‹ mehr.56 Zum Schellengeläut der alchemischen Böhme-Rezeption gehörte seit dem 17. Jahrhundert ein Vorwurf, der unter den anti-böhmistischen Angriffen wohl mit zu den schwerwiegendsten gehörte, – der Vorwurf nämlich, Böhme habe die Heilige Schrift in die Dienste der Transmutationsalchemie gestellt: »Er mißbrauchet die Schrifft auffs ärgerlichste/ und verkehret nicht allein den rechten Verstand/ sondern verdüstert auch ihre klare Meynung mit seinem schwärmerischen Beysatze. Er zerreisset und zuwühlet die allerschönsten Trost-Blumen des Heiligen Geistes mit seinen eigendeutigen Auslegungen/ und bringet fremdes Feuer/ nehmlich aus den Chymischen Schmeltz-Tiegeln/ auff den Altar des HErrn. Also/ daß es offt das Ansehen gewinnet/ er begehre vielmehr die Schrifft um der Chymischen Wörter willen/ zumahl von dem Lapide Philosophico, weder diese um jener willen/ anzuziehen«.57 Mit diesen Worten zur Sprache gelangt war eine Anklage, wie sie dann im 18. Jahrhundert wiederholt, mutatis mutandis aber auch hier in München seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts im Zuge seines Kampfes gegen den gelegentlichen Gebrauch Böhme’scher »formulae« in der Kontroverstheologie seiner Zeit von Adolf von Harleß (1806/1879), Haupt der evangelisch-lutherischen Kirche Bayerns, erhoben worden ist58 und in dem grimmen Richtspruch gipfelte, Böhme habe »Gottes Wirkungsweise in der Welt mit den Kanones der alchymistischen Kunst identificirt«, habe »so zu sagen, Gott selbst in die alchymistische Retorte« geworfen und »seinen ewigen Werde- und Wesensproceß nach den Recepten [der alchemischen] Kunst« konstruiert.59 Den »Verstand der Göttlichen Geheimnisse« mittels der »Natur« zu »begreiffen und [zu] ergründen«60, – eben solche von orthodoxen Protestanten verdammten Naturalisierungen supranaturaler Vorstellungen, wie sie schon Gregor Richter inkriminierte,61 56 57

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Stoll (Anm. 55), 145. Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen: Täglicher Schau-Platz der Zeit. O. O. o. J. (defektes Exemplar; Vorrede: 13. Dezember 1694; wohl der Erstdruck: Leipzig 1695), 1365. – Übernommen aus Erasmus Francisci: Gegen-Stral Der Morgenröte […]; In gründlicher Erörterung der […] Haupt-Fragen und Schein-Sätze heutiger Böhmisten/ wie auch beygefügter Untersuchung/ was von deß Jacob Böhms Schrifften zu halten sey. Nürnberg 1685, ein von Ziegler in seinem Abschnitt über Böhme zitiertes (mir nicht erlangbares) Werk? Adolf G[ottlieb] C[hristoph] von Harleß: Jakob Böhme und die Alchymisten. Ein Beitrag zum Verständniß J. Böhme’s. Nebst zwei Anhängen: J. G. Gichtel’s Leben und Irrthümer und über ein Rosenkreuzerisches Manuscript. Zweite vermehrte Ausgabe. Leipzig 1882 (Vorwort: Dezember 1874), 111. Harleß (Anm. 58), 66. EhreGott Daniel Colberg: Das Platonisch-Hermetische Christenthum/ begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, Unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer/ Rosencreutzer/ Qväcker/ Böhmisten […] und Quietisten. Leipzig 1710 (erstmals Frankfurt a. M./Leipzig 1690/91), Kap. 8 (»Von Jacob Böhmen Schwärmerey«), 307–386, hier: 308. Gregor Richter, Böhmes Görlitzer Widersacher, schrieb in seiner Görlitzer Stadtchronik, »Böhme habe Gott als ein Gebilde aus Schwefel und Quecksilber gelehrt« (so in Übersetzung zitiert von Ernst-Heinz Lemper: Jakob Böhme. Leben und Werk. Berlin 1976, 125); ähnlich dann am 26. März 1624: »Der Schuster hat viele Jahre lang […] über Gott und die Schöpfung Wunderliches ausgestreut und ausgespieen, daß jener nämlich aus Quecksilber und

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gehören zu den vielleicht wichtigsten Grundlagen der Böhme’schen Resonanz im frühneuzeitlichen Alchemikerlager. Wendet man sich dem 18. Jahrhundert zu, so sieht man gleich zu Jahrhundertbeginn zwei weitere Böhmisten den Alchemicamarkt bereichern: Der Jurist Franciscus Clinge, gänzlich im Banne Böhmes, wollte nun aus der enormen Zahl alchemischer Lehrschriften keine gelten lassen, sie stamme denn aus der Feder Böhmes oder des Basilius Valentinus.62 Und Samuel Richter (Ende 17. Jh./nach 1722) trug allen Druck-, Vertriebs- und Lektürehemmnissen Böhme’scher Schriften zum Trotze mit seinen Böhme-Texte enthaltenden Publikationen, etwa der Theo-Philosophia Theoretico-Practica (1711), maßgeblich zur Präsenz des zum ›Wundermann‹ avancierten Böhme unter theosophierenden Alchemikern bei.63 Zur Suche weiterer Spuren Böhmes unter deutschen Alchemikern des 18. Jahrhunderts ermutigen etwa auch auf Böhme gestützte Erläuterungen chemischer Angaben,64 weitaus nachdrücklicher noch heute meist verschüttete Schriften, von denen man im 18. Jahrhundert dafürhielt, sie seien auf Böhme’schen Prinzipien gegründet65, nicht zu vergessen manche Scharmützel des pietistischen Arztalchemikers Johann Konrad Dippel (1673/1734) mit ungenannten Böhmisten, ihm bekannten »Narren«, die den laborantischen Gewinn des alchemischen ›Steins‹ auf eine spirituelle – durch Kirchgang, Bibellektüre und sexuelle Enthaltsamkeit

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Salpeter hergestellt sei und diese andere machten« (ebd., 93). – Durchaus in Richter’scher Stoßrichtung formulierte noch Harleß (Anm. 58), 67: »Der abstrakte Spiritualismus erliegt in Böhme einem materialischen und chemischen Realismus [sic!], wie er seines Gleichen weder vorher noch nachher gehabt hat [sic!]«. Franciscus Clingius (Clinge): Ein Richtiger Wegweiser zu der Einigen Warheit in Erforschung der verborgenen Heimligkeiten der Natuhr [sic!]. Berlin 1701. – Trotz seines entschiedenen Böhmismus wurde von Clinge begrüßt, dass man die Lektüre Böhme’scher Schriften »nicht ohne unterscheid« gestatte und den öffentlichen Böhmianaverkauf verbiete (97). Samuel Richter: Theo-Philosophia Theoretico-Practica, Oder Der wahre Grund Göttlicher und Natürlicher Erkänntniß, Dadurch beyde Tincturen, die Himmlische und Irdische, können erhalten werden (Breslau 1711). In: Ders., Sämtliche Philosophisch- und Chymische Schrifften. Leipzig, Breslau 1741: Richter empfiehlt und zitiert häufig den »Wunder-Mann« Böhme; zum Anti-Böhmismus bes. 403: Ungenannte »Schrifft-Gelehrte«, bei denen es sich um »zänckische Sectirer und Ketzermacher« handele, würden sich »wider GOttes Geist auflehnen«, indem sie die Schriften Böhmes, aber auch Hohenheims, Weigels und Paul Lautensacks, »so durch GOttes Geist geschrieben worden, unterdrücken und mit der grössesten Schärffe verbieten, so wohl zu lesen, als zu verkauffen«. – Zu Richter alias Sincerus Renatus s. zusammenfassend Alchemie. In: Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hrsg. v. Claus Priesner u. Karin Figala. München 1998, 304 f., s. v. (U. Neumann). Ein solches Symptom der Chemisierung Böhmes bietet sich in: Glauberus concentratus, Oder Kern der Glauberischen Schrifften. Hrsg. v. einem Anonymus. Leipzig, Breslau 1715, 445: Behauptet wird eine »Concordantia« Glauberscher Lehre »cum 7. Qualitatibus in Doctrina J. B. T.« Ein Beispiel bietet die an »Nachforscher der Göttlichen, und natürlichen Weißheit zum Erkäntniß grösserer Geheimnissen« adressierte Physikotheologie eines Anwalts der »verborgeneren Chymie«, Georg Friedrich Retzel: Der Sechs Tage-Wercke dieser Welt Geheime Bedeutung Im Spiegel der uhralten/ und Mosaischen Philosophie entdecket. Braunschweig 1722. Retzels Schrift wurde in den »Unschuldigen Nachrichten« (1735) »as a ›fanatical, Böhmistic book›« verurteilt; so John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 2. Glasgow 1906, 257.

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bewirkte – Wiedergeburt des Alchemikers gründeten, in Dippels polemischer Sicht freilich nichts anderes taten »als Gott und der Natur durch Masken etwas abstehlen [zu] wollen«.66 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stand Böhme unter Alchemikern weiterhin in Ansehen: Er fand zu dieser Zeit in dem hessischen Hofbeamten Siegmund Heinrich Güldenfalk (1727/1787) einen Apologeten,67 und mustert man einschlägige Schriften von Johann Salomo Semler (1725/1791), eines Universitätstheologen, der in sich den bahnbrechenden Neologen mit einem stupend beschlagenen Alchemiker zu vereinen wusste, so stößt man hier immer wieder auf besorgte Polemiken wider das »unselige andächtelnde«, dem »Naturheiland« geltende »Laborieren« ungenannter Zeitgenossen.68 Den naheliegenden Verdacht, dass Semlers rabiate Verdikte einer »giftigen«, laut Semler durchaus bedrohlich verbreiteten »Seuche der frömmelnden Alchymie«69 gewisse Zentren der theoalchemischen Böhme-Rezeption einbegriffen,70 bekräftigt denn auch ein Anony66

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Christianus Democritus (Johann Konrad Dippel): Eröffneter Weg zum Frieden mit GOTT und allen Creaturen. Bd. 3. Berleburg 1747, 414: Unter der Überschrift »Absurder Alchymist oder Philosophus adepturiens«. (Gern-Goldmacher.)« (404) bestritt Dippel die böhmistische Doktrin, Voraussetzung des »Lapis«-Gewinns sei eine im Wiedergeburtsgedanken gegründete »übernatürliche Heiligkeit«. – Im Übrigen meinte Dippel unter Verweis auf dessen Briefe, Böhme habe einen schlesischen Mediziner für sich laborieren lassen (ebd., 443); diese Ansicht fasste Dippel wohl aus Kenntnis eines Böhme’schen Schreibens an Johann Daniel Koschwitz vom 3. Juli 1621, in dem es heißt (Böhme, Epistolae Theosophicae [Anm. 2], Sendbrief Nr. 15, 63, Abschn. 10: »Anlangend unser heimliche Abrede, wie euch [Koschwitz] bewust, werdet ihr euch müssen noch ziemliche weil in dem bewusten [von Böhme anschließend in astroalchemischer Allegorik gefaßten] Proceß gedulten«. Außerdem klassifizierte Dippel durchaus unzutreffend die Lehren von Johann Grasse (Dippel: »Graßhauer«) im oft gedruckten »Kleinen und Großen Bauern« (1617) als eine »aus dem übel verstandenen Jacob Böhmen geschöpfte Alchymie« (ebd., 418). – Beachtung verdiente Dippels Behauptung (ebd., 400), Urheber einer unter dem Titel »Microcosmische Vorspiele Des Neuen Himmels und der Neuen Erde« (Amsterdam [recte: Berlin] 1733 u. ö.) erschienenen Theoalchemie sei ein »geschworner Böhmist«. – Zu Dippel resümierend zuletzt Killy Literaturlexikon, Bd. 3 (2008), 42–44, s. v. (E. Fischer/U. Roth). Siegmund Heinrich Güldenfalk: Die himmlische und hermetische Perle oder der [sic!] göttliche und natürliche Tinctur der Weisen. Frankfurt a. M./Leipzig 1785. – Güldenfalks Verteidigung Böhmes galt ausdrücklich Darlegungen des orthodoxen ›Ketzerjägers‹ Christian Wilhelm Oemler. – Zu Güldenfalk s. Jürgen Strein: Siegmund Heinrich Güldenfalks »Sammlung von mehr als 100 Transmutationsgeschichten« (1784). In: Iliaster. Literatur und Naturkunde in der frühen Neuzeit. Festgabe für Joachim Telle zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. Wolf-Dieter Müller-Jahncke. Heidelberg 1999, 275–283. Johann Salomo Semler: Zusätze zu der teutschen Uebersetzung von Fludds Schutzschrift für die Rosenkreuzer. Halle 1785, Widmung an die »Hallische Gesellschaft der Naturforscher« (Halle, 27. November 1784), a6r; eben zu dieser Zeit beobachtete Semler, dass die Schriften Böhmes »immer mehr Liebhaber« fänden (ebd., a4v). Johann Salomo Semler: Hermetische Briefe wider Vorurtheile und Betrügereien. Erste Sammlung. Leipzig 1788, Brief Nr. 1, 6. – So empörte sich Semler etwa auch in: Unparteiische Samlungen zur Historie der Rosenkreuzer. Stück 3. Leipzig 1788, Vorrede: »Die schändliche Betrügerey, so unter der künstlichen [alchemischen] Andächteley fast öffentlich mit dem so genanten Naturheiland oder mit der Tinktur getrieben wird, findet fast keinen Widerstand«. An Semlers ablehnender Position gegenüber böhmistischen Alchemikern kann kein Zweifel sein; dies zeigt etwa seine vernichtende Kritik der »Schmierereien« eines Samuel Richter

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mus: »Kein gifft«, so schäumte dieser aufklärerische Publizist, wirke »gewaltsamer auf den Körper« als die in der »theosophischen [Alchemiker-]Klasse« von Anhängern Heinrich Khunraths und Georg von Wellings (1655/1725)71 geschätzten Lehrschriften »auf den gesunden Verstand«, namentlich Werke der ›Fanatiker‹ Weigel, Aegidius Gutmann (16. Jh.),72 Abraham von Franckenberg, Quirinus Kuhlmann (1651/1689)73 und Swedenborg. Die »sehr bekante Sache«, dass man das »Magisterium« vor allem in der Bibel suche, dokumentiere nichts als den in der »theosophischen Klasse« herrschenden »Wahnsinn«. Höchste Autorität aber genössen bei diesen theosophierenden »Steinforschern« deren »Zunftmeister«: der eine heiße Jakob Böhme, der andere Paracelsus.74 Gott Chronos ist der unbarmherzigsten Götter einer. Ich verzichte hier auf weitere Mitteilungen zur Präsenz Böhmes im theoalchemischen Schriftendschungel der Aufklärungszeit, lasse von allem spröden Faktenkram zugunsten einiger rhapsodischer Schlussbemerkungen. Dass Jakob Böhme, ein der Alchemia practica seiner Zeit ferne stehender homo religiosus, nun gerade unter frühneuzeitlichen Alchemikern als einer ihrer Sachschriftsteller Karriere machte, könnte zunächst befremden, doch haben manche Faktoren Böhmes Wandlungen von einem philosophisch-theologischen Spekulanten in einen Hermes Trismegistus Germanus gefördert. Zu erinnern ist vorab an sein alchemischer Sachprosa abgeborgtes, freilich von Böhme semantisch weitgehend entalchemisiert dargebotenes Vokabular: seinen Gebrauch durchaus auch mäßig gebildeten Nichtalchemikern bekannter Allerweltstermini von ›Essenz‹ über ›Transmutatio‹ bis ›Lapis‹ und ›Tinktur‹ –, und an seinen eigenwillig-entparacelsierenden Aufgriff von Zentralbegriffen der Paracelsischen Drei-Prinzipien-Lehre. Es versteht sich, dass auch seine gelegentlich an ›Artisten‹ bzw. ›Künstler‹ gerichteten Anreden dazu beitrugen, dass Böhme von manchen Alchemikern zu den ihren gezählt worden ist. Keine geringe Rolle spielte bei diesen Mystifikationsvorgängen durchaus im Widerspiel mit zunehmenden ›Mechanisierungen‹ des Weltbildes die von manchen naturprophetischen Äußerungen Böhmes befeuerte Überzeugung, dieser ›Erleuchtete‹ und ›Seher‹ habe im Unterschied zum aristotelistischen Schulgelehrten »allen Geschöpfen gleich-

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(Johann Salomo Semler: Von ächter hermetischer Arzenei. An Herrn Leopold Baron Hirschen in Dresden. Wider falsche Maurer und Rosenkreuzer. Leipzig 1786, 81 f.) oder seine nicht minder harte Kritik am alchemoböhmistischen »Hirtenbrief«, dessen Urheber, so urteilte Semler, ihre »ganze theosophische Anthropologie aus [dem ungenannten] Jac[ob] Böhmen entlenet haben« (Johann Salomo Semler: Briefe an einen Freund in der Schweiz über den Hirtenbrief der unbekanten Obern des Freimaurerordens alten Systems. Leipzig 1786; Zitat: 80). In Böhme selbst aber meinte Semler einen Gesinnungsgenossen rühmen zu können, habe doch Böhme »so viel unaufhörliche Beförderung der ernstlichen freien Privatreligion zusammen gebracht« (ebd., 68) und allem despotischen »Pabsttum« ›die Wurzeln abgeschnitten‹ (72). – Über Semler zusammenfassend: Killy Literaturlexikon, Bd. 10 (2011), 755–757 (D. Kemper). Zu Welling zuletzt Killy Literaturlexikon, Bd. 12 (2011), 281 f. (J. Telle). Zusammenfassend ebd., Bd. 4 (2009), 536 f., s. v. (J. Telle). Vgl. ebd., Bd. 7 (2010), 117–120, s. v. (F. G. Sieveke). Anonymus (Anm. 9), 39 f., Nr. 12, 144.

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sam in das Hertz und in die innerste Natur hinein« geschaut.75 Konvergenzen ergaben sich zudem aus seiner Teilhabe an frühneuzeitlichen Signaturenlehren: Nichts konnte manchen Alchemikern: oft genug Mediziner aus der HermetikerFraktion, die in Signaturenlehren probate Alternativen zu Arzneimittellehren der aristotelisch-galenistischen Schulmedizin begrüßten –, näher liegen als im Signaturenleser Böhme einen ihrer Mitstreiter anzuerkennen. Böhmistische Alchemiker haben aus Böhmes Werk auffällig häufig surrealistisch formierte und mit astroalchemischen Sprachpartikeln durchsetzte Sinnbildsequenzen zitiert und diese ungewöhnlich opaken Zeugnisse einer religiöstheologischen Wissenschaftspoesie alchemisiert: Praktiziert wurde von ihnen dabei nichts weiter als ein unter deutschen Allegorikern der Respublica alchemica durchaus übliches und seit spätmittelalterlichen Zeiten an mythologischen Erzählungen der griechisch-römischen Antike oder Bibeltexten erprobtes Verfahren. Die opak-imaginativen Züge der Böhme’schen Prosa haben geradezu zwangsläufig alle jene Alchemiker gebannt, die nach Allegoristenart meinten, man könne verhüllt beschriebene Geheimnisse der Natur ihrer metaphorischen Hüllen berauben, könne sie rationalisieren und praktisch umsetzen. Diese im Kern neuplatonistische Überzeugung hat die Rezeption Böhmes unter frühneuzeitlichen Alchemikern Deutschlands maßgeblich begünstigt. Das Spektrum der alchemischen Böhme-Rezeption weiter zu erkunden, Verlaufswege, Metamorphosen, Konstellationen zu konturieren, regionale Schwerpunkte und Trägerschichten in helleres Licht zu rücken, – alles dies bleibt Aufgabe, ebenso bleibt der jeweilige Anteil Böhme’scher Lehren an naturkundlichen Konzepten bestimmter Alchemiker und physikotheologischen Entwürfen, aber auch der Anteil genuin paracelsischer (oft unter dem Schilde Böhmes tradierter) Doktrinen und konkurriender Theosophien etwa eines Heinrich Khunrath an böhmistischen Theoalchemien zu klären, gar nicht zu reden von Synthesen, notwendig, wenn es denn um Stellung und Gewicht des alchemischen Böhmismus im Ensemble kultureller Strömungen ginge. Solche Vorhaben nehmen sich heute verwegen und verstiegen aus, steht man doch allzu oft noch am Anfang. Dazu ermuntern kann vielleicht ein Satz, den einst ein Pseudo-Paracelsus einem Luther, Melanchthon und Bugenhagen zurief:76 »Besser ist in der Finsterniß gangen, dann durch ein irriges Licht wenig gesehen«!

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Abraham von Franckenberg: Gründlicher […] Bericht von dem Leben und Abscheid […] Jacob Böhmens. In: De vita et scriptis Jacobi Böhmii. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. X (1988), Abschn. 11, 11. Ps.-Paracelsus: Brief an Martin Luther, Philipp Melanchthon und Johann Bugenhagen (16. Jh.), zit. n. Hartmut Rudolph: Einige Gesichtspunkte zum Thema »Paracelsus und Luther«. In: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung. Folge 22 (1981), 9–26, hier: 11.

Theodor Harmsen

The Reception of Jacob Böhme and Böhmist Theosophy in the Geheime Figuren der Rosenkreuzer

Apocalypsis, ist geistlich, und stecket im Mysterio […] Der Magiam himmlisch angreiffen will, der muss die himmlischen Figuren erkennen […] Johannes Evangelista (oder wer Apocalypsin geschrieben,) hat die Figuren der Magiae Gottes erkant […] Und wiewol es ist, dass sie selber offenbar werden, so gehöret doch ein solcher Magus darzu, der Thesaurinellam verstehet: Er muss alle drey Principia mit ihren Figuren verstehen […] Der Geist muss des Mysterii fähig seyn, dass Gottes Geist in seinem Sehen der Führer sey: sonst stehet er nur im äusseren Mysterio […] er hat nicht die Göttliche magische Schule welche nur blos in einem einfältigen, kindlichen Gemüthe stehet.1

Among the first respondents to the Fama Fraternitatis was the artist and engraver Michael le Blon (1587–1658). Le Blon arrived in Amsterdam in 1612 and responded to the Dutch translation of this famous Rosicrucian call to reform.2 In 1632 he was appointed a newsagent and an informer serving the Swedish Chancellor Oxenstierna, during the reigns of Gustav II Adolf († 1632) and Christina after her coronation in 1644. In the 1640s Le Blon, through his interest in Christian theosophy, befriended the Amsterdam collector, translator and Böhme publisher Abraham Willemsz van Beyerland (1586/7–1648). Both Van Beyerland and Le Blon subsequently maintained a correspondence with Böhme followers in Germany. After Van Beyerland’s death, Le Blon retained contact with his widow and also with his son, Willem Abrahamsz van Beyerland (1627–1669), who inherited his father’s library and the Böhme manuscript collection. The history of Van Beyerland’s collection has been described in Jacob Böhmes Weg in die Welt,3 which introduces various networks in the Netherlands, Germany and England. Le Blon was a networker by trade and, as a double agent for the Swedish court of Gustav Adolf and the English court of Charles I, he moved in the diplomatic-political as well as in the artistic-literary world. Artistic but also family ties may explain how Le Blon became aware of the Rosicrucians in Tübingen. The Le Blon family was connected to the families of Johann Theodor De Bry and Matthäus Merian 1

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Jacob Böhme: Informatorium novissimorum, oder Unterricht von den Letzten Zeiten an Paul Kaym. 2. Theil. Böhme an Paul Kaym [1620]. In: Ders.: Sämtliche Schriften. FaksimileNeudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. StuttgartBad Cannstatt 1955–1961 [»SS«], hier: Bd. V, 438. M[ichel le] B[lon]: Antwort oder Sendtbrief, an die von Gott erleuchte Bruderschafft vom Rosen Creutz. Auff ihre Famam und Confession der Fraternitet. Amsterdam [W. J. Blaeu] 1615. Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007 (Pimander 16).

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(1593–1660), artists, printers and publishers who were closely involved in the battle of Rosicrucian books in the first decades after the publication of the Fama Fraternitatis. Le Blon compiled a list of Böhme followers, which shows he was also actively pursuing the network of those working for the dissemination of Böhme’s thought. The list, annotated and extended by Carlos Gilly in Böhmes Weg in die Welt, gives a very good impression of these earliest circles of Böhme collectors and followers and points the way to the 17th-century interconnections of Böhmist theosophical and early Rosicrucian networks both in Germany and the Netherlands.4 The writings of Böhme were circulating in manuscript from 1618–1619 onwards, after the publication of the Rosicrucian manifestos. Thus Böhme could have taken note of Rosicrucian literature, possibly through such friends as Paul Kaym5 and Balthasar Walther, or other contacts who brought books to his attention. On the other hand, the earliest Rosicrucian circle around Tobias Hess and Johann Valentin Andreae could not have read Böhme before the publication of the manifestos. The first Rosicrucians were inspired by the works of Paracelsus, Weigel, Gutmann and Arndt. The reception and distribution of Böhme’s ideas among the early Rosicrucian sympathizers, including those close to the Tübinger Kreis, will have occurred through people such as Joachim Morsius, Paul Nagel, Michael le Blon, Abraham von Franckenberg and Paul Kaym. Böhme and his followers as well as the Rosicrucians were later discussed in such seminal works as Gottfried Arnold’s Kirchen- und Ketzerhistorie. Throughout the second half of the enlightened 18th century, Paracelsians, Böhmists, Weigelianer, Schwenckfeldianer, Rosicrucians and Herrnhuter Pietists tended to be increasingly lumped together as religious dissenters and Schwärmer (enthusiasts). At the same time, however, the rational theologian Johann Salomo Semler (1725–1791) provides us with much information about contemporary sensitivity to Böhme’s theosophy, especially in his intensive private studies of Hermetism and alchemy. His history of the Rosicrucians and his autobiography both describe the late 18th-century contemporary cultural context in which the Geheime Figuren der Rosenkreuzer was published.6 Die rohen spöttischen und meist unnützen Schriften, des Joh. Valent. Andreä, (der auch den Paul Lautensack unter die Männer rechnet, die eine ungemeine Wissenschaft hatten) Paul Kaim (mit dem Böhme Briefe gewechselt) Weigels gutmeinende Speculationen (der in eben dem Jahr 1619 alle Schriften des Lautensacks herausgegeben, und die Theologie des Paracelsus und Lautensacks zum einzigen Mittel anpreiset, wodurch das verkätzern und verschwärmern aufhören, und wir die heil. Biblia gründlich verstehen lernen würden) und so viele nun neben und auf einander folgende Schriftsteller, die von den beiden Lichtern, der Natur und Gnade, von Christus in uns, vom Licht der Wahrheit in der Bibel, im grossen Weltbuch der Natur, und in uns selbst &c. einen neuen Dialekt, und erbauliche Sprache einführeten, wel4 5 6

Michael le Blon: Index and correspondence. Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 67 Noviss. 4o, 99r-102v; Böhmes Weg in die Welt, 451–456. Cf. P[aul] K[aym]: Sendschreiben an die von Gotthocherleuchte Männer der Fraternitet des Rosencreutzes, n. p. 1616. Johann Salomo Semler: Unparteiische Samlungen zur Historie der Rosenkreuzer. Leipzig 1786–1788; Id.: Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. Halle 1781/82.

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che wirklich nun durch eine grosse Menge teutscher Schriften sich immer mehr ausbreitete: überzeugte mich, daß alle Mühe und Arbeit der eigentlich Gelerten oder ordentlichen Lehrer in Kirchen und Schulen, ganz vergeblich seie, welche sie darauf wendeten, diesen Hang zum Enthusiasmus, wie sie es nanten, bey den Liebhabern und Kennern oder Theilnemern dieser Gesinnung, durch ihre Schriften zu schwächen oder aufzuheben.7

The Geheime Figuren der Rosenkreuzer,8 a Christian theosophical book on the revelation of Jesus Christ, meditating on the two main themes of Creation and the Apocalypse, combined elements from Christian theosophy, Christian cabbalistic magic, number symbolism and theosophical alchemy, spiritual disciplines presented as one approach to the secrets of Creation or Divine Revelation considered in the light of nature or natural philosophy as well as in the light of theology or grace. The manuscript versions of the Geheime Figuren were attributed to the Rosicrucians or »Brothers of Christ« even though the first copies were distributed at a time when the Rosicrucian groups or individuals were even more invisible than before. That the anonymous symbolical compendium was compiled by a Rosicrucian brother was only acknowledged on the title page of a variant version (V) that appeared to have combined two earlier versions (A, B), each with their own title pages. The Bibliotheca Philosophica Hermetica (BPH), Amsterdam, holds a copy of this variant version which does not contain the same series of symbols of yet another version (C) but shares the same title page; version C was ready to be printed by 1766. Can the true historical context of the manuscripts (ca. 1730–1760) and the printed work (1785–1788) be designated Rosicrucian? Even though the printed edition states it reproduced the images and texts from 16th- and 17th-century sources to present Rosicrucian teachings and several of the plates contain explicit references to the Brotherhood, this proves nothing. Historians have long debated whether the Rosicrucian movement actually survived the 17th-century and have tried to find evidence for historical continuity, with little success. Were those responsible for the compilation perhaps reviving an interest in Rosicrucian lore? Did the School referred to on the title page of some manuscript versions (B, C, V) really exist? The latter question recalls the famous search for the real Rosicrucian Brotherhood, or the Brotherhood of Christ (Fraternitatis Christi) in the first half of the 17th century. Where were they to be found and who founded the School? The Brotherhood fell silent and was called upon to reveal and defend itself, to no avail. Order rules and apologies were published by such men as Michael Maier and Robert Fludd while Johann Valentin Andreae declared his project a fiction. Nevertheless, the publication of the Rosicrucian manifestos caused the generation of a remarkable body of literature which stirred the courts and academies of 17th-century Europe. The rise of Freemasonry in Great Britain and later in Germany led to a renewed interest in the Rosicrucian phenomenon as well as to vigorous polemics 7 8

Ibid., Bd. 2, 103. Die Lehren der Rosenkreuzer aus dem 16ten und 17ten Jahrhundert. Oder, Einfältig ABC Büchlein für junge Schüler so sich täglich fleissig üben in der Schule des H. Geistes. Altona: J. D. A. Eckhardt [1785–1788]. Erstes Heft: 1785; zweites Heft: 1788; [drittes Heft: 1788].

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about true origins and identity, about true and false Rosicrucians or Freemasons, by then in the context of the Enlightenment. Rosicrucian preoccupation with the theory and practice of alchemy, traditionally cried down as the pseudo-science of swindlers and cheats, once more became a central concern of the 18th-century Rosicrucians. Members of the 18th-century order of the Gold- und Rosenkreuzer and related Masonic movements were certainly involved in the printing of the Geheime Figuren. Their editorial involvement can be reconstructed: several changes were made, symbols were adapted or newly added; others were merged to form new symbols and several were not included from the manuscript versions; finally, relevant theo-alchemical texts were included and a structural division of the series in three parts was also made. By implication, the late 18th-century Rosicrucian aristocrats were also regarded as frauds. They came to be associated with the Jesuits and when they became involved in Prussian ecclesiastical politics, at least under the leadership of King Friedrich Wilhelm II and his minister, the Gold- und Rosenkreuzer Johann Christoph Wöllner, they came to be considered a reactionary threat. The various contexts in the period 1600–1800 might shed more light on questions regarding the compilation and distribution of the Geheime Figuren as well as the possible connections with the 17th-century Rosicrucians and the followers of Jacob Böhme. It is clear from the start that it will require a long and meandering approach through worlds of mystical theology and natural philosophy, theosophy, cabbala and alchemy. The school was presented as a Schule der Weisheit … A school with schoolbooks, or rather – it was no university for learned intellectuals – with only the one Book of Life. In 1703 a collection of tracts for use in such an initiatory school was published under the pseudonym of Theophilus. The contents of his rare Schola Sapientum, Das ist: Schul der Weisen (Abb. 1) is closely related to the materials offered in the ABC Book. It is in fact a Böhmist work about Creation and Revelation and based largely on Böhme’s Mysterium Magnum. It reproduces a scheme of three principles from Böhme’s Clavis which was also included in the Geheime Figuren, and it presents the same kind of number symbolism used in the Geheime Figuren. A frontispiece symbol visualizes its teachings and is analyzed in a detailed description of the various elements in the engraving: Summa, hierin ist alles verfasset, was zu unserer Schule gehöret, was wir darin die Zeit unsers Lebens zu studiren haben, die gantze Offenbahrung Jesu Christi, und mögen wir in Warheit davon sagen, daß sie (die Wunder-Kugel) unserer Schola Sapientum ähnlich ist; dann das Buch unserer Kugel selber gleichet, und ähnlich seyn kan.9

The Book of wisdom teaches you who you are, and the Weigelian Gnothi Seauton, Erkenne dich selbst, is also the main lesson in the Geheime Figuren.

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Schola Sapientum, Das ist: Schul der Weisen: Verfasset in unterschiedlichen MystischTheologischen Tractaten, gestiftet durch Theophilum [1703, reissue:] 1711. Copy in BPH, Amsterdam.

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Abb. 1: Theophilus: Schola Sapientum (1711). Copy BPH, Amsterdam.

The editorial hand of Benedikt Biedermann (ca. 1543–1621), Valentin Weigel’s successor as pastor of Zschopau, can be detected in many of the works traditionally attributed to the mystical theologian. The discussion about original and Pseudo-Weigel texts is an ongoing one10 but irrelevant in the context of the reception history of (Pseudo-)Weigel’s theosophy and its transmission in the Geheime Figuren. Biedermann’s texts were published under Weigel’s name in 1618/19 and most were republished towards the end of the century, from about 1695 to 1700. Clearly at that time they were still considered to be original works by Weigel. Of the Gnothi Seauton series, the original first part is still attributed to Weigel though edited by Biedermann, but the two subsequent volumes were written by Biedermann. The volumes were summarized in his compact Studium universale, Das ist, Alles dasjenige, so von Anfang der Welt biss and das Ende

10

Cf. Fritz Lieb: Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte und das Schrifttum seines Schülers Benedikt Biedermann. Eine literarkritische Untersuchung zur mystischen Theologie des 16. Jahrhunderts. Zürich 1962; Horst Pfefferl: Valentin Weigel. Sämtliche Schriften. Begründet von Will-Erich Peuckert u. Winfried Zeller [6 Bde. 1962–1978]. Neue Edition, Bd. 3, 4, 7, 8, 9 u. 11. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 ff.

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je gelebet, geschrieben, gelesen, oder gelernet, und noch geschrieben oder gestudiret werden möchte.11 The 1695 edition of Studium Universale was the first to contain the symbolic engraving of the Baum der Erkenntnis (Abb. 2), a symbol that was included in the first manuscript version of the Geheime Figuren (A).

Abb. 2: [Benedikt Biedermann:] Studium Universale (1695)

It was subsequently left out of Physica, Metaphysica et Hyperphysica (version B) – which was compiled about the same time or somewhat later – and reintroduced in the series of version C. Finally, the symbol was printed in the Altona edition together with the explicatory text lifted from Studium Universale. This information is important in dating the first manuscript copies. It was overlooked by Will-Erich Peuckert when he described in his study Die Rosenkreutzer (1928) a B-version manuscript (now in Wrocław University Library) that did not include the symbol from Studium Universale. On the basis of a reference to Sendivogius 11

First published by Johann Knuber, Newenstadt [Halle] 1618; repr. 1695, 1698 and 1700. Pfefferl disagrees with Lieb on its date of composition. Pfefferl argues it was written in 1580, i. e. before Gnothi Seauton, Lieb dates it to 1590, i. e. after the three volumes of the larger work. The date is relevant for the argument about Biedermann’s first mention in print of the works of Paul Lautensack.

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in his copy, Peuckert dated the work to the middle of the 17th century, which is too early.12 In Studium Universale, Biedermann presents three schools and they teach from three books that are not written on paper by any bookish academics (»Buchstäbische Gelehrten«): Das erste grosse Buch ist der Erden-Kloß, diese grosse Welt mit allen Geschöpffen. Das ander grosse Buch, das Gott machet, drucket, verkäuffet, ist Jesus Christus Gott und Mensch, der gecreutzigte Herre. Das dritte grosse Buch ist der Mensche, qui est omnis Creatura, Da hast du die drey leiblichen zeitlichen Personen, den Vater, den Sohn und Heiligen Geist: Diese drey führen dich zu den dreyen ewigen himmlischen Personen, Vater, Sohn, Heiligem Geist, einem ewigen Gotte. […] Daß aber die Heilige Dreyfaltigkeit zwiefach müsse erkennet werden, hat seine gewisse Ursachen, wie man in Theologia Cabalisticè beweisen kan. […] Jesus Christus […] das Buch inwendig und auswendig geschrieben: das ist: Er ist Geist und Fleisch, Gott und Mensche innerlich und äusserlich, ewig und zeitlich. […] Darum ist dies[e] Person das Lamb mit zweyen Hörnern, das ist, mit zweyen Reichen, himmlisch und irrdisch, unsichtbar und sichtbar, ewig und zeitlich.13

The Biedermann texts are crucial sources even though none of them bear any theo-alchemical stamp apart from general Paracelsian (Weigelian) elements: the compilers of the secret symbols will not have found the combined theosophicalalchemical symbolic language here. Yet unlike Weigel’s works, Biedermann’s texts use textual elements from the works of Paul Lautensack (1478–1558). Towards the end of his career Biedermann edited, reworked and published Lautensack’s manuscript works in several volumes which also contained graphic reproductions of Lautensack’s artwork; all of these were published by the well-known publisher of Rosicrucian literature, Lucas Jennis, in 1619. Lautensack, mystical painter and interpreter of the Book of Revelation, was known among such Rosicrucians as Johann Valentin Andreae as well as among chiliasts, Böhmists, Rosicrucian sympathizers and Abraham von Franckenberg’s circle alike. Another series of manuscript works with a Rosicrucian connotation must be referred to here. These were works by the pseudonymous Helias Christi Romanus, possibly a Rosicrucian sympathizer who produced manuscripts with symbols and texts based on Lautensackian and Pseudo-Weigelian elements. The copyist of the Berlin manuscript of the Geheime Figuren, J. P. Köckritz, made notes from several of these manuscripts in his workbook in the 1780s, clearly recognizing the connection with the Geheime Figuren. One of these works is in the Masonic Library in The Hague. The full title of the manuscript runs: Theoria Spiritus Sancti siue Universale Divinissimum secretissimum qua studium et ad omne genus scientiarum. Clavis Davidis. Wie Der Mensch auß Gott ohne Menschen Bücher in ihme Selbsten gründlich Alles Durchs + Erlernen könne in Kurtzer Zeitt waß im Himmel und auff Erden ist, Und daß ein Jeder in Seiner Muetter Sprach, Insonderheitt Vornemblich die gantz Heÿlige Schrifft, waß auch der Verstand, der aller Gheimisten Sprüch, seÿ, unnd

12 13

Will-Erich Peuckert: Die Rosenkreutzer. Zur Geschichte einer Reformation. Jena 1928, 435–439. [Benedikt Biedermann:] Studium Universale. Edn. 1698, sig. A5v–A6.

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wie sein Name im Himmel angeschrieben Stehe Erkönnen möge. Dedicirt Den geheimen Unnd Verborgnen im Land Von HELIA CHRISTI ROMANO F. + S. Anno 1622.

It contains three parts: I. Das Erste Große Buch die große Welt, II. Das Ander große Buech Microcosmus. Die kleine Weltt, III. Das dritte große Buch Apocalypsis Jesu Christi. The manuscript copy in The Hague contains many symbols related to Lautensack/ Pseudo-Weigel. There here is some astrology but no alchemy in the manuscript.14 Clearly, Lautensack was studied intensively not only by Biedermann but also by Paul Kaym, an important friend and correspondent of Böhme’s. Böhme commented on Kaym’s Drey unterschiedliche Tractat, which contains Lautensack’s writings almost complete, in the two-part letter on the Book of Revelation. After Böhme’s criticism, Kaym revised his text from 1624 to 1626.15 In Kaym’s study of Lautensack, Paracelsian (alchemical) principles are referred to in the text. Böhme, however, in his 1620 letters to Kaym, wrote in terms of magic and did not use alchemical terminology in this context of the Book of Revelation. Texts and symbols in the Geheime Figuren were mostly taken from and can be traced to printed sources. Nevertheless, the images were compiled, even adapted, to form parts of a new and original concept. This concept at some early stage followed the idea of a school book, an ABC Book. This book contains within its pages the depiction of another book, not the Book of Revelation itself, but the Buch mit den Sieben Siegeln from St. John’s vision. Texts from Biedermann’s Lautensack editions were adapted to form part of the Revelation series of plates concerning the closed and open Book of seven seals in the manuscripts and in the printed edition of the Geheime Figuren der Rosenkreuzer.16 Other themes and images were introduced from the same Book of Revelation: among the most important was the Virgin of the Apocalypse, which, in theosophical (Rosicrucian, Böhmist and Radical Pietist) writings as well as in the Geheime Figuren, is merged with Eve, Mary, the alchemical virgin and with Sophia. Before the creation of this complex image in the Geheime Figuren, no artist appears to have illustrated Böhme’s Sophia except for the London based Böhme explicator and Philadelphian, Dionysius Andreas Freher.17 Böhme provided the symbol for his concept of wisdom in visionary language: Du musts also verstehen: Die ewige Jungfraw der Weißheit stund im Paradeiß als eine Figur, in welcher alle Wunder Gottes erkandt wurden, und die war in ihrer Figur eine Bildnuß in sich selber, aber ohne Wesen, gleich dem Menschen: Und aus derselben Jungfraw schuff Gott der Erden Matricem, daß es ein sichtlich begreifflich Bild im Wäsen wäre, darinnen 14 15

16

17

J. P. Köckritz, MS: Berlin, Staatsbibliothek, MS Germ. fol. 1697; Helia Christi Romano: The Hague, CMC Library, MS 191.D.2. Cf. Carlos Gilly: Wege der Verbreitung von Jacob Böhmes Schriften. In: Böhmes Weg in die Welt (not. 3), 73, 410. Gilly located Kaym’s original manuscript in Copenhagen University Library, MS Thott 39 fol. [Benedikt Biedermann:] Ander Theil, Darinn begrieffen die Erklehrung mit Figuren und Sprüchen Heyliger Schrifft uber vorgehende Bücherlein Pauli Lautensacci. Frankfurt a. M.: Lucas Jennis 1619, 166–169. Freher’s multi-layered symbols of the Three Tables of Man were first published in William Law’s edition The Works of Jacob Behmen, 1764–1781. Sophia appears in The Third Table.

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Himmel, Erde, Sternen und Elementen im Wesen stünden, und alles was lebet und webet, das war in diesem einigen Bilde. Die Matrix der Erden kondte ihn nicht bändigen, viel weniger die äussere Elementen, denn er war einen Grad höher als sie alle, Er hatte die unverwesliche Wesenheit mit der Jungfrawen empfangen: Nicht war die Jungfraw in das Bild gebracht, sondern die Matrix der Erden war in das Jungfräwliche Bild gebracht. Denn die Jungfraw ist ewig, ungeschaffen und ungebohren: Sie ist Gottes Weisheit und ein Ebenbild der Gottheit in Ternario Sancto nach der Dreyzahl, und aller ewigen Wunder des ewigen Centri Naturae, und wird in der Mayestät in den Wundern Gottes erkandt, denn sie ist, die da darstellet ins Liecht das Verborgene der Tieffe der Gottheit. Also sehet ihr lieben Menschen, was ihr seyd.18

The first main source for a thematic series of symbols of the Geheime Figuren in its manuscript versions (A, B) appears to have been Lautensack, mainly in Biedermann’s and, possibly at a later stage (C version), also in Kaym’s reception of the work. This way the manuscripts introduce the influential book metaphor, the Buch des Lebens (a book referred to in the Book of Revelation) and its many variants, of which the Buch der Natur is one of the most important. Johann Arndt’s Vier Bücher des wahren Christentum (1605–1610) and Pseudo-Paracelsus, Phi[lo]sophiae ad Athenienses, drey Bücher (1564) as well as Böhme’s works form part of this mystical-theological tradition. Less discussed works in this context are Christianus Theophilus (Pseudo-Weigel) Liber Vitae Aureus. Gülden Büchlein des Lebens, Erfurt 1621 (Abb. 3), Paul Felgenhauer, Das Büchlein Iehi or, oder Morgenröhte der Weißheit (1640, reprinted in 1762)19 and again that other ›course-book‹: Biedermann’s Studium Universale.20 The full title of this Pseudo-Weigel text21 not only shows that the subject matter is similar to the Geheime Figuren, it also presents the pseudonymous author as a senior in the »College of the Holy Spirit« or the »Brotherhood of Christ«. Even its presentation on the title page as a gift for the new year appears to be 18 19 20

21

Jacob Böhme: Vom dreyfachen Leben des Menschen. In: SS, Bd. III, Kap. 11, 13–15. First published as: Aurora sapientiae, Das ist Morgenröthe der Weisheit. [Amsterdam] 1629. For the tradition of Libri Dei cf. Hermann Geyer: Libri Dei. Die Buchmetaphorik von Johann Arndts »Vier Büchern von wahren Christentum« als theosophisch-theologisches Programm. In: Hans Otte, Hans Schneider (eds.): Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die »Vier Bücher vom wahren Christentum«, Göttingen 2007 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 40), 129–162; vgl. Sibylle Rusterholz: Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme. In: Jan Garewicz/Alois Maria Haas (Hrsg.): Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jakob Böhmes und seiner Rezeption. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 24), 129–146. Liber Vitae aureus. Gülden Büchlein des Lebens, mit sieben eröffneten Siegeln, Darinn findet ein frommes Hertz I. Die siebende Vision im 21. 22. Apoc. Joh: Sonderlich das Newe Jerusalem, die Heilige Stadt Gottes, nach einer Summarischen Description und dreyfacher Explication. II. Ein Itinerarium oder Wegzeiger, wie einer ohne Irrung durch sieben Feldweges, gestracks an den Berg Sion gelangen, in die darauff erbawete Stadt ohne Hinderung gehen, des Bürgerrechts und alle der Stadt Frey und Herrligkeiten, hiezeitlich jnchoativè, theilhafftig werden, und in alle Ewigkeit completivè & perfectivè verbleiben kan. è Collegio Spiritus Sancti, Der Gemeine im Reich Christi zum newen Jahr geschenckt, per Christianum Theophilum è saniore Fraternitate Christi. Bey Johan Bischoffen, Buchhändlern in Erffurd zufinden. Anno 1621.

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referred to on the Geheime Figuren title page (version B). In the Altona edition the Brotherhood of Christ is identified with the Rosicrucian Brotherhood. The pseudonymous Christianus Theophilus22 is listed with two works in Johann Christoph Lenz’s bibliography of Rosicrucian literature published in his edition of the Missiv in 1783.23 The original title page symbol was included in the symbol entitled Jesus in the Altona edition as well.

Abb. 3: Christianus Theophilus: Liber vitae aureus (1621)

22 23

He appears to have been associated with Weigel later: Wegzeiger possibly triggered Wegweiser, a pseudonym used by Biedermann for Weigel. [Polycarpus Chrysostomus:] Missiv an die Hocherleuchtete Brüderschaft des Ordens des Goldenen und Rosenkreutzes … Nebst einem noch nie im Druck erschienenen vollständigen historisch-kritischen Verzeichniß von 200 Rosenkreutzerschriften vom Jahre 1614 bis 1783. Hrsg. v. T. Y. R. [Johann Christoph Lenz]. Leipzig: Adam Friedrich Böhme 1783, 54–55.

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Böhme’s writings were influential among followers of various affiliations, theosophists, theosophical alchemists, Rosicrucians, Pietists, Radical Pietists, many of whose printed volumes contain the theo-alchemical, chiliast and magic-cabbalistic metaphorical language used in the Geheime Figuren. The theo-alchemist Georg von Welling († 1727) comes to mind, especially because of the many wonderful images he described and depicted in his Opus Mago-Cabbalisticum. Welling’s editors were Samuel Richter († 1722), who published the first part in 1719, and the Radical Pietist Christoph Schütz, who was responsible for the first full edition of the work in 1735, at the time when the first Geheime Figuren manuscripts were being copied. Whether there was a connection with the Geheime Figuren manuscripts is hard to say, especially also as other theo-alchemical texts were published at the same time and throughout the 18th century. Thus a much later (Gold- und Rosenkreuzer) publication of excerpts and writings based on (Pseudo)-Weigel, Himmlisch Manna Azoth et Ignis (1787), introduced Weigel as a theo-alchemical writer. Textually it is closer to the Geheime Figuren than Welling’s use of alchemical language in his Opus Mago-cabbalisticum.24 Welling’s Böhmism may have been an indirect influence on the Geheime Figuren, possibly even through the works of Richter and Schütz (and their circles of friends) who should be considered as mediators. There is a reference on the title page of Mysterium Magnum Studium Universale (version A) to the Gold- und Rosenkreuzer order rules published by Richter. Included on this title page is part of the text of rule 11, which deals with the symbol of the cross (Siegel) for each brother and bearing his name and the text of the Rosicrucian greeting. The title may thus refer to Richter’s publication as well as to Pseudo-Weigel.25 Richter’s own Böhmist works such as his Theo-philosophia theoretico-practica could well have been consulted for the influx of Böhmist thought and imagery into the Geheime Figuren der Rosenkreuzer manuscripts and thus finally into the printed edition. Semler knew Richter’s works and reflecting on theosophical enthusiasts (quoted above) he might have had this passage from Richter in mind: Jetzt angeführter Wunder-Mann, Jacob Böhme, hat uns bereits darinnen die Bahn gebrochen, und gute Anleitung darzu gegeben, weßwegen ich auch eine Passage, so ich zu dieser Erkänntniss am deutlichsten erachtet, dem geneigten Leser, der etwan dergleichen Schrifften nicht zur Hand hat, mit eingeschoben. Es wäre zu wünschen, daß dessen Schrifften besser hervor gesucht, und in der Furcht und Liebe Gottes, nicht aber in der Eigenheit, statt unser

24 25

[Ps.-]Valentin Weigel: Himmlisch Manna, Azoth et Ignis, das ist: Güldenes Kleinod, handelnde von dem köstlichen Eckstein der Natur. Amsterdam/Frankfurt a. M./Leipzig 1787. Sincerus Renatus [Samuel Richter]: Die Wahrhaffte und vollkommene Bereitung Des Philosophischen Steins, Der Brüderschafft aus dem Orden Des Gülden- und Rosen-Creutzes. Breslau 1710 (and edn. 1714). The Italian order rules, on which Richter based his version, contains the same text under rule 11. Napels, BN, cod. XII-E-30, ff. 226r-242v: Osservationi inviolabili da osservarsi dalli fratelli dell’Aurea Croce, o vero dell’Aurea Rosa precedenti la solita professione, 230v-231r. The Italian alchemical texts, however, lack the Böhmist symbols in the beginning series of version A. This makes Richter’s German work the more likely source. Cf. Carlos Gilly in: Carlos Gilly/Cis van Heertum (Hrsg.): Magia, Alchimia, Scienza dal ›400 al ›700, L’influsso die Ermete Trismegisto/ Magic, alchemy and science, The influence of Hermes Trismegistus. Florence 2002, 2, 225–228.

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heydnischen grillenfängerischen und phantastischen Schul-Philosophie tractiret würden, wir würden eine weit reinere Philosophie bekommen, auch daraus realere Wissenschaften erlangen. Es ist ja zu beklagen, daß, da sonst allerhand unnöthige Bücher aufgeleget werden, nicht auch dieses mannes hocherleuchtete Schrifften zum Druck befördert werden, wodurch manch gutes Gemüth verhindert wird, welches vielleicht hieraus könnte Verstand schöpffen, und hernach zur Ehre Gottes dem Neben-Menschen dienen. Das Aergste ist, daß unsere Schrifft-Gelehrten sich so gar wider Gottes Geist auflehnen, und dergleichen gute Schrifften, so durch Gottes Geist geschrieben worden, unterdrücken, und mit der grössesten Schärffe verbieten, so wohl zu lesen, als zu verkauffen. Wie viel gute Schrifften haben sich doch verkrochen, die man fast nicht mehr zu Gesichte gekommen kan? als: des Weigelii, Theophrasti Paracelsi, Paul Lautensacks, jetzt gedachten Jacob Böhmens, und andere dergleichen mehr; der Nahme Ketzer schreckt manches noch gutes Gemüthe ab, daß er sie nicht lieset, nicht wissende, dass solche Ketzermacher sich selber in ihren schmähsüchtigen Widerlegungen als formale Ketzer characterisiren. GOTT gebe uns einmal bessere Zeiten, und mache solche unnütze zänckische Sectirer und Ketzermacher durch Rettung und Offenbahrung seiner Wahrheit zu Schanden.26

Schütz, as we know from Joachim Telle’s study,27 added texts of his own to the first full publication of Welling’s work and could also be considered a Böhmist, or a Radical Pietist influenced by Böhme. Finally, there are no clear reproductions or even citations of Welling’s symbols in the Geheime Figuren. Yet the historical context of Radical Pietism and its theo-alchemical spirituality is clearly relevant to the history of the Geheime Figuren.28 When we consider theo-alchemy and the imagery used, Heinrich Khunrath is of course equally significant. Though the Rosicrucian Andreae deprecated Khunrath and his work, most Rosicrucian sympathizers were more positive. Johann Arndt wrote his famous Judicium on Khunrath’s symbols (this work was reprinted by Lenz).29 Perhaps once more rather unexpectedly, there are no reproductions from Khunrath’s theo-alchemical symbols in the Geheime Figuren. Yet, indirect borrowings of Khunrath’s iconography can be traced to the Rosicrucian and chiliast symbolic engravings in the works of Daniel Mögling and Stefan Michelspacher, who were responsible for the beginnings of Rosicrucian iconography. Especially Daniel Mögling, also known by the pseudonym of Theophilus Schweighardt, explained Rosicrucian theosophical ideas and illustrated them with emblematic engravings executed by Matthäus Merian in a series of programmatic Rosicrucian writings that appeared under several pseudonyms. One 26

27 28

29

Sincerus Renatus [Samuel Richter]: Theo-philosophia theoretico-practica, oder Der wahre Grund goettlicher natuerlicher Erkaenntniss (edn. 1711 and 1714); here: ed. 1741, 402– 403. Joachim Telle: Zum Opus mago-cabbalisticum et theosophicum von Georg v. Welling. In: Euphorion 77 (1983), 359–379. Cf. Christa Habrich: Alchemie und Chemie in der pietistischen Tradition. In: Goethe und der Pietismus. Hrsg. v. Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider. Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen 6), 45–77. I. Y. R. [Johann Christoph Lenz] (Hrsg.): Heinrich Khunrath. De igne magorum Philosophorumque secreto externo et visibili, das ist, philosophische Erklärung des geheimen, äusserlichen, sichtbaren Glut- und Flammenfeurs der uralten Weisen und andrer wahren Philosophen … Nebst Johann Arndts philosophisch-kabalistischen Judicio über die vier ersten Figuren des grossen Khunrathischen Amphitheaters. Leipzig 1783.

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of Mögling’s central concepts (following Julianus de Campis in his answer to the Rosicrucians of 1615), also in his Speculum Sophicum Rhodo-Stauroticum and in Pandora, was that of the ABC Book: Verstehe mich was ich sage, es ist ein Buch, ein Buch sag ich, ein grosses Buch, wann du verstehest, was darinnen geschriben, so bist ein Rosencreutzer. Darffst dir aber nicht einbilden, das solches Buch zu Franckfurt, Leipzig, Amsterdam, Rom oder gar in Utopia zuverkauffen sey, Nein gar nit, es ist den Buchhendlern zutheur, und vermags keiner zuverlegen, Die Brüder aber wissens, wo es ist, und lesen darin täglich, du aber stehest dabey, sihest es an, wie ein Kuh ein neu Stadelthor, beduncken dich Böhmische Dörffer. Warumb? Dieweil du das Alphabeth nicht recht gelernt, dessen Clavis unter dem gewalt Jehovae.30

Indirectly, these symbolic elements recur in new combinations in the Geheime Figuren. Mögling’s symbols and texts from his Speculum are especially cited in the Sophia symbol. In addition, the Poculum Pansophicum symbol was added to the printed series later. As in Khunrath’s Amphitheatrum, both Mögling’s and Michelspacher’s works merged Rosicrucian theosophy and chiliasm with alchemy, cabbala and magic. Christian theosophical heosophical or theo-alchemical and cabbalist illustrations were not often produced in the Rosicrucian literature but could be found in the medieval manuscript tradition and in the various editions of the works of Jacob Böhme and his Radical Pietist followers. One could therefore argue that Mögling’s Speculum or Michelspacher’s Cabala, Spiegel der Kunst und Natur: in Alchymia (1616), two explicit Rosicrucian works influenced by Khunrath’s symbols, would have been obvious first choices for the compilers of the Geheime Figuren. Among friends and members of various groups and networks, Rosicrucian and Böhmist theosophists established contact and merged their ideas from the first years after the publication of the manifestos to the 1620–1630s. Important figures in these networks of Rosicrucians, Böhmist theosophists, chiliasts, Radical Pietists, cultural and political agents, artists and engravers, printers and publishers were Daniel Mögling, Adam Haslmayr, Joachim Morsius, Carl Widemann, Julius Sperber, Wilhelm Schickhard, Johannes Faulhaber, Paul Nagel, Paul Felgenhauer, Paul Kaym, Georg Lorenz Seidenbecher, Abraham von Franckenberg, A. W. van Beyerland, Michael le Blon, Christoffel le Blon, Matthäus Merian, Lucas Jennis, Wilhelm Schwartz and Heinrich Betkius. It is remarkable however, especially considering the established and close connections in the circles of book production at the time, that influential printed images available in the works of Khunrath, Weigel (Ps.-Weigel), Robert Fludd and Michael Maier were not included in the series: clearly the editors made very conscious choices. It was during this period that Rosicrucian theosophical and alchemical languages began to merge, a process that would continue; in fact theo-alchemical and Hermetic texts that appeared before the manifestos are equally relevant but must

30

[Daniel Mögling/] Theophilus Schweighardt: Pandora sextae aetatis, sive speculum gratiae Das ist: die gantze Kunst und Wissenschaft der von Gott hocherleuchten Fraternitet Christiani Rosencreutz (1617), 7–8.

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be left out here.31 This merging had occurred at the time of origin of the Mysterium Magnum Studium Universale version at the beginning of the 18th century, nevertheless ca. 100 years after the Fama. The gap that historians have tried to fill for the sake of the continuity of Rosicrucian thought does not really exist as Rosicrucianism was present in a broad tradition of Hermetic-theosophical thinking. However, there is clearly a gap when it comes to the historical organization: the 17th- century Brotherhood was fictitious to begin with and the fully organized secret society of Gold- und Rosenkreuzer existed from the 1760s to the late 1780s only. The true, esoteric understanding of the Brotherhood was exemplified by the same Samuel Richter who printed the rules of the Gold- und Rosenkreuzer order and thereafter answered a fellow Radical Pietist, Polycarpus Chrysostomus, author of the Missiv. Es ist neulich durch meinen ersten Tractat, genannt: Wahrhaffte und vollkommene Bereitung des Philosophischen Steins der Brüderschaft aus dem Orden des Göldnen und RosenCreutzes etc. ein Besitzer der Hermetischen Wissenschafften aufgewecket und veranlasset worden, einen Tractat heraus zu geben, genannt: Antrum naturae & Artis reclusum, oder Geheimnissvolle eröffnete Höle der Natur und Kunst etc. für welchen […] Mich aber vor meine Person recht gegen denselben zu expliciren; So wisse er, geheimer Freund Gottes, dass ich vor meine Person nicht unter die werthe Brüderschafft derer unsichtbaren Rosen-Creutzer gehöre, obschon genugsame Connoissance von ihnen habe. Denn ich habe aus dessen Tractat dieses fast geschlossen, dass [ich] bey demselben in dieser Praesumption stehe, dessen ich mich aber nicht annehmen kan, obschon diesen geheimen Freunden Gottes im Geiste mit einer wahren Brüderschafft verbunden; so stehe [ich] doch nicht äusserlich unter ihrer Ordnung; sondern bin eine Person, welche dem unsichtbaren Gott im verborgenen Tempel, vor dem Altar Jesu Christi, im Geist und in der Wahrheit dienet, als ein geistlicher Melchisedischer Priester, so vor die Presse seiner Brüder stehen, und mit dem Zorn in der Liebe Jesu ringen muss […] Er, liebster Freund, sehnet sich, in die Gemeinschafft und Bekanntschafft gedachter Brüderschafft zu kommen, und von ihnen aufgenommen zu werden.32

The merging of theosophy and alchemy did of course not originate with Böhme. In fact, Böhme’s theo-alchemical texts (such as De Signatura Rerum) were not cited in the Geheime Figuren manuscripts. Yet, in the Altona edition (but not in any of the manuscript versions) one of the plates reproduces a cut-and-pasted theo-alchemical text on the Eucharist from Böhme’s Von Christi Testamenten. It is combined with a symbol taken not from Böhme but from the Helleleuchtender Hertzens-Spiegel, which was itself a selection of devotional texts from mystical writers such as Johannes Tauler and Gottfried Arnold and is often ascribed to Paul Kaym and the engraver and Böhme portraitist Nikolaus Häublin, who edited the work. It was published by Heinrich Betkius in 1680 (Abb. 4). 31 32

See e. g. Occulta philosophia, based on Basilius Valentinus (Johann Thölde), published by Bringer 1613, and other illustrated editions of works attributed to Valentinus. Sincerus Renatus [Samuel Richter]: Goldene Quelle der Natur und Kunst. Breslau 1711, sig. X3r-v. Cf. [Polycarpus Chrysostomus = Georg Christoph Brendel?:] Missiv. In: Christoph von Hellwig: Casus et observationes medicinales, anatomicae, chymicae, chirurgicae, physicae, &c. rariores, selectae & curiosae, Oder: Curieuse und nützliche Anmerckungen. Frankfurt a. M./Leipzig 1711; also in: [Johannis Hiskias Cardilucius], Antrum naturae et artis reclusum, n. p. 1710; and in: [Lenz] (not. 23), sig. A4r-v.

Abb. 4: Geheime Figuren 1785–1788: Esset meine Lieben (sources: Jacob Böhme: Von Christi Testamenten. In: [Paul Kaym/Nikolaus Häublin (Hrsg.):] Helleleuchtender Hertzens-Spiegel).

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Another influential theo-alchemical author was Johann Ambrosius Siebmacher (Ulrich Bachsmeier von Regensbrun; ca. 1561–1611). His Wasserstein der Weisen was published first by Lucas Jennis in 1619, a printer-publisher and bookseller who moved in Rosicrucian circles in the early 17th century. It was reprinted by Christoffel Le Blon, brother of the Böhmist Michael Le Blon, in 1661. Perhaps the many reprinted versions of this popular work that Böhme himself recommended (Theosophische Sendbriefe, Nr. 28 [1622]) will have been consulted by the compilers and/or the editors of the Geheime Figuren. The 18th-century reprints confirm the Rosicrucian association of the work with Rosicrucian textual materials added to the edition, e. g. in 1661, 1710, 1743 and 1760. Other works attributed to Siebmacher might also have been taken into account, e. g. in the collection of works attributed to Paracelsus and Weigel, the Philosophia mystica, with the text Introductio Hominis published (also by Lucas Jennis) in 1618 and finally also Das güldne Vliess, not published until 1736 and 1737 (but referred to in Introductio Hominis), with another impressive series of texts, poems, Bible citations and engraved symbols, some of which show the same Christian-theosophical and alchemical emphasis as the printed additions to the Geheime Figuren. The philosophical mirror (Speculum Philosophorum), a fold-out image which is bound with both editions of Das güldne Vliess, already occurs in the manuscript versions of the Geheime Figuren. Impressive in Das güldne Vliess is the comparative scheme Comparatio Lapidis Philosophici & Theologici, especially because of its visualized parallel structure that is also a recurring structural element in the Geheime Figuren. Philosophy and Theology are combined and studying or ›Philosophieren‹ (philosophizing) becomes ›Laborieren‹, Ora et Labora. The Stone in one of the symbols becomes the Theosophist’s Stone: Lapis Theosophorum. Many of the Bible citations and metaphors in Das Güldne Vliess as well as in Wasserstein der Weisen (e. g. Grundstein/Eckstein and Christ as the Philosopher’s Stone) recur in the Geheime Figuren especially in the additional plates of the Altona edition which tend to combine texts and symbols from different printed sources. In Pseudo-Weigel, Himmlisch Manna,33 Christ is associated with the ›Eckstein der Natur‹. Most importantly, Siebmacher’s alchemical theosophy clearly fills in the natural philosophical contents of the Buch der Natur with alchemical language and imagery that inspired Geheime Figuren plates such as Sophia with its detailed theo-alchemical components. The presence of Böhme in the manuscript Geheime Figuren may after all appear limited if we consider the plates but, as in the case of Lautensack’s apocalypticism, Böhme’s thought on Creation indirectly plays through all the symbols, both in the manuscript and printed versions. Much of what can be traced to Mysterium Magnum Studium Universale (A) might of course as well stem from Paracelsus and Böhmist works such as Reger von Ehrenhart’s Das Buch Amor Proximi (1686, 1746, 1782), and related 18th-century theosophical manuscripts might have been just as relevant as immediate source materials. However, the A 33

Cf. not. 21.

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version of the manuscript does include Böhme’s influential Tabelle von den drei Prinzipien, the second symbol after the title page Mysterium Magnum Studium Universale. Curiously enough, the B version no longer includes this scheme, nor the symbol of the Baum der Erkenntnis. This B version is more Lautensackian as the symbols that do not occur in A are also based on Lautensack’s linguistic and symbolic concepts of Revelation. In addition, this suggests that B rather than A presents the complete series of symbols as originally intended. The complications of the relationship of A and B versions and their dating, as well as other related theosophical manuscripts will be dealt with in my forthcoming edition of the Geheime Figuren. Yet, in the third manuscript version (C), one that was ready to be printed in 1766, Böhme and especially Böhmism (Böhmist theo-alchemy) appear to return with a vengeance. Its contents were described in great detail in Johann Christoph Lenz’s anonymously published 18th-century bibliography of Rosicrucian literature. It is not clear who was behind the project though Lenz borrowed the description of the work from the bookseller Friedrich Christian Ritter who had announced his intention to print 100 copies to be published by subscription in Hamburg.34 When towards the end of the century the secret symbols were published in Altona, several of the plates described in Lenz’s Missiv had disappeared from the series. A comparison between the titles of the symbols in Lenz’s bibliography and the themes listed e. g. in Böhme’s Clavis oder Schlüssel, a work Böhme intended to introduce his main themes, clearly illustrates the Böhmist influence on the earliest stages of the manuscript Geheime Figuren, especially in the plates concerning (Böhme’s) concepts of Creation and eternal Nature. 1. Wie man Gott und die Natur betrachten soll. 2. Der einige Gott ist Dreyfaltig. 3. Vom Ewigen Wort Gottes. 4. Vom Nahmen Jehova. 5. Von der Göttlichen Weissheit. 6. Vom Mysterio Magno. 7. Vom Centro der ewigen Natur. 8. Von der ewigen Natur und ihren sieben Eigenschafften. 9. Erklärung der sieben Eigenschafften der ewigen Natur. 10. Vom dritten Principio, als der sichtbaren Welt, wovon sie entstanden, und was der Schöpffer sey. 11. Vom Spiritu Mundi. 12. Kurtze Formul der Göttlichen Offenbahrung. 13. Erklärung etlicher Wörter. 14. Erklärung eines Schematis, und dreyen Taffeln. Dabey auch seine Tabula principiorum von Gott, der kleine und grossen Welt.35

Böhmist thought was caught in impressive imagery by many artists, engravers who worked closely together with the editors and publishers of Böhme’s works. Yet, this Böhme iconography was not used in the Geheime Figuren manuscripts. Was the Böhmist iconography added from 1766 onwards included simply because it was at hand? In other words, was it rather a matter of judging the suitability and quality of certain images or were textual interpretations of particular themes also decisive factors? How much of Böhme was recognizably Böhme or Böhmist to the Gold- und Rosenkreuzer and why did the later Gold- und Rosenkreuzer edi34 35

[Lenz,] Missiv (not. 23), 87–95. Jacob Böhme: Clavis oder Schlüssel. In: Optimè de pietate & sapientia meriti … oder … Theosophische Schrifften. Amsterdam/Frankfurt a. M.: H. Betkius 1675.

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tors wish to include additional Böhmist images and texts for the compilation that now received the new title page of an ABC Book? Part of the answer to these questions may be traced in contemporary publications of Böhme’s works (e. g. by the Gold- und Rosenkreuzer publisher Christian Ulrich Ringmacher), including several anthologies containing selections from his theo-alchemical texts as well as new editions of other theo-alchemical works influenced by Böhme.36 Could Böhme’s alchemical insights be applied to their practical pursuit of alchemy? 18th-century biographical and bibliographical studies and catalogues, e. g. by Gmelin and Carbonarius, commented on Böhme’s reception in alchemical circles: Der ehrliche Mstr. Böhm muß sich gewis wider seinem Willen in einem Goldspäher umschaffen lassen. Er war Träumer und Geisterseher, aber Goldkünstler – gewis nicht. Seine dunkeln Schriften verrückten, wie der Kabalisten und Theosophen Werke, den Alchemisten die Köpfe, daß sie ihr System hineinträumten.37

The Gold- und Rosenkreuzer were strongly interested in practical alchemy though, according to Renko Geffarth, they worked within the context of their theosophical beliefs. Practical Gold- und Rosenkreuzer alchemists took the classical alchemical texts into their laboratories, as their manuscript archives containing texts on alchemical processes and receipts prove. Their interest in alchemical manuscripts attributed to the legendary Italian German Rosicrucian Federico Gualdi is particularly interesting in this respect but the alchemical archives of the Gold- und Rosenkreuzer have so far not been studied in detail.38 In the context of the Geheime Figuren, especially the longer texts added later may be of interest as they introduce Rosicrucian alchemy of early writers such as Henricus Madathanus (i. e. Adrian von Mynsicht) and Johannes Rhenanus (or Hermann Condeesyanus) mostly identified as Johann Grasshoff. In Aureum seculum redivivum, das ist: die uhralte entwichene güldene Zeit Mynsicht explicitly presented himself as an ›Aureae Crucis frater‹ in 1621, which may have triggered the inclusion of this text in the first part of the Geheime Figuren to begin with. The same text was studied by the late 17th-century Italian alchemists of the Rosy Cross and the Golden Cross.39 Rhenanus’s text, Ein güldener Tractat vom philosophischen 36

37

38

39

Kurze und deutliche Beschreibung des Steins der Weisen. Frankfurt a. M. 1747 (reprint of: Idea chemiae Böhmianae adeptae. Amsterdam 1690); Theosophische Beschreibung der Tinktur der Weisen und der Cur aller Krankheiten, aus des Gottseligen Jacob Böhmens Schriften herausgezogen. Berlin/Leipzig: Ringmacher 1780 (Abb. 5). [Carbonarius:] Beytrag zur Geschichte der höhern Chemie oder Goldmacherkunde in ihrem ganzen Umfange. Ein Lesebuch für Alchemisten, Theosophen und Weisensteinsforscher, auch für alle, die wie sie, die Wahrheit suchen und lieben. Leipzig: Christian Gottlob Hilscher 1785, 642. Cf. Renko D. Geffarth: Religion und arkane Hierarchie. Der Orden der Gold- und Rosenkreuzer als Geheime Kirche im 18. Jahrhundert. Leiden/Boston 2007 (Aries book series 4), ch. 5; cf. Carlos Gilly and Laura Balbiani. In: Magia, Alchimia, Scienza (not. 25), 2, 207–233; Alexandre de Dánann: Un Rose-Croix méconnu entre le xviie et le viiie siècles: Federico Gualdi ou Auguste Melech Hultazob Prince d’Achem. Milano 2006. Madathanus’s text was reprinted in: Johannes Rhenanus. Dyas chymica tripartita, das ist sechs herrliche teutsche philosophische Tractätlein. Frankfurt 1625. Both texts also appeared

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Steine, also included in the Geheime Figuren (Zweites Heft), was a response to Mynsicht. Next to Basilius Valentinus and Sendivogius, whose works acquired Rosicrucian connotations, Böhme’s alchemical theosophy was considered by the Gold- und Rosenkreuzer or Freemasons who took an interest in the discipline.

Abb. 5: Theosophische Beschreibung der Tinktur der Weisen […] (1780)

At different stages in the history of the compilation of the Geheime Figuren new symbols were adopted (and rejected) although much of the available and expressive theosophical-Pietist imagery from Wilhelm Schwartz, Nikolaus Häublin, Michael Andreae, Johann Georg Gichtel and Dionysius Andreas Freher was not included. In the new context of the printed ABC Book for students of the school of wisdom, images introduced a visual symbolic aspect of private spiritual experience and piety to the existing more abstract and geometrical designs that can be traced back to Lautensack in the manuscript series. Later choices and additions in the Altona edition also turn to the German theo-alchemical and mystical context of Weigel (Pseudo-Weigel/Biedermann), Tauler, Arndt, Theologia Deutsch, Thoin Latin in: Museum Hermeticum reformatum et amplificatum (1625; repr.1678; 1749). Mino Gabriele: Il giardino di Hermes, Massimiliano Palombara alchimista e rosacroce nella Roma del Seicento. Con la prima edizione del codice autografo della Bugia 1656. Roma 1986 (Labirinti 6).

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mas à Kempis’ Imitatio Christi, Franckenberg and Pseudo-Franckenberg. Apart from the latter two, most of these names appeared on the reading lists of both Böhme and Mögling. In one of the newly added plates, the explicit reference to Tauler was retained.

Abb. 6: Herzog Ernst August I. Herzensandachten […] (1786)

Michael Andreae (ca. 1628–1720), an alchemist and chiliast from Riga, was an unknown follower of Böhme until Frank van Lamoen identified him in connection with a group of Böhmists in Leiden and Utrecht as the illustrator and commentator of the famous engravings published in Gichtel’s edition of Böhme’s collected works.40 Andreae probably designed the illustrations for the 1682 edition of Böhme’s works in the late 1670s and his visualizations appear to have been inspired by previous Böhmist illustrators such as Schwartz and Häublin and perhaps other engravers who executed frontispieces for Heinrich Betkius’s publications and Böhme editions. One gets the impression that Michael Andreae’s engravings for the Gichtel and Überfeld edition of Böhme’s collected works were avoided altogether. However, in the Altona edition, Andreae’s image for the Gnadenwahl is included and combined with a schematic rendering of Böhme’s three 40

See Frank van Lamoen: Der unbekannte Illustrator: Michael Andreae. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt (not. 3), 255–307.

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principles: Des Lichts und der Finsterniß principium vorgestellet durch die 7 Planeten which had been first published by Van Beyerland. The Böhmist Herzensandachten attributed to Ernst August I, Herzog von Sachsen-Weimar, and published in 1742 was reprinted in 1786. The latter edition reproduced the illustration to Böhme’s Gnadenwahl as frontispiece (Abb. 6) and may have determined its late inclusion in the Geheime Figuren (Abb. 7). Clearly the later editors were aware of the Böhmist content of much of the ABC Book and looked for materials that fitted the spirit of the work. They may have wished to avoid including images that were associated too exclusively with one author, whether this was Böhme or Khunrath. Another (Pseudo-)Franckenberg/ Kaym/Schwartz symbol, Menschliches Herz, bound in with Oculus Aeternitatis (to p. 165 according to the instructions to the binder) was also included at this time. One of the BPH manuscript copies of the Geheime Figuren indeed contains a manuscript version of this symbol. It is not clear whether this was a unique copy of the original printed image (which contained the texts written in the symbol of the heart, unlike the printed version of the Geheime Figuren), or whether the image occurred in more than one a copy of the C version of the manuscript (Abb. 8). Franckenberg’s impressive Tabula Universalis was one of the four symbols which have been bound in with copies of his Raphael oder Artzt-Engel (first printed 1676) and Theologische Sendschreiben. Von dem rechten Kirchen-gehen (1687), as well as with copies of Heinrich Betkius’s publications. This complex symbol of Tabula Universalis was meant to be included in the 1766 Geheime Figuren. It must at that time have been recognized as a Rosicrucian symbol but it was not printed in 1785–1788. The 9 Figuren vom Göttlichen Wesen, also added in the Missiv (C) version, were printed. This was a new addition of nine symbols taken from Pseudo-Franckenberg, i. e. Seidenbecher (?), Nosce Teipsum published by Jacob Gottfried Seyler in 1675. Added to this plate was an image of Christ in a Rose on a diagonal cross. Artistically speaking the rendering of this image is rather crude, but it is in fact what is left of the central image from Franckenberg’s Tabula Universalis. It is interesting to consider this table as it appears to provide another link between Rosicrucian and Böhmist thought as forged by Franckenberg and/or his followers. The editors of the printed Geheime Figuren thus finally decided against copying the Tabula Universalis in its entirety and formed a new symbol based on what to them embodied Franckenberg’s theosophy that in turn was inspired by Böhme and the Rosicrucians. A secret symbol (indeed!), with the added title: ›Harmonische Vorstellung aus dem Lichte der Natur. Daraus die Wiederherstellung und Neumachung aller Dinge emblematice abzunehmen ist‹. The Gold- und Rosenkreuzer interpretation of the complex of Christian and Rosicrucian theosophy as they saw it determined a consistent choice of symbols both in 1766 and in 1785–1788 – although the choices differed considerably and the editors in these two instances were not the same people. Franckenberg’s independent position in relation to the theosophies of both Böhme and the Rosicrucians will not have played a part in the later 18th century. In 1766 this symbol was brought in line with the new additions in the Geheime Figuren series and when it was finally printed

Abb. 7: Geheime Figuren 1785–1788: Gnaden-Wahl

Abb. 8: Geheime Figuren: Menschliches Herz. Amsterdam, Bibliotheca Philosophica Hermetica, Ms M467

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its positioning in the series remained the same. Clearly it fitted this newly found context in the ABC Book. The question remains: How aware were the editors specifically of Franckenberg’s reception of Böhme, Luther and Tauler (Thauleri/ Lautheri) especially with regard to the concept of Wiedergeburt, a concept that was certainly crucially important with the Radical Pietists as well?41 Ten symbolic plates as described in the Missiv were not included in the A and B versions and were not printed as such in the later publication of the Geheime Figuren (though some elements of these symbols may have been incorporated). However, most of the symbols additional to the ones in the first manuscript versions were printed in 1785–1788 and ended up in the third part, Drittes Heft; the general title page of the printed edition referred to the ABC Büchlein. Since this title page was also bound with the added plates, the ABC Büchlein itself was often considered as the third part. This does not appear to be correct: as in the Missiv description, ABC Büchlein was meant as a general title page covering the entire work (in the end the book comprised 3 parts). Most of the additional material referred to on the printed title page may however have been assembled by the editor »P. S.« though it is not clear whether the same editor had been at work before 1766. Some of the additional material that only appears in the printed version of 1785–1788 was once more taken from Böhmist sources. From the printed imagery available at the time, the editors of the Geheime Figuren selected additions that generally fitted the theosophical and mystical tradition developed in Rosicrucian and Böhmist circles on the basis of both Lautensack’s mystical theological thought (as transmitted by Biedermann and Kaym), and Böhme’s and Böhmist theosophical writings (as transmitted e. g. by Franckenberg and Pseudo-Franckenberg, Seidenbecher, Breckling, von Tschesch, von Schweinichen and the Radical Pietists) on the subjects of Divine Creation and Revelation; both themes were considered with respect to the double light of nature and grace. The one Book for the Einfältigen, was a twofold book, a Book of Life and a Book of Nature. In chapter 18 of his Von den drei Prinzipien Böhme, who was called the Philosopher of the Einfältigen, mentioned this Book: Denn die Jungfrau hat uns eine Rose verehret. Von der wollen wir schreiben mit solchen Worten als wir im Wunder sehen. Und anders können wir nicht oder es ist unsere Feder zerbrochen und die Rose von uns genommen. […] Darum schreiben wir aus einer andern Schulen, darinnen der irdische Leib mit seinen Sinnen nie studieret hat, auch das ABC nie gelernet: Denn in der Jungfrauen Rosen lerneten wir das ABC […] Denn das Gemüthe dieser Schulen stund in den Thoren der Tieffe im Centro verborgen: dürfen uns derowegen dieser Schulen nicht rühmen, denn sie ist nicht des irdischen Menschen Sinnen und Gemüthes Eigenthum.42

41

42

Cf. Carlos Gilly: Abraham von Franckenberg und die Rosenkreuzer. Zur Datierung der Tabula Universalis Theosophica Mystica et Cabalistica von 1623. In: Carlos Gilly/Friedrich Niewöhner (Hrsg.): Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert. Amsterdam 2002 (Pimander 7), 212–232; Sibylle Rusterholz: Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), Bd. 1, 205–241. Jacob Böhme: Von den drei Prinzipien. In: SS, Bd. II, 286–287.

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Die Evidenz der mystischen Schau Pierre Poirets Aufnahme Jacob Böhmes im Kontext der Querelle du pur amour Jane Leade (1624–1704), die Seherin und Gründerin der »Philadelphian Society«, war die engste Vertraute des Böhme-Anhängers John Pordage (1607–1681).1 Im Jahr 1683 begleitete sie die postum erschienene Schrift ihres geistlichen Führers, Theologia mystica, or the Mystic Divinitie of the Eternal Invisible, mit einer Vorrede, in der sie »Zeugnis« von den letzten Monaten im irdischen Leben des »Heiligen« gab. Pordages Theologia mystica erschien 1698 bei Henri Wetstein in Amsterdam in deutscher Übersetzung und entfaltete in dieser Gestalt zur Jahrhundertwende eine beachtliche Wirkung. Der Bericht der Seherin musste in den theosophischen und pietistischen Zirkeln auf dem Kontinent auf umso größeres Interesse stoßen, als sie vom Absterben eines »Apostels« berichtete, der »in diesem letztern Alter der Zeit« den Zurückgebliebenen bereits ein »herrliches Vorhersehen und Fürschmack der Kräfften der unsichtbaren Welt« übermittelte.2 In der Doppelung von imminenter Endzeiterwartung und Vorwegnahme eines künftigen Reichs Gottes exponiert Leade die typische Gedankenformation jener schwärmerischen Kreise, deren Mitglieder sich als Vorboten des Jenseits und Seher der göttlichen Geheimnisse betrachteten. Jane Leade versicherte, dass sie neben John Pordage niemanden gekannt habe, »der über einen tieffer einsehenden und höhern Prophetischen Geist«3 verfügt habe. Nachts, als ihm auf dem Totenbett »der HErr Christus erschienen« sei, widerfuhr ihm durch Erregung geistlicher Begierden eines jener Erweckungserlebnisse, das auch die letzten Zweifel und Anfechtungen der Gläubigen zerstreute. Pordage soll damals zu seiner Schülerin gesagt haben: »Ihr habt nicht zu zweifflen/ Gott werde denjenigen guten Geist/ welcher mir und in mir ein leitend Liecht gewest/ in einig andern auferwecken/ die Euch beystehen und zur Vollendung desjenig grossen Mysterii mit Euch fortgehen werden/ in welchem wir uns mit einander gefreuet haben.«4 Das 1 2

3 4

Vgl. Nils Thune: The Behmenists and the Philadelphians. A Contribution to the Study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries. Uppsala 1948. Jane Leade: An den unpartheyischen und wolmeynenden Leser. In: John Pordage: Theologia mystica: oder Geheime und verborgne göttliche Lehre von den Ewigen unsichtbarlichkeiten: als vom Mundô & Globô Archetypô […]. Amsterdam: Henri Wetstein 1698, 3–12, hier: 4. – Zur Autorin vgl. Catherine F. Smith: Jane Lead’s Wisdom: Women and Prophecy in Seventeenth-Century England. In: Poetic Prophecy in Western Literature. Hrsg. v. Jan Wojcik und Raymond-Jean Frontain. Rutherford, NJ 1984, 55–63. Zum Verhältnis zu Böhme vgl. bes. 60–62. Leade, An den unpartheyischen und wolmeynenden Leser (Anm. 2), 4. Ebd., 5 f.

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apostolische Sendungsbewusstsein schließt sich beinahe ganz dem Modell einer Nachfolge Christi an – freilich in einer im Zeitalter des Buchdrucks modernisierten Form: Unter der zunehmend schwächer werdenden Wirksamkeit der »Lebensgeister«, während dem Seher »noch manche erquickliche Reden und holdseelige Sprüche aus seinem Munde« gingen, unterredete sich Pordage mit seinem Herausgeber Dr. Edward Hooker »von wegen Publicirung seiner Schriften […,] welches seinem Hertzen sehr anlag.«5 Handelte es sich im Blick auf die Lebensform des Apostels um eine Nachfolge Christi, so lässt sich die Schreibform als eine Nachfolge Jacob Böhmes, des Autors der Morgenröte im Aufgang,6 charakterisieren. Jane Leade war überzeugt, dass Pordages Werk »manche grosse und geheime wahrheiten« enthalte, »die Ihm (nicht durch die Vernunft/ sondern aus einem reinem [sic!] centralen Liechte/ das vom Morgensterne in Ihm aufgienge/ eröffnet wurden«.7 Innerhalb dieser mystischen Denkform hat die skeptische Epoché, die Urteilsenthaltung, eine gleichsam protreptische Funktion, indem sie den Geist frei macht, sich den »geistlichen Niedlichkeiten und Himmlischen Geheimnüssen« zu öffnen. Die Aufklärung aller Zweifel steht dann am Ende dieses Erweckungserlebnisses, wie Jane Leade den Leser versichert: »Solchem nach lasset mein Ermahnen Statt bey Euch finden/ daß ihr Euch des Urtheilens enthaltet/ bis der Tag des HErrn/ im Hertzen eurer Erde/ ohne Wolcken aufgehen und erscheinen möge/ alle dergleichen Dinge/ die bey Euch noch zweiffelhafft sind/ aufzuklären.«8 Abgesehen von dem Einfluss, den sie auf die radikalpietistischen Zirkel auf dem Kontinent ausübte, ist die Wirkung der »Philadelphian Society« auch deshalb so komplex, weil sich in ihr Jacob-Böhme’sche Kosmologie und Endzeiterwartung zu einem Amalgam aus Sophien-Mystik und neuen naturwissenschaftlichen Ergebnissen verbanden. Pordages Hauptschrift im Bereich der Sophien-Mystik, der Traktat Sophia von 1675, trägt in der 1699 – wiederum in Amsterdam erschienenen – deutschen Übersetzung den Untertitel: »das ist/ Die Holdseelige ewige Jungfrau der Göttlichen Weisheit: oder Wunderbare Geistliche Entdeck- und Offenbahrungen/ so die theure Weisheit einer heiligen Seele gegeben.«9 In der Form eines Diariums knüpft der Autor eine Reihe von Visionen mit dem Ziel aneinander, zu zeigen, »Wie die äussere sichtbare Welt eine Figur und Vorbild der inwendigen unsichtbaren Welt im Menschen sey«.10 Diesem typologischen Verhältnis von äußerer und innerer Welt, von sichtbarem Makrokosmos und den unsichtba5 6

7 8 9 10

Ebd., 6. Für unseren zeitlichen Kontext ist wichtig die Ausgabe: Jacob Böhme: Morgenröte im Aufgang/ Das ist: Die Wurtzel oder Mutter Der Philosophiae, Astrologiae und Theologiae, Aus rechtem Grunde […]. Amsterdam 1682. – Im selben Jahr erschien: Jacob Böhme: Alle Theosophische Wercken […]. Amsterdam 1682. – Böhmes Werke erschienen im Laufe des 17. Jahrhunderts in dichter Folge in deutscher Sprache und in englischen Übersetzungen. Aurora, that is the Day-Spring erschien London 1656. Leade, An den unpartheyischen und wolmeynenden Leser (Anm. 2), 8. Ebd., 9. Vgl. John Pordage: Sophia: das ist/ Die Holdseelige ewige Jungfrau der Göttlichen Weisheit […]. Amsterdam 1699. Ebd., Titelblatt.

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ren Geheimnissen im Mikrokosmos, eignet ein ausgesprochen apokalyptischer Grundzug, der in der Bildlichkeit dieser Gesichte fortwährend zum Ausdruck kommt. Ihm entspricht das mit der Theologia mystica eingelöste Projekt einer eschatologisch akzentuierten Kosmologie, die »nicht aus vernünfftlichem Wissen/ sondern aus göttlich wesentlichem Schauen und Erkennen« Einblick in die »Geheime und verborgne göttliche Lehre von den Ewigen Unsichtbarlichkeiten« zu geben verspricht: »als vom Mundô & Globo Archetypô, das ist/ vom rechtem [sic!] Original Welt-Runde und uranfänglichen Haupt-Model oder Welt aller Welten/ Globen, Essentien/ Centren/ Elementen/ Principien/ und Schöpffungen/ wie sie Namen haben oder genannt werden mögen.«11 Das Werk gehört in den Zusammenhang einer großen Zahl konkurrierender Kosmologien, die im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts in dichter Folge erschienen waren. Man denke an so unterschiedliche Werke wie The True Intellectual System of the Universe (1678) des Platonikers von Cambridge, Ralph Cudworth, an Thomas Burnets Telluris theoria sacra (1680) oder an den Essay toward the Natural History of the Earth (1692) von John Woodward. Das Grundproblem dieser und vergleichbarer Kosmologien ergibt sich aus der Frage nach der Möglichkeit der Evidenzierung der Fakten einer erstaunlich mannigfaltigen Welt, deren Gegenwart, wenn sie Reste des vergangenen Zustands des Kosmos bereitstellte, ebenso die Spuren ihrer Zukunft offenbaren musste. Im Ausgang des Cartesianismus war Pierre Poiret (1646–1719)12 mit diesem Problem der Evidenzierung früh schon konfrontiert gewesen;13 aus Descartes’ Formel »cogito ergo sum« zog er den Schluss, dass Gottes Denken und Sein in einem absoluten Sinne eins sind. Gott ist der schlechthin evidente Grund, aus dem alles hervorgegangen ist, durch den alles subsistiert und in den alles wieder zurückkehren wird. Die Lösung des cartesianischen Evidenz-Problems im Sinne einer Letztbegründung des Seins in Gott ist mithin Ausgangspunkt für eine Welterklärung, die Poiret in seinem Hauptwerk, L’Oeconomie divine, ou système universel et démontré des œuvres & des desseins de Dieu envers les hommes (Amsterdam 1687), niedergelegt hat. Ausdrückliches Ziel dieses umfangreichen Traktats ist es, »mit metaphysischer Evidenz und Gewißheit« im Sinne Descartes’ alle Fragen, die den Menschen als Mittelpunkt und Spiegel der Schöpfung betreffen, letztgültig zu beantworten. Poirets Entschluss einer Hinwendung zur Mystik lässt sich mithin aus der Einsicht begreifen, dass das »cogito ergo sum« nicht – wie Descartes wollte – als menschliches Selbstbewusstsein, sondern als das sich selbst denkende Sein Gottes auf dem Grunde der menschlichen Seele zu verstehen sei. 11 12

13

Pordage, Theologia mystica (Anm. 2), Titelblatt. Zu Poiret vgl. Marjolaine Chevallier: Pierre Poiret. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie [Ueberweg], Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 2: Frankreich und Niederlande. Hrsg. v. Jean-Pierre Schobinger. Basel 1993, 848–859. Vgl. Pierre Poiret: Cogitationum rationalium de deo, anima et malo libri quatuor. In quibus quid de hisce Cartesius, eiusque sequaces, boni aut secus senserint, omnisque philosophiae certiora fundamenta, atque in primis tota metaphysica verior continentur. Amsterdam: Elsevier 1677. – Die zweite und dritte Auflage enthält eine Kritik an Spinoza und Pierre Bayle im Kontext der Atheismus-Debatte. – Zu Poirets Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus vgl. Gianluca Mori: Tra Descartes e Bayle. Poiret e la teodicea. Bologna 1990.

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Die Schriften der Mitglieder der »Philadelphian Society« erreichten Poiret zu einer Zeit, als er sich mit der Mystikerin Antoinette Bourignon (geboren 1616) zu einer Art von Konkubinat verbunden hatte. Die Visionen der Bourignon, die im Jahr 1680 verstorben war, hatten den jungen Cartesianer tief beeindruckt. Zwischen 1679 und 1686 gab er ihre Schriften in 19 Bänden heraus. Wie im Allgemeinen wenig bekannt ist, war Poiret auch sonst als Herausgeber tätig. Seine französischsprachige Edition der Theologia Deutsch, die im Jahr 1700 in Amsterdam bei Henri Wetstein unter dem Titel La Théologie réelle erschien, ist im Kontext der Querelle du pur amour um die Mystikerin Jeanne-Marie Guyon zu sehen, deren Schriften Poiret im Jahr zuvor – mit ausdrücklichem Hinweis auf die Auseinandersetzungen um den Quietismus – ediert hatte.14 In der Einleitung zur Théologie réelle lieferte Poiret eine Grundlegung der mystischen Theologie im Ausgang von 1Kor 2,7. Paulus habe die mystische Theologie »geheiligt«, »wenn er sagt, dass er die Weisheit Gottes verkündigte, die ein Geheimnis ist, das heißt: die mystisch oder verborgen ist und die kein weltlicher Gelehrter erkannt hat.«15 Poirets Mystik kann in diesem Sinne als ein Spiritualismus aufgefasst werden, insofern der Mensch am Geist Gottes teilhat und durch die Teilhabe am Geist Gottes Gott zu erkennen in der Lage ist, gemäß 1Kor 2,10: »nobis autem revelavit Deus per Spiritum suum/ Spiritus enim omnia scrutatur etiam profunda Dei.« Die Mystik ist die ›wirkliche Theologie‹ (›théologie réelle‹), weil Gott »das alleinige Prinzip aller Wirklichkeit und alles Guten« ist; sie ist die »wahre Religion«, weil sie den Menschen in den Stand setzt, die Gnade, mit der Gott den Menschen beschenkt, zu erwidern, mit ihr zu ›kooperieren‹; sie bewirkt, dass die Seele ausschließlich und mit brennendem Verlangen Gott begehrt, dass sie in der Auslöschung des eigenen Selbst rein wird, damit sie in der »Schau und reinen Liebe« Gott werde, damit Gott auf dem Grunde der Seele geboren werde.16 Poirets Rekonstruktion der mystischen Theologie dokumentiert eine genaue Lektüre der Theologia Deutsch vor dem doppelten Hintergrund der hochmittelalterlichen Mystik und der zeitgenössischen mystischen Praxis. Im theologischen Dissenz der Zeit gewinnt sie ihre Sprengkraft aus der Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Weltendes. Vergleichbar mit der Intention der »Philadelphian Society«, versuchte er mit einer philosophisch ungleich ambitionierteren Denkanstrengung die paulinische Mystik – oder was er dafür hielt – vor dem Ende der Zeiten zu erneuern. »Nur die Vernachlässigung dieser heiligen Religion«, so legte er dar, »hat zu allen Zeiten die Seltenheit der geistlichen Seelen und der wahren Mystiker ausgemacht; und es ist zu hoffen, dass Gott, der die Kirche erneuern und die christliche Religion in ihre Kraft und ihren Glanz gegen Ende der Zeiten wieder einsetzen will (in denen wir uns befinden), dieses durch die Schau und die reine Liebe bewirken würde, die der Kopf und das Herz, Urim und Thumim 14

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Vgl. Jeanne-Marie Guyon: Recueil de divers traitez de théologie mystique, qui entrent dans la […] dispute du quiétisme qui s’agite présentement en France. Hrsg. v. Pierre Poiret. Köln 1699. Pierre Poiret: »Préface« zur Théologie réelle. In: Ders.: Écrits sur la Théologie mystique. Préface. Lettre. Catalogue. Hrsg. v. Marjolaine Chevallier. Grenoble 2005, 25–130, hier: 45. Vgl. ebd., 51–53.

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der priesterlichen Seelen sind, die die Vollkommenheit bewirkenden Prinzipien der beiden edelsten Vermögen des Menschen sind: der Schau im Blick auf den Verstand und der reinen Liebe im Blick auf den Willen.«17 Poirets Edition der Theologia Deutsch enthält neben der Einleitung eine Art von Biobibliographie zur mystischen Praxis von den Anfängen bis zu Antoinette Bourignon. Dem Genre nach haben wir es mit einer Art von Hagiographie zu tun, die das umfangreiche Projekt der Bibliotheca mysticorum selecta (1708) bereits vorwegnimmt. Mit einem vergleichbaren Unternehmen trat damals übrigens auch Gottfried Arnold in Erscheinung, als er im Jahr 1702 die Historia et descriptio theologiae mysticae, seu theosophiae arcanae et reconditae, itemque veterum et novorum mysticorum zum Druck gab. Wie der Titel zeigt, trägt Poirets Präsentation den Charakter eines Sendschreibens an die Adepten der mystischen Theologie: »Lettre sur les principes et les caractères des principaux auteurs mystiques et spirituels des derniers siècles«. In der Exposition stellte Poiret die mystische Theologie als eine »Wissenschaft der Heiligen« (science des saints) vor,18 deren zentrale Lehre die durch betrachtende Schau und reine Liebe erlangte Einswerdung des Menschen mit Gott sei: »Gott hat uns geschaffen, damit wir mit ihm vereint und ihm angeglichen seien, und damit er selbst ›alles in allem‹ werde und sei, wie die Heilige Schrift selbst sagt.«19 Der Gedanke der Einswerdung hat also von allem Anfang an eine eschatologische Dimension, in der der universalistische, auf den letzten Zweck des Universums gerichtete Grundzug dieser Denkform zum Ausdruck kommt. Einswerdung mit Gott meint die reinigende Wiedergeburt des sündigen Menschen in Gott, mit der und in der sich zugleich die ›Wiederbringung von allem‹ (Apokatastasis panton) erfüllt. Vor dem Hintergrund des Origenismus des Zeitalters nimmt Poirets »Wissenschaft der Heiligen« damit den Gedanken einer »regeneration« auf, der über den Philadelphianer Thomas Bromley die Mystik der Jeanne-Marie Guyon beherrscht hatte. Nicht zuletzt dieser – übrigens bis zu Louis-Claude de Saint-Martin und darüber hinaus fortwirkende – Origenismus war es, von dem die Querelle du pur amour bestimmt war. Für Poiret handelt es sich hierbei um eine genuin Böhme’sche Denkform, deren reifste Frucht er in Thomas Bromleys Hauptwerk The Way to the Sabbath of Rest. Or, The Soul’s Progress in the Work of Regeneration (1655) erblickte.20 Das schmale Werk wurde ins Französische, Deutsche und Niederländische übersetzt und erreichte so die mystischen Zirkel auf dem Kontinent. 17

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19 20

Ebd., 53: »Ce n’est que le relâchement de cette sainte religion qui de tout temps a fait la rareté des âmes spirituelles et des vrais mystiques; et il est à espérer que Dieu, voulant renouveler son Église et remettre la Religion chrétienne en sa force et en sa splendeur vers les derniers temps (qui sont ceux où nous sommes), il le ferait par la Contemplation et par l’amour pur, qui en sont la tête et le cœur, qui sont l’Urim et le Thumim des âmes sacerdotales, qui sont les principes perfectionnants des deux plus nobles facultés de l’homme: la contemplation pour l’entendement et l’amour pur pour la volonté.« Pierre Poiret: Lettre sur les principes et les caractères des principaux auteurs mystiques et spirituels des derniers siècles. In: Ders., Écrits sur la Théologie mystique (Anm. 15), 131– 203, hier: 135. Ebd., mit Hinweis auf Joh 17,21, 1Kor 15,28 u. 2Kor 3,18. Vgl. ebd., 165.

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Poirets Überblick über die mystische Theologie ist ziemlich umfassend, und es ist zum Verständnis der geistigen Signatur der Zeit sinnvoll, wenn wir uns die Grundlinien des Inhalts kurz vergegenwärtigen, bevor wir den Anteil Jacob Böhmes in Betracht ziehen. Ausgangspunkt dieser Darstellung des mystischen Denkens ist die Person und das Werk Johannes Taulers († 1361). Die Geburt Christi auf dem Grund der menschlichen Seele bewirkt demnach eine »dauerhafte und fortwirkende Einkehr«, die den Menschen in jenen »Zustand der Innerlichkeit« versetzt, in dem sich Gottes Wille auswirken kann. Die Präsentation der mystischen Theologie des Johannes Tauler hier am Beginn der »Lettre« erfüllt offenbar eine genau berechnete Funktion. Im Gegensatz zum quietistischen Gebot einer absoluten Passivität der menschlichen Seele legt Poiret den Gedanken einer ›Kooperation‹ zugrunde, in der das Verlangen des Menschen nach Gott und der göttliche Wille ineinander greifen. Poiret sieht innerhalb der universalen Haushaltung Gottes die Vermittelbarkeit zwischen der Freiheit Gottes in der Schöpfung aller Dinge und der Providenz des Heilsplans im Sinne des »decretum creationis« ausdrücklich vor. An diesem Gedanken der Vermittlung hielt er auch 1715, in der Spätschrift Vera & cognita omnium prima, im Rückgriff auf Tauler, Jacob Böhme und die Philadelphianer, Jane Leade und John Pordage, noch fest.21 Unter der Vielzahl der von Poiret genannten Mystiker und Mystikerinnen ragt zunächst Henricus Harphius (Hendrik Herp, † 1477)22 heraus, der, wiewohl in der Nachfolge Taulers und Ruysbroecks, die mystische Theologie »wissenschaftlich stringenter« (plus méthodique) als seine Vorgänger bearbeitet habe: »Es ist das schönste, inhaltsreichste, tiefste und am meisten entwickelte System der mystischen Theologie, das es jemals gegeben hat.«23 In Johannes vom Kreuz, Heinrich Seuse sowie den Heiligen Theresa von Avila, Katharina von Genua und Angela von Foligni erblickt Poiret Repräsentanten einer Tradition, innerhalb der sich Gott immer wieder auserwählten Menschen offenbart hat. Ohne ausdrücklich auf die Querelle du pur amour einzugehen, die sich in der Folge der Publikation von Fénelons Explication des maximes des saints sur la vie intérieure 1697 entfacht und in der Verurteilung Mme Guyons entladen hatte,24 ist Poirets »Lettre« doch stets unmittelbar vor diesem polemischen Hintergrund zu sehen. Mehr als es alle Schriftoffenbarung vermöchte, ist die ›Wissenschaft der Heiligen‹ geeignet, den Menschen zu regenerieren, weil und insofern sie die Gottwerdung des Menschen auf dem Grunde der Seele bezeugt. Über Katharina von Genua schreibt Poiret: Ihre Lehren »sind Ausflüsse und brennende Strahlen der absolut reinen Liebe des Geistes Gottes, der sie erfüllte und beherrschte.«25 Poiret selbst hatte 1691 21

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Vgl. Pierre Poiret: Vera & cognita omnium prima, sive, de natura idearum ex origine sua repetitâ, & adversus cl. A. Pungelerum defensâ, disquisitio theologico-philosophica. Amsterdam: Wetstein 1715, 297–303. Zu Harphius vgl. A. Combes. In: Étienne Gilson: La philosophie au Moyen Age. Des origines patristiques à la fin du XIVe siècle. ND Paris 21986, 705–708. Poiret, Lettre (Anm. 15), 139. Vgl. Jean Orcibal: Madame Guyon devant ses juges. In: Mélanges de littérature française offerts à Monsieur René Pintard. Hrsg. v. Noëmi Hepp, R. Mauzi u. Claude Pichois. Straßburg/ Paris 1975, 409–423. Poiret, Lettre (Anm. 15), 149.

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die Théologie de l’Amour, ou la vie et les œuvres de Ste Catherine de Gênes zum Druck gebracht.26 In Person und Werk Jacob Böhmes hat Poiret das überhaupt bedeutendste Zeugnis der mystischen Theologie gesehen. Schon der Eingang des Kapitels markiert diese außerordentliche Stellung Böhmes: »Er ist der einzige, zumindest insoweit es die Schriften betrifft, die wir bis zu ihm besitzen, dem Gott den Grund des Wesens so vieler geistlicher wie auch stofflicher Dinge entdeckt hat und der mit tiefer Durchdringung der theologischen und übernatürlichen Angelegenheiten von Grund auf die wahren Prinzipien der Philosophie, ebenso sehr der Metaphysik wie der Pneumatologie und der wahren Physik, erkannt hat.«27 Dem Einwand, die Schriften dieses »tiefen und geheimnisträchtigen Schriftstellers« seien unverständlich, begegnet Poiret mit dem Argument, dass die tiefsten Geheimnisse von denen nicht verstanden werden könnten, denen – wie den Blinden – das Licht und die Farben als »reine Erfindungen« (de pures fictions) erscheinen. Poirets Kriterium für die Wahrheit der mystischen Theologie ist folgerichtig die Evidenz der mystischen Schau. Ihre Inhalte sind in einem absoluten Sinne wahr, weil sie deren Wahrheit auf dem Grund ihrer Seele ursprunghaft erfahren haben. Die ›Wissenschaft der Heiligen‹ ist absolut wahr, weil sie ihren Grund in den »vérités de source et d’expérience« besitzt.28 Diese Wahrheiten adäquat zu verstehen, so Poiret, sei nur demjenigen gegeben, den Gott zu deren Verständnis erweckt hat. Ohne ein vorgängiges Erweckungserlebnis (réveil) bleibe die Lektüre der Schriften Böhmes unvollkommen, weil der im Stand der Korruption befangene sündige Mensch sich daraus nur »tote Gemälde« in seinem Verstand werde bilden können. Das hermeneutische Problem ergibt sich also daraus, dass der Mensch, solange er sein Ich, seine Selbstliebe, noch nicht überwunden hat, Böhmes Kosmos nicht angemessen wird auffassen können. Die Wissenschaft, die Gott in den Heiligen eingesenkt hat, findet hinwiederum nur Aufnahme in einer Seele, die sich ganz dem Willen Gottes überlassen hat.29 Poiret hat dieses Problem der Vermittelbarkeit des Wissens im Falle der Schriften Jacob Böhmes übrigens sehr klar gesehen. Mit »gutem Willen« könne man, auch wenn man die Gnade der Erweckung noch nicht erfahren habe, zumindest einige Werke Böhmes, wie zum Beispiel die Genesis-Auslegung des Mysterium magnum, mit Gewinn lesen. Freilich blieben die Geheimnisse der Schrift De signatura rerum insbesondere in Übersetzung unzugänglich, weil das Französische eine Sprache für verweichlichte Geister sei. »Was die Übersetzung von Böhmes Büchern ins Französische betrifft, so sind sie unübersetzbar wegen des falschen Geschmacks dieser Sprache, die, um sich den schlaffen und verweichlichten Geistern anzupassen, sich zum Gesetz gemacht hat, nichts zu sagen, 26 27

28 29

Erschienen in Köln bei Jean de La Pierre. – Eine zweite Auflage erschien 1697. Poiret, Lettre (Anm. 15), 159 f.: »Celui-ci est le seul, au moins dont on ait eu des écrits jusqu’à lui, auquel Dieu ait découvert le fond de la nature tant des choses spirituelles que des corporelles et qui, avec une pénétration toute centrale des choses théologiques et surnaturelles, ait aussi connu d’origine les vrais principes de la philosophie, tant de la métaphysique et de la pneumatique que de la vraie physique.« Vgl. ebd., 163. Vgl. ebd., 161.

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was den nachlässigsten Lesern auch nur irgend dunkel erscheinen könnte, aus Furcht, dass man es für Galimathias halten könnte: Wofür man ohne Zweifel die Übersetzung seines dunkelsten Buches, Signatura rerum, halten wird, das man vor etwa 50 Jahren in französischer Sprache in Frankfurt unter dem Titel Miroir temporel de l’éternité publiziert hat, eine Übersetzung, bei der es sich in der Tat nicht gerade um ein beachtliches Stück handelt.«30 Mit anderen französischen Übersetzungen hatte Poiret weniger Schwierigkeiten. Die illustre Reihe einer ununterbrochenen Weisheitstradition im Sinne Jacob Böhmes – derjenigen »Originalschriftsteller«, die deswegen ›ursprünglich‹ sind, weil sie ihr Wissen aus göttlicher Quelle und innerer Erfahrung geschöpft haben – beginnt nicht zufällig noch immer mit dem Traktat Poimandres, »den man zurecht oder zu Unrecht dem Hermes Trismegistos zuschreibt«. Die Authentizität ist für Poiret kein ernsthaftes Problem, aber der göttliche Gehalt steht für ihn außer Frage. Dabei weicht er der Frage der Textkritik keineswegs aus. Poiret bevorzugt die zuverlässigere Edition von Francesco Patrizi gegenüber derjenigen Marsilio Ficinos und empfiehlt dem Leser die im Jahr 1652 erschienene niederländische Übersetzung eines anonymen Böhme-Schülers sowie die ältere französische Übertragung durch den Grafen François de Foix Candale (Bordeaux 1579).31 In chronologisch nicht geordneter Reihe nennt er – gewissermaßen als Nachtrag aus dem frühen Christentum und dem Frühmittelalter – die Visionen des ›Hirten des Hermas‹, außerdem Johannes Scotus Eriugena, dann zumal Schriften von »Originalschriftstellern« des 16. und 17. Jahrhunderts: Abraham von Franckenbergs Oculus aeternitatis (1677), dessen Via veterum sapientum (1675) in Übersetzung, Paracelsus, Valentin Weigel, die beiden van Helmont und »einige kabbalistische Schriftsteller« im Ausgang von Francesco Giorgio Veneto (1466–1540), De harmonia mundi totius cantica tria (Venedig 1525) – ein Werk, dessen französische Übersetzung durch Guy Le Fèvre de La Boderie (1578) damals gerade neu aufgelegt worden war. Schließlich nennt Poiret noch die Absconditorum a constitutione mundi clavis von Guillaume Postel (1510–1581), die Abraham von Franckenberg 1646 in Amsterdam zum Druck gegeben hatte. Die Komposition der »Lettre« besitzt eine klare Struktur. Sie setzt bei der hochmittelalterlichen Mystik ein, entfaltet sich in der ziemlich genau vom Böhme-Kapitel eingenommenen Mitte des Traktats zu ihrer reichsten Chromatik und mündet in einer Art von Schlussakkord in den der Mystikerin und Weggefährtin 30

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Ebd., 163: »Quant aux traductions de ses livres en français, c’est ce que ne saurait souffrir la fausse délicatesse de cette langue qui, pour s’accommoder aux esprits mous et féminins, s’est laissé imposer pour loi de ne rien dire qui paraisse tant soit peu obscur aux lecteurs les plus négligents, sous peine que cela ne passe pour du galimatias, comme passera sans doute la traduction du plus obscur de ses livres Signatura rerum, qu’on publia il y a environ cinquante ans en français à Francfort, sous le titre de Miroir temporel de l’éternité, traduction qui, en effet, n’est pas une pièce fort considérable.« – Vgl. Jacob Böhme: Miroir temporel de l’éternité [übers. v. J. Maclé]. Frankfurt a. M. 1664. Le Pimandre de Mercure Trismégiste, de la philosophie chrestienne, cognoissance du verbe divin et de l’excellence des œuvres de Dieu, traduit de l’exemplaire grec, avec collation de très amples commentaires. Bordeaux: Millanges 1579. – Bereits einige Jahre zuvor hatte François de Foix Candale eine lateinische Ausgabe ediert: Mercurii Trismegisti Pimandrus, utraque lingua restitutus. Bordeaux: Millanges 1574.

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Antoinette Bourignon gewidmeten Abschnitt. Poirets »Lettre« will damit keine Geschichte des mystischen Denkens sein; es handelt sich vielmehr, wie wir eingangs bemerkten, um ein hagiographisches Werk. Anhand des post-cartesianischen Wahrheitskriteriums, der Selbstevidenz derjenigen Wahrheiten, die aus der göttlichen Quelle innerer Erfahrung hervorgegangen sind – den »vérités de source et d’expérience« – findet Poiret die Möglichkeit einer demonstrativen, weil selbstevidenten ›Wissenschaft der Heiligen‹, die mit der mystischen Theologie identisch ist. Einer der prominentesten Gegner Poirets, Jean Le Clerc (1657–1736), hat die Absenz eines Bewusstseins historischer Kritik angeklagt, an der Poiret in der Tat nicht das geringste Interesse haben konnte. Nicht die Einsicht in die Überlieferung heiliger Texte war das Ziel seiner Forschungen, sondern die Gegenwart des Heiligen Geistes auf dem Grund der menschlichen Seele, wie sie sich in den erwählten Heiligen kontinuierlich manifestiert hatte. Poirets Böhme-Kapitel mündet denn auch in die Gegenwart der »Philadelphian Society«, wenn er über John Pordages Theologia mystica darlegt: »Er entdeckt in Gott unerhörte Offenbarungen, eine neue Welt von Geistern, Prinzipien, die der angelischen und natürlichen Welt vorausliegen und die Jacob Böhme völlig unbekannt waren, über dessen Schriften er einige wichtige Aufklärungen gibt, ohne übrigens in dessen Stoffe einzudringen, denn er endet dort, wo Jacob Böhme seinen Anfang gesetzt hat.«32 Le Clercs Entgegnung ließ an Schärfe nichts zu wünschen übrig. In den Parrhasiana (1699), einem Werk voll gelehrter Persiflage, Ironie und Sarkasmus, schrieb er über einen Autor, der die Religion in einen »reinen Fanatismus« verwandelt habe: »Poiret bildet sich ein, dass man jeden Blödsinn der Mystiker und alle Hirngespinste, die er ihnen hinzuzufügen beliebt, für Orakelsprüche halten solle; dabei sollte er erröten bei dem Metier, das er seit langem betreibt, indem er versucht, die Einfältigen durch die lächerlichen Geistlichkeiten (spiritualitez ridicules) zu verführen, die er zum Druck gibt.«33 Die Lehre des »pur amour«, mit der Poiret dem intellektuellen Libertinismus seiner Zeit entgegentrat, verwandelte sich in der Parodie Le Clercs in einen »pur fanatisme«, der die guten Sitten untergrabe. Noch während Fénelon und Mme Guyon, Poiret und Antoinette Bourignon, Jane Leade und John Pordage sich gegen die Angriffe der Orthodoxie verteidigen mussten, war der Böhmismus auch von der zeitgenössischen Erkenntnistheorie gründlich entkräftet worden. Die Evidenz der mystischen Schau war für John 32

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Poiret, Lettre (Anm. 15), 164: »Il [John Pordage] découvre dans Dieu de nouvelles manifestations, un nouveau monde d’esprits, des principes antérieurs au monde angélique et naturel et entièrement inconnus à Jacob Boëme, pour les écrits duquel il donne quelques éclaircissements importants, sans entrer néanmoins dans ses matières, vu qu’il finit (au moins dans les traités qui ont paru de lui et qui ne sont qu’un commencement de ses œuvres), il finit, dis-je, là où Jacob Boëme met son commencement.« Theódore Parrhase [d. i. Jean Le Clerc]: Parrhasiana ou pensées diverses sur des matières de critique, d’histoire, de morale et de politique. Amsterdam: Antoine Schelte 1699, 384: »Mr Poiret s’imagine que toutes les sottises des mystiques, & toutes les chimères qu’il lui plait d’y ajoûter, doivent passer pour des Oracles, au lieu qu’il fait, depuis longtemps, de tâcher de séduire les simples, par les spiritualitez ridicules qu’il publie.« etc.

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Ralph Häfner

Locke, dessen Essay Concerning Human Understanding 1690 erschienen war, nur das Ergebnis einer im »Enthusiasten« krankhaft übersteigerten Selbstgewissheit, die im Grunde eine Selbsttäuschung sei. Über die religiösen Schwärmer schrieb er: »Sie sind sicher, weil sie sicher sind. Ihre Überzeugungen sind richtig, weil sie stark von ihnen überzeugt sind. Wenn man ihre Worte der bildlichen Ausdrücke des Sehens und Fühlens entkleidet, so bleibt nichts weiter übrig als das eben Gesagte. Trotzdem lassen sich diese Leute von derartigen Vergleichen so stark täuschen, dass sie bei ihnen selbst die Stelle der Gewissheit und anderen gegenüber die Stelle der Demonstration vertreten.«34 Leibniz replizierte in den Nouveaux Essais (entstanden um 1704/1705) mit weltgewandter Finesse: »Wenn Jacob Böhme, der berühmte Lausitzer Schuster, dessen Schriften, die für einen Mann seines Standes in der Tat etwas Großartiges und Schönes haben, unter dem Namen des Philosophe Teutonique in andere Sprachen übersetzt worden sind, hätte Gold machen können, wie einige es sich einreden, und wie der Evangelist Johannes es konnte, wenn wir das glauben, was ein zu seiner Ehre gemachter Hymnus sagt: Inexhaustum fert thesaurum, Qui de virgis fecit aurum, Gemmas de lapidibus.

so wäre dies ein Grund gewesen, diesem außerordentlichen Schuster mehr Glauben zu schenken. Und wenn Antoinette Bourignon dem französischen Ingenieur Bertrand La Coste in Hamburg wirklich das Licht in den Wissenschaften gegeben hat, das er von ihr empfangen zu haben glaubte, wie er es in seiner Dedikation des Werkes über die Quadratur des Kreises bemerkt […], so würde man nicht wissen, was man dazu sagen sollte. Aber man sieht keine Beispiele eines bedeutenden Erfolges dieser Art noch auch genau detaillierte Voraussagungen, die solchen Leuten geglückt wären.«35 Was vom Böhmismus des 17. Jahrhunderts hier noch 34

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John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Hrsg. v. P. H. Nidditch. Oxford 1975, 700 (IV,19, § 9): »This is the way of talking of these men: they are sure, because they are sure: and their persuasions are right, because they are strong in them. For, when what they say is stripped of the metaphor of seeing and feeling, this is all it amounts to: and yet these similes so impose on them, that they serve them for certainty in themselves, and demonstration to others.« Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais sur l’entendement humain IV,19 (Philosophische Schriften III,2. Hrsg. v. Wolf von Engelhardt u. Hans Heinz Holz. Darmstadt 1985, 626/628): »Si Jacob Böhme, fameux cordonnier de la Lusace, dont les écrits ont ésté traduits de l’Allemand en d’autres langues sous le nom de Philosophe Teutonique et ont en effect quelque chose de grand et de beau pour un homme de cette condition, avoit sçu faire de l’or, comme quelques-uns se le persuadent, ou comme fit S. Jean l’Evangeliste si nous en croyons ce que dit un hymne fait à son honneur: Inexhaustum fert theasaurum, [/] Qui de virgis fecit aurum, [/] Gemmas de lapidibus, on auroit eu quelque lieu de donner plus de créance à ce cordonnier extraordinaire. Et si Mademoiselle Antoinette Bourignon avoit fourni à Bertrand la Coste, Ingenieur François à Hambourg, la lumière dans les sciences, qu’il crut avoir receu d’elle, comme il le marque en luy dediant son livre de la Quadrature du Cercle […] on n’auroit sçu que dire. Mais on ne voit point d’exemples d’un succès considérable de cette nature, non plus que des prédictions bien circonstanciées, qui ayent réussi à de telles gens.«

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übrig blieb, war eine Folge geistvoller und anspielungsreicher Pointen, wie sie Pierre Bayle (1647–1706), der Autor des Dictionnaire historique et critique (zuerst 1697), liebte. Mit seinem Artikel über die Seherin Antoinette Bourignon war die mystische Literatur Teil jener Konversationskultur geworden, die die République des Lettres des Zeitalters auszeichnete.36

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Zur fortwirkenden Rezeption der Mystik Pierre Poirets im Zeitalter des Sensualismus und insbesondere bei Johann Gottfried Herder vgl. Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens. Hamburg 1995 (Studien zum 18. Jahrhundert 19), 111–116, mit Proben aus Herders Exzerpten aus Poirets Oeconomie divine, ebd., 269–273.

Burkhard Dohm

Böhme-Rezeption in England und deren Rückwirkung auf den frühen deutschen Pietismus Jane Lead und das Ehepaar Petersen »From thy dark Cell now great Behemius rise.«1 Diese magische Beschwörung des toten Jacob Böhme in seiner Grabeszelle findet sich in einem Text der englischen Visionärin und Böhme-Anhängerin Jane Lead aus dem Jahre 1696, dem Gründungsjahr der von ihr geleiteten Londoner ›Philadelphian Society‹.2 Die Anrufung des damals lang verstorbenen Böhme deutet auf eine spezifische Aktualität seines Denkens im Kontext philadelphisch-pietistischer Ideenkonstellationen um 1700. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Böhme-Rezeption im englischen Philadelphiertum sowie den Rückwirkungen dieser Rezeption auf den deutschen Radikalpietismus.3 Englische Philadelphier und deutsche Radikalpietisten sind insbesondere im Kontext ihrer Böhme-Rezeption durch ein dichtes Geflecht von Personen und Kontakten, Ideen und Konzepten verbunden.4 Wichtige Referenzbezüge, welche die philadelphischen und pietistischen Böhme-Rezeptionen mit 1

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Richard Roach: Solomon’s Porch, or the Beautiful Gate of Wisdom’s Temple. A Poem. Introductory to the Philadelphian Age. In: Jane Lead: A Fountain of Gardens Watered by the Rivers of Divine Pleasure. London 1696, 3 (unpaginiert). Dieses Gedicht leitet das Visionstagebuch der englischen Philadelphierin und Mystikerin Jane Lead ein. Böhme wird im Gedicht als ein über höchstes göttliches Wissen verfügender Prophet gefeiert, vgl. Roach (s. o.), 3, sowie dazu den zweiten Teil der hier vorliegenden Untersuchung. Erst ab 1697 trat die Philadelphian Society dann verstärkt an die Öffentlichkeit, nachdem sich bereits seit 1647 entsprechende religiöse Hauskonventikel um den lange Zeit führenden Philadelphier John Pordage gebildet hatten. Vgl. auch Peter Cersowsky: Magie und Dichtung. Zur deutschen und englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1990, 192. Zum Begriff des Philadelphiertums vgl. grundlegend Hans Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989, 63 ff. – Der Begriff des ›radikalen Pietismus‹ wird in neuerer theologischer und literaturwissenschaftlicher Pietismusforschung zur Kennzeichnung kirchenferner, meist spiritualistisch orientierter Personen, Gruppierungen und Konzepte im Bereich des Pietismus verwendet. Zur Begriffsbestimmung vgl. hier u. a. Schrader (s. o.) sowie Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. In Zusammenarbeit mit Johannes van den Berg, Klaus Deppermann, Johannes Friedrich Gerhard Goeters u. Hans Schneider hrsg. v. Martin Brecht. Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus 1), 391–437. Aufgrund dieser Sachlage bietet der hier behandelte thematische Bereich zugleich auch ein ergiebiges Untersuchungsspektrum nach dem methodischen Ansatz der Konstellationsforschung, die im Sinne einer Neukonzeptionierung der ›Ideengeschichte‹ bzw. der ›Intellectual History‹ die erkenntnisfördernden wechselseitigen Zusammenhänge von Personen, Problemen und Theorien im Kontext ihrer jeweiligen Umfelder betont. Vgl. dazu: Konstellationsforschung. Hrsg. v. Martin Mulsow u. Marcelo Stamm. Frankfurt a. M. 2005.

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profilieren, finden sich zudem in theosophisch-hermetischen und theologischphilosophischen Umfeldern beider Bewegungen, die deshalb im vorliegenden Beitrag exemplarisch mit behandelt werden. Die Untersuchung erfolgt in drei Schritten: Der erste Beitragsteil sondiert in knappen Zügen die Böhme-Rezeption radikal-religiöser Strömungen Englands seit dem sogenannten Interregnum und deren theologisch-philosophische Reflexion im Kreis der Cambridge Platonists.5 Im Kontext des spiritualistischen Vor- und Umfeldes und seiner philosophischen Reflexion gewinnt die Böhme-Rezeption der englischen Philadelphier erste Konturen. Der zweite Teil des Beitrags veranschaulicht dies zunächst am Beispiel des Philadelphiers John Pordage, der über ein schillerndes Netzwerk von Kontakten zu führenden Spiritualisten Englands verfügt. Auf dieser Basis werden die Schriften der philadelphischen Prophetin Jane Lead analysiert, die vielfach differenzierte Böhme-Bezüge aufweisen. Der dritte Teil der Untersuchung thematisiert abschließend Rückwirkungen der philadelphischen Böhme-Rezeption Englands auf den deutschen Radikalpietismus am Beispiel des Ehepaares Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Den Ausgangspunkt des folgenden ersten Beitragsteils bilden einige grundlegende Sondierungen im historischen und ideengeschichtlichen Vor- und Umfeld der philadelphischen Bewegung Englands. Mit dem ›Interregnum‹ und dem Niedergang der ›Church of England‹ (1644)6 findet Böhme bei einigen führenden Vertretern radikal-religiöser Bewegungen wachsendes Interesse.7 Eine Basis dieser Böhme-Rezeption bildet die damals entstehende Übersetzung seiner Werke durch John Sparrow.8 Rezeptionen Böhmes überlagern sich in England unter anderem mit Nachwirkungen der von Hendrik Niclaes in Holland begründeten, radikalreligiösen ›Family of Love‹.9 Führende Spiritualisten werden daher von ihren 5

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Bei den Cambridge Platonists handelt es sich um eine neuplatonistisch orientierte, einflussreiche Bewegung Englands, der u. a. Henry More, Ralph Cudworth und Benjamin Whichcote zugehören. Eng verbunden mit dieser philosophischen Gruppierung ist die hochgelehrte Anne Conway, deren philosophische Konzeption im dritten Teil der vorliegenden Untersuchung ins Blickfeld rückt. Vgl. dazu näher Sarah Hutton: Anne Conway. A Woman Philosopher. Cambridge 2004, 56. Eine differenzierte Sicht dieser Rezeptionen entwickelt Nigel Smith vor allem in dem Kapitel ›Jacob Boehme and the Sects‹ seines Buches: Perfection Proclaimed. Language and Literature in English Radical Religion 1640–1660. Oxford 1989, 185–225. John Sparrows Böhme-Übersetzungen werden seit 1645 veröffentlicht. An dieser zentralen englischen Böhme-Übertragung, die etwa auch dem Neuplatoniker Henry More sowie den englischen Philadelphiern vorlag, sind außerdem John Ellistone sowie als Herausgeber der politisch aktive Buchhändler Humphrey Blunden beteiligt. Vgl. hierzu u. a. Cersowsky (Anm. 2), 191. Die erste (knappe) englischsprachige Böhme-Biographie von Durand Hotham findet sich im Anhang zu Sparrows und Ellistones Übertragung von Böhmes ›Mysterium Magnum‹, vgl. Durand Hotham: The Life of Jacob Behmen. In: Jacob Behme: Mysterium Magnum, or, an Exposition of the first Book of Moses, called Genesis […]. Transl. by J. Ellistone and J. Sparrow. London 1654. Zu dieser radikal-religiösen Strömung vgl. u. a. Alastair Hamilton: The Family of Love. Cambridge 1981 sowie Christopher W. Marsh: The Family of Love in English Society, 1550–1630. Cambridge 1994; diese Arbeit enthält u. a. eine vom Verfasser erarbeitete aufschlussreiche Liste, in der Mitglieder der ›Family of Love‹ aufgeführt werden (265–287).

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Gegnern zugleich als ›Familists‹ und ›Behmenists‹ bekämpft.10 In unterschiedlicher Intensität finden sich zudem Spuren Böhmes im frühen Quakertum und bei den ›Quinto-Monarchisten‹, den Diggers und Seekers.11 Auf theologisch-philosophischer Ebene werden Böhme und seine Wirkungen seit Mitte des 17. Jahrhunderts von den Cambridge Platonists um Henry More reflektiert.12 Vor allem die mit More befreundete, kabbalistisch geprägte Philosophin und spätere ›Quaker-Lady‹ Anne Conway13 sticht hier hervor: In ihrem einflussreichen ›Ragley-Circle‹14 diskutieren Conway und andere an Böhme interessierte Denker, wie der Neuplatoniker More, der Kabbalist Mercurius van Helmont15 und der Quakerführer George Keith,16 über theosophische, theologischphilosophische und politische Implikationen der Ideen Böhmes und der böhmistischen Bewegungen Englands. Die von Böhme besonders beeindruckte Conway17 findet nicht allein in ihrem philosophischen Umfeld, und besonders bei Gottfried 10

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Vgl. dazu Hamilton (Anm. 9), 137 u. 142 f. Symptomatisch für das damals sowohl an Böhme als auch an Niclaes herrschende Interesse ist beispielsweise, dass der englische Drucker Giles Calvert in der Mitte des 17. Jahrhunderts ebenso viele Übersetzungen von Schriften Böhmes wie von Texten des Niederländers Niclaes produziert, vgl. ebd., 139. Vgl. Smith (Anm. 7), 21 ff., 185 ff. Zur Böhme-Rezeption in England und insbesondere bei den Spiritualisten im Interregnum vgl. auch Brian J. Gibbons: Gender in Mystical and Occult Thought. Behmenism and its Development in England. Cambridge 1996, 103–142. Zur kritischen Auseinandersetzung Henry Mores mit Jacob Böhme vgl. Sarah Hutton: Henry More and Jacob Boehme. In: Henry More (1614–1687). Tercentenary Studies. Hrsg. v. Sarah Hutton. Dordrecht 1990, 157–171. Zur Aufnahme kosmogonischer Ideen Böhmes bei More vgl. Serge Hutin: Henry More und die Cambridger Platoniker. In: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. Hrsg. v. Peter von Koslowski. München 1988, 168–182, hier: 179 f. Zu Conway und ihrer Philosophie vgl. die grundlegende Studie von Sarah Hutton (Anm. 6). Ort dieser philosophischen Gespräche ist Ragley Hall, der Wohnsitz Conways. Indem auswärtige Besucher in den Ragley Circle eintreten, verändern sich die dort diskutierten Ideenkonstellationen ebenso wie die Ideen der Besucher selbst. Zum Ragley-Zirkel als Musterbeispiel künftiger Konstellationsforschung vgl. Martin Mulsow: Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung. In: Konstellationsforschung (Anm. 4), S.74–97, hier: 78. Zu dem im 17. Jahrhundert einflussreichen Mediziner und Kabbalisten Mercurius van Helmont, der Conway auch ärztlich betreut und behandelt, vgl. die umfassende Studie von Allison P. Coudert: The Impact of the Kabbalah in the Seventeenth Century. The Life and Thought of Francis Mercury van Helmont (1614–1698). Leiden, Boston, Köln 1999. Zu den Beziehungen van Helmonts zu Conway und Keith sowie zu auffälligen Affinitäten der Anschauungen van Helmonts und Keiths zu denen des Neuplatonikers und Hermetikers John Everard vgl. ebd., 186. Zu Everards Kontakten mit dem Philadelphier Pordage vgl. den hier folgenden Pordage-Teil des vorliegenden Aufsatzes. George Keith verfasst zudem im Anschluss an seine Diskussionen mit Conway und van Helmont in Ragley Hall gemeinsam mit diesen beiden Gelehrten eine (mir nicht greifbare) kabbalistische Schrift. Damit geht Keith hier freilich deutlich andere Wege als die meisten Quaker. Vgl. Sünne Juterczenka: Über Gott und die Welt. Endzeitvisionen, Reformdebatten und die europäische Quakermission in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2008, 147. Conway zeigt sich, auch hierin den ihr nahe stehenden frühen Quakern ähnlich, von Böhme stark beeindruckt. Vgl. dazu The Conway Letters. The correspondence of Anne, Viscountess Conway, Henry More, and their friends; 1642–1684. Edited by Marjorie Hope Nicolson. Revised Edition with an Introduction and new Material edited by Sarah Hutton. Oxford 1992, 72, Anm. 1, 381. Conway studierte »the tracts of Behmenists, Familists, Seekers, and Quakers«.

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Wilhelm Leibniz, Beachtung, sondern auch im Kontext jener radikal-religiösen philadelphisch-pietistischen Bewegungen, die im Zentrum des vorliegenden Beitrags stehen.18 Vor diesen Hintergründen thematisiert der folgende zweite Teil der Untersuchung die Böhme-Rezeption der englischen Philadelphier. Wie die Namensgebung signalisiert, widmet sich die ›philadelphische‹ Bewegung der endzeitlichen Verwirklichung überkonfessioneller Bruderliebe. Im Selbstverständnis der Philadelphier markiert die mit ihnen beginnende ›Heilszeit‹ die Ablösung der nachreformatorisch–›sardischen‹ Epoche der Kirchengeschichte durch ein neues, ›philadelphisches Zeitalter‹.19 Die schon genannten führenden Philadelphier Pordage und Lead gelten zudem als die wichtigsten englischen Interpreten des deutschen Barockspiritualismus und insbesondere der Mystik Böhmes.20 In knapper Form soll nun zunächst Pordages Position skizziert werden. Denn der suspendierte Theologe und Mediziner Pordage fungiert gleichsam als ›Brücke‹ von den religiösen Radikalen im ›Interregnum‹ zur Böhme-Rezeption der Philadelphier. Schon früh steht Pordage mit wichtigen spiritualistischen Denkern in Kontakt. Zu diesen zählt der gelehrte Neuplatoniker und Alchimist, Theologe und Cusanus-Kenner John Everard (ca. 1582–ca. 1640), der Ficinos lateinische Poimander-Übersetzung, einen Grundtext der Hermetik, begeistert ins Englische überträgt.21 Über seine hermetisch-alchimistisch inspirierte Naturphilosophie steht Everard mit anderen Gelehrten, wie beispielsweise Elias Ashmole, in engem

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Sie war vor allem fasziniert von den Schriften Hendrik Niclaes’ und Jacob Böhmes. Vgl. ebd., 382. Der Kontakt zwischen Leibniz und Conway verläuft überwiegend durch Vermittlung van Helmonts. Zu Conway und Leibniz, der u. a. hinsichtlich des Monadenbegriffs auf Conway zurückgreift, vgl. Albert Heinekamp: Leibniz und die Mystik. In: Gnosis und Mystik (Anm. 12), 183–206, hier: 188 f. Zum Verhältnis von Conway, Leibniz und Petersen vgl. den letzten Teil des vorliegenden Beitrags. Vgl. Schneider (Anm. 3), 405. Zu dieser Einschätzung vgl. die entsprechenden Hinweise und Analysen von Nils Thune: The Behmenists and the Philadelphians. A Contribution to the Study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries. Uppsala 1948; Friedhelm Kemp: Jakob Böhme in Holland, England und Frankreich. In: Studien zur europäischen Rezeption deutscher Barockliteratur. Hrsg. v. Leonard Forster. Wiesbaden 1983, 211–226; Schrader (Anm. 3), 65. Ausführlichere Untersuchungen und Analysen zu Positionen der englischen Philadelphier finden sich bei Cersowsky (Anm. 2), 191–219, sowie im Kontext neuerer literaturwissenschaftlicher Böhme- und Pietismusforschung in Burkhard Dohm: Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus. Tübingen 2000, 131–186. Zu den zentralen (keineswegs ausschließlich an Böhme orientierten) Denkkonzepten der englischen Philadelphier und ihren Wirkungen im deutschen Pietismus vgl. auch Dohm: ›Götter der Erden‹: Alchimistische Erlösungsvisionen in radikalpietistischer Poesie. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Anne-Charlotte Trepp u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, 189–204. John Everard: The divine Pymander of Hermes Mercurius Trismegistos. Translated out of the original into English by that learned divine, Dr Everard. London 1650. Diesen Text ergänzt Everard in der zweiten Auflage um die englische Übersetzung des Asclepius (London 1657), des zweiten Buches des Corpus hermeticum, vgl. Smith (Anm. 7), 114. Everards

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Austausch.22 Der als ›Familist‹ und ›Seeker‹23 verdächtigte sowie wegen angeblich pantheistischer Ideen verfolgte und inhaftierte Everard übersetzt zudem Texte des Mystikers Johannes Tauler und die spätmittelalterlich-mystische Schrift Theologia Deutsch, mehrere zentrale theologisch-philosophische Werke des in Deutschland und Italien wirkenden Kardinals Nikolaus von Kues, einen Text des Pseudo-Dionysius Areopagita sowie Schriften des humanistisch gebildeten, zeitweilig dem Täufertum zugehörigen Hans Denck und des auch für Böhme wichtigen Spiritualisten Sebastian Franck.24 Deutliche Einflüsse der von Everard übersetzten Werke sind in seinen Predigten nachweisbar, in denen er auch Porphyrios und Plotin zitiert.25 Everard leistet mithin einen zentralen Beitrag zur Anglisierung der Anthropologie deutscher mystischer und spiritualistischer Denkpositionen vom späten Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert und bereitet somit auch die folgenreiche Aufnahme von Jacob Böhmes Schriften in England vor. Aus der Sicht kirchlicher und staatlicher Autorität gilt Everard als besonders gefährlich, da er mit seiner außergewöhnlichen Gelehrtheit zugleich eine größtmögliche Breitenwirkung seiner Ideen in allen Bevölkerungsschichten intendiert, nämlich von ihm gleichgesinnten Adligen bis hin zu den »Tinkers, Coblers, Weavers, [and] Poor sleight Fellows«.26 Zu Pordages spiritualistischen Kontakten zählt weiterhin der Sektierer Thomas Tany, dessen exzentrisch-prophetischer Gestus an Böhme erinnert.27 In Pordages Schülerkreis findet sich zudem schon seit 1651 der Quaker und spätere wichtige Philadelphier Thomas Bromley, der sich aufgrund einer Predigt Pordages in Oxford diesem anschließt. Bromleys zentrale Schrift The Way to the Sabbath of Rest erinnert in manchen Zügen an Böhmes Konzept der ›Magia

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Übersetzung beider Texte folgt Marsilio Ficinos lateinischer Übertragung des Corpus hermeticum in der Ausgabe von 1576, vgl. Smith (Anm. 7), 121. Vgl. Smith (Anm. 7), 110. Was den Verdacht des Familismus betrifft, vgl. zu Everard auch Marsh (Anm. 9), 237. – Der englische Begriff ›Seekers‹ steht für solche Spiritualisten, die eher vereinzelt auftreten. Vgl. Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500–1800. Göttingen 2000, 270. Zur den hier angeführten Übersetzungen Everards vgl. Smith (Anm. 7), 112–122, zu den Wirkungen dieser Übersetzungen vgl. ebd., 132 ff., zum oben angesprochenen PantheismusVorwurf gegen Everard ebd., 114. Neben den ersten Büchern des Corpus hermeticum übersetzt Everard insbesondere zentrale Werke des Cusanus: De visione dei, Idiota de mente und De dato Patris luminum, vgl. ebd., 115 u. 120 f., sowie T. W. Hayes: The Seventeenth Century Translation of Nicholas of Cusa’s ›De dato Patris luminum‹. In: Journal of Medieval and Renaissance Studies 11 (1981), 113–136. – Texte von Hans Denck finden sich in Everards Übertragung der Theologia Deutsch. Everard übersetzt zudem auch alchimistische Schriften. Er leugnet die Existenz eines ewigen Höllenortes, die ›Hölle‹ gilt ihm vielmehr als innerer Zustand im irdischen Individuum. Everard glaubt nicht an die christliche Konzeption der Auferstehung, denn nach seiner Überzeugung, die hier den Auffassungen der Philadelphier nahe ist, wandeln sich am Ende alle Dinge in Gott. Vgl. Smith (Anm. 7), 113 f. Eine Sammlung von Everards Predigten, die auch das Manuskript seiner Franck-Übersetzung enthält, erscheint postum zunächst unter dem Titel: Some Gospel-Treasury Opened […]. 2 Parts. London 1653, dann erneut mit modifiziertem Titel: The Gospel-Treasury Opened. London 1657 sowie in einer weiteren Auflage 1659. Everard, The Gospel-Treasury (Anm. 25), 86. – Aufgrund seiner radikal-religiösen Einstellungen verliert der in Cambridge promovierte Everard schon früh sein Amt als ›Lecturer at St. Martin-in the Fields‹, Smith (Anm. 7), 111. Vgl. ebd., 56, 214ff, 299 ff.

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divina‹, wenngleich Böhmes Name in diesem Werk nicht genannt wird. Einflüsse Böhmes treten später in einer anonym erschienenen deutschen Übersetzung dieser Schrift markanter hervor als in Bromleys ursprünglichem Text.28 Ab 1662 versammelt Pordage einen kleinen böhmistischen Kreis in London, dem bald die politisch-pazifistisch orientierte, von den radikal-religiösen Quinto-Monarchisten unterstützte Seherin Anna Trapnel29 sowie die Visionärinnen Ann Bathurst30 und Jane Lead angehören. Aus diesem Zirkel entwickelt sich schließlich die Londoner ›Philadelphian Society‹. In seinen Schriften präsentiert sich Pordage, im Sinne Böhmes, als Adept der göttlichen Sophia, die er unter anderem als Wurzel des Lebens bezeichnet.31 Im deutlichen Anklang an Böhmes Bildwelt entfaltet Pordage seine von Hermetik und Alchimie sowie durch apokryphe Schriften inspirierte Sophien-Lehre.32 Zudem entwirft er an Böhme orientierte kosmogonische und kosmologische Konzeptionen. Von Pordages Hauptwerken sind die umfangreiche Göttliche und Wahre Metaphysica und seine Sophia-Schrift nur noch in deutscher Übersetzung erhalten; ebenso wie diese beiden Werke, so zeigt auch seine Theologia Mystica deutlich böhmistische Grundlagen.33 Fungiert Sophia bei Böhme als ›Spiegel Gottes‹, so zeigt sie sich bei Pordage, wie auch bei Lead, als anthropomorph gestaltete, ›weiblich‹-visionäre Erscheinung.34 28

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Thomas Bromley: The Way to the Sabbath of Rest. Or, the souls Progresse in the work of regeneration. London 1655; dt. Übers. (anon.): Der Weg zum Sabbath der Ruhe, durch der Seelen Fortgang im Werck der Wiedergeburth […]. Amsterdam 1685. Bromleys Hauptschrift wird im deutschen radikalen Pietismus vor allem von Gottfried Arnold hoch geschätzt. Vgl. Cersowsky (Anm. 2), 94 ff., 263. Zu Trapnel vgl. Nigel Smith (Anm. 7), bes. 49–53. Vgl. die in Oxford befindlichen Visionsbeschreibungen Bathursts von 1679: Bodleian Library MS Rawlinson D1338, ihre Visionsbeschreibungen 1679–1693: Bodleian Library MSS Rawlinson D1262–D1263. Als Beispiel einer für Bathurst typischen, gesteigert erotischen Gottesvision vgl. Bodleian Library MS Rawlinson D1262, 45. Zu Pordages Sophien-Bildlichkeit und zum Konzept der ›Seelenwurzel‹ vgl. Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 138 ff. Vor allem zu Hermetik und Alchimie bei Pordage vgl. Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20). Als ein wichtiger Quellentext, der gemeinsam durchgeführte alchimistische Experimente Pordages und Leads dokumentiert, sei hier angeführt: John Pordage: Ein Gründlich Philosophisch Sendschreiben vom rechten und wahren Steine der Weißheit […]. In: Theologia Mystica, oder Geheime und verborgne göttliche Lehre von den Ewigen unsichtbarlichkeiten […]. Amsterdam 1698, hier: 267–281. Vgl. John Pordage: Göttliche und Wahre Metaphysica, oder Wunderbahre/ durch eigene Erfahrung erlangte Wissenschaft der unsichtbaren und ewigen Dinge […]. Bde.I-III. Frankfurt a. M./Leipzig 1715; ders.: Sophia: das ist/ die Holdseelige ewige Jungfrau der Göttlichen Weisheit […] Amsterdam 1698; ders.: Theologia Mystica, or the Mystic divinite of the aeternal invisibles […]. London 1683. Vgl. auch Gibbons (Anm. 11), 113. – Zur ›Sophia‹-Schrift Pordages vgl. die ausführliche Analyse in Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 134 ff., zu Lead vgl. das Folgende. – Hingewiesen sei auch auf Pordages Sohn Samuel, der im Jahre 1661 ein böhmistisch inspiriertes kosmogonisches Gedicht mit dem Titel Mundorum explicatio (London 1661) vorlegt. In diesem Text gestaltet Samuel Pordage vor allem Böhmes Themen der ›Heiligen Hochzeit von Himmel und Erde‹, der ursprünglichen Androgynität Adams sowie der Sophiologie. Aufgrund der starken Böhme-Bezüge schreibt Thune diesen Text Samuel und John Pordage gemeinsam zu, vgl. Thune (Anm. 20), 79 f.

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Während Pordage die Philadelphier als einen eher ›verdeckt‹-privaten Zirkel führt, wird die ›Philadelphian Society‹ durch Jane Lead schließlich öffentlich gegründet. Der ›Prophetin‹ Lead, die als Leiterin der Sozietät fungiert, gelten die weiteren Darlegungen in diesem Beitragsteil.35 Wie schon Pordage, so greift auch Lead Ideen Böhmes umgestaltend auf. So führt Lead die Sozietät im Sinne von Böhmes Konzept der eschatologischen ›Lilienzeit‹ sowie im Sinne seiner philadelphisch interpretierten Forderung, die wahren ›Kinder Gottes‹ aus allen christlichen Kirchen zu sammeln.36 Frühere Versuche zur Gründung philadelphischer Gemeinden in Deutschland – etwa durch den Spiritualisten Paul Felgenhauer sowie durch den zeitweilig mit Gottfried Arnold befreundeten ›Engelsbruder‹ und Böhme-Herausgeber Johann Georg Gichtel – waren weithin gescheitert.37 Leads Gründung der englischen Sozietät wirkt sich nun auch in Deutschland und Holland aus sowie bei Pietisten und sogenannten Inspirierten in Frankreich und der Schweiz.38 Böhme bildet den Dreh- und Angelpunkt der von den Philadelphiern vornehmlich intendierten Rückwirkung ihrer Ideen auf das Land ihrer tiefsten ›Wurzel‹, die sie, im Rekurs auf Böhmes Aurora, als ihre »German Root« bezeichnen.39 Leads Schriften bilden ein umfangreiches Korpus von rund 3 500 Seiten. Von ihren programmatischen Texten wurden vor allem The Heavenly Cloud Now Breaking und Revelation of Revelations im deutschen Radikalpietismus intensiv rezipiert.40 Leads Hauptwerk ist ihr etwa 2 500 Seiten umfassendes Visionstage35

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Zu Lead – unter dem für sie grundlegend wichtigen Aspekt der Alchimie – vgl. Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 153–186. Im Unterschied zu dieser Studie bildet im vorliegenden Beitrag die Frage der Böhme-Rezeption den zentralen Leitaspekt der Untersuchung. Im Folgenden wird gleichwohl verschiedentlich auf das Lead-Kapitel des Buches verwiesen. Vgl. u. a. Erich Beyreuther: Geschichte des Pietismus. Stuttgart 1978, 28. Vgl. Schrader (Anm. 3), 64, 251. Der Versuch, die deutschen Philadelphier durch den in England weilenden deutschen LeadAnhänger Johann Dittmar auf die Annahme gleicher, in der englischen Sozietät geltender böhmistischer Glaubensüberzeugungen zu verpflichten, misslingt, vgl. Schrader (Anm. 3), 65 sowie Claudia Wustmann: Die »begeisterten Mägde«. Mitteldeutsche Prophetinnen im Radikalpietismus am Ende des 17. Jahrhunderts. Leipzig 2008, 102. Dittmars Reiseinstruktionen wird ein aufschlussreicher ›Catalogus amicorum in Germania‹ beigefügt, der deutsche und niederländische Freunde und Förderer der philadelphischen Bewegung aufführt. Vgl. Thune (Anm. 20), 125 f. In der bei Thune wiedergegebenen Liste finden sich u. a. der Quedlinburger Hofprediger Johann Heinrich Sprögel und seine Gattin, Gottfried Arnold, Johann Wilhelm Petersen, die von Petersen unterstützte ›Prophetin‹ Rosamunde Juliane von Asseburg, der mit dem englischen Chiliasten Thomas Beverly verbundene, philadelphischen Ideen und ihren internationalen Verbreitungskonzepten sehr zugängliche Offenbacher Hofprediger Conrad Bröske, Johann Heinrich Reitz, der radikalpietistische Separatist Henrich Horch und auch der eher kirchenorientierte Philipp Jacob Spener, der als eigentlicher Begründer des deutschen Pietismus gilt. – Zu den radikal-religiösen Gruppierungen der französischen Inspirés sowie des schweizerischen Pietismus im Kontext ihrer jeweiligen Rezeptionen Böhmes und des englischen Philadelphiertums vgl. Isabelle Noth: Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743). Göttingen 2005. Vgl. Cersowsky (Anm. 2), 193. Jane Lead: The Heavenly Cloud Now Breaking. London 1681; dies.: The Revelation of Revelations particularly as an essay towards the unsealing, opening and discovering the Seven Seals, the Seven Thunders, and the New-Jerusalem State […]. London 1683. Die beiden hier

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buch (›spiritual diary‹) mit dem Titel A Fountain of Gardens, dessen Inhalt Lead angeblich »as in […] Trance« empfing.41 Schon der Titel des Tagebuchs weist im Sinne von ›Wisdom’s Fountain‹ (›Brunnquell der Weisheit‹) auf Böhmes Konzept der Sophia, die im Denken Böhmes als Medium der ›Magia divina‹, der ›göttlichen Magie‹, fungiert.42 Leads geistliches Tagebuch enthält ein langes Gedicht mit dem Titel Solomon’s Porch,43 es stammt von einem Vertrauten Leads, dem philadelphischen Poeten Richard Roach. In diesem Gedicht werden Leads Visionen aufschlussreich perspektiviert. Böhme erfährt hier höchste Verehrung als »Fountain of Science, Art, and Mystery«.44 Die englischen Philadelphier, so wird im Folgenden deutlich, sehen den zentralen, aktuellen ›Ort‹ der Lehre Böhmes im Kontext damals vielfältiger Forschungs- und Wissensverzweigungen von ›mechanistisch‹ orientierter ›New Science‹ mit Theologie und Theosophie sowie hermetischer Naturforschung.45 Böhmes Denken verbinde Aristoteles und Platon sowie René Descartes und dessen Schüler Nicolas Malebranche einerseits mit dem ›göttlich-magischen‹ Wis-

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genannten sowie auch zahlreiche weitere Texte Leads wurden vor allem seit den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts in Amsterdam meist zeitnah ins Deutsche übersetzt und publiziert. Die deutschen Titel der erwähnten Schriften sind: Jane Lead: Die nun brechende und sich zertheilende Himmlische Wolcke […]. Amsterdam 1694; dies.: Offenbahrung der Offenbahrungen. Vornehmlich als ein Muster und Probe zur Entsiegelung/ Offenbahrung und Erklärung der Sieben Siegel/ sieben Donner und eigentlicher Beschaffenheit und Zustands des neuen Jerusalems […]. Angehängt an: dies., Himmlische Wolcke (s. o.). Jane Lead: A Fountain of Gardens Watered by the Rivers of Divine Pleasure […]. 3 Tle. London 1696–1701, hier: Tl. 3, 324. Zeitnah erscheinen deutsche Übersetzungen der Bände des Visionstagebuches, Lead: Ein Garten-Brunn Gewässert durch die Ströhme der göttlichen Lustbarkeit […] in drey Theilen […]. Tl. I u. II. Amsterdam 1697; dies.: Des Durch die Ströhme der Göttlichen Lustbarkeit gewässerten Garten-Brunnens Dritten und letzten Theils Erster Theil […]. Dritten […] Theils Zweyter Theil. Amsterdam 1700. Vgl. Cersowsky (Anm. 2), 204. Roach (Anm. 1). Das umfangreiche Gedicht umfasst 23 Seiten (unpaginiert) und ist dem Text von Leads Visionstagebuch vorangestellt. Als Autor wird am Ende des Gedichts ›Onesimus‹ genannt, ein im philadelphischen Kontext bekanntes und geläufiges Synonym für den nahen Lead-Vertrauten Richard Roach’ vgl. etwa Bodleian Library MSS Rawlinson 832, 833, wo die Bezeichnung vielfach eindeutig konnotiert auftaucht. Roach (Anm. 1), 4. Böhme wird in diesem Kontext zudem als »Tutor to Sages« apostrophiert, ebd., 3. Zu der mit dieser Situierung zugleich angesprochenen denkgeschichtlichen Konstellation der sog. Third Force ›zwischen‹ Rationalismus und Empirismus und dem für dieses Gelehrten-›Netzwerk‹ typischen Streben nach universalem Wissen vgl. grundlegend Richard H. Popkin: The Third Force in Seventeenth-Century Thought. Leiden/New York 1992. Popkin beschäftigt sich in dieser Studie unter anderem mit Autoren (nicht nur der ›Third Force‹) wie Descartes, Leibniz, Malebranche, Newton, Boyle, Henry More, Comenius, Hartlib und auch Böhme; zu Böhme vgl. hier: 275 f. Viele dieser von Popkin behandelten Denker werden auch im Text des hier analysierten philadelphischen Gedichts sowie in den weiteren Ausführungen des vorliegenden Beitrags zur Böhme-Rezeption in Philadelphiertum und Pietismus sowie bei den Cambridge Platonists thematisiert, vgl. dazu das Folgende. Interessant ist hier zunächst, dass die englischen Philadelphier, die Popkin nicht in seine Darlegungen einbezieht, im vorliegenden repräsentativen Roach-Gedicht am Beispiel des Mystikers Böhme und seiner Wirkungen die von Popkin beschriebene denk- und wissenschaftsgeschichtliche Konstellation markant widerspiegeln.

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sen des ›Hermes Trismegistos‹ sowie andererseits mit der am mechanistischen Modell orientierten ›New Science‹.46 Als Vertreter der ›New Science‹ wird im philadelphischen Gedicht der Chemiker Robert Boyle (1627–1691) angeführt: Boyle, so heißt es, sei wie auch Descartes in Böhmes Schriften »in jeder Zeile« (»in ev’ry line«) präsent.47 Eine solche, zunächst irritierende Zuordnung des Naturforschers Boyle beruht darauf, dass dieser als Mitbegründer der Royal Society, der ältesten englischen Akademie der Wissenschaften, zugleich mit größtem Nachdruck alchimistische Interessen verfolgt.48 Gerade die Erforschung der bei Böhme präsenten Arkana der Alchimie erscheint Boyle vor allem aufgrund seines millennaristischen Denkens besonders dringlich. So glauben etwa Boyle und Newton, durch Erkenntnisfortschritte in ihrer Naturforschung und auch in der Alchimie den von ihnen erwarteten Beginn des Millenniums aktiv zu beschleunigen.49 Diese, auf eine entsprechende eschatologische Weissagung im Buch Daniel (12,4) gestützte, millennaristische Deutung sprunghaft steigender naturwissen46

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Roach (Anm. 1), 4. Ein kühner gedanklicher Bogen setzt Böhme ebenso in Relation zu den beiden Hauptvertretern der antiken griechischen Philosophie sowie zum Cartesianismus und der New Science des 17. Jahrhunderts. In gleich intensiver Weise sei Böhme zudem (faktisch u. a. durch offenkundige Affinitäten seines Denkens zu Paracelsus und zum Paracelsismus begründbar) mit den hermetischen Künsten der Magie, der Alchimie und der Astrologie verbunden, als deren angeblicher Begründer der im Gedicht genannte ›Hermes Trismegistos‹ figuriert. Zum Kontext der Hermetik sowie zu den mannigfachen Verbindungen von Hermetik und (Natur-)Wissenschaften in der Frühen Neuzeit (bis ins 18. Jahrhundert) vgl. grundlegend Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20). – Durch seine Arbeit an Böhmes Schriften sieht sich auch der bereits erwähnte zentrale englische Böhme-Übersetzer Sparrow im Dienst der Gewinnung und Verbreitung universaler Welterkenntnis. Denn Böhme, so Sparrow, erkläre die ›Mysterien der Alten‹, setze das Werk Bacons von einer ›Natural Philosophy‹ zu einer ›Divine Experimental History‹ fort und vollende die ›Pansophie des Comenius‹ ebenso wie die Naturwissenschaft Descartes‹. Vgl. hierzu Wilhelm Struck: Der Einfluss Jacob Böhmes auf die englische Literatur des 17. Jahrhunderts. Berlin 1936, 209 f. Roach (Anm. 1), 4. Boyle war u. a. Mitbegründers des Oxforder ›Invisible College‹, aus dem die ›Royal Society‹ hervorging. Popkin verweist auf Boyles Konzept der Kompatibilität und gegenseitigen Beförderung von Religion und Wissenschaft und konstatiert u. a.: »The great scientist Robert Boyle, who was one of the originating spirits of the Royal Society, and who financed a lot of the scientific research of the time, left some of his vast riches for an annual series of lectures on the harmony of religion and science.« Popkin (Anm. 45), 297. Zur Bedeutung der Alchimie für Boyle vgl. u. a. L. M. Principe: The Aspiring Adept. Robert Boyle and his Alchemical Quest. Including Boyle’s ›lost‹ Dialogue o the transmutation of metals. Princeton 1998 sowie ders.: Robert Boyle’s Alchemical Secrecy: Codes, Ciphers and Concealments. In: Ambix 39 (1992), 63–74. Vgl. dazu Kaspar von Greyerz: Wissenschaft, Endzeiterwartung und Alchemie im England des 17. Jahrhunderts. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis (Anm. 20), 205–217, hier: 212 ff. Wie Popkin anführt, glauben Henry More, Boyle und Newton an die Endzeitprophetie Daniels (Dan 12,4), »that knowledge would increase at the time of the end«; für die genannten Gelehrten gilt nun gerade die »scientific revolution as a visible sign« für die Erfüllung dieser Prophetie in der angeblichen ›Endzeit‹ ihrer eigenen Gegenwart, Popkin (Anm. 45), 291. Aus der Sicht der von Popkins Forschungen angeregten, aktuellen historischen Konstellationsforschung vgl. zum Themenkomplex von ›Endzeit‹ und (Natur-)Wissenschaft auch Martin Mulsow: Metaphysikentwürfe im Comenius-Kreis 1640–1650. Eine Konstellationsskizze. In: Konstellationsforschung (Anm. 4), 221–257; so heißt es hier: »Oftmals war bei der ›Third Force‹ das enzyklopädische Streben nach einem universalen Wissen mit

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schaftlicher und spiritueller Erkenntnis wird auch im philadelphischen Gedicht mit Nachdruck propagiert: Im millennaristischen Kontext sei Böhmes ›göttliches Wissen‹ durch Leads Visionen neu zu verstehen. Um aktuell seine volle Wirksamkeit zu entfalten, bedarf Böhme – aus philadelphischer Sicht – zunächst der klaren Sprache. Im Gedicht wird daher Edward Taylor (gest. Dublin 1684) als zentraler Böhme-Interpret gewürdigt.50 Sein hier gepriesenes Werk Jacob Behmen’s Theosophick Philosophy Unfolded (1691)51 ist ein auf Sparrows wortgetreuer Böhme-Übertragung basierendes umfangreiches Brevier. Der in Böhmes ›dunklen‹ Schriften verborgene ›Rohdiamant‹ seiner Mystik erscheine erst durch Taylors ›klaren Stil‹ (»clear Stile in each Transparent Line«) geschliffen und werde hier mithin in seiner vollen ›Leuchtkraft‹ wirksam: Jede Seite von Taylors Böhme-Brevier ströme von Licht (»Each page outstreaming Light«) und entfache göttliche Liebe (»kindling Love Devine«).52 Die hier zutage tretende göttliche Wirkkraft Böhmes beansprucht Lead auch für ihre im Folgenden berichteten Visionserfahrungen.53 Das philadelphische Gedicht und die Visionen Leads gestalten das nahende Millennium und die Restituierung der Schöpfung als göttlich-magisch wirkende »Universal Cure«54. Im Anklang an Böhme entfaltet sich im Sinne eines solchen Heilsgeschehens ein kosmischer Läuterungsprozess in paracelsisch-hermetischer Tradition, der zunächst in einer weiteren Passage des thematisierten Roach-Gedichts im Blick auf Leads Visionen vorab programmatisch entfaltet wird: Der von ›Schlacken‹ durchsetzte irdische Mensch (»Man’s Earth and drossy Mold«) werde – in Böhmes und Leads alchimistischer Bildwelt – in ›perlenen Sophienglanz‹ (»Pearly Beauty«)55 und ›lebendiges Gold‹ (»Living Gold«) ›transmutiert‹ (»transmute«).56

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millennaristischen Hoffnungen und Berechnungen verknüpft: das kommende tausendjährige Reich werde auch das Reich des wieder in eine Einheit überführten Wissens sein.« (224). Zu Taylor vgl. Roach (Anm. 1), 5. Edward Taylor: Jacob Behmen’s Theosophick Philosophy Unfolded in Divers Considerations and Demonstrations […]. London 1691. Die Schrift Taylors enthält unter anderem einleitend kommentierte (1–41) Auszüge aus Böhmes Principal Treatises sowie Antworten auf von Böhme formulierte Fragen (»177 Theosophick Questions«), die dieser, wie Taylor sagt, »Devinely Instructed Author« vor seinem Tod nicht mehr selbst beantworten konnte. Zu diesen Fragen und Taylors Antworten vgl. ebd., 40–218. Die erwähnten, im Band versammelten Auszüge aus zentralen Schriften Böhmes – wie Aurora, Signatura rerum, Mysterium Magnum u. a. – umfassen die Seiten 241–423. Der Band schließt mit einer an Durand Hotham orientierten Kurzbiographie Böhmes, 424–434 (›Extracts of the Life of Jacob Behmen‹). Roach (Anm. 1), 5. Vgl. dazu auch Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 162. Roach (Anm. 1), 21. Die im Folgenden zu untersuchende Gedichtpassage umfasst die Seiten 20 f. Vgl. im hier angesprochenen alchimistischen Kontext ausführlicher Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 156 ff. sowie bes. 170 ff. Das im Text implizierte, nicht zuletzt auch biblisch konnotierte Bild der Perle, auf das Roach im Gedicht und Lead in ihren Visionsbeschreibungen mehrfach rekurrieren, macht Böhme bereits in seiner früh gedruckten Schrift Christosophia für die Sophien-Mystik fruchtbar. Zu den hier wichtigen weiteren Anspielungshorizonten des vor allem in mystischer Theologie und Alchimie virulenten Perlenbildes vgl. ausführlich Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20), 170–175. Roach (Anm. 1), 21.

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Über Böhme hinausführend, fungiert Sophia bei Lead als ›weiblicher‹ Aspekt der Gottheit, Lead bezeichnet sie ausdrücklich als »eternal Goddess«.57 Sophia sei von Ewigkeit her in der göttlichen Trinität verborgen. Dies verdeutlicht Lead, indem Sophia in ihren Schriften als ›Virgin Wisdom‹ in unauflöslicher Androgynie als weiblicher Anteil Christi erscheint.58 Mit Sophia als göttlicher Vermittlerin von Himmel und Erde entfaltet Lead ihre Visionen in deutlich chiliastisch geprägter Perspektive. Sie erwartet eine Verwandlung des Irdischen, die sich schon vor der Wiederkehr Christi und dem Beginn des Tausendjährigen Reiches als spirituelle Transformation der Schöpfung manifestiere. Die Transformation des Irdischen betreffe, so Lead, auch ihren eigenen Leib, der noch vor ihrem Tod verwandelt werde.59 Im Kontext entsprechender Darlegungen greift Lead in den Visionsberichten ihres Fountain of Gardens folgerichtig erneut das Perlenbild aus Böhmes Christosophia auf. In eigenwillig radikalisierender Umdeutung von Böhmes Sophien-Konzept werde zu Beginn der ›Neuen Schöpfung‹, wie die Autorin selbstbewusst hofft und sogar von Gott fordert, die Prophetin Lead im alchimistisch verwandelnden Perlenglanz des Sophien-Lichtes erstrahlen, das mithin zuerst in England aufscheint: O my God, when wilt thou set afoot the Beginning of this New Creation? O who shall be the First Subject [of the New Creation] which Thou, O all pure Coelestial Stone, wilt make Projection upon? For I do know Thee for to be that high Tincturing Sol, whose Fiery Streams are so penetrating, that all gross and course Matter, which Thou passes through, turned is into a fine and transparent Quality. […] Never shall I think myself secure of Thee, till Thou [Oh my Lord] hast dissolved me into Thy self. [Thou] canst bring down the utmost Degrees of Glory, by manifesting Thy self in my Mortal Flesh […].60 57

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Lead, Revelation (Anm. 40), 39. Zur besonderen Betonung der Weiblichkeit Sophias im Spektrum des Göttlichen vgl. auch das Kapitel ›The Female Embassy‹ in: Gibbons (Anm. 11), 142 ff. Stärker noch als Gibbons betont Julie Hirst aus feministischer Sicht diverse Aspekte des Weiblichen in ihrer Lead-Biographie, Julie Hirst: Jane Leade. Biography of a Seventeenth-Century Mystic. Aldershot 2005, etwa 67 ff. Dass jedoch, wie von Hirst behauptet, die Kräfte Sophias in Leads Apokatastasis-Konzeption die Kräfte Christi übersteigen (ebd., 68), bleibt in ihrer Untersuchung unbelegt. Hirsts (zumindest in diesem Punkt) übertriebene Einschätzung mag hier, wie auch an anderen Stellen, auf sachlichen Defiziten ihrer Studie im theologischen Feld beruhen. Hirst unterscheidet beispielsweise auch nicht hinreichend zwischen den für Leads Anschauungen grundlegenden Konzepten des ›Chiliasmus‹ und der ›Apokatastasis panton‹, vgl. ebd. et passim. Lead, Fountain (Anm. 40), 125. Vgl. hierzu auch Jane Lead: A Living Funeral Testimony, Or Death Overcome, and Drown’d in the Life of Christ […]. London 1702. Lead verfasst diese Leichenpredigt schon vorab auf ihren eigenen Tod als 80-jährige, inzwischen erblindete Frau, die in ihrem – demnächst freilich verwandelten und geheiligten – irdischen Körper den Beginn der tausendjährigen Herrschaft des wiederkehrenden Christus auf Erden erwartet. Die Idee einer solchen chiliastischen Erlösungserwartung als »Redemption as well for the Body, as for the Soul and Spirit« durchzieht die gesamte hier genannte Schrift (zit. 26). Lead, Fountain (Anm. 40), Bd. III, Tl. 2 (1701), 293 f. Die hier von Lead unter anderem entfaltete Vorstellung von Christus als dem die Erlösung bewirkenden ›himmlischen Stein der Weisen‹ (»pure Coelestial Stone«, ebd.) ist in mystisch-alchimistischer Literatur der Frühen Neuzeit weit verbreitet, zur sog. Lapis-Christus-Parallele vgl. Karl Hoheisel: Christus und der philosophische Stein. Alchemie als über- und nichtchristlicher Heilsweg. In: Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der frühen Neuzeit. Hrsg. v.

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Von der starken, angeblich Gott bezwingenden Kraft ihrer Liebe, die Lead als ›Braut Christi‹ so flammenhell brennend in sich empfindet, heißt es in diesem Kontext an anderer Stelle: »[T]hat vehement Strength of Love […] goes forth from my Heart as a Fire-Ball […].«61 Über den von Lead hier mit Nachdruck entfalteten Chiliasmus hinausführend, profiliert die Autorin im Weiteren ihre auf Origenes gründende Lehre von der ›Apokatastasis panton‹, die ihr wiederum direkt von Gott offenbart worden sei.62 Es handelt sich hier um die durch Lead adaptierte ›Allversöhnungslehre‹ des Origenes, welche die ›Wiederbringung aller Kreaturen‹ durch die Liebe Gottes am Ende der Zeiten verkündet. Da diese Lehre die Möglichkeit ewiger Höllenstrafen leugnet, wird sie in augustinischer Denktradition streng verurteilt. Als Gedankengut der ›Wiedertäufer‹ und ›Schwenckfelder‹ wird die ›Apokatastasis panton‹ schließlich auch in der protestantischen Confessio Augustana als ›häretisch‹ verdammt.63 Denn sie widerspricht eklatant der Vorstellung altprotestantischer Orthodoxie von der ›annihilatio mundi‹, der Vernichtung der Welt am Ende der Zeit.64 In ihrem Allversöhnungs-Denken tritt Lead mit dem ihr eigenen Selbstbewusstsein als hohe ›göttliche Prophetin‹ in einen ausdrücklichen Gegensatz zu Böhmes Eschatologie.65 In der Schrift von den ›Acht Welten‹ (The Eight Worlds, 1695), die mit Visionen vom Reich der ›stillen Ewigkeit‹ schließt, entfaltet Lead ihre Allversöhnungslehre, indem sie Bild- und Denkmuster Böhmes zitiert, die jedoch in ihrem ursprünglichen Sinn bei Böhme der Idee der Apokatastasis widersprechen. Lead bestätigt hier zunächst den Denkansatz Böhmes, der die Prinzipien des ›Licht-Feuers‹ und des ›finsteren Feuers‹ von Ewigkeit her in Gott vereint. Obwohl bei Böhme das Böse als ›ewig‹ erscheint, erwartet Lead im Widerspruch dazu dessen einstige Eliminierung. Denn unter dem Begriff des ›Ewigen‹ versteht Lead lediglich eine ›sehr lange Zeit‹.66

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Christoph Meinel. Wiesbaden 1986, 61–84. Zur hier vorliegenden alchimistischen Selbststilisierung Leads vgl. auch das Lead-Kapitel in Dohm, Poetische Alchimie (Anm. 20). Lead, Fountain (Anm. 40), Bd. III, Tl. 2 (1701), 290. Vgl. Jane Lead: Die Wunder der Schöpfung Gottes Geoffenbaret in Acht Unterschiedenen Welten […]. Amsterdam 1696. Im Unterschied zu den übrigen in diesem Beitrag zitierten Texten Leads, die mir sowohl im englischen Original als auch in den im radikalen Pietismus rezipierten deutschen Übersetzungen vorlagen, war die hier genannte Schrift Leads von den ›Acht Welten‹ lediglich in der deutschen Übertragung greifbar, die deshalb an dieser Stelle zugrunde gelegt wird. Dem Apokatastasis-Denken des Origenes liegt letztlich die alte stoische Konzeption zyklischer Weltperioden zugrunde. Vgl. hierzu sowie zur Adaptation der origenistischen Apokatastasis-Lehre im radikalen Pietismus Dohm, ›Götter der Erden‹ (Anm. 20), hier bes. 199 ff. Vgl. dazu auch Kurt Flasch: Philosophie hat Geschichte. Bd 1: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart. Frankfurt a. M. 2003, 33 f. Mit der von Lead weiter entwickelten Apokatastasis-Lehre weist die englische Philadelphierin explizit über Böhme hinaus. Böhme selbst entfaltet bekanntlich keine Apokatastasis-Lehre; zu Böhmes Konzeption der Endzeit als »Rosen- und Lilienzeit« vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998, 560. Die Auseinandersetzung mit den hier genannten Prinzipien Böhmes liegt Leads gesamter Schrift von den ›Acht Welten‹ zugrunde. Zu Leads Böhme-Rekursen in diesem Kontext vgl. auch Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen

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In Leads Sicht der Apokatastasis unterliegen alle Kreaturen einem langen, aber zeitlich begrenzten Läuterungswerk, das sich allmählich in Stufen und Graden vollziehe. In ihren Visionen dringt Lead in die Tiefe der hier gemeinten ›Ewigkeit‹ vor:67 Die bei Böhme dem Blut Christi zugedachte alchimistische Läuterungskraft68 überträgt Lead auf ihr Konzept der Apokatastasis: ›Tingiert‹ von der Kraft dieses Blutes, erheben sich die nur scheinbar ›ewig‹ Verdammten aus dem Dunkel und kehren in Leads Vision ›mit neuen, hellen Leibern‹ (»new and bright Bodies«) in die göttliche Feuer- und Lichtwelt ein.69 Mit ihrem Konzept der ›universal salvation‹ leugnet Lead die Existenz ewiger Höllenstrafen und erwartet zudem, wie schon Origenes, die ›Wiederbringung der gefallenen Engel‹ und die Rettung Satans.70 Lead befürchtet gerade in diesem Punkt ablehnende Reaktionen befreundeter Böhmisten,71 da es in Böhmes Sicht insbesondere für Satan keinerlei Rettung gibt. Auf der Basis von Böhmes prophetischem Selbstverständnis vertritt daher Lead im Blick auf ihr eigenes Prophetentum die Idee eines markanten Fortschreitens direkter göttlicher Offenbarungen,

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Pietismus. Göttingen 2005, 276. Zu Leads Ewigkeitsbegriff bzw. zu der von Lead für den Apokatastasis-Prozess angesetzten, über das Millennium der Herrschaft Christi auf Erden hinausweisenden Zeitspanne von 8000 Jahren vgl. auch Lead: A Revelation of the Everlasting Gospel Message, which shall never cease to be Preach’d till the Hour of Christ’s Eternal Judgment shall come, whereby will be proclaim’d the Last-Love Jubilee, in order to the Restitution of the Whole Lapsed Creation […]. London 1697, 7, 17, 23. Zur einschlägigen visionären Erfahrung Leads vgl. ebd., 2 ff. Zur hier angesprochenen Vorstellung Leads von »Christ’s Redeeming Blood« vgl. Lead, A Revelation of the Everlasting Gospel (Anm. 66), 2 et passim. Leads Denken liegt hier Böhmes Konzeption der alchimistisch tingierenden und vergeistigenden Kraft des Blutes Christi zugrunde. Zur »göttlichen Kunst« dieses ›Erneuerungswerkes‹ bei Böhme vgl. Pierre Deghaye: Die Religionen und die eine wahre Religion bei Zinzendorf. In: Unitas Fratrum 14 (1983), 58–94, hier: 66 ff. Zu Böhme vgl. in diesem Zusammenhang auch ders.: La fleur du feu. La théosophie de Jacob Boehme. Paris 1983. Vgl. Lead, A Revelation of the Everlasting Gospel (Anm. 66), 2 f. In Leads Visionsbericht heißt es hier: »I saw numerous Spirits, as bright Flames flying […] swiftly into this Principle [of Light], being set free from their confinements, they were in. Whereupon, I being as a naked Spirit there, did query: What these were? And the LORD himself pronounced this Word: These are those, for which my Blood was shed, tho long involved and shut up as in the Second Death, having past through many Agonies and Anguishes: yet now see, how they are set free, and come here to be cloathed with new and bright Bodies.« (ebd.). Vgl. dazu erneut auch den dritten Teil des Beitrags Dohm, ›Götter der Erden‹ (Anm. 20), 199 ff. Zum Einschluss der »fallen Angels« in Leads Apokatastasis-Denken vgl. auch Lead: Enochian Walks with God, found out by a Spiritual-Traveller, whose Face towards Mount-Sion above was set. London 1694, 17 f., 21, 36, 37. Ihre entsprechende Auffassung sucht Lead durch einschlägige Visionen und Auditionen zu belegen, vgl. etwa Lead, A Revelation of the Everlasting Gospel (Anm. 66), 4. Sie verweist zudem auf Bibelstellen, die aus ihrer Sicht die ›Apokatastasis panton‹ andeuten, wie z. B. 1 Kor 25; diese und andere einschlägige Bibelstellen spielen in der Diskussion um die Apokatastasis immer wieder eine wichtige Rolle. Zu ihren Lebzeiten erst, so Lead, sei die Zeit zur öffentlichen Verkündigung dieser Lehre in ihrer vollen Ausprägung gekommen: »[N]ow is the Age and Time for its Publication.« (ebd., 5). Zu unterschiedlichen kritischen Einwänden gegen Aspekte ihrer Apokatastasis-Lehre vgl. Leads Stellungnahmen in selbiger Schrift, 13 ff. Wie schon erwähnt hat Böhme selbst – anders als viele seiner Anhänger – keine Apokatastasis-Lehre entwickelt.

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deren sich steigernde Dynamik auf die nahe Endzeit hindeute. Denn Gott habe ihr, so Lead, tiefe Geheimnisse offenbart, die selbst Böhme noch verborgen blieben: [W]hereas some highly illuminated, who have great Veneration for Jacob Behmen’s Writings do object, That he in his Principles seems to contradict this Universality as to the apostatiz’d Angels; I must own, that Jacob Behmen did open a deep Foundation of the Eternal Principles, and was a worthy Instrument in his Day. But it was not given to him, neither was it the Time for the unsealing of this Deep. God has in every Age something to bring forth of his Secrets […], as Age and Time grows ripe for it.72

Lead beansprucht mithin für ihre Visionen ein unmittelbar ›göttliches Wissen‹, dessen theosophische ›Tiefe‹ die Offenbarungen Böhmes entscheidend übertrifft. Die Reaktionen auf Leads Allversöhnungslehre sind gespalten: Sie wird nicht nur von orthodoxen Theologen, sondern auch von vielen Böhmisten und böhmistischen Philadelphiern abgelehnt. Der gelehrte anglikanische ›non-jurer‹ Henry Dodwell warnt den gelehrten Arzt und Philadelphier Francis Lee73 vor dem »seducing Spirit«, dem ›verführerischen Geist‹, der von Lead vertretenen Konzeption.74 Der Böhmist und enge Lead-Vertraute Roach hingegen fungiert als glühender Verfechter der Apokatastasis-Lehre.75 Trotz mancher negativen Reaktion bildet die Überzeugung von der ›Apokatastasis panton‹ einen zentralen Aspekt der vielseitigen persönlichen und konzeptuellen Vernetzung Leads und des englischen Philadelphiertums mit dem deutschen Radikalpietismus.

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Lead, A Revelation of the Everlasting Gospel (Anm. 66), 25. Francis Lee, Leads Schwiegersohn, stand u. a. in Kontakt mit dem Böhme-Herausgeber Johann Georg Gichtel sowie mit Pierre Poiret, dem ursprünglich cartesianisch orientierten Philosophen und späteren spiritualistischen Vertrauten der flämischen Mystikerin und Böhme-Adeptin Antoinette Bourignon. Vgl. zu Lee u. a. Gibbons (Anm. 11), 165 ff. Lee übersetzt etwa auch einen Text des deutschen Radikalpietisten J. W. Petersen ins Englische, in dem dieser die im Pietismus wirksame Visionärin Rosamunde Juliane von Asseburg als religiöse Autorität verteidigt, vgl. dazu auch den folgenden Teil des vorliegenden Beitrags. Lees Übersetzung von Petersens Brief ist unter folgendem Titel erschienen: Johann Wilhelm Petersen: A Letter to some Devines, concerning the Question whether God since Christ’s Ascension, doth any more reveal himself to Mankind by means of Divine Apparitions? London 1695. Lee steht später einem gemäßigten Böhmismus in der Tradition Willam Laws nahe, vgl. Gibbons (Anm. 11), 167. Vgl. Paula McDowell: Enlightenment, Enthusiasms and the Spectacular Failure of the Philadelphian Society. In: Eighteenth-Century Studies. 35.4 (2002), 515–533, hier: 524. Zu Roach als Verteidiger und Propagator der Apokatastasis-Lehre vgl. etwa Textzeugnisse in: Bodleian Library MS Rawlinson D 1318. Hier findet sich z. B. ein polemischer Text von J. Lacy, der Roach als Autor eines langen Vorworts zu der von ihm herausgegebenen Schrift Jeremiah Whites ›The Restoration of All Things‹ (1712) angreift. Lacy bezeichnet sein eigenes Manuskript als »Polemica Sacro-Prophetica Anti-Roachiana-White-Origeniana«, 1712, vgl. MS Rawlinson D 1318, 55–66. Zu Jeremiah White im Kontext der Apokatastasis-Debatte vgl. Daniel Pickering Walker: The Decline of Hell. Seventeenth-Century Discussions of Eternal Torment. London 1964, hier: 11 u. ö.

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Lead und ihre Böhme-Rezeption wirken, wie bereits oben bemerkt, in Deutschland durch zeitnahe Übersetzungen ihrer Schriften, die der Pietist Loth Fischer wohl auf Empfehlung Johann Wilhelm Petersens in Amsterdam verfertigt.76 Der gelehrte Pietist Petersen steht mit Leibniz und van Helmont in Kontakt und teilt deren Interesse an der Philosophie Anne Conways. Petersen und weitere ›deutsche Freunde‹ der englischen Philadelphier finden sich in radikalpietistischen Kreisen, die Leads Böhme-Rezeption produktiv aufgreifen. Petersen und seine Frau Johanna Eleonora stechen in diesem Kontext deutlich hervor.77 Ihnen gilt daher der dritte Teil dieses Beitrags. Seit seiner Studienzeit ist Johann Wilhelm Petersen von Böhme fasziniert:78 Böhme habe »Herrliches, zum Wunder der Welt geschrieben.«79 Nicht unerwartet kommt daher der Vorwurf der lutherischen Orthodoxie, Petersen sei, wie auch seine Frau, ein Anhänger Böhmes und Valentin Weigels.80 Gegen lutherisch-orthodoxe Anfeindungen und Verfemungen unterstützen beide Petersen die von ihnen als religiöse Autorität anerkannte Prophetin Rosamunde Juliane von Asseburg, deren Visionen Petersens Chiliasmus zu bestätigen scheinen. Auch Asseburg ist persönlich mit den englischen Philadelphiern verbunden; dies zeigt ein Brief Asseburgs in den Unterlagen und Manuskripten des Böhmisten und Lead-Vertrauten Roach.81 Die Rezeptionen Böhmes durch Lead und Petersen bilden im Weiteren einen wichtigen Impuls für das im radikalen Pietismus um 1700 vor allem in Erfurt und Halle verbreitete Auftreten ›endzeitlicher‹ Prophetinnen und Propheten. Petersens chiliastische Lehren finden in Erfurt schon Anklang, bevor hier die erste Prophetin, Anna Maria Schuchart, auftritt.82 In diesem Kontext sieht der Erfurter radikalpietistische Böhme- und 76

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Vgl. Hutton (Anm. 6), 230. Bei Loth Fischer handelt es sich um einen aus Nürnberg vertriebenen pietistischen Schulmeister, dessen Übersetzungen von Schriften der englischen Philadelphier in Utrecht entstehen, vgl. Schneider (Anm. 3), 405. Ernst Benz apostrophiert die beiden Petersen als die führenden Repräsentanten der deutschen Böhme-Schule, vgl. Ernst Benz: Der Mensch und die Sympathie aller Dinge am Ende der Zeiten. Nach Jakob Böhme und seiner Schule. Zürich 1956 (Sonderdruck aus: EranosJahrbuch 24 [1955], 133–197), 158. Vgl. Das Leben Jo. Wilhelmi Petersen […] Als Zeugens der Warheit Christi und seines Reiches, nach seiner grossen Oeconomie in der Wiederbringung aller Dinge. O. O. 1717, 23. Vgl. Freymüthige Anrede an den hochgebohrenen Reichsgrafen von Promnitz-Sorau […] wegen des Herrn Erdmann Neumeisters. Frankfurt a. M./Leipzig 1708, 38, zit. n.: Walter Nordmann: Im Widerstreit von Mystik und Föderalismus. Geschichtliche Grundlagen der Eschatologie bei dem pietistischen Ehepaar Petersen. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 50 (1931), 146–185, hier: 157 f. Vor allem im Blick auf Johanna Eleonora Petersen erhebt der orthodoxe Lutheraner Johann Heinrich Feustking solche Vorwürfe in exemplarischer Weise. Erschwerend komme hinzu, so Feustking, dass Petersen ihren für diese Lehren offenbar sehr anfälligen Mann zum »Secundanten in diese[n] verdammten Sache[n]« anstifte. Vgl. Johann Heinrich Feustking: Gynaeceum haeretico fanaticum, Oder Historie und Beschreibung Der falschen Prophetinnen/ Qväckerinnen/ Schwärmerinnen/ und andern sectirischen und begeisterten Weibes=Personen. (ND der Ausg. Frankfurt a. M./Leipzig 1704.) Hrsg. v. Elisabeth Gössmann. München 1998, hier: 480 f. Bodleian Library MSS Rawlinson D 832, 833; Asseburgs Brief findet sich in MS Rawlinson D 832, 46. Wustmann (Anm. 38), 128.

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Petersen-Rezipient Georg Heinrich Brückner in den Visionen Schucharts einen Nachweis fortlaufender, unmittelbarer Offenbarungen Gottes über die nahe Wiederkehr Christi und die philadelphische ›Sammlung der Kinder Gottes‹.83 Die sich selbst als ›Philadelphier‹ bezeichnenden Petersen vertreten im Gegensatz zur festeren Struktur der englischen Sozietät das Konzept einer außerorganisatorischen irenischen Geistkirche für die Wiedergeborenen in allen Konfessionen.84 Durch vielfältige Kontakte und eine reiche Buchproduktion suchen sie das ›Philadelphische Reich‹ mehr und mehr zu verwirklichen. Die im Kontext von Pietismus und Orthodoxie umstrittene Johanna Petersen genießt als theologische Autorin mit guten Kenntnissen des Griechischen und des Hebräischen85 zugleich hohe Anerkennung. Die Korrespondenz der auch als Poetin und ›Nachtigall Gottes›86 bekannten Petersen reicht über Deutschland und England bis nach Amerika sowie nach Skandinavien, Belgien und in die Niederlande, wo die hoch gelehrte Anna Maria van Schurmann ihre Briefpartnerin ist.87 Sehr ergiebig im Blick auf Böhme ist Petersens Korrespondenz mit dem schon genannten Gichtel.88 Auch der ehemals cartesianische Philosoph Pierre Poiret, engster Vertrauter und ›Propagandist‹ der ursprünglich katholischen flämischen Mystikerin und Böhmistin Antoinette Bourignon, steht in nahem Kontakt mit Johanna Petersen. Poiret weiß um Petersens Nähe zu Böhme. Deshalb sucht er sie als Übersetzerin für ein mystisches Werk Bourignons zu gewinnen.89 Zudem ergreifen führende Aufklärer und Pietisten, wie Christian Thomasius und Gottfried Arnold, öffentlich für Petersen Partei.90 Johanna Petersen, damals noch unverheiratete ›von Merlau‹, gilt als eine führende Gestalt des Frankfurter Pietismus, dem sie gemeinsam mit Philipp Jakob 83 84 85 86

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Ebd., 117 ff. u. 187. Schrader (Anm. 3), 66. Zu Petersens Kenntnis des Griechischen und Hebräischen vgl. Albrecht (Anm. 66), 63. Zu Petersen als Poetin im pietistischen Kontext vgl. Burkhard Dohm: Alchimie der neuen Erde. Weibliche Friedensvisionen in pietistischer Poesie. In: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. Hrsg. v. Klaus Garber u. Jutta Held. München 2001, 639–651. Zu Petersens Biographie und ihren reichen (Brief-)Kontakten vgl. die Kapitel II und III der Studie von Albrecht (Anm. 66), 38 ff., 121 ff. J. E. Petersens Korrespondenz mit Gichtel, der mit den Schriften Böhmes und Leads gleichermaßen vertraut ist, hat gewichtigen Einfluss auf ihre Konzeption der ›Apokatastasis panton‹, vgl. Ruth Albrecht: Die Apokatastasis-Konzeption bei Johanna Eleonora Petersen. In: Alles in allem. Eschatologische Anstöße. Christine Janowski zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Ruth Heß u. Martin Leiner. Neukirchen-Vluyn 2005, 199–214, hier: 204 f., sowie neuerdings detaillierter dies.: Zum Briefwechsel Johann Georg Gichtels mit Johanna Eleonora Petersen. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hrsg. v. Wolfgang Breuel u. Marcus Meier. Göttingen 2010, 327–359. Bourignon selbst zeigt sich gleichfalls an Petersen interessiert, vgl. Albrecht (Anm. 66), 68. So empfiehlt etwa Thomasius J. E. Petersens frühes Werk Gespräche des Hertzens mit Gott (2 Tle. Ploen 1689 u. 1694) allen Studierenden der Theologie dringlich zur Lektüre. Thomasius würdigt Petersens Buch mit einer ausführlichen Rezension in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Monats=Gespräche (1689, 854–874) als »Beitrag zum Diskurs der Gelehrten«. Vgl. Albrecht (Anm. 66), 130 f., Zitat: 130. Zur Würdigung und öffentlichen Hochschätzung Petersens durch Arnold vgl. ebd., 140 ff.

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Spener und Johann Jakob Schütz angehört.91 Wichtiger als Speners Einfluss ist für Petersens theologische Entwicklung der Kontakt mit Schütz.92 Dessen weit gespannte Interessen gelten sowohl mystisch-spiritualistischen Konzepten im Radikalpietismus als auch, vermittelt durch van Helmont, den philosophischen Ideen und der Böhme-Rezeption der Cambridge Platonists.93 Wie viele englische Philadelphier und die mit den Quakern besonders nahe verbundene Philosophin Conway sehen auch Petersen und Schütz deutliche Affinitäten ihrer Auffassungen zum frühen, von Böhme inspirierten Quakertum und seiner Lehre vom ›inneren Licht‹.94 Schütz sei, so Johanna Petersen, ein ›Werkzeug Gottes‹; durch Schütz und dessen Kontakte zu Anhängern Böhmes sind Petersens Konzepte des Chiliasmus und der Apokatastasis deutlich mitgeprägt.95 Diese von Johanna Petersen mit prophetischem Gestus verkündeten Lehren werden durch Lead angeregt.96 Im Anklang an Leads markante Selbstprofilierung als Visionärin beansprucht Petersen, wenn auch weniger emphatisch als die Engländerin, unmittelbare Offenbarungen Gottes zu erhalten. In Traum-Visionen schließe Gott ihr seine Geheimnisse auf.97 So sieht sich Petersen als Prophetin von Gott legitimiert, die Geheime Offenbarung des Johannes im Sinne einer baldigen Ankunft des Tausendjährigen Reiches zu deuten: Bei der Lektüre der Apokalypse »wurde mir zumuthe, als ob mein Hertz« vom »Lichte Gottes gantz durchdrungen« sei: »[So] verstund [ich] alles, was ich laß«.98 Auch Johann Wilhelm Petersens Schrift Die Hochzeit des Lammes und der Braut ist durch Lead geprägt.99 Petersen rekurriert hier auf Böhme und weitere, 91 92 93

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Zur zentralen Rolle J. E. Petersens im Frankfurter Frühpietismus vgl. Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 1990, 85 f. Vgl. dazu die grundlegende Studie von Klaus Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002. Durch van Helmont, der sich über längere Zeiträume bei Conway in Ragley Hall aufhielt, kennt Schütz Texte Henry Mores, insbesondere dessen Opera theologica und Enchiridion metaphysicum. Schütz empfiehlt Mores Schriften mehreren pietistischen Freunden in Deutschland. Vgl. dazu Deppermann (Anm. 92), 240 f., sowie Albrecht (Anm. 66), 50 f., 81 u. ö. Vgl. ebd., 69 u. 73 f. – Die Philadelphier und die Quaker sind über gemeinsame Verlage hinaus, in denen ihre Schriften erscheinen, inhaltlich vor allem durch die Lehre vom »Light within« miteinander verbunden, wenngleich es ansonsten manche Differenzen zwischen den beiden Gruppierungen gibt, durch die sie sich auch explizit voneinander absetzen. Insbesondere sind Böhme-Bezüge bei den Philadelphiern deutlich stärker ausgeprägt als bei den Quakern. Zu den Quakern vgl. u. a. John Punsheon: Portrait in Grey. A Short History of the Quakers. London 1984. Vgl. im vorliegenden Kontext auch die detaillierte Studie von Juterczenka (Anm. 16) zu Kontakten von Quakern mit Böhme-Anhängern in Deutschland und den Niederlanden sowie mit anderen radikal-religiösen Strömungen (Schwenckfelder, Mennoniten etc.) 197 f.; zu weiteren Wirkungen der im Quakertum umstrittenen Lehren Böhmes 276 ff. Vgl. Deppermann (Anm. 92), 107 ff., 126, 130 u. 138 f. Vgl. Schneider (Anm. 3), zur Apokatastasis-Lehre hier: 404–406. Zu Petersen als Visionärin vgl. auch Albrecht (Anm. 66), 17 u.69. Johanna Eleonora Petersen, geb. von und zu Merlau: Leben, von ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet. Hrsg. v. Prisca Gugliemetti. Leipzig 2003, 39 f. J. W. Petersen: Die Hochzeit des Lammes und der Braut bey der herannahenden Zukunfft Jesu Christi […]. Offenbach am Mäyn. (o. J.)

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an Böhme interessierte Autoren von Arnold über Pordage, Lead und Bromley bis zu den Cambridge Platonists.100 In diesem Werk adaptiert Petersen die durch Lead erfolgte chiliastische Perspektivierung von Böhmes Sophia-Figur: Fungiert Sophia, die ›Tochter Gottes‹,101 hier zunächst als ›weiblich‹ konnotierte Figuration des Heiligen Geistes, so identifiziert Petersen die Sophien-Gestalt im Weiteren sowohl mit Böhmes androgyner ›himmlischer Jungfrau‹ als auch mit dem auf Erden erwarteten ›himmlischen Jerusalem‹. Mit ihrem ›mütterlich-geistlichen‹ Wirken vollbringt Sophia in Petersens Sicht die Restituierung der ›imago Dei‹ im Menschen.102 Denn wie die Schöpfung einst aus Gottes ›Licht-Wesen‹ in schönsten ›Strahlen hellen Lichts‹ emanierte, so heißt es in Petersens Schrift im Anschluss an Böhmes und Leads alchimistische Bildwelt, dass schließlich im Werk der Apokatastasis »die Kraft des Blutes Christi […] allein […] die Tinctur, und die heylende balsamische Salbe [ist], dadurch [am Ende] alles [wieder] gereiniget, hell und schön wird.«103 Aufgrund solcher alchimistisch-hermetischer und weiterer vergleichbarer Bild- und Denkmuster in Petersens Schriften attestieren ihm seine Gegner eine perfekte Kenntnis antiker Geheimlehren. Aus solchen Lehren konstruieren beide Petersen aus orthodoxer Sicht ihr ›platonisch-hermetisches‹ Christentum.104 100

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Vgl. ebd. u. a. 79 (Arnold), 86 (Pordage, Böhme), 78 (Bromley). Aus dem Kreis der Cambridge Platonists wird insbesondere Ralph Cudworth angeführt (84). Auch die an paracelsisches und cusanisches Denken angelehnte Ideenwelt des Spiritualisten Valentin Weigel ist in Petersens Text deutlich präsent, wenngleich er Weigel nicht ausdrücklich nennt. In J. W. Petersens Uranias-Epos bezeichnet die Figur der Sophia sich selbst als »Filia [ ] Dei«, vgl. J. W. Petersen: Uranias, Qua opera Dei magna omnibus retro seculis et oeconomiis transactis usque ad Apokatastasin seculorum omnium per Spiritum Primogeniti gloriosissime consummanda Carmine Heroico celebrantur [ ]. Frankfurt a. M./Leipzig 1720, 36. Vgl dazu auch Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700. Göttingen 1998, 330. J. W. Petersen: Mysterion Apakotastaseos panton, Das ist: Das Geheimniß Der Wiederbringung aller Dinge […]. 3 Bde. (o. O.), 1700–1710, Bd. I, 53. Die Erlösung durch die Tinktur des Blutes Christi umfasst nach Petersens Auffassung den gesamten Kosmos und schließt ausdrücklich auch die Tiere ein. Vgl. dazu Walter Nordmann: Die theologische Gedankenwelt des pietistischen Ehepaares Petersen. Naumburg (Saale) 1929, 12 u. 16. Durch solche und ähnliche (in der Sache in vieler Hinsicht durchaus treffende) terminologische Zuordnungen werden beide Petersen aus orthodoxer Perspektive theologisch gezielt ausgegrenzt. Den oben genannten Begriff, der die Strömungen des (Neu-)Platonismus und des frühneuzeitlichen Hermetismus verbindet, verwendet Ehregott Daniel Colberg programmatisch als Überschrift seiner weit über 1 000 Seiten umfassenden Untersuchung des damaligen heterodoxen Christentums, vgl. Colberg: Das platonisch-hermetische Christentum, begreiffend die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, Unterm Namen der Paracelsisten, Weigelianer, Rosencreutzer, Quäcker, Böhmisten, Wiedertäuffer, Bourignonisten, Labadisten und Quietisten […] Frankfurt a. M./Leipzig 1710 (1690). Zu Colberg vgl. den Beitrag von Friedrich Vollhardt im vorliegenden Band. – Vorwürfe einer starken Affinität zu platonischen, pythagoreischen, origenistischen, böhmistisch-mystischen u. a. Lehren richtet der damals einflussreiche orthodoxe Lutheraner Feustking in pointierter Weise u. a. gegen Jane Lead und das Ehepaar Petersen, vgl. Feustking (Anm. 80), Register unpag., zu Lead 412 ff., zu Petersen 458 ff., zur besonders harschen und polemischen Kritik an Petersens und Leads origenistischer Lehre von der Wiederbringung Satans vgl. bes. 481. Zur Kritik pietistischer Anknüpfungen an heidnisch-antike Geheimlehren vgl. auch Schriften des orthodoxen Lutheraners Friedrich Christian Bücher,

Böhme-Rezeption in England

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Über das Problem des Chiliasmus hinausweisend, spitzt sich die theologische Kontroverse in der Frage der ›Apokatastasis panton‹ zu. Denn beide Petersen fungieren um 1700 als die profiliertesten deutschen Propagatoren der Apokatastasis-Lehre.105 Zwischen Lead und dem Ehepaar Petersen besteht in allen wesentlichen Punkten Einigkeit über die Allversöhnung. Dies schließt auch die unter Böhmisten umstrittene ›Wiederbringung der gefallenen Engel‹ ein. Diese ›Wiederbringung‹ erwartet Johanna Petersen jedoch in abmildernder Weise deutlich später als Lead.106 Weit mehr als seine Frau erforscht Johann Wilhelm Petersen eine Fülle von Quellen seit den Kirchenvätern, um das von ihm und seiner Frau beharrlich vertretene Konzept der ›Apokatastasis panton‹ auch wissenschaftlich weitergehend zu fundieren. In einer seiner voluminösen Schriften zu diesem Thema zitiert Petersen, neben vielen anderen Werken, lange Passagen aus Anne Conways Hauptwerk Principia philosophiae,107 dessen Erscheinen interessanterweise auch in den Theosophical Transactions, dem Zeitschriftenorgan der englischen Philadelphier, anzeigt wird.108 In Texten beider Petersen und Conways wird der Prozess der

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der in seinem Werk Plato Mysticus (1699) insbesondere beide Petersen, aber auch Spener heftig kritisiert, vgl. hierzu Albrecht (Anm. 66), 149. J. W. Petersens Wohnort Niederdodeleben wird damals zu einem Zentrum deutsch-englischer philadelphisch-pietistischer Kommunikation. Vgl. Schneider (Anm. 3), 406. Petersen, Leben (Anm. 98), 43 f. Petersen setzt hier eine Zeitspanne von 50 000 Jahren an, Lead hingegen rechnet, wie bereits erwähnt, mit 8 000 Jahren bis zur vollendeten ›Wiederbringung aller Dinge‹. Anne Conway: The Principles of the most Ancient and Modern Philosophy. Ed. and with an Introduction by Peter Loptson. The Hague, Boston, London 1982. Der Titel der von van Helmont stammenden lateinischen Übersetzung von Conways Text lautet: Principia Philosophiae Antiquissimae & Recentissimae: De Deo, Christo & Creatura; id est De Spiritu & Materia in genere. Quorum beneficio resolvi possunt omnia problemata, quae nec per Philosophiam Scholasticam, nec per communem modernam, nec per Cartesiam, Hobbesianam, vel Spinosianam resolvi potuerunt. Opusculum Posthumum. E Lingua Anglicana Latinitate donatum, cum Annotationibus ex antiqua Hebraeorum Philosophia desumtis. Amsterdam 1690. Die Rückübersetzung ins Englische erfolgt 1692. Im Zuge der in Petersens Apokatastasis-Schrift wiedergegebenen Auszüge aus ihrem Werk wird Conway zwar nicht namentlich genannt, jedoch ist sie zweifelsfrei als Autorin der umfangreichen, von van Helmont ins Lateinische übersetzten Textpassagen identifizierbar. Die knappe, ins Deutsche übertragene Einführung, die Petersen den Conway-Zitaten voranstellt, findet sich (ohne dass Petersen dies kenntlich macht) als lateinisches Vorwort van Helmonts in folgendem Band: Franciscus Mercurius van Helmont: Opuscula Philosophica: Quibus Continentur Principia Philosophiae, Antiquissimae Et Recentissmae, Ac Philosophia Vulgaris Refutata. Amsterdam 1690. Conways ›Principia‹-Schrift umfasst in dieser Ausgabe die Seiten 1–144, auch hier bleibt Conway ungenannt. – Zu den wesentlichen, in Conways Schrift wirksamen Einflüssen gehören (Neu-)Platonismus (Proklos, Plotin, Ficino u. a.) und Origenismus sowie diverse hermetische und kabbalistische Strömungen. Paracelsisch-hermetische Einflüsse sowie die besonders starke Anziehungskraft Jacob Böhmes auf Conway dokumentieren zudem mehrere Briefzeugnisse in: Conway Letters (Anm. 17), 72, 381 u. ö. Conways philosophisches Werk Principia Philosophiae wird, wie erwähnt, auf Anregung J. W. Petersens in englischer Rückübersetzung des lateinischen Textes in der theosophischen Zeitschrift der Philadelphian Society wie folgt angezeigt: »The Principles of the Most Ancient and Modern Philosophy, concerning God, Christ and the Creatures. Printed in Latin at Amsterdam 1697. And Reprinted at London, 1692.« Diese Angabe findet sich in: Theo-

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Burkhard Dohm

Apokatastasis in alchimistischen Anklängen gestaltet, die eine Spiritualisierung des Leibes implizieren. Leads und Petersens theosophische Sicht wird durch Conways monistischen Vitalismus109 philosophisch beglaubigt. Denn nach Conways vor allem von Origenes, dem Neuplatonismus und der lurianischen Kabbala inspirierten Lehre110 besteht der ›Körper‹ (»body«) aus ›konzentriertem Geist‹ (»condensed spirit«), während der Geist (»spirit«) ›subtiler, flüchtiger Körper‹ (»subtle volatile body«) ist.111 In einer der von Petersen zitierten Textstellen aus Conways Werk erläutert die Philosophin ihr Konzept der Apokatastasis in folgender Weise: [T]he worst of Creatures; yea, the most cursed Devils, after many and long continued Torments, shall at length return to a State of Goodness. [A]ll this hardness and grossness of Bodies […] therefore shall in time return to a state of softness and subtility.112

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sophical Transactions by the Philadelphian Society, consisting of Memoirs, Conferences, Letters, Dissertations […], For the Advancement of Piety, and Divine Philosophy. Number II. London 1697, 98. Die 1697 erschienenen Nummern I-V der Zeitschrift, die danach bereits wieder eingestellt wurde, dokumentieren außerdem die engen Beziehungen beider Petersen zu den englischen Philadelphiern, da hier auch Texte J. W. und J. E. Petersens in englischen Übersetzungen abgedruckt sind, vgl. etwa Number II, 83 ff. (Auszüge aus einem Briefzeugnis J. W. Petersens) sowie Number III, S.142 ff. Bei diesem letztgenannten Text handelt es sich um einen Auszug aus J. E. Petersen: Anleitung zu gründlicher Verständniß der Heiligen Offenbarung Jesu Christi […]. Franfurt a. M./Leipzig 1696. Die Theosophical Transactions berichten zudem verschiedentlich vom Auftreten chiliastischer Prophetinnnen in Mitteldeutschland. Im Zentrum stehen jedoch immer wieder Besprechungen und Diskussionsbeiträge zu Leads Schriften sowie Beiträge zur Weiterentwicklung der Philadelphischen Sozietät und der ihr zugrunde liegenden Ideen und Statuten. Zu Conways vitalistischem Monismus vgl. Verena Olejniczak Lobsien: Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur. München 1999, 297–322. Vitalistische Denkmodelle entfalten auch im deutschen Pietismus vielfältige Wirkungen. Dies zeigt sich u. a. im Medizinkonzept des in Halle tätigen, pietistisch orientierten Medizinprofessors Georg Ernst Stahl, der in seiner Theoria Medica Vera (1708) auf vitalistischer Basis die leibseelische Einheit des Menschen zu demonstrieren sucht. Zu Stahl vgl. Johanna Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000. Zu den im Hintergrund von Stahls vitalistischem Denken stehenden Ideen Böhmes und seiner spiritualistischen Anhänger sowie zur Sichtung dieser Ideen durch Henry More vgl. dort 62–64. Origenes wird in Conways Text zwar nirgends genannt, jedoch ist sein maßgeblicher Einfluss in der gesamten Schrift und insbesondere in deren theologisch-philosophischem Schlüsselkonzept der ›Apokatastasis panton‹ klar identifizierbar. Vgl. dazu Sarah Hutton: Henry More and Anne Conway on Preexistence and Universal Salvation. In: »Mind Senior to the World«. Stoicismo e origenismo nella filosophia platonica del Seicento inglese. Hrsg. v. Marialuisa Baldi. Mailand 1996, 113–125, zu Conway 120 ff. – Zum Neuplatonismus Conways sowie zum (begrenzten) Einfluß der (lurianischen) Kabbala auf Conways philosophische Konzeption vgl. Lobsien (Anm. 109), 300 ff., zur Kabbala bes. 302 u. 310–314. Vgl. dazu auch Popkin (Anm. 45), 117. Conway (Anm. 107), 191. Dieses Zitat findet sich unter den von Petersen aus der lateinischen Fassung von Conways Principles (Principia) angeführten Textpassagen, vgl. Petersen, Mysterion (Anm. 103), Bd. I, 66, 69 sowie bes.73 ff., hier: 74. – Nachdrücklich betont Conway auch den bessernden und heilenden (»medicinal«) Effekt der von Gott verhängten Strafen, die deshalb immer ein Ziel haben und mithin zeitlich begrenzt seien: »[A]ll the Punishments, God inflicts on his Creatures, have some proportion with their sins; so all these Punishments (the worst not excepted) do tend to their Good and Restoration, and so

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In seinem – von Leibniz veranlassten – lateinischen Apokatastasis-Epos Uranias113 verwendet Petersen die durch Lead adaptierte Vorstellung Böhmes von der alles verwandelnden Lichtnatur des Blutes Christi. Mithin gestaltet Petersen in seinem umfangreichen Text die Allversöhnung als großes Verklärungswerk. Am Ende nämlich leuchten alle Kreaturen im ›Licht‹ (»Lux«) und ›Glanz‹ (»Splendor«) von Gottes ›Herrlichkeit‹ (»Maiestas«).114 Abschließend sei hier die folgende, explizit auf Böhme rekurrierende Apokatastasis-Deutung Petersens angeführt. Gottes ewiger, heiliger Zorn habe einst, vor Luzifers Fall, mit Gottes ›Liebe-Willen‹ in ›lieblicher Harmonie‹ gestanden. Erst die Sünde habe Gottes heiligen Zorn erweckt. Da jedoch die Sünde nicht ewigen Ursprungs sei, könne auch die durch die Sünde entstandene Hölle keineswegs ewig bestehen. Auf der Basis dieser Deutung ist Petersen überzeugt: Sollte Böhme ›heute‹ (also um das Jahr 1700) leben, so würde Böhme ›in dieser philadelphischen Zeit‹ der Apokatastasis »nicht widersprechen«.115

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are Medicinal, that by them these diseased Creatures may be cured and restored to a better condition than before they enjoyed.« Vgl. Conway (Anm. 107), 188. Auch diese wiederum für beide Petersen wichtige Passage zitiert J. W. Petersen in seiner hier angegebenen Schrift in der lateinischen Übersetzung van Helmonts, vgl. J. W. Petersen, Mysterion, Bd. I (s. o.), ebd. In dieser Schrift Petersens werden Zeugnisse für die Apokatastasis von Origenes bis hinein in Petersens Gegenwart aufgeführt. Neben den Conway-Passagen kommen in Petersens Werk auch Lead und Pordage sowie weitere philadelphisch orientierte Radikalpietisten in Deutschland zu Wort, so etwa Henrich Horch, der zumindest zeitweise der ApokatastasisIdee anhing. Der auch als Lyriker bekannte Petersen leitet seine Schrift durch poetische Texte ein, die er »Insonderheit an die [deutsche]« »Philadelphische[ ] Gemeine« richtet. Vgl. die ersten Seiten (unpag.) von J. W. Petersen, Mysterion, Bd. I (s. o.). J. W. Petersen, Uranias (Anm. 101). – Zu den Wirkungen dieses im Kontakt mit Leibniz entstandenen, origenistisch orientierten Petersen’schen Werks vgl. u. a. Dieter Breuer: Origenes im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Seminar. Journal for Germanic Studies. 21.1 (1985), 1–30, hier: 10 ff. Petersen, Uranias (Anm. 103), 457 f. Zur hier skizzierten Argumentation vgl. Petersen, Mysterion (Anm. 103), Bd. I, 109.

Lucinda Martin

Jakob Böhmes »göttliche Sophia« und Emanzipationsansätze bei pietistischen Autorinnen

Einführung Die Idee der »Sophia« oder einer Personifizierung der Weisheit Gottes hat ihre Wurzeln in der Bibel und in der frühen Kirche.1 Die Sophien-Verehrung stellt in der östlichen Kirche noch eine lebendige Tradition dar, die sich in einer bedeutenden Ikonographie und in den der Sophia gewidmeten Kirchen ausdrückt. In der westlichen Kirche versuchte man mehrmals in der Geschichte, die SophiaTradition wiederzuerwecken, traf dabei aber meistens auf Widerstand. Gegner bezeichneten die Doktrin als ketzerisch, da man sie als eine Bedrohung für die Stellung der Jungfrau Maria, Jesu oder der Trinität sah. Insbesondere sorgte man sich über die Folgen der Sophia-Lehre für die existierenden sozialen Hierarchien, die, so wie man meinte, von Gott selbst festgelegt worden waren.2 Diese Studie möchte zeigen, dass die Gegner der Lehre von der göttlichen Sophia tatsächlich guten Grund hatten zu fürchten, diese Lehre unterminiere soziale Strukturen. In der Tat wurde die Vorstellung einer teilweise weiblichen Gottheit dazu benutzt, herkömmliche Hierarchien zu hinterfragen. So beriefen sich zum Beispiel Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts auf diese Lehre, um verschiedene Experimente mit Geschlechter-Rollen und Familienstrukturen zu rechtfertigen, die bestehende Machtverhältnisse unterminierten. Im Folgenden werde ich die Übermittlung und Transformation der SophiaLehre von Jakob Böhme (1575–1624) über Gottfried Arnold (1666–1714) und einige radikalpietistische Gruppierungen bis hin zu pietistischen Autorinnen um 1700 skizzieren. Anschließend werde ich mich darauf konzentrieren, wie einige Pietistinnen unter Hinweisen auf die Sophia die Autorität beanspruchten, über religiöse Themen zu schreiben, zu sprechen und sogar mehr Rechte für Frauen zu fordern. 1

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Unter den Büchern der Bibel, welche die Sophia hervorheben, befindet sich unter anderem das Buch der Sprüche (bes. Spr 1, 2 u. 8), Pred 7 u. 8 sowie apokryphe Bücher wie das Buch der Weisheit (Weish 1, 6, 7, 8, 9) und das Buch Jesus Sirach (Sir 24). Für eine feministische Theologiegeschichte dieser Tradition vgl. Auf den Spuren der Weisheit: Sophia – Wegweiserin für ein neues Gottesbild. Hrsg. v. Verena Wodtke. Freiburg i. Br. 1991. Vgl. Joachim Lange: Christliche Prüfung des Geistes In den sog. Theosophischen SendSchreiben, In welcher des Auctoris Lehre Melchisedechischen Priesterthum/ Und der mit der himmlischen Sophia, zum Nachtheil des von Gott verordneten Ehestandes/ zu führenden Paradiesischen Ehe der Gläubigen/ Wie auch andern dahin gehörigen Stücken/ nach der heiligen Schrift gründlich untersuchet wird. Halle 1715.

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Lucinda Martin

Die Sophia in Böhmes Schriften Jakob Böhme wird oft als »Vater der westlichen Sophiologie« angesehen. Durch seine Schriften wurde im 17. und 18. Jahrhundert die Lehre von der göttlichen Sophia in Westeuropa verbreitet. Böhme verstand seine Lehre als eine »göttliche Wissenschaft«, die ihm durch »die ewige Weisheit« oder Sophia offenbart wurde.3 In seinem umfangreichen Textkorpus philosophischer und theologischer Schriften postuliert Jakob Böhme die Sophia als integralen Bestandteil der Gottheit und des Kosmos.4 Die Sophia ist der Mechanismus, durch den Gott sich selbst aus dem »Ungrund oder Nichts« kreiert. Nach Böhme vollzieht sich die Selbsterkenntnis und Offenbarung Gottes in der Sophia als »Blick«. In diesem ersten Blick Gottes geschehen zwei Dinge: 1) Im ersten Blick fasst sich das numinose Nichts im ›Ichts‹, dem sich selbst erkennenden Selbst. 2) Zugleich ist dieser erste Blick auch die Erkenntnis der »Vielheit« der inneren Gestalten. Dieser Blick ist das Erkennen von Unterschieden und führt zu einem immerwährenden Prozess der Schiedlichkeit – d. h. der Schöpfung. Böhme nennt die Sophia auch »Gottes Leib«, den »Spiegel aller Wesen« und »Gottes Braut«, weil Gott sich durch sie offenbart und verwirklicht. Die Sophia ist weiblich, weil der »göttliche Wille sich durch sie ausgebärt«. Sie ist sein »Werkzeug« zur Schöpfung und Offenbarung. Besonders ein Aspekt von Böhmes Sophiologie wurde zu einer der provokativsten und produktivsten Ideen des Pietismus. Eines der grundlegendsten Prinzipien des Christentums ist, dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen wurde. Da Böhmes Gott sowohl männliche wie auch weibliche Wesenszüge in sich trug, hätte der Mensch in seinem ursprünglichen Zustand auch männliche und weibliche Charakteristika haben müssen. Nach Böhme hatte der Urmensch, 3

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Die Zitate aus Böhmes Schriften beziehen sich auf die Ausgabe seiner gesammelten Werke in 11 Bänden, die als Faksimile der Edition von 1730 erschienen. Die Faksimile-Ausgabe wurde von August Faust begonnen und von Will-Erich Peuckert nochmals neu ediert, Stuttgart 1955–1961. Im Folgenden zitiert als: Böhme. Die einzelnen Werke werden namentlich zitiert. In den Zitaten bezieht sich die erste Zahl auf das jeweilige Kapitel, die zweite Zahl in Klammern auf den Absatz. Hier: Mysterium Magnum: 67 (13) und Von der neuen Wiedergeburt: 8 (13). Eine aufschlussreiche Interpretation von Böhmes Sophiologie bietet Ernst Benz: Der vollkommene Mensch nach Jacob Boehme. Stuttgart 1937. Vgl. auch Ursula Fuchs: Sophia – das Gesicht der Weisheit. Matrix und Signatur des Weiblichen bei Jakob Böhme (1575–1624). In: Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung. Bd. 8. Weisheit – eine schöne Rose auf dem Dornenstrauche. Hrsg. v. Elisabeth Gössmann. München 2004, 70–122; Ferdinand van Ingen: Die Jungfrau Sophia und die Jungfrau Maria bei Jakob Böhme. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994, 147–163; Roland Pietsch: Jacob Böhmes Lehre von der göttlichen Weisheit und von der himmlischen Jungfrau Sophia. In: Erkenntnis und Wissenschaft, Jacob Böhme (1575–1624). Internationales Jacob-BöhmeSymposium Görlitz 2000. Neues Lausitzisches Magazin Beiheft 2. Görlitz u. Zittau 2001, 35–51. Besonders aufschlussreich sind folgende Stellen: Böhme (Anm. 3): Beschreibung der Drey Principien Göttliches Wesens (1619): 139 (38–142); 56; Von der Gnaden-Wahl (1623): 4 (1–9); 22; Mysterium Magnum (1623): 190 (14); Schutz-Schriften wieder Balthasar Tilken (1621): 119 (64–121); 85.

Jakob Böhmes »göttliche Sophia« und Emanzipationsansätze

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Adam, »die Tinctur aller Wesen« in sich, d. h. Anteile von allen Substanzen und Prinzipien des Kosmos, womit das Männliche und das Weibliche eingeschlossen sind. Die Einheit des Urmenschen in sich selbst, mit Gott und dem Kosmos ging jedoch durch den Sündenfall verloren. Nach Böhme richtete Adam seinen »Blick«, seine Aufmerksamkeit, auf sich selbst und nicht mehr auf Gott. Durch diese Tat entmachtete er sich selbst. Sein himmlischer Leib wurde irdisch, wodurch er auch für Krankheiten und Naturgewalten anfällig wurde. Mit seinem himmlischen, göttlichen Leib hatte er die Fähigkeit besessen, sich selbst fortpflanzen zu können, eine Fähigkeit, die er als irdischer Mensch verlor. Gott schuf ihm daher eine Gefährtin, Eva. Im Unterschied zu diskursmächtigen Deutungen ist nach Böhme nicht der »Apfelbiss« Evas, sondern der Schlaf Adams, seine Abwendung von Gott, verantwortlich für den Fall. Entsprechend ist es nach Böhme das Ziel aller Liebe, die verlorene Einheit wiederzugewinnen. Aber erst im Himmel sollen die Menschen ihre vollkommenen, d. h. ihre androgynen Körper wiedererlangen.

Die Sophia in Gottfried Arnolds Das Geheimnis der göttlichen Sophia Böhmes Schriften zirkulierten schon zu seinen Lebenszeiten als Manuskripte im Untergrund.5 Erst eine Generation später, nachdem Johann Georg Gichtel (1638–1710) Böhmes Texte in Amsterdam herausgegeben und gedruckt hatte, wurden seine Schriften in größerem Umfang rezipiert.6 Die Schriften stießen vor allem in England und in den Niederlanden auf lebhaftes Interesse und erreichten die deutschsprachigen Leser oft über Umwege. Viele deutsche Pietisten lernten Böhmes Gedankengut durch die übersetzten Schriften der englischen Philadelphier kennen. Die Anführer der chiliastischen englischen Religionsgemeinschaft, Jane Leade (1623–1704) und John Pordage (1607–1681), hatten die von Gichtel herausgegebenen Editionen rezipiert7 und in eigene Texte eingearbeitet, sodass die Ideen Jakob Böhmes als Übersetzungen aus den englischen Schriften der Philadelphier nach Deutschland zurückkehrten. 1694 wurde Leades Himmlische Wolcke in Amsterdam ins Deutsche übersetzt,8 ihr prophetisches Buch Acht Wel5

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Zu Böhmes Leben, zum Kontext seiner Schriften sowie ihrer Rezeption s. Andrew Weeks: Boehme: An Intellectual Biography of the Seventeenth-Century Philosopher and Mystic. Albany 1991. Auch in seinen vielen Briefen hat Gichtel die Ideen Böhmes – auch die Sophia-Lehre – transformiert und verbreitet. Auf Gichtels Rolle als Vermittler der Sophia-Lehre kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Aira Vosa: Johann Georg Gichtel – teosoofilise idee kandja varauusaegses Euroopas. Tartu 2006 – mit einer deutschen Zusammnfassung: Johann Georg Gichtel Gichtel – ein Träger der theosophischen Idee im frühneuzeitlichen Europa, 298–305 (http://dspace.utlib.ee/dspace/bitstream/10062/130/1/vosaaira.pdf). Zu Leade s. Donald F. Durnbaugh: Jane Ward Leade (1624–1704) and the Philadelphians. In: The Pietist Theologians. Hrsg. v. Carter Lindberg. Malden (MA) 2005. Ihr Name wird auch manchmal »Lead« geschrieben. Jane Leade: Die nun brechende und sich zertheilende Himmlische Wolcke […]. Amsterdam 1694. Der Text wurde von Heinrich Wetstein veröffentlicht. Der Urtext wurde 1681 in Lon-

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ten wurde dann ab 1695 als schriftliches Manuskript in pietistischen Kreisen herumgereicht; es wurde 1696 ins Deutsche übersetzt und gedruckt; viele weitere Werke folgten in den nächsten Jahren.9 Philadelphische Literatur fand bald Anklang unter Radikalpietisten wie Johanna Eleonora Petersen (1644–1724) und Johann Wilhelm Petersen (1649– 1727), die viele der Böhme’schen Lehrsätze der Philadelphier aufnahmen und sie in ihren eigenen Schriften transformierten und weiterverbreiteten. 1703 war Johann Wilhelm Petersen einer von ungefähr 70 »Freunden« der Philadelphier in Deutschland, die in einem »Catalogus amicorum in Germania« aufgelistet wurden.10 Im gleichen Jahr schrieb J. W. Petersen, er hätte schon vor drei Jahren »solche holde Weißheit erkandt«, und in diesem Kontext erwähnt er die SophiaSchriften Gottfried Arnolds und John Pordages.11 Aber schon 1695 besaßen die Petersens eines der schriftlichen Manuskripte von Jane Leades Eight Worlds und Johanna Eleonora Petersen beschreibt in ihrem Lebenslauf, wie sie das Gedankengut Leades aufnahm, aber auch korrigierte und ergänzte.12 Sie meinte, Leade

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don veröffentlicht: The Heavenly Cloud now breaking […]. Loth Fischer übersetzte sowohl die Texte als auch die Briefe der Gruppe ins Deutsche. Fischer lebte in Amsterdam und war zuerst Anhänger Gichtels. Später schloss er sich an die Philadelphier an. Zu Fischer s. Gertraud Zaepernick: Johann Georg Gichtels und seiner Nachfolger Briefwechsel mit den hallischen Pietisten, besonders mit A. M. Francke. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), 74–118, hier: 115. In der unpaginierten Vorrede zum Buch kommentiert die Autorin den großen Erfolg ihrer früheren Werke in den Niederlanden. Jane Leade: The Wonders of God’s Creation Manifested in the Variety of Eight Worlds; As they were made known Experimentally to the Author. London 1695. Vgl. dazu Nils Thune: The Behmenists and the Philadelphians: A Contribution to the Study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries. Uppsala 1948, 110–114. Es handelt sich um eine Liste von prominenten Pietisten und anderen Reformern, von denen man hoffte, dass sie die philadelphische Mission unterstützen würden. Viele der gewünschten Kontakte waren keineswegs »Freunde« der Philadelphier. Z. B. erscheint der Name von Philipp Jakob Spener in dem Katalog, obwohl er die Gruppe scharf abgelehnt hat. Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha A 297, 5–8. Vgl. dazu Thune (Anm. 9), 125 f. Johann Wilhelm Petersen: Mysterion Apokatasteseos panton, Das ist Das Geheimniß Der Wiederbringung aller Dinge. 3 Bde. O. O. 1700 (1. Bd.: 1700; 2. Bd.:1705; 3. Bd.: 1710), hier Bd. 2, 170. Johannes Pordage: Sophia. Das ist Die Holdseelige ewige Jungfrau der Göttlichen Weisheit. Oder Wunderbahre Geistliche Entdeck= und Offen=bahrungen […]. Amsterdam 1699. Unter den Projekten, die J. W. Petersen vor seinem Tod nicht vollenden konnte, gab es mehrere, die sich mit Sophia beschäftigten, unter anderem eine Verteidigung der Sophia-Schrift Gottfried Arnolds (Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus. Göttingen 2005, 203). Johanna Eleonora Petersen: Leben Frauen Joh. Eleonora Petersen/ Gebohrnen von und zu Merlau, Hrn. D. Jo. Wilh. Petersen Eheliebsten; Von Ihr selbst mit eigener Hand aufgeseßet, […]. O. O. 1718, 56. In seinem Lebenslauf schreibt Johann Wilhelm Petersen, dass sie das Manuskript von Baron von Knyphausen bekommen haben (Das Leben Jo. WILHELMI PETERSEN […] Als Zeugens der Warheit Christi und seines Reiches, nach seiner grossen Oeconomie in der Wiederbringung aller Dinge […]. Halle 1717, 297). Dodo von Inn- und Knyphausen (1641–1698) verkehrte in pietistischen Kreisen in Berlin. 1694 gab er den Philadelphiern eine große Spende für den Bau eines Hauses in London und für den Druck ihrer Schriften. Er ließ ihre Schriften ins Deutsche übersetzen und bezahlte sowohl einen Übersetzter (Loth Fischer) wie auch Jane Leade selbst eine Pension. Dodo von Knyphausen war reformiert und heiratete eine Katholikin. Er plädierte für Religionsfreiheit und auf seinem ostfriesischen Besitz Lütetsburg gewährte er 1677–1680 Antoinette Bourignon und ihren

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hätte mathematische Fehler in ihrer Berechnung der zeitlichen Abfolge der »Wiederbringung« gemacht: Der Teufel sollte erst nach 50 000 Jahren, nicht schon nach 8 000 Jahren erlöst werden. Weiterhin glaubte Johanna Eleonora Petersen, dass Leade sich zu sehr auf ihre eigenen Offenbarungen stützte, statt in den Heiligen Schriften nach Bestätigung dieser Empfindungen zu suchen. Die Petersens selbst waren überzeugt, in der Heiligen Schrift Bestätigung für Leades Offenbarungen finden zu können.13 Auch andere Pietisten setzten sich mit den Lehren Böhmes, der Philadelphier oder Gichtels in ihren eigenen Werken auseinander. All dies weckte neues Interesse an Böhme und man begann, seine Bücher vermehrt auch in den deutschsprachigen Gebieten zu lesen. Hier war es vor allem Gottfried Arnolds Das Geheimniß der Göttlichen Sophia aus dem Jahr 1700, das die Lehre von der Sophia im deutschsprachigen Raum verbreitete.14 Arnold war einer der wichtigsten Vertreter des Pietismus, Historiker, Schriftsteller und Sprachrohr eines radikalen Kirchenverständnisses.15 Obwohl Arnold viel von Böhmes Vorstellung der Sophia aufnimmt, ist Arnolds Sophia anders: Sie spielt keine große Rolle in der Schöpfung und ist bei weitem weniger komplex.16 Arnold verwendet nicht Böhmes dunkle, metaphorische Sprache, um die Sophia zu beschreiben, und er vermeidet auch viele der Kritikpunkte, die man gegen Böhme erhoben hatte – vor allem die Denkmöglichkeit einer vierten Person neben der Trinität –, indem Arnold Sophia und Christus als zwei Aspekte des gleichen »Geistes« darstellt.17 Da er die Sophia nur zu einem mütterlichen Geist innerhalb der Gottheit macht, weicht Arnold der ganzen Diskussion über einen physikalisch androgynen Adam aus. Wie Böhme versteht Arnold den Urmenschen als gleichzeitig männlich und weiblich, aber diese Aspekte sind nach Arnold nur »geistig« und nicht körperlich.18 Der Unterschied zwischen Böhmes und Arnolds Sophia-Vorstellungen geht auf ihr jeweiliges Verständnis vom Verhältnis zwischen Geist und

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Anhängern Zuflucht. Zu Knyphausen s. Markus Matthias: »Preußisches« Beamtentum mit radikalpietistischer »Privatreligion«: Dodo II. von Innhausen und Knyphausen (1641–1698). In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hrsg. v. Wolfgang Breul u. a. Göttingen 2010, 189–209. Zu Leades Kontakt mit den Petersens s. Lucinda Martin: Women’s Religious Speech and Activism in German Pietism. UMI Dissertation Services: University of Texas 2002, 197 ff., und Albrecht, Johanna Eleonora Petersen (Anm. 11), passim, hier bes. 112 ff. u. 277 ff. Petersen (Anm. 12), 297. Gottfried Arnold: Das Geheimniß der göttlichen Sophia. Leipzig 1700. Im Folgenden zitiert als »Arnold«. Die Zahl in Klammern bezieht sich auf den Absatz in Arnolds Geheimnis der göttlichen Sophia. Jürgen Büchsel: Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt. Witten 1970, 106f; Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Hrsg. v. Dietrich Blaufuß u. Friedrich Niewöhmer. Wiesbaden 1995. Zur »Schlichtheit« von Arnolds Sophia vgl. Lothar Vogel: Beobachtungen zur Böhmerezeption in Gottfried Arnolds Sophienschrift. In: Der radikale Pietismus (Anm. 12), 271–292, hier: 276–279. Arnold (Anm. 14), 35 (3) u. 38 (13). Ebd., 40 (2): »Die unsichtbare natur ist nicht in mann und weib getheilet/ wird auch nicht durch vermehrung oder geburt fortgepflanzet. Denn ein wesen/ das kein fleisch hat/ hat keine gemeinschafft mit leibern«.

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Körper und auf ihre unterschiedlichen Auffassungen des Universums zurück. Arnold sagt, Geist habe keinen Leib. Böhme dagegen behauptet, aller Geist müsse in irgendeiner Art von Leib existieren und alle Leiber – seien sie menschlich, tierisch oder mineralisch – besitzen Geist, was für Böhme den chemischen und physikalischen Eigenschaften von Substanzen gleichkommt. Daher unterscheidet Böhme zwischen den »fleischlichen Leibern« der Lebewesen und den »Lichtkörpern« der Engel, des Urmenschen oder der Sophia. Auch Arnold stellt sich eine »geistliche kraft« oder einen »licht-leib« aus einer »himmlischen geistlichen substanz« vor,19 aber diese Leiber sind nicht mit dem menschlichen Körper homolog, wie sie es in Böhmes Konzept sind. Auch wenn Gottfried Arnold behauptet, die göttliche Sophia sei ihm offenbart worden, stützt sich sein Geheimniß der göttlichen Sophia nicht auf Offenbarung, sondern auf die Kirchengeschichte, um die Existenz der Sophia zu beweisen. Er zitiert biblische Bücher wie die Sprüche, die Weisheit Salomos, die Psalmen und Jesus Sirach, um seine Argumentation zu begründen, und er führt Texte von Kirchenvätern und Autoritäten wie Augustin und Tertullian an, um zu zeigen, dass die Sophia in der frühen Kirche keinesfalls kontrovers war.20 Ein großer Teil von Arnolds Ausführungen zielt darauf ab, zeitgenössischen Lesern zu erklären, wie die Sophia neben der Trinität existieren kann. Nach Arnold sei sie in der »Essenz« aller drei Personen der Trinität.21 Nachdem er die Geschichte der Sophia-Lehre in legitimen, kanonisch anerkannten Quellen, die seine Leser respektieren werden, verfolgt hat, folgert Arnold, dass letztendlich keiner die Sophia verstehen könne. Solche Geheimnisse übersteigen seiner Meinung nach den menschlichen Verstand.22 Trotz der Unterschiede in ihren Konzepten der Sophia verstehen sowohl Böhme wie auch Arnold die Sophia als ein passives Wesen. Böhme betont, dass Gott sich durch sie »gebärt« – nicht dass sie ihn gebiert. Auch Arnold macht die Sophia zu einem bloßen »Spiegel«. Indem er sich widergespiegelt sieht, wird Gott sich seiner selbst bewusst und »willt« sich ins »Ich«. Arnold schreibt: »Sie selbst aber gebieret in eigener begierde/ bewegung oder willen/ (wie es die Gottes-gelehrten ausdrucken) nicht, sondern offenbahret nur/ was geboren wird.«23 Die passive Sophia in den Konzepten Böhmes und Arnolds steht in scharfem Kontrast zu der aktiven und kreativen Rolle, die sie in den radikalpietistischen sozialen Experimenten des 18. Jahrhunderts spielt.

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Ebd., 102 f. u. 25 f. Hier die wichtigsten Stellen: Arnold (Anm. 14), 37–39 (11–17), 40–42 (2–10), 44 f. (16–19), 51 f. (3–8), 54–57 (17–25), 99 ff. (14 ff.), 114 f. (16–17) u. 125 ff. (10 ff.). Ebd., 38 (13). Ebd., 39 (17). In diesem Kontext zitiert er sogar Hermes Trismegistos. Ebd., 45 (19).

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Die Sophia und die sozialen Innovationen im Pietismus Zu den am wenigsten untersuchten, aber interessantesten Aspekten des Pietismus gehören seine vielen Experimente mit Geschlechter-Rollen, Sexualität sowie Familien- und Sozialstrukturen. Pietisten wendeten sich neuen oder wiederbelebten religiösen Ideen wie der Lehre von der der göttlichen Sophia zu, um ihre sozialen Innovationen zu rechtfertigen. Die Sophien-Lehre hob die traditionelle Interpretation der Schöpfungsgeschichte auf, in der Eva für den Sündenfall und das menschliche Leiden verantwortlich gemacht wird. In dieser traditionellen Interpretation wurzelte lange Zeit die Behauptung, Frauen seien unfähig, Aufgaben zu übernehmen, in denen Führung, Stärke, Urteilskraft oder manchmal auch Moral eingesetzt werden müsse. Mit einem Gottesbild, in dem Gott sowohl männlich wie auch weiblich ist, wurde das Weibliche aufgewertet und dem Männlichen gleichzeitig die Last der Sünde aufgebürdet. Pietisten, die diese Lehren rezipierten, zogen aus ihr auch gesellschaftliche Schlüsse. Wenn Arnold schreibt, der Christ solle zunehmend göttlich werden – ein Prozess, der sich erst im Himmel vollzieht – und Gott sei androgyn, impliziert das auch, dass Frauen »männlicher« und Männer »weiblicher« werden sollten. In einem gewissen Maß ist dies geschehen – Pietistinnen wagten es, sich in Sphären zu bewegen, die nur Männern vorbehalten waren. Sie übernahmen Führungsrollen in Konventikeln, äußerten sich öffentlich zu religiösen Themen, interpretierten die Bibel, schrieben und veröffentlichten ihre Meinungen. Gleichzeitig schätzten und erstrebten einige Pietisten (wie Zinzendorf) sogenannte weibliche Eigenschaften wie Spiritualität und Empathie.24 Pietisten verwendeten die Sophia-Lehre, um allerlei Experimente mit Familienstrukturen und Sexualität zu rechtfertigen, seien es radikalpietistische Gruppierungen, die sexuell-religiöse Rituale entwickelten, seien es Pietisten, die sich bemühten, zölibatär zu leben, seien es Versuche, pietistische Klöster zu gründen. Diese Experimente sind nicht nur das Resultat neuer theologischer Ideen, vielmehr haben hier theologische Ideen Antworten auf zeitgenössische Probleme angeboten. Einige Wissenschaftler sprechen von einer »Krise der Leiblichkeit« in dieser Epoche, die sich in den sozialen Experimenten des Pietismus ausdrückte.25 Eng damit verbunden war aber auch eine Krise des Ehe-Komplexes, der Rückgang der Kontrollfunktion weltlicher Autoritäten im Bereich von Moral und Sitte sowie tiefgreifende wirtschaftliche und strukturelle Änderungen in der Gesellschaft.26 Das religiöse und soziale Interesse an Androgynie zu dieser Zeit spiegelt 24

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Zinzendorf bemerkte z. B., dass die Bibel Frauen als Vorbilder für Güte, Heiligkeit und Keuschheit aufzählte. Vgl. Otto Uttendörfer: Zinzendorf und die Frauen: Kirchliche Frauenrechte vor 200 Jahren. Herrnhut 1919, 16. Vgl. auch Aaron Fogleman: Jesus is Female: Moravians and Radical Religion in Early America. Philadelphia 2007, 73 ff. Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der Radikale Pietismus um 1700. Göttingen 1998. Wegen Änderungen in ökonomischen Strukturen konnten viele Menschen die wirtschaftliche Basis, eine Familie zu gründen, nicht aufbauen. Isabel V. Hull dokumentiert, wie absolutistische Herrscher sich immer mehr in dieser Periode auf die Kontrolle über Finanzen und Territorien konzentrierten und sich zunehmend nur mit moralischen Dingen beschäftigten,

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innergesellschaftliche Turbulenzen wider. Kulturwissenschaftler haben gezeigt, dass körperliche Symbole in Zeiten sozialer und politischer Krise betont werden.27 Der weitverbreitete Chiliasmus in religiösen Kreisen und die Angst angesichts der Jahrhundertwende können als Ausdruck der Krisenstimmung gedeutet werden.28 Es würde hier zu weit gehen, alle diese zugrundeliegenden Faktoren zu untersuchen. Interessant aber ist in diesem Kontext, wie sich Pietisten der Sophia-Lehre zuwendeten, um ihre Versuche, das Leben »anders« zu gestalten, zu rechtfertigen. Pietistische Experimente mit Ehe und Sexualität reichten vom kommunalen pietistischen Kloster über asketische »Streiterehen« für Christus bis hin zu radikalen Sekten, in denen sexuelle Rituale zu Sakramenten wurden. Von den asketischsten bis zu den dekadentesten Modellen fanden fast alle diese Experimente eine ideologische Basis in den Vorstellungen der göttlichen Sophia und eines androgynen Urmenschen. Einige Gruppen wie z. B. die Herrnhuter interpretierten das Verhältnis zwischen Männern und Frauen auf eine neue Art und Weise: Die beiden Geschlechter seien zwar in dieser Welt nicht gleich, aber sicherlich gleich wichtig in Gottes Plan für die Menschheit. Als Folge entwickelten die Herrnhuter ein System, in dem sowohl Männer wie auch Frauen der Gemeinschaft dienen konnten. Es gab parallele Ämter für Männer und Frauen auf allen Ebenen der kirchlichen Organisation; Leiterinnen predigten, missionierten und kümmerten sich genauso um Finanzen und Administration wie ihre männlichen Kollegen.29 Einige Religionsgemeinschaften der Zeit wie die Labadisten verstanden die Gemeinde als eine Art »Familie«. Die Anführer der Gruppe, Jean de Labadie und Anna Maria van Schurmann wurden als »Mama« und »Papa« der Gemeinschaft bezeichnet, während die anderen Mitglieder »Brüder« und »Schwestern« waren. Solche Bindungen würde Goethe später als »Wahlverwandtschaften« bezeichnen, die zum Entsetzen des Publikums keine Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung nahmen. In dieser Weise schufen sich viele Radikalpietisten, die aus wirtschaftlichen Gründen nicht heiraten konnten, eine »Familie«. Die Mitglieder vermehrten sich durch Konversionen statt durch leibliche Kinder. Viele glaubten ohnehin, dass es falsch sei, Kinder zu bekommen, da die Welt schließlich bald enden würde. Andere pietistische Gruppierungen verstanden die Existenz der männlichen und weiblichen Geschlechter als bloßes Zeichen der Sünde, als eine Folge der

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wenn sie eine Gefahr für das Land oder den Frieden darin sahen (Hull: Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700–1815. Ithaca 1996, 3, 104–106, 326); s. auch Martin (Anm. 12), 63 ff. Mary Douglas: Purity and Danger: An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo. London 1991, 120–122; Patricia Caplan: Introduction. In: The Cultural Construction of Sexuality. Hrsg. v. Caplan. London 1989, 14–15. Vgl. auch Hans Schneider: Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Manfred Jakubowski-Tiessen u. a. Göttingen 1999, 187–212. Lucinda Martin: Anna Nitschmann (1715–1760): Priesterin, Generalältestin, Jüngerin der weltweiten Brüdergemeine. In: Frauen gestalten Diakonie. Bd. 1: Von der biblischen Zeit bis zum Pietismus. Hrsg. v. Adelheid M. von Hauff. Stuttgart 2007, 293–410.

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Teilung des Urmenschen in zwei sündhafte Hälften. Solche Gruppen lehnten Sexualität kategorisch ab und führten verschiedene Formen des zölibatären Lebens ein, unter anderem sogenannte spirituelle Ehen. Ihr Ziel war es, auf die »wahre Ehe« im Himmel zu warten, wo der sündhafte, irdische Körper wieder zu seinem vollkommenen androgynen Zustand zurückkehren sollte.30 Sowohl Männer wie auch Frauen wurden als »befleckt« und unvollkommen bezeichnet. Im deutschen Raum waren die maßgeblichen Befürworter eines sophiologisch inspirierten Zölibats Johann Georg Gichtel und Gottfried Arnold. Gichtel lebte in Amsterdam, aber er korrespondierte mit vielen Gleichgesinnten in Deutschland. Seine »Engelsbrüder« wollten alleine oder in »keuscher Ehe« leben. Gichtels Einfluss reichte bis in die Kreise des frühen Hallischen Pietismus, wo selbst Anna Magdalena Francke eine Zeit lang von ihrem Ehemann August Hermann Francke entfremdet lebte.31 Auch Gottfried Arnold stand in Verbindung mit Gichtel und befürwortete die »keusche Ehe« mit Sophia. Aber nur ein Jahr nachdem Arnold sein Geheimniß der göttlichen Sophia geschrieben hatte und nur zwei Jahre nachdem er seine Stelle als Professor niedergelegt hatte, weil er keinen Anteil an »Babel« haben wollte, milderte Arnold seine Ansichten. Er entschied sich zu heiraten und eine kirchliche Stelle anzunehmen, um seine Familie ernähren zu können. Als Gichtel die Nachricht von Arnolds Sinneswandel erhielt, erklärte er, er hoffe, dass Arnold »kein Weib, sondern eine Schwester zum Weib haben wollte.« Später musste er aber enttäuscht bemerken, Arnold sei »in Kinder verfallen.«32 Einige Pietisten wie Gerhard Tersteegen wohnten in einem monastischen »spirituellen Haushalt« mit einer kleinen Anzahl Gleichgesinnter, wo der Tag durch Gebet, Andacht, Lernen und Arbeit strukturiert wurde; andere Pietisten entwickelten großangelegte Experimente mit neuen Formen protestantischen Mönchtums. Das pietistische Kloster entwickelte sich am weitesten in den nordamerikanischen Kolonien, wo sich viele der sozial radikalsten Pietisten sammelten. Den ersten Versuch, in Amerika eine zölibatäre Utopie zu verwirklichen, unternahm eine Gemeinschaft, die zum Großteil aus Wissenschaftlern und Mathematikern bestand, die als Eremiten in den Wäldern Pennsylvaniens lebten. Die Gruppierung lehnte alle Namen als »sektiererisch« ab, aber Nachbarn bezeichneten sie als die »Woman in the Wilderness«-Gemeinschaft, da sie auf die prophezeite Frau aus Offenbarung 12,1–6 warteten. Die Gemeinschaft interpretierte das »Weib in 30

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Obwohl ihre Ehe anscheinend glücklich war, bemerkte Jane Leade nach dem Tod ihres Mannes, dass die Ehe ihre »true marriage of the soul with the Heavenly Sophia« aufgeschoben hätte. Vgl. Durnbaugh (Anm. 7), 130. Zaepernick (Anm. 8), 74–118. Beide Zitate stammen aus Johann Georg Gichtel: Theosophia practica: Halten und Kämpfen ob dem h. Glauben bis ans Ende: durch die drey Alter des Lebens Jesu Christi, nach den dreyen Principien Göttliches-Wesens, mit derselben Ein- und Aus-Gebuhrt durch Sophiam in der Menschheit, welche Gott derselben in diesem Alter der Zeit von neuem vermählet hat: und […] in Briefen gestellet von dem gottseligen Gottes-Freund und Mann Sophiae. Leyden 1722. Das erste Zitat ist in V, Nr. 62, das zweite ist in I, 425, 572 u. VI, 1416. Vgl. dazu Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Klaus Deppermann u. Martin Brecht. Göttingen 1995, 116 f.

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der Wüste« als die göttliche Sophia. Von diesen Anfängen entwickelte sich später das Ephrata-Kloster in Pennsylvanien, wo die Sophia ebenfalls eine zentrale Rolle spielte. Es gab sogar noch andere sophiologisch inspirierte, pietistische Klöster der sogenannten Rappisten in Pennsylvanien und Indiana, die bis ins 19. Jahrhundert existierten.33 Weitere radikale Gruppierungen wie die berüchtigte »Sozietät der Mutter Eva« wurden ebenfalls von der Idee der Sophia und des androgynen Urmenschen beeinflusst.34 Die Anhänger der Eva von Buttlar versuchten, den irdischen Körper zu überwinden, indem sie religiöse Rituale entwickelten, die den sexuellen Akt zu einem Sakrament stilisierten. Ihr Ziel war es, die männlichen und weiblichen Aspekte der Menschheit zu versöhnen, indem sie die Polarität der Geschlechter durch »Reinigung« aufheben wollten. Diese »Reinigung« bestand für Männer im sexuellen Verkehr mit Eva von Buttlar. Für Frauen war die Prozedur viel schmerzvoller und führte oft zu jahrelangen medizinischen Problemen, da die »Reinigung« der Frau durch ein manuelles Zerquetschen der Gebärmutter erfolgte. Man glaubte dadurch »das Tier« (als Ursprung der Sünde) töten zu können. Ob asketisch und zölibatär oder dekadent und ausschweifend, alle diese pietistischen Strömungen versuchten, biologische Unterschiede zu überwinden, da das Wesentliche des Menschen sein inneres Leben, seine Seele sei. Viele Pietisten sahen biologische Unterschiede als eine unglückselige Folge des Sündenfalls und des menschlichen Lebens auf Erden und nicht nach traditionellem Verständnis als göttliche Befugnis, Frauen und Männer auf bestimmten Sphären zu beschränken. Pietisten begannen grundlegende Aspekte der Gesellschaft zu hinterfragen: Geschlechter-Rollen, die Institution der Ehe, kirchliche und staatliche Behörden. Diese könnten, so die Pietisten, nicht von Gott, sondern bloß von fehlbaren Menschen konstruiert worden sein.

Die Sophia und das Schreiben pietistischer Frauen Ich habe die Transformationen der Sophien-Lehre von Jakob Böhme über Gottfried Arnold bis hin zu verschiedenen pietistischen Glaubensgemeinschaften nachgezeichnet. Nun möchte ich näher auf einen besonderen Aspekt der pietistischen Auseinandersetzung mit einer androgynen Gottheit eingehen: den Rückgriff einiger pietistischer Autorinnen auf die Sophia-Lehre, um ihr Schreiben und Sprechen über religiöse Themen zu rechtfertigen. In ihrer Autobiographie identifiziert Johanna Eleonora Petersen die Sophia mit dem Heiligen Geist, eine Gleichsetzung, die viele Pietisten vornahmen. In der

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Die beste Studie zu Ephrata, die auch Hinweise zu den anderen nordamerikanischen pietistischen Klöstern enthält, ist: Jeff Bach: Voices of the Turtledoves. The Sacred World of Ephrata. University Park, PA 2003. Vgl. dazu Temme (Anm. 25) und Barbara Hoffmann: Radikalpietismus um 1700. Der Streit um das Recht auf eine neue Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1996.

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Deutung eines visionären Traums enthüllt Petersen das »große Geheimnis«, das zu ihrer und ihres Mannes Verfolgung führte: Das leßte Bild wegen des Geheimnisses vom Vater, Sohn und Mutter […] so in dem Gemach gewesen, habe ich, nachdem mir die himmlische Gottmenschheit und das himmlische Jerusalem als der Taubengeist, davon wir Geist von Geist geboren werden, ist aufgeschlossen worden, dahin gedeutet; denn dadurch ist das Geheimnis der heiligen Trinität, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, der nach dem Hebräischen in dem weiblichen Genäre als eine fruchtbare Mutter und ausbrütende Taube ausgesprochen wird, in die Offenbarung gekommen, dadurch die Ausgänge in das mittlere Kraftwesen und die Unsichtbarkeiten in Gott zur Sichtbarkeit kommen sind […].35

Gottfried Arnold hatte darauf hingewiesen, dass es unwichtig sei, dass »der Geist« in anderen Sprachen feminin oder neutral ist, aber für Petersen ist diese Frage keinesfalls unwichtig.36 Sie weist darauf hin, dass im Hebräischen Geist (rûah) weiblich ist.37 Nach Petersen ist dies ein Beweis dafür, dass Gott das Weibliche und das Männliche in sich einschließt. Was aber noch wichtiger ist: diese »fruchtbare Mutter und ausbrütende Taube« macht die »Unsichtbarkeiten in Gott zur Sichtbarkeit«, d. h. sie ist die Vermittlerin von Gottes Offenbarung. Ohne sie gibt es keinen Logos. Petersen nimmt einen sehr alten Streit im Christentum auf: den uralten Kampf zwischen »Wort« und »Geist«. Theologen haben dabar (heb. »Wort«, m.) und ruah (»Geist«, f. ) als konkurrierende Begriffe, besonders im ersten Buch Mose, verstanden.38 Darüber hinaus wurde der Streit durch zwei verschiedene Versionen der Schöpfungsgeschichte in der Bibel angefacht. Im ersten Buch Mose heißt es: »Am Anfang […] schwebte der Geist Gottes auf dem Wasser«. Im JohannesEvangelium heißt es hingegen, »Im Anfang war das Wort«. Petersen löst das Problem, indem das Weibliche (Geist) das Männliche (Wort) offenbart. Petersen bemerkt, wenn man einmal »die himmlische Menschheit recht und wohl einsiehet, so wird uns die ganze Heilige Schrift immer klärer und deutlicher werden.«39 35 36 37

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Johanna Eleonora Petersen (Anm. 12), 68 ff. Für eine detailliertere Diskussion dieser Textstelle s. Martin (Anm. 12), 208–217. Arnold (Anm. 14), 41 (6 u. 7). Feministische Bibelwissenschaftlerinnen deuten darauf hin, dass viel verloren ging, als das hebräische Wort ruah (f.) ins Griechische pneuma (n.) und dann später ins Lateinische spiritus (m.) übersetzt wurde. Sie weisen darauf hin, dass der feminine, mütterliche, kreative Aspekt von ruah den biblischen Autoren wichtig war, weil sie ihn oft mit der weniger verwendeten männlichen Version des gleichen Wortes, das die destruktive Kraft Gottes darstellte, kontrastierten. Viele frühchristliche Denker interpretierten rûah dahingehend, dass Gott ein androgynes Wesen sei, und es liegt nahe anzunehmen, dass Johanna Eleonora Petersen, die der alten Sprachen mächtig war, davon wusste. Vgl. dazu Helen Schüngel-Straumann: Ruah (Geistin). In: Feministische Theologie: Perspektiven zur Orientierung. Hrsg. v. Maria Kassel. Stuttgart 1988, 59–75; Gabriele Winkler: Überlegungen zum Gottesgeist als mütterlichem Prinzip und zur Bedeutung der Androgynie in einigen frühchristlichen Quellen. In: Liturgie und Frauenfrage. In: Pietas Liturgica 7. Hrsg. v. Teresa Berger u. Albert Gerhards. St. Ottilien 1990. Schüngel-Straumann (Anm. 37) bestätigt, dass die zwei Begriffe parallel sind und dass sie oft als Synonyme erscheinen: vgl. 66. Johanna Elenora Petersen (Anm. 12), 68.

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Viele Pietistinnen wollten den Geist vor das Wort setzen, da das »Wort« Ihnen schließlich offiziell verboten worden war. Sie durften weder an Universitäten studieren noch kirchliche Ämter innehaben und die Texte, die Frauen in offiziellen Institutionen nicht studieren durften, waren genau die Texte, die Frauen dies angeblich verboten. »Geist« aber ist jedem zugänglich und kann von keiner Institution kontrolliert werden. Obwohl Petersen ihre Ausführungen anhand ihres biblischen Wissens und ihrer Sprachkenntnisse beweist, beruft sie sich letztendlich auf den »Geist«. Da ich an anderer Stelle ausführlicher über Petersen geschrieben habe,40 möchte ich mich jetzt einer weiteren, weniger bekannten Autorin zuwenden und ihre Rechtfertigung des eigenen religiösen Engagements genauer analysieren. Susanna Margaretha Wagener heiratete den Lehrer Johann Heinrich Sprögel im Jahr 1674. Sprögel wurde im Jahr 1681 Stiftsdiakon in Quedlinburg. Das Paar war mit August Hermann Francke eng befreundet und ihr Haus war eine zentrale Stelle für pietistische Kreise in Mitteldeutschland. Magdalena Elrichs, eine der sogenannten drei begeisterten Mägde, die eine Reihe von ekstatischen und prophetischen Ereignissen im Jahr 1691 auslösten, arbeitete für das Paar.41 Die Rolle der Sprögels in den Aufsehen erregenden Vorfällen führte zu jahrelangen rechtlichen Problemen für das Paar, bis Johann Heinrich Sprögel im Jahr 1698 von seiner Stelle suspendiert wurde. Im gleichen Jahr zog Gottfried Arnold bei der Familie ein und vollendete im Haus Sprögels sein einflussreichstes Buch, seine Unparteiische Kirchen und Ketzerhistorie von 1699/1700. Im Jahr 1701 heiratete Arnold die Tochter der Sprögels, Anna Maria.42 Consilia und Responsa Theologica; oder Gottsgelehrte Rathschläge und Antworten wurde 1705 anonym mit einem Vorwort von Gottfried Arnold veröffentlicht.43 Wissenschaftler haben das Werk Susanna Margaretha Sprögel, Gottfried Arnolds Schwiegermutter, zugeschrieben.44 Im Vorwort bezeichnet Arnold den 40

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Martin (Anm. 12), 157–225; Lucinda Martin: Female Reformers as the Gate Keepers of Pietism. The Example of Johanna Eleonora Merlau and William Penn. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur, Vol. 95, No. 1 (2003), 33–58. Vgl. dazu Ulrike Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus. Tübingen 1996, 21–86; Martin (Anm. 12), 114 ff. Ruth Albrecht plädiert für eine Forschung zu Anna Maria Sprögel und ihrem Arbeitsverhältnis mit Arnold. Dies.: Am Anfang eines langen Weges. Frauen und Geschlechterforschung in der Kirchengeschichte. In: Feministische Theologie und Gender-Forschung. Bilanz-Perspektiven-Akzente. Hrsg. v. Irene Dingel. Leipzig 2003, 67–96, hier: 85–89. Consilia und Responsa Theologica; oder Gottsgelehrte Rathschläge und Antworten/ über denen wichtigsten stücken und zuständen eines göttlichen wandels/ nebenst neuen Geistlichen Gedichten/ der weißheit Garten-Gewächs genannt/ gemein gemacht von Gottfried Arnold. Frankfurt a. M. 1705. Die orthodoxe lutherische Zeitschrift Unschuldige Nachrichten meinte, dass Johanna Eleonora Petersen den Traktat geschrieben habe (1704: 602; 1718: 913). Diese Vermutung wurde von Arnold in einer anderen von ihm herausgegebenen Schrift geleugnet, ohne dass er die Identität der Autorin preisgibt (Historisch=Theologische Betrachtungen merckwürdiger Wahrheiten Auf Veranlassung derer bißherigen Einwürffe Gegen G. Arnolds Schriften […] Franckfurt am Mayn 1709, 167). Ruth Albrecht bestätigt, dass der Text nicht von Johanna Eleonora Petersen stammen kann (Johanna Eleonora Petersen [Anm. 12], 34 f.). Albrecht Ritschl schlägt Anna Catharina Scharschmied, geb. Heidfeld als Verfasserin des Buches vor

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Autor als einen »Theologus« und einen »Gottesgelehrten Mensch«.45 Er beschreibt das Buch als den »innerlichen lebens-lauff dieser seele«, was auf seinen Ursprung als pietistisches Seelentagebuch hinweist.46 Ein Großteil des Buches besteht aus Dialogen zwischen der Seele der Autorin und Gott. Die Autorin erwägt diverse Bibel- und Glaubensfragen, woraufhin »Gott« antwortet. Aber das Buch enthält auch Gebete, Gedichte und die Träume und Gesichte der Autorin. Böhme und Arnold stellten sich eine Sophia vor, die als passives »Instrument« Gottes erscheint, aber nach Sprögel ist die Sophia eine aktive Vermittlerin der Erlösung. Sie ist diejenige, die Änderungen in der Seele bewirkt und den Menschen zurück zu Gott führt. Sprögels radikalere Vorstellung der Sophia geht auf eine lange Auseinandersetzung mit diesem Stoff zurück. Seit mindestens 1696 hatte sie mit Johann Georg Gichtel darüber korrespondiert. Leider sind nur Gichtels Briefe aus diesem Austausch erhalten.47 In den Consilia und Responsa nimmt aber Sprögels Sophia Gestalt an, wenn Sophia durch die Autorin in der ersten Person in einer Weise spricht, die stark an die Sophia der Bibel erinnert.48 Arnold verstand die Sophia bloß als einen »Geist«, nicht als eine Person, und Böhme schreibt verwirrenderweise, Sophia sei nicht eine Person aber doch eine Persönlichkeit; für Sprögel aber ist die Sophia eindeutig eine Person innerhalb der Gottheit, wie diese Textstelle zeigt: Also lerne und mercke auf meine wege wohl/ so wirst du weise/ und alles gute kommt dir von mir/ deiner treuen mutter der weißheit/ die dich so heilig leitet/ locket/ und ziehet zu allem gutem/ […] ich kehre alles wieder umb/ und bringe das ende wieder in den anfang/ und den anfang in das ende. […] Also verschlinge ich den todt im sieg/ und verwandle zu seiner zeit den tod in lauter leben und friede.49

Böhme und Arnold erdachten sich einen androgynen Urmenschen und beide Männer glaubten, dass am Ende der menschlichen Zeit Gott die Menschheit in ihren vollkommenen androgynen Zustand überführen würde – sei es nach Meinung Böhmes im Geistleib oder nach Meinung Arnolds im reinen Geist. Nach Sprögel ist es jedoch nicht Gott, sondern die Sophia, die diesen Wandel bewirkt:

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(Geschichte des Pietismus 2. Bonn 1884, 319 f). Folgende Wissenschaftler haben Sprögel als die Autorin gesehen, was inzwischen als Konsens gelten kann: Curt von Faber du Faur: German Baroque Literature. A Catalogue of the collection in the Yale University Library. Bd. 1. New Haven 1958, 375; Jürgen Büchsel/Dietrich Blaufuß: Gottfried Arnolds Briefwechsel. Erste Bestandsaufnahme – Arnold an Christian Thomasius 1694. In: Pietismus – Herrnhutertum – Erweckungsbewegung. Hrsg. v. Dietrich Meyer. Düsseldorf 1982, 71–106, hier: 90. [Sprögel:] Consilia und Responsa (Anm. 43), unpag. Vorrede, Abs. 3. Ebd., Abs. 5. Gichtels Briefe an sie (und andere Anhänger) aus den Jahren 1696–1700 sind erhalten: Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha A 297, 217–233. Vgl. Zaepernick (Anm. 8), 118. Vgl. z. B. »Die Weisheit ist ein Geist, der den Menschen liebt, doch lässt sie den Lästerer nicht unbestraft«. (Weis. Sal. 1,6); »So ging auch ich, die Weisheit, hervor wie ein Seitenarm aus dem Strom und wie ein Wassergraben […]« (Sir 24,40). [Sprögel:] Consilia und Responsa (Anm. 43), S.138 f. Die Schreibweise einschließlich des Fettdrucks in den Zitaten Sprögels wurde aus dem Original übernommen.

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Mache dir auch kein solch bild von der wiederbringung/ als ob alles vergehen und nichts bleiben werde. O nein/ das alte überjahrete sündliche unreine wesen soll verschmelßen und verzehret werden vom feuer der reinigung/ und ich will alles in sein erste reinigkeit wiederbringen […] meine tieffen sollen offenbahr werden den unmündigen/ die das reich Gottes als Kinder empfangen haben.50

Die Idee, Gott offenbare sich den Einfachen und nicht den Mächtigen, den Unmündigen und nicht den Berühmten, war einer der am weitesten verbreiteten Gedanken des Pietismus. Um die herkömmliche Vorstellung zu überwinden, dass nur studierte, ordinierte Theologen sich öffentlich über religiöse Themen äußern durften, bestanden Laien und Frauen oft darauf, dass die »Auserwählten« »sanftmütig« und »unschuldig«, nicht stolz und privilegiert seien. Pietisten stellten »weltliches« und »göttliches« Wissen einander gegenüber. »Göttliches Wissen« habe man direkt, als empirische Erfahrung von Gott, »weltliches« Wissen habe man aus fehlbaren Büchern. Oft verfügten diese Laien und Frauen über beträchtliche Bibelkenntnisse und beherrschten die alten Sprachen, aber sie beriefen sich stets auf göttliche Erfahrung und inszenierten sich als passive »Werkzeuge«. Auch in den Consilia und Responsa Theologica spielen die Motive der Sophia und des androgynen Urmenschen eine zentrale Rolle, um die gesellschaftlich sanktionierten Geschlechter-Rollen in der Ehe zu hinterfragen und unverhohlen den Wunsch nach Veränderung zu begründen. So verschmilzt Sprögel Jesus und die Sophia zu einer Person und kontrastiert die herkömmliche, »unreine« Ehe mit einem neuen Modell der Ehe mit Jesus-Sophia: Stehe wie holdselig/ […]/ wenn alle falsche doppelte unreine liebe/ samt allen stolßen und hochherfahrenden sinn im menschen wird nieder gelegt seyn. Wenn nun Jesus wird im heiligen keuschen Geist küssen/ da weder mann noch weib/ sondern einer in Christo seyn wird/ auch unter wahren eheleuten/ doch ohne sündlich herrschsuchtige mannes-art und ohne ruhmredig hoffärtig befleckt weib/ sondern Jesus-Sophia die reine neue menschheit sich umbarmen wird.51

Christen werden also nicht nur neue Körper bekommen, sondern Gott, oder genauer Jesus-Sophia, wird eine neue Art von Ehe einführen, in der Mann und Frau »einer in Christo« sind und wo keiner über den anderen herrscht: Also wird auch die reine wahre ehe auch auf der erden wieder auffgerichtet werden/ da der Mann nicht mehr über sein weib oder jungfrau in hißiger brunst oder stolßer eigenheit herrschet/ sondern seine Jungfrau ehret/ sie heilig und keusch liebet […]. Siehe so wird die gefallene menschheit wieder in ihre erste blüthe verseßet/ und in mann und weib eines in dem unzertheilten sinn und einigen willen Gottes/ drinn eines dem andern dienet. Welches denn noth ist zur göttlichen gleichheit und einigkeit.52

Obwohl Sprögel als Arnolds Schwiegermutter besonders im Motiv der Verschmelzung von Jesus und Sophia ihre Vertrautheit mit Arnolds Sophien-Konzept zeigt, bedient sich Sprögel einer völlig anderen Sprache, um die Sophia zu charakteri50 51 52

Ebd., 231 f. Ebd., 232. Ebd., 231 f.

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sieren. Sie schreibt nicht in der Sprache des Kirchenhistorikers, sondern ähnlich wie Jakob Böhme oder Johann Georg Gichtel in der Sprache der Alchemie: Denn der feind […] will […] dir gern alle stärcke und krafft samt allem männlichen ernst/ welcher doch der starcken reinen liebe eigen ist/ verlöschen/ und dich in zertheilung der kräffte behalten/ damit nicht weißheit und stärcke in dir sich vereinigen und einen einigen neuen Gottes-menschen darstellen sollen. Allein dieß ists eben/ deßwegen ich beständig bey und in dir bleiben muß/ damit du keinen schaden leidest/ weder an der göttlich-männlichen noch an der göttliche-jungfräulichen natur und tinctur. Denn also must du nicht mehr zertrennt/ sondern ein vollkommen jungfräulicher mann und männliche jungfrau in einer unzertrennten gestalt und art wieder dargestellet werden. Dieß ist die rechte wahre neue geburt/ und die rechte wiederbringung in dir selbst/ welche dir geschencket und mitgetheilet wird.53

In dieser Textpassage identifiziert Sprögel die »göttlich-männlichen« und die »göttlich-jungfräulichen« »Tincturen«: die »männliche« »Tinctur« ist »Stärcke« und die »jungfräuliche« »Tinctur« ist »Weißheit«. Die Vorstellung, dass Weisheit selbst weiblich sei, stellt eine deutliche Erhöhung für das weibliche Geschlecht dar. Aber Weisheit und Stärke stehen sowohl Männern wie auch Frauen zur Verfügung, weil diese innere und nicht äußere Eigenschaften sind. Die praktischen Folgen dieser theologischen Vorstellung sind nach Sprögel, dass Regeln und Bräuche, die das Verhalten der Geschlechter festschreiben, nach dem inneren Menschen und nicht nach der äusseren Creatur angewendet werden müssen: Die weiber sollen schweigen in der gemeine/ saget Paulus/ und das ist auch wahr nach dem rechten sinn des geistes. Denn alle weiche weibische und faule gemüther sollen schweigen/ weil sie ihr leben nicht umb Christi willen willig in den tod übergeben. Solchen gebühret freylich stillschweigen/ denn sie können nicht in der wahrheit von Jesus zeugen/ und von der neuen geburt/ weil sie noch nichts davon erfahren/ auch keinen muth und willen haben/ wie männliche gemüther/ in den tod zu gehen. Daher der prophetische geist spricht/ daß Gott alle/ die er straffen wolle/ zu weibern werden lasse/ und ihnen den muth nehme.54

Sprögel legt Paulus’ Gebot, Frauen hätten in der Kirche zu schweigen, so aus, dass die Schwachen und Mutlosen zu schweigen hätten, d. h. diejenigen, die innerlich weiblich sind. Die Autorin rät jedem, sich selbst zu erforschen um zu entdecken, ob man »männlich« oder »weiblich« sei und ob demnach das paulinische Verbot für einen selbst zutreffe: Darum gehe ein ieder in sich/ und suche worinn das weibische schweigen bestehe. Denn die wahren redner und zeugen Jesu sind nicht weich weibisch/ ja in Christo sind weder mann noch weib/ sondern allzumahl einer in ihm/ in welchen das wort des lebens/ der rechte bräutigam und mann selber zeuget.55

53 54 55

Ebd., 253 f. Ebd., 328 f. Ebd., 329.

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Lucinda Martin

Sprögels Rat schliesst auch Männer ein. Nach ihrer Anthropologie ist das, was man äußerlich ist – sei es Mann, Frau oder Kind – eine Tatsache der Natur, was man dagegen innerlich ist, ist jedoch eine Frage der spirituellen Reife: Und also müssen nach dem wahren sinn des geistes auch viel männer noch schweigen lernen/ die zwar männer heissen/ und doch nicht einmahl umbgekehrte kleine kindlein in Jesu worden/ und zum himmelreich tüchtig/ geschweige andere zu lehren geschickt sind. Diese […] sollen lernen schweigen/ wie der Geist ihnen gebeut. Darum lasse sichs ein ieglicher den heiligen Geist aus dem wort zeigen/ ob und was er reden solle/ damit ers rede/ als Gottes wort. Sonst sinds reden eines befleckten gefallenen weibes/ ja klingende schellen und leere schwäßer/ welche schweigen sollen.56

Nach Sprögel ist das Weibliche – wie überhaupt in ihrer Epoche – negativ konnotiert. Da Sprögel für sich aber das Recht auf religiöses Reden beansprucht, sah sie sich anscheinend nicht als »ein gefallenes weib«. Aus dieser Passage wird klar: Susanna Margaretha Sprögel verstand sich selbst als Mann.

Zusammenfassung Im Fall von Susanna Margaretha Sprögel verleiht die Sophia einer Autorin nicht nur das Recht, ihre Ansichten zu veröffentlichen, sondern erlaubt es ihr auch, ein neues Modell für die Ehe zu entwickeln. Die »rechte, wahre neue geburt« sieht sie in einer Ehe, wo Eheleute »in einer unzertrennten Gestalt und Art« als Partner leben, wo Männer und Frauen gleich mächtig sind. Als Gottfried Arnold sein Geheimnis der Göttlichen Sophia 1699/1700 veröffentlichte, hatte auch er die traditionelle Ehe noch scharf kritisiert. Ein Jahr später heiratete er Anna Maria Sprögel. Stellte diese Beziehung die Art von Ehe dar, die Susanna Margaretha Sprögel befürwortet hatte? Sicher ist, dass die Sophia-Lehre Frauen (und Männer) ermutigte, sich und die Welt mit neuen Augen zu sehen. Nach dieser Lehre wurde das weibliche Geschlecht nicht nur erzeugt, um dem männlichen behilflich zu sein, sondern das Weibliche war ein intrinsischer Teil der Gottheit und der Schöpfung und daher positiv, nicht negativ, konnotiert. Anstatt die Schuld für den Sündenfall einseitig auf die Frauen als Töchter Evas zu schieben, ließen sich nun beide Geschlechter als Produkte von Adams Sünde interpretieren. Die Vorstellung, Männer hätten gemäß eines göttlichen Plans über Frauen zu herrschen, verlor in vielen pietistischen Kreisen ihre theologische Begründung. Frauen konnten sich innerhalb dieser Gemeinschaften neuen Aufgaben stellen und neue Rollen übernehmen. Vor dem Hintergrund der theologischen Sophia-Lehre konnten Frauen in einigen pietistischen Gruppierungen Führungsrollen übernehmen, die weit über das hinausgingen, was die säkulare Aufklärung tolerierte. Pietisten forderten traditionelle Hierarchien in vielerlei Weise heraus, indem sie die Welt nach religiösen Prinzipien reformieren wollten. Religiöse Dissiden56

Ebd., 329 f.

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ten führten nicht nur kirchliche Innovationen ein, sie experimentierten auch mit allen denkbaren Sozialstrukturen, die von der Erziehung über Geschlechter-Rollen bis hin zu möglichen Formen des Familienlebens reichten. Viele ihrer Ideen überdauerten das 18. Jahrhundert nicht. Pietistische Klöster und »spirituelle Ehen« konnten sich nicht durchsetzen. Nach ca. 1760 endeten die radikalsten pietistische Experimente, einschließlich der beachtlichen Erweiterung der Rolle der Frau in religiösen Belangen. Trotzdem haben diese pietistischen Versuche, das Leben anders zu gestalten, den Denkhorizont der Zeitgenossen erweitert. Eine pietistische Praxis, die sich durchsetzte, war z. B. das Schreiben von Frauen. Die pietistische Idee, dass jeder für sein eigenes Seelenheil verantwortlich sei, führte zusammen mit der pietistischen Betonung der Selbstbeobachtung und der sorgfältigen Verfolgung der eigenen religiösen Entwicklung dazu, dass immer mehr Frauen und Laien zur Feder griffen. Sophia, »die göttliche Weisheit«, inspirierte auf diesem Weg tatsächlich viele Frauen. Als Frauen zunehmend ihre Schriften verfassten und veröffentlichten, wurden traditionelle Vorstellungen, dass solche Tätigkeiten – wie auch jegliche öffentliche Aktivität – unpassend für Frauen seien, aufgeweicht. Stereotypen über die angebliche Unfähigkeit von Frauen wurden nach und nach diskreditiert. Diese Erweiterung der Möglichkeiten für Frauen (und auch Männer), zu schreiben und zu veröffentlichen, ist als eine der dauerhaftesten – und weisesten – Beiträge des Pietismus für die moderne Welt einzustufen.

Kaspar Bütikofer

Die Rezeption Böhmes durch den Zürcher Pietisten Johann Heinrich Locher Eine mikrohistorische Untersuchung über die Bedeutung Böhmes Jakob Böhme wird gerne als Vater des radikalen Pietismus bezeichnet. Diese Bezeichnung geht auf Emanuel Hirsch zurück und dient theologiegeschichtlich der scharfen Abgrenzung zu Philipp Jakob Spener und dem ›eigentlichen‹, d. h. kirchlichen Pietismus.1 In der Geschichte der neueren evangelischen Theologie zog Hirsch die Trennlinie zwischen Böhme und Spener. Er widmete Jakob Böhme ein ganzes Kapitel und untersuchte darin dessen Wirkung auf den radikalen Pietismus. Er ging so weit, den radikalen Pietismus als eine Seitenbewegung der pietistischen Zeit zu bezeichnen. Seiner Ansicht nach trat durch das Eintreten Speners für ein tätiges Laienchristentum eine ältere Seitenlinie der Reformation an die Oberfläche. Überlieferungen von Schwärmertum, Täufertum und mystischem Spiritualismus der Reformationszeit […], das Weiterwirken von Gedanken und Anregungen gewisser Eingänger, vor allem Jakob Böhmes […], – dies alles miteinander bahnte sich nun im schwärmerischen Pietismus einen Weg ins Freie […].2

Hirsch stellte die theologische Konzeption Böhmes jener von Spener als komplementär gegenüber. Böhme wurde gegen Spener, den Erneuerer und Reformer der orthodoxen Theologie, scharf abgegrenzt; seine spekulative Sonderlehre bedeute für die wesentlichen Dogmen der evangelischen Theologie, wie Schöpfungslehre, Sündenfall oder Gnadenwahl, eine Auflösung und Zerstörung der kirchlichen Lehre.3 Es sei der Böhmismus, der über »Speners Grenzziehungen« hinausgehe und den schwärmerischen, pietistischen Separatismus darstelle.4 Folgte man Hirsch, so gäbe es zwei Formen von Pietismus mit zwei unabhängigen, wenn nicht geradezu entgegengesetzten ideen- und theologiegeschichtlichen Grundlagen: Spener hier und Böhme dort. Der eine dringt auf die Erneuerung der Kirche von innen heraus, der andere steht als Heterodoxer außerhalb der Kirche und dringt auf deren Zersetzung und Auflösung. 1

2 3 4

Emanuel Hirsch: Geschichte der neueren evangelischen Theologie. Bd. 2. Gütersloh 1951, 209; vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. I. A. der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. v. Martin Brecht u. a. Göttingen (im Weiteren mit der Sigle »PuN«), Bd. 8 (1982), 23 ff. Hirsch (Anm. 1), 208. Ebd., 214. Ebd., 239.

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Kaspar Bütikofer

Die in der älteren Pietismusforschung aufgestellten Trennlinien werden in der neueren Forschung zwar aufrechterhalten, aber ganz allgemein als unscharf relativiert. Die Tauglichkeit der Begriffe wie radikaler oder schwärmerischer Pietismus wird angezweifelt. Bei beiden Begriffen handelt es sich um Fremdbezeichnungen. Die Einteilung pietistischer Strömungen in radikale und kirchliche erscheint daher heute als eher ungeeignet. Es ist zudem eine gewisse Durchlässigkeit zwischen den Strömungen zu beiden Polen hin feststellbar.5

I Im Folgenden will ich nicht näher auf die aktuelle Diskussion über den kirchlichen und den radikalen Pietismus eingehen. Die einleitend wiedergegebene Position von Hirsch, die heute in dieser Form als überholt gilt, soll lediglich illustrieren, dass die Rolle Jakob Böhmes stark mit der Frage des radikalen Pietismus verknüpft ist. Ist Jakob Böhme eine Nebenfigur in der Entwicklung des Pietismus? Ist er eine allenfalls interessante, aber absonderliche Randerscheinung? Markiert seine Rezeption einen kurzen und vorübergehenden Auswuchs eines frommen Aufbruchs? Oder ist er gar ein maßgeblicher Teil der pietistischen Bewegung und nahm Einfluss auf sie, ähnlich wie Arndt, Spener oder Francke? Steht Böhme im Zentrum des pietistischen Denkens und Glaubens? Ist er in Tat und Wahrheit der Vater des radikalen Pietismus? Ist er die Einheit stiftende Figur für den radikalen Pietismus? Die große Bedeutung Jakob Böhmes für den Pietismus ist anerkannt und unbestritten. Umstritten ist hingegen die Frage, welche Rolle er effektiv im Pietismus gespielt hat. Die Beantwortung dieser Frage hängt stark von der makrohistorischen Konzeption des Pietismusbegriffs ab. H.-M. Rotermund hat zwei idealtypische Betrachtungsweisen aufgezeigt, die nach wie vor sehr hilfreich sind, um die Problematik der Verortung pietistischer Strömungen verstehen zu können. Die erste Betrachtungsweise geht davon aus, dass der Pietismus eine Erweckungsund Erneuerungsbewegung innerhalb der lutherischen (und reformierten) Kirche war. Dementsprechend erscheint der radikale Pietismus als eine wesensfremde Bewegung, ähnlich wie das Täufertum während der Reformation. Die zweite Betrachtungsweise nähert sich dem Phänomen von der anderen Seite: Der Pietismus erscheint hier als ein Wiederaufleben von Strömungen und Motiven, die nach der Reformation abgedrängt worden waren und nun in neuer Gestalt in der Kirche aufbrachen. »Man kann dann den Pietismus als eine Bewegung ansehen, in der hallescher und schwärmerischer Pietismus die Konsequenzen nur verschieden weit ausgezogen haben.«6 Welcher Konzeption der Vorzug gegeben werden soll, 5

6

Martin Brecht: Der radikale Pietismus – die Problematik einer historischen Kategorie. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hrsg. v. Wolfgang Breul u. a. Göttingen 2010, 11–18. Hans-Martin Rotermund: Orthodoxie und Pietismus. Valentin Ernst Löschers ›Timotheus verinus‹ in der Auseinandersetzung mit der Schule August Hermann Franckes (Th A 13).

Die Rezeption Böhmes durch den Zürcher Pietisten Johann Heinrich Locher

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ist für Rotermund an die Frage geknüpft, »wo der Pietismus, geschichtlich gesehen, seine Wurzeln hat«. Es gelte erst diese Frage zu entscheiden, bevor man sich Klarheit über die Definition des Pietismusbegriffs verschaffen könne.7 Meiner Meinung nach besteht die Problematik aber nicht bloß darin, dass die geschichtlichen Wurzeln des Pietismus dessen Begriff bestimmen, sondern eben auch darin, dass die gewählte Begriffsbestimmung wiederum die Frage nach den geschichtlichen Wurzeln determiniert. Der Versuch, mit einem engeren und einem weiteren Pietismusbegriff zu operieren, mag daher hilfreich sein und erlaubt, mit dem Definitionsdilemma flexibel umzugehen. Eine Klärung vermag auch dieser methodische Ansatz nicht zu erreichen. Eine andere zielführende Herangehensweise kann ein mikrohistorischer Ansatz darstellen. Ein Wechsel der Optik vermag die »Innenseite der Fakten in den Blick«8 zu rücken. Nicht die Pietismuskonzeption soll im Zentrum stehen, sondern ein einzelnes Individuum. Es soll uns nicht eine große Persönlichkeit, kein Begründer oder Vater einer bestimmten pietistischen Spielart beschäftigen. Die Bedeutung Böhmes und dessen Rezeption in der frühen Phase des Pietismus kann am Beispiel des Zürcher Kaufmanns Johann Heinrich Locher (1648–1718) aufgezeigt werden. Anhand des mikrohistorischen Ansatzes sollen die Wahrnehmung, die Denk- und Lesewelt eines Pietisten untersucht werden. Wie entwickelt und lebt er seine Frömmigkeit? Was formt ihn? Wie interpretiert er die Umwelt? Und ganz konkret: Welche Bedeutung hat für ihn Jakob Böhme? Wie und warum liest er ihn? Wie rezipiert er ihn? Die Beantwortung dieser Fragen soll die Bedeutung Böhmes für den Pietismus anhand der Lebenswelt einer Einzelperson klären helfen. Es versteht sich beim gewählten Ansatz von selbst, dass die gewonnenen Erkenntnisse nicht verallgemeinert und auf eine Makroebene transferiert werden können. Aber die Lebenswelt eines Individuums soll einen konkreten Eindruck vermitteln und ein Spannungsfeld zwischen einer theoretischen Pietismuskonzeption einerseits und der individuellen Wahrnehmung eines Pietisten andererseits aufbauen. Für eine solche mikrohistorische Herangehensweise eignet sich der Zürcher Kaufmann und Pietist Johann Heinrich Locher sehr gut. Über ihn sind mehrere Quellen vorhanden; wir verfügen über ein Inventar seiner Bibliothek, und zudem bestehen von ihm mehrere Selbstzeugnisse. Er war im frühen Zürcher Pietismus ein wichtiger Akteur. Er wirkte als Organisator und Integrator der Frömmigkeitsbewegung in der Limmat-Stadt; über ihn liefen viele Kontakte mit Gleichgesinnten in der Schweiz und Deutschland. Sein Netzwerk reichte von den Niederlanden bis nach Italien. Er war meistens gut und schnell über die Entwicklungen innerhalb der pietistischen Strömungen informiert. Über ihn fanden neue Ideen und Bücher eine rasche Verbreitung unter den Glaubensgenossen, weit über die Stadtmauern von Zürich hinaus. Locher spielte für die Entwicklung des Pietismus in seiner Heimatstadt eine wichtige Rolle und war alles andere als ein Außenseiter des frühen Zürcher Pietismus. Vielmehr war er so etwas wie der Wortführer der

7 8

Berlin-Ost 1959, 100–107, hier: 104, zit. n. Schneider, Pietismus (Anm. 1), 22. Ebd., 104. Otto Ulbricht: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2009, 14.

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ersten Pietistengeneration. Als Laie nahm er aber nicht öffentlich an theologischen Auseinandersetzungen teil und trug auch nicht zur umfangreichen pietistischen Bücherproduktion bei.9 Locher war keine herausragende Persönlichkeit des Pietismus, die automatisch in den Brennpunkt der Forschung gerät. Seine Bedeutung für die Pietismusforschung erschließt sich erst aus der näheren Beschäftigung mit dem Zürcher Pietismus.

II Johann Heinrich Locher schildert seinen Lebens- und Glaubensweg in seinem Selbstzeugnis »Freimüthiges GlaubensBekanthnus« ausführlich.10 Der Text gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil beschreibt Locher seine religiöse Entwicklung zum Pietismus, die ihn über mehrere Etappen und Krisen führte. Die Schilderung gipfelt in der Wiedergeburt und geht über in einen zweiten Teil, der der Darlegung der Kernelemente seiner religiösen Überzeugung dient. Hier nimmt Locher mehrmals direkt Bezug auf Jakob Böhme und dessen Begrifflichkeiten. Bis zu seiner Wiedergeburt durchlebt Locher drei Krisen unterschiedlicher Intensität. Die Krisen sind für ihn wichtige persönliche Wendepunkte auf dem Weg zum pietistischen Glauben. Die Art und Weise, wie er die Krisen meisterte, sagt einiges über seine Wahrnehmung und Interpretation der Welt aus. Und weil diese drei Krisen durch die Lektüre von Büchern ausgelöst oder bewältigt wurden, erfahren wir auch etliches über die Lesewelt und die Verarbeitungsweise der Texte durch den Zürcher Kaufmann. Dadurch erhalten wir einen ersten Eindruck von der Rolle der gelesenen Autoren für die Ausdifferenzierung der pietistischen Weltanschauung bei Locher. Lochers Werdegang in Begleitung von Büchern habe ich anderswo ausführlich dargestellt.11 Ich werde mich hier auf die kurze Schilderung der drei Krisen beschränken und die Rolle der darin zu Rate gezogenen Bücher darstellen. Die erste Krise Lochers war eine tiefe Glaubenskrise und erfasste ihn während der Adoleszenz mit etwa 14 oder 15 Jahren. Locher war zwischen die Konfessionen geraten, nachdem er als Jugendlicher von zu Hause ausgerissen war und ein glückliches halbes Jahr bei katholischen Pflegeeltern im süddeutschen Raum verbracht hatte. Wieder zurück in Zürich beschäftigte ihn – ganz Kind des konfessionellen Zeitalters – die quälende Frage, welche Lehre nun die richtige sei, die neu kennen gelernte katholische oder die reformierte seiner Eltern. Locher las daher die Bibel, die Werke Calvins, diverse Katechismen und besuchte fleißig die Predigten in der Hoffnung, eine Antwort zu finden. Er kam aber zu keinem Entscheid: 9

10

11

Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Probleme der bibliographischen und editorischen Erschließung pietistischer Literatur. In: Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. Hrsg. v. Georg Jäger u. a. Weinheim 1988, 83–111. Zentralbibliothek Zürich (im Weiteren mit der Sigle »ZBZ«) Ms. S 276, Nr. 27: Freimüthiges GlaubensBekanthnus [Johann Heinrich Locher] von Zürich nebendt etwelcher GeschichtsErzellung aufgesetzt im Monat Augusto 1700. Kaspar Bütikofer: Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721). Göttingen 2009.

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Weilen aber gewahret, daß ein jeder die biblische Schrifft nach seinem Sinn deüthet und trehet und sich selbst zum meister darüber macht, brachte mir solches mehr Schwehrigkeit im gemüth, besonders weil mich nicht mächtig befande den ungezweiflet rechten verstand der Schrifft also zufaßen, daß ich entweder parthey hette gäntzlich beifallen, und darmit mein gemüth berüwigen können.12

Ein himmlisches Wunder habe ihm den Weg aus seiner konfessionellen Verwirrung gewiesen. Von einem tiefen Gebet aufstehend, habe er überraschend das erste Buch des Wahren Christentums von Johann Arndt neben sich liegend gefunden. Die Lektüre der Schrift vermochte ihn zu beruhigen; er fand die gesuchte Antwort auf die konfessionelle Frage in einer irenischen Religiosität. Für ihn waren nicht mehr länger die dogmatischen Glaubenslehren ausschlaggebend, sondern eine Frömmigkeit, die ihr Zentrum in der Askese fand. Eine Askese, die das Individuum im täglichen Ringen mit den Sünden auf die Seite der Tugend führen soll und so zur Voraussetzung der Wiedergeburt wird.13 Locher brachte in der Folge sein Leben in harter Arbeit zu und absolvierte eine Lehre als Kaufmann bei seinem wohlhabenden Onkel Heinrich Römer. Die zweite Krise war eine ethische Krise. Sie war weniger heftig als die erste und ein Ausfluss seiner asketischen Frömmigkeit, von der sich Locher die Überwindung der Sünde erhoffte. Als junger Kaufmann wurde er im Auftrag seines Onkels für sechs Jahre in die Handelsmetropole Venedig entsandt. Hier hatte er die Gelegenheit, mit allen christlichen Konfessionen in Kontakt zu treten: Katholiken, Lutheranern, Armeniern und Orthodoxen. Auch mit dem Islam kam er in Berührung. Locher konnte sich hier in seiner irenischen Grundhaltung üben und bestärken. Dennoch irritierte ihn eine allen Glaubensrichtungen gemeinsame Eigenschaft: Er beobachtete, »daß bey allen durchgehens die Nathürlich verderbten affecten oder neigungen platz funden«. Und er seufzte: Hilff Herr dann die Heiligen haben abgenommen, und der wahrhafftige ist wenig unter den menschen kindern, ein Jeder redt lügen mit seinem nechsten mit falschen löfftzen und Sie reden mit doppeltem Hertzen. Item Ps: 14. Sie waren all nit ein anderen verböseret, da war keiner der guts thate, ja Daruf forschete ich fehrner in mir Selbsten, und fande eine gliche verderbtums auch in mir und daß in meinem fleisch nichts guts wohne.14

Die Entdeckung der eigenen Neigung zum sündigen Leben und die Einsicht, dass mit der Askese alleine dem Hang zur Sünde nicht beizukommen sei, stürzte Locher in tiefe Zweifel. Dank einer »göttlichen Schickung« fand er auch diesmal den Weg aus der Krise: Er beschäftigte sich mit mystischer Literatur. Er las Tauler, Thomas von Kempen und die Deutsche Theologie. Die intensive Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen Mystik mündete schließlich in Lochers Wiedergeburt. Für Locher bedeutete Wiedergeburt die Geburt aus Gott, das Verlassen des alten fleischlichen und sündigenden Adams und das Werden eines neuen geistigen Menschen.15 12 13 14 15

Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 2 f. Bütikofer (Anm. 11), 136. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 4 ff. Ebd., 7.

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Mit dem Wiedergeburtserlebnis war Lochers Entwicklung zum Pietisten noch nicht ganz abgeschlossen. Auch als »Neüwe Creatur« musste er in der alltäglichen Welt bestehen können. Auch wenn er jetzt in seiner Selbstwahrnehmung ein neuer Mensch war und sich innerlich der geistigen Welt zugehörig fühlte, so war er immer noch Teil einer unvollkommenen Welt. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der inneren Welt, dem Ich, und der äußeren Welt, dem realen Alltag, löste eine dritte und letzte Irritation aus. Diese Krise war nicht mehr virulent, sie war primär weltanschaulicher Natur. Das als irritierend empfundene Spannungsfeld beschreibt Locher wie folgt: Nachdem ich nun erkannte den eigentlichen Willen unseres Gottes, ließe Ich mich nit mehr von menschen Irr machen, sonder trachtete solche wahrheit in mir zu bevestigen, will Ich aber immerzu auch mit zimlich vilen Welt-geschäfften beladen ware, durch welche meine schwache gedechtnus, das Schon gefaßete unachtsamblich wider verlohre, befliße ich mich meine Ruwstunden mit lesung solcher Schrifften und bücheren zu zubringen, welche mir die gemeinschafft Jesu Christi kräfftig beybringen und die H. Bibel: Schrifft uns menschen verheißene himlische Schätz und Reichthümber besser zu lehren erkennen tüchtig sein mochten.16

Auch diese Krise meisterte Locher mit Hilfe von Büchern. Ein Wunder oder eine göttliche Schickung war nicht mehr nötig. Es reichte ein »von Gott hoch Erlüchtete[r]« Autor: Jakob Böhme. Seine Schriften empfand Locher als sehr »dienstlich«. Folgt man Lochers Glaubensbekenntnis, so kam er während seines Aufenthaltes in Venedig erstmals mit einer Schrift von Jakob Böhme in Kontakt. Hier lernte er drei Gleichgesinnte kennen, mit denen er sich über die schwer verständlichen Schriften austauschen konnte: den Katholiken Peter Erich, einen nicht näher bekannten lutherischen Kaufmann und den Arzt und Theologen Nikolaus Zaff aus Graubünden, der in Venedig vermutlich als Seelsorger der Reformierten wirkte. Hier vertiefte sich Locher insbesondere in die Lektüre des Mysterium Magnum. Über seine Herangehensweise an die Texte Böhmes und die damit verbundenen Mühen und Nöte notierte Locher, er lese Böhme in der Absicht, daß ich die darinn enthaltene gar hoch und tiffe geheimbnußen, welche ich nit faßen könte ohne beurtheilung stehen ließe, […]. Dann Insonderheit sein Buch Mysterium magnum oder Erklehrung über das 1. Buch Mosis mir zu mehrerem Verstand der H: Bibl: Schrifft und belustigung in Rechtschaffener Liebe Gottes und des Menschen wohl dienende.17

In der Auseinandersetzung mit Jakob Böhme fand Lochers Hinwendung zur pietistischen Frömmigkeit ihren Abschluss. Das Wiedergeburtserlebnis hatte Locher bereits erfahren, aber in Böhme fand er Halt und ein Zentrum seines Glaubens. Mit dessen Hilfe konnte er sein pietistisches Weltbild abrunden und stabilisieren. Aus quellenkritischer Sicht ist es jedoch fraglich, ob sich Locher tatsächlich in Venedig erstmals mit Schriften von Böhme auseinandersetzte. Vermutlich kam 16 17

Ebd., 10 f. Ebd., 11.

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er schon früher in Berührung mit solchen Texten. In der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich befindet sich eine mehrbändige Sammlung von Abschriften mystischer Werke, wie Meister Eckhart, Tauler, Seuse und Thomas von Kempen.18 Die Sammlung umfasst unter anderem zwei Bände mit Schriften von Jakob Böhme. Sie enthalten auch die Sendbriefe in einer niederländischen Übersetzung. Die Sammlung der Abschriften, die fast alle von einer Hand stammen, wurde in der Mitte des 17. Jahrhunderts angelegt,19 und die Bände tragen das Exlibris der Familie Römer. Alles deutet darauf hin, dass es sich bei diesem Liebhaber mystischer Schriften um Heinrich Römer,20 Lochers Onkel, handelt.21 Großvater Römer stammte aus Maastricht und ließ sich als protestantischer Glaubensflüchtling in den 20er Jahren des 17. Jahrhunderts in Zürich nieder, wo er eines der bedeutendsten Handelshäuser der Stadt begründete.22 In dessen Kontor absolvierte Locher die Ausbildung zum Kaufmann, mit seinem Onkel als Lehrmeister und Mentor. Anhand der biographischen Notizen Lochers ergibt sich eine erste Zwischenbilanz über die Rolle, die Jakob Böhme bei der Entstehung des Pietismus spielte und wie weit er Einfluss auf Locher nahm: Dieser ist sehr prominent. Böhme steht im Zentrum des Denkens und des religiösen Empfindens von Locher. Aber Böhme steht nicht am Anfang der individuellen Hinwendung zum Pietismus, sondern an deren Ende. Der Theosoph erlangt erst nach Lochers Wiedergeburt seine herausragende Stellung in dessen religiöser Überzeugung. Am Anfang stehen andere Autoren; bezeichnenderweise sind es Johann Arndt und anschließend die deutschen Mystiker, die den jugendlichen Zürcher auf seinem Weg maßgebend beeinflussten und prägten. Böhme spielt in diesem Stadium der Biographie Lochers keine »Vaterrolle«. Von ihm geht kein initiierendes Moment aus. Jakob Böhme ist eine von vielen Strömungen, die im Pietismus aufgegriffen wurden. In ihm flossen ähnlich wie bei Arndt mehrere ältere Traditionsstränge zusammen und verdichteten sich, sodass die Lektüre Böhmes Locher half, eine Vielzahl von Einflüssen einzuordnen. Erst nachdem die Hinwendung zum Pietismus bereits erfolgt war, gab die Lektüre Böhmes der Denkwelt Lochers den letzten Schliff und verlieh dem Ganzen ein besonderes Gepräge. Und allenfalls auch eine gewisse ›Radikalität‹. Dem Anschein nach wurde Böhme erst im Nachhinein in die pietistische Überzeugung eingebaut. Dies lässt sich am zeitlichen Auftreten der Rezeption ablesen. Denn nicht nur das individuelle Beispiel Lochers zeigt, dass der Einfluss von Böhme relativ spät in der Ausformung pietistischer Anschauungsweisen hinzutritt. Hans Schneider vermutet, dass der Einfluss Böhmes auf den radikalen 18 19 20

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ZBZ Ms. Car I 245–262. ZBZ Ms. Car I 260, Sammler von Mystischen Schrifften, trägt die Jahreszahl 1657. Heinrich Römer beteiligte sich auch mit einem namhaften Betrag an den Druckkosten der deutschen Ausgabe der Schriften von Jane Leade, für die Locher in der Schweiz Geld sammelte. Vgl. Bütikofer (Anm. 11), 400. Leider lässt sich kein Dokument von Heinrich Römer finden, das einen Handschriftenvergleich und somit einen eindeutigen Nachweis des Schreibers der Sammelbände erlaubt hätte. Adolf Garnaus: Die Familie Römer von Zürich. 1622–1932. Zürich 1932.

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Pietismus erst ab 1680 zu steigen begann, während er in den Anfangsphasen um 1675 bei den Frankfurter radikalen Pietisten noch keine Rolle spielte. Erst die Edition der Werke Böhmes von 1682 entfachte eine breitere Auseinandersetzung mit dessen Lehre in den Kreisen der Pietisten.23 Das Beispiel Lochers weicht aber insofern von diesem Befund ab, als Lochers intensive Auseinandersetzung mit Böhme viel früher einsetzte und er damals bereits auf Gleichgesinnte zählen konnte. Die Lektüre erfolgte während des Aufenthaltes in Venedig zwischen 1668 und etwa 1674. Die Frage nach der Radikalität, die mit Böhme verknüpft wird, lässt sich am Beispiel Johann Heinrich Lochers nicht eindeutig beantworten. Wie eingangs festgestellt, ist der Begriff des radikalen Pietismus unscharf, und er ist verschieden interpretierbar. Soll Johann Heinrich Locher innerhalb der breiten, auf mannigfaltigen Traditionssträngen beruhenden pietistischen Bewegung verortet werden, ohne dass direkt von seiner Vorliebe für Jakob Böhme auf eine Radikalität geschlossen wird, so kann dies nur annäherungsweise geschehen. Die erste Annäherung ist eine soziale: Wie müssen wir Locher im sozialen Milieu des Zürcher Pietismus einordnen? Johann Heinrich Locher ist kein Außenseiter im Zürcher Pietismus. Er ist vielmehr – wie oben bereits ausgeführt – ein Wortführer und Impulsgeber der ersten Generation von Pietisten. Er ist ein Querdenker seiner Zeit, und es mag sein, dass er in vielen seiner Ansichten pointierter ist und nicht in allen Punkten mit seinen Mitstreitern übereinstimmt. Aber ein Irrläufer ist er nicht. Im Gegenteil, er trachtete danach, (radikale) Auswüchse – bzw. was er dafür hielt – im Kreise der Zürcher Pietistinnen und Pietisten zu verhindern. So stellte er sich beispielsweise gegen die sogenannte Impekkabilitätslehre, die sich um Christian Theodor Wolther und Georg Ziegler verbreitete, oder er versuchte seinen Freund Johann Heinrich von Schönau aus der labadistischen Gemeinde in Friesland zurückzuholen, weil er die Bildung von neuen Glaubensgemeinschaften für falsch erachtete.24 Locher stellte sich gegen radikale oder separatistische Momente. Es stellt sich weiter die Frage nach der sozialen Einordnung. Die gesellschaftliche Stellung Lochers passt in die soziale Struktur des pietistischen Milieus. Als Kaufmann zählt er zwar zu einer Minderheit, denn die erste Generation des Zürcher Pietismus war getragen von Theologen. Letztere machten 40 Prozent der Gruppe aus. Die Kaufleute waren mit 13 Prozent aber bereits die drittstärkste Gruppe. Allgemein gesagt wurde der Zürcher Pietismus von einem Milieu getragen, das sich nach unten von den Handwerkern und nach oben von der Nobilität abgrenzte. Locher zählte als kleiner Kaufmann zu dieser Schicht in der sozialen Mitte der Zürcher Ständegesellschaft, der das Gros des Zürcher Pietismus entstammte.25 Locher stand weder weltanschaulich noch sozial außerhalb der pie23

24 25

Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Die Geschichte des Pietismus. Bd. 1. Hrsg. v. Martin Brecht. Göttingen 1993, 394; Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: PuN 9 (1983), 140; vgl. Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002, 282 ff. Bütikofer (Anm. 11), 143 u. 374 ff. Ebd., 62–67.

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tistischen Bewegung Zürichs; dies öffnet Raum für die Frage, wie der Zürcher Pietismus als Ganzes zu bewerten ist. Innerhalb des schweizerischen und zürcherischen Pietismus gab es abwechselnd Phasen des Reformstrebens und der Separation. Diese Phasen sind eng an die sozial- und politikgeschichtlichen Ereignisse geknüpft: Wo der Pietismus als reformerische Kraft integriert wurde, dort entwickelte er sich tendenziell zu einem kirchlichen Pietismus. Wo hingegen die Pietistinnen und Pietisten verfolgt wurden, sei es von der Obrigkeit, sei es von den Kircheninstanzen, dort ist tendenziell eine Separation zu beobachten.26 In Zürich sind deutliche separierende Momente nach dem Scheitern der kirchlichen und politischen Reformbestrebung von 1713 und dem Einsetzen der Pietistenverfolgung durch die Obrigkeit zu beobachten. Erst in der Endphase der Verfolgung sind Ansätze einer beginnenden Ausdifferenzierung der ursprünglich breit gefächerten pietistischen Strömung in einen radikalen und einen kirchlichen Flügel zu erkennen. Erst in diesem Moment findet eine vorsichtige interne Abgrenzung statt.27 Vergleicht man den Zürcher Pietismus mit dem Spener’schen oder Halle’schen Pietismus, so sind bei den Zürchern radikale Tendenzen feststellbar. Die weltanschauliche Distanz zwischen den Zürchern und den Hallensern lässt sich an der Beziehung zwischen den beiden ablesen. Die Zürcher nahmen lebhaft Anteil am Betrieb und an der Entwicklung des Francke’schen Waisenhauses,28 und mehrere Zürcher Exponenten standen mit August Hermann Francke in Briefkontakt.29 Doch die Bindung war nicht so stark, dass die Zürcher ihre Kinder nach Halle in die Erziehungsanstalt des Waisenhauses geschickt hätten: Zwischen 1704 und 1752 drückten 86 Kinder aus der Schweiz die Schulbank im Waisenhaus. Davon stammten 48 aus Graubünden, 21 aus Bern und neun aus Schaffhausen. Lediglich je ein Sprössling aus Zürcher und Basler Familien ließ sich in der Francke’schen Einrichtung ausbilden.30 Der hohe Anteil an Bündnern mag der schulischen Situation in den reformierten Gebieten des bi-konfessionellen Kantons geschuldet sein. Dass aber nur ein Schüler aus Zürich den Weg nach Halle fand, muss mit einer gewissen ideologischen Distanz zwischen den beiden pietistischen Strömungen erklärt werden. Die Ausstrahlung des Halle’schen Pietismus blieb auf die Zürcher anscheinend doch recht beschränkt. Offensichtlich fanden im Zürcher Pietismus ›radikale‹ Ansätze durchaus Zuspruch: Dies lässt sich wiederum gut am Verhalten Johann Heinrich Lochers ablesen. Deutlich ersichtlich wird dies an seiner Vorliebe für Bücher von Autoren, die eher der radikalen Richtung zugeordnet werden, wie beispielsweise das Ehepaar Petersen, Antoinette Bourignon oder Jane Leade. Hingegen interessierte er sich kaum für die Schriften Philipp Jakob Speners. Von diesem finden sich bloß 26

27 28 29 30

Vgl. Rudolf Dellsperger: Der Pietismus in der Schweiz. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 2. Hrsg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, 588–616; Johannes Wallmann: Kirchlicher und radikaler Pietismus. In: Der radikale Pietismus. Hrsg. v. Wolfgang Breul u. a., 19–43, bes. 37; Schneider, Pietismus (Anm. 23), 136 f. Bütikofer (Anm. 11), 494–499. J. Jürgen Seidel: Die Anfänge des Pietismus in Graubünden. Zürich 2001, 89. Karl Weiske: August Hermann Francke und die Schweiz. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte. NF. 45 (1926), 88–116, hier: 88 f. Vgl. ebd., Anhang, 114 ff.

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zwei eher marginale Schriften in der umfangreichen Bibliothek Lochers. Auch das von Locher intensiv gepflegte Beziehungsnetz ist dem radikalen Pietismus zuzuordnen: Locher unterhielt einen regelmäßigen Briefwechsel mit Loth Fischer, dem Verleger philadelphischer Schriften in Utrecht, und er machte auf seiner ausgedehnten Reise zur labadistischen Kolonie in Wieuwerd in Frankfurt halt und besuchte dort die radikalen Pietisten. Er übernachtete im Haus von Christian Fende und wurde in den Kreis der Frankfurter Radikalen eingeführt. Hier lernte er Johann Jakob Zimmermann und Johann Jakob Schütz, mit dem er früher schon Briefe gewechselt hatte, persönlich kennen.31

III Allein die Lektüre Jakob Böhmes ist noch kein ausschlaggebendes Kriterium für die Zuordnung eines Pietisten zu einer radikalen oder kirchlichen Richtung. Es kann weiter gefragt werden nach einer allfälligen inhaltlichen Bestimmung des radikalen Pietismus. Hans Schneider umreißt auf F. Ernest Stoeffler basierend einen knappen Katalog von im radikalen Pietismus mit großer Regelmäßigkeit wiederkehrenden Elementen. Hierzu zählt er die Wiedergeburtserfahrung und die gefühlsmäßige Vereinigung mit Gott, das Motiv der Liebe als Kern des Christentums, die reservierte Distanz zur Welt und zur als äußerlich empfundenen Kirche, eine fromme Lebensführung, die sich an urchristlichen Maßstäben misst, und den Drang nach Freiheit von theologischen, kirchlichen und politischen Beschränkungen.32 Es stellt sich die Frage: Lassen sich solche Elemente auf den Einfluss Jakob Böhmes zurückführen? Ist Böhme der Lieferant häufig wiederkehrender Werte des radikalen Pietismus? Die Rolle Böhmes und sein Einfluss auf das Denken Johann Heinrich Lochers kann gut an seinem Glaubensbekenntnis abgelesen werden. Nachdem Locher sein Selbstzeugnis nach einem biographischen Teil über die religiöse Suche in der Wiedergeburt kulminieren und abschließen lässt, geht der Text über in die ausführliche Darlegung der religiösen Weltsicht. Diese wird jeweils kurz durch biographische Einschübe unterbrochen, jedoch nur noch, wenn es gilt, die Bedeutung Jakob Böhmes für den dargelegten Erkenntniserwerb herauszustreichen. Ein elementares Problem, das Locher zeitlebens beschäftigte und das auch am Ausgangspunkt seines Glaubensbekenntnisses steht, ist die distanzierte Haltung zu seiner Konfession. Diese Haltung teilt er mit Jakob Böhme – auch wenn er sie nicht unmittelbar bei ihm bezog, und er verwendet eine ähnliche Terminologie für seine Kirchenkritik: Die vielfeltikeit der menschlichen gemüthsneigung in partheilickkeit, da bald nicht zwen zufinden die Eins von glych gesinnet weren, […] Sonderlich wenn ich horte von so großer

31 32

Bütikofer (Anm. 11), 383. F. Ernest Stoeffler: German Pietism in the Eighteenth Century (SHR 24). Leiden 1973, 215; vgl. ebenfalls: Schneider, Pietismus (Anm. 1), 30.

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partheilichkeit der Religionen, als Papistisch, Atheistisch oder Calvinistisch. dachte schon damals in meinem Gemüth, daß es anders nicht als übel sein könnte, weil die menschliche gesellschaft dardurch zertrennet, daß Sie sich unter einander verachten, haßen, ja verfolgen und töden, darumb Ich gedachte, wann ich under ein oder anderer solcher Sect gebohren und erzogen were (dann ich damals nit wuste daß wir Züricher Calvinistisch oder Zwinglisch genannt werden) wollte Ich in meinen mannbaren Jahren nicht mithalten, sonder ohne partheilichkeit nach Rechten Wahrheit forschen, und Gott bitten, daß Er mich durch seinen Geist leiten und Erlüchten möchte, damit nicht meine Seele und Seligkeit an falschen menschen vertrouten sonder in seinem Liecht selbs zu sehen gelangte.33

Mit diesen Worten beginnt Locher sein Glaubensbekenntnis. Gleich einleitend bezieht er eine heterodoxe Position und definiert seine irenische Haltung in der Abgrenzung zu den Konfessionskirchen, die er als parteilich und schädlich bezeichnet. Er nimmt auch seine eigene Konfession nicht aus und stellt sie auf die gleiche Ebene mit der katholischen und mit der lutherischen Kirche. Locher hat bei Johann Arndt als Antwort auf seine große Glaubenskrise die irenische Denkweise kennen gelernt. Die radikale Distanz und Kritik an den Konfessionskirchen fand er jedoch bei Böhme. Die Kirchen werden hier als Hort der falschen Meinungen und des »Schul-Tands« dargestellt,34 der universelle Anspruch wird ihnen abgesprochen. Locher geht innerlich auf Distanz zur Kirche, verzichtet aber auf eine äußerst harte Kritik, wie sie bei Böhme angetroffen werden kann. Für ihn ist die Kirche ein Hort der Unwiedergeborenen und ein Feigenblatt der Heuchelei im Gottesdienst: »Solche Heücheleÿ gebrauchen alle vnwidergebohrne die Fromben aber gebrauchen die Nackte Wahrheit, bekennen Ihre Sünde, bereüwen dieselben, bekommen auch vergebumg vnd Heiligung.«35 Die Suche nach dem richtigen, d. h. ›wahren‹ Glauben jenseits der konfessionellen Glaubensformeln und orthodoxen Dogmen ist ein grundlegendes Element, das Locher mit Jakob Böhme verbindet. Die Suche nach der Wahrheit ist das Motiv des Freimüthige[n] GlaubensBekanthnus. Diese Suche verbindet den biographischen Teil mit dem weltanschaulichen. Denn im zweiten Teil will er die Früchte seines Suchens nach der Erkenntnis Gottes seinen Mitstreitern darlegen: Nachdem nun klarlich gezeiget worden, wie mein gemüth in ansehung so vielerley Religionen sich verwicklet, aber durch die Gnaad und Barmhertzigkeit Gottes sich wider erhollet und zu recht gekommen, so kan ich nit weniger thun, als die erkandte theüre wahrheit freymüthig zubekennen, dann ich habe Lehr Christi: Bettend so werden Ihr menschen. Suchend so werden Ihr finden. Klopftend an, so wird Eüch aufgethan werden.36

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Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 1 f. Der Begriff der Parteilichkeit der Konfessionskirchen geht auf Kaspar Schwenckfeld und Sebastian Franck zurück, er findet sich bei Böhme als Meinungen oder Meinungsstreitereien, vgl. Eberhard H. Pältz: Jacob Böhmes Gedanken über die Erneuerung des wahren Christentums. In: PuN 4 (1977/78), 108 f. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 32 f. Zum überparteilichen Standpunkt und zur inneren Distanz zur Konfessionskirche vgl. Schneider, Pietismus (Anm. 23), 136. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 13.

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Das persönliche Erkenntnisstreben, die innere Unruhe, die Locher in seinen Krisen erlebte und intellektuell in einer eklektischen Wissensaneignung verarbeitete, beschreibt er hier unter Zuhilfenahme der Bergpredigt (Mt 7,7) und bringt damit seine religiöse Ausgangslage sowie seinen Durchbruch im Wiedergeburtserlebnis zum Ausdruck. Ganz ähnlich beschreibt auch Jakob Böhme immer wieder sein Schauen und Forschen. Dieser betont mit dem Matthäus-Zitat, dass man Gott und sich selbst auf dem persönlichen soteriologischen Weg erkennen müsse.37 Die ähnlich gelagerten Grundeinstellungen zur Frage der Heilsfindung und die Betonung des individuellen Erkennens und Erfahrens des Religiösen bei Böhme und Locher berühren sich auch in der Epistemologie. Das Erkenntnisvermögen dessen, was Locher in seinem Glaubensbekenntnis darlegt, beruht auf den »Augen des Geistes«.38 Diese Augen des Geistes öffneten sich ihm erst mit der Wiedergeburt. Erst nach der Geburt in und durch Gott sei es dem Wahrheitsliebenden und Suchenden vergönnt zu erkennen; erst dann werde ihm im Sinne des Matthäus-Zitates »aufgetan«. Hinter diesem Erkenntnisproblem steht die Überzeugung Jakob Böhmes, dass mit der Vertreibung Adams aus dem Paradies sich das Erkenntnisvermögen des Menschen verdunkelt habe. Er bringt dies bildlich zum Ausdruck in der Verhüllung des Gesichtes Moses: Allein Moses redet von der Tafel GOttes, welche durchgraben war mit den zehn Geboten, daß man kan hindurch sehen ins Paradeis: den Deckel hänget er vor sein Augenlicht, […] darum daß der Mensch irdisch ist worden; so soll er das Irdische wieder ablegen, alsdann soll er mit Josua oder Jesu ins gelobte Land das Paradeises gehen, und nicht mit Mose in der Wüste dieser Welt bleiben, da ihme der Deckel dieser Welt vorm Paradeis hanget (3P 17.23).39

Mit dem Paradies ist allegorisch die Wiedergeburt gemeint. Weil der Mensch das Paradies, oder anders gesagt die Gemeinschaft mit Gott, verloren habe und irdisch geworden sei, fehle ihm der Durchblick ins Paradies; die Erkenntnis des Göttlichen bleibe im verwehrt. Er müsse in der Wüste der fleischlichen, materiellen Welt herumirren. Erst wer wiedergeboren sei, könne die geistige Welt und Gottes Wirken in der Welt verstehen und habe den Zugang zum richtigen Verständnis der Bibel sowie dunkler mystischer Texte. Locher teilt diese Epistemologie, die sich in ein irdisches und geistiges Erkennen gliedert. Er beschreibt beispielsweise den schwierigen Zugang zum Verständnis des Mysterium Magnum in dieser Weise, wenn er schreibt, er habe die Bücher des hoch erleuchteten Böhme als äußerst hilfreich empfunden,

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38 39

Jacob Böhme: Theosophia Revelata. Oder: Alle göttliche Schriften, Faksimile-ND der Ausg. von 1730. Hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart 1955 ff. – Epistolae Theosophicae Oder Theosophische Send-Briefe (Epist), 55.12 f.; De tribus principiis, oder Beschreibung der Drey Principien Göttliches Wesens. 1619 (3P), 2.5. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 14. Diese Passage bildet das Motiv des Frontispiz’ der Ausgabe des Mysterium Magnum von 1682, vgl. Jacob Böhme: Theosophia Revelata. Oder: Alle göttliche Schriften, Faksimile-ND der Ausg. von 1730. Hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart 1955 ff. – Mysterium Magnum oder Erklärung über das Erste Buch Mosis. 1622/23 [im Weiteren mit der Sigle »MM«].

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deswegen ich solche mit großem yfer und aufmerksambkeit lase, und zwar mit solcher absicht, daß ich die darinn enthaltene gar hoch und tiffe geheimbnußen, welche ich nit faßen könte ohen beurtheilung stehen ließe, bis mir Gott nach seinem H: Willen mehrere Erkandtnus und auffschließung geben möchte, und mich dem so ich wol begreiffen und verstehen könte, Settigte, und Gott darfür danken.40

Für Locher steht fest, dass es eine irdische und eine geistige Art des Erkennens gebe. Und weil er sich wiedergeboren wähnt, kann er Gott in sich wirken lassen und so zum richtigen Verständnis des Theosophen gelangen. Die zwei Erkenntnisarten, die irdische und die geistige, sind für ihn denn auch der Grund, weshalb die »Kinder Gottes« verfolgt werden: »Diese Lehr [= Lochers Glaubensbekenntnis] ist den unwidergebohrenen menschen welche durch die Natürliche [= fleischliche] vernunfft allein geleitet sind, ärgerlich, anstößig ja unleidlich, deswegen sie solche mit höchstem haß anfinden und verfolgen.«41 Die spekulative Erkenntnismethode, das Schauen Gottes, wird bei Böhme am deutlichsten in der Auslegung der Schöpfungsgeschichte. Sowohl in den Drey Principien Göttliches Wesens als auch im Mysterium Magnum finden wir keine philologische Interpretation der Schrift. Das Erkenntnisstreben Böhmes gilt Gott. Dessen Kraft und Wort sind das Ziel, denn diese sind dem Sichtbaren und Stofflichen verborgen, »doch durch und in den [sichtbaren] Elementen wohnet, und durch das empfindliche [äußerlich wahrnehmbare] Leben und Wesen wircket [Gottes Kraft und Wort], wie das Gemüthe im Leibe« (MM Vor. 2). Die in der sichtbaren Welt verborgene geistige Welt stellt für Böhme das große Mysterium dar. Die unsichtbare geistige Welt sei in der sichtbaren äußerlichen (also der stofflichen) Welt verborgen. Im Menschen finde sich aber ein Funke dieser verborgenen geistigen Kraft, weshalb der Mensch im Grund der Seele befähigt sei, das »Mysterium magnum« zu verstehen (MM Vor. 9). Dieser Funke im Gemüt sei es, der zur Wiedergeburt und zur wahren Erkenntnis befähige. Diese erkenntnistheoretische Überzeugung verleiht Böhme die Gewissheit, um sagen zu können: »Und soll uns niemand für unwissend ausschreyen, denn ob ichs wol nicht weiß, so weiß es aber Christus in mir, aus welcher Wissenschaft ich schreiben soll« (MM 18.1). Locher teilt diese spekulative Hermeneutik vollumfänglich. In einem Brief an seinen pietistischen Freund Christoph Lutz, Spitalprediger in Bern, legt er dar, wie ein Wiedergeborener die Bibel liest: Wer nun die heilige biblische Schrifft liset, anderst als wie sie durch den Finger Gottes selbsten in das Hertze geschrieben ist, der lieset Sie nicht wie sichs gebührt und wie man soll, […] und solle man den welcher Sie lißt oder nicht liset nicht so leichtlich oder lieblos urtheilen, sonderlich wan es ein Mensch von gutem Willen ist, der auf dem Weg der Widergeburth wandelt in seinem ineren Grunde, in welchem ineren Grunde Er auch offters die Bibel liset, wan Er schon kein aüßerlich Buch oder Schrifft vor sich hat, dan Er lieset den aüßeren Buchstaben nicht anders, als nur zu Erweckung des inneren Gesichts und Auges, durch welches Er Gotes lebendiges Wort in sich lesen und […] lernen kan.42 40 41 42

Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 11. Ebd., 13. ZBZ Ms. S 276, Nr. 6, 101 ff.; Bütikofer (Anm. 11), 169.

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Das spekulative Textverständnis der Bibel teilt Locher mit Böhme; doch er scheint es nicht ursprünglich von ihm bezogen zu haben. Im Glaubensbekenntnis resümiert er seine Einsicht, die er aus der breiten Auseinandersetzung mit den Texten der deutschen Mystik gewonnen hat. Es seien die Werke von Tauler und Thomas von Kempen sowie die Deutsche Theologie gewesen, »welche mir den verstandt der Heil: Schrifft, nicht so fort nach dem bloßen Buchstaben, sonder vornemblich nach dem Geist und Geistlich anzusehen lehrten«.43 Locher stand zu diesem Zeitpunkt am Vorabend seines religiösen Durchbruchs, und er fand mit dieser spekulativen Textauslegung, wonach er suchte: seine intellektuell erfahrene Wiedergeburt. Locher folgte anscheinend einer mystischen Tradition, die auf Meister Eckhart zurückging,44 bevor er sich mit Böhme auseinandersetzte. Er rezipierte bereits früher die Vorstellung, wonach erst eine Vereinigung mit dem Göttlichen stattfinden müsse, damit die innere Erkenntnis bzw. das innere Schauen im Abgrund möglich werde, sodass das innere lebendige Wort Gottes erfahrbar werde. Was die Epistemologie betrifft, so stützt sich Locher nicht direkt auf Böhme. Sie treffen sich vielmehr auf der Grundlage ähnlicher Autoren, die beiden den Weg zu einem spekulativen Textverständnis wiesen. Wie beschäftigte sich Johann Heinrich Locher mit Jakob Böhme? Was stand im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Görlitzer Philosophen? Der kurze biographische Abriss und die drei prägenden Krisen haben bereits einen Eindruck der religiösen Themen geliefert, die den Zürcher Kaufmann sein Leben lang beschäftigten. Dabei war die Wiedergeburt das alles bestimmende Ereignis. Es ist daher nicht erstaunlich, dass auch die Wiedergeburt den Kern seiner Auseinandersetzung mit Böhme darstellte. Locher erlebte eine intellektuell erfahrene Wiedergeburt, die eng mit der epistemologischen Frage der echten Gotteserkenntnis und -erfahrung verknüpft war. Es waren das ›innere Auge‹ und die Fähigkeit, die Schrift im Geiste lesen zu können, die ihm das Rüstzeug in die Hand gaben, mit dem er seinen religiösen Durchbruch schaffen konnte. Seine Wiedergeburt war für Locher nicht bloß ein einmaliges Ereignis, sie war auch eine stetige Auseinandersetzung mit sich und der Welt. Für Locher geschieht die Wiedergeburt nicht auf einmal, sondern sie erfolgt »staffelweise« in mehreren Etappen.45 Wiedergeburt wird auch nach Böhme dynamisch verstanden, als ein an die Emanation angelehnter stetiger Prozess: »Also ist auch der Sohn Gottes aus allen Kräften seines Vaters von Ewigkeit immer geboren und nicht gemacht […]. Denn des Vaters Kraft gebäret den Sohn von Ewigkeit immerdar. So nun der Vater würde aufhören zu gebären, so wäre der Sohn nicht mehr.«46 Das Kontinuum der Geburt sei die Kraft Gottes, in der das Potential der Wiedergeburt bestehe. An einer anderen Stelle in der Aurora beschreibt Böhme das unablässige Wirken Gottes in der Welt als ein Balgen zweier Tiere: 43 44 45 46

Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 6. Vgl. Kurt Flasch: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. München 2010. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 25. Jacob Böhme: Theosophia Revelata. Oder: Alle göttliche Schriften, Faksimile-ND der Ausg. von 1730. Hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart 1955 ff. – Aurora oder Morgen-Röthe im Aufgang (1612/13; im Weiteren mit der Sigle »Aur«), 3.22.

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Du mußt allhie wissen, daß die Gottheit nicht stillestehet, sondern ohn Unterlaß wirket und aufsteiget als ein liebliches ringen, Bewegen oder Kämpfen, gleichwie zwei Kreaturen, die in großer Liebe miteinander spielen und sich miteinander halsen oder würgen. […] Und so eines überwunden hat so gibt’s nach und lässet das andere wieder auf die Füße (Aur 11.49).

Das Ringen und Streiten sei ein Wesensmerkmal der Welt und des Seins. Dieses unablässige Ringen und Wirken Gottes ist es, das Locher in den Bann zieht. Für ihn stellt es sich dar als der »häuffige Streith zwüschendt der alten geburdt und der neüwen geburdt, dem alten und neüwen menschen des fleisches und des Geistes«.47 Es handelt sich hier um das Motiv des Wiedergeborenen, der nach wie vor in der realen Welt tätig sein müsse, oder wie es Locher ausdrückte: »von menschen Irr« gemacht und mit »vilen Welt-geschäften beladen« sein. Diese Dualität der inneren und äußeren Welt belastete den wiedergeborenen Locher in seiner dritten Krise, und er verarbeitete diese Spannung mit Hilfe von Böhmes Schriften. Ein erster Ausweg, den ihm dessen christliche Philosophie bot, war die Vorstellung vom Mikro- und Makrokosmos. Diese Vorstellung von der kleinen Welt im Menschen und der großen Welt außerhalb half ihm, seine Stellung in der Welt zu definieren. Gemäß der Mikrokosmos-Makrokosmos-Konzeption ist die kleine Welt eine Spiegelung der großen. Der Mensch sei demnach eine kleine Welt, die die Eigenschaften der großen Welt in sich trage (Epist 22.7). Die Auseinandersetzungen, Konflikte und Kriege der Welt werden ins Subjekt getragen. Die Eigenschaften der Welt werden zu charakterlichen Eigenschaften des Menschen gemacht. Mit einem Vorgriff auf die Terminologie Böhmes beschreibt Locher im Glaubensbekenntnis die verzweifelte Situation nach dem Scheitern seiner asketischen Frömmigkeit: Also fande ich die große Welth außerth und die kleine Welth in mir gantz gleich; Weil aber die Güthe und Gnad Gottes noch ein füncklin der begird zum guten überbleiben ließe, achtete ich weislich zuthun mich zum selbigen fünklin zu wenden als zum verborgenen Schatz im Acker, nach welcher zugraben die Zeith nicht übel angewandt sein könte.48

Locher empfand seinen eigenen Charakter als genau so verdorben, wie er die Welt wahrnahm. Innere und äußere Welt sind Spiegelbilder voneinander. Also galt es für ihn, das Ich selbst umzuwandeln, damit es zu einem Spiegelbild der geistigen Welt werde. Dazu musste er nach dem Funken im Gemüt oder dem Schatz im Acker suchen, die in der bildlichen Sprache der Mystik die innere Veranlagung zur Wiedergeburt symbolisieren. Die Konsequenz der Verdoppelung der Welt in eine irdische und eine geistige in Verbindung mit der Mikro- und Makrokosmos-Vorstellung führte zu einer Verdoppelung des Menschen. Ganz in Böhme’scher Manier beschreibt Locher die in seiner Wiedergeburt gefundene Erkenntnis: Also habe und erkandte [ich] zween menschen, wie außereth mir in der großen also auch in mir in der kleinen welth: Namlich Adam und CHristum, fleisch und Geist; Erkandte auch die wahrheit deßen was stehet Rom: 8. V. 1. So ist nun nichts verdammliches an denen die in 47 48

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Christo Jesu sind, die nicht nach dem fleisch wandlend, sondern nach dem Geist. V. 5. dann die da fleischlich sind die sind fleischlich gesinnt, die aber Geistlich sind, die sind geistlich gesinnet. V. 6 aber geistlich gesinns sein ist leben und friede.49

Durch die Auseinandersetzung mit sich selbst entdeckte Locher zwei Menschen oder antagonistische Charaktereigenschaften in sich. Zwei Eigenschaften, die entweder dem Geist oder dem Fleisch, Christus oder dem sündigenden Adam zuzuordnen seien. Beide Eigenschaften können als antagonistische, psychologische Konstanten des Menschen verstanden werden. Lochers Absicht war es, den Menschen und das menschliche Geschlecht zu verstehen und zu beschreiben. Und er entwickelte seine Anthropologie in starker Anlehnung an die Drey Principien Göttliches Wesens. Diese Schrift zitierend beschreibt er die zwei widerstreitenden Seiten des Menschen: [Der] Mensch. Jac: Bohms 3 Princ: 3.16. 17. Ist ein vermischte persohn[.] Die vier Elementen[:] Dero Quint Essenz die Sternen, vnd das Hertz der Essenz die Sonne machten diese Welt und enthielten alle wunder in sich. Weil aber keine Creatur war die solche wunder offenbaren konnte, als nur allein das Bild vnd gleichnus Gottes der mensch, welcher die Züchtige Jungfrauw der Weisheit Gottes in sich hatte: So trang der Geist dieser Welt also Hart auf die bildtnus nach der Jungfrauwen, hiermit seine Wunder zu offenbaren, vnd (NB. der Geist dieser Welt) besaß den menschen, darvon erst seinen nammen mensch kriegete, als ein vermischte persohn.50

Der Mensch steht für Locher, ganz in Übereinstimmung mit Böhme, im Spannungsfeld zwischen der materiellen, durch die vier Elemente gebildeten Welt einerseits und der geistigen oder himmlischen Welt andererseits. Und der Mensch befinde sich in einem Dilemma. Er müsse sich entscheiden, welcher Welt er sich zuwenden wolle. Ganz nach der Vorstellung Böhmes trug auch in Lochers Anthropologie die irdische Welt den Sieg über die himmlische davon, sodass der Mensch seine Ebenbildlichkeit mit Gott verloren habe51 und zu einem dualen Wesen geworden sei, das zwischen gut und böse, zwischen himmlisch und fleischlich hin und her gerissen sei. Der Mensch sei zweifach, er stehe zwischen den beiden Welten, wobei ihn die irdische beherrsche. Als ›vermischte Person‹ besitze der Mensch eine zweifache Veranlagung. Es bestehe nicht bloß die Neigung zum Bösen und zur materiellen Welt, sondern es sei auch die Möglichkeit zum Guten und Geistigen im Menschen angelegt. Bei Böhme heißt es: »Auch so haben wir die Erkentniß und Wissenschaft, daß wir in uns haben die vernünftige Seele, welche in GOttes Liebe ist, welche unsterblich ist: und so sie von ihrem Gegensatz nicht überwunden wird, sondern kämpfet wieder ihren Feind als ein geistlicher Ritter« (3P Vor. 12). Ganz ähnlich äußert sich Locher, wenn er von der ›züchtigen Jungfrau der Weisheit Gottes‹ spricht. Denn sie verkörpert in der Terminologie Böhmes das Potential im Menschen,52 der irdischen Welt mit ihren 49 50 51 52

Ebd., 9 f. Ebd., 29. Vgl. MM 16.1. »Die Jungfrau aber, als die Göttliche Kraft stehet im Himmel und Paradeis, und spiguliret [spiegelt] sich in der irdischen Qualität der Seele« (3P 13.9).

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Sünden widerstehen zu können. Als einstiges Ebenbild Gottes besitzt der Mensch die göttliche Erkenntnismöglichkeit im Sinne eines übrig gebliebenen Restpotentials, das auch himmlische Jungfrau oder Sophia genannt wird. Die himmlische Jungfrau erschließt die Möglichkeit, die wahre Welt erkennen zu können, und kontrastiert den natürlichen oder fleischlichen Menschen, der über die Sinne bloß zur Erkenntnis der irdischen Welt gelangen kann. Mit dem Entwurf einer dualen Psychologie war die große Frage der Zeit, wie das Böse in die Welt komme, noch nicht restlos beantwortet. Die theologische Herausforderung bestand darin zu erklären, warum ein gütiges und allmächtiges Prinzip das Böse zulassen und die Sünde erlauben konnte.53 Gibt es in der Gottheit einen Willen zum Bösen? Die Frage der Existenz des Übels angesichts der Güte Gottes ist die zentrale Problemstellung der Drey Principien Göttliches Wesens.54 Auch das »Freimüthige GlaubensBekanthnus«, in dem Locher explizit die Lektüre dieser Schrift verarbeitete, dreht sich um diese epochale Fragestellung. Für Böhme steht fest, dass Gott der Ursprung des ganzen Universums sei: »So wir von GOtt wollen reden, was Der sey und wo Der sey? so müssen wir ja sagen, daß GOtt selber das Wesen aller Wesen sey: Denn von Jhme ist alles erboren [und] geschaffen« (3P 1.1). Zugleich klammert er aber das Böse aus der Eigenschaft Gottes aus und betont, »daß das Böse nicht GOtt heisse und sey« (3P 2.1). Aus dieser argumentativ schwierigen Lage befreit sich Böhme mit der Theorie der drei Grundprinzipien Gottes. Es bestehen für den Theosophen drei Modi des göttlichen Seins analog der Trinität oder den drei Elementen des Paracelsus. Vereinfacht ausgedrückt gibt es drei Formen, in denen Gott sich dem Menschen zeigt. Das erste ›Principium‹ sei Gott der Vater. Dieses stehe für das Herbe und Bittere und bedeute den Zorn Gottes und das alles verzehrende Feuer. Aus ihm sei der Teufel »geurständet« worden. Das zweite ›Principium‹ sei das Licht und der »Liebes=Quell«. In ihm finde die Geburt des Sohnes statt. Das dritte ›Principium‹ sei die Erschaffung der materiellen Welt. In ihr könne der Mensch das erste oder das zweite ›Principium‹ besser und klarer erkennen. Diese drei Formen, wie sich Gott dem Menschen äußert, haben direkt auch einen Einfluss auf den Menschen, denn er stehe zwischen den ersten beiden ›Principii‹. Der Mensch müsse sich zwischen Himmel und Hölle entscheiden (3P 7.2). Die beiden Äußerungsformen Gottes repräsentierten auch zwei Welten, die Welt der verborgenen Naturkräfte, des Schmerzes und der Hölle sowie die Welt des Lichtes, der Liebe und des Paradieses. Und diese Welten hätten auch im Mikrokosmos – dem Menschen – eine Entsprechung. Das Individuum müsse sich entscheiden, in welcher der beiden Welten es – um mit Koyré zu sprechen – seinen »ontologischen Platz«55 finden wolle. Soll der Mensch den dunklen Mächten der Lebensgeister und Affekte, dem ›Zornreich Gottes‹, oder soll er als 53 54 55

Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Hamburg 1996, 62. Vgl. Alexandre Koyré: La philosophie de Jacob Boehme. Paris 1929 (ND New York 1968), 179 f. Koyré spricht in diesem Zusammenhang wiederholt von »lieu ontologique«, vgl. ebd., u. a. 197.

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Wiedergeborener dem ›Liebesreich‹ und der geistigen Erkenntnis durch das Licht anhängen?56 Diese Vorstellung vom dreifachen Wesen Gottes erlaubte es Böhme, den Antagonismus zwischen Gut und Böse direkt in die menschliche Psyche zu transportieren. Der Mensch selbst wird so gemäß den drei Prinzipien des göttlichen Wesens zu einer ›vermischten Person‹: Darum ist uns zu gedencken des grossen Streits in uns (3P 25.3). In dieser Welt=Geburt [= der Mensch nach dem Fall] liegen zwey Reiche offenbar, Als GOttes Liebe=Reich in Christo, und GOttes Zorn=Reich in Lucifer; In aller Creatur sind die zwey Reiche im Streit, denn im Streite ist der Urstand aller Geister, und im Streite des Feuers wird das Licht offenbar (MM 26.27).

Diese Konstruktion ermöglichte es Böhme, dem Menschen die Verantwortung über das Böse zu geben (MM 26.62 ff.). Indem er den Streit als ein Grundprinzip einführte, resultierte daraus zudem ein ausgesprochen dynamisches Welt- und Menschenbild.57 Johann Heinrich Locher interessierte sich in seinem Glaubensbekenntnis nicht direkt für Böhmes eigenwillige Auslegung des Wesens Gottes. Ihn interessierte vielmehr, wie Gut und Böse in die Welt kamen und wie sie zu widerstreitenden Eigenschaften im Menschen wurden. Dazu folgte Locher über weite Strecken der Genesis-Auslegung Böhmes: Als aber die weisheit Gottes sahe wie der mensch lüsterned ward vom Geist dieser welt, sich mit den 4 Ellementen zu vermischen, so kam das gebodt v. sprach: du solt nit Eßen von dem Baum der Erkandtnus gutes und Bößes. Bis hier Jac. Bohm welches hier einzurücken nöthig funden vmb beßern verstandts willen, weil vnser Zeche [= träge] begriffenlichkeit den rechten vnd wahrhafften verstand so gar schwerlich fassen will.58

Locher zitiert hier wörtlich eine Schlüsselstelle in der Auslegung des Sündenfalls durch Böhme. Der Abfall Adams von Gott sei demnach nur sekundär mit dem Konsum der verbotenen Frucht verbunden. Bei Böhme heißt es provokativ: »Es war nicht um ein Apfel=Biß zu thun« (3P 17.1). Dem Sündenfall sei ein Ringen zwischen den zwei Prinzipien des göttlichen Wesens vorausgegangen. In diesem Ringen sei Adam dem Geist der Welt erlegen. Das Essen des Apfels habe bloß den Kampf zwischen den beiden Prinzipien besiegelt: Erst mit dem Sündenfall sei Adam irdisch geworden und das Böse habe als dominierendes Element Einzug in die Welt gehalten (3P 17.22). Die Sündenfalllehre Böhmes, welcher Locher in seinem Glaubensbekenntnis folgt, internalisiert den Abfall von Gott. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Fehltritt Adams: Der Sündenfall wird so zu einer generellen menschlichen Eigenschaft. Der Sündenfall ist nicht ein über die Menschen verhängtes Verdikt, er findet vielmehr im Menschen, in seiner Psyche, statt. Und er äußert sich im 56 57 58

Zum Durchbruch des gelassenen Willens ins zweite ›Principium‹ vgl. Hans Grunsky: Jacob Böhme. Stuttgart 1956, 159 ff. Vgl. beispielsweise 3P 10.35. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 29 f. – Locher zit. wörtlich 3P 17.17.

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ewigen Antagonismus zwischen Gut und Böse. Es ist eine Folge der Vertreibung aus dem Paradies, dass der Mensch zu einer ›zweifachen Person‹ wurde. Der Sündenfall wird bei Böhme verinnerlicht und stetig fortgeschrieben. Direkt auf die Drey Principien Göttliches Wesens Bezug nehmend beschreibt Locher den Fall des Menschen und den Verlust der Ebenbildlichkeit mit Gott: Hier lehrte ich verstehen wie der zum Bilde Gottes erschaffene mensch, deßen lust, Gott und sein H: Wesen allein gewesen sich von Gott ab zum WeltGeist gewendet, also daß die Geister des gestirns [= der materiellen Welt59] anstadt Gottes des menschen Hertz eingenommen v. beherrschen, welche das Bild Gottes in Ihme verdunklet vnd unzeliche thierische Bilder, ungestalte Larven vnd verstellungen in menschen erwecket, deßen sich der mensch selbsten Schemmete, vnd anstadt der verlorhenen Göttlichen, seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten suchete.60

Mit dem Verlust des Paradieses kam endgültig das Böse in die Welt. Dieses ist gemäß Böhme eine innerliche, menschliche Eigenschaft. Der MikrokosmosMakrokosmos-Entsprechung folgend ist das Böse aber auch in der äußeren Welt vorhanden: »Dieweil sich denn Adam und Heva hatten in den Geist dieser Welt begeben, und lebten in zweyen, also in dem heiligen Element vor GOtt und dann auch in der Ausgeburt der vier Elementen […], so wurde auch zweyerley Kinder aus ihnen geboren« (3P 20.67): Kain und Abel. Diesen Gedankengang greift Locher an mehreren Stellen in seinem Glaubensbekenntnis auf, und er entwickelt, immer auf Böhme gestützt, einen doppelten Stammbaum der alttestamentarischen Stammväter.61 Der eine Baum steht für das Gute und Fromme und der zweite Baum für das Böse und das Sündhafte. Locher bezeichnet diese zwei Stammbäume bzw. die duale Psychologie auch als »zwey Völker« in uns.62 Interessant ist hier nicht nur die Spiegelung des ›zweifachen Menschen‹ in der äußeren Welt, sondern auch, dass das Gute nach wie vor vorhanden und der Mensch nicht von vornherein vollends mit der Erbsünde behaftet ist. So habe er das geistige Vermögen, mit dem er im Paradies ausgestattet gewesen sei, nicht ganz verloren. Böhmes Auffassung zufolge, der Locher hier über weite Strecken in redundanter Weise folgt, bestehe somit Hoffnung für das Individuum. Es gehe darum, das Gute in sich zu suchen und herauszufinden, wie viel noch vom Abelschen Stammbaum vorhanden sei. Das ist denn auch das Grundcredo der Drey Principien Göttliches Wesens, »daß er [der Mensch] sich selbst recht lerne erkennen« (3P Vor. 1). Es ist das Motiv des Suchens und Anklopfens, das Locher zeit seines Lebens beschäftigte. Zwar habe sich der Mensch von Gott ab- und der materiellen Welt zugegewendet und die Ebenbildlichkeit mit Gott sei verloren. Doch der Mensch sei nicht ganz aufgegeben. Für Locher besteht eine große soteriologische Hoffnung: »Also ward mir aufgeschloßen, die Lehr von den Schlangensaamen vnd den Weibessaamen.«63 Die bildlich gefasste Lehre des »Weibssamens«64 ent59 60 61 62 63 64

Vgl. MM 13.7 ff. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 30. Ebd., 33. Ebd., 13 u. 15. Ebd., 21. Vgl. 3P 18.

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lehnt Locher direkt bei Böhme. Es ist die bei Böhme auch als ›Sophia‹ benannte Weisheit Gottes, die dem Suchenden die Pforte zur Gottseligkeit aufschließen könne. Sprichst du: Was ist die Neue Wiedergeburt? […] suche nicht das Reich dieser Welt also harte, es wird dir ohne das genug anhangen: so wird dir entgegnen die züchtige Jungfrau hoch und tief in deinem Gemüthe; die wird dich führen zu deinem Bräutigam, der den Schlüssel hat zu den Thoren der Tieffe (3P 16.54). Darum kans alleine alhier in diesem Leben geschehen, weil deine Seele im Willen des Gemüths stecket, daß du die Thoren der Tieffe zersprengest, und zu GOtt durch eine neue Geburt eindringest (3P 16.53).

Das Ziel der Suche ist die wahre Erkenntnis Gottes. Es ist die Aufrichtung der Ebenbildlichkeit mit Gott und der Durchbruch des zweiten ›Principii‹ des göttlichen Wesens im Menschen. Hier schließt sich der Bogen zur Wiedergeburt. Erst nach seiner intellektuell erfahrenen Wiedergeburt vertiefte sich Locher in die Werke Jakob Böhmes. Hier suchte er die Auseinandersetzung mit seinem religiösen Erlebnis. Und hier fand er eine Weltanschauung, in der das individuell prägende religiöse Ereignis zum zentralen Moment wird. Er versuchte das omnipräsente Thema der Wiedergeburt, wie er es in Böhmes Schriften angetroffen hatte, in eigene Worte zu fassen: W[e]ill ich aber noch selbs Schwach bin von dem Zustand des menschen vor dem Sündenfahl zureden, vnd außerth der Neüwen geburdt aus Gott solches nit mag verstanden werden, so wollen wir nit Hinder sich zurück, sonder fürsich auf Christum dem anderen Adam vornehmlich sehen, darnebent aber den gefallenen vnd verderbten menschen auch betrachten, als umb deßentwillen Chistus Jesus mensch worden ist, damit Er Ihn aus der verderbnus erretten, vnd das Göttliche Ebenbildt in Ihme wider aufrichten möge, durch die überschwenklichkeit der Göttlichen Liebe, welches eigentlich meines gloubens grund und fundament ist vnd weil solche Liebe sich auf alle menschen namlich vom Ersten bis auf den allerletzten durch mannes saamen gezeügeten menschen sich erstrecket, so ist die Liebe des Menschen vnd zwahr gegen alle menschen unauflöslich darmit verknüpffet, ja die Liebe des Nebendt menschen (keinen außgenommen) ist das erste Kennzeichen daß wir Gott lieben.65

Locher folgt hier eng der Wiedergeburtskonzeption Böhmes. Wiedergeburt ist für ihn die individuelle Überwindung des Sündenfalls und die Wiederherstellung der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott. Sie bedeutet, dass der erneuerte Mensch zu einem neuen (anderen) Adam werde und sich so dem geistigen Menschen des Paradieses annähern könne. Eine bedeutsame Rolle in diesem Prozess bildet das Liebesmotiv. Die Liebe zu Gott sei das bewegende Moment auf dem Weg zur Wiedergeburt und es sei die Liebe zu den Mitmenschen, die einen Gradmesser derselben darstelle. Mit der starken Gewichtung der Liebe verlässt Locher die Tradition der spätmittelalterlichen Mystik. Er übernimmt in dieser Ausprägung die Lehre der drei Prinzipien des göttlichen Wesens, wonach Gott im Modus des zweiten ›Principii‹ sich den Wiedergeborenen als Liebe darstellt. Gemäß Locher kann ein jeder den Sündenfall überwinden und wiedergeboren werden. Deutlich wird dies, wenn er schreibt, dass sich die Liebe Gottes auf alle Menschen erstre65

Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 26 f.

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cke: Die Anlage zur Wiedergeburt sei in jedem vorhanden, sie scheine jedoch verschüttet zu sein und müsse neu aufgerichtet werden. Locher überschreitet mit seiner Vorstellung von der Wiedergeburt endgültig die Grenzen seiner Konfession. Er gerät in Konflikt mit den 1619 auf der Synode der Reformierten von Dordrecht gefassten Lehrsätzen66 sowie mit der Helvetischen Konsensusformel von 1675.67 Lochers Überzeugung, dass der Mensch den Sündenfall in der Wiedergeburt überwinden könne, widerspricht diametral der reformierten Dogmatik und ist häretisch. Die »Einhellige Formul Der Reformierten Eidgenößischen Kirchen« vertritt im 13. Lehrsatz die Ansicht der Supralapsarier: »So ist hiermit der Mensch nach dem Sündenfall von Natur/ und seinem ersten Ursprung an/ eh und bevor er einiger thätlichen Sünden beschuldigt wird/ dem Zorn und Fluch GOttes unterworfen.« Die Sünde Adams sei ausnahmslos auf alle Menschen übergegangen und die ganze Menschheit sei verdorben und von Gott grundsätzlich verworfen. In dieser Erbsündenlehre ist ein ›Aufrichten der Gottähnlichkeit‹ in der Wiedergeburt nicht vorgesehen. Auch nicht vorgesehen ist ein versöhnlicher Gott der Liebe und Barmherzigkeit. Die Konsensusformel führt dies im fünften und sechsten Lehrsatz näher aus und negiert ein Christusbild, wie es Locher in seiner Wiedergeburtskonzeption entwirft. Jesus ist hier gerade nicht der Vermittler zwischen Mensch und Gott, der den Menschen durch Liebe aus seiner Verderbnis rettet. Christus ist gemäß der Konsensusformel nicht für alle gestorben; er wird vielmehr als Vollstrecker der Gnadenwahl beschrieben.68 Es ist denn auch die Prädestination, die das bedeutende häretische Moment in der Glaubensauffassung von Locher darstellt. Sein Glaube an die soteriologische Wirkung der Wiedergeburt lässt sich nicht vereinbaren mit einem Auserwähltsein einiger aus der Masse der verdorbenen Menschheit ohne Berücksichtigung des Glaubens, der Taten oder Verdienste.69

66

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68 69

Georg Plasger/Matthias Freudenberg (Hrsg.): Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart. Göttingen 2005, 221–229; Johannes Pieter van Dooren: Dordrechter Synode. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9 (1982), 140–147. ZBZ Ms. B 185 [Religions=Sachen welche sich in Reformierter Eydgenossenschaft zugetragen Von jahr Christi 1680 bis 1701], Nr. 2, FORMULA | CONSENSUS | Ecclesiarum Helveticarum Reformatarum, | CIRCA | Doctrinam de Gratia universali & connexa, | aliaque nonnulla capita. O. O. o. J. ZBZ Ms. B 185, Nr. 2, FORMULA | CONSENSUS, 5 f. u. 16. Satz, 14f u. 25. »Gott der Herr hat vor der Welt grundlegung in Christo Jesu unserem Herrn einen ewigen Fürsatz gemacht/ in welchem Er auß pur lauterem Wolgefallen seines willens/ ohne Vorsehung einiges Verdienstes der Werken oder Glaubens/ zu lob und Ehr seiner Herrlichen Gnad/ eine gewüsse und bestimmte Anzahl der Menschen; welche da mit den übrigen in gleicher Verderbnuß und allgemeinem Blut begriffen/ und also mit der Sünd behaftet/ ihm fürkommen; außerwehlt/ damit sie in der Zeit durch Christum/ ihren einzigen Mittler und Bürgen Heil und Selig gemachet/ und so wol durch dessen Verdienst/ als des heiligen widergebährenden Geistes allmächtige Kraft/ kräftiglich beruffen/ wiedergeboren/ und mit dem waren Glauben und Seligmachender Buß begabet werden.« ZBZ Ms. B 185, Nr. 2, FORMULA | CONSENSUS, 4. Satz, 12 f.

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Locher tritt in diversen Selbstzeugnissen gegen die Prädestination auf.70 Auch in seinem Glaubensbekenntnis wendet er sich gegen die Gnadenwahl. Er schreibt: »Also kan der mensch weder von Natur noch durch verdienste das Reich Gottes erlangen, sonder allein durch den glauben in Christo Jesu, durch deßen Geist und Krafft Er von neuwem gebohren werden muß.«71 Er schließt mit dieser Aussage die Prädestination, aber auch die Werkheiligung aus; das Heil liegt für ihn einzig in der Wiedergeburt. Mit dieser Ansicht kann er sich auch auf seine Böhme-Lektüre stützen. Die Kritik an der Prädestination ist in diesen Werken allgegenwärtig. Beispielsweise dort, wo Böhme die Prädestination direkt mit seiner scharfen Ablehnung der Kirche als Babel in Verbindung bringt: »Wie wohl die Kirche zu Babel alhier viel von der Gnaden=Wahl aus GOttes Fürsatz wil rumpeln, und hat dessen doch so wenig Erkentniß als der Thurm zu Babel von GOtt, dessen Spitze solte bis an Himmel reichen« (3P 20.68). Für Böhme wie auch für Locher ist ihre antagonistische Anthropologie nicht mit der Prädestination zu vereinbaren. Ihnen schwebt vor, dass der Mensch sich für die Wiedergeburt einsetzen muss, durch die er das Heil erlangen kann. Die Differenz zwischen den sich bei Jakob Böhme bedienenden Pietisten und der reformierten Orthodoxie wird anhand eines Bibelzitates ersichtlich. Der zehnte Lehrsatz der Dordrechter Canones stützt sich auf Röm 9,11 ff. (»Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst«), um den Schriftbeweis zu erbringen, dass Gott einige bestimmte Personen aus der allgemeinen Masse der Sünder erwähle, noch bevor sie geboren würden und mit der Sünde in Kontakt gekommen seien. Locher zieht aus demselben Zitat den gegenteiligen Schluss: Daß aber solche zwey Völker als Juden und Heiden, Esau und Jacob in jedem menschen sich befinden, welche durch fleisch und Geist unterschieden werden ist in dem 8then Cap: [Röm] auch gelehrt worden und solchs lehrt auch der Geist Gottes durch die gantze heil: Schrift […]. Auß diesem erhellet sich wie die Lehr von der Ewigen Erwehlung vnd verwerffung von vielen, so übel vnd unrecht gelehrt vnd verstanden werden, welche doch ein rechten verstand gantz recht ist, den Gott erzeigte sein Wolgefallen an Habel vnd an Kain Es spricht aber Gott zu Kain Gen: 4. V. 7 Wann du fromb bist, so bistu angenehm, bistu aber nit fromb so ruwet die Sünd vor der Thür. Aber laß du Ihr nit Ihren willen, sonder Herrsche über sie.72

Locher wendet sich direkt gegen die Prädestinationslehre. Hier prallen zwei konträre Menschenbilder aufeinander. Für ihn ist die Heilsfindung kein über die Menschheit seit Anbeginn der Welt verhängtes Verdikt. Der Mensch ist für ihn nicht bloß Spielball des unergründlichen Willen Gottes, der Mensch muss hinsichtlich des Heils aktiv werden; Locher betont die Freiheit und die Verantwortung des Individuums: Für ihn ist die Heilsfindung eine im Inneren des Menschen stattfindende Auseinandersetzung mit den Anlagen zum Guten und Bösen.

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Bütikofer (Anm. 11), u. a. 373–383. Freimüthiges GlaubensBekanthnus (Anm. 10), 14. Ebd., 15 f.

Die Rezeption Böhmes durch den Zürcher Pietisten Johann Heinrich Locher

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IV Die Frage, wie das Böse in die Welt komme, ist die Kernfrage in Lochers Glaubensbekenntnis. Diese Frage ist ebenfalls das dominierende Problem in den Drey Principien Göttliches Wesens. Und diese Frage ist das verbindende Element zwischen Locher und Böhme. Von hier aus entwickelt Böhme – und in seinem Gefolge auch Locher – ein dynamisches Welt- und Menschenbild, das im Widerspruch zum reformierten Bekenntnis steht. Was dabei entsteht, ist ein neuer Blick auf den Menschen und sein Heil. Die dialektische Metaphysik, die Idee der inneren Spannung und der inneren Kämpfe im Sein sowie die Idee der göttlichen Natur und der Freiheit des Seins73 sind das Faszinierende an Böhme, das auch den Zürcher Pietisten fesselte. Die Attraktivität des Theosophen besteht, um es mit Eberhard H. Pältz auszudrücken, in der Leiblichkeit, im Wirklichkeits- und Weltbezug des Glaubens.74 Es waren der Weltbezug und das Konzept des Ringens der inneren Mächte, die Locher aus seiner dritten Glaubenskrise befreiten. Dank der Lektüre der Schriften Böhmes konnte er den fehlenden Bezug der spätmittelalterlichen Mystik zum Alltagsleben eines jungen Kaufmanns überwinden. Die kontemplative, tendenziell passive Frömmigkeit half ihm, den Weg zu seinem Wiedergeburtserlebnis zu ebnen, doch die Mönchsmystik des Mittelalters konnte ihm keinen Bezug zur Welt herstellen. In diesem Stadium begann Locher mit der Lektüre Böhmes. Das hier entdeckte dynamische Welt- und Menschenbild erweiterte und ergänzte seine an der mystischen Tradition entwickelte Religiosität und verlieh dem Ganzen eine aktive Note. Der Mensch, das Ich, wird zum Zentrum der Auseinandersetzung und zum Ort des Glaubens. Der Bezug zur Welt und zum Sein, den Böhme herstellte, erweiterte die Attraktivität für Locher noch zusätzlich, indem ein philosophisch-religiöses System entwickelt wird. Aus den Selbstzeugnissen Lochers wird deutlich sichtbar, wie er diese Weltanschauung aufsog, wie er mit den dunklen und unsystematischen sowie teils widersprüchlichen Schriften ernstlich rang. Locher war zeit seines Lebens ein eklektischer Autodidakt, und er fand im philosophischen Gebäude des Theosophen Halt und Stabilität. Jakob Böhme war für ihn nicht der Schlüssel zum pietistischen Glaubensverständnis. Dessen Schriften las er erst nach seinem religiösen Durchbruch. Die Rolle Böhmes beschränkt sich in der geistigen Entwicklung Lochers auf die des Vollenders. Die Rolle des Initiators oder des Schlüssels zur Wiedergeburt kam ihm nicht zu. Das heißt aber nicht, dass die Auseinandersetzung mit Böhmes Schriften für Locher kein prägendes Erlebnis war. In ihnen fand er den Abschluss seiner großen Suche. Mit ihnen rundete er sein Weltbild ab. Hier fand er Halt und Gewissheit. Bei Jakob Böhme kam er auch mit einer gehörigen Portion ›radikaler‹ Auffassungen in Berührung. Zwar hatte er bereits mit Johann Arndt seine konfessionellen Bande gelockert und sich eine irenische Haltung angeeignet. Spätestens aber mit Böhme geriet er in Widerspruch zu den protestantischen Glaubensbekenntnissen, 73 74

Koyré (Anm. 54), 169 f. Pältz (Anm. 34), 93.

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indem er die Möglichkeit des individuellen Heils, das aktiv in der Wiedergeburt verfolgt werden kann, verfocht und so den Supralapsarismus seiner Konfession ablehnte. Aber Locher eignete sich die kirchenkritische Sichtweise Böhmes nicht an, der die Kirche als »Kainskirche« oder »Babel« schalt. Locher verhielt sich der Kirche gegenüber eher indifferent. Er bemängelte zwar die »Heucheley im Gottesdienst«, aber er interessierte sich mehr für die geistige, unsichtbare Kirche der Kinder Gottes. Die ›radikale‹ Position Lochers bestand in erster Linie in seiner häretischen Vorstellung von der Wiedergeburt. Neben dieser geistigen Erneuerung durch die Überwindung der äußeren Welt, die er im Kern aus der Beschäftigung mit der mystischen Tradition entwickelte und anschließend in der Weltanschauung Böhmes als Dreh- und Angelpunkt festigte, schöpfte Locher eine Reihe von Elementen aus den Werken des Theosophen, die Stoeffler als konstitutive Elemente des radikalen Pietismus bezeichnete: Hervorzuheben ist besonders die universelle Liebe Gottes, wie sie im zweiten »Principio« Böhmes als Basis für das individuelle Heil angelegt ist. Zu erwähnen sind weiter die reservierte Position gegenüber der Kirche und der Drang, sich von religiösen Dogmen und Zwängen zu befreien. Ein wichtiges, aber bei Stoeffler nicht erwähntes Element ist zudem die Betonung der Freiheit des menschlichen Willens, die logischerweise aus der dialektischen Metaphysik und der Ablehnung der Prädestination folgt und im Zürcher Pietismus ein allgegenwärtiges Thema bildete.

Johann Anselm Steiger

Jacob Böhmes Rettung Friedrich Brecklings Anticalovius (1688) als Apologie des mystischen Spiritualismus Wer sich mit der Rezeption Jakob Böhmes im Spiritualismus des 17. Jahrhunderts befasst, kommt an der Beschäftigung mit Friedrich Breckling1 nicht vorbei. Breckling, geboren am 5. Februar 1629 in Handewitt bei Flensburg als Sohn eines Pfarrers, der dem Geiste und der Frömmigkeit Johann Arndts2 nahestand, studierte ausgiebig an namhaften Universitäten und bei den bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit: Bei dem lutherischen Ireniker (und Landsmann) Georg Calixt sowie bei dem Naturphilosophen und Juristen Hermann Conring in Helmstedt, außerdem bei den führenden Köpfen der lutherischen Orthodoxie in Königsberg, Wittenberg (Abraham Calov, Johann Andreas Quenstedt), in Leipzig (Johannes Hülsemann), in Jena (Johannes Musäus, Johann Ernst Gerhard) und in Gießen (Justus Feurborn). Im Jahre 1654 weilte Breckling während eines Studienaufenthaltes in Hamburg, während dessen er die Stadtbibliothek3 nutzte und durch die Lektüre der Schriften des spätmittelalterlichen Mystikers Johann Tauler, der Werke Joachim Betkes sowie Christian Hoburgs für den mystischen Spiritualismus gewonnen wurde. Seither standen die Selbstverleugnung (abnegatio sui), die Nachahmung des Leidens Christi (imitatio Christi), die apokalyptische Hoffnung auf den baldigen Anbruch des tausendjährigen Reichs und die Überzeugung, der Geist Gottes wirke direkt auf den und im Glaubenden ohne Vermittlung durch das Medium des äußeren – d. h. geschriebenen und gepredigten – Wortes und 1

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Zum Forschungsstand vgl. Dietrich Blaufuß: Art. »Breckling, Friedrich«. In: Theologische Realenzyklopädie 7 (1981), 150–153, und ders.: Art. »Breckling, Friedrich«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, Bd. 2 (2008), 161 f. Vgl. überdies Britta Klosterberg: Provenienz und Autorschaft. Die Quellen von, zu und über Friedrich Breckling in Bibliothek und Archiv der Franckeschen Stiftungen. In: Pietismus und Neuzeit 33 (2007), 54–70. Magdolna Veres: Johann Amos Comenius und Friedrich Breckling als ›Rufende Stimme aus Mitternacht‹. In: Ebd., 71–83. Vgl. jetzt Friedrich Breckling (1629–1711). Prediger, ›Wahrheitszeuge‹ und Vermittler des Pietismus im niederländischen Exil. Hrsg. v. Brigitte Klosterberg u. Guido Naschert. Halle a.S. 2011 (Kleine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen 11). Vgl. Hans Schneider: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621). Göttingen 2006 sowie Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die ›Vier Bücher vom wahren Christentum‹. Hrsg. v. Hans Otte u. Hans Schneider. Göttingen 2007 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 40). Vgl. Werner Kayser: 500 Jahre wissenschaftliche Bibliothek in Hamburg. 1479–1979. Von der Ratsbücherei zur Staats- und Universitätsbibliothek. Hamburg 1979 (Mitteilungen aus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg 8).

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die Sakramente, in Brecklings Gedanken im Vordergrund. 1655 wurde Breckling in Straßburg u. a. mit Johann Konrad Dannhauer und dessen Schüler Philipp Jakob Spener bekannt. Nach einem ersten Aufenthalt in den Niederlanden, wo Breckling weitere Kontakte mit spiritualistischen Kreisen knüpfte (Elias Taddel, Ludwig Friedrich Gifftheil u. a.), wurde er 1657 Feldprediger bei den königlichdänischen Truppen und 1659 Prediger in Handewitt bei Flensburg als Gehilfe seines Vaters. Im Jahr darauf veröffentlichte Breckling ein Pamphlet mit dem Titel Speculum Pastorum4 gegen die aus seiner Sicht geistlose lutherische babylonische ›Mauerkirche‹, die die persönliche Frömmigkeit der Glaubenden zu wenig fördere und zu lax auf die Notwendigkeit der Heiligung (sanctificatio), also der ethischen Besserung, hinweise. Vor ihrer Publikation sandte Breckling eine handschriftliche Fassung dieses Textes an das Flensburger Konsistorium und an Stephan Klotz (1606–1668),5 der seit 1636 als schleswig-holsteinischer Generalsuperintendent in Flensburg fungierte und seit 1639 zudem Propst und Pfarrer an St. Nikolai ebendort war. Das Speculum artikuliert eine radikal-spiritualistische Kritik an der in Brecklings Augen geistlosen und verwahrlosten lutherischen Kirche und ruft diese zur entschiedenen Umkehr auf. Erst nachdem Klotz trotz wiederholter Aufforderung von Seiten Brecklings auf die Denkschrift nicht reagierte, überstellte dieser sie nach Amsterdam, um sie drucken zu lassen und dem dänischen König zuzusenden. Einiges spricht dafür, dass Klotz Breckling keine Entgegnung zuteil werden ließ und ihn mehrfach verwarnte, um ihn zu schützen. Offensichtlich jedoch war Breckling keineswegs geneigt, solchen Schutz in Anspruch zu nehmen, sondern legte es geradezu darauf an, einen Konflikt heraufzubeschwören. Auch die Verhandlung des casus vor dem Flensburger Konsistorium, das Breckling auf Verleumdung des Predigtamtes und auf Nichtbeachtung der gültigen Zensurvorschriften verklagte, vermochte nicht, den Beklagten zum Widerruf zu bewegen. Schließlich wurde Breckling durch die Pröpstesynode von seinem Amte suspendiert und der Fall zur weiteren Veranlassung an die weltliche Obrigkeit überwiesen. Offenbar war geplant, Breckling in die Festung Rendsburg bringen und inhaftieren zu lassen. Zuvor jedoch wurde Breckling im Hause des königlichen Hausvogtes unter Arrest gestellt, und ihm gelang die Flucht. Breckling berichtet in seiner chronikartigen Autobiographie: 4

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Vgl. Friedrich Breckling: SPECULUM Seu Lapis Lydius Pastorum: Darinnen alle Prediger und Lehrer dieser letzten Welt sich beschawen/ und nach dem Gewissen/ als für Gottes alles sehenden und richtenden Augen/ ohne Heucheley ihrer selbst/ ernstlich prüfen und examiniren sollen […]. Amsterdam 1660. Vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Tl. 2. Stuttgart 21990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 9,II), hier: Bd. 2, 761, Nr. 5.1 u. 5.2. Es handelt sich (abgesehen von der 1653 gedruckten Gießener Disputation [Dünnhaupt II, 761, Nr. 4]) um Brecklings Erstling. Sein Epitaph (mit Porträt) befindet sich in der Kirche St. Nikolai in Flensburg. Vgl. Bernhard Meißner: Lateinische Inschriften in Flensburg. Flensburg 1984 (Schriften der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte e. V. 33), 123–129, und Ludwig Rohling: Die Kunstdenkmäler der Stadt Flensburg. München u. a. 1955 (Die Kunstdenkmäler des Landes SchleswigHolstein 7), 183 f.

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Anno 1660 habe Jch mein Speculum Pastorum geschrieben, darauff bin Jch den 6 Februarii vorgefodert und vom Predigampt suspendieret und den 15 Martii condemnieret, umb incarceriret und nach Rensburg gebracht zu werden, den 18 hab Jch mich nach Risemoer[,] Foer[,] Gluckstadt und Hamburg begeben und bey Hans Simon Holtzbecker meine Herberge genommen[,] von dar bin Jch nach Haarburg bey Henrich Behtel und nach Bremen bey Jonas Wycker und so durch Wilsum[,] Cloppenburg[,] Haselun[,] Lingen[,] Neuhuysen[,] Hardenberg[,] Zwoll[,] Campen und Amsterdam mich begeben […].6

Generalsuperintendent Klotz bat in seinem am 16. März 1660 abgefassten Bericht den dänischen König darum, er möge den Gesandten in Den Haag veranlassen, sämtliche Exemplare des Speculum konfiszieren zu lassen. Breckling reagierte hierauf mit einer dezidiert gegen Klotz gerichteten Kampfschrift mit dem Titel Veritatis triumphus.7 Breckling versteckte sich – wie er berichtet – nach seiner Flucht u. a. auf Föhr, ging dann nach Hamburg, wo sich aufgrund des vergleichsweise toleranten Klimas nicht wenige Gleichgesinnte aufhielten, um schließlich in den Niederlanden Zuflucht zu finden. Dort wirkte er von 1660 bis 1667 als lutherischer Pfarrer in Zwolle und heiratete 1667 Elisabeth Crouse, die Tochter eines Ehepaares, das zu Brecklings Gemeinde gehörte. Das Mädchen hatte ekstatische Erlebnisse und wurde von Breckling ins Pfarrhaus aufgenommen, woraufhin Aufruhr entstand, dem Breckling dadurch begegnete, dass er das Mädchen heiratete. Vor der Hochzeit am 23. April 1667 entstand wiederum große Unruhe, da die ehemalige Hausangestellte [Anna Schutten] behauptete, er [Breckling] habe ihr die Ehe versprochen. Zudem beschuldigte man ihn, er habe mit ihr sexuelle Beziehungen unterhalten, unter anderem in der Kirche auf der »Gotteskiste«, einem Gegenstand, der sowohl zur Aufbewahrung der Kirchengelder als auch zur Feier des Abendmahls verwendet wurde.8

1668 wurde Breckling erneut seines Amtes enthoben und privatisierte fortan zunächst in Zwolle, von 1672 an in Amsterdam und später (1690 bis zu seinem Tod 1711) in Den Haag. Breckling ernährte sich jetzt mehr schlecht als recht von Korrekturarbeiten, wurde aber auch unterstützt von Gönnern wie Philipp Jakob Spener und der Fürstäbtissin Elisabeth von Herford und legte eine höchst fruchtbare literarische Produktivität an den Tag. Ob bzw. inwieweit Breckling als ein Böhmist anzusehen ist, mag kontrovers diskutiert werden und soll sogleich in Erwägung gezogen werden. Zunächst sei 6

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Friedrich Breckling (1629–1711). Autobiographie. Ein frühneuzeitliches Ego-Dokument im Spannungsfeld von Spiritualismus, radikalem Pietismus und Theosophie. Hrsg. und komm. von Johann Anselm Steiger. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 109), 23 f. Ernst Feddersen: Kirchengeschichte Schleswig-Holsteins. Bd. 2: 1517–1721. Kiel 1935, 342–346. Erich Hoffmann: Flensburg von der Reformation bis zum Ende des Nordischen Krieges 1721. In: Flensburg. Geschichte einer Grenzstadt. Hrsg. v. der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte. Flensburg 1966 (Schriften der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte 17), 73–168, hier: 139 f. Paul Estié: Die Auseinandersetzung von Charias, Breckling, Jungius und Gichtel in der lutherischen Gemeinde zu Kampen 1661–1668. In: Pietismus und Neuzeit 16 (1990), 31–52, hier: 46. Näheres bei Paul Estié: Die Entlassung Friedrich Brecklings als Pfarrer der Lutherischen Gemeinde zu Zwolle, 1667–1668. In: Pietismus und Neuzeit 18 (1992), 9–39, hier: 13–15.

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indes auf den Umstand hingewiesen, dass Breckling eine wichtige, wenngleich mittelbare Schlüsselfunktion im Hinblick auf die frühneuzeitliche Böhme-Rezeption zukommt. Johann Georg Gichtel (1638–1710), der Regensburger Rechtsanwalt, hielt sich 1664 während einer Reise, auf der er Baron Justinian von Welz begleitete, bei Breckling in Zwolle auf und wurde von diesem für den mystischen Spiritualismus gewonnen. Nach der Ausweisung aus seiner Vaterstadt Regensburg im Jahre 1665 war Gichtel erneut in Zwolle. Er wurde dort 1668 wegen seines Eintretens für Breckling sowie der Veröffentlichung eines Schmähgedichtes gegen die weltliche und kirchliche Obrigkeit an den Pranger gestellt, nachdem der lutherische Arzt Th. H. Pietsch ihn denunziert hatte, und der Stadt verwiesen. Sodann wirkte Gichtel in Amsterdam als Führer eines spiritualistischen Konventikels. Hier besorgte Gichtel gemeinsam mit einigen Mitstreitern9 die erste Gesamtausgabe der Schriften Jakob Böhmes,10 die 15 Bände umfassend 1682 in Amsterdam erschien.11 Mit der Gewinnung Gichtels für die spiritualistische Bewegung gelang Breckling also eine wichtige Weichenstellung im Hinblick auf die erstmalige umfassende editorische Erschließung der Werke Böhmes und damit mittelbar auch hinsichtlich der Böhme-Rezeption. Wirkungen der Böhme’schen Theosophie begegnen in Brecklings Œuvre auf Schritt und Tritt. Die wohl ausführlichste Befassung mit dem Böhme’schen Erbe liegt in Brecklings im Jahre 1688 gegen seinen ehemaligen akademischen Lehrer Abraham Calov12 und dessen Anti-Böhmius13 (1684) gerichteter Schrift vor. Das 9

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Vgl. Carlos Gilly: Zur Geschichte und Überlieferung der Handschriften Jacob Böhmes. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzung und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007 (Pimander. Texts and Studies published by the Bibliotheca Philosophica Hermetica 16), 39–54, hier: 43. Jacob Böhme: Des Gottseeligen Hoch=Erleuchteten JACOB BÖHMENS Teutonici Philosophi Alle Theosophische Wercken. Darinnen alle tieffe Geheimnüsse GOttes/ der ewigen und zeitlichen Natur und Creatur/ samt dem wahren Grunde Christlicher Religion und der Gottseeligkeit/ nach dem Apostolischen Gezeugnüß offenbahret werden. Theils aus des Authoris eigenen Originalen/ theils aus den ersten und nachgesehenen besten Copyen auffs fleissigste corrigiret. Und Jn Beyfügung etlicher Clavium so vorhin noch nie gedruckt/ nebenst einem zweyfachen Register. Den Liebhabern Göttlicher und Natürlicher Weißheit zum besten an Tag gegeben. [Hrsg. v. Johann Georg Gichtel]. 15 Bde. Amsterdam 1682 (Forschungsbibliothek Gotha Phil. 8° 120a/4). Vgl. Bernard Gorceix: Johann Georg Gichtel. Théosophe d’Amsterdam. O. O. 1975. D. A. Vorster: Protestantse Nederlandse mystiek. Amsterdam 1948, 154–156. Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus den späteren Auflagen. Hrsg. v. Hans-Jürgen Schrader. 7 Tle. in 4 Bdn. Tübingen 1982 (Deutsche Neudrucke: Reihe Barock 29/1–4), hier: Bd. 3, 192–215. Zu den Streitigkeiten in Kampen vgl. Estié, Auseinandersetzung (Anm. 8). Ferdinand van Ingen: Böhme und Böhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. Bad Honnef 1984, 6, 20–22. Vgl. Kenneth G. Appold: Abraham Calov’s doctrine of vocatio in its systematic context. Tübingen 1998 (Beiträge zur Historischen Theologie 103). Abraham Calov: ANTI-BÖHMIUS, In quo docetur, QUID HABENDUM DE SECTA JACOBI BÖHMEN/ SUTORIS GÖRLICENSIS? AN QVIS INVARIATAE AUGUST. CONFESSIONI ADDICTUS, SINE DISPENDIO SALUTIS AD EANDEM SE CONFERRE, VEL IN EA-

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Buch – ein Rarissimum, denn nur ein einziges Exemplar ist heute noch nachweisbar – trägt folgenden gleichermaßen wortreichen wie programmatischen Titel: ANTICALOVIVS sive Calovius cum Asseclis suis prostratus et Jacob Bôhmius Cum aliis testibus veritatis defensus. Darin gelehret wird was von D. Abraham Calovii, Pomarii Francisci und anderer falschgelehrten Büchern/ Apologien und Schrifften wider Jac. Böhmen/ Hermannum Jungium, I. C. Charias M. Henricum Amerßbach/ mich und andere Zeugen der Warheit zuhalten sey. Vnd ob ein recht Christlicher Lehrer oder zuhörer Darin mit D. Calovio, Pomarius und andern Feinden der Warheit übereinstimmen. Vnd des Iacob Böhmens/ Jungii/ Seidenbechers/ Grosgebawers unserer und anderer zeugen der Warheit Personen und Schrifften ohne verletzung seines gewissens und übertretung des Wortes Gottes also richten und verdammen könne wie D. Calov, Pomarius, Artus, Francisci der unverständige gerrard Antognossius und andere so unGöttlich gethan haben/ und eben darin sich selbst verdammlich machen/ darin sie uns richten. Dabey zugleich des sel. J. Böhmen und vieler anderer Zeugen der Warheit Vnschuld gerettet und verthätiget wird/ vnd angewiesen/ was doch von Jacob Böhmen Person und Schrifften nach dem Grunde der Warheit zuhalten seye/ und wie solche mißbrauchet/ theils recht gebrauchet werden können? Vnd Ob ein rechter Christ mit gutem Gewissen in solcher falschen Lehrer Richter und Verfolger Kirchen oder Gemeinschafft sich begeben bleiben und beharren könne/ welche also die Warheit und dessen zeugen von sich außstossen lästern und verfolgen? Oder ob Er nicht vielmehr von solchen Verfolgern außgehen und zu dem Hauffen der Verfolgeten übergehen/ und mit den klugen Jungfrawen dem Bräutigam entgegen gehen/ und dem Lamb auff dem Berge Zion nachfolgen solle/ Nach Gottes Wort und Befehl an uns alle 2. Cor. 6. Matt. 25. Apoc. 14. 18.14

Die Lektüre dieses Textes hinterlässt einen höchst zwiespältigen Eindruck. Zunächst fällt das üble und über lange, ja ermüdende Passagen sich redundant fortsetzende Geschimpfe insbesondere über Abraham Calov ins Auge, das bezüglich Schärfe und Radikalität kaum einen Wunsch offenlässt. Als wollte Breckling die polemische Klimax sogleich an den Anfang seiner Schrift stellen, tituliert er den Wittenberger Theologen einleitend so: Abraham Calovius ein Doctor, Professor, Pastor, Primarius, Senior und Superintendens, Theologus und Philosophus, das Omne & Factotum zu Wittenberg. Haereticae Pravitatis Inquisitor, der Vornemster ketzermacher unter uns/ der ein gantzes ketzer=Register und Catalogum librorum Prohibitorum alß einen newen Indicem Expurgatorium nach dem Bild des alten Thiers gemacht/ weil Er ihm einbildet und unternimpt der grösseste Pabst und älteste Haupt der Lutherischen kirchen zu sein/ und der das meiste Recht und höchste macht hat nach seinem eigenen kopff und Sinn alles zu verdammen und verurtheilen/ was nicht seinen Sectirischen Meinungen Zufält/ noch sein Thierisches Bild der Eigenheit anbeten wil.15

Nun pflegte auch Calov mit seinen spiritualistischen Gegnern keineswegs zimperlich umzugehen, doch fällt im direkten Vergleich von Brecklings und Calovs

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DEM PERSEVERARE POSSIT? Quae Quaestio TREDECIM RATIONIBUS NEGATUR, Et Coronide sub finem additâ DE ADMIRANDA ET GRATIOSA CONVERSIONE NON PAUCORUM EX SECTA ILLA FANATICA ET PHANTASTICA, VEREQVE QVAKERICA, Ad multorum desideria, & solicitam instantiam tandem divulgatus […]. Wittenberg 1684 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel H 441.4° Helmst.), weitere Auflagen 1690 u. 1692. Die Schrift wurde ohne Angabe des tatsächlichen Druckortes Wesel publiziert. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart MC Theol. oct. 2170. Dünnhaupt (Anm. 4) II, 780, Nr. 46. Breckling, Anticalovius (Anm. 14), Bl. A 1v.

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polemischen Schreibweisen auf, dass ersterer sich des weitaus schärferen Tones bedient und es – durchaus anders als bei dem Wittenberger Theologen – zu einer Diskussion der strittigen Sachfragen, der man einen gewissen Grad an Sachlichkeit attestieren könnte, eigentlich gar nicht kommt. Die wahren, weil vom Heiligen Geist erleuchteten Christen und Theologen finden sich Brecklings Sicht der Dinge zufolge einzig und allein außerhalb der ›babylonischen Mauerkirche‹ und jenseits des von der verwerflichen Weltgelehrsamkeit des Aristotelismus, der Buchwissenschaft und dem geistlosen Disputationswesen infizierten akademischen Lehrbetriebes an den Universitäten und deren Theologischen Fakultäten. Die »recht Philosophische Weißheit«, so Breckling im Anschluss an Böhme, »bestehet nicht in den Büchern davon geschrieben/ sondern in einem inwendigen Liecht und Gabe GOttes/ dadurch wir alle auswendige Dinge im Liecht der Natur durchsehen«, ebenso wie »rechte Theologia in einem inwendigen Gnaden=Liecht und Glauben Christi und seines Geistes bestehet«.16 Die ur-spiritualistische Skepsis dem Buchstaben, den Büchern und den Bibliotheken als Nicht-Behältnissen von Geist gegenüber artikuliert sich – wie kaum anders zu erwarten – auch bei Breckling, freilich auch bei ihm ohne eine selbstreflexive oder gar selbstkritische Erörterung der Frage, ob es nicht eine contradictio in adjecto darstellt, dass ausgerechnet die Kritik an der Buchgelehrsamkeit sich nicht nur sporadisch des kritisierten Mediums selbst bedient, sondern zahlreiche Bücherregale füllt. Böhmes Theosophie ist laut Breckling nicht nur der sowohl aristotelischen als auch platonischen Philosophie weit überlegen, vielmehr ist Böhme in Brecklings Sicht der Dinge der erste Philosoph, der überhaupt diese Bezeichnung verdient. Böhmes Lehre betrachtet Breckling als Inbegriff einer vom Heiligen Geist gestifteten Eröffnung des sonst verstellten Blickes auf die lingua naturae und die signaturae rerum, wogegen die gängigen philosophischen Optionen als am bloß Äußeren haftende und nicht zum Kern vordringende Lehrsysteme verblassen müssen. Man habe, so Breckling, bißher nichts gewissers noch gründlichers in der Philosophi gehabt/ daß wir weder des Himmels Characteren und Rede/ noch der Natur Sprache und Signaturen/ weder die Sterne am Himmel mit ihren Nahmen und Würckungen noch die Kräuter unter unsere Füsse mit ihren Kräfften und Kennzeichen recht erkennen/ verstehen; einsehen/ nennen und ihre Centralische Kräffte offenbahren können/ und GOTT sich über unsere Blindheit erbarmet/ und den Deutschen einen deutschen Philosophum erwecket/ der uns die rechte Wurtzel und Gründe aller verborgenen Weißheit viel besser als Aristoteles/ Plato und alle Philosophi beschreibet […].17

Die platonische und aristotelische Philosophie belegt Breckling mit den Epitheta ›heidnisch‹, ›falsch‹ und ›fleischlich‹. Der grundlegenden Aufgabe, vor die sich schon das antike Christentum gestellt sah, und die Frage, die zu lösen noch das Bestreben der Gelehrten des 17. Jahrhunderts überkonfessionell war, wie nämlich das Erbe der heidnischen Antike in Einklang zu bringen sei mit der jüdisch16 17

Ebd., Bl. E 1v. Ebd., Bl. E 1r.

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christlichen Tradition, wie also Athen und Jerusalem zusammenzubringen seien – dieser Aufgabe erteilt Breckling hier eine fundamentaler kaum denkbare Absage. In Böhmes Theosophie sieht Breckling die Alternative zur vom Aristotelismus fächerübergreifend geprägten Schulgelehrsamkeit schlechthin; Böhme habe etwa von Paracelsus wichtigste Impulse erfahren. Böhmes Lehre stellt in den Augen Brecklings einen prominenten Fortschritt dar, doch einen solchen, der sich im Hinblick auf das nun anbrechende Zeitalter des Geistes und dessen Licht der Erkenntnis wie die verheißungsvolle Morgenröte ausnimmt und letztlich Prolepse ist einer noch ausstehenden, wahrhaft eschatologischen Geistfülle. Noch ist J. Böm nur wie ein Morgenstern zu achten/ gegen der Vollheit aller Göttlichen und natürlichen Weißheit und Erkäntnüß/ die wie eine helle Sonne nach ihm aufgehen soll/ von welcher Vollheit der Rosen= und Lilien=Zeit und dessen vollkommenen und vielfältigen Gaben J. Böm als ein Vorläuffer offt zeuget […].18

Dass Böhme sich nicht ausführlich und im Zusammenhang zu den grundlegenden Glaubensartikeln, insbesondere zur Rechtfertigungslehre geäußert habe, liegt Breckling zufolge schlicht darin begründet, dass er sich diesbezüglich ganz auf dem Boden der durch Luther erneut ans Licht gebrachten Lehre der Heiligen Schrift stehen sah, so wie er sich hinsichtlich der Lehre von der Vita Christiana einig mit Johann Arndt gewusst habe. Daß Jacob Boem von den Glaubens=Artikeln und der Rechtfertigung wenig geschrieben/ kompt daher/ daß solches alles was zum Glauben und Glaubens Leben gehöret/ schon in der Heil. Schrifft zur Gnüge verfasset/ und durch Lutherum schon gründlich geoffenbaret/ bezeuget und reformiret war: Gleich wie auch was zur Reinigung deß Hertzen und Auffrichtung deß Christlichen Lebens dienen konte/ überflüssig durch Johann Arnd/ Stephanum Prätorium/ und andere beschrieben war. darumb er solches mit Fleiß vorbey gegangen […].19

Demgemäß steht Luther bei Breckling für die Reformation des Verständnisses der Heiligen Schrift und ihrer Lehren, stehen Johann Arndt und seine Anhänger, zu denen Breckling auch Stephan Prätorius20 rechnet, für die Reformation des christlichen Lebens; Böhme aber ist der Initiator der Reformation der Philosophie. Wahre Christen sind Breckling zufolge von den falschen anhand der empirisch fassbaren Faktizität zu unterscheiden, dass sie verfolgt und verketzert werden. Zwar ist der frühneuzeitliche Spiritualismus geprägt von einem konsequenten Dualismus von Fleisch und Geist, Äußerlichem und Innerlichem, Kontingentem und Transzendentem, Alt und Neu, dem zufolge der Heilige Geist sich an keinerlei äußerliche Medien zu binden fähig oder willens ist, sondern sich nur innerlich im Menschen zur Geltung bringt und daher auch in äußerlich verfassten Institutionen wie insbesondere der ecclesia visibilis nicht anzutreffen ist, sondern nur in der Geistkirche. Doch die Negation der äußerlichen Konkretwerdung und 18 19 20

Ebd., Bl. E 2r. Ebd., Bl. E 3r. Vgl. Eckhard Düker: Freudenchristentum. Der Erbauungsschriftsteller Stephan Praetorius. Göttingen 2003 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 38)

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Visibilität der wahren Geistbegabung stößt merkwürdigerweise im Spiritualismus, auch in demjenigen Breckling’scher Prägung, dort an ihre Grenze, wo mit der Behauptung aufgewartet wird, im Verfolgtsein durch die als Pharisäer und Schriftgelehrte geziehenen orthodoxen Theologen und ihrer kirchlichen Behörden würden das wahre Christentum und die Gegenwart des Heiligen Geistes nun doch äußerlich und sinnenfällig greifbar. In diesem Zusammenhang nimmt es nicht wunder, dass Breckling sogleich im Eingangsteil seines Anticalovius die Gelegenheit ergreift, auf seine oben erwähnte Verfolgung durch den Generalsuperintendenten Klotz zu sprechen zu kommen, die Breckling gewissermaßen als Ausweis seiner Glaubwürdigkeit, ja mehr noch: als Legitimation seiner theologischen Existenz versteht. Als Verfolgter sieht sich Breckling in einer Reihe mit den alttestamentlichen Propheten Jeremia und Amos, auch mit dem durch die papale Bürokratie verfolgten Luther stehen, während – welch ungeheure Verkehrung! – der in Wittenberg auf der cathedra Lutheri sitzende Calov sich als Papst der lutherischen Kirche aufspiele. Calov, so Breckling wachet […] alß ein blinder wächter und auffseher über alle wahnsinnigen Quäcker und Rasenden/ die sich bißher wie Jeremias und der Kühhirt Amos im Hause Gottes hervor gethan/ solche nicht allein im leben unverhört und ehe sie sich verantwortet/ nach seiner eigen geraubten macht und Gottheit/ ärger alß den [sic! recte: der] Pabst den Luther zu Verdammen/ und also in eigener Sache wie der D. Klotz in Holstein wieder mich/ Kläger/ Zeuge/ Notarius/ Richter und Verdammer zu seyn und bleiben/ sondern auch nach ihrem todte wider ihre Leiber und Seelen zu wüten/ und so es Jhm müglich wäre dieselbige mit zeitlichen und ewigen fewer zu Verbrennen: ärger alß die Phariseer die noch derer Propheten Gräber baweten/ welche ihre Väter erwürget hatten.21

Brecklings Bestreben ist es, mit seinem Anticalovius als Apologet für all diejenigen aufzutreten, die Calov in sein »ketzer=Register«22 eingetragen hat – u. a. für »den Sel. Joachimum Betkium, Lud. Frid. Gifftheiln/ Abr. von Franckenberg/ Laur. Seidenbecher/ M. Amerßbach«23 usw. und, nicht zu vergessen, für sich selbst. Es erübrigt sich fast der Hinweis darauf, dass Calovs Ketzerregister genau die Namen enthält, die sich auch in Brecklings Listen der testes veritatis finden. Derartige Listen hat Breckling, wie nicht zuletzt sein handschriftlicher Nachlass24 belegt, zahlreich geführt und bekanntermaßen Gottfried Arnold für seine Unpartheiische Kirchen- und Ketzerhistorie25 zur Verfügung gestellt. Nicht Böhme und seine Theosophie Calov gegenüber in Schutz zu nehmen, ist der vornehmste Zweck des Anticalovius, sondern dem mystischen Spiritualismus als ganzem eine apologetische Rechtfertigung angedeihen zu lassen, die in dem gegen Calov ge21 22 23 24 25

Breckling, Anticalovius (Anm. 14), Bl. A 1v/2r. Ebd., Bl. A 2r. Ebd. Einen Überblick über ihn verschafft Cornelia Hopf: Handschriftliche Brecklingiana in der Forschungsbibliothek Gotha. In: Pietismus und Neuzeit 33 (2007), 48–53. Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688. Frankfurt a. M. 1729 (11699–1700) (ND der dritten Ausg. 1729, Hildesheim u. a. 21999 [11967]).

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richteten, freilich retourkutschenartigen Vorwurf gipfelt, nicht die Dissenter und Separatisten betrieben Sektiererei, er – Calov – selbst sei vielmehr ein Separatist, insofern er sich wie alle lutherische Mauerkirchenchristen vom Heiligen Geist und der durch ihn gestifteten Gemeinschaft absondere. Alle eigene vermengung und Zusammenbindung der Menschen auch in den besten Kirchen ohne GOttes Geist ist GOtt eben so hoch zu wieder/ als die eigen absonderung/ wir kennen Niemand und so auch keine Lehrer noch Kirche nach dem Fleisch/ was nicht durch Christi Geist im Geist und in der Warheit mit Christo und unter einander im lebendigem Glauben und Liebe zusammen vereiniget und verbunden ist/ das ist keine Kirche Christi/ sondern ein eigen Secte und Rotte die sich von Christi Geist und Gemeinschafft abgesondert hat wie die Galaten und Papisten/ Wer Christi Geist nicht hat der ist nicht sein glied/ Lehrer/ Priester/ Kirchen/ Reich/ Tempel oder gesandter.26

Als eine wichtige Etappe der Böhme-Rezeption im 17. Jahrhundert kann der Anticalovius m. E. nur bedingt angesehen werden, da es Breckling kaum um die als spezifisch böhmesch anzusehenden Philosophumena und Theologumena zu tun ist als vielmehr darum, als Schutzschriftsteller für diejenigen aufzutreten, die sich der Theosophie des Görlitzer Autodidakten und Schuhmachers im weitesten Sinne verpflichtet fühlen. Bemerkenswert freilich ist, dass Breckling Böhme zwar einerseits unzweifelhaft als Mitglied der wahren Geistkirche ansieht, er aber zugleich den Rat gibt, es mit der Wertschätzung der Schriften Böhmes nicht zu weit zu treiben. So spricht Breckling zwar von Böhmes »Wunderbahren Schrifften«,27 warnt aber im selben Atemzug davor, ihnen dieselbe Wertschätzung zu zollen wie der Heiligen Schrift. Somit richtet sich Breckling gegen die Anhänger eines übertriebenen Böhmismus, ohne diese beim Namen zu nennen: So sind einige die des S. Jacob Böhmen Schrifften alzuhoch ja bey nahe über die Heilige Schrifft erheben/ und alß in allen unsträfflich Canonisiren wollen/ gleich wie der Antonetten Discipulen ihre Schrifften/ die Labadisten seine und ihre Bücher […].28

Breckling weist den von Calov gegen ihn erhobenen Vorwurf, ein Böhmist zu sein, im Übrigen weit von sich und beansprucht für sich zum einen, der böhmistischen wie der lutherischen Heterodoxie gleichermaßen entgegengetreten zu sein, aber auch, als Apologet für die verfolgten Böhme-Anhänger zu fungieren. Darumb mir niemand verdencken oder für arg auffnehmen kan/ Daß weil D. Calov mich ja mit unter Böhmens Secte und anhang rechnen wil/ Welcher ich doch nicht zugethan bin/ sondern offentlich wieder solche Böhmisten eben so wohl alß wieder die falsche Lutheraner und alle andere Secten und Abgötter auß Menschen geschrieben/ daß ich dennoch für GOttes Gaben und Warheit in Jacob Böhm und für seine unschuld wieder seine Lästerer und verfolger streite/ wie jederman für seine Secte […].29

26 27 28 29

Breckling, Anticalovius (Anm. 14), Bl. A 8r/v. Ebd., Bl. A 3v. Ebd., Bl. A 3r. Ebd., Bl. A 3v.

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Was den rechten Umgang mit den Werken des »GOttesfürchtigen Schumacher[s]«30 anlangt, so empfiehlt es sich Breckling zufolge, die Maxime des paulinischen Eklektizismus zur Anwendung zu bringen, nämlich alles zu prüfen und das Gute bzw. das Beste zu behalten (1Thess 5,21). Nur denen, die in diesem Sinne bestrebt sind, eine kritische Rezeption Böhmes zu betreiben, gilt auch die Verteidigung durch Breckling. Weil Jch nun solche bestraffet die des Sel. J. Böhmens Nahmen und Schrifften zur newen Abgötterey und Secte mißbrauchen: solte ich den nicht den Sel. J. Böhm mit dessen Liebhabern/ welche alles in ihm prüfen/ und die Warheit und das gute annehmen/ wieder ihre Verfolger heissen verthätigen/ und von den Seelen Mördern retten/ die ihn auch nach dem Tode tödten wollen […]?31

Ein nicht leicht lösbares Rätsel allerdings besteht darin, dass Breckling völlig offenlässt, nach welchen methodischen Grundsätzen entschieden werden kann und soll, was das Beste in Böhmes Theosophie denn sei, das zu behalten ist, und aufgrund welcher inhaltlicher Kriterien dieses zu bestimmen sei. Interessanterweise macht Breckling an einer Stelle darauf aufmerksam, dass ausgerechnet editorisch-philologische Unzulänglichkeiten in Böhme-Drucken (gemeint sind hier wohl diejenigen der Amsterdamer Edition der Werke Böhmes) der Verketzerung dieses geistbegabten Autors Vorschub geleistet haben. Erasmus Francisci, der 1685 mit seiner umfänglichen Schrift Gegen=Stral Der Morgenröte32 an die Öffentlichkeit getreten war, beziehe sich, so berichtet Breckling, auf eine Passage im Mysterium magnum, um Böhme eine verfehlte Trinitätslehre zu bescheinigen – aber ganz zu Unrecht, denn es handele sich um einen verderbten Text, wie der Vergleich mit einer älteren Edition ausweise, die Breckling freilich nicht präzise benennt. Daß Herr Francisci dem Jacob Böhmen beymisset und anziehet auß dem 7. Cap. 5. Mysterii Magni/ als wenn Jacob Böhm alldar geschrieben/ Daß GOTT Dreyfaltig im Wesen sey Solches ist eine Drückfaute/ Denn in meiner alten Edition stehet/ wir Christen sagen GOTT sey Dreyfaltig/ aber einig im wesen.33

Man wird annehmen dürfen, dass Breckling diverse Böhme-Drucke besessen hat. Unter den Büchern, die Breckling in den Jahren 1703 und 1709 den Francke’schen Anstalten in Halle übermacht hat,34 befindet sich indes kein einziges Werk Böh-

30 31 32

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Ebd., Bl. A 3r. Ebd., Bl. A 5r/v. Erasmus Francisci: Gegen=Stral Der Morgenröte/ Christlicher und Schrifftmässiger Warheit/ Wider das Stern=gleissende Jrrlicht Der Absondrung von der Kirchen und den Sacramenten; Jn gründlicher Erörterung der fürnehmsten Haupt=Fragen und Schein=Sätze heutiger Böhmisten/ wie auch beygefügter Untersuchung/ was von deß Jacob Böhms Schrifften zu halten sey/ hervorleuchtend: Manchen Verirrten/ zur Wiederkehr auf den rechten Weg/ wolmeynendlich angewiesen. Nürnberg 1685 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Yv 667.8° Helmst.). Breckling, Anticalovius (Anm. 14), Bl. B 2r. Vgl. Breckling, Autobiographie (Anm. 6), 96 f. mit Anm. 1042.

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mes.35 Offensichtlich hat Breckling nicht seinen gesamten Buchbesitz nach Halle gegeben, was auch daraus hervorgeht, dass unter den heute in der Bibliothek der Francke’schen Stiftungen aufbewahrten Beständen aus Brecklings Besitz die Schriften seiner engsten Freunde und Weggefährten weitestgehend fehlen.36 Diesem Umstand ist es auch geschuldet, dass es leider nicht möglich ist, anhand von Anstreichungen, Marginalien etc. die Art und Weise von Brecklings BöhmeStudium zu rekonstruieren. Breckling zufolge ist Böhme als eine so integre wie gelehrte Christperson anzusehen, die zeit ihres Lebens der lutherischen Kirche zugetan war. Wer Böhme kritisieren wolle, müsse zunächst unter Beweis stellen, »das er selber besser und frommer für Gott ist als Jacob Böhm gewesen.«37 Doch nicht nur die Profilierung Böhmes als eines »gütige[n], trewe[n], einfältige[n], freundliche[n], sanfftmühtige[n], Christliche[n], auffrichtige[n], Tugendsahme[n], Liebreiche[n] und gehorsahme[n] GOTTES Mensch[en]«38 ist Ausdruck der hohen Wertschätzung, die Breckling dem Görlitzer zollt. Vielmehr ist es Breckling auch darum zu tun, unmissverständlich klarzumachen, dass Böhme – ganz im Sinne des cusanischen Ideals der docta ignorantia – ein von Gott auserwähltes Werkzeug war, um diejenigen zu beschämen, die sich für weise halten, ohne es wahrhaft zu sein. Und weil unsere heutige falschgelehrten in allen Secten und Facultäten ihnen so viel einbilden/ so hat GOTT einen einfältigen Schuster erwehlet/ und dem solche hohe und tieffe Weißheit und verborgenheiten gegeben zu schreiben/ Dafür alle hochgelehrten müssen verstummen und bekennen sie verstehens nicht/ es ist ihnen zu hoch/ und daran alle selbst weise Doctores anlauffen/ fallen und zu Schanden werden müssen/ so sich dawieder aufflehnen oder solches verlästern wollen.39

Die lutherisch-orthodoxe Kritik an Böhme brandmarkt Breckling mithin als Ausweis eines solchen Unverstandes, der über die Kapazität, der von Gott selbst eingegebenen Theosophie auf die Spur zu kommen, nicht verfügt, vielmehr in der Weltweisheit gefangen ist. Hier befleißigt sich Breckling einer charakteristischen, eben spiritualistischen Entzifferung von 1Kor 1,18 ff., der zufolge Gott sich derjenigen bedient, die von der Welt für Narren gehalten werden, um diejenigen, die sich irrtümlicherweise weise dünken, ihrer Torheit zu überführen. […] daher wir Gott billig mit Christo dancken das er solches den weisen und klugen verborgen/ und den unmündigen und verrachteten [sic!] geoffenbahret hat/ weil GOTT nicht die weisen erwehlet umb die Narren zu schanden zu machen/ sondern die thörichten/ wenn er 35

36

37 38 39

Vgl. Britta Klosterberg: Libri Brecklingici. Bücher aus dem Besitz Friedrich Brecklings in der Bibliothek des Halleschen Waisenhauses. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hrsg. v. Udo Sträter u. a. Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen 17), 871–881, hier: 878. Vgl. ebd.: »Nach Drucken Taulers […], Jakob Böhmes […] oder Paracelsus’ sucht man ebenso vergeblich wie nach den Schriften Christian Hoburgs […], Ludwig Friedrich Gifftheils oder Joachim Betkes […], letzteres Personen, die Breckling persönlich kannte und die sein Denken maßgeblich beeinflusst haben.« Breckling, Anticalovius (Anm. 14), Bl. C 7v. Ebd., Bl. C 7v. Ebd., Bl. C 8r.

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Johann Anselm Steiger

die Selbst=weisen wil fangen/ verstricken und zu schanden machen/ wie man die Fische mit Erd=würmen an den Angeln fänget.40

So gesehen ist Böhme nicht nur ein Instrument Gottes im Hinblick auf das von Paulus in 1Kor 1 beschriebene Programm, durch das Wort vom Kreuz die Weisheit als Torheit zu decouvrieren und die göttliche Torheit als sapientia vera zu etablieren. Vielmehr steht Böhme Brecklings Sicht der Dinge zufolge auch in einer Traditionslinie, die weit zurückreicht, nämlich bis hin zu den Aposteln, die der Sohn Gottes weg von ihren Fischernetzen rief und mit der Ausrichtung der Botschaft des Evangeliums beauftragte. »Und so thut Gott noch grosse dinge durch die kleinen/ Narren/ Fischer/ Schuster und einfältigen Kinder.«41

40 41

Ebd., Bl. C 8v. Ebd.

Martin Mulsow

Abraham Hinckelmann und die Genealogie von Böhmes »Grund=Irrtum«

1. Der Hamburger Revers Wenn man eine »Geschichte des Irrtums« schreiben würde, dann wäre eine Etappe in dieser Geschichte die Reduktion von Ketzerei auf Grundirrtümer, die Philipp Jakob Spener vorgenommen hat.1 An die Stelle von Ansteckungsangst vor Häresie tritt bei ihm ein Vertrauen auf die Integration verirrter Positionen bei gleichzeitiger Immunität vor Irrtümern.2 Es sei nötig, frei und ohne Hass auf der gesicherten Grundlage ausgiebiger Lektüre über deviante Positionen zu urteilen. Diese Revision fand in den 1680er Jahren statt, fast gleichzeitig mit der Gichtelschen Edition von Böhmes gesammelten Werken.3 Aus diesem Grund gab es in Deutschland eine enge Verquickung der Causa Böhme mit dem, was Martin Gierl eine »Kommunikationsreform« theologischen Streitens genannt hat, und zugleich mit der Emergenz von so etwas wie gebildeter Öffentlichkeit.4 Die traditionelle Wahrnehmung von Böhme und den »Schwärmern« – alle über einen Kamm geschoren – war so, wie es ein zeitgenössisches Gedicht ausdrückt: Was Weigel hat gelehrt/ was tolle Pansophisten In ihrer Heuchelei vor Nattern-Brut gehegt/ Was Böhmens Schwindel-Geist/ was Quäcker/ Labadisten Was Chiliasten-Schwarm ans Tages-Liecht gelegt/ Das ist durch Träumerey im thörichten Gehirne Der neuen Heiligen itzt wieder auffgeflammt/ Der Quietisten/ Pietisten Geist/ der Schleicher Irrgestirne.5 1

2 3 4 5

Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, 293. – Ich baue im Folgenden auf meine Untersuchung auf: Den ›Heydnischen Saurteig‹ mit den ›Israelitischen Süßteig‹ vermengt: Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann und Johann Peter Späth. In: Scientia Poetica 11 (2007), 1–50, von der ich einzelne Passagen übernehme. Ebd., 278. Jakob Böhme: Alle theosophische Wercken. Amsterdam 1682. Gierl (Anm. 1), 290 ff. Eine Poetische Dancksagung an Alle Unbenannte hohe Häupter/ Welche ihre nachdrücklichen Edicta, wider alle alte und neue Schwärmer/ sonderlich aber die Pietisten, dergleichen keine ärgere und gefährlichere Irrgeister nach Arii Zeiten in der Kirchen Gottes jemahls auffkommen/ in= und ausser ihren Landen publiciren lassen/ Auffgesetzt/ Von einem Liebhaber der Wahrheit. In: Herrn von Emmerichs übergebene unterthänigste Klage/ Wider die

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So sah man es auch in Hamburg, bis auf einige wenige Hauptpastoren, die die Spenersche Wende zur Abkehr von der bedingungslosen Verketzerung mitgemacht hatten. Ihnen wollte die Majorität im März 1690 einen »Revers« aufzwingen. Es war ein interner Radikalenerlass, denn man wollte unter den Pastoren nur orthodoxe, nicht aber solche, die dem Pietismus nahestanden.6 Drei Pastoren, Johann Heinrich Horb, Johann Winckler und Abraham Hinckelmann verweigerten die Unterschrift; sie sahen nicht ein, dass sie sich von bestimmten Inhalten distanzieren sollten, die etwa den Chiliasmus oder Jakob Böhme betrafen, ohne dies vorher genau untersucht zu haben. Horb sagte, er habe Böhme nie gelesen, wie solle er ihn dann verurteilen? Der Name Böhme spielte innerhalb der Hamburger Debatten die Rolle eines Lackmustests.7 In Böhme sahen die Orthodoxen alles kondensiert, was sie fürchteten und bekämpften: gnostische, kabbalistische, hermetische Ideen, die sich unter den »Enthusiasten« und »Fanatikern« verbreiteten, prophetische und chiliastische Wahnvorstellungen, eine Unterminierung rationaler Theologie und disziplinierter Gesellschaft. Nun war es aber keineswegs so, dass Horb, Winckler und Hinkelmann Böhme-Anhänger waren. Nein, ihnen, den Spener-Freunden, ging es von Anfang an um die Freiheit der Lehre und Predigt, nicht um »enthustiastische« Weltanschauungen. Sie wollten nur nicht von vornherein als häretisch verurteilen, was erst zu prüfen war. So hat Spener denn auch vorgeschlagen, im Fall Böhme die Rechtgläubigkeit mit einem Streitschriftendisput »für und wider« zu klären;8 und Hinckelmann hat den Vorschlag aufgegriffen und entsprechend Viertzig Wichtige Fragen vorgelegt, die Kriterien für eine Entscheidung an die Hand geben würden.9 Warum sich gerade Hinckelmann dazu berufen fühlte – oder von Freunden dazu gedrängt wurde – werden wir noch sehen. Hinckelmann war einer der begabtesten Orientalisten im Deutschland seiner Zeit. 1652 geboren, hatte er in Wittenberg unter Calov studiert, war dann Pastor von St. Nicolai in Hamburg geworden, 1687 auf Speners Rat aber ins pietistisch beeinflußte Gießen gegangen. 1688 hat man ihn nach Hamburg zurückberufen, diesmal als Pastor der Katharinenkirche.10 In Hamburg war seit 1684 bereits der Spener-Freund Johann Winckler Pastor von St. Michaelis, und seit 1685 Speners Schwager Johann Heinrich Horb Pastor von St. Nicolai. Damit hatte sich eine kleine Gruppe hochgebildeter,

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Quacker=Pietistische Schwärmer und Frey=Geister […]. Im Jahr Christi 1703, 27–30, hier: 28. Zur Situation in Hamburg vgl. Hermann Rückleben: Die Niederwerfung der Hamburgischen Ratsgewalt. Kirchliche Bewegungen und bürgerliche Unruhen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Hamburg 1970. Vgl. zum Folgenden auch den Beitrag von Sibylle Rusterholz in diesem Band. Ich danke Frau Rusterholz dafür, dass sie mir ihren Text zur Verfügung gestellt hat. Philipp Jakob Spener: Die Freyheit der Gläubigen. Frankfurt a. M. 1691, 105 f. Vgl. Helmut Obst: Jakob Böhme im Urteil Philipp Jakob Speners. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 23 (1971), 22–39. Abraham Hinckelmann: Viertzig Wichtige Fragen/ Betreffende die Lehre/ so in Jakob Böhmens Schrifften enthalten/ Allen deroselben Liebhabern zu Christlicher Beantwortung fürgeleget. O. O. 1692. Zur Biographie vgl. DBA 540, 28–68.

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orientalistisch interessierter, büchersammelnder Theologen gebildet, die meinten, der orthodoxen »Ketzermacherei« die Stirn bieten zu können. Sie bezogen eine schwierige Stellung zwischen den Böhmianern und Separatisten einerseits und der lutherischen Orthodoxie andererseits, die sie nun ihrerseits als »Pietisten« verunglimpfte und – ungerechtfertigterweise – möglichst nah an die »Schwärmer« heranrückte.

2. Die Vierzig Fragen Die Vierzig Fragen wurden, wie das Vorwort zeigt, am 3. Dezember 1692 beendet. Es ist wichtig zu sehen, dass sie nur der Eröffnungsschachzug in einem größeren Spiel gewesen sind, keineswegs aber so etwas wie eine fertige Schrift. Hastig verfasst, unter dem Druck der zunehmenden Kontroverse auf den Kanzeln und in den Buchläden, bieten sie eher so etwas wie den Rahmen für eine künftige Diskussion. Anhand von theologischen Grundfragen an das Böhme’sche Werk und sicherlich noch auf der Basis einer lückenhaften Lektüre der Gichtelschen Ausgabe stecken sie einige Pflöcke ein, an denen weitere Debatten nicht mehr vorbeigehen konnten. Vorausgeschickt wird von Hinckelmann dabei ein an Spener gemahnender Grundsatz: »Diese gegenwärtige Fragen haben keinen anderen Zweck als eine unpassionirte Untersuchung der Warheit.«11 Daher würden sie zu »sanfftmütiger« Beantwortung vorgelegt. Aufgefordert waren nun also die Böhme-Anhänger, sich auf die sachliche Auseinandersetzung einzulassen. Bisher, klagt Hinckelmann, wäre auch von dieser Seite nur Polemik gekommen. Man habe die Gegner Böhmes entweder »als passionirte blinde Leute/ die solche hohe Geheimnisse zu fassen viel zu ungeschickt wären« verachtet, oder man habe ihnen vorgeworfen, »es sey Jacob Böhme noch nie recht untersuchet/ sondern nur auff weniger Männer Auctorität schlechthin verdammet worden.« Diesen Vorwurf wollte Hinckelmann nun gegenstandslos machen. Schon der Titel der Schrift war eine Anspielung für Böhme-Kenner, denn Balthasar Walther, der Böhme-Freund und -Anhänger, hatte selbst eine Schrift mit dem Titel Vierzig Fragen verfasst, in der Böhmes Antworten enthalten waren. Sie war postum 1648 erschienen.12 Dass dieser Bezug auf Balthasar Walther für Hinckelmann nicht unwichtig war, wird sich noch zeigen. Auf 15 Quartseiten jedenfalls formuliert Hinckelmann seine Fragen, denen er als »Antworten« zumeist Zitate aus den 11 12

Hinckelmann, Viertzig Wichtige Fragen (Anm. 9), fol. A2r. [Balthasar Walther:] Vierzig Fragen von der Seelen Urstand/ Essentz/ Wesen/ Natur und Eigenschafft/ was sie in Ewigkeit sey?/ Verfasset von einem Liebhaber der grossen Geheimnüssen und beantwortet durch Jacob Böhm. Amsterdam 1648. Zu Balthasar Walther vgl. Leigh Penman: A Second Christian Rosencreutz? Jakob Böhme’s Disciple Balthasar Walther (1558–c.1630) and the Kabbalah. With a Bibliography of Walther’s Printed Works. In: Western Esotericism. Hrsg. v. Tore Ahlbäck. Turku 2008, 154–172; ders.: »Ein Liebhaber des Mysterii, und ein großer Verwandter deßselben.« Toward the Life of Balthasar Walther: Kabbalist, Alchemist and Wandering Paracelsian Physician. In: Sudhoffs Archiv 94 (2010), 73–99. Vgl. auch den Beitrag von Penman in diesem Band.

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Böhme’schen Werken, allen voran dem Mysterium Magnum entgegenstellt. So lautet die erste Frage: »Ob Jacob Böhme warhafftig/ und in dem Sinn darin die Christliche Kirche allezeit nach Gottes Wort gestanden/ lehre/ dass in der Gottheit drey selbst=ständige Personen von Ewigkeit seyn/ Vater Sohn und heiliger Geist?«13 Es geht also um die Trinität – den Kern der christlichen Lehre. Hinckelmann beantwortet die Frage mit einer Passage aus dem Mysterium Magnum14: »Wir Christen sagen: Gott sey dreyfaltig/ aber NB. Im Wesen: Daß aber in gemein gesagt wird/ Gott sey dreyfaltig in Personen/ das wird von den Unverständigen übel verstanden/ auch wohl von theils Gelehrten: Denn NB. Gott ist keine Person/ als nur in Christo/ sondern Er ist die ewig=gebährende Krafft/ und das Reich samt allen Wesen: Alles nimmt seinen Uhrstand von Ihm.« Hinzu kommt noch ein weiteres »entlarvendes« Zitat. So geht es weiter, zunächst ebenfalls zum locus De Deo: Sieht Böhme die erste Person der Gottheit, abgesehen vom Sohn, als Gott an? Nein, wie weitere Zitate belegen.15 Ist das göttliche Wesen für Böhme etwas jeweils anderes im Vater, im Sohn und im Heiligen Geist? Nein. Liegt nach Böhme der Ursprung des Bösen wie des Guten im göttlichen Wesen? Ja, wie wiederum das Mysterium Magnum mit seinem Kapitel über die Zwey principien belegt. Ist Böhmes Lehre von den Quell-Geistern in der Heiligen Schrift gegründet? Hier begegnet dem Leser zum ersten Mal der seltsame Umstand, dass Hinckelmann keine Antwort gibt. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um eine rhetorische Taktik handelt. Eher ist zu vermuten, dass zum Zeitpunkt, als der Verleger Hinckelmann das Manuskript unter der Feder hinwegzog, dieser noch nicht Belegstellen für alle Fragen beisammen hatte – zumal solche Fragen, die wie diese nicht direkt mit Zitaten zu beantworten waren, sondern umgekehrt Ausführungen über die Bibel oder eben andere Quellen erfordert hätten. Die sechste Frage lautet: Sind nach Böhme alle Dinge aus dem göttlichen Wesen heraus geschaffen? Diese Frage wird später, wie wir sehen werden, noch eine große Rolle spielen. An dieser Stelle wird sie nur mit einem ganz kurzen Beleg affirmativ beantwortet. Die siebte Frage: Hat Böhme diese Theorie aus der heidnischen Philosophie gelernt? Eine Antwort wird wiederum nicht gegeben. Hinckelmann scheint sie offenzulassen oder auf eine spätere Bearbeitung zu verschieben. Es geht nun fünf Fragen lang mit christologischen Themen weiter (8–12), dann folgen Themen der Satisfaktionslehre und des Verdienstes Christi durch sein Opfer für die menschliche Sündenschuld (13–19); weiter geht es mit Fragen der Gnadenwahl: Ist der glaubende Mensch mit Christus vereinigt? (20) Ist Christus nur die Gnadenwahl selbst? (21) Ist das göttliche Licht in allen Menschen – nämlich das, was Böhme als ›Sophia‹ bezeichnet? (22) Die Antwort ist hier nur pauschal: »Videantur Böhmiana scripta passim«. Wird dieses Licht eine Person mit Christus? (23) Und weiter zur Frage der Seligkeit: Können auch Hei13 14

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Hinckelmann, Viertzig Wichtige Fragen (Anm. 9), fol. A3v. Böhme, Alle theosophische Wercken (Anm. 3), Tl. 13: Mysterium magnum, Oder Erklärung über das Erste Buch Mosis […] Darinnen Das Reich der Natur, und Das Reich der Gnaden erkläret wird. Amsterdam 1682, 34 § 5. Böhme, Mysterium Magnum (Anm. 14), Kap 7, 35 f. § 14.

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den die Seligkeit erreichen? (24) Diese Frage, die die Orthodoxie verneinte, hatte Böhme, wie Hinckelmann zeigt, bejaht. Es folgen Fragen zu den Sakramenten, vor allem zur Taufe bzw. zur doppelten Taufe (25–30), zum Abendmahl (31–34, auch 37), sowie zu einzelnen zusätzlichen Punkten: Besteht die Sündenvergebung bloß in der Änderung des Herzens? (35) Wird bei Böhme die Absolution des Priesters zum bloß äußerlichen Zeichen gemacht? (36) Hat der Sensus Mysticus in Mose, so wie ihn Jacob Böhme im Mysterium Magnum beschreibt, seinen Grund? (38) Ganz am Ende stellt Hinckelmann noch zwei Fragen zur Herkunft und zur Rezeption – ohne dies noch zu beantworten: »Ob Jacob Böhmens Lehre nicht in Grunde mit Schwenckfelds/ Paracelsi und Weigelii Lehre einerley sey?« (39), und »Ob Jacob Böhmens Schrifften der Kirchen mehr nützlich oder schädlich seyn?« Kein Zweifel: Hinckelmanns Vierzig Fragen sind gleichsam ein Work in Progress. Sie markieren einen Zwischenstand: schnell publiziert – offenbar wegen der Aktualitätsnöte –, doch noch auf einer schmalen Quellenbasis und ohne bereits auf alle Fragen eine Antwort geben zu können. Immerhin erfüllen sie ihren Zweck als Angebot an die Öffentlichkeit, sich anhand dieses Kriterienkataloges Gedanken über die Orthodoxie von Böhmes Christentum zu machen.16

3. Reaktionen Eine ganze Reihe von Schriften haben diese Fragen zu beantworten gesucht.17 Vor allem war es ein Autor, der sich hinter den Initialen »J. J. M.« verbarg, der es unternahm, Böhmes Lehre als orthodox im Sinne der Lutherischen Kirche zu verteidigen. »J. J. M.« ist als Johann Jakob Zimmermann aufzulösen, ein Württembergischer, in Hamburg lebender Spiritualist.18 Zimmermann benutzte zuweilen das Pseudonym Johann Matthäi, und auf dieses Pseudonym spielen die Initialen wohl an. Seine Schrift trägt den Titel: Verlangete Christliche Beantwortung Deren Viertzig Wichtigen Fragen, betreffende Jacob Böhmens Lehre, so in seinen Schrifften soll enthalten sein, Welche von (S. T.) H. Abraham Hinckelman D. […] sanfftmüthig zu beantworten in öffentlichen Druck fürgeleget worden/ Gantz unpassionirt und unpartheyisch […] entworffen […] Von J. J. M. E. D., 16

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Diese Kommunikation mit der Öffentlichkeit war im späten 17. Jahrhundert immer stärker geworden. Vincent Placcius etwa hatte Kollegen dazu aufgerufen, mit ihm zusammen anonyme und pseudonyme Schriften ihren wahren Verfassern zuzuordnen, Wilhelm Ernst Tentzel verstand seine »Monatlichen Unterredungen« als ein Organ, das Informationen aus der Gelehrtenrepublik anforderte und sie dann weitergab. Nimmt man dies als ein Symptom, dann könnte es Indiz für eine Kommunikationsreform der Gelehrtenrepublik sein, die noch weitergehend war als von Gierl (Anm. 1) anvisiert. Vgl. Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1700, 1155; vgl. auch den Beitrag von Sibylle Rusterholz in diesem Band. Zu Zimmermann (1644–1693) vgl. ADB 45, 270 f. Zimmermann hatte schon 1691 Böhmes Orthodoxie verteidigt: Orthodoxia theosophiae Teutonicae-Bohemianae contra Holtzhausium defensa, das ist: Geistliche Untersuchungen der holtzhäusischen Anmerkungen über und wider Jacob Böhmens Auroram. Frankfurt a. M./Leipzig 1691.

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»Amsterdam« 1693. Darin beantwortet er nicht nur die Fragen im Sinne von Böhmes Orthodoxie, sondern stellt auch vierzig unbequeme Gegenfragen an den lutherischen Klerus. Hinckelmanns Termini »sanfftmütig«, »unpassionirt«, »unpartheyisch« werden – ob nun ironisch oder nicht – von Zimmermann aufgenommen, wie sie ja auch wenig später durch Gottfried Arnold zu größerer Prominenz kommen sollten. Bevor Hinckelmann auf das »Responsum propempticum«, wie er es nennt, antworten konnte, warf sich sein Freund Johann Winckler in die Bresche, mit einem Send-Schreiben An Dero HochEhrwürden Herrn Abraham Hinckelmann […] Betreffend Einige Anmerckungen über die Viertzig Sätze, Welche ein ohnbenamter Liebhaber des Böhmens zum Grunde der Antwort auff die gedruckte fürgetragene 40 Fragen von Jacob Böhmens Lehr gelegt, erschienen wohl im Februar oder März 1693.19 Doch das konnte nicht das letzte Wort gewesen sein. Es war klar, dass Hinckelmann mit einer richtigen Untersuchung nachziehen musste, sobald er Zeit gefunden hatte, seine Böhme-Studien zu vertiefen und seine eigenen Fragen abzuarbeiten. Das dauerte etwa fünf Monate, von Anfang März 1692 bis Ende April 1693. Dann war es soweit: Hinckelmann konnte nun ein umfassendes Buch vorlegen, von zwar nur 124 Seiten, aber dichtgedrängt mit Textkenntnis und Gelehrsamkeit. Er nannte das Buch Detectio fundamenti Böhmiani, Untersuchung und Widerlegung der Grund=Lehre die in Jacob Böhmens Schriften verhanden. Auch jetzt hatte er noch unter höchstem Zeitdruck geschrieben, denn sein Verleger Georg König hatte ihn gedrängt, noch vor der Leipziger Messe fertigzuwerden, sodass das Buch dort verkauft werden konnte. Hinckelmann musste auf einige letzte Kapitel über den schädlichen Einfluss der »Grundlehre« in der Kirche verzichten, aber er verschob dies auf die Einleitung der von ihm geplanten Ausgabe der Schrift von Photios gegen die Manichäer.20 Hinckelmann geht in seiner an den »Hertzlich-geliebtesten Bruder« Winckler gerichteten Vorrede der Detectio auf Wincklers Sendschreiben an ihn ein, und er benutzt Zimmermanns Antwort auf die Vierzig Fragen, um anhand von dessen Böhme-Verteidigung in dialogischer Weise die Belege gegen den Schlesischen Mystiker noch zu präzisieren.21 Doch die Detectio war viel mehr als eine gründliche Widerlegung von Böhmes Theosophie geworden; sie war zugleich ein gelehrtes Schatzkästchen voller Digressionen zur Kabbala, zu den Ssabiern, zu

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Hamburg 1693. Vgl. zu Winckler Claudia Tietz: Johann Winckler (1642–1705) – Anfänge eines lutherischen Pietisten. Göttingen 2008 (nur die Darmstädter Zeit); Johannes Geffcken: Johann Winckler und die Hamburgische Kirche in seiner Zeit (1684–1705). Hamburg 1861. J. N. J. C. Detectio fundamenti Böhmiani, Untersuchung und Widerlegung Der/ Grund-Lehre/ Die/ In Jacob Böhmens Schrifften verhanden. Worinnen unter andern der Recht-gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabalae, wie auch der Ursprung alles Fanaticismi und Abgötterey der Welt entdecket wird. Hamburg 1693, 123. Detectio (Anm. 20), 6 »Wir wollen aber in dieser Untersuchung die vornehmsten Lehren aus den neulichst fürgelegten 40. wichtigen Fragen nehmen/ und erweisen/ daß die Irrthümer Jacob Böhmens/ deren in selbigen gedacht worden/ hierauff beruhen.«

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heidnischen und ägyptischen Religionslehren, und es enthielt eine Reihe weitreichender Thesen zur Religionsgeschichte.22 Der Entlarvungsgestus, die »detectio«, war hingegen nichts Besonderes, sondern ganz im Stil der Zeit. Im gleichen Jahr 1693 hat zum Beispiel auch ein Mediziner23 mit den Initialen »E. I. H« in Mülheim eine Schrift Der entlarvte Jacob Böhm veröffentlicht. Darin möchte er die »vom Authore selbst verdeckten Wege an[…] zeigen/ wodurch er seine scientiam erlanget […].«24 Der Mediziner hatte nämlich bemerkt, »dass dessen seine sonderliche Meinungen aus des Theophrasti Schrifften genommen sind«.25 Da die Theologen aber nicht bewandert in den ParacelsusSchriften seien, hätten sie diesen Umstand bei ihren Widerlegungen nicht recht sehen können, so der Autor. In der Tat waren es neben den Theologen offenbar vor allem auch Mediziner, die sich an das Examinieren des Böhme’schen Werkkorpus machten. Einer dieser Mediziner schrieb Hinckelmann auf die Vierzig Fragen hin, dass es Parallelstellen bei Robert Fludd gebe, und auch Hinckelmann verfolgt diese Spur einer möglichen Quelle von Böhmes Theosophie weiter.26

4. Die Detectio Doch die Detectio kommt viel systematischer daher, als nur eine Spurensuche und Abgleichung theologischer loci zu sein. Hinckelmann schreibt jetzt auf der Grundlage einer breiten Textkenntnis – er zitiert aus dem Mysterium Magnum, der Gnaden-Wahl, den Sex puncta, den Theosophischen Sendbriefen und anderen Schriften – und er glaubt, den archimedischen Punkt gefunden zu haben, aus dem sich alle Lehren Böhmes entwickeln lassen. Diesen Punkt bezeichnet er als »Grund=Irrtum«. Nicht von ungefähr zitiert er mit Abraham Heidanus einen cartesisch beeinflussten Theologen, der 1678 selbst ein Werk De origine erroris geschrieben und dort – in Laktanzscher Terminologie – die These von der Willensfreiheit des Menschen als einen Grundirrtum gebrandmarkt hatte, aus dem der Sozinianismus entsprungen war.27 Hinckelmann verweist nicht auf De origine erroris, aber auf die dort oft mitgedrucke Diatribe de Socinianismo, in der betont wird, dass man von einer Grundidee ausgehend, die wie Strahlen in das System diffundiere, ein ganzes Werk begreifen könne.28 22 23

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Vgl. Mulsow, Den ›Heydnischen Saurteig‹ mit den ›Israelitischen Süßteig‹ vermengt (Anm. 1). Der entlarvte Jacob Böhm/ Oder Gründliche Anzeigung/ wie dessen so genandte Theosophische Schrifften anzusehen/ und woher ihm solche Wissenschaften erwachsen sind […]. O. O. 1693: mit der Chiffre: M. D. (Medicinae Doctor) ZVVISCH I I V D SYLV V VV. Der entlarvte Jacob Böhm (Anm. 23), fol. A2v. Ebd., fol. A2r. Detectio (Anm. 20), 68; zum Fludd-Einfluß schon 62–68. Abraham Heidanus: De origine erroris. Amsterdam 1678. Es geht um die Ausgabe: De origine erroris libri octo. Additi sunt tractatus duo: prior, diatriba de socinianismo; alter, iudicium de universa […]. Amsterdam 1671; vgl. Detectio (Anm. 20), 5.

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Genauso möchte es Heidanus mit dem »Systema Bohemiana« machen, wie er es nennt; er bringt also eine quasi-cartesische Systematizität in die Diskussion. Wenn es in Jöchers Gelehrtenlexikon heißt, Hinckelmann habe nach seinem Tod »im Manuscript [ein] Systema der Theologie Jac. Böhmens« hinterlassen,29 deutet das darauf hin, dass er entweder neben der Detectio eine Kladde über Böhmes »System« führte, aus der er sich für das Buch bediente, oder dass er nach der Detectio (er lebte nach der Publikation des Buches nur noch knappe zwei Jahre) weiter an der systematischen Rekonstruktion Böhmes arbeitete. Jedenfalls bestimmt Hinckelmann in systematischer Weise als »Grund=Irrtum« die »Grund=Lehre so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten«: »GOTT hat alle Dinge/ sichtbare und unsichtbare aus seinem Göttlichen Wesen geschaffen/ dergestalt/ dass Er sie nicht ohne einiger albereit verhandener Materie/ sondern aus sich selbst und seinen eigenen Wesen als einer universal-Materie hervor gebracht.«30 Das war der in Frage 6 bei den Vierzig Fragen angesprochene, in der Tat neuralgische Punkt: Gott schafft nicht aus dem Nichts, sondern aus einer Materie, die zugleich sein eigenes Wesen ist. Systematisch gehört dieser Punkt zum großen Komplex der Trinitätslehre, und so nimmt es nicht wunder, dass die ersten Seiten des Hinckelmann’schen Traktates in den gewohnten anti-sozinianischen Bahnen laufen, in denen damals so vieles an Polemik abgehandelt wurde. Die Seiten gehören bereits zu dem, was Hinckelmann die »Untersuchung« von Böhmes Grundirrtum nennt. Auf knapp 70 Seiten werden in lockerer Weise die Anklagepunkte der Vierzig Fragen durchgegangen, zunächst, um Böhmes Theorien zu verstehen und auch ihren geistesgeschichtlichen Kontext zu eruieren. Dabei scheut sich Hinckelmann nicht vor langen Exkursen. Der längste erfolgt im Zusammenhang mit der in den Vierzig Fragen unbeantwortet gebliebenen Frage 5: Ist Böhmes Lehre von den QuellGeistern in der Heiligen Schrift gegründet? Denn Hinckelmann kann hier mit originären Forschungen zur jüdischen Kabbala aufwarten, anhand eines bisher nicht in der Literatur erwähnten Sefer Meliah (oder besser Sefer Peliah) eines Rabbi Elkana ben Jerucham.31 Der Text gibt vor, aus einer sehr frühen Zeit zu stammen: 29 30 31

Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexikon. Bd. 2. Leipzig 1750, 1613. Detectio (Anm. 20), 1. Vgl. Johann Christoph Wolf: Bibliotheca Hebraea. Bd. 1. Hamburg 1715, 196–200; Bd. 3. Hamburg 1727, 126–128. Von dem angeblichen Verfasser Elkana (Elchanan) ben Jerucham (Jerocham) ben Abigedor weiß man nichts. Aber der Sefer Pelia ist im Zusammenhang mit dem Sefer Kana bekanntgeworden, der vom gleichen Verfasser stammt. Vgl. Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. Bd. 9. Berlin 1932, 866–869, Art. »Kana, Buch«; Heinrich Graetz: Geschichte der Juden. Leipzig 1853–1876. Bd. VIII, 222 f. und 449–455; Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M. 1967, 230 f. Scholem hat betont, dass der Sefer Pelia zur zentralen Lektüre des Sabbatai Zwi gehört hat. Vgl. weiter Joseph Dan: Jewish Mysticism. Bd. II: The Middle Ages. Northvale, NJ 1998; zur neueren Forschung auch Moshe Idel: Messianic Mystics. New Haven 1998, 192 ff. Idel siedelt den unbekannten Verfasser im Zirkel von Joseph Ashkenazi und R. David ben Yehudah he-Hasid an und sieht seine Komposition im byzantinischen Reich. Der Sefer Pelia ist ein Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der Genesis. Scholem (230 f.): »Hier gibt es überhaupt nur noch Symbole, und die Welt der Zeichen bedeutet, wenn unabhängig von den in ihr erscheinenden Symbolen gesehen, gar nichts mehr.«

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um 4000 nach der Weltschöpfung, also etwa 240 nach Christi Geburt. Hinckelmann sammelte – soweit er sie nicht schon geerbt hatte – jüdische, griechische, arabische, syrische und persische Manuskripte und hat in wenigen Jahrzehnten einen beachtlichen Schatz von Texten zusammengetragen, aus dem er für seine Arbeit schöpfen konnte. Anhand des Sefer Peliah kann er sagen, dass zwar die oberen drei Sephirot als die drei Personen im göttlichen Wesen verstanden werden können.32 Die unteren sieben Sephirot aber, so Hinckelmann dezidiert, lassen sich »mit Böhmens Quell-Geistern auch nach der besten Cabalisten Erklährung« nicht »zusammen reymen«.33 Die Trinität, so folgert Hinckelmann aus der von ihm rezipierten Christlichen Kabbalistik, sei nicht vom Platonismus in das Christentum eingeführt worden, sondern bereits den alten Juden bekannt gewesen und von dort ins Christentum übernommen worden.34 Die These vom Platonischen Ursprung der Trinitätslehre, wie sie von einigen Sozinianern und Arminianern vorgebracht wurde, lehnte er entsprechend ab. Man sieht hier, dass das Studium rabbinischer Literatur für Hinckelmann nicht so sehr als das Interesse an einer anderen Religion verstanden werden darf, sondern aus apologetischen Zwecken gegen neuere anti-trinitarische Einwürfe erfolgte. Und auch das Studium islamischer Geistesgeschichte kann, ganz im Sinne eines Theodor Hackspan und anderer, ähnlich apologetische Zwecke gehabt haben, zur Rekonstruktion ursprünglicher biblischer Lehre.35

5. Religionsgeschichte Doch Hinckelmanns Detectio ist nicht nur eine ausführliche Beantwortung der vierzig Fragen mit gelehrten Exkursen. Unter der Hand ist sie ihm zu einer umfassenden religionsgeschichtlichen Abhandlung geworden, sodass sich die ursprüngliche Gliederung nach dem Fragenkatalog überkreuzt mit einer neuen, systematischen Gliederung nach sechs Hauptthesen. Denn auf die 70 Seiten »Untersuchung« folgen nochmals 70 Seiten »Widerlegung«. Diese Widerlegung des Böhme’schen »Grund=Irrtums« nun macht die eigentliche Bedeutung der Schrift aus. Sie gliedert sich in sechs »Beweiß«-Schritte: I: »Diese Lehre ist nicht in den untrüglichen Worte Gottes gegründet.« (70); II: »Diese Lehre streitet mit 32

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Vgl. Sefer Jezirah. Hrsg. v. Johann Stephan Rittangel. Amsterdam 1642. Zur Theorie der Sephirot vgl. Gershom Scholem: Die mystische Gestalt der Gottheit in der Kabbala. Zürich 1961. Detectio (Anm. 20), 20. Zu Böhmes Theorie der Quellgeister vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998, 198–204. Detectio (Anm. 20), 24. Zur Christlichen Kabbala vgl. Christliche Kabbala. Johann Reuchlins Wirkung. Hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Siegmaringen 2003. Vgl. Dietrich Klein: Inventing Islam in Support of Christian Truth: Theodor Hackspan’s Arabic Studies in Altdorf 1642–6. In: History of Universities (ed. M. Feingold) XXV/1 (2010), 26–55.

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der jenigen/ welche in Gottes untrüglichen Worte geoffenbahret ist.« (74). III: »Diese Lehre hält auch nach dem Zeugniß der noch übrigen gesunden Vernunfft viel ungereimte und unzulässige Dinge in sich.« (80). IV: »Diese Lehre hat von denen Heyden ihren Ursprung und ist von uralten Zeiten unter ihnen biß auff den heutigen Tag in Schwange gegangen.« (84). V: »Diese Lehre hat in und außerhalb der Kirchen den Grund zu allen Fanatischen Wesen geleget.« – eine indirekte Beantwortung der Frage 40 (92). VI: »Diese Lehre ist die Mutter und Quelle gewesen der urältesten Abgöttery in der Welt.« (106). Dass Böhmes Lehre nicht offenbarungskonform sei und der Offenbarung zum Teil auch widerspreche, sind erwartbare Argumentationen eines lutherischen Pastors. Dass aber eine Lehre gekonnt aus »uralten Zeiten« hergeleitet wird, geschieht nicht immer oder geht zumindest meist nicht gut. Hinckelmann sieht die Ursprünge des Dualismus mit den Zoroaster zugeschriebenen chaldäischen Orakeln oder Oracula magica und ihrer Feuerverehrung.36 Von dort lässt sich seiner Ansicht nach eine Entwicklung über die Chaldäer zu den Ägyptern erkennen. Von Ägypten aus – da ist Hinckelmann ganz traditionell – habe sich diese problematische Lehre nach Asien und Europa ausgebreitet. Grundlage für solche Großthesen sind zum Teil etymologische Befunde (oder sagen wir lieber: etymologische Spekulationen) über die Bedeutungsgleichheit von arabischen Worten mit griechischen Namen. Orpheus etwa sei über die arabische Wurzel »Arapha« als »weiser Mann« zu verstehen – was zugleich viel sagt über die Kopräsenz der prisca theologia in Europa und im arabischen Kulturraum. Umgekehrt gibt es nach Hinckelmann eine europäische Präsenz der alten astrolatrischen Lehre der Ssabier, die nach Maimonides das eigentliche Urheidentum gebildet haben. Druiden und Barden seien nichts anderes als deren nordwesteuropäische Nachfahren. Und innerhalb der heidnischen Traditionen gebe es eine Strömung von »enthusiastischer« Häresie, die ganz besonders zu Böhme hinführe und in seiner Lehre aufscheine, dass es im Zentrum der Seele ein göttliches Feuer oder Licht gebe. Daraus leiten sich dann (wiederum aus der häretischen »Grundoperation«) die weiteren Thesen her, dass die »Erleuchtung« und »Wiedergeburt« als Erweckung und Befreiung dieses Lichts aus dem Körper und der leiblichen Seele geschieht, dass die Erleuchtung mit einer Prophetie aus Allwissenheit heraus verknüpft ist und dass in diesem Zustand eine Vereinigung des Menschen mit Gott erreicht wird.37 Der Neuplatonismus und dann die Sufi-Mystik haben solche Lehren transportiert. Man erkennt, dass Hinckelmann eine Doktrin, die wir als neuplatonischgnostisch zu bezeichnen geneigt sind, bereits in sehr frühen »orientalischen« Traditionen wurzeln sieht, zum Teil sicherlich bedingt durch die (von heute aus gesehen falsche) Frühdatierung mancher seiner Gewährstexte.38 Den Einfluss des 36 37 38

Detectio (Anm. 20), 84; zu diesem Komplex vgl. Michael Stausberg: Faszination Zarathustra. Zoroaster und die Europäische Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin 1998. Detectio (Anm. 20), 92 f. Man vgl. neuere ›orientalisierende‹ Hypothesen von Rohde bis Burkert: Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Tübingen 5/61910; Walter Burkert: The Orientalizing Revolution. Cambridge (MA) 1992.

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Platonismus – und insbesondere das Faktum der »mit der Schrifft vermengte[n] Platonische[n] Philosophie«, also die Platonisierung des Christentums – versteht er eher als ein spätes, verstärkendes Phänomen, das den enthusiastischen Urtypus mit verführerischer Rhetorik garniert.39

6. Familiengeheimnisse Als Hinckelmanns Detectio erschienen war, gab er einige Exemplare des Druckes an Freunde. Einer von ihnen war Detlev Marcus Friese, ein ehemaliger gräflichrantzauischer Rat und Bibliothekar, Mitglied des Collegium imperiale historicum.40 Friese benutzte die Gelegenheit, mit Hinckelmann über Böhme zu reden. Hinckelmann vertraute ihm an, dass Böhme keine Zeile von allen solchen Schriften gemacht; Der ein guter einfältiger Bürger und Handwercker gewest/ dabey aber die Biebel und andere geistliche Bücher viel gelesen/ bey seinem sehr Christlichen und exemplarischen Leben/ männiglich daraus und zur Lebens-Besserung vorgeschwätzet/ und dahero sich bey seines Geleichen in Verwunderung/ bey anderen in Ruff besonderer Wissenschaft gebracht. Als inzwischen der Pastor selbigen Orts/ Walter/ ein sehr gelahrter/ und in Philosophia verschlagener Mann/ welcher sonderlich hierbey die Arabischen Schriften wol gelesen/ und sich zu nutzen gemachet/ in besondere Speculationes/ verfallen/ und davon zu Papier/ folgends zum Druck gebracht/ hätte selbiger (um nicht erkannt/ gefeindet und verfolget zu werden) jenes Namen gebraucht/ doch mit dessen Bewilligung/ welcher dadurch ein Enthusiast und sonderliche Offenbarungen zu haben/ geglaubet worden. Als aber der Pastor fortgefahren mehres zu schreiben/ und er darüber in Verdacht und starcke Verfolgung gekommen/ hätte er gar von dort weichen/ ja seinen Namen aus Walter in Hinkelmann ändern müssen/ wäre weiter in solche Drangsal gerathen/ daß er seine Kinder müssen ein Handwerck/ und referentis h. e. Hinckelmanni Vater die ApothekerKunst lernen lassen.41

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Detectio (Anm. 20), 93 f.; S. 94 zitiert Hinckelmann Gregor von Nazianz Orat. XXII mit den Worten: »Die Bezauberungen der Platonischen Wohlredenheit/ sind zum Unglück in unsere Kirche/ nicht anders als Egyptische Plagen/ gekommen.« Zur Perspektive des Platonismus vor dem Hintergrund des Orients vgl. Udo Reinhold Jeck: Platonica Orientalia. Aufdeckung einer philosophischen Tradition. Frankfurt a. M. 2004. Zu Friese (1634–1710) vgl. Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 1. Kopenhagen 1744, 198 f.; Seine Bibliothek und Briefe hat er an die Marienstift-Bibliothek in Stettin vermacht. Vgl. die biographischen Angaben in Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke. Bd. 1: Briefwechsel. Hrsg. v. Detlef Döring. Berlin 1996, 391. Friese hatte Kontakte zu Leibniz, Pufendorf, Paullini, Boecler u. a. Vincentius Placcius: Theatrum anonymorum et pseudonymorum. Hamburg 1708, Tl. II: De scriptis pseudonymis, 582. Ich danke Carlos Gilly, dass er mich bei der Tagung auf die familiären Beziehungen Walther – Hinckelmann aufmerksam gemacht hat. Vgl. auch Carlos Gilly: Zur Geschichte und Überlieferung der Handschriften Jacob Böhmes. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007, 39–54; ders.: Zur Geschichte der Böhme-Biographien des Abraham von Franckenberg. In: Ebd., 329–364 (und Anm. 440–445, bes. Anm. 42 auf 444).

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Martin Mulsow

Das ist eine abenteuerliche Geschichte, die Hinckelmann da Friese erzählt, eine Geschichte, die von Dissimulation, Verfolgung und Identitätswechsel handelt. Hinckelmann bat seinen Zuhörer dabei, »solche vertrauliche Nachricht unter uns beyde bleiben zu lassen/denn es ihme bey damaliger Zeit grossen Verdruß machen würde […].«42 Das war klar, denn die mögliche direkte Verbindung Hinckelmanns zu Böhme war von großer Explosivität. Dabei hatte Hinckelmann in der Detectio bereits angedeutet, dass er Böhmes Schriften nicht als von diesem selbst verfasst ansehe. Dort allerdings hatte er den Verdacht auf Tobias Kober gelenkt: Ich mag hierbey nicht läugnen/ daß ich in meiner von einigen Jahren her geführten Meynung/ daß Böhmes Weißheit aus Fluddi Operibus geholet sey/ nicht wenig gestärcket worden/ als ein vornehmer und in der Natur hoch-erfahrner Mann/ der auf einer berühmten Evang. Universität mit grossen Nutzen und Ruhm lebet/ als ich eben über dieser Arbeit war/ und Fluddi Schriften vor mir liegen hatte/ an mich schrieb/ und mir aus unverdienter Liebe einige dubia über meine herausgegebene Fragen communicirte/ unter anderem auch einige loca aus den Flud (den er aber nicht anders als unter den Namen eines grossen Philosophi mir bedeutete) anzog/ und dabey schrieb: Er getraute ihm das Juramentum credulitatis abzulegen/ es wären J. Böhmes Schriften auß niemand anders/ als auß diesen Philosopho fundamentaliter und originaliter genommen/ und zwar von D. Tobia Kobero, alß der mit Böhmen vertraut umbgegangen/ und sonder Zweiffel damahls schon diese principia auß dem neuen PhilosophoMedico genommen/ die er aber auß Furcht selbst zu publiciren ihm nicht getrauet hat: gestalt er ein gelahrter/ curiöser und frommer Mann gewesen/ wie seine Scripta Medica bezeugen. Wobey ich gerne gestehe/ daß auch durch Böhmen viel mag confundiert worden seyn.43

Hier verschweigt Hinckelmann – auch wenn er die Passage ostentativ an das Ende des ersten Teils setzt –, dass er nicht Kober, sondern Walther für den eigentlichen Vermittler der Spekulationen eines Fludd und anderer an Böhme hielt. Zusammengenommen aber besagen die Passage aus der Detectio und die Briefmitteilung Frieses, dass Hinckelmann auf jeden Fall auf einen gelehrten Mann im Umkreis Böhmes als Verfasser setzte; er selbst wohl mehr auf Walther, andere auf Kober. Er konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass der Schuster aus Görlitz seine Schriften, die voll von Bezügen auf komplexe alte Traditionen waren, selber geschrieben habe. Was aber ist von Hinckelmanns Rekonstruktion seiner eigenen Familiengeschichte in Verknüpfung mit der Geschichte der Entstehung von »Böhmes« Werken zu halten?44 Abraham Hinckelmann ist am 2.5.1652 in Döbeln (Mittelsachsen) geboren (aber im Taufbuch nicht zu finden). »Sein Vater soll Martin H. geheißen und Senator und Apotheker in Döbeln gewesen sein; seine Mutter wird Anna, geb. Dreißig, genannt.« Martin Hinckelmann wiederum war der Sohn von Benedikt Hinckelmann, einem kurfürstlichen Leibarzt und Hofalchemisten in Dresden, der in der Tat Böhme gut kannte. Martins Schwester war Ursula Victoria

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Ebd. Detectio (Anm. 20), 68. Vgl. dazu auch Martin Mulsow: Die Aufklärung der Enkel. Familiendynamik und Ideengeschichte – drei Fallbeispiele. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 170, 23.7.2011, 26. Ich übernehme daraus einige Passagen.

Abraham Hinckelmann und die Genealogie von Böhmes »Grund=Irrtum«

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Hinckelmann.45 In welchem Verhältnis Benedikt Hinckelmann wiederum zu Balthasar Walther stand, ist unklar. War Hinckelmann Walthers Stiefbruder?46 War er der Schwager von Walther?47 Es scheint, dass irgendeine enge Verbindung tatsächlich bestanden haben muss – wenn auch keine Identität. Hinckelmanns abenteuerliche Vermutung, Walther habe seinen Namen in Hinckelmann geändert, um sich vor Verfolgung zu schützen, ist seltsam. In Frieses Bericht scheint einiges durcheinander zu gehen (hat sich Friese falsch erinnert oder hatte Hinckelmann selbst so unklare Informationen?): Walther ist dort Pastor in Görlitz, nicht Arzt. Man könnte sich fragen, ob es sich um einen Bruder Walthers handeln könne, aber das ist unwahrscheinlich, denn da Hinckelmann behauptet, Walther habe »die arabischen Schriften wol gelesen«, ist wohl doch auf Balthasar Walther mit seiner Orient-Reise Bezug genommen. Placcius, der den Friese-Brief in seinem Theatrum anonymorum et pseudonymorum abdruckt, hat sich bei Heinrich Dornemann erkundigt, dem Archidiakon von St. Nicolai in Hamburg, der ihm 1696 bestätigt hat, dass in Hinckelmanns Bibliothek tatsächlich immer noch Böhme-Manuskripte zu finden wären.48 Das nimmt Placcius – wie auch die Erwähnung Benedikt Hinckelmanns in einem Böhme-Brief – als Bestätigung, dass Hinckelmann Recht haben könne. Er bemüht sich dabei um größtmögliche Transparenz und Glaubwürdigkeit, da er weiß, dass seine Offenlegungen erhebliche Wirkung auf die Hamburger Öffentlichkeit haben mussten und viele sonst den Verdacht hätten, hier würde das Ansehen des verstorbenen Pastors in den Schmutz gezogen.49 45

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Aus dem Jahr 1667 findet sich im Stadtmuseum Ingolstadt eine Urkunde (Urk. A 633), auf der ein Benedictus Hinckelmann unterschreibt, der Apotheker ist wie B. Hinckelmann d. Ä., allerdings Assistent der Bruderschaft Maria de Victoria in Ingolstadt. Ob es sich dabei um einen – womöglich älteren – Bruder A. Hinckelmanns handelt, der die Profession seines Vaters ausübte und nach dem Großvater benannt war, allerdings zum Katholizismus konvertierte? Oder einen Bruder des Vaters, Martin Hinckelmann? So Penman, Ein Liebhaber (Anm. 12), aber ohne Gründe zu nennen. Gilly (Anm. 41), 47, schreibt, Walther sei mit B. Hinkelmann verschwägert gewesen. Auf welche Weise? Ist die Schwester des einen mit dem anderen verheiratet gewesen? Dann hätte A. Hinckelmann ja tatsächlich familiäre Bande zu Walther. Aber kann die innerfamiliäre Überlieferung so schlecht gewesen sein, dass A. Hinckelmann zu einer völlig falschen Vermutung über einen Identitätswandel von Walther zu B. Hinckelmann kommen konnte? Vgl. auch Carl Brockelmann: Katalog der orientalischen Handschriften in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Die arabischen, persischen, türkischen, malaiischen, koptischen, syrischen und äthiopischen Handschriften. Hamburg 1908, Ndr. 1969, Nr. 80. Hinckelmanns eigener handgeschriebener Katalog seiner Manuskripte befand sich ebenfalls in der SUB Hamburg, Cod. hist. litt. 42, 1–19. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist er verschollen. Nach Hinckelmanns Tod wurde ein gedruckter Katalog herausgegeben: Johann Gottfried Starcke: Bibliotheca manuscripta Abrahami Hinckelmanni. Hamburg 1695 (in SUB Hamburg unter der Signatur AB 203 war Johann Christoph Wolfs Handexemplar des Katalogs vorhanden, in den er seine eigenen Signaturen eingetragen hat [allerdings Kriegsverlust]; Wolf hat Hinkelmanns Manuskripte von J. Morgenweg aufgekauft). Placcius (Anm. 41), 582f: »Quod testimonium [von Dornemann] 1696. D. 7. Novembris vir omni fide dignissimus datum permisit hic publice memorare: cum mortuo nocere amplius non possint, nec intersit publice tantam rem una non sepeliri cum sepulto. […] Illius etiam ibidem [im Böhme-Brief] memorati Hencelmanni Benedicti, praenomen fuisse, ipsumque Medicum professione, ex Clarissimo J. U. Candidato fori nostril Procuratore et Advocato

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Martin Mulsow

Überhaupt ist der Hamburger Kontext bei all dem entscheidend. Wichtig ist es vor allem, sich Abraham Hinckelmanns Innenperspektive zu vergegenwärtigen – die eines Mannes, der mitten im brodelnden Hamburger Pietismusstreit zur Überzeugung kam, er selbst wäre der Enkel des Verfassers der anstößigen Schriften, an denen sich die gewalttätigen Wirren in der Hansestadt entzündet hatten. Und er durfte dies auf keinen Fall verraten, sonst wäre er entweder gelyncht oder zumindest als automatischer »Böhmianer« angeprangert worden. Dabei machte Hinckelmann – so muss man es wohl interpretieren – in den Jahren zwischen 1691 und 1694 einen schmerzhaften Ablösungsprozeß von der eigenen Familiengeschichte durch. Im Zuge seiner gelehrten Auseinandersetzung mit Böhmes Philosophie rang er sich in den Vierzig Fragen und mehr noch in der Detectio zu einer fundierten, religionsgeschichtlich argumentierenden Kritik durch, die Böhmes Lehre als Nachfahrin von uralten Grundirrtümern aus Zeiten der alten Perser und der Gnosis sah. Er war hin- und hergerissen zwischen Familienloyalität, auch der Loyalität zu den Spenerianern einerseits – und der Orthodoxie andererseits. In einem Brief an Spener vom März 1690 hat sich Horb jedenfalls darüber beklagt, dass Hinckelmann bezüglich Böhmes »sehr schwanke«.50 Er schwankte zwischen Wincklers Ablehnung und Horbs Sympathie. 1691 fing er eine vertrauliche Korrespondenz mit Johann Benedikt Carpzov an, dem Leipziger Theologen und Pietisten-Gegner,51 und ging auch mit Johann Friedrich Mayer, seinem alten Freund, wieder vertraulicher um.52 Offenbar gibt es in diesen Jahren eine langsame Abkehr vom Pietismus, möglicherweise nicht zuletzt wegen menschlicher Unzulänglichkeiten Horbs. 1693 allerdings wird Hinckelmann durch Mayers Unmäßigkeit im theologischen Streit wieder in das Lager und zu einer Parteinahme für Horb zurückgetrieben.53 Im Juni 1693 – die Detectio war im April erschienen – gab es ja sogar Morddrohungen auf der Kanzel gegen Horb.

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celeberrimo amico meo singulari et viro optimae fidei, ac viduae Dni Doctoris et Pastoris Hinckelmanni, hic demortui, superstitis, Curatore legitime confirmato, m. Augusti 1698. coram addidici, et confirmatum aliquoties audivi.« Die Passage bestätigt im Übrigen die für die naturwissenschaftliche Kultur aufgestellte These Stephen Shapins, dass Glaubwürdigkeit im späten 17. Jahrhundert zu einer Schlüsselkategorie wird – nicht nur in Naturwissenschaft und Technik, sondern – vor allem bei einem so bewußt öffentlich innerhalb der Gelehrtenrepublik agierenden Mann wie Placcius – auch im Bereich der Historia literaria. Vgl. Steven Shapin: A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England. Chicago 1994. Zu Placcius’ »Öffentlichkeit« Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2007, 217–246. Horb an Spener, 19. März 1690, Archiv der Franckeschen Stiftungen A 139, zit. n. Rückleben (Anm. 6), 112. Hier wären die Briefe zwischen Carpzov und Hinckelmann aufzufinden. Anfragen von mir in an die UB Leipzig und SUB Hamburg wurden negativ beschieden. Zu Carpzov (1639–1699) vgl. Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzov (1639–1699). Hrsg. v. Stefan Michel u. Andres Straßberger. Leipzig 2009. Horb an Bielefeld, 16.Juli 1691, SUB Hamburg Sup.ep. 26,44. Zit. n. Rückleben (Anm. 6), 130. Vgl. Rückleben (Anm. 6), 130 f.

Abraham Hinckelmann und die Genealogie von Böhmes »Grund=Irrtum«

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Was heißt all dies für die Situierung von Hinckelmanns Verhältnis zu Böhme? Die Vierzig Fragen und die Detectio fallen beide in die Zeit von Hinckelmanns Wiederannäherung an die Orthodoxie. Berücksichtigen wir dabei Hinckelmanns Vorstellung von seiner eigenen Familiensituation – nämlich der leibliche Enkel des Verfassers der Böhme’schen Schriften zu sein –, dann sind diese Jahre der Wiederannäherung an die Orthodoxie und der sicherlich schmerzhaften Abkehr von der eigenen familiären Herkunft eine Abkehr, die durch die Publikation halb coram publico vollzogen wurde. Halb insofern, als nur wenigen Eingeweihten Hinckelmanns familiärer Hintergrund (oder das, was er für ihn hielt) bekannt war. Umso mehr muss ein ungeheurer Druck auf ihm gelastet haben, in der aufgeheizten polemischen Situation Hamburgs auch noch jemand zu sein, der jederzeit als »Böhme-Enkel« hätte bloßgestellt und angeprangert werden können. Daher ist es nur zu verständlich, wenn Hinckelmann Friese um strenges Stillschweigen bittet. Zu dieser Abrechnung mit dem eigenen Erbe passt der Umstand, dass just im Jahr 1692, als Hinckelmann die Vierzig Fragen erscheinen lässt, Benedict Hinckelmanns theosophische Manuskriptsammlung zum Verkauf angeboten wird.54 Hat Abraham Hinckelmann Einfluß auf diese Sammlung gehabt? Sie war – so vermutet Carlos Gilly55 – nach dem Tod seines Großvaters an den Schwiegersohn Andreas Gantzland gegangen, den Mann seiner Tochter Ursula Veronica. Gantzland war 1663 in Dresden gestorben. Wohin die Sammlung danach gegangen ist, ist nicht ganz klar. Es scheint aber durchaus möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass Abraham Hinckelmann Kontakt zu seiner Tante hatte und sie zum Verkauf bewegte.56 Vielleicht war die Abwendung vom Familienerbe ein Prozess, der die ganze Familie beschäftigte. Hat sich die Familie auf unauffällige Weise ihres belastenden Erbes entledigen wollen? War es mehr als nur Vorsicht, sondern für Abraham Hinckelmann selbst ein demonstrativer Akt der Trennung, der Verabschiedung seines Erbes? Hat er geglaubt, einige kabbalistische und arabische Manuskripte aus dem Familienbesitz stammten unmittelbar von Walther und hätten nicht nur auf Böhme gewirkt, sondern Walther beim Verfassen der Schriften, die 54

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Vgl. die Auflistung in Wilhelm Ernst Tentzels Monathlichen Unterredungen von 1692, 258–274; vgl. Gilly (Anm. 41), 48 u. 53. Ein großer Teil der Sammlung wurde offenbar durch Hermann von der Hardt für die Universitätsbibliothek Helmstedt angekauft. Hardt hatte 1689/90 mit Hinckelmann korrespondiert. Von 1689 und 1690 gibt es drei Briefe des pietistisch sozialisierten Orientalisten Hermann von der Hardt an Hinckelmann; Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Ms. K 328. Von der Hardt war in diesen Jahren seit kurzer Zeit Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Helmstedt. Aus Gillys, Fußnoten 405 f., wird nicht ganz klar, warum Gilly vermutet, dass die Handschriftensammlung von B. Hinckelmann an Gantzland ging und nicht über Martin H. an Abraham H. Auf jeden Fall müßte wohl noch geklärt werden, ob und wie die Böhme-nahen Handschriften, die A. Hinckelmann benutzt hat (cf. Detectio), in seinen Besitz gekommen sind. Auch durch den Großvater Benedikt Hinckelmann? Ist dessen Sammlung dann aufgespalten worden in einen Teil, der an die Tochter Ursula bzw. Gantzland ging und einen Teil, der an Sohn Martin Hinckelmann und dann weiter an dessen Sohn Abraham Hinckelmann ging? Ein Indiz dafür könnte sein, dass gerade Hinckelmanns Korrespondent von der Hardt einen Teil der Bibliothek aufkaufte. Vgl. Anm. 54.

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dann unter Böhmes Namen zirkulierten, beeinflusst? Dann wären Hinckelmanns Betrachtungen über solche Manuskripte in der Detectio in ganz neuem Licht zu sehen. Auf jeden Fall muss sich Hinckelmann dabei in hohem Maße ambivalent gefühlt haben. Noch immer behielt er bei sich ja den großen Schatz an orientalischen und kabbalistischen Handschriften, den er selbst aus dem Besitz seines Großvaters geerbt hatte und weiterhin um neue Handschriften vermehrte. Aus Familientradition war er ein ausgewiesener Kenner der Kabbala und gab in Nebensätzen auch zu, dass er die jüdische Mystik schätzte. Also hat Hinckelmann einen inneren Spagat unternommen, wenn er dennoch Böhmes Kabbalistik ablehnte und sich zunehmend auf die Seite der Orthodoxen schlug. Erst als deren Matador Mayer so weit ging, Hinckelmanns Kompagnon bei der Ablehnung des Eides, Horb, jenseits allen gesellschaftlichen Anstandes niederzumachen, als Horb dem Stress nicht mehr gewachsen war und starb, schwenkte Hinckelmann nochmals um und hielt es – aus Solidarität – wieder mit den Pietisten.

7. Desiderate Ich komme zum Schluss. Hinckelmanns in der Detectio versteckte skizzenhafte Religionsgeschichte ist sein Vermächtnis. Johann Christoph Wolf hat es zehn Jahre später dankbar aufgenommen und im Manichaeismus ante Manichaeum weitergeführt.57 Vermächtnis ist die Skizze geblieben, weil Hinckelmann schon zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Detectio tot war, niedergestreckt vom Ärger der hocherhitzten Pietismus-Streitigkeiten. Ein gutes halbes Jahr nach Erscheinen der Detectio, am 24. November 1693, wurde auf einer tumultuarischen Versammlung der Bürgerschaft, unter Anführung von Johann Friedrich Mayer, die Absetzung Horbs beschlossen, der unter anderem ein Buch des französischen Mystikers Pierre Poiret auf Deutsch herausgebracht hatte.58 Nachdem Horb Ende Januar 1695, wie erwähnt, ein gesundheitliches Opfer der bis aufs Messer gehenden und die Stadt bis an den Abgrund des Bürgerkriegs spaltenden Kontroverse geworden war, erlitt Hinckelmann am 11. Februar desselben Jahres einen Blutsturz und starb. Die Schmähschrift, die der letzte Sargnagel für Hinckelmann war und seinen Blutsturz auslöste, kam nicht einmal von orthodoxer, sondern von radikalpietistischer Seite und war ein anonymes Machwerk von Johann Wilhelm Petersen: Stimme des Herrn an D. Abrah. Hinckelmann, Pastoren in Hamburg, als er sich mit Feigenblättern in seinem Entschuldigungsschreiben bedeckte.59 So wurde Hinckelmann zwischen den Fronten zerrieben. 57

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Vgl. Martin Mulsow: Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg. In: 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hrsg. v. Anselm Steiger. Berlin 2005, 81– 112; Ralph Häfner: Die Fässer des Zeus. Ein homerisches Mythologem und seine Aufnahme in die Manichäismusdebatte in Deutschland am Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Scientia Poetica 1 (1997), 35–61. Vgl. Rückleben (Anm. 6). O. O. 1694.

Abraham Hinckelmann und die Genealogie von Böhmes »Grund=Irrtum«

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Ein Desiderat der Forschung bleibt – neben der verwickelten Familiengeschichte –, das genaue Verhältnis der Hamburger »pietistischen« Häresiologie zur »orthodoxen« Leipziger zu klären. Dabei sollte klar sein, dass inhaltlich-theologische Differenzen zwischen diesen scheinbaren Lagern nicht bestehen, allenfalls Unterschiede im Ton des Umgangs mit den Häretikern.60 Hat Hinckelmann Jakob Thomasius mit seinen einflussreichen Häresie-Genealogien in dessen Schediasma historicum von 1665 rezipiert?61 Hat er Ehregott Daniel Colbergs monumentales Platonisch-Hermetisches Christenthum, 1690/91 erschienen und stark von Thomasius abhängig, gekannt?62 Beide Autoren werden mit keiner Silbe erwähnt. Das ist erstaunlich, da hier doch thematisch eine solche Nähe zu Hinckelmanns Religionsgeschichte vorliegt und man in Hamburg sehr genau verfolgte, was im übrigen Deutschland erschien. Durchaus zitiert werden aber Kollegen und Nachfolger des 1684 verstorbenen Thomasius, nämlich Thomas Ittig und Johann Benedikt Carpzov.63 Carpzov – mit dem Hinckelmann ja in Briefkontakt stand – hatte nur wenige Monate vor Hinckelmanns Detectio in Leipzig eine Disputation über die »platonische Trinität« der Böhmianer abgehalten, auf die sich Hinckelmann beruft, ohne einen Namen zu nennen; er hat sich auch 1687 schon in seiner Disputatio de Quietistis um antike Genealogien gegenwärtiger Häresien bemüht und damit auf Colberg gewirkt. Was Ittig angeht, so war 1690 sein Werk De haeresiarchis aevi apostolici et apostolico proximi erschienen, auf das Hinckelmann hinweist, wenn man gleichsam eine Fortsetzung seiner altorientalischen Erörterungen in die Zeit des Frühchristentums hinein wolle.64 Also war die »Leipziger Schule«, wenn man denn von einer solchen sprechen kann, bei Hinckelmann durchaus präsent. Mag es nun an bestimmten Aversionen oder an den Zufälligkeiten des Zitierens liegen, dass Jakob Thomasius nicht erwähnt wird: Man kann, denke ich, davon ausgehen, dass seine Thesen durchaus hinter Hinckelmanns Wahrnehmung stehen. Zu verwandt sind die Grundauffassungen. Denn schon Thomasius hat im Schediasma historicum als Grundkriterium für Häresie das Problem benannt, dass Gott und Materie nicht deutlich voneinander unterschieden würden und daher von Schöpfung aus dem Nichts nicht gesprochen werden könne.65 Und schon Thomasius hat die Lehre von den 60 61

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Johannes Wallmann: Pietismus-Studien. Tübingen 2008. Jacob Thomasius: Schediasma historicum, quo, occasione Definitionis vetustae, qua Philosophia dicitur Gnosis ton onton, varis disctiantur ad historiam tum philosophicam, tum ecclesiasticam pertinentia, Leipzig 1665. Vgl. Ralph Häfner: Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hrsg. v. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, 141–164. Ehregott Daniel Colberg: Das Platonisch-Hermetische Christenthum. 2 Bde. Frankfurt a. M./ Leipzig 1690/91. Vgl. Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004, 112–186. Johann Benedikt Carpzov (praes.)/Albrecht Christian Rotth (resp.): Trinitas Platonica, quam e scriptis Platonis et Platonicorum erutam et cum Trinitate Scripturae Sacrae collatam, ad eruendos tum aliorum tum recentium Böhmistarum de Deo horrendos errores. Leipzig 1693. Detectio (Anm. 20), 123; Thomas Ittig: De haeresiarchis aevi apostolici et apostolico proximi. Leipzig 1690. Vgl. Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Hamburg 2002, 292 ff.

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»zwei ewigen Prinzipien der Dinge« im Anschluss an Theodorets Herleitung der frühchristlichen Häresien und mit Hinweis auf Gassendis philosophiehistorische Einschätzung für das »Fundament des gesamten gottlosen Heidentums« gehalten.66 Schon er geht dabei weit hinter Platon zurück bis zu Zoroaster, und von dort voran zur Häresie von Simon Magus, aus der wiederum alle frühchristlichen Häresien entsprängen.67 Zwar hat Thomasius, und nach ihm Budde, eher den materialistisch-pantheistischen Zug des »Grund=Irrtums« in die Moderne (bis zum Spinozismus) verfolgt, nicht so sehr den dualistischen, aber dennoch ist die basale Analyse die gleiche. Man muss allerdings auch sehen, dass weder Thomasius noch Colberg orientalistisch gebildet genug waren, um die von ihnen vermutete »zoroastrische« Genealogie wirklich aufzuarbeiten. Dazu waren unter anderem auch islamische Quellen nötig, und man darf Hinckelmanns islamwissenschaftliche Arbeiten durchaus als zweiseitig ansehen: zum einen mit apologetischem Zweck für eine bessere Fundierung des Christentums, zum anderen mit häresiologischer Absicht zum besseren Verständnis der Übergänge von antiker zu neuzeitlicher Häresie. Sufi-Texte, wie Hinckelmann sie in Manuskripten besaß, spielten dabei eine besondere Rolle. Es ist daran zu erinnern, dass Hinckelmann ein Jahr nach der Detectio den Koran ediert hat – neben der Böhme-Auseinandersetzung seine eigentliche gelehrte Arbeit.68 Die Orientalistik Hamburgs gehört also zur Geschichte der intellektuellen Risikowahrnehmung, der Philosophiefolgenabschätzung im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert. Für diese zentrale Sparte gelehrter Aktivität ist Hinckelmann zwar nicht so einflussreich wie Thomasius gewesen, sollte aber neben ihm nicht vergessen werden. Nicht zuletzt indem Philipp Jakob Spener den Fall Böhme zum Anlass genommen hat, eine Reform des theologischen Streitens zu fordern, hat er einen Wandel der Öffentlichkeit eingeleitet, an den wiederum die Ketzermacherdebatte der Hallenser Frühaufklärer anschließen konnte. So ist ein Stein ins Rollen gekommen, der später nicht mehr zu stoppen war.69 Die Hallenser Frühaufklärung um Christian Thomasius wiederum stand in einer durchaus fruchtbaren Wechselwirkung mit den großen orientalistischen Verlaufsthesen, die von frühester heidnischer Weisheit bis zu modernster Häresie reichten, oder, wenn sie aufklärerisch umgedreht wurden, zur Gestalt des trinitarischen Christentums führten, wie es gegenwärtig erlebt wurde. Doch das ist eine andere Geschichte.70 66 67 68

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Thomasius, Schediasma historicum (Anm 61), 28, § 37. Vgl. Häfner: Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien (Anm. 61), 148. Thomasius, Schediasma historicum (Anm. 61), 22–25, § 34. Vgl. Häfner, Die Fässer des Zeus (Anm. 57). Al-Coranus sive lex islamitica Muhammedis, Hamburg 1694. Vgl. Helmut Braun: Der Hamburger Koran von 1694. In: Libris et litteris (Festschrift für Hermann Tiemann). Hrsg. v. Christian Voigt u. Erich Zimmermann. Hamburg 1959, 149–166. Gierl (Anm. 1). Für solche Umkehrungen vgl. etwa Martin Mulsow: Trinity as a Heresy. Socinian CounterHistories of Simon Magus, Orpheus and Cerinthus. In: Histories of Heresy in Early Modern Europe. For, Against, and Beyond Persecution and Toleration. Hrsg. v. John Christian Laursen. New York 2002, 161–170.

Eric Achermann

Fromme Irrlehren Zur Böhme-Rezeption bei More, Newton und Leibniz

Merkwürdig, wenn auch bemerkenswert, präsentiert sich die Legende, die sich um die Wirkung Jakob Böhmes (1575–1624) auf den illustren Kreis der Cambridger Neuplatoniker rankt. Allen voran sei es Henry More (1614–1687), der im Görlitzer Schuhmacher einen Mitstreiter im Kampf gegen die seelenlose, mechanistische Philosophie eines Descartes (1596–1650) erkennt. Durch die Lektüre ergriffen teile er daraufhin wesentliche Elemente der Böhme’schen Naturphilosophie und -theologie in vertraulichen Gesprächen niemand geringerem als seinem engen Freund Isaac Newton (1643–1727) mit. Doch auch Leibniz (1646–1716) soll durch More auf Böhme aufmerksam geworden sein, woraus denn auch hier eine zunehmend intensive Aneignung theosophischen Gedankenguts hervorgehe. Und so erscheint der Schluss naheliegend, wenn nicht gar zwingend, dass Newton und Leibniz in ihrem Innersten, genauer in der Lehre von den attraktiven und repulsiven Kräften beziehungsweise der substantiellen Formen oder Monaden, zutiefst geprägt seien von der Böhme’schen Erkenntnis gegensätzlicher Kräfte, die den göttlichen Kosmos durchfluten und durchdringen. Die Härte der skizzierten These verhält sich umgekehrt proportional zur Weichheit ihrer Begründung. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese oft als nichtig, weder verifizierbar, noch plausibel. Nichtsdestoweniger aber kann die behauptete Abhängigkeit – zumindest diejenige Mores von Böhme sowie Newtons von Böhme via More – auf eine lange Tradition zurückblicken, deren Verästelungen uns vielleicht mehr lehren, als es die bloße Behauptung eines wie auch immer gearteten Einflusses je könnte.

1. Zur Rezeptionsgeschichte von Mores Censura Schon bald nach Erscheinen von Henry Mores Philosophiae Teutonicae Censura,1 dem bedeutendsten Dokument Cambridger Böhme-Rezeption, finden wir Belege, welche die Bewunderung Mores gegenüber Böhme bezeugen. Nur zwei Jahrzehnte nach Erscheinen der Censura vermeldet Gottfried Arnold (1666–1714), dass 1

Henry More: Philosophiae Teutonicae Censura: sive Epistola privata ad Amicum, quae responsum complectitur ad quaestiones quinque de Philosopho Teutonico Jacobo Behmen illiúsque Philosphia, Ab Autore Latinè reddita. In: Ders.: Opera Omnia. Bd. II/1. London 1679. Repr. Hildesheim 1966, 529–561.

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Eric Achermann

unter denen auswärtigen […] der große und untadeliche Philosophus und Theologus in Engeland Henricus Morus (dessen hohe weißheit in der geheimen theologie durchgehends gerühmet wird h)2 diesem Böhmen ein sonderbahres und kräfftiges zeugniß ertheilet.3

Es sind rund 40 Zeilen aus der Praefatio ad Lectorem der besagten Censura, die dem Leser von Arnolds Unpartheyischer Kirchen- und Ketzerhistorie die ganz offensichtlich wohlmeinende, wenn nicht gar bewundernde Einstellung Mores zu Böhme nahelegen. Was Arnold geflissentlich übergeht, ist der Sinnzusammenhang: More weist sowohl blinde Gefolgschaft als auch Verfolgung zurück. Beide Einstellungen sind seines Erachtens falsch, sowohl diejenige der Anhänger, »die so hingebungsvolle Bewunderer Jakob Böhmes sind, dass sie ihn für unfehlbar inspiriert halten«, als auch diejenige der Feinde, »die entweder Jakob Böhme als einen Teufel verabscheuen oder als leeren und verachtenswerten Schreiberling verurteilen«.4 Arnolds als solches markiertes Zitat ist in Wahrheit ein mehr oder minder loser Auszug von Sätzen, die More an die Adresse der Verfolger des Philosophus teutonicus richtet, nachdem er dessen Gefolgschaft getadelt hat. Die Censura versucht also – wie im zweiten Teil noch genauer gezeigt wird – das zu sein, was sie ihrem Namen nach ist, nämlich weder ›condemnatio‹ noch ›apologia‹, sondern ein Bilanzieren von Verdiensten und Verfehlungen. Dass eine solch deklarierte, und vielleicht auch beabsichtigte Ausgewogenheit des Urteils im polemischen Spannungsfeld von Anklage und Verteidigung gerne ignoriert wird, ist weder neu noch außergewöhnlich. Eher außergewöhnlich hingegen erscheint in Anbetracht der Themen und Interessen, denen More in seinem umfang2

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Der Verweis ›h‹ geht auf: Acta eruditorum. Leipzig 1693, 429. Es handelt sich um eine anonyme dreiseitige Sammlung von kommentierten Auszügen aus dem postumen Henry More: Discourses on Several Texts of Scripture. London 1692. Zu dieser Kompilation von »College Excercises and University Sermons« vgl. die bibliographische Angabe in Robert Crocker: A Bibliography of Henry More. In: Henry More (1614–1687). Tercentenary Studies. Hrsg. v. Sarah Hutton. Dordrecht 1990, 219–247, hier: 232. Arnolds implizite Behauptung, dass Mores Weisheit in dem bezeichneten Beitrag der Acta gerühmt wird, trifft jedoch nicht zu; sie wird nicht einmal erwähnt. Vielsagend hingegen erscheint der Schluss der Besprechung (431), der das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei More treffend erfasst: »Haec ex eruditis istis meditationibus adducere libuit; illìs, qui scire volunt, quomodo clarissimus Author Platonicòrum placita homiliis immiscuerit suis, ad ipsum libellum remissis. Neque dubitamus, quin ibi reperturi sint Philosophiam suavissime (non vero, ut a quibusdam fieri solet, morose) ancillantem Theologiae.« [So viel mag aus diesen gelehrten Überlegungen angeführt werden; jene, die wissen wollen, wie der hochberühmte Verfasser Lehrmeinungen der Platoniker in seine Predigten einmengt, seien auf das besagte Buch verwiesen. Auch zweifeln wir nicht, dass sie hier eine Philosophie finden werden, die der Theologie höchst lieblich (nicht etwa pedantisch, wie bei andern zu geschehen pflegt) dient.] Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie, Von Anfang des Neuen Testaments Biß auff das Jahr Christi 1688. […], II, XVII, Kap. 18 (Von Jacob Böhmen), § 11. Frankfurt a. M. 1699, 661. Auf diese positive Aufnahme von Mores Böhme-Zeugnis hat bereits Hutton hingewiesen; vgl. Sarah Hutton: Henry More and Jacob Boehme. In: More, Tercentenary Studies (Anm. 2), 157–171, hier: 157. More, Censura (Anm. 1), Praefatio ad Lectorem, Sect. 4 u. 5, 531f: »qui adeò devoti sunt admiratores Jacobi Behmen, quíque eum infallibiliter inspiratum credunt […] qui aut abominantur Jacobum Behmen, ceu Diabolicum, vel tanquam vanum vilémque Scriptorem contemnunt.«

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reichen Werk nachgeht, dass dieser in der voluminösen Kirchen- und Ketzerhistorie nur dies eine Mal erwähnt wird. Ein gutes Jahrzehnt später erhält Arnolds Einschätzung in Pierre Poirets (1646–1719) Bibliotheca mysticorum selecta eine Fortsetzung.5 Hier wird More unter den wohlgesinnten Lesern Böhmes vermerkt, der »ebenso wie zahlreiche durch Wissenschaft und Tugend ausgezeichnete Männer« großes Aufheben von Böhmes Schriften gemacht und diese auch vollständig gekannt habe. Trotz dieser knappen Form legt die Erwähnung eine bedeutende Spur, muss der in Holland wirkende Poiret doch als eine, wenn nicht die zentrale Drehscheibe für die europaweite Verbreitung mystischen und theosophischen Schrifttums im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert erachtet werden.6 Diese Zentralität verschafft ihm den fragwürdigen Vorzug zusammen mit Arnold ins Fadenkreuz religiöser Polemik zu geraten, bilden beide doch privilegierte Zielscheiben für die zahlreichen Streitschriften wider die Böhmisten, Enthusiasten, Quietisten und andere ›fanatici‹. Es ist denn auch ein solcher Anti-Boehmius, dem wir die intensivste Auseinandersetzung mit Mores Censura verdanken. Im gleichen Jahr wie die Bibliotheca Mysticorum erscheint 1708 die Tübinger Disputation De Jacob. Boehmio judicium Henrici Mori, als deren Präsident Johann Wolfgang Jäger (1647–1720), als Respondent der spätere Superintendent Georg Ludwig Gmelin (1686–1756) fungiert.7 Jäger, ein durchaus einflussreicher Theologe und unermüdlicher Streiter gegen sämtliche Formen des Separatismus,8 wird nur ein Jahr später die Dis5

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Pierre Poiret: Bibliotheca mysticorum selecta, Ep. 46. Bd. I. Amsterdam 1708, 169: »pariter […] pluresque alii scientia & virtute eminentes«. Die Stelle findet sich englisch und lateinisch ebenfalls bei Hutton zitiert; Hutton (Anm. 3), 157. Zu Poirets Leben, seiner übersetzerischen und verlegerischen Tätigkeit vgl. das Werkverzeichnis von Marjolaine Chevallier: Pierre Poiret. Bibliotheca Dissidentium. Répertoire des non-conformistes religieux des seizième et dix-septième siècles. Hrsg. v. André Séguenny. Bd. V. Baden-Baden 1985 (zu Leben und Denken Poirets vgl. 11–16). Zu Werk und Philosophie vgl. dies.: Pierre Poiret. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. II/2. Frankreich und Niederlande. Hrsg. v. Jean-Pierre Schobinger. Basel 1993, 848–859; zu Poirets Einfluss vgl. Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methodik seines Geschichtsdenkens. Hamburg 1995, 111–116; s. auch Ralph Häfners Beitrag zu diesem Band. Johann Wolfgang Jäger: De Jacob. Boehmio judicium Henrici Mori Philosophi & Theologi Celeberrimi Angli Publica Disputatione discussum & Ventilatum Praeside D. Jo. Wolfgang. Jägero, Cancell. Tubing. Praepos. Eccles. & Prof. Theol. Primarii. Respondente M. Georgio Ludovico Gmelin Stuttgard. S. S. Theol. Studios. Tübingen 1708. – Auch diese Quelle findet sich bei Hutton (Anm. 3), S.165, verzeichnet. Zu Biographie und Werk vgl. NDB 10 (1974), 269 f. – Jägers irenische Grundhaltung, die ihm hier attestiert wird und tatsächlich manifest ist, findet ihre Grenzen im mystischen Schrifttum seiner Zeit. Der Katalog der im Folgenden erwähnten Angriffe lässt sich durch Streitschriften gegen Jean de Labadie (1610–1674), Jane Leade (1623–1704), Johann Wilhelm Petersen (1649–1727) u. a. erweitern. Jägers Vorlieben und Abneigungen werden aus seiner Verurteilung des Böhme’schen Stils deutlich, so in: Historia Ecclesiastica Seculi Decimi Septimi. Tübingen 1692, 38: »Quid quaeso per ampullas illas & nova vocabula vult? Aut quas probationes recens nati dogmatis affert? Abeat sutor cum Phanatico isto & tortuoso apparatu, eò unde ipsum hausit. Veritas divina simplice ac evidentem expositionem amat, non ambages, non labyrinthos, non phrases, quae Scipturae S. & Oraculis divinis contra-

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sertation ohne Nennung Gmelins in sein Examen Theologiae mysticae veteris et novae aufnehmen,9 eine Kompilation eigener hauptsächlich anti-poiretanischer und anti-quietistischer Schriften.10 Jäger nun bringt Mores Censura gegen die apologetischen Bemühungen der Böhme-Anhänger in Anschlag. Gleich zu Beginn seiner kleinen Schrift erwähnt er die Namen der Böhme-Gegner Gisbert Voetius (1589–1676),11 Johannes Hoornbeek (1617–1666),12 Abraham Calovius (1612–1686),13 allesamt Theologen und Kritiker mystischer Perfektionierungsund Vergottungsvorstellungen, sowie den vielgelesenen Buntschriftsteller Erasmus Francisci (1627–1694);14 unter den gottlosen Sprachrohren Böhmes listet er neben Poiret und Arnold die Leitfigur der englischen ›Behmenists‹, John Pordage (1607–1681).15 Zwischen diesen Lagern schlage More einen mittleren Weg ein,

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dicunt, quin ex toto evertunt.« [Was, frage ich, will er mit diesen schwülstigen und neuen Wörtern? Und welche Beweise liefert der Neugeborene für seine Lehren? Er mache sich fort, der Schuster, mit seinem fanatischen und gewundenen Gepränge, dorthin, woher er es entnommen hatte. Die göttliche Wahrheit ist einfach und liebt eine einleuchtende Darlegung, keine Zweideutigkeiten, keine Irrgärten, keine Sätze, welche der Hl. Schrift und der göttlichen Offenbarung widersprechen, die sie vollständig verdrehen.] Johann Wolfgang Jäger: Examen Theologiae mysticae veteris et novae, in quo totus ejus Processus & potissimi Actus, cum Cura examinantur; imprimis autem Archiepiscopi Camerarcensis, Fenelonis de Salignac, Cardinalis Petruccii, Petri Poireti, & Michaelis de Molinos placita sub modestam Censuram revocantur. Frankfurt a. M./Leipzig 1709, 401–443. Die Liste von Jägers Angriffen umfasst neben Böhme und Poiret auch Valentin Weigel (1533–1588), Antoinette Bourignon (1616–1680), Miguel de Molinos (1628–1696) und François Fénelon (1651–1715). Gemeint ist wohl die Dissertation De Atheismo (1639). Vgl. Biographische Register in: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Edition von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007 (Pimander 16), 481. Hier dürfte es sich um die Vorrede zu De paradoxis et heterodoxis Weigelianis Commentarius (1646) handeln. Vgl. ebd., 469. – Hoornbeck ist Voetius’ Schüler. Beide gelten als wichtige Vertreter der sog. Nadere Reformatie in den Niederlanden und erweisen sich durchaus auch puritanischen sowie pietistischen Einflüssen gegenüber als offen. Eine Reduktion auf das Schlagwort der ›Orthodoxie‹ trifft deren Position nicht. Vgl. Johannes van den Berg: Die Frömmigkeitsbestrebungen in den Niederlanden. In: Geschichte des Pietismus. Bd. I. Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hrsg. v. Martin Brecht. Göttingen 1993, 57–112, hier: 78–88. Abraham Calov: Anti-Böhmius, In quo docetur, Quid Habendum De Secta Jacobi Böhmen/ Sutoris Görlicensis? Et, An Quis Invariatae August. Confessioni Addictus, Sine Dispendio Salutis Ad Eandem Se Conferre, Vel In Eadem Perseverare Possit? Wittenberg 1684. Erasmus Francisci: Gegen-Stral Der Morgenröte Christlicher und Schrifftmässiger Warheit Wider das Stern-gleissende Irrlicht Der Absondrung von der Kirchen und den Sacramenten: In gründlicher Erörterung der fürnehmsten Haupt-Fragen und Schein-Sätze heutiger Böhmisten wie auch beygefügter Untersuchung was von deß Jacob Böhms Schrifften zu halten sey […]. Nürnberg 1685. Zu den ›Behmenists‹ und der Philadelphian Society, die unter dem Einfluss der Weggefährtin Pordages, Jane Leade (1624–1704), gegründet wurde sowie deren Einfluss auf die Verbreitung Böhmes vgl. Serge Hutin: Les disciples anglais de Jacob Boehme aux XVIIe et XVIIe siècles. Paris 1960, 82–123, sowie: Nils Thune: The Behmenists and the Philadelphians. A Contribution to the study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries. Uppsala 1948, passim; ferner Burkhard Dohms Beitrag im vorliegenden Band.

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»mediâ Viâ incedit«.16 Die Schrift folgt in ihrem Aufbau der Censura, fasst paraphrasierend und lose zitierend Mores Ausführungen als responsio zusammen und nimmt letztere zum Anlass, dort, wo der Weg offensichtlich zu mittig ist, Mores Zensur ihrerseits einer Zensur zu unterziehen. Das den Fragen und responsiones nachgestellte Judicium nostrum besteht in der Hauptsache darin, More da Recht zu geben, wo er Böhme Irrtümer nachweist, ihm jedoch in der milden Beurteilung von Böhmes Person eine fahrlässige Toleranz vorzuhalten. Die infernalischen Irrtümer Böhmes zu verbergen oder zu entschuldigen, berge selbst große Gefahren,17 insbesondere dort, wo More Böhme vom Vorwurf freispricht, manisch zu sein,18 mehr noch aber dort, wo er selbst vom wahren Glauben abfalle und von »nicht geringerer Torheit als Böhme« erscheine.19 Auf das Jäger’sche Examen reagiert Poiret mit den rund 650 Seiten umfassenden Vindiciae, die postum 1721 in Amsterdam aus der Presse kommen. Auch hier kommt Poiret auf Mores Censura zu sprechen,20 wobei er nun eine Trennung vornimmt zwischen einem moralischen Urteil, das die Probität Böhmes betrifft, und einem philosophischen »de rebus theoreticis ac speculativis«.21 Was jenes angehe, so gelte es More zuzustimmen, dieses aber sei dunkel formuliert und irrig.22 Poiret begrüßt zwar die schmeichelhaften Zeilen aus der Praefatio, denen wir bei Arnold u. a. begegnet sind, kennt nun aber auch den Grund für die negative Beurteilung in dogmatischer Hinsicht: Sie resultiert aus Mores Verwendung englischer Übersetzungen der Schriften Böhmes23 sowie Mores eigener Heterodoxie, nämlich der kabbalistischen Überzeugung von der simultanen Erschaffung und Präexistenz der menschlichen Seelen.24 Die Folge zeigt Poiret ›judicem judi16 17 18 19 20

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Jäger, Examen (Anm. 9), 402; Disputatio (Anm. 7), 4. Jäger, Examen (Anm. 9), 410; Disputatio (Anm. 7), 8: »errores quoslibet vel DISSIMULANDI, vel EXCUSANDI, eidem non levius creat periculum.« Vgl. das Judicium nostrum zur zweiten Frage, Jäger, Examen (Anm. 9), 411 f.; Disputatio (Anm. 7), 11 f. Vgl. das Judicium nostrum zur fünften Frage, Jäger, Examen (Anm. 9), 430 u. 435; Disputatio (Anm. 7), 20 u. 23 Pierre Poiret: Vindiciae veritatis et innocentiae, perpetuis duodecim amplius annorum accusationibus & criminationibus D. J. W. Jaegeri Academiae Tubingensis Cancellarii, Controversiarum Professoris &c &c. Praecipue vero Ejusdem Examini, quod vocat Theologiae Novae oppositae. […]. In: Ders.: Posthuma. Amsterdam 1721. Der Band umfasst, nebst den eigentlichen Vindiciae (177–827), ein Sendschreiben gegen den Sozinianismus (1–84) sowie eine Erwiderung auf Christian Thomasius (1655–1728) (85–175), der sich in seiner Dissertatio ad Petri Poireti libros de Eruditione solida, superficiaria & falsa (1708; wiederabgedruckt in: Programmata Thomasiana, et alia scripta similia breviora coniunctim edita. Halle, Leipzig 1724, 598–655, repr. in.: ders.: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Werner Schneiders. Bd. 21. Hildesheim 2010) deutlich von Poiret distanziert hatte. Poiret, Vindiciae (Anm. 20), 672. Ebd.: »obscure expressis ac non bene intellectis«. Obwohl More die Böhm’schen Schriften unter lateinischen Titeln anführt, dürfte er tatsächlich die englischen Übersetzungen von John Sparrow (1615–1670) und John Ellistone (ca. 1625–1652), die zwischen 1647 und 1661 erscheinen, verwendet haben. Zu dieser Übersetzung vgl. Rufus M. Jones: Spiritual Reformers in the 16th and 17th Centuries. London 1914, 213–221; Margaret Lewis Bailey: Milton and Jakob Boehme. A Study of German Mysticism in Seventeenth-Century England. Oxford 1914, 56–58. Poiret, Vindiciae (Anm. 20), 673.

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cantem judicans‹, indem er seinerseits Jäger der Unterdrückung wohlmeinender sowie Verzerrung ablehnender Urteile aus Mores Censura bezichtigt.25 Die erwähnte Spitze auf den kabbalistischen, oder wohl eher kabbalisierenden More, die Poiret in seiner Schutzschrift gegen Jäger anbringt, weist uns in ein neues, historisch durchaus bedeutendes Rezeptionsfeld von Böhmes Schriften, das zwar von der tatsächlichen Intention Mores in seiner Censura ziemlich weit entfernt scheint, jedoch nahe bei anderen Schauplätzen seines Kontroversschrifttums liegt: die Diskussion um die jüdischen, mitunter kabbalistischen Wurzeln des Spinozismus. Der Skandal, der durch das Erscheinen von Spinozas (1632– 1677) Posthuma im Jahr 1677 ausgelöst wird, führt unmittelbar zu heftigsten Reaktionen, die im outrierten Monismus der Ethica bekanntlich einen waschechten Atheismus erkennen. Die Probleme, welche die Bestimmung des spezifisch pantheistischen Atheismus – die spinozistische Hauptthese »Deus sive Natura« also – aufwirft, verstärken die Empfindlichkeit der Bewahrer der Orthodoxie, namentlich was den seit der Renaissance verbreiteten Glauben an eine ›prisca theologia‹ oder ›philosophia perennis‹ betrifft. Diese erscheint nun vielen als Angriff auf die Offenbarungsreligion zugunsten einer übergeschichtlichen Vernunftreligion, die einen eigentlichen Atheismus bloß kaschiere. Und so dient die Spurensuche nach kabbalistischen Theologemen nun häufig nicht mehr der Rekonstruktion einer primordialen Weisheit und auch nicht der Bekräftigung der dargestellten Glaubenseinsichten durch würdevolle Anciennität, sondern nährt vielmehr den Verdacht auf Krypto-Spinozismus. Dem Vorwurf Mores, Böhme vertrete pantheistische Irrlehren, begegnet Poiret, indem er More als erstes sein leichtfertiges Vertrauen in eine fehlerhafte Übersetzung vorhält: More referiert aus Böhme mit folgenden, zweifelsohne aus der englischen Übersetzung stammenden Worte: »Himmel und Erde, und was über den Himmeln ist, sind zusammen-

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Für die Rezeptionsgeschichte Böhmes erscheint von Interesse, dass Poiret wider Jäger ›in causa‹ Böhme-Mitstreiter verzeichnet, allen voran Johannes Matthaeus (i. e. Johann Jakob Zimmermann, 1642–1693): Orthodoxia Theosophiae Teutonico-Böhmianae contra Holtzhausium Defensa, Das ist: Christliche Untersuchungen der Holtzhäusischen Anmerckungen Uber und wider Jacob Böhmens Auroram Oder Gründl. Vertheidigung der Alt-Evangel. Lehr des hocherleucht. J. Böhmens […]. zu Papier gebracht von M. Johanne Matthaei, einem evangel. Prediger. Frankfurt a. M. 1691. Diese Schrift selbst ist eine Erwiderung auf Johann Christoph Holtzhausen (1640–1695): Teutscher Anti-Barclaius, Das ist: Außführliche Untersuchung der gantzen Quäckerey und Apologiae Roberti Barclay, Darinn dessen höchst=gefährliche Irrthümer/ schändliche Sophisterey und greuliche Verkehrungen der Sprüche H. Schrifft auffgedecket und widerleget; […] Sampt einem Kurtzen Anhang einiger Anmerckungen Uber Jacob Böhmens Schrifften/ sonderlich seine so genandte Auroram: Zur Warnung und Verwahrung gegen solche falsche Lehre […]. Frankfurt a. M. 1691. Holtzhausen wird ein Jahr später in gleicher Angelegenheit nochmals zum Kiel greifen, indem er den zwischenzeitlich erschienenen Zimmermann aufs Korn nimmt: Capristratus Bohmicolarum Rabula, Das ist: Klarer Beweiß Daß dasjenige Geschwätz womit einer unter dem Namen M. Johannis Matthaei verlarveter Vorsprecher der Böhmistischer [sic!] Rotte Meine Anmerckungen Uber Jacob Böhmens Schrifften sonderlich Auroram, jüngst angegrieffen so falsch/ gottlos und unverschamt ist Daß er von Recht deßwegen für der Christlichen Kirchen und seinem eigenen Gewissen verstummen muß […]. Frankfurt a. M. 1692.

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genommen der ganze Gott«, wo es doch im deutschsprachigen Original heißt: »Himmel, Erde und was in ihnen und über den Himmeln ist, ist der Körper Gottes«.26

In einem zweiten Schritt geht Poiret zum Angriff über, indem er nun Mores Rechtgläubigkeit in Zweifel zieht. Versucht More in seinem eigenen apologetischen Schrifttum, die gehörige Distanz zu einem gottfernen Cartesianischen Mechanizismus und einem immanentistischen Spinozismus zu finden, so sind es bei Poiret genau diese Grenzen, die More wiederholt überschreite: So finden sich noch Begriffe und Vorurteile aus dem von ihm [More] einst aufgenommenen und geliebten Cartesianismus, mehr noch aber aus der von ihm daraufhin angenommenen Kabbala. Diese ist nicht genügend von jüdischer Erdichtung bereinigt worden, was sicherlich der Grund war, warum er den Satz Böhmes über die gleichzeitige Zeugung von Seele und Körper [= Traducianismus] unter die Irrtümer zählt. Aus der Kabbala heraus nämlich will More alle diese Seelen vor unseren Körpern und auf einmal erschaffen und präexistierend, ja sogar in Sünde gefallen. Auch könnte ich nun zeigen, dass sich in dem Katalog der Böhmschen Irrtümer nicht wenige finden, die wahrscheinlicher wahr, denn irrig sind.27

Der Angriff ist umso bemerkenswerter, da More nun seinerseits kabbalistischer Irrlehren bezichtigt wird und damit auch, wie der gesamte Kontext belegt, eines uneingestandenen spinozistischen Pantheismus. Die These selbst, spinozistischer Pantheismus und jüdische Lehre seien im Wesentlichen identisch, verdanken wir in erster Linie Johann Georg Wachter (1663–1757), der sich mit seinem Streitgespräch wider den Konvertiten Johann Peter Spaeth (erste Hälfte des 17. Jahrhundert–1701), alias ›Moses Germanus‹, quasi über Nacht einen Namen als Kontroversschriftsteller erschreibt.28 In der Einleitung zu seinem Der Spinozismus im Jüdenthumb aus dem Jahre 1699 vermeldet Wachter, dass berühmte Männer wie Thomas Burnet (1635–1715),29 Hen26

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Poiret: Vindiciae (Anm. 20), 673: »Morus […] ex Boëmio his verbis (Anglicae versionis procul dubio) retulit: Coelum & terra, & quicquid supra cœlos est simul sumta, TOTUS DEUS EST: quando tamen in originali idiomate Germanico exstat: Coelum, terra, & quicquid in eis est, & supra coelos est, CORPUS DEI est«. Ebd.: »Idque eo magis quod in illo superessent adhuc reliquiae notionum ac praejudiciorum ex recepto & amato ei olim Cartesianismo nonnullae, plures autem ex adoptata ei deinde Cabbala non satis ab omni figmento Judaico repurgata, quae sane ei in causa fuit cur Boëmii sententiam, de propagatione animarum ex traduce, inter errores numeraret (§. 21. p. 539) quas ex Cabbala vult Morus omnes olim fuisse simul ante corpora nostra creatas & praeexistentes, imo etiam lapsas (p. 552 §. 30.). Possem & hic ostendere non pauca esse in ejus erratorum Boëmianorum Catalogo, quae probabilius vera sunt, quam erronea.« Zu Wachters Spinozarezeption vgl. Gershom Scholem: Die Wachtersche Kontroverse über den Spinozismus und ihre Folgen. In: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Hrsg. v. Karlfried Gründer u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Heidelberg 1984 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 12), 15–26; Winfried Schröder: Spinoza in der deutschen Frühaufklärung. Würzburg 1987, 59–123 (zu »Der Spinozismus im Jüdenthumb«, 70–84); Rüdiger Otto: Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1994, bes. 97–99. Zum Streit um den angeblichen Atheismus der Kabbala, insbesondere bei Wachter, vgl. Yossef Schwartz: Kabbala als Atheismus? Die Kabbala Denudata und die religiöse Krise des 17. Jahrhunderts. In: Morgen-Glantz 16 (2006), 259–284. Mit ›Burnet‹ verweist Wachter wohl auf: Thomas Burnet: Archaeologiae philosophicae sive doctrina antiqua de rerum originibus. London 1692.

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ry More, Abraham Hinckelmann (1652–1695) und der Herausgeber der Kabbala Denudata, Christian Knorr von Rosenroth (1636–1689), besagte »Haubtlehre der Jüden wider die Christen« gerochen bzw. »dem Authore […] zu riechen Anlaß gegeben« haben.30 Just Henry More wird dabei als einer der bedeutendsten Gewährsmänner gegen die horrible kabbalistisch-spinozistische Irrlehre, »daß alles Wesen Gott sey« angeführt. Es ist die Debatte zwischen More und Knorr von Rosenroth hinsichtlich des richtigen Verständnisses der Kabbala, die über die Vermittlung von Hinckelmanns Detectio fundamenti31 den Katalog der philosophischen Einwände gegen das spinozistische System bereithält. Hauptsächlich sind es die Identifikation von göttlichem Geist und Welt, die Behauptung, dass Gott aus dem Nichts etwas hätte erschaffen können, sowie die lurianische Raumtheorie des ›Zimzum‹,32 dass Materie durch Zusammenziehung Gottes hervorgebracht wurde, deren spinozistische Implikationen von Wachter festgehalten werden.33 Diese Wachtersche Frühschrift besiegelt nicht nur die These vom kabbalistischen Spinoza und der spinozistischen Kabbala, sondern suggeriert darüber hinaus, dass es sich auch bei Böhmes Theosophie um unchristliche Kabbala handle.34 Verwirft Wachter zwar ausdrücklich diesen Schluss,35 so verweist er dennoch 30

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Johann Georg Wachter: Der Spinozismus im Jüdenthumb, Oder die von dem heutigen Jüdenthumb und dessen Geheimen Kabbala vergötterte Welt, an Mose Germano sonsten Johann Peter Speeth […]. Amsterdam 1699, Vorrede [unpag.] – Zu Johann Peter Späth vgl. Martin Mulsow: Den ›Heydnischen Sauerteig‹ mit dem ›Israelitischen Süßteig‹ vermengt. Kabbala, Hellenisierungsthesen und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann und Johann Peter Späth. In: Scientia Poetica 11 (2007), 1–50. Wachter (Anm. 30), 101 f. (erste Paginierung): »Endlich erlerne ich auch aus diesem Autore, daß die Cabalistische Künsten/ die die Jüden den Heyden abgelernet haben/ diese sind/ welche/ weilen sie ein stück der Cabala Denudata machen/ und von mir allererst unter dem Nahmen Henrici Mori angezogen worden/ ich zum vollkomnen Augenschein (wie/ und so weit Sie Hr. Hinckelmann verdolmetschet) hierher setze.« Die bezeichnete Übersetzung findet sich in: Abraham Hinckelmann: Detectio Fundamenti Böhmiani, Untersuchung und Widerlegung Der Grund-Lehre/ Die In Jacob Böhmens Schrifften verhanden. Worinnen unter andern der Recht=gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabalae, wie auch der Ursprung alles Fanaticismi und Abgötterey der Welt entdecket wird. Hamburg 1693, 81 f. Vgl. hierzu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998, 309–317. Für eine detaillierte Darstellung von Mores Kritik an der Kabbala, wie sie zwischen More und Knorr von Rosenroth im zweiten Teil der Kabbala denudata ausgetragen wird, vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Christliche Kabbala oder Philosophia Hebraeorum. Die Debatte zwischen Knorr von Rosenroth und Henry More um die rechte Deutung der Kabbala. In: Morgen-Glantz 16 (2006), 285–322. Tatsächlich kann eine sehr intensive Rezeption Spinozas in den Kreisen niederländischer Böhme-Anhänger ausgemacht werden; vgl. Michael John Petry: Behmenism and Spinozism in the Religious Culture of the Netherlands, 1660–1730. In: Spinoza in der Frühzeit (Anm. 28), 111–147. Wachter (Anm. 30), § 96, 249 f. (erste Paginierung): »Es ist wahr/ der Jud und Böhme sagen zusammen/ Gott hat alles aus seinem Wesen erschaffen/ und das erschaffene Wesen ist nichts weiters als der geoffenbahrte Gott. Aber der Sinn/ den ein jeder darunter verstecket/ ist gantze Himmel-weiten von einander unterschieden. So nennet der Catholische Jesum Gottes Sohn/ der Arrianer auch/ aber ein jeder in seiner besondern Auslegung. Duo cum faciant idem non est idem. Wenn zwey einerley sprechen dem Wortschall nach/ so ist es da-

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auf die Autorität des bedeutenden Orientalisten Abraham Hinckelmann,36 der in seinen stark beachteten Viertzig wichtige Fragen37 zur Rechtgläubigkeit von Böhmes Theosophie, mehr noch aber in der Folgeschrift, der bereits erwähnten Detectio fundamenti aus demselben Jahr 1693, zwar die Kabbala vom Vorwurf, eine Korrumpierung des Christentums zu sein, befreit, Böhme hingegen beschuldigt, in der Tradition einer im eigentlichen Sinne unchristlichen negativen Theologie zu stehen. Für Hinckelmann nämlich gehört die Kabbala zum reinen Strom christlicher Lehre, dessen unreine Nebenflüsse in der heidnischen, vor allem griechischen und ägyptischen Philosophie gesucht werden müssten.38 Nichtsdestoweniger wirft er mit dieser Argumentation eine Frage auf, die zu prüfen den Verdacht eines kabbalistischen, spinozistischen Böhmianismus impliziert und sogar dazu verleiten mag, wie das Beispiel des Konvertiten Spaeth zeigt, das Christentum aufgrund der unreinen mystischen Einflüsse zu verwerfen und an der einzigen reinen Religion, der jüdischen, festzuhalten. Ja, Spaeth geht so weit, in der von Knorr denudata präsentierten Kabbala nichts als Hirngespinste einer späten, platonisch verseuchten Verunreinigung der mosaischen Lehre zu erkennen.39 Damit bestätigt er, und zwar ziemlich direkt, die Ansicht eines Ehregott Daniel Colberg (1659–1698), der einige Jahre zuvor in seinem einflussreichen Werk Das Platonisch-Hermetische Christenthum40 in antiker Philosophie und

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rum nicht einerley. Ja daß es nicht einerley/ sondern zweyerlei sey/ was Böhm und der Jude sprechen/ erhellet daher/ daß jener das Attribut der Außerwelltigkeit Gottes niemahl geläugnet hat. Solches wäre aus seinen Schrifften leicht darzuthun. Aber es soll uns für dißmahl das Zeügnüs eines gelehrten Manns/ nemblich des Hern. Henrici Mori, genug seyn/ welcher des Böhmen Schrifften fleissig gelesen/ und eben dasselbe befunden. Dessen Worte lauten also: Jacobus Böhm, quippe homo simplex ac sincerus, nec à Mose nec à Christo apostata, aut ullorum principiorum, quae ad malos mores tendant, fautor aut patronus, ad clariorem harum rerum notitiam maturè emersit, fixamque quandam ac tranquilla lucidamque AEternitatem agnovit, à Naturâ (& creaturâ) penitus distinctam: d. i. Jacob Böhm/ ein einfälltiger und auffrichtiger Mann/ ist weder von Moses noch von Christo abtrünnig worden/ hat auch keine Grundlehren/ die guten Sitten schädlich sind/ geleget/ sondern ist zu einer helleren Erkändtnüß dieser Dingen beyzeiten gekommen/ und hat eine unveränderliche/ ruhige/ und lichtige Ewigkeit/ die von Natur und Creatur durchaus unterschieden ist/ erkandt.« Zu Hinckelmann (auch ›Hinkelmann‹) und den näheren Umständen der im Folgenden erwähnten Kontroverse um die »Viertzig Fragen« vgl. Mulsow (Anm. 30), 91–104. Abraham Hinckelmann: Viertzig Wichtige Fragen/ Betreffende Die Lehre/ so in Jacob Böhmens Schrifften enthalten/ Allen deroselben Liebhabern zu Christlicher Beantwortung fürgelegt. Hamburg 1693. Vgl. dazu Guillaume van Gemert: Christian Knorr von Rosenroth in Amsterdam. Die Kabbala Denudata und der niederländische Kontext. In: Morgen-Glantz 16 (2006), 111–133, hier: 131–133. Zu dieser Konsequenz aus der Hinckelmann-Lektüre vgl. Mulsow (Anm. 30), 103; Haim Mahlev: ›Der Schöpffer aller Dinge hat einmahl die gebenedeyte Weißheit in Jacob wohnen heissen, […] und so thut Er keinen Heyden‹. Johann Peter Späths Auseinandersetzung mit der Kabbala. In: Morgen-Glantz 20 (2010), 205–225. Ich zitiere hier nach der zweitenAusgabe: Ehrgott Daniel Colberg: Das Platonisch=Hermetische Christenthum begreiffend Die Historisch Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heuteigen Fanatischen Theologie, Unterm Namen der Paracelsisten/ Weiglianer/ Rosencreutzer, Quäcker/ Böhmisten/ Wiedertäuffer/ Bourignisten/ Labadisten/ und Quietisten/

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Kabbala die Hauptquellen aller Irrlehren und mystischen Entgleisungen entdeckt zu haben glaubte: Darauff bauen sie [die hermetisch-platonischen Sekten] nachmahls ihre gantze Theologie/ und was sie von der unmittelbahren Offenbahrung/ inwendigem Licht und Wort/ wesentlichem Gelassenheit/ Einkehrung/ Verändrung und Ergreiffung der völligen Heiligkeit vorgeben. Diese Schwärmerey ist nichts anders/ als eine Vermengung vieler aus dem Heydnischen Philosophis/ der Jüdischen Cabala und der Christl. Lehr zusammengerafften Meynungen/ so dahin gehen/ daß sie den Menschen vom Wort Gottes u. dem äuserlichen Gottesdienst abziehen/ und unterm Wahn der eingebildeten Offenbahrungen und innerlichen Gottesdienstes/ auf Platonische Träume führen.41

Colberg unterzieht die gesamte Tradition von Mystik, negativer Theologie und ›philosophia perennis‹ in der Nachfolge eines Origenes (185–245), Pseudo-Dionysius Areopagita (frühes 6. Jh.) und Johannes Scottus Eriugena (9. Jh.) einer Fundamentalkritik, die im Grunde alle Bereiche spekulativer Theologie auf unreine Quellen zurückführt. Dass Böhme und seine Anhänger aus dem Blickwinkel eines Mannes vom Schlage Colbergs nicht gut wegkommen, liegt nahe: Sie allesamt erscheinen als Neo-Manichäer.42 Ja, die Schriften des Görlitzer Schusters gelten als präferierte Autoritäten, auf die sich die »neuen Propheten, Chiliasten und Quäcker=Gesellen/ Joh. Rost/ Quirinus Kuhlmann/ Antoinetta Bourignon, Hauffenweise […] beruffen«43 und die »mit des Theophrasti, Weigels, und der Quäcker Lehr aus einem Brunnen geflossen«.44 Böhmes »ungebräuchliche Terminos und Redens=Arten« zeigen die platonische und kabbalistische Durchdringung von dessen Christentum an, dessen Ahnentafel all dasjenige umfasst, was Colberg verwirft: Platon, Pythagoras, Hermes Trismegistus, Kabbalisten, Alchimisten, Rosencreutzer…; sie bilden zusammen das »Fundament seines Mischmasches«.45 Auf Wachter wiederum reagieren Budde (1667–1729) mit seiner Dissertatio philosophica de Spinozismo ante Spinozam,46 der zwar an der grundlegenden Identität von Kabbala und Spinozismus festhält, Böhme jedoch ausdrücklich und unter Verweis auf More vom Vorwurf befreit,47 Spinozist zu sein; sowie Gustav

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ausgefertiget. Greifswald 1710. Die Erste Ausgabe »Das Platonisch-Hermetisches [sic!] Christenthum« erschien 1690/91. Colberg, Das Platonisch=Hermetische Christenthum (Anm. 40), I, § 1, 4. Ebd., I, § 10, 42–44. Ebd., VIII, § 1, 308. Ebd., VIII, § 3, 311. Ebd., VIII, § 3, 315. Johann Franz Budde: Dissertatio philosophica de Spinozismo ante Spinozam. Respondent Johann Fridericus Werder. Halle 1706. Ebd., 27 f.: »Fateor, occurrunt alia quaedam in scriptis Böhmii, quae alicubi dubium movere possent, cuiusmodi praesertim ea sunt, quae Henricus Morus collegit in censura philosophiae Teuconicae [sic!]. * Sed a Spinozismo tamen eum penitus absolvit alibi, idem ille vir doctus, et si quis alius accuratus philosophiae Böhmianae censor primo enim innuit, videri alicui posse ac si consentiret: hinc exclamat: ** O! inopinatam duorum oppositissimorum ingeniorum, Mathematici unius suaque omni a ordine Geometrico demonstrantis, alterius summe Enthusiastici conspirationem et consensum! Ast statim subiungit: Iacobus vero Behmen quippe homo simplex ac sincerus, nec a Mose aut a Christo Apostata, aut ullorum principi-

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Herwech (1686–1721?), der in seinem Tractatus quo atheismum fanaticismi sive Bomii naturalismum et Spinozismum detegit48 genau das Gegenteil davon tut, das heißt den Spinozismus Böhmes bestätigt49 und nun seinerseits Wachter und More angreift, da beide die Gottlosigkeit eines Böhme nicht erkennen wollen: Was aber Böhme betrifft, so überrascht hier Wachters Wankelmut, der obgleich er die kabbalistischen Torheiten bei den Juden verdammt, diese in Böhme, der sicherlich mehr Gift als ein anderer aus der Kabbala und den kabbalistischen Schriften der Christen gesogen hat, gut heißt, empfiehlt und von aller Unfrömmigkeit freispricht, indem er sich auf Mores in der oben erwähnten Abhandlung (III. Teil, S. 250) übereinstimmendes Urteil beruft.50

Kurz, Mores Censura scheint in dem umfangreichen, weitverzweigten theologischen Kontroversschrifttum, das sich um die Frage nach der Rechtgläubigkeit Böhmes spinnt, mehr oder minder präsent, wenn auch nicht außergewöhnlich prominent zu sein. Tritt sie auch auf diesem oder jenen Schauplatz in Erscheinung, so spielt sie auf keinem eine Hauptrolle. Und so ist es auch durchaus bezeichnend, dass – mit Ausnahme Jägers und im geringeren Maße Poirets – die inhaltlichen, im eigentlichen Sinne dogmatischen Fragen der Censura nur geringe Beachtung finden. Zwar zählt ein Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) im Anhang zu seinem Christen-Stat tatsächlich einzelne Punkte der Kritik Mores an Böhme auf, lässt sich aber nicht dazu verführen, die Berechtigung und Or-

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orum, quae ad malos mores tendunt, fautor ac patronus ad clariorem harum rerum notitiam mature emersit, fixamque quandam ac tranquillam lucidamque aeternitatem agnovit a Natura penitus distinctam. Hic vero (Spinoza) in infimas Atheismi faeces immersus, quantum ego quidem intelligo, ibi impoenitens expiravit. * Q. 1. §. XI. seqq. T. I. opp. Philos. p. 588. ** in Columnar. Atheismi Spinoziani subvers. T. I. opp. Philos. p. 619.« [Ich gestehe, es kommen gewisse Dinge in den Schriften Böhmes vor, die zu Zweifel Anlass geben können, solcherart namentlich diejenigen sind, die Henry More in seiner Censura (Qu. I, Sect. 11 ff. Opera philosophica. Bd. I, 588, recte: 538) zusammenträgt. Er spricht ihn aber vom Spinozismus ganz und gar frei, auch wenn derselbe gelehrte Mann, der unvergleichlich genaue Beurteiler der Böhmianischen Philosophie zuerst einmal zu verstehen zu geben scheint, er stimme zu; er ruft aus: Oh, unvermutete Einigkeit und Übereinkunft zweier auf äußerste entgegengesetzter Veranlagungen, die eine mathematisch, die alles von einer geometrischen Ordnung herleiten möchte, die andere im höchsten Maße enthusiastisch! Dann sogleich hinzufügt: Jakob Böhme aber ist ein einfacher und ehrlicher Mann, der weder von Moses noch von Christus abtrünnig, noch ein Beförderer und Schutzherr von Grundlehren ist, die zu schlechten Sitten führen, sondern ist als reifer Mann zu einer helleren Erkenntnis dieser Dinge gelangt und hat eine unveränderliche, ruhige und lichtvolle Ewigkeit, die von der Natur ganz und gar verschieden ist, erkannt. Dieser aber (Spinoza) steckt im tiefsten Unflat des Atheismus, den er, soweit ich verstehe, ungestraft ausgeatmet hat.] Gustav Herwech: Tractatus quo atheismum fanaticismi sive Bömii Naturalismum et Spinozismum ex principiis et fundamentis sectae fanaticae, matris pietismi, eruit, detegit et in lucem ex tenebris protrahit. Rostock 1709. Dass Kabbala, Spinoza und Böhme im Grunde dasselbe wollen, behauptet Herwech, ebd., bes. § XII u. XXIII, F2r–F3r. Ebd., § XXIX, G4v.: »Qvod vero Bömium attinet, mira etiam hic Wachteri est inconstantia, qvi cum nugas Cabbalisticas in Judeaeis damnet; illas in Bömio qui certe plus veneni, qvum alius e Cabbala, aut Christianorum Cabbalisticis scriptis exsuxit, approbat, commendat, & Bömium ab omni impietate longe abesse pronuntiat, ad Mori consensum provocans p. 250. p, 3. in tract. Supra memorato.«

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thodoxie von Mores Urteilen ihrerseits zu prüfen. Er rät vielmehr dem frommen Menschenkind auf vernünftige Distanz zu Böhme zu gehen: Von seiner [Böhmes] Prophezeyungen hat er [More] auch seine Gedancken/ und hält sie für ziemliche Muthmassungen/ den Schluß endlich dahin machende [sic!]/ daß auch noch viel gutes zu Beforderung der geistl. Wieder=Geburth/ und zu Unterdruckung des Hochmuths/ des Geitzes/ der Tyranney/ der eigenen Liebe und dergleichen in seinen Schrifften zu finden; Dieses gelindere judicium kann ich meines Theils wol gelten lassen/ aber das sicherste ist/ solche Bücher/ dabey in rebus & verbis offt und viel schädlich geirret/ und da man so viel andere zu ebenmäßigem guten Zweck genugsam zulängliche herrliche Schrifften hat/ lieber ungelesen zu lassen/ zum wenigsten aber denen einfältigen und denen fürwitzigen Gemüthern nicht zu recommendiren/ oder die groben Fehler derselben/ und wie ihn Morus nennet/ den Stylum Jargonicum (Jargon) zugleich redlich und mit Fleiß anzuzeigen und verwerffen.51

Es ist geradezu dieses geringe Interesse an der religionsphilosophischen Argumentation Mores, das die Legende einer intensiven und anerkennenden BöhmeRezeption bei More, und darüber hinaus im Kreise der Cambridger Neuplatonisten, nährt. Die einseitige Reduzierung der Censura auf die Person Böhmes, nicht aber dessen Lehre, ist es denn auch, die in gefordert knapper Form Eingang in die bibliographische, lexikologische, polyhistorische und kirchengeschichtliche Handbuchliteratur findet. Morhof (1639–1691) versäumt es in seinem Polyhistor nicht, More als Beispiel für eine milde Beurteilung Böhmes anzuführen, wobei nun Mores eigene Frömmigkeit Gewähr für diejenige des Görlitzer Theosophen bietet: »Auch Henry More urteilte über ihn milder als einige rauere Zensoren. Die Frömmigkeit dieses Mannes hat bis anhin noch niemand in Zweifel gezogen.«52 Walch (1693–1775) nimmt Mores Censura in die Liste der Schriften für und wider Böhme zwischen Hinckelmanns Detectio und Jägers Dissertation auf, wobei er zwar den Titel der Censura in voller Länge ausschreibt, den Inhalt aber wie folgt charakterisiert: Er [More] bekennt zwar, daß man in Böhmens Schrifften viele grobe Irrthümer fände und schreibt seine Vergehungen einer sehr starcken Einbildungs-Krafft mit zu; gleichwol aber bezeugt er vor ihn eine grosse Hochachtung.53

Nicht anders, wenn auch noch affirmativer, verfährt Zedlers (1706–1751) Universal-Lexicon, mit dem kleinen Unterschied, dass Jäger hier geradewegs als Mores Kontrahent angeführt wird: 51

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Veit Ludwig von Seckendorff: Additiones des Christen=Stats, Oder Zeugnüsse aus alten und neuen Autoren/ zu Bekräfftigung oder Erklährung des vorherstehenden Tractats/ gehörig/ nebsten ein und anderer zu dessen Eleuterung dienlich erachteter Erinnerung. Leipzig 1685, III, VIII, § 7, 334. Daniel Georg Morhof: Polyhistor in tres tomos, literarium, philosophicum et practicum (1688). Bd. I. Lübeck 1708, Lib I, Kap. 10, § 28, 100: »Henricus quoque Morus judicium de illo mitius, quam asperiores nonnulli Censores, tulit. Pietatem viri istius nemo hactenus in dubium vocavit.« Historische und Theologische Einleitung in die Religions=Streitigkeiten, Welche sonderlich in der Evangelisch=Luterischen Kirche entstanden. Hrsg. v. Johann Georg Walch. Vierdter und fünffter Theil. Jena 1736, 1129 f.

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Einige haben ihn [Böhme] wegen seiner Weißheit, so in diesen Büchern [ein Titelverzeichnis der Schriften Böhmes geht voraus] enthalten, sehr gelobet, worunter insonderheit der berühmte Henricus Morus, den aber der Tübingische Professor Jäger in einer besondern Dissertation wiederleget; andere haben ihn aufs wenigste entschuldiget; andere haben vorgegeben, daß er das seinige aus dem Theophrasto Paracelso, und dergleichen Scriptoribus Chymicis, mysticis und Theosophicis entlehnet habe.54

2. Mores Philosophiae Teutonicae Censura Mögen die zitierten Erwähnungen und kurzen Inhaltsangaben auch einen nur sehr unvollständigen oder gar zufälligen Eindruck der Rezeptionsgeschichte von Mores Censura vermitteln, so zeigen sie zumindest an, dass die Ansicht, Böhme habe in More einen Apologeten gefunden, der die Lektüre der Böhme’schen Schriften geradezu empfehle, im ausgehenden 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einige Verbreitung findet. Namentlich die rege Aufnahme, die Arnolds Historie erfährt,55 dürfte – zumal im deutschsprachigen Raum – maßgeblich zu dem Bild einer theosophisch gestimmten, ja geradezu heterodoxen Verehrung des Cambridger Professors für Böhme beigetragen haben, wobei Mores eigene theologischen und philosophischen Theoremata weder hier, noch anderswo in den weitverzweigten Zusammenhängen der Böhme-Querelen große Beachtung finden. Dabei sind sowohl Inhalt als auch Ziel der Schrift einer solchen Einschätzung, zumal was die Qualität von Böhmes Lehre betrifft, in mancherlei Hinsicht entgegengesetzt. Nur widerwillig nämlich, berichtet More, habe er sich der Aufgabe einer Prüfung der Rechtgläubigkeit Böhmes unterzogen; er räumt jedoch umgehend ein, dass der befürchtete »Überdruss« sich bei der Lektüre »auf wunderbare Weise« in »Genuss und Vergnügen« verwandelt habe, stoße man doch in den Schriften Böhmes »wiederholt auf reiche Adern moralischer und göttlicher Beredsamkeit«.56 Ein ungenannter Freund habe sich diese Prüfung gewünscht und auch den Fragekatalog verfasst, der die Censura strukturiert. Um wenn es sich bei »V. C.«57 handelt, kann nicht eindeutig entschieden werden. Vieles scheint jedoch für die Annahme von Mores Biograph, Richard Ward (ca. 1658–1723), zu sprechen:58 54 55

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Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste. Hrsg. v. Johann Heinrich Zedler. Bd. 4. Halle 1733, 357. Zur Rezeption vgl. Ernst Berneburg: Einige Gesichtspunkte und Fragen zur Wirkung der Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie. In: Gottfried Arnold (1666–1714). Hrsg. v. Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Forschungen 61), 21–32. More, Censura (Anm. 1), Qu. I, Sect. 2, 536: »verùm Moralium Divinorúmque Eloquiorum venae divites quae sinde apud ipsum occurrebant, adeò mirum in modum recreabant animùmque repaiebant meum, ut fastidium à quo tantopere mihi metui, in meram versum sit voluptatem ac oblectationem.« »V. C.« sowie »V.Cl.« sind gängige Abkürzungen für »vir clarissimus«. Beide werden von More genutzt. Vgl. hierzu Hutton (Anm. 3), 159.

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To return to that Noble Lady I was before speaking of; and who was too Considerable in her own Person (as you will find presently) as well as too much concern’d in a way of Intercourse with the Doctor, not to be taken notice of, with all the Honour that is due, in this Place: (Besides, Some of his learned Treatises are expresly owing to her own Desire or Instigation; as his Conjectura Cabbalistica, and Philosophiae Teutonicae Censura; to speak of nothing else: And we have particular Obligations to Ragley, and its Woods, as the Place of his Composing divers of them; at least in part).59

Bei der »Noble Lady«, von der hier die Rede ist, handelt es sich um Anne Conway (1631–1679), Mores »Heroine Pupil«.60 Wards Vermutung scheint plausibel, der Zusammenhang einigermaßen richtig beurteilt. Er schildert Lady Conway als kluge und gelehrte Person, die unter dem Einfluss einer lang anhaltenden Krankheit und einer melancholischen Gemütsverfassung sich zunehmend in Glaubensangelegenheiten von ihrem Tutor, Henry More,61 distanziere und unter dem Einfluss ihres Leibarztes, des bekannten Alchemisten und Kabbalisten Franciscus Mercurius van Helmont (1614–1699), den Quäkern zuwende.62 Auf dem Weg dorthin kann die Lektüre Böhmes als »propädeutisch« erachtet werden.63 Diese Annahme, dass Anne Conway hinter der Censura gleichsam als Auftraggeberin stehe, wird durch den Bericht John Worthingtons (1618–1671) gestützt, der für das Jahr 1668 in Ragley, dem Landsitz der Conways, einiges Interesse an Böhme verzeichnet.64 Worthingtons eigene Haltung gegenüber Böhme bleibt hierbei – milde gesagt – eher reserviert.65

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Richard Ward: The Life of The Learned and Pious Dr. Henry More, Late Fellow of Christ’s College in Cambridge, To which are annex’d Divers of his Useful and Excellent Letters. London 1710, 202. Ebd., 192. Zu Lady Conway und ihrem philosophischen Werk vgl. Sarah Hutton: Anne Conway. A Woman Philosopher. Cambridge 2004; zu ihrem Verhältnis zu More, ebd., 73–93. Vgl. auch Burkhard Dohms Beitrag zu diesem Sammelband. Ward (Anm. 59), 195 f.: »That however her Understanding might be Quick, and Sound in other respects, yet the severe Pains she labour’d under, and the Melancholy Circumstances she was so long in, might more, as I said, dispose her to liking of these Persons […]. The late Baron Van Helmont¸Who for her Health sake, (being a Skilful Physician) liv’d long in her Family, was a Frequenter of the Quakers Meetings […].« Hutton (Anm. 61), 66: »If Lady Conway was attracted by Boehme’s theory of substance and his inward Christianity – further recommended to her by his piety and naivety – it is also possible that Behmensim served as a propaedeutic to Quakerism. The chronology of her interests, as recorded in her letters, certainly suggests this.« John Worthington: Brief an Henry More vom 9. Januar 1668. In: Ders.: The Diary and Correspondence. Hrsg. v. Richard Copley Christie. Bd. II/2. Manchester 1886 (Chetham Society 36), 287 f.: »I believe, you had your ears full of Behmenism at Ragley; for when I was at London, I met with one, who was to buy all Jacob Behmen’s works, to send thither. I wish (thought I) that nobody trouble their heads more than needs about finding what is not to be had there, but is in other books to better purpose, and without such trouble.« Struck irrt, wenn er behauptet: »Worthington […] erlebt an Böhme, den er als einen Hauptvertreter des Stromes der abendländischen Mystik ansieht, eine Innerlichkeit der Religion, die sich dem praktischen Handeln mitteilt und es beseelt, seinem Drängen hinauszukommen über Wortchristentum eine neue Vertiefung gibt […].« Wilhelm Struck: Der Einfluss Jakob Böhmes auf die englische Literatur des 17. Jahrhunderts. Berlin 1936, 153 f. Die angeführten

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Folgen wir dieser These, so erscheint die Haltung Mores gegenüber Böhme in der Tat wenig überraschend; sie fände eine Entsprechung in der aus persönlicher Rücksichtnahme ebenfalls milden, wenn auch entschiedeneren Ablehnung des Quäkertums: he pitied their inward an Melancholick Wandrings; believ’d there was much Seriousness and Simplicity of Life in many of them […]: Which made him very Desirous to bring them, if possible, into a right way; and willing to own, and commend in them, any thing that was truly Simple and Christian; though at the same time, with some Zeal and Vehemence, to tax and reprove the Odd and Wild things they had amongst them. […].66

Direkt im Anschluss hieran illustriert Ward Mores Einstellung zu den Quäkern mit einem längeren Zitat aus Mastix, his letter to a private Friend, in dem besagter Mastix zwar einige unter den Quäkern als »good and sincere-hearted Men« durchgehen lässt, »the Generality of them« aber als »prodigiously Melancholy, and some few perhaps possessed with the Devil« denunziert.67 Gerade Mastix, his letter to a private Friend aber entpuppt sich bei genauerer Prüfung als wenig geeignet zur Stärkung der These, Veränderungen in Lady Conways religiöser Gesinnung seien Anlass einer intensiveren Auseinandersetzung und einer damit einhergehenden Wandlung von Mores Einstellung zu Böhme gewesen. Der Letter aus dem Jahr 1656 wird nämlich durch eine recht eingehende Auseinandersetzung mit Böhme eröffnet, die in der Forschung bis jetzt, soweit ich erkennen kann, unbeachtet geblieben ist: But as for Jacob Behmen I do not see but that he holds firm the Fundamentalls of the Christian Religion, and that his minde was devoutly united to the head of the Church, the crucified Jesus, to whom he breathed out this short ejaculation with much Fervency of spirit upon his deathbed, Thou crucified Lord Jesus, have mercy on me, and take me into thy kingdome. But though I be very well assured of the sanctity of the Man, and look upon him as one that is as

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Belege sagen etwas anderes aus oder verweisen auf Zusammenhänge, die mit Böhme nichts zu tun haben; andere Angaben sind bibliographisch fehlerhaft, ja bisweilen frei erfunden. Ward (Anm. 59), 200. Ebd. – Bei Mastix, his Letter to a private Friend handelt es sich um eine kurze Schrift, die vermutlich ein erstes Mal 1656 im Anhang zu Enthusiasmus triumphatus erscheint. Sie schließt an die beiden Kampfschriften gegen den Alchemisten und Paracelsisten Thomas Vaughan (1621–1666) an, die unter dem Namen Mastix 1650 und 1651 publiziert worden waren und 1656 im selben Anhang wiederabgedruckt werden. Spätere Editionen des Enthuasiasmus triumphatus, diejenige der Collected Works von 1662 sowie die Ausgabe in den Opera omnia von 1679, führen die Mastix-Briefe nicht mehr auf, Grund hierfür dürfte die Härte der Auseinandersetzung mit Vaughan gewesen sein. – Zu Thomas Vaughan vgl. William R. Newman: Gehennical Fire. The Lives of George Starkey. An American Alchemist in the Scientific Revolution. Chicago 22003, 213–222. Zur Auseinandersetzung More–Vaughan vgl. Robert Crocker: Mysticism and Enthusiasm in Henry More. In: More, Tercentenary Studies (Anm. 2), 137–155, hier: 145–147; sowie Frederic P. Burnham: The More-Vaughan Controversy. The Revolt Against Philosophical Enthusiasm. In: Journal of the History of Ideas 35/1 (1974), 33–49; vor allem aber: Daniel Fouke: The Enthusiastical Concerns of Dr. Henry More. Religious meaning and the psychology of delusion. Leiden 1996 (Brill’s studies in intellectual history 71), 50–129.

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much beyond the other two,68 as his boastings of his own person are lesse then theirs who either equalized themselves with, or set themselves above our Saviour, who is God blessed for ever; yet it is to me no argument at all, that whatsoever he writes is from an infallible spirit; But the case seems to stand thus. There being two main wayes whereby our mind is won off to assent to things. viz. The guidance of Reason, or The Strength and vigour of Fancy; and according to the complexion or constitution of the body we being led by this Faculty rather than by that, suppose, by the strength or fulnesse of Fancy rather than the closenesse of reason (neither of which Faculties are so sure guides that we never miscarry under their conduct; in so much that all men, even the very best of them that light upon truth, are to be deemed rather fortunate then wise) Jacob Behmen, I conceive, is to be reckoned in the number of those whose Imaginative facultie has the preheminence above the Rationall; and though he was an holy and good man, his naturall complexion notwithstanding was not destroyed, but retained its property still; and therefore his imagination being very busie about divine things, he could not without a miracle fail of becoming an Enthusiast, and of receiving divine truths upon the account of the strength and vigour of his Phansie: Which being so well quallified with holinesse and sanctity, proved not unsuccessfull in sundry apprehensions, but in others it fared with him after the manner of men, the sagacity of his imagination failing him, as well as the anxietie of reason does others of like integrity with himself. Which things I think very worthy of noting, that no mans writings may be a snare to any ones minde, that none may be puzled in making that true which of it self is certainly false; not yet contemne the hearty and powerfull exhortations of a zealous soul to the indispensable duties of a Christian by any supposed deviations from the truth in speculations that are not so materiall nor indispensable. Nay though something should fall from him in an Enthusiastick Hurricano that seems neither suitable to what he writes elsewhere, nor to some grand Theorie that all men in their wits hitherto have allowed for truth, yet it were to be imputed rather to that pardonable disease that his natural complexion is obnoxious to, than to any diabolicall design in the Writer; which rash and unchristian reproach is, as farre from the truth, if not further, as I conceive, then the credulitie of those that think him in everything infallibly inspired.69

Die Äußerungen entsprechen über weite Strecken denjenigen aus den 70er Jahren, was die Censura als eine erneute Prüfung eines bereits gefassten und auch schon verfassten Urteils erscheinen lässt. Und auch die auffällige Parallele zwischen Mastix und Censura in Bezug auf die Titelwahl dürfte nicht zufällig sein: letter to a private Friend; Epistola privata ad Amicum. Der Befund wird ergänzt durch die beiden anderen Schriften in Mores Werk, die ebenfalls an »V. C.« gerichtet sind: Epistola H. Mori ad V. C. quae Apologiam complectitur pro Cartesio; Ad V. C. Epistola altera, quae brevem Tractatûs theologico-politici confutationem complectitur. Die Vermutung liegt nahe, dass More die Form des öffentlichen Briefes vorzugsweise für seine Kontroversen, den Zusatz ›privat‹ aber für Fragen

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Gemeint sind David George, i. e. Davis Joris (ca. 1501–1556), und – »the other, so near akin to him« – Heinrich Niclaes (ca. 1501–ca. 1580), die More in Enthusiamus Triumphatus hart verurteilt. Henry More: Mastix, his Letter to a private Friend concerning his Reply. In: Ders.: Enthusiasmus Triumphatus, or, a Discourse of the Nature, Causes, Kinds, and Cure, of Enthusiasme; Written by Philophilus Parresiastes, prefixed to Alazonomastix his Observations and Reply: Whereunto is added a Letter of his to a private Friend, wherein certain passages in his Reply are vindicated, and severall matters relating to Enthusiasme more fully cleared. London 1656, 289–319, hier: 294–296 (§§ 2–4).

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wählt, deren Kriterien stärker auf praktische Erbaulichkeit als auf philosophische und theologische Zulässigkeit zielen. Für das Verständnis der späteren Censura ist die zitierte Stelle insofern zentral, als wir in dem einflussreichen70 Enthusiasmus triumphatus doch bedeutende Teile des theoretischen, namentlich humoralpathologischen und psychologischen, Fundaments finden, das in der Censura vorausgesetzt erscheint. So stellt More bereits hier Böhmes christlichen Lebenswandel, ja gar seine »sanctity« heraus, und bereits hier diagnostiziert er Böhmes angebliche Melancholie und zwangsweigerlich damit einhergehende »Fancy«, die ihn zum Enthusiasmus verführe. Die Stelle lässt zudem vermuten, dass More schon früh Durand Hothams (ca. 1617–1691) The Life of Jacob Behmen gelesen hat, das zwei Jahre vor Enthusiasmus triumphatus erschienen war.71 Zwischen der deklarierten Unkenntnis von Böhmes Schriften bei der Erscheinung von Charles Hothams Ad philosphiam teutonicam manductio im Jahre 1648,72 zu der er ein launisches Widmungsgedicht beigesteuert hatte, und dem Jahre 1656 scheint More also zumindest einige Kenntnis bezüglich der Person und dem Werk Böhmes erworben zu haben. Kurz, Mores Einstellung zu Böhme, wie sie in der Censura vorliegt, scheint – zumindest in den erwähnten Punkten – nicht in direktem Zusammenhang mit der religiösen Entwicklung Anne Conways zu stehen. Dass der Brief an ›amicus‹ und nicht an ›amica‹ adressiert ist, darf ebenfalls nicht als unerheblich erachtet werden, trägt More doch einige Jahre zuvor in seinem An Antidote Against Atheisme keine Scheu, Anne Conway klipp und klar als Adressatin zu benennen.73 Noch stutziger muss uns jedoch der Umstand machen, dass in den überlieferten Teilen der umfangreichen Korrespondenz zwischen Anne Conway und Henry More 70

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Vgl. Michael V. DePorte: Nightmares and Hobbyhorses. Swift, Sterne, and Augustan Ideas of Madness. San Marino 1974, 38–41; Clive T. Probyn: Jonathan Swift, the contemporary background. Manchester 1978, 12–14; Fouke (Anm. 67), 5 f. Hier nämlich finden sich die letzten Worte Böhmes praktisch identisch zitiert. Durand Hotham: The Life of Jacob Behmen. London 1656, G1v: »Thou crucify’d Lord Jesus, have mercy on me, and take me into thy Kingdome.« More wird 12 Jahre später dieselbe Aussage Böhmes auf dem Totenbett in seinem fünften Divine Dialogue erneut zitieren; Henry More: Divine Dialogues, Containing sundry Disquisitions & Instructions Concerning the Attributes of God And his Providence In the World. London 1668, V, Sect. 15, 336. – Die Unkenntnis von Böhmes Biographie, die aus der eifrigen Suche Worthingtons (The Diary and Correspondence [Anm. 64], II/2, 292, 302 f. u. 307) nach einer Stelle bezüglich Böhmes Zinnkessel (pewter vessel) gefolgert werden könnte, bezieht sich nicht auf The Life of Jacob Behmen, sondern auf eine Stelle aus der anonymen, wiewohl des Öfteren Hotham attribuierten Kürzestbiographie: The life of one Jacob Boehmen: Who although he were a very meane man, yet wrote the most wonderfull deepe knowledge in naturall and divine things. That any hath been knowne to doe since the apostles times, and yet never read them, or learned them from any other man, as may be seene in that which followeth. Wherein is contained a perfect catalogue of his workes. London 1644, A2r. – Zu den Gebrüdern Hotham und deren Bedeutung für die Verbreitung Böhmes in England vgl. Jones (Anm. 23), 209–211. Das Gedicht sowie Hothams Antwort finden sich wiederabgedruckt bei Hutton (Anm. 3), 169–171. Henry More: An Antidote Against Atheisme, Or An Appeal to the Natural Faculties of the Minde of Man, whether there be not a God. London 1653, ***2: »To the Honourable, the Lady Anne Conway.«

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Böhme praktisch unerwähnt bleibt.74 Mores Aussagen bestehen hier im Wesentlichen in einem für Böhme vorteilhaften Vergleich mit dem ›Homo Novus‹, Heinrich Niclaes, dem Begründer des ›Hauses der Liebe‹ (›Family of Love‹). Diesem gilt Mores ungleich stärkere Abneigung, erkennt er in ihm doch gern den Stammvater der Quäker, ja gar ein Instrument römischer Emissäre: It were too long a buisinesse to give reasons why the Quakers are descended from HN. But I believe they were turned into our Nation here by the Papists, by their priests and Emissaries I mean. For there will not be wanting illuminated elders of that Family in the Roman Church, pretended ones at least, whyle their first Authour HN declares there is no such thing as outward Idolatry. So that the Church of Rome has a fine game to play amongst these as amongst any sect in the world: and an Irish priest foretold their appearing some four or five years before they appeared. But many silly people are brought in in [sic!] their simplicity of their hearts. Honest Jacob is wholesome at the bottome though a philosopher but at randome. But H. N. is a mere whiff and a puffe. I am glad to heare the Quakers are grown so good natured as to endure to sing.75

Bedenken wir die Nähe eines Heinrich Niclaes und der Familisten76 zu David Joris – More spricht in Enthusiasmus Triumphatus von einer »exact likeness«77 –, so entspricht die Einschätzung ziemlich genau derjenigen, die More schon 15 Jahre zuvor vertreten hatte. Sind die biographischen Umstände der Censura intrikat, so sind es die bibliographischen nicht minder. In der Praefatio generalissima zu seinen Opera philosophica gibt More an, er habe die Censura acht Jahre zuvor, also um das Jahr 1670, zuerst auf Englisch verfasst und lasse sie nun in lateinischer Übersetzung

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Nicolsons Ansicht, Böhme habe sowohl auf More als auch auf Conway einen erheblichen Einfluss ausgeübt, wird nicht belegt, bezieht sie sich doch einzig auf die zitierten Briefe Worthingtons; vgl. The Lady Conway Letters. The Correspondence of Anne, Viscountess Conway, Henry More, and their Friends. Hrsg. v. Marjorie Hope Nicolson, überarb. u. erweit. Ausg. hrsg. v. Sarah Hutton. Oxford 1992, 381–383. Henry More: Brief an Lady Conway vom 15. September 1670. In: Ebd., 512. Eine merklich abweichende Version des Briefes findet sich in der Ausgabe von Nicolson, ebd., 306. Vgl. hiermit Henry More: Brief an Elizabeth Foxcroft vom 10. Juni 1669. In: ebd., 297: »And therefore I look upon J[akob] B[öhme] in that he does so expressly acknowledge and professe the catholick orthodox fayth, to be farr the better person and to have more of God in him, and I do not doubt but had more of perfection then H. N., though he so vehemently declared against it, as I conceive also many of our most modern and ancient puritans had though both H. N. and the Quakers so hugely contemne them.« Zu den Familisten vgl. Hutin (Anm. 15), 58–61; Hutin (ebd., 71) betont jedoch, dass von einem direkten Einfluss Böhmes weder auf die Familisten noch auf die Quäker die Rede sein könne. Zur Beziehung der Familisten zu den Joristen vgl. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften. Bd. I. Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Tübingen 1919, 899–902; Friedrich Nippold: Heinrich Niclaes und das Haus der Liebe. In: Zeitschrift für die historische Theologie 32/2 u. 32/4 (1862), 332–402 u. 473–563; Christopher W. Marsh: The Family of Love in English Society, 1550–1630. Cambridge 1994, bes. 18–32. Zur gemeinsamen Rezeption von »H. N.« und Böhme vgl. Alastair Hamilton: Family of Love. Cambridge 1981, 139 f. More, Enthusiasmus (Anm. 69), Sect. XL, 27.

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ein erstes Mal erscheinen.78 Dies wäre mit Sicherheit jedoch nicht geschehen, »wenn er nicht eine so große Verwandtschaft und Ähnlichkeit zwischen der Philosophia Teutonica und der Cabbala Aeto-paedo-melissaea festgestellt hätte, dass bei gleicher Gelegenheit beider Irrtümer widerlegt werden können.«79 Publikationsanlass wäre also die bereits erwähnte Auseinandersetzung mit Knorrs Kabbala denudata,80 genauer die Confutatio derjenigen 15 Propositionen, welche die Fundamenta philosophiae sive Cabbala Aeto-paedo-melissaeae ausmachen. Es sind die nämlichen, die Hinckelmann in seiner Detectio fundamenti übersetzt und gegen Böhme in Anschlag bringt; es sind die nämlichen, die Wachter wortwörtlich Hinckelmann entlehnt und gegen Spinoza einsetzt. Dieser bedenkenswerten Rezeption entspricht im Übrigen der Ort, den More der Censura im Gesamt seiner Opera philosophica gibt: Sie findet sich zwischen die Prüfung der Kabbala und die Spinoza-Kritik eingeschoben. Beide Themenbereiche bilden zusammen einen Block, der sich von den vorausgehenden Schriften absetzt, die den Erweis der Übereinstimmung von Vernunft und göttlicher Offenbarung im Hinblick auf die zeitgenössische Naturwissenschaft zu leisten versuchen. Eben diese Zusammenhänge sind für Mores Werk von höchster Bedeutung, geht es ihm doch seit seinen frühsten Schriften darum, neuplatonische Einheitsvorstellungen in der Tradition eines Pythagoras, Platon und Plotin unter Wahrung eines christlichen Dualismus mit der mosaischen Lehre zu verbinden, wobei deren korrekte Auslegung für More mit der wahren Kabbala identisch ist. Dabei darf weder die Natur spiritualisiert, wie es in der verderbten Kabbala geschieht, noch darf der Spiritus naturalisiert werden, wie es Spinoza tut, noch dürfen Spiritus und Natur derart getrennt werden, wie es Descartes für richtig erachtet. Dieser nämlich denke den Raum durch Materie erfüllt und den Geist somit als ortslos. In seinem Enchiridion metaphysicum81 bezeichnet More Descartes’ Dualismus als

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Dafür, dass ein älteres Manuskript tatsächlich vorgelegen hat, scheint mir einzig die Tatsache zu sprechen, dass More den Text durch zwei Scholien (More, Censura [Anm. 1], 555 u. 561) ergänzt. Diese Scholien sind in den Opera omnia in der Regel spätere Ergänzungen, die ggf. dazu dienen, die Argumentation zu verdeutlichen, hin und wieder auch zu berichtigen. Henry More: Praefatio generalissima, §. 21. In: Ders., Opera omnia (Anm. 1), Bd. II/1, XVII: »Habet hoc igitur peculiare Epistola illa quae Censura Philosophiae Teutonicae complectitur, quòd cùm Anglicè primitùs ante octo ferè annos esset scripta nunc primùm ídque Latinè sit edita. Quod certè neque nunc factum fuisset, nisi quòd tantam affinitatem ac similitudinem inter Philosophiam Teutonicam & Cabbalam Aeto-paedo-melissaeam observâssem, eâdemque operâ utriusq; errores posse refutari.« Die hier genannten Fundamenta erscheinen ein erstes Mal im zweiten Teil des ersten Buches der Kabbala denudata; Kabbala denudata seu doctrina Hebraeorum transcendentalis et metaphysica atque theologica opus antiquissimae philosophiae barbaricae variis speciminibus refertissimum. Sulzbach 1687, 293–312. Henry More: Enchiridion metaphysicum, sive, De rebus incorporeis succincta & luculenta dissertatio. de exsistentia & natura rerum incorporearum in genere: in qua quamplurima mundi phaenomena ad leges Cartesii mechanicas obiter expenduntur illusque philosophiae & aliorum omnino omnium qui mundana phaenomena in causas purè mechanicas solvi posse supponunt vanitas falsitasque detegitur. London 1671, Part I, cap. 27, 350–375. Entspricht: Opera omnia (Anm. 1), Bd. II/1, 307–317.

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»opinio Nullibilistarum«;82 zusammen mit den beiden polar entgegengesetzten Monismen, den »opiniones Holenmerianorum«, bilden sie die Klippen, die der christliche Philosoph zu umschiffen hat.83 Es sind also zwei Anliegen, die in der Censura zusammen kommen. In praktischer Hinsicht steht sie im Zusammenhang von Mores Enthusiasmus-Kritik, die aufgrund der Nähe der Einbildungskraft zum Körper vor einer Verunreinigung des Geistigen durch pathologische Einflüsse warnt. In theoretischer Hinsicht ist die Censura darüber hinaus Element eines breit angelegten apologetischen Systems; es gilt die christlichen Philosophie, die für More die wahre Philosophie schlechthin ist, vor den Irrlehren sowohl eines allgegenwärtigen Geistes, und damit einer Vermengung von Seele und Körper, als auch eines nichtgegenwärtigen Geistes, und damit einer Verbannung des Göttlichen in die Transzendenz, zu bewahren. Ein dritter Zusammenhang eröffnet sich aus denjenigen Paragraphen der Praefatio generalissima,84 in denen More den Inhalt der Opera philosophica nach Hauptfragen klassifiziert. Die erste lautet: »Τὶ ἄνθρωπος; Quid Homo?« Hierunter subsummiert More eine Reihe von Schriften, welche die Bestimmung der Seele als Substanz oder Modus, die seelische Subsistenz und Präexistenz sowie schließlich das körperunabhängige Wirken von Geistern betreffen. Unter den Texten, die der Beantwortung dieser Frage allgemein gewidmet sind, fungieren namentlich De Animae Immortalitate, die Cabbala Philosophica und die Ezechiel-Exegese. Unter die gleiche Rubrik fallen, nun mit besonderen Schwerpunkten, das Enchiridion Metaphysicum (inklusive Appendices), die Fundamenta Cabbalae Aeto-paedo-melissaeae, die Censura, die Epistolae ad Renatum Cartesium sowie schließlich die Epistola prima ad V. C. Dieser Teil des Werkes, der sich mit der Existenz unkörperlicher Dinge beschäftige, werde zwar von der allgemeinen Frage des »Quid homo sit?« vorausgesetzt, antworte jedoch auch auf die beiden folgenden Fragen, nämlich wozu der Mensch nütze,85 sowie was gut und schlecht am Menschen sei.86 Die Scharnierstellung der Censura ist auffällig.

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Eine ausgezeichnete Darstellung von Mores Verhältnis zu Descartes findet sich in Alfred Rupert Hall: Henry More. Magic, Religion and Experiment. Oxford 1990 (Blackwell Science Biographies), 146–167; vgl. auch Alan Gabbey: Henry More and the Limits of Mechanism. In: More. Tercentenary Studies (Anm. 2), 19–35; Douglas Jesseph: Mechanism, skepticism and witchcraft. More and Glanvill on the failures of the Cartesian philosophy. In: Receptions of Descartes. Cartesianism and anti-Cartesianism in early modern Europe. Hrsg. v. Tad M. Schmaltz. London 2005 (Routledge studies in seventeenth century philosophy [8]), 199–217. Zu dieser Konstellation vgl. Eric Achermann: Ordnung im Wirbel. Knorr von Rosenroth als Kompilator und Übersetzer von Thomas Browne, Jean d’Espagnet, Henry More, Gottfried Wilhelm Leibniz und Antoine Le Grand. In: Morgen-Glantz 13 (2003), 205–282, bes. 212–239; eine gekürzte Version des Artikels findet sich in: ›A man very well studied‹. New Contexts for Thomas Browne. Hrsg. v. Richard Todd u. Kathryn Murphy. Leiden 2008 (Intersections 10), 247–272, hier: 250–268. More, Praefatio generalissima (Anm. 79), § 26, XX. Ebd., § 27, XX: »Τίς ἡ χρῆσις αὐτοῦ? […], Cui rei inserviat Homo, ad quidve sit natus?« Ebd., § 28, XX: »τί τὸ ἀγαϑὸν αὐτοῦ καὶ τί τὸ κακὸν αὐτοῦ […]; de humani generis vera Beatitudine & Foelicitate«.

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Sie beantwortet hauptsächlich die erste Frage, spielt aber nichtsdestoweniger in die Beantwortung der übrigen Fragen mit hinein.87 Die mannigfaltigen Verbindungen, die More zwischen der Censura und seinen übrigen Schriften herstellt, finden ihre Entsprechung in den fünf von »V. C.« gestellten Fragen, welche die Argumentation der Censura artikulieren: Ob Jakob Böhme unfehlbar inspiriert gewesen sei? Das ist die erste unter den Fragen, die Du mir zu lösen aufgegeben hast. Und vorausgesetzt er war es nicht, so stellt sich die zweite Frage: Ob er nicht von einer manischen Raserei befallen gewesen sei? Und welches der Grund sei, dass er sich selbst und andere ihn für inspiriert gehalten haben? Die dritte: Welcher Umstand könnte die hauptsächlichsten seiner besonderen Irrtümer verantworten? Die vierte: Welche zu gebärenden [?] Dinge aller Wahrscheinlichkeit nach in den Irrtümern seines Geistes sind? – Das heißt: Wohin würden die enthusiastischen Leidenschaften und Gärungen seines Geistes führen, wenn er sich gesund sowie in einem klareren und deutlicherem Lichte offenbaren würde? Die fünfte und letzte: Wie kann es mit der göttlichen Vorsehung, mit deren Güte und Vollkommenheit übereinzukommen scheinen, eine so unschuldige und christliche Seele in so viele und offensichtliche Irrtümer zu verführen und diese wiederum mit dem größten aller dieser Irrtümer zu verbinden, sich für unfehlbar inspiriert zu halten?88

Die Untersuchung der Unfehlbarkeit, der humoralpathologischen Veranlagung, besonderer Fehlerquellen und möglicher Erkenntnisse sowie schließlich der göttlichen Vorsehung setzen voraus, dass vorgängig die hauptsächlichen Irrtümer Böhmes festgehalten werden. Die Liste, die More zum Erweis von Böhmes Fallibilität liefert, ist beeindruckend und umfasst 30 »sectiones«:89 Von den göttlichen Sphären bis in die tiefsten materiellen Niederungen kettet More insomniae an errores crassi; diese betreffen die Kenntnis des Kosmos, die Berechnung des Milleniums, die Auslegung der Heiligen Schrift, die Herleitung der Natursprache aus der lingua vernacula, die Lehre von den Quellgeistern etc. Diese Sektionen

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Dass die anti-spinozistischen Schriften in Bezug auf die zweite Frage angeführt werden, mag überraschen, handele es sich dabei doch um »Demonstrationen und Illustrationen der göttlichen Essenz und Existenz« (ebd., § 30, XX). Der direkt daran anschließende Verweis auf die göttliche Vorsehung macht jedoch klar, dass Spinozas Ablehnung finalursächlicher Begründungen im Tractatus theologico-politicus sowie einer autonomen und übergeordneten göttlichen Intelligenz in der Ethica auf deren ethische Konsequenzen hin betrachtet werden. More, Censura (Anm. 1), Qu. I, Sect. 3, 536: »An revera & infallibiter inspiratus esset, prima est quastionum, quas mihi solvendas proposuisti./ Et, si ita infallibiliter inspiratus non erat, secunda Quaestio est, An Maniacâ aliquâ intemperie affectus non esset, & Quid esset in causa cur aut ipse se aut alii ipsum inspiratum putarent?/ Tertia, Quaenam esse possit occassio praecipuorum ejus errorum particularium?/ Quarta, Quasnam verisimillimum sit Animi sui in his Erroribus fuisse Parturientias [sic!], hoc est, Ad quid tenderent Enthusiastici isti aestus & fermentationes Animae illius, si erumpere valuisset in magìs claram distinctámq; lucem?/ Quinta & ultima, Quàm consistens videri possit cum Divina Providentia, cum bonitate & perfectione illius, tam innocuam permittere & Christianam Animam in tam multos ac manifestos errores seduci, eósq; conjunctos interim cum maxime omnîum errore, Quòd putavit se infallibiter inspiratum?« Ebd., Qu. I, Sect. 5–35, 537–540.

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werden anschließend bei der Behandlung der dritten und vierten Frage zur einfacheren Orientierung jeweils am Rande vermerkt und der Reihe nach erörtert. In dogmatischer Hinsicht, das heißt was die spekulativen Inhalte der Böhme’schen Schriften betrifft, sind es vor allem zwei Aspekte, denen More besonderes Gewicht verleiht: Pneumatologie und Schöpfungslehre. Hier nämlich werde ganz offensichtlich, dass Böhme auch in den großen Mysterien der Inspiration ermangele, behaupte er doch, Gott sei teilbar und also körperlich, ja, Gott sei in den Tieren, den Würmern, dem Himmel und der Erde.90 Gerade diese Teilbarkeit – »discerpibilitas« in Mores eigener Diktion – geistiger Substanz ist es aber, die More als Hauptkriterium zur Bestimmung materialistischer Irrlehren dient. In kritischer Distanz zu Descartes’ Reduktion materieller Eigenschaften auf bloße Ausdehnung91 bestimmen Teilbarkeit und Durchdringbarkeit nämlich die Differenz von Materie und Geist: T[he] greatest and grossest Obstacle to the belief of the Immortality of the Soul, is that confident opinion in some, as if the very notion of a Spirit were a piece of Non-sense and perfect Incongruity in the conception thereof. […] I will define therefore a Spirit in generall thus, A substance penetrable and indiscerpible. The fitness of which Definition will be the better understood, if we divide Substance in generall into these first kindes, viz. Body and Spirit, and then define Body to be A Substance impenetrable and discerpible. Whence the contrary kind to this is fitly defined, A Substance penetrable and indiscerpible.92

Aus der Sicht Mores zielt die Kritik an Böhme nicht etwa auf eine Nebensächlichkeit, noch ist sie sonderlich zurückhaltend, denn Böhme behaupte diese Irrlehre oft93 und darüber hinaus nur allzu deutlich.94 Die dritte und vierte Frage behandeln die entsprechenden Sektionen denn auch besonders sorgfältig,95 indem zum einen die Fehler umständlich erläutert, zum anderen die verborgenen Wahrheiten, vorausgesetzt sie lassen sich finden, durch klare und richtige Formulierungen ans Licht befördert werden. Diese dürfen nichts anderes zum Ausdruck bringen als eine klare Trennung zwischen dem zentralen Bereich der Gottheit und den ex90 91

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Ebd., Qu. I, Sect. 11 u. 12, 538. René Descartes: Les Principes de la philosophie (1644/47), II, 4, (AT IX, II, 65). In: Ders.: Œuvres philosophiques. Hrsg. v. Ferdinand Alquié, Bd. III. 1643–1650. Paris 1989, 149. – Zu den verschiedenen Substanzbegriffen vgl. Roger S. Woolhouse: Descartes, Spinoza, Leibniz. The Concept of Substance in Seventeenth Century Metaphysics. London 1993, zu Mores Kritik an Descartes, beo. 80 f. Henry More: Immortality of the Soul (1659), I, 3. In: Ders.: A Collection of Several Philosophical Writings. London 1662, 21. More, Censura (Anm. 1), Qu. I, Sect. 11, 538: »[Deus], quem frequenter facit discerpibilem & corporeum.« Ebd., § 12: »Potéstne quicquam Deum magìs discerpibilem ac corporeum describere quàm haec loca Autoris?« [Könnte etwas Gott teilbarer und körperlicher beschreiben als diese Stelle des Autors?] Gemeint ist: Jacob Böhme: Morgen-R=te im Aufgangk (1612/1634/1656), Kap. 22. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997, 407f: »wo ihr nun auß euren vorigen Schrifften könnet […] beweisen/ das nicht in Sternen/ Elementen, Erden/ Steinen/ Menschen/ Thieren/ Würmen/ in Laub/ Kraut und Graß/ in Himmel und Erden Gott sey/ und daß dieses alles nicht Gott selber sey/ und daß mein geist falsch sey/ so will ich der ersten sein/ und mein Buch im feuer verbrennen […].« More, Censura (Anm. 1), Qu. III, Sect. 14–15, 544 f. sowie Qu. IV, Sect. 23–24, 551.

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ternen Bereichen der Körperwelt, zwischen der »Sphaera purae Divinitatis« und dem »Abyssum Physicarum Monadum«, was wiederum ein richtiges Verständnis der Teilhabe des »Spiritus Hominum atque Angelorum« am Reich Gottes, und zwar in einem neuplatonischen Sinne,96 voraussetze. More schreibt also Teile der böhmischen Lehre nach Maßgabe seiner eigenen Pneumatologie um. Nicht anders verfährt er bezüglich Böhmes Elementar- und Natursprachenlehre, die er beide in seinem Sinne korrigiert zu sehen wünscht. So verwirft er Böhmes Tafel »der sieben Gestalten oder Geister« aus der Clavis97 zugunsten eines sechsgliedrigen Modells, aus dem er die aus seiner Sicht skandalöse Mittelstellung der Sonne zwischen Gott und Teufel eliminiert, zwei wohlgeschiedene Ternare, eine »Trinitas purae Divinitatis« und eine »Trinitas Universalis Naturae«, an deren Stelle setzt und diesen die jeweiligen Elemente zuordnet.98 Es mag nicht überraschen, dass der Versuch, aus Böhmes christlicher Alchemie eine Art christlicher Kabbala zu schustern, nicht nur zu Poirets erwähnter Kritik, sondern auch zu Jägers weitaus deutlicherer Verurteilung führt: »Die Torheit Mores ist hier nicht geringer als diejenige Böhmes«.99 Der Grund für diese als krass beurteilten Irrtümer im Bereich der Naturphilosophie und deren Verhältnis zur wahren Theologie liege in Böhmes Verachtung der mosaischen Schriften, die er wiederholt, namentlich in Ansehung der wahren Kenntnis Gottes und der Sterne, als nachträglich und irrig bezeichne:100 Wer jedoch die Kabbala versteht, der versteht auch, dass diese Schrift den teuren Mann Moses als den hochgelehrtesten Philosophen zeigt, der je auf Erden gelebt, und dass der Autor dieser Schriften hinreichend präzise Gottes und der Sterne Wesen verstanden hat.101

Böhme verwechsle nämlich wiederholt Rinde und Mark der wahren mosaischen Kabbala, die selbst nichts anderes als die wahre Philosophie sei.102 Es ist denn 96

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More verweist hier (Qu. IV, Sect. 8, 548) namentlich auf Plotin, wobei er den schwarzen Daimon (δαίμων μέλας) durch den schwarzen Drachen (μέλας δράκων) ersetzt sehen möchte. Zur Bedeutung Plotins und des Renaissance-Platonismus für die Philosophie Mores vgl. Crocker (Anm. 67), 141 u. 143. Jakob Böhme: Clavis oder Schlüssel, das ist, Eine Erklärung der vornehmsten Puncten und Wörter, welche in diesen Schriften gebrauchet werden (1624), XX. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Repr. der Ausgabe von 1730. Hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Bd. 9. Stuttgart 1956, ad 109. More, Censura (Anm. 1), Qu. IV, Sect. 1–19, 546–550. Vgl. hierzu Huton (Anm. 3), 163 f. Jäger, Judicium Nostrum zur fünften Frage, Disputatio (Anm. 7), 23; Examen (Anm. 9), 435: »Stultitia hic non minor est Mori, quam Böhmii«. More, Censura (Anm. 1), Qu. I, Sect. 9, 537. – More dürfte sich hier auf einige Stellen aus der Aurora beziehen, vgl. Böhme, Morgen-R=te im Aufgangk (Anm. 94), XVIII, 311 f.; XX, 359; XII, 405, hauptsächlich jedoch XX, 359: »Diese Beschreibung [Gen 1,6–8] zeiget abermahl an/ daß nicht der theure Mann Moses der Author dazu sey/ dan es ist gantz unverständig und einfältig geschrieben/ wiewol es doch gar trefflichen Verstand hat.« More, Censura (Anm. 1), Qu. III, Sect. 12, 544: »Qui verò Cabbalam intelligunt, intelligunt paritum istud scriptum ostendere dilectum hominem Mosen sapientissimum fuisse Philosophum qui unquam extiterit in Orbe terrarum; illiùsq, scripti Autorem satìs accuratè intellexisse Stellarum naturam ac Dei.« Ebd., Qu. III, Sect. 12, 544: »Error enim Fundamentalis hic est, quòd nesciret ritè distinguere inter Corticem Mosaicae Cabbalae & Medullam, sive Mysterium, in

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auch diese Philosophie, der More seinen wohl bedeutendsten Versuch in christlicher Kabbalistik gewidmet hat, seine Conjectura Cabbalistica, die im Wesentlichen in einer dreifachen Auslegung des ersten Buches Moses besteht. Auf die Fragen, wieso er seine Untersuchung als Kabbala bezeichne, wer ihm diese eingegeben und welche Beweggründe er habe, antwortet More in seiner Vorrede: To the first I answer; That the Jewish Cabbala is conceived to be a Traditional Doctrine or Exposition of the Pentateuch which Moses received from the mouth of God, while he was on the Mount with him. And this sense or interpretation of the Law or Pentateuch, as it is a doctrine received by Moses first, and then from him by Joshua, and from Joshua by the seventy Elders, and soon, it was called Cabbala from […] kibbel to receive: But as it was delivered as well as received, it was also called Massora, which signifies a Tradition; though this latter more properly respects that Critical and Grammatical skill of the Learned among the Jews, and therefore was profitable for the explaining the literal sense as well as that more mysterious meaning of the Text where it was intended. Whence without any boldnesse or abuse of the word I may call the Literal interpretation which I have light upon Cabbala, as well as the Philosophical or Moral; the literal sense it self being not so plain and determinate, but that it may seem to require some Traditional Doctrine or Exposition to settle it, as well as those other senses that are more mystical. And therefore I thought fit to call this threefold interpretation that I have hit upon, Cabbala’s as if I had indeed light upon the true Cabbala of Moses in all the three senses of the Text, such as might have become his own mouth to have uttered for the instruction of a willing and well prepared Disciple. And therefore for the greater comelinesse and solemnity of the matter, I bring in Moses speaking his own minde in all the three several Expositions.103

Es ist also diese »threefold« Interpretation – »viz. Literal, Philosophical, Mystical, or Divinely Moral« – des ersten Buches Mose, die More als Maßstab an die Böhme’sche Schöpfungs- und Natursprachenlehre anlegt, indem er die eigene Auffassung hinsichtlich der Trinität, des Verhältnisses der Einzelseele zur göttlichen Sphäre, der Lichtemanation, der Seelenwanderung, des kopernikanischen Weltbildes, des Nichts etc. bei der Beantwortung der vierten Frage an die Stelle defizienter Äußerungen setzt. Dass Mores Verständnis von Kabbala dabei wenig bis gar nichts mit der eigentlichen Kabbala zu tun hat, wurde verschiedentlich und zu Recht herausgestellt.104 Zu seiner Verteidigung muss gesagt werden, dass es ihm weder um ein Verständnis der lurianischen Kabbala – die er im Wesentlichen verwerfen wird –, noch um eine philologische Untersuchung der mosaischen Schriften geht, sondern um die Wiederherstellung von Moses’ Absicht und tieferer Erkenntnis. Die Philosophie, die hier zum Ausdruck kommt, verdankt sich weder Tradition noch übernatürlicher Inspiration, sondern beruht auf der Arbeit der Vernunft, durch welche der Mensch am Göttlichen partizipiert:

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quo vera consistit Philosophia.« [Der fundamentale Irrtum ist nämlich der, dass er nicht recht zu unterscheiden weiß zwischen der Rinde der mosaischen Kabbala und dem Mark, das heißt dem Mysterium, aus welchem die wahre Philosophia besteht.] Henry More: Conjectura Cabbalistica, or, A Conjectural Essay of Interpreting the minde of Moses, according ot a Threefold Cabbala: viz. Literal, Philosophical, Mystical, or, Divinely Moral. London 1653, The Preface to the Reader, [A6v–A7r]. Vgl. David S. Katz: Henry More and the Jews. In: More, Tercentenary Studies (Anm. 2), 173–188, bes. 178–182; Schmidt-Biggemann (Anm. 33), 286 f.

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To your second demand, I answer; That though I call this Interpretation of mine Cabbala, yet I must confesse I received it neither from Man nor Angel. Nor came it to me by divine Inspiration, unless you will be so wise as to call the seasonable suggestions of that divine Life and Sense that vigorously resides in the Rational Spirit of free and well meaning Christians, by the name of Inspiration. But such Inspiration as this is no distracter from, but an accomplisher and an enlarger of humane faculties. And I may adde, that this is the great mystery of Christianity, that we are called to partake of, viz. The perfection of the humane nature by participation of the divine.105

So ist denn auch die Interpretation der Genesis nicht die Rekonstruktion des primitiven Sinns einer Natursprache, die dem Wiedergeborenen als Privileg verständlich werde, sondern die Auslegung einer konventionellen Sprache (»ex pacto«).106 Nicht die Sinnlichkeit führt zu Erkenntnis, sondern »Intellect, Reason, and Fancie«; wer auf die Vernunft verzichte, der sei ein »Melancholiker« und »blinder Enthusiast«, jemand der passiv empfange und damit für alle Eindrücke »promiscuously« offen sei.107 Dass Böhme nicht unfehlbar inspiriert gewesen sei, sondern vielmehr »zumal in Sachen philosophischer Spekulation«108 ein Enthusiast, zu diesem Schluss gelangt More aufgrund der Häufigkeit und des Gewichts der Irrtümer. Damit ist denn auch das Urteil gefällt, das kurz und knapp die zweite Frage beantwortet und uns erneut zurückverweist zu einem weiteren wichtigen Teil von Mores Werk, den apologetischen Abhandlungen der 50er Jahre. Die Originalität dieser Schriften liegt in dem medizinischen Blick, den sie auf die Hauptkrankheiten der eigenen Zeit werfen: Gottlosigkeit und Schwärmertum. In An Antidote against Atheisme aus dem Jahre 1653 sowie dem erwähnten Enthusiasmus Triumphatus, den er 1656 komplementär dazu ediert,109 werden die Krankheit diagnostiziert und Gegengifte benannt. Kurz, der Schwärmer ist im Wesentlichen Produkt einer humoralpathologischen Fehldisposition,110 die einen allzu großen Einfluss der Säfte auf den Geist, namentlich der Einbildungskraft verrät. In seinem Enthusiasmus Triumphatus spricht More gar von melancholischer »Flatulenz«, die nach dem Prinzip des Druckausgleiches die zufällige Hitze in beredte Erfindungen verwandelt: 105 106

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More, Conjectura (Anm. 103), The Preface to the Reader, [A7v]. More, Censura (Anm. 1), Qu. III, Sect. 13, 544. More greift diesen Punkt im fünften seiner Divine Dialogues wieder auf, in welchem die Gesprächsteilnehmer sich über die Böhm’schen Etymologien lustig machen und dabei die Frage nach der natürlichen oder konventionellen Institution (»φύσει or νόμῳ«, Sect. XVI, 338), der eigentlichen Ursprache (ebd., 338 f.) sowie der Kenntnis der Alten der mosaischen Weisheit stellen (341). More, Conjectura (Anm. 103), The Preface to the Reader, [A7v]. More, Censura (Anm. 1), Qu. II, Sect. 1, 540: »in rebus putà speculationis Philosophicae«. More, Mastix (Anm. 69), § 1, 293 f.: »That you wish they [die Briefe gegen Vaughan] were as effectuall an Antidote against Enthusiasme, as That other is against Atheisme, it does imply that you think they are not; […]. But Parresiastes [ein weiterer ›nom de plume‹ Mores] will prefix a Treatise [den Enthusiasmus Triumphatus] concerning the Nature, Causes, Kindes, and Cure of Enthusiasme, that in my judgement will strike home to the purpose, so that mingling all together they may happily prove as sovereign a Medicine against Enthusiasme as you conceive that other to be against Atheisme.« Fouke (Anm. 67), 167–169.

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The Spirit then that wings the Enthusiast in such a wonderful manner, is nothing else but that Flatulency which is in the Melancholy complexion, and rises out of the Hypochondriacal humour upon some occasional heat, as Winde out of an Aeolipila applied to the fire. Which fume mounting into the Head, being first actuated and spirited and somewhat refined by the warmth of the Heart, fills the Mind with variety of Imaginations, and so quickens and inlarges Invention, that it makes the Enthusiast to admiration fluent and eloquent, he being as it were drunk with new wine drawn from that Cellar of his own that lies in the lowest region of his Body, though he be not aware of it, but takes it to be pure Nectar, and those waters of life that spring from above.111

Ganz in der Tradition der bis auf (Ps-)Aristoteles’ Problemata112 zurückreichenden Behandlung der Melancholie unternimmt More eine Anamnese der sektiererischen Epidemien seiner Zeit. Dass Böhme dabei ganz dem Typus des Melancholikers entspricht, daran zweifelt weder der More des Jahres 1656 noch derjenigen des Jahres 1679.113 Hält er aber sowohl in Mastix, his letter to a private Friend als auch in der Censura den Enthusiasmus Böhmes für erwiesen, so leugnet er nichtsdestoweniger explizit einen diabolischen Einfluss.114 Böhmes Herz nämlich sei »rechtschaffen und ehrlich«.115 So lässt sich auch Mores Einschätzung, dass Böhme nicht manisch sei,116 damit erklären, dass die angeblichen Inspirationen und Prophetien Böhmes nur auf momentane Anfälle exzessiver Hitze zurückzuführen sind, die bei einer solch ängstlichen, sorgenvollen und zur Meditation neigenden Veranlagung mit höchster Wahrscheinlichkeit auftreten müssen, »da sein natürliches Temperament ihn zum Irrtum verleite.«117 Und so überrascht es auch hier nicht, mit welcher Heftigkeit Jäger in diesem Punkte More widerspricht und sich in eine längere Erörterung des Verhältnisses von Manie, Phrenesie und Melancholie ergeht und Mores Behauptung, Böhme sei keineswegs vom Teufel besessen, nachdrücklich in Abrede stellt.118 Das ungleich mildere, wenn auch angesichts der Prominenz der Enthusiasmus-Kritik im Werk des Cambridger Professors durchaus bedenkliche Urteil zu Böhmes natürlicher Veranlagung legt die Frage nahe, wie Böhme selbst sowie seine zahlreichen 111 112 113 114

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More, Enthusiasmus Triumphatus, or, A Brief Discourse of the Nature, Causes, Kinds, and Cure of Enthusiasm, Sect. XVII. In: Collection (Anm. 92), 12. Aristoteles: Problemata physica. Übers. von Hellmut Flashar. In: Ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Hrsg. v. Ernst Grumach. Bd. 19. Berlin 1962, hier: XXX, 953a10–955a38. Vgl. More, Censura (Anm. 1), Qu. I, Sect. 10, 537: »effraenis Imaginatio Melancholica« [zügellose melancholische Einbildung]. Ebd., Praefatio, 532: »Quem [Böhme], ut spero, abunde jam, Lector, persuasus es, Spiritu Diabolico nequaquam fuisse.« [Wie ich hoffe, bist Du, Leser, bereits zur Genüge davon überzeugt, dass er keineswegs von diabolischem Geist war.] Wiederholt betont More auch in seinem Enthusiasmus Triumphatus, dass er es nicht als seine Aufgabe erachte, den Enthusiasmus auf ggf. diabolische Einflüsse zurückzuführen. Dies ganz im Gegensatz zu Jäger, der Krankheit, Laster und Teufel in einem engen Zusammenhang sieht. Ebd., Qu. II, Sect. 5, 541: »J. B. cor habuisse bene probum ac sincerum«. Ebd., Sect. 1, 540: »si inspiratus non esset, ut eum continuò Maniacum concludamus, nullam video necessitatem.« [(A)uch wenn er nicht inspiriert war, so erkenne ich deshalb keine Notwendigkeit, dass wir daraus schließen, er sei ununterbrochen manisch gewesen.] Ebd., Sect. 7, 541: »Temperamento etiam ejus naturali eum in errorem illum impelllente.« Jäger, Judicium nostrum zu zweiten Frage, Disputatio (Anm. 7), 11 f.; Examen (Anm. 9), 415 f.

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Anhänger diese offensichtlichen Irrtümer für wahre Inspirationen halten konnten und können. Die Antwort liefert wiederum die Humoralpathologie: Bekanntlich zeichnet sich der melancholische Enthusiast im Allgemeinen durch eine außergewöhnliche Beredsamkeit und dichterische Befähigung aus;119 bei Böhme kommen im Besonderen noch die Einfalt des Gemüts, die Bescheidenheit seiner Glücksumstände sowie die offensichtliche Aufrichtigkeit hinzu, die allesamt auch fromme Christen zum Glauben verführen können, Böhme sei unfehlbar inspiriert. Im Gegensatz zu einem David Joris und einem Heinrich Niclaes, Mores liebsten Zielscheiben, sei Böhme nämlich frei von Stolz sowie sektiererischen und umstürzlerischen Absichten. Dem Typus des »political Enthusiast«120 aber gilt Mores heftigste Abneigung, gefährde er doch den Erhalt der politischen Ordnung und des Religionsfriedens. Bei all dem Übel, das durch Enthusiasmus verursacht wird, stellt sich für More letztlich die Frage, wie ein Böhme, dessen gute Absichten und Frömmigkeit so offensichtlich zutage treten, als Instrument der göttlichen Vorsehung gedacht werden kann; oder härter gefragt: »Wozu ein Mensch, der ein so gutes Herz hat, ein so schwaches Hirn habe?«121 Kann auch ein rechtschaffener Mann unbeabsichtigt von Krankheit befallen werden, so besteht der eigentliche Fehler Böhmes darin, dass er die pathologischen Zufälle für göttliche Geschenke und Illuminationen gehalten habe.122 Gerade dort nämlich, wo er auf seine eigene Inspiration verweise, sei er von der Wahrheit am weitesten entfernt.123 Später aber gelange das kindliche Gemüt zur Vernunft, die »zu einer reineren und geistigeren Gottheit vorgedrungen« sei.124 Diese reiferen Wahrheiten, folgen wir der Conclusio, sind hauptsächlich moralischer Art; es sind die »philadelphischen« Ideale der Gottes- und Nächstenliebe, die im einfachen und vernünftigen Wort ihren Ausdruck finden.125 Böhme erscheint so als ein Instrument der Vorsehung, indem er den Weg zur Erkenntnis als einer allmählichen Progression deutlich mache. Das Motto auf dem Titelblatt, das More Euripides’ Hippolytos entnimmt,126 »Αἱ δεύτεραι φροντίδες σοφώτεραι«, »die zweiten Gedanken sind die weiseren«, kann also nicht nur als Eingeständnis eines revidierten Urteils hinsichtlich des zu zensierenden Böhme verstanden werden, sondern auch als ironische Anspielung 119

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More, Enthusiasmus (Anm. 111), Sect. XX, 14: »From this Complexion [i. e. sanguine and melancholy] are Poets, and the more highly-pretending Enthusiast: Betwixt whom this is the great difference, That a Poet is an Enthuasiast in jest, and an Enthusiast is a Poet in good earnest; Melancholy prevailing so much with him, that he takes his no better then Poeticall fits and figments for divine Inspiration and reall Truth.«; sowie ebd. Sect. XXIV, 18: »Melancholy, as well as Wine, makes a man Rhetorical or Poetical; and that Genius how fanciful it is, and full of Allusions and Metaphors and fine resemblances, every one knows.« Ebd., Sect. XXXII, 22. More, Censura (Anm. 1), Qu. V, Sect. 2: »cur homo qui tam sincerum cor habuit, tàm imbecillum haberet cerebrum.« Ebd., Qu. V, Sect. 2, 556. Ebd., Conclusio, Sect. 19, 560. Ebd., Qu. V, Sect. 3, 556: »Postea verò intellectus ejus ad magìs puram ac spiritualem Deitatem penetravit«. Ebd., Conclusio, Sect. 12 u. 14, 559 f. Euripides: Hyppolitus, V. 437 (es spricht die Amme).

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auf eine posteriore Erkenntnis127 in Opposition zu einer ursprünglichen, etwa mosaischen Offenbarung und schließlich als ernstgemeinte Empfehlung, Einsicht reifen zu lassen. More nämlich misstraut, wie wir gesehen haben, den gewalttätigen »hurricanos« der Einbildungskraft und stellt ihnen die ruhige und kontinuierliche Verbesserung der Erkenntnis entgegen. Die Perfektibilität des Menschen liegt in seiner zunehmenden Reinigung von äußeren, das heißt körperlichen Einflüssen, der zunehmenden Erleuchtung durch das wahre göttliche Licht, das von dem diabolischen Feuer der Körperwelt zu unterscheiden ist. Von einem solchen »Progress« habe Böhme Zeugnis abgelegt. Und so schließt More den Hauptteil seiner Abhandlung mit der etwas überraschenden Behauptung: So offensichtlich ist es in jeder Hinsicht, dass diese Erscheinung, welche Jakob Böhme war, eher ein Edelstein als ein Schandfleck in der göttlichen Vorsehung gewesen ist, obgleich er in Bezug auf seine Inspiration völlig im Irrtum lag.128

3. Böhme, More, Newton und Leibniz Mores Zurückhaltung, ja Aversion hinsichtlich der Verfolgung Andersdenkender ist bekannt.129 Dennoch hält er es für seine selbstverständliche Pflicht, die Leser vor falschen Propheten und Philosophen zu warnen.130 So lautet denn das Urteil, das die Censura fällt, auf zahlreiche krasse Irrtümer. Durch melancholische Veranlagung prädisponiert und durch gefährliche Lektüre verführt, werde der Görlitzer Schuster von Einbildungen beherrscht, welche – dies gelte es einzugestehen – hin und wieder »durch Vorsehung oder blindes Schicksal nicht allzu weit am Ziel vorbeischießen.«131

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Cicero: Die politischen Reden. Hrsg., übers. und komm. v. Manfred Fuhrmann. Bd. 3. Darmstadt 1993 (Philippicae, 12, 5): »Posteriores enim cogitationes, ut aiunt, sapientiores solent esse« [›Die späteren Gedanken pflegen nämlich, wie man sagt, die weiseren zu sein‹]. More, Censura (Anm. 1), Qu. V., Sect. 12, 557: »Tam manifestum est undiquaque, tale Phaenomenon, qualis erat Jacobus Behmen, Gemmam potìus fuisse quàm Maculam in Divina Providentia, quamvìs quantùm ad opinionem de sua Inspiratione planè esset deceptus.« Zu Mores Latitudinarismus vgl. Robert Crocker: Henry More. A Biographical Essay. In: More. Trecentenary Studies (Anm. 2), 1–17, hier: 7. Zu Mores eigener Einschätzung seines Latitudinarismus vgl. die interessante Stelle aus seinem Brief an Knorr von Rosenroth, den Coudert wiedergibt; Allison Coudert: The Impact of the Kabbalah in the Seventeenth Century. The Life and thought of Francis Mercury van Helmont (1614–1698). Leiden 1999 (Brill’s series in Jewish studies 9), 226. More, Enthusiasmus (Anm. 111), To the Reader, A6r: »I hope it is not your designe, I am sure it is not mine, to incense the mindes of any against Enthusiasts as to persecute them: all that I aim at, is onely this, that non man may follow them.« More: Censura (Anm. 1), Conclusio, Sect. 19, 560: »in quibus observari potest mira quaedam & inopinata, aut Providentia aut Fortunium, quòd in hisce suis aestibus Enthusiasticis longiùs non aberraverit à Scopo.« [(W)orin Staunenswertes und Unvermutetes gefunden werden kann, das in seinen enthusiastischen Erhitzungen, sei es durch Vorsehung oder blindes Schicksal, nicht allzu weit am Ziel vorbeischießt.]

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Namentlich Paracelsus (1493–1541),132 so vermutet More, habe den »aestus Enthusiastici« dieses melancholischen Kochtopfs wohl reichlich Nahrung gegeben: Und wegen der Ähnlichkeit und Übereinstimmung von deren Einbildung, so zweifele ich gar nicht, dass er die Werke des Paracelsus gewälzt hat. Sodass er genügend Stoff hineingeworfen, der in seinem Hirn kocht und gärt.133

Die Erwähnung Paracelsus’ komplettiert das Bild einer breiten Front, die More mit anderen seiner Zeitgenossen gegen Schwärmer, Separatisten und Atheisten eröffnet. Sein Anliegen bleibt der Entwurf einer christlichen Philosophie in Übereinstimmung mit den Symbolen seiner Kirche, und dies als Antwort auf Zerfallserscheinungen religiöser und staatlicher Ordnung. Als Gegner der wahren Religion erachtet er hauptsächlich Materialisten, gleichviel ob diese im Gewand einer rinascimentalen Naturphilosophie,134 eines cartesianischen Mechanizismus, eines spinozistischen Pantheismus oder eines vernünftelnden Sadduzäismus daherkommen. Den Weg zu der notwendigen Übereinstimmung von theologischer und philosophischer Wahrheit in den tiefsten Geheimnissen der Schöpfung wird ihm – ganz wie den anderen sogenannten Cambridger Neuplatonisten – durch das Licht der Vernunft als »Leuchte des Herrn« (Spr 20,27) gewiesen.135 Wo aber erhellende Vernunft den Weg zu wahrer Religion weist, muss die Strahlkraft der Offenbarung von neuem bestimmt werden. Seit den 50er Jahren bezieht More konsequent Position für eine umfassende mosaische Offenbarung der gesamten Naturlehre, aus der erst anschließend die allfälligen pythagoreischen, platonischen und hermetischen Wahrheiten geflossen seien. Diese ›prisca theologia‹ ist im höchsten Sinne vernünftig und für den Vernünftigen erschließbar; sie ist ›philosophia‹:

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Ebd., Qu. III, Sect. 7, 543: »valde equidem suspicor, Paracelsi Scripta inter alia occasionem dedisse hisce Imaginationibus.« [(I)ch habe freilich den schweren Verdacht, dass unter anderem Paracelsus’ Schriften den Anlass zu diesen Einbildungen gegeben haben.] Ebd., Qu. II, Sect. 10: »Et propter similitudinem & congruentiam Imaginationis ipsorum, nullus dubito quin Paracelsi opera evolverit. Adeò ut sat Materiae ingesserit, quae bulliret & fermentesceret in Cerebro ejus.« Vgl hierzu Divine Dialogues (V, Sect. 18, 349 f.), wobei einer der Dialogpartner (Bathynous, der Tiefschürfende) Böhme nicht nur zum Leser Paracelsus’, sondern zudem auch noch Hendrik Niclaes’ macht: »Both which being Enthusiasticall Authours fired his Melancholy into the like Enthusiastick elevations of spirit, and produced a Philosophy in which we all-over discover the foot-steps of Paracelsianism and Familism, Love and Wrath, Sulphur and Sal-niter, Chymistry and Astrology being scattered through all.« Zur Bedeutung des rinascimentalen Materialismus für die Vaughan-More-Debatte vgl. John Henry: A Cambridge Platonist’s Materialism. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 49 (1986), 172–195, hier: 179–182. Die Stärke der Vernunft, die Trübung des Lichtes, der Ursprung des Bösen, all diese Themen behandelt Culverwell in einem der wohl charakteristischsten Texte des Cambridger Neuplatonismus; Nathanael Culverwell: Elegant and Learned Discourse of the Light of Nature (1652). Hrsg. v. Robert A. Greene u. Hugh MacCallum. Toronto 1971, passim, für unseren Kontext aber insbes. die Kap. XII u. XIV.

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But that Pythagoras was acquainted with the Mosaical or Jewish Philosophy, there is ample Testimony of it in Writers; as of Aristobulus, an AEgyptian Jew in Clemens Alexandrinus, and Josephus against Appion. St Ambrose addes, that he was a Jew himself. Clemens calls him τον ἐξ Ἑβραίων Φιλόσοφον, the Hebrew Philosopher. I might cast hither the suffrages of Justin Martyr, Johann Philoponus, Theodoret, Hermippus in Origen against Celsus, Porphyirus, and Clemens again, who writes, that it was a common fame that Pythagoras was a disciple of the Prophet Ezekiel. And though he gives no belief to the report, yet that Learned Antiquary Mr. Selden seems inclinable enough to think it true, in his first Book De jure Naturali juxta Hebraeos; where you may peruse more fully the citations of the forenamed Authors. Besides all these, Iamblichos also affirms that he lived at Sidon, his native Countrey, where he fell acquainted with the Prophets, and Successors of one Mochus the Physiologer or Natural Philosopher. Συνέβαλε τοῦς τοὺ Μωχού τοὺ φυσιολόγου προφήταις ἀπογόνοις. Which, as Mr. Selden judiciously conjectures, is to be read τοῦς Μωσέως τοὺ φυσιολόγου προφήταις ἀπογόνοις, with the Prophets that succeeded Moses the Philosopher.136

Gegen Moses, den Epigonen antiker, unter anderem griechischer Philosophen, von dem Philo (ca. 15 v. Chr.–40) oder Celsus (spätes 2. Jahrhundert n. Chr.) berichten,137 behauptet More seinen eigenen kabbalistischen Moses, Stammvater aller Philosophie und Prophetie. Die Lehre selbst ist nicht außergewöhnlich; sie setzt eine Tradition christlicher Kabbala fort, wie sie seit Reuchlin (1455–1522) und Pico della Mirandola (1463–1494) als Synthese eines Kanons an biblischen, neuplatonischen, patristischen und jüdischen Schriften zu einer ›philosophia perennis‹ bekannt ist.138 Die Debatten um die Rechtgläubigkeit der Kabbala sowie platonischer, neuplatonischer und hermetischer Philosophie aber, wie sie in den Kontroversen der More- und Böhme-Rezeption laut werden, stehen im Geflecht weitverzweigter Forschungen, die seit dem frühen 17. Jahrhundert durch religionsgeschichtliche Vergleiche das Verhältnis der Offenbarung und der frühchristlichen Theologie zu ihrem historischen, insbesondere orientalischen Umfeld zu ergründen

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Henry More: Appendix to the Defence of the Philosophick Cabbala (1662), Chap. I, § 3. In: Ders., Collection (Anm. 92), 100 f. Die Vorstellung eines Moses als Stammhalter der griechischen Philosophie ist bei den Cambridger Neuplatonikern verbreitet; vgl. Constantinos A. Patrides: Introduction zu: The Cambridge Platonists. Hrsg. v. dems. Cambridge 21980, 7; Dirk Grossklaus: Natürliche Religion und aufgeklärte Gesellschaft. Shaftesburys Verhältnis zu den Cambridge Platonists. Heidelberg 2000 (Anglistische Forschungen 277), 50 f. Philo von Alexandrien: De vita Mosis (Opera quae supersunt. Hrsg. v. Leopold Cohn. Bd. 4. Berlin 1902), V (23); Origines, Αληθής λόγος (auch: Contra Celsum; Der Alethes Logos des Kelsos. Hrsg. v. Robert Bader. Stuttgart 1940), I, 20 f. Zum Moses-Bild bei Philo vgl. Wayne A. Meeks: The Prophet King. Moses Traditions and the Johannine Christology. Leiden 1967, 100–131; zu Celsus vgl. Myles F. Burnyeat: Platonism in the Bible. Numenius of Apamea on Exodus and Eternity. In: Metaphysics, Soul, and Ethics in Ancient Thought. Hrsg. v. Ricardo Salles. Oxford 2005, 143–169, hier: 147. – Nur wenige Jahre nach More wird Pierre Petit (1617–1689) das Bild eines melancholischen und stotternden Moses entwerfen. Pierre Petit: De Sibylla libri tres. Leipzig 1686. Zu Petit und der bezeichneten Filiation der mosaischen Weisheit bei Philo und Celsus vgl. Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736). Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 80), 288–290, 320 u. 413. Zum Korpus dieser Schriften bei More und Reuchlin vgl. Schmidt-Biggemann (Anm. 33), 286 f.

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versuchen. Für dieses Interesse an einer hebräisierenden ›prisca theologia‹ steht der Name John Seldens (1584–1654) wie wohl kein anderer.139 Was Mores eigene Position auszeichnet, ist – aus heutiger Sicht – die überraschende Kühnheit, mit welcher die älteste Weisheit im Lichte hochaktueller Forschung gelesen wird. Denn ebenso wie er Alter und Dignität der mosaischen Bücher durch die orientalistische Forschung eines Selden belegt, unterstreicht More die naturphilosophische Stringenz des Schöpfungsberichtes durch die cartesianische Mechanik, als deren erster bedeutender und viel beachteter Promulgator More in Großbritannien zu gelten hat,140 durch vitalistische Pneumatologie, die mit der heftig umstrittenen Theorie plastischer Naturen eines Cudworth (1617–1688) Hand in Hand geht141 und bisweilen gar in den Experimenten eines Boyle (1627–1691) ihre Bestätigung sucht,142 durch seinen anti-sadduzäischen Spiritualismus, der in Zusammenarbeit mit Glanvill (1636–1680) die Rationalität des Hexenglaubens zu belegen trachtet,143 durch wiederholten Erweis der Übereinstimmung mit dem kopernikanischen Weltbild usf. Kurz, More sucht und findet, was er seinem platonisierenden Christentum dienstbar machen kann. Zwischen Episteme und Offenbarung entwirft er eine seines Ermessens gangbare Mitte, deren Grenzen die Evidenz selbst zieht. Und so orientiert er sein apologetisches Bemühen konsequent an den Fixsternen von Vernunft und Erfahrung, die den modernen Menschen entweder hell leuchtend zum sicheren Hafen oder aber – Atheisten und Enthusiasten habt Acht! – vernebelt in die Irre leiten. Nur so lässt sich die paradoxe Behauptung einer verborgenen Übereinstimmung von Böhme und Spinoza erklären, die More in seinen Divine Dialogues entdeckt: 139

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Dass sich More in diesem Zusammenhang auf John Seldens De Iure Naturali & Gentium, iuxta Disciplinam Ebraeorum, libri septem (London 1640) beruft, ist bezeichnend, begründet Selden doch mit diesem bedeutenden und überaus erfolgreichen Werk eine neue Phase der vergleichenden Religionsgeschichte. Zu Seldens Bedeutung als Autorität ältester Weisheit vgl. Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Hamburg 2002, 187–190; zu Seldens Werk und seinen Beziehung in der Gelehrtenrepublik vgl. den Überblick bei Mordechai Feingold: John Selden and the Nature of Seventeenth-Century Science. In: In the Presence of the Past. Hrsg. v. Richard T. Bienvenu u. Mordechai Feingold. Dordrecht 1991 (International Archives oft he History of Ideas 118), 55–78, in unserem Zusammenhang hauptsächlich 69 f. Zu More und Descartes vgl. Charles Webster: Henry More and Descartes. Some New Sources. In: British Journal for the History of Science 4 (1969), 359–377; Alan Gabbey: ›Philosophia cartesiana triumphata‹. Henry More and Descartes, 1646–71. In: Problems in Cartesianism. Hrsg. v. Thomas M. Lennon, John M. Nicholas u. John W. Davis. Kingston/Ontario (McGill-Queen’s studies in the history of ideas 1) 1982, 171–249. Cudworth verweist denn auch in seiner Digression concerning the Plastick Life of Nature auf More als prominenten Mitstreiter gegen einen reinen Mechanizismus und Verteidiger der Finalursache; Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe the first part; wherein All the Reason and Philosophy of Atheism is Confuted, and Its Impossibility Demonstrated (1678). Bd. I. London 21743, Bk. I, chap. III, Sect. 35, § 3, 148. Boyle weist diese Versuche zurück, vgl. John Henry: Henry More versus Robert Boyle. The Spirit of Nature and the Nature of Providence. In: More, Tercentenary Studies (Anm. 2), 55–76. Vgl. hierzu Allison Coudert: Henry More and Witchcraft. In: More, Tercentenary Studies (Anm. 2), 115–136.

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Es gibt nur eine Substanz in der Natur der Sachen (Ethica I, Prop. 14, Kor. 1). Diese nennt Spinoza in derselben 14. Proposition in seiner leichtsinnigen Art Gott, wohlgemerkt bei einem, dem Materie, Natur, Gott dasselbe bedeuten. Dieselbe Proposition hält Folgendes fest: Außer Gott kann es eine Substanz weder geben, noch kann diese gedacht werden. Wohlan! Das ist reinster Böhmismus. Oh, welch unerwartete Übereinkunft und Übereinstimmung zweier ausgesprochen entgegengesetzter Geister: hier, der eines Mathematikers, der durch seine geometrische Ordnung alles zu erweisen sucht, da, der eines ausgemachten Enthusiasten. Jakob Böhme aber, freilich ein einfacher und ehrlicher Mann, weder Moses oder Christus abtrünnig, noch Verbreiter oder Schutzherr irgendwelcher Prinzipien, die zu schlechten Sitten verleiten, erhob sich in seiner Reife zu einem klareren Begriff dieser Dinge und erkannte die unveränderliche, ruhende und lichterfüllte Ewigkeit als gänzlich von der Natur verschieden.144

Die Entdeckung der ›coincidentia oppositorum‹ zwischen Atheismus und Enthusiasmus findet eine Entsprechung in der Censura. Hier sind es der Mathematiker Descartes und der Enthusiast Böhme,145 die als Verfechter automatenhaften Le144

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Henry More: Demonstrationis Duarum Propositionum, viz. Ad Substantiam quatenus Substantia est, necessariam Existentiam pertinere, &, Unicam in Mundo Substantiam esse, quae praecipuae apud Spinozium Atheismi sunt Columnae, brevis solidáque Confutatio (1679). In: Ders., Opera omnia (Anm. 1), Bd. II/1, 619: »Ethic. Part. I. Prop. 14. Corol. I. Non nisi unam Substantiam in rerum natura dari. Quam in ista Propositione decima quarta appellat more suo lusorio Deum, quippe apud quem Materia, Natura, Deus idem sonant. Ista autem propositio sic pronunciat: Praeter Deum nulla dari neque concipi potest substantia. En purum putum Behmenismus. O inopinatam duorum oppositissimorum Ingeniorum, Mathematici unius suáque omnia ordine Geometrico demonstrantis, alterius summè Enthusiastici, conspirationem & consensum! Jacobus verò Behmen quippe homo simplex ac sincerus nec à Mose aut à Christo Apostata aut ullorum principiorum quae ad malos mores tendant fautor ac patronus, ad clariorem harum rerum notitiam maturè emersit, fixámque quandam ac tranquillam lucidámque AEternitatem agnovit à Natura penitus distinctam.« – Zu Mores Behauptung einer überraschenden Koinzidenz zwischen Böhme und Spinoza, vgl. Carlos Gilly: Böhme en Spinoza of de verbazingwekkend nauwe relatie tussen atheïsme en theosofie. In: Libertas philosophandi. Spinoza als gids voor een vrije wereld. Hrsg. v. Cis van Heertum. Amsterdam 2009, 185–207. More, Censura (Anm. 1), Qu. II, Sect. 3, 540 f.: »Et certè, ut maximè cautam subtilémque Philosophicam Rationem cum fervidissime Enthusiasmo comparemus quantùm ad suos effectus: Utrum probabilius est, ut tribuendo motum vitalem, intellectum & perceptionem partibus Materiae (in qua vitali colluctatione lusúque Fontanorum Spirituum partes Materiae palpant percipiúntq; aliae alias in Luce, quemadmodum J. B. loquitur) ut sic, inquam, cognitione praeditae, in maximè elegantes formas, commodásque rerum structuras quas videmus, se disponere queant; an ut Materia nullâ aliâ re praeterquam motu locali freta, solâ aliarum partium in alias collisione seipsam possit in hunc rerum ordinem quem in Universo cernimus redigere: in haec duo, inquam, commenta dum oculos conjicio, ubi unus exclamat, Mathematica Demonstratio, aliter Infallibilis Inspiratio, seriò equidem rogo, Ratione an Enthusiasmus magìs insanire sit existimandus.« [Und tatsächlich, vergleichen wir die höchst behutsame und subtile philosophische Vernunft mit dem äußerst hitzigen Enthusiasmus in Hinsicht auf beider Wirkung, so frage ich: Ob es wahrscheinlicher sei, dass wir lebendige Bewegung, Denk- und Wahrnehmungsvermögen den Teilen der Materie verleihen (da die Teile der Materie sich, wie J. B. sagt, bei lebendigem Kampf und Spiel aus dem Quell-Brunn des Geistes im Lichte befühlen und wahrnehmen), sodass sie in der Lage sind, sich – einmal mit Kenntnis begabt – in der Dinge höchst elegante Formen und gefällige Strukturen, die wir sehen, zu fügen, oder ob es wahrscheinlicher sei, dass die Materie einzig durch örtliche Bewegung und bloßen Zusammenstoß der Teile untereinander sich selbst in die Ordnung der Dinge gebracht hat, die wir im Universum wahrnehmen? Richte ich aber die Augen auf

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bens bzw. eines körperlichen Geistes zusammen die gesamte Breite an Irrtümern ausmessen, die bezüglich der wahren Natur der Seele geäußert werden können. Die beiden Eckpunkte aber sind die betrogene Erfahrung, die das trügerische Spiel der Einbildung für wahre Inspiration, sowie die irrende Vernunft, die aus falschen Prämissen unhaltbare Schlüsse für sichere Beweise hält. Beiden aber fehlt das wahre Licht. Mores Heranziehen weiter Teile der zeitgenössischen Forschung zur Beglaubigung des mosaischen Berichts dokumentiert eindrücklich, welch fundamentale Bedeutung er der hebräischen Tradition und der heilsökonomischen Funktion des jüdischen Volks im Kampf gegen die Abtrünnigen – a Mose aut a Christo Apostata – beimisst. Und so überrascht es nicht, dass die dargestellte Rezeption von Mores Böhme-Zensur eben genau dort bemerkenswert wird, wo sie Mores eigenem Verständnis der Kabbala und deren Verhältnis zu den biblischen Schriften sowie der gesamten Tradition der ›philosophia perennis‹ gilt. Sowohl in der engeren Auseinandersetzung um Böhmes bzw. Spinozas Kabbalisieren, wie wir ihr bei Hinckelmann, Colberg, Wachter, Budde und Poiret begegnet sind, als auch in den weiteren Debatten um das Verhältnis der Schöpfungslehre zu Naturalismus und Aberglaube146 erhält More die Aufmerksamkeit, die seiner selbstbehaupteten Zentralität entspricht. Und so liegt es auch durchaus nahe, dass sein Name in der Forschung zu den bedeutendsten Naturphilosophen seiner Zeit, Newton und Leibniz, gerne – wenn auch vielleicht etwas gar zu oft – genannt wird. Im Folgenden soll es in gebotener Kürze hauptsächlich um die angebliche Rolle Mores als Vermittler Böhmes gehen, wird doch sowohl auf Newton als auch auf Leibniz ein wesentlicher Einfluss Böhmes behauptet. Die Tradierung dieser Thesen verläuft dabei ziemlich genau gegenläufig: Die Behauptung eines Einflusses Böhmes auf Newton taucht schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf, spielt aber heute in der Newton-Forschung eine nur noch sehr marginale Rolle, während von einem solchen Einfluss auf Leibniz erst die Leibniz-Forschung des frühen 20. Jahrhunderts weiß, diese Ansicht jedoch zunehmend Verbreitung findet. Die Faktenlage ist dabei in beiden Fälle schwierig, wenn auch ebenso gegenteilig wie die bezeichneten Verlaufskurven: Aus Newtons Feder ist keine Nennung Böhmes bekannt, während Leibniz Böhme hin und wieder erwähnt, wenn auch in der Regel abwertend. Natürlich belegt oder beweist dies weder, dass Newton nicht gewusst hätte, wer Böhme ist, noch dass Leibniz nicht den einen oder anderen Aspekt im Werk Böhmes gutgeheißen, ja gar übernommen hätte. Die Konstellation wirft jedoch exemplarisch die zentrale Frage nach den Bedingungen auf, welche die Behauptung eines Einflusses erfüllen sollte, genauer: welche die Behauptung erfüllen soll, damit sich deren kritische Prüfung hinsichtlich ihres Einfluss-Status’ überhaupt lohnt. Ein solcher Einfluss sollte zumindest eines von drei Kriterien erfüllen: Entweder benennt

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diese beiden Erfindungen, wo der eine mathematische Demonstration, der andere unfehlbare Inspiration ausruft, so frage ich allen Ernstes, ob die Vernunft oder der Enthusiasmus als kränker zu erachten sind.] Martin Mulsow und Robert Folger: Idolatry and Science. Against Nature Worship from Boyle to Rüdiger, 1680–1720. In: Journal of the History of Ideas 67/4 (2006), 697–711.

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der Beeinflusste den Anlass einer Veränderung seines Denkens, oder es liegen positive Zeugnisse einer intensiven Rezeption vor, die eine solche Veränderung nahelegen, oder es lassen sich schließlich Wissenselemente bestimmen, die aufgrund ihrer Spezifik als Grund einer solchen Veränderung plausibel erscheinen. Erst dann scheinen kritische Fragen nach Missverständnissen, Gedächtnislücken, zensorischen Maßnahmen – den guten Gründen also, Namen zu verschweigen oder falsche Namen zu nennen – sinnvoll. Was Newton betrifft, so wird gemeinhin als erstes Zeugnis, das einen Einfluss Böhmes behauptet, William Laws (1686–1761) An Appeal to all that Doubt, or Disbelieve aus dem Jahre 1742 genannt: The illustrious Sir Isaac Newton, when he wrote his Principia, and publish’d to the World his great Doctrine of Attraction, and those Laws of Nature by which the Planets began, and continue to move in their Orbits, could have told the World, that the true and infallible Ground of what he there advanced, was to be found in the Teutonick Theosopher, in his three first Properties of Eternal Nature; he could have told them, that he had been a diligent Reader of that wonderful Author, that he had made large Extracts out of him, and could have referred to him for the Ground of what he had observed of the Number Seven. Now why did not this great Man do thus? Must we suppose that he was loth to have it thought, that he had been help’d by any Thing that he had read? No: It is an unworthy Thought. But Sir Isaac well knew, that Prejudice and Partiality had such Power over many People’s Judgments, that Doctrines, tho’ ever so deeply founded in, and proved by all the Appearances of Nature, would be suspected by some as dangerous, and condemned by others, even as false and Wicked, had he made any References to an Author that was only called an Enthusiast. Dr. Trap may take himself for an eminent Example and Proof of this.147

Von Law können wir also den Anlass für Newtons Schweigen über seinen Gewährsmann erfahren – oder besser: könnten wir, wäre der Anlass nicht im eigentlichen Sinn Laws eigener. Die Stelle ist Teil einer der unzähligen Apologien gottgefälliger mystischer Theologie. Joseph Trapp (1679–1747) hatte Law in seinem The Nature, Folly, Sin, and Danger ein moralisches Over-much vorgehalten,148 das nicht im Geruch der Heiligkeit, sondern eines selbstgerechten Rigorismus stehe. Als Grund für den Übereifer diagnostiziert er – wie könnte er anders? – Enthusiasmus,149 der aus der trügerischen Überzeugung unfehlbarer Inspiration, 147

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William Law: An Appeal to all that Doubt, or Disbelieve the Truth of the Gospel, Whether they be Deists, Arians, Socinians, or Nominal Christians. In which, the true Ground and Reasons of the whole Christian Faith and Life are plainly and fully demonstrated. London 1742, 314 f. – Zu dieser Quelle sowie den meisten anderen der im Folgenden angeführten Dokumente vgl. bereits Stephen Hobhouse: Isaac Newton and Jacob Boehme. An Enquiry. In: William Law: Selected Mystical Writings. Hrsg. v. St. Hobhouse. London 21948, 397– 422. (Es dürfte sich hierbei um einen überarbeiteten Wiederabdruck eines gleichnamigen Aufsatzes aus dem Jahre 1937 handeln.) Joseph Trapp: The Nature, Folly, Sin, and Danger, Of being Righteous over-much; With a particular View to the Doctrines and Practices Of certain Modern Enthusiasts. London 1739. William Law ist hier der einzige Autor, der explizit zitiert wird, vgl. 14 f. u. 23. Die Popularität des Enthusiasmusvorwurfs dürfte durch Shaftesburys (1671–1713) einflussreichen Essay zwischenzeitlich nur noch größer geworden sein. Shaftesbury folgt dem Enthusiasmus-Verständnis Mores aufs engste: »For, as some have well remark’d, there have been Enthusiastical Atheists. Nor can Divine Inspiration, by its outward Marks, be easily distinguish’d form it. For Inspiration is a real feeling of the Divine Presence, and Enthu-

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mystischer Erfahrung und klarerem Verständnis der Heiligen Schrift heraus das Recht und die Pflicht ableite, andere zu wahrem christlichem Leben anzuhalten.150 Doch was hat Newton damit zu schaffen? Die Schwierigkeiten kirchlicher Orthodoxie den Strom mystischer Erbauungsliteratur und die damit einhergehende Sektenmacherei zu kanalisieren, stehen in keinem erkennbaren Verhältnis zu dem Cambridger Physiker, der sich zeitlebens gescheut hat, seine eigenen religiösen Überzeugungen öffentlich zu äußern. Auch gehören Fragen gottgefälliger Bescheidung, methodistischer Rechtschaffenheit sowie einer geradezu quietistischen Einstellung zur Erlangung von Erkenntnis nicht zu den Themen, die den arianistisch gestimmten Newton sonderlich bewegt zu haben scheinen.151 Der Grund der Erwähnung dürfte viel eher im Bereich der Naturphilosophie zu finden sein, genauer im Problem der genannten attraction, deren Konzipierung auf dem Hintergrund mechanizistischer Überzeugung vielen Zeitgenossen größte Schwierigkeiten bereitet. So eignet sich die Attraktion als eigentlich ineffables Moment, als inkriminierte magische Fernwirkung und okkulte Qualität, um die tief verborgene Rationalität der Visionen eines Böhme durch niemand geringeren als den hochgefeierten Newton zu erweisen. Auf den Vorwurf Trapps, Figuren wie Böhme, John Pordage und Jane Leade trügen zu »a Spiritualizing away the Reason and Substance of the Christian Religion« bei,152 erbringt Law mit Verweis auf Newton den gegenteiligen Beweis der tiefgreifenden Übereinstimmung der Böhme’schen Offenbarung mit den avanciertesten Erkenntnissen der zeitgenössischen Physik. Mehr noch, die Nennung Newtons verweist darüber hinaus auf die Tradition der ›prisca theologia‹ in deren Tradition sich Newton stellt, was auch ihn zu einem Verfechter der mosaischen Weisheit macht,153 die nicht nur More, sondern auch Law vertritt.154 Zudem sind sowohl Law als auch Newton volunta-

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siasm a false one.«; Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury: A Letter Concerning Enthusiasm (1708), Sect. VII. In: Ders.: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. Bd. I. London 61737, 52 f. Gegen Trapps Argumente erscheinen in dem darauffolgenden Jahr nicht weniger als sieben Gegenschriften, deren sechs Trapp in seinem The True Spirit of the Methodists, and their Allies, (Whether other Enthusiasts, Papists, Deists, Quakers, or Atheists) fully laid open (London 1740) beantwortet. Der Widerlegung Laws widmet er eine eigene Abhandlung. Zu Netwons Arianismus vgl. Richard S. Westfall: Science and Religion in SeventeenthCentury England. New Haven 1958 (Yale historical publications, 3, 67), 193–220. – Von William Law wird, wie bereits der Titel anzeigt, Arianismus hingegen entschieden verurteilt; vgl. ausführlich Law, Appeal (Anm. 147), § 27, 65–67. Die Aussage findet sich in einem (authentischen oder fingierten) Brief eines »worthy Layman«, den Trapp an seine Reply anhängt; Joseph Trapp: A Reply To Mr. Law’s Earnest and Serious Answer (As it is Called) to Dr. Trapp’s Discourse of the Folly, Sin, and Danger of Being Righteous Over-much. London 1741, 121. Vgl. hierzu James Edward McGuire und Piyo M. Rattansi: Newton and the ›Pipes of Pan‹. In: Notes and Records of the Royal Society of London 21/2 (1966), 108–143. Die beiden Autoren verweisen explizit auf die Nähe Newtons zu More in diesem Punkt (132 f.) sowie auf die Identifikation von ›Moses‹ mit ›Mochus‹, bzw. ›Moschus‹ durch Arcerius (1538– 1604) und deren Vermittlung über Selden (130). Vgl. hierzu auch Richard S. Westfall: The Life of Isaac Newton. Cambridge 1993, 138 f. Law, Appeal (Anm. 147), 5: »And no Writer, whether Jewish or Christian, has so plainly,

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ristischen Konzeptionen verpflichtet, für den sämtliche Bewegungen der Körperwelt letztlich im göttlichen Willen gründen.155 Die Newton’sche Anziehungskraft erscheint in der Optik Laws als das Pendant der göttlichen Schöpfungs- und der menschlichen Willenskraft. Die Ausrichtung des menschlichen Willens am Willen Gottes führt hierbei zu einer Bewegung und Begierde, die den wahren Enthusiasmus mit Liebe erfüllt und von trügerischen Hirngespinsten unterscheidet.156 Newtons Physik erweist Law also durchaus ihre guten Dienste, wobei die Übereinstimmungen und Analogien uns nicht darüber hinweg täuschen dürfen, dass Böhmes dialektischer Naturbegriff weder eine notwendige, noch gar eine zureichende Bedingung für Newtons Konzipierung seiner Kräfte darstellt. Im Gegenteil, die Erklärung der Schöpfung aus dem Widerspiel von Gut und Böse157 widerspricht den Newton’schen Gesetzen, da Böhme und auch Law im Gegensatz zu Newton von einer Kräftepolarität ausgehen, die der guten Anziehung eine schlechte Abstoßung (oder etwas Ähnliches) entgegensetzt. Für Newton aber ist universelle Gravitation die eine Kraft und nicht etwa eine von zwei Kräften.158 Die Repulsion ist eine Wirkung dieser einen Kraft, nicht deren Ursache.

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so fully, so deeply laid open the true Ground, and Necessity of an Eternal, never-ceasing Relation between God, and the Human Nature; no one has so incontestably asserted the Immortality of the Soul, or Spirit of Man; or so deeply laid open, and proved the Necessity of one Religion, common to all Human Nature, as the Legislator of the Jewish Theocracy has done.« Ebd., 9: »the uncontroulable Freedom of our Will and Thoughts: They must have a Selfmotion, and Self-direction, because they came out of the Self-existent God.«; ebd., 62: »the Intelligent Will brought into a creaturely Form, must be […] the same self-existent and self-moving Power.« – Zu Newtons Voluntarismus vgl. Westfall (Anm. 151), 201f; E. James Force: Newton’s God of Dominion. The Unity of Newton’s Theological, Scientific and Political Thought. In: James E. Force und Richard H. Popkin: Essays on the Context, Nature, and Influence of Isaac Newton’s Theology. Dordrecht 1990 (International Archives of the History of Ideas 129), 75–102; ders.: Richard H. Popkin’s Concept of the Third Force. The Third Force and The Newtonian Synthesis Of Theology and Scientific Methodology in Isaac Newton and Samuel Clarke. In: The Legacies of Richard Popkin. Hrsg. v. Jeremy Popkin. Leiden 2009 (International Archives of the History of Ideas 198), 73–108, bes. 104–107. Law, Appeal (Anm. 147), 311. Für eine knappe Darstellung der Böhme’schen Dialektik vgl. Gernot Böhme: Jacob Böhme (1575–1624). In: Klassiker der Naturphilosophie. Von den Vorsokratikern bis zur Kopenhagener Schule. Hrsg. v. dems. München 1989, 158–170, bes. 164–166; sowie die klassische Untersuchung von Alexandre Koyré: La philosophie de Jacob Boehme. Paris 1929, 415–450. Wormhoudt irrt, wenn er zwar zurecht eine Analogie zwischen Newtons Gesetzen und Böhmes Kräften verwirft, dafür jedoch eine Analogie zur Zentrifugal- und Zentripetalkraft konstatiert: »it should be noted that the Behmenistic triad of forces is not strictly analogous to Newton’s first three laws. The first two laws deal with bodies at rest or moving in a straight line and with the alteration of that motion or rest. They have nothing to do with Boehme’s expansive or contractive forces. The third law does have something in common with Boehme’s first two forces since it asserts that to every action there is always an opposed and equal reaction, though this does not as yet account for Boehme’s ›whirling motion‹. It seems clear that the analogies are not to Newton’s first three laws of motion but rather to the application of the laws to celestial mechanics. Thus we can see how Law would think that Boehme’s first form could be described as centripetal force, the second as a centrifugal force, and the

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So kann von einer Denkfigur Böhmes, deren Spezifik hinreichend genau bestimmt und im Vergleich zu anderen Positionen als privilegierte Erklärung bezeichnet werden könnte, im Hinblickauf Newtons attraction nicht gesprochen werden. Zu allem Überfluss aber ließ Law es nicht dabei bewenden. Ein gutes Jahrzehnt später erkennt er, nun in den Newton’schen Gesetzen, weitere Früchte eines intensiven Böhme-Studiums: Here also, that is, in these three Properties of the Desire you see the Ground and Reason of the three great Laws of Matter and Motion, lately discovered and so much celebrated; and need no more to be told, that the illustrious Sir Isaac plowed with Behmen’s Heifer when he brought forth the Discovery of them. In the mathematical System of this great Philosopher these three properties, Attraction, equal Resistance, and the orbicular Motion of the Planets as the Effect of them, &c. are only treated as Facts and Appearances, whose Ground is not pretended to be known. But in our Behmen, the illuminated Instrument of God, their Birth and Power in Eternity is opened; […].159

In der Tat sind die unergründbaren Tiefen dieser Facts and Appearances, was Newton betrifft, schwer zu durchschauen. Aus einem Schreiben Laws an George Cheyne (1671–1743),160 das Laws Biograph Christopher Walton überliefert, erfahren wir, dass [w]hen Sir Isaac Newton died, there were found amongst his papers large abstracts out of J. Behmen’s works, written with his own hand. Thus I have from undoubted authority; as also that, in the former part of his life, he was led into a search of the philosopher’s tincture, from the same author. My vouchers are names well known, and of great esteem with you. – It is evidently plain, that all that Sir. I. has said of the universality, nature, and effects of attraction, of the three first laws of nature, was not only said but proved in its true and deepest ground, by J. B., in his Three first Properties of Eternal Nature; and from thence they are derived into this Temporal Outbirth. […] P. S. – From the authority above, I can assure you that Sir Isaac was formerly so deep in J. B. that he, together with one Dr. Newton, his relation, set up furnaces, and for several months were at work in quest of the Tincture, purely from what they conceived from him. It is no wonder, therefore, that attraction, with its two inseparable properties, which make in J. B.

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third as the balance of the two in orbicular motion.«; Arthur Wormhoudt: Newton’s Natural Philosophy in the Behmenistic Works of William Law. In: Journal of the History of Ideas 10/3 (1949), 411–429, hier: 414. Die durch die Gravitation veranlasste Kreisbewegung ist eine Kraft, welche die Körper aus ihrer natürlichen gleichförmigen Bewegung lenkt; umstritten bleibt aber, ob (und zu welchem Zeitpunkt seines Lebens) Newton die Trägheit, vis insita, analog zur vis impressa als eigentliche Kraft bestimmt, oder bloß als eine passive Eigenschaft der Materie erachtet. William Law: The Spirit of Love, Being an Appendix to The Spirit of Prayer. In a Letter to a Friend. London 1752, 38. Zu dem Interesse des berühmten Verfassers von The English Malady, Cheyne, sowie den befreundeten William Law und Samuel Richardson (1689–1761) vgl. Gerda Joke Joling-van der Sar: The Spiritual Side of Samuel Richardson. Mysticism, Behmenism and Millenarianism in an 18th century English Novelist. Leiden 2003, 73, 125 u. 132 f. (zu attraction und gravitation).

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the first Three properties of Eternal Nature, should come to be the grand foundation of the Newtonian philosophy.161

Will man die Ehrlichkeit des frommen Law nicht in Zweifel ziehen, so sieht man sich genötigt, den Tauschwert dieser vouchers recht klein zu handeln. Titel und Erwerb der einzelnen Bände von Newtons alchimistischer Bibliothek sind einigermaßen bekannt; von Böhme ist hier nirgends die Rede. Von den genannten Papieren scheint im Newton’schen Nachlass nicht mehr das Geringste übrig geblieben und dies ganz im Gegensatz zu den hunderten von Seiten, welche die alchimistischen Exzerpte, Experimentberichte und Spekulationen füllen.162 Der genannte »Dr. Newton« war mit Sir Isaac nicht verwandt163 und mag sich im Übrigen einzig, und dies auch noch sehr ungenau, an Georgius Agricolas (1494– 1555) De re metallica erinnern, das Isaac Newton hin und wieder bei Experimenten als Anleitung gedient haben soll.164 In dieser sich fest fügenden Legende erhält, vergleichsweise spät zwar, auch More seinen Platz. Die mangelnden Belege bezüglich der genauen Kenntnisse, die Newton von Böhme gehabt haben soll, werden durch Spekulationen kompensiert, die More, den Kenner Böhmes und angeblichem Vertrauten Newtons,165 gleichsam als ›missing link‹ in die Traditionskette hinein schmieden. So behauptet der bedeutende Newton-Forscher A. J. Snow in seinem Matter and Gravity in Newton’s Physical Philosophy aus dem Jahre 1926: Newton was directly influenced by Jacob Boehme’s mysticism. As Brewster records, Newton was a constant reader and admirer of Boehme, copying many a page from this, the greatest of Protestant mystic writers. Boehme’s ideas about the cause of change in nature were important elements of this mystical doctrine as developed, principally by Henry More, who also directly influenced Newton.166

In Brewsters Memoirs jedoch finden wir einzig belegt, dass William Law den Einfluss Böhmes behauptet.167 Von Henry More aber weiß Brewster in seinen 161

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Christopher Walton: Notes and Materials for an Adequate Biography of the Celebrated Divine and Theosopher, William Law. Comprising an Elucidation of the Scope and Contents of the Writings of Jacob Böhme, and of his Great Commentator Dionysius Andreas Freher. O. O. 1954, 46. Richard S. Westfall: The Influence of Alchemy on Newton. In: Science, Pseudo-Science and Society. Hrsg. v. Marsha P. Hanen, Margaret J. Osler u. Robert G. Weyant. Waterloo, Ontario 1980, 145–169. Westfall (Anm. 153), 63. Humphrey Newton: Brief an Conduitt vom 14. Februar 1727. In: David Brewster: Memoirs of the Life, Writings, and Discoveries of Sir Isaac Newton. Bd. II. Edinburg 1855, 96. Die enge Freundschaft von Newton und More sowie der Einfluss Mores auf Newtons Konzipierung des Raumes bezieht sich im Wesentlichen auf eine Unterredung, die More in einem Schreiben an Sharp überliefert; Henry More: Brief an John Sharp vom 16. August 1680. In: The Conway Letters (Anm. 74), 478 f. Zur ganzen Diskussion um Mores Bedeutung für Newtons Raum- und Zeitkonzept vgl. Hall: Henry More (Anm. 82), 202–223. Adolph Judah Snow: Matter and Gravity in Newton’s Physical Philosophy. Oxford 1926, 193. Brewster (Anm. 164), II, 371; Brewster sieht durch den Bericht Humphrey Newtons Laws Aussage bestätigt, wobei es hier (vgl. ebd., 96) jedoch nur um die alchimistischen Experi-

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ganzen Erinnerungen nichts zu berichten. Nur wenige Jahre später nimmt Karl Robert Popp die These Snows anerkennend auf.168 Auch wenn er in More »unschwer […] die Brücken« der Lehre Böhmes auf dem »Weg zu Newton zu erkennen« glaubt, so ist es doch hauptsächlich die suggestive Einreihung Mores in eine Kette, die von John Sparrow über die Behmenists zu Newton führt, die diese Erkenntnis nahelegt.169 Die Belege sind die alten, von einem sicheren Zeugnis für Newtons Böhme-Kenntnis oder die Lektüre von Mores Censura ist auch hier keine Spur zu finden. Inwiefern More, der Böhme als Naturphilosophen nun wahrlich nicht sonderlich hochschätzt, diesen Newton nahe gebracht haben soll, wird somit zum Gegenstand weiterer Spekulationen, die zur kontrovers diskutierten Frage nach dem Einfluss Mores auf Newton und dessen Konzept des absoluten Raums hinzukommen. Auch hier gilt es Bedenken zu äußern,170 die jedoch mit der BöhmeRezeption im Kreise der Cambridger Neuplatonisten ihrerseits wenig zu tun haben. Weniger bis gar nichts hat aber Newtons ausgeprägtes Interesse für Alchemie mit Mores kabbalistischen Abhandlungen oder Mores Böhme-Rezeption zu tun, da More in seinen Schriften gegen Vaughan dezidiert gegen alchemistische Naturphilosophie antritt, seine Kabbala frei von alchemistischen Überlegungen hält und Böhme entschieden für seine Paracelsus-Lektüre schilt. Wie es so geht, die Behauptung war nun einmal in der Welt, und sie nahm ihren Lauf. Und so hält sich auch heute noch Laws Verdacht, Newton verschweige Böhme als »Gewährsmann bisweilen bewußt«171 mit einiger Hartnäckigkeit,172 und dies obwohl die These eines bedeutenden Einflusses Böhmes auf Newton in der Forschung schon seit langem und – wie mir scheint – ausreichend gründlich

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mente geht, eine ›Entgleisung‹ des großen Newton, die Brewster im Übrigen bedauert. Karl Robert Popp: Jakob Böhme und Isaac Newton. Leipzig 1935, 39: »Um so eigenartiger berührt es, daß gerade in Hinblick auf Jakob Böhmes Naturgeister die Schriften Henry Mores soviel dem Böhme’schen Gedankengut Verwandtes aufweisen, daß sich die Behauptung Snows: ›Henry More … combined the teaching of Boehme and of the Cabbala‹ im vollen Umfange aufrechterhalten läßt.« Popp zitiert Snow (Anm. 166), 60. Popp (Anm. 168), 43 Für eine ausgewogene Einschätzung des Einflusses von More auf Newton vgl. Hall (Anm. 82), 202–241. Gerhard Wehr: Jakob Böhme. Ursprung, Wirkung, Textauswahl. Wiesbaden 2010, 53. Worauf sich »bisweilen« hier bezieht, wird leider nicht erörtert; vgl. auch 125 f.: »Die Argumente von pro und contra sind offensichtlich noch nicht ausdiskutiert.« Die Verfechter beziehen sich dabei auf Popp (Anm. 168); Kurt Poppe: Über den Ursprung der Gravitationslehre. Jakob Böhme, Henry More, Isaac Newton. In: Die Drei. Zeitschrift für Anthroposophie und Dreigliederung 34/5 (1964), 313–340; Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung. Berlin 1988, 727–740. Wollgast behauptet, die Quellen Popps geprüft zu haben, und findet sie offensichtlich bestätigt (728–730). Worin und weshalb, wird leider nicht erklärt. Auch Richard H. Popkin, (Die dritte Kraft im Denken des 17. Jahrhunderts [1992]. In: Ders.: Mit allen Makeln. Erinnerungen eines Philosophiehistorikers. Hamburg 2008, 217–219) ergeht sich in Vermutungen zu More, Newton, Böhme und Conway, die von einem etwas gar freizügigen Umgang mit den Quellen zeugen.

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widerlegt ist.173 Eine Revision dieses Urteils bedürfte neuer Indizien, nicht aber Wiederholungen von Zeugnissen aus dritter Hand. Auch ist es wenig sinnvoll, die Effekte des schlechten Mechanizismus eines Newton, sei es mit Blake (1757– 1828), sei es mit Goethe (1749–1832), zu betrauern, im gleichen Atemzuge aber Böhme als den eigentlichen Vater der Naturphilosophie eines Goethe, Blake und Newton, zu feiern.174 Weitgehend unabhängig von William Law175 entwickelt Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) in seiner großangelegten Besprechung Swedenborgs (1688–1772)176 die These einer tiefgehenden Übereinstimmung der Naturphilosophie Böhmes und Newtons.177 Oetingers Ausführungen sind umso bemerkenswerter, da sie nicht nur die Nähe Newtons zu Böhme behaupten, sondern Böhmes Theosophie ins Verhältnis zu anderen naturphilosophischen Systemen zu setzen suchen, namentlich zu Nicolas Malebranche (1638–1715), Newton, Detlev Cluever (ca. 1645–1708), Christian Wolff (1679–1754), Gottfried Plouquet (1716– 1790), Giorgio Baglivi (1668–1707) und Johann Ludwig Fricker (1729–1766). Hierzu handelt Oetinger die Vergleichungen kapitelweise ab und beschließt diese meist mit einem zweispaltigen Fazit, in dem Lehrsätze des jeweiligen Systems entsprechenden Einsichten Böhmes kontrastiv gegenübergestellt werden. Dreh- und Angelpunkt von Oetingers Argumentation ist die tiefgreifendende Übereinstimmung zwischen Newton und Böhme, und dies in konsequent polarer Opposition zur Leibniz-Wolff’schen Philosophie. Was Oetinger an 173

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Vgl. Hobhouse (Anm. 147); Wormhoudt (Anm. 158), 426–429; Max Jammer: Concepts of Force. A Study in the Foundations of Dynamics (1957). Mineola (NY) 1999, 141–146; Böhme (Anm. 157), 170. Wehr (Anm. 171), 63: »[Böhme] hatte ein völlig qualitatives Naturbild, das den äußersten Gegenpol darstellt zu der mathematischen Naturwissenschaft seit Galilei und Newton, […]; ebd., 96: »Mithin ist Oetingers Bemühen fortan darauf gerichtet, jene ›Theologie ex idea vitae deducta‹ – so der Buchtitel von 1765 – zu entwickeln. Der in Hinblick auf diese Lebenstheologie gerichtete ›Sensus communis‹ wird zum adäquaten Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgan, mit dessen Hilfe eine nur mechanistische Weltsicht überwunden werden soll, wie sie seit Newton und seinem Gefolge für Mensch und Welt in Anwendung gekommen ist.« Ebd., 169: »Dass die über einige Jahrhunderte herrschende Böhme-Begeisterung eines Tages wieder abflauen musste und die romantisch getönte Naturbetrachtung angesichts der modernen Bewusstseinsentwicklung nicht durchzutragen war, sollte sich alsbald zeigen. Die Gedankenmaterialien eines grundlegenden Umschwungs lagen ja längst vor: seit Descartes und seit Newton, seit dem Anbruch der materialistisch-positivistisch orientierten Naturwissenschaft. Das Todesjahr Goethes (1832) empfanden bereits dessen Zeitgenossen, etwa Heinrich Heine oder Schelling, als eine Zäsur. Auf sie sollte mit Darwin jenes moderne Entwicklungsdenken folgen, das der spirituellen Dimension der Wirklichkeit entraten zu können meinte. Als Gottfried Benn ein Jahrhundert später, nämlich im Goethe-Jahr 1932, seinen Aufsatz über ›Goethe und die Naturwissenschaft‹ schrieb, beleuchtete er den damals eingetretenen Epochenwechsel.« Dass Oetinger von Law – wenn auch sehr ungefähr – wusste, belegt Popp (Anm. 168), 68. Friedrich Christoph Oetinger: Swedenborgs und anderer irrdische und himmlische Philosophie. Bd. II. Frankfurt a. M. 1765, 79–105. Vgl. hierzu Sigrid Großmann: Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung. Versuch einer Analyse seiner Theologie. Göttingen 1979 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 18), 120–128; Tonino Griffero: Variazioni sul tema della spazialità divina (Schelling, Oetinger, Newton, Leibniz/Clarke, More/Descartes). In: Rivista di estetica 39/10 (1999), 69–107.

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Leibniz moniert, setzt beim Satz des zureichenden Grundes an. Dieser begründe den Optimismus und impliziere einen eigentlichen Nezessitarismus, der als anthropopathisches Hirngespinst die göttliche Freiheit beschneide.178 Illustriert oder belegt wird das Urteil durch Voltaires (1694–1778) Darstellung der Debatte zwischen Newton bzw. Samuel Clarke (1675–1729) und Leibniz.179 Leibniz’ ganze Philosophie diene, so Oetinger, bloß dazu, »die Ordnung der Begriffe in Demonstrations=Form zu bringen«;180 ihre Kraft gehe einzig auf Repräsentation, sein »Speculum universi« sei ein Weltentwurf »sine motu«.181 Ein solcher Vorwurf erscheint nur aus einer theologischen Perspektive erklärbar, kann Leibniz’ Naturphilosophie doch beim besten Willen nicht als undynmaisch bezeichnet werden. Betrachten wir Leibniz’ Philosophie aber von der Unveränderbarkeit Gottes, von der Zeitlosigkeit der Schöpfung in Gott und der Vorgängigkeit des Intellekts vor dem Willen her, so entwirft sowohl die Theodizee als auch die Monadologie eine Vorstellung Gottes, die mit derjenigen Oetingers gänzlich unvereinbar ist. Diese erste mir bekannte systematische Gegenüberstellung der LeibnizWolff’schen Philosophie mit der Lehre Böhmes entdeckt also nicht etwa eine tiefgreifende Übereinstimmung, sondern betont gegen den kalten Leibniz die Gottferne seines Intellektualismus. Ja, Böhmes Nähe zu Newton und seine Ferne von Leibniz dient Oetinger dazu, den Unterschied zwischen guter und schlechter Philosophie zu skizzieren. Dies ist nicht verwunderlich: Bereits zu ihren Lebzeiten gelten Newton und Leibniz als die großen Kontrahenten, und sie bleiben es auch noch in den Augen der allermeisten Philosophen des 18. Jahrhunderts. Als hauptverantwortlich für das Bild der Leibniz-Wolff’schen Philosophie gilt es Voltaire zu nennen,182 der seit dem Erscheinen seiner Lettres philosophiques im Jahre 1734 gegen die kontinentale Tradition des Cartesianismus konsequent die Trümpfe der englischen Philosophie, Newton und Locke, ausspielt.183 Voltaire scheut sich dabei nicht, Descartes als Mitverursacher des Spinozismus und damit des Gespenstes eines alles determinierenden Monismus zu diffamieren.184 Dieser 178 179

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Oetinger (Anm. 176), Bd. II, 94. Ebd., 91 f. Es handelt sich um große Teile aus dem dritten Kapitel zum Problem der Willensfreiheit, die sich in Voltaires Vergleich der Systeme Newtons und Leibniz’ findet; Voltaire: Métaphysique de Neuton, ou Parallèle des sentimens de Neuton et de Leibnitz. Kap. 3. Amsterdam 1740, 18–21. Oetinger (Anm. 176), Bd. II, 151 f. Ebd., Vorrede, (3)v–(4)r: »Endelechia Leibnitii ist eine einige vis repaesentativa sine motu.« Zur Bedeutung von Voltaires Métaphysique de Neuton für das Leibniz-Bild des 18. Jahrhunderts vgl. Alexandra Lewendoski: Reaktionskette eines Leibnizverständnisses. Clarke, Newton, Voltaire, Kahle. In: Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. v. ders. Stuttgart 2004 (Studia Leibnitiana SH 33), 121–146. Vgl. hierzu Eric Achermann: Im Spiel der Kräfte. Bewegung, Trägheit und Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung. In: ›Natur‹, Naturrecht und Geschichte: Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900). Hrsg. v. Simone de Angelis, Florian Gelzer u. Lucas Marco Gisi. Heidelberg 2010 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 283), 287–320, bes. 310–319. Voltaire (Anm. 179), Kap. I, 3: »A Dieu ne plaise que, par une calomnie horrible j’accuse ce grand homme d’avoir méconnu la suprême Intelligence à laquelle il devoit tant, & qui l’avoit élevé au dessus de presque tous les hommes de son Siècle. Je dis seulement que l’abus qu’il a fait quelquefois de son esprit a conduit ses Disciples à des précipices dont il

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Angriff gilt, bedenken wir die anschließende Argumentation, unzweifelhaft auch Leibniz’ Denken. Es kristallisieren sich also wirkmächtige Paradigmen heraus: hier ein englisches Denken – kritisch gegenüber Systemen, offen für den Zufall, eine sprunghafte Natur sowie göttliche und menschliche Freiheit bejahend –, da eine kontinentale Systemphilosophie, die aus verstiegenen Substanzüberlegungen heraus göttliche und menschliche Freiheit negiert. Oetingers Entscheidung für Newton folgt dieser ausgepfadeten Argumentation. Er entscheidet sich für Böhme und Newton, und damit gegen das System eines Leibniz und Wolff; das Kriterium ist die Freiheit Gottes, die ein Eingreifen in den Weltenlauf nicht nur als zulässig, sondern gar als notwendig erscheinen lässt. Vor diesem Hintergrund ist die Behauptung, »wenn Oetinger nun Leibniz mit Böhme in Verbindung bringt, dann wohl kaum aus dem Grund, daß er zwischen diesen eine rezeptionsgeschichtliche Verbindung vermutet, als viel eher deswegen, weil – wenn er auch Böhme den Vorzug gibt – in der Zusammenschau beider Denkrichtungen eine wünschenswerte Entfaltungsmöglichkeit der Philosophie erachtet«,185 nicht nachvollziehbar. Doch auch die hin und wieder getätigten Vermutungen einer tatsächlich rezeptionsgeschichtlichen Verbindung zwischen Böhme und Leibniz vermögen kaum zu überzeugen, sind Hinweise auf Böhme in Leibniz’ bis zum heutigen Zeitpunkt publizierten Schriften doch eher spärlich.186 Unter den wenigen dürften die meisten durch die Vorstellung einer Adamischen Sprache oder Natursprache veranlasst sein, die Leibniz im Kontext seiner universalsprachlichen Überlegungen gerne mit dem Namen Böhmes versieht. Zwar ist es richtig, dass Leibniz der quasi etymologischen Herleitung primitiver Erkenntnisse aus den Wurzelworten einige Bedeutung beimisst; dennoch darf nicht übersehen werden, dass Leibniz’ Universalsprache hauptsächlich kombinatorisch verfährt und gegenüber einem pansophischen Programm skeptisch bleibt.187 Leibniz schwebt eine Universalsprache symbolischer Zeichen vor, durch deren Analyse und Kombination ein Kalkül analog dem algebraischen entwickelt werden kann. Dieses brächte, ganz ebenso wie die längst verschollene Adamische Sprache,

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étoit fort éloigné: je dis que le Systême Cartésien a produit celui de Spinosa: je dis que j’ai connu beaucoup de personnes que le Cartésianisme a conduits à n’admettre d’autre Dieu que l’immensité des choses; que je n’ai vu au contraire aucun Neutonien qui ne fût Théiste dans le sens le plus rigoureux.« [Gott bewahre, dass ich durch eine schreckliche Verleumdung diesen großen Mann verklage, die höchste Vernunft zu verkennen, der er selbst ja so viel schuldete und die ihn über fast alle Menschen seines Jahrhunderts stellte. Ich sage bloß, dass der Missbrauch, den er hin und wieder mit seinem Geist trieb, seine Schüler zu Abgründen hinführte, von welchen er selbst weit entfernt war. Ich sage, dass das Cartesische System dasjenige Spinozas hervorgebracht hat; ich sage, dass ich viele Personen gekannt habe, die der Cartesianismus dazu verleitete, als einzigen Gott die Unermesslichkeit der Dinge anzuerkennen, dass ich aber umgekehrt keinen Newtonianer gesehen habe, der nicht Theist im strengsten Sinne war.] Vgl. Susanne Edel: Die individuelle Substanz bei Böhme und Leibniz. Stuttgart 1995 (Studia Leibnitiana, SH 23), 207. Ebd., 11. Gottfried Wilhelm Leibniz: Brief an Detlev Cluever von Ende August 1680. In: Ders.: Die philosophischen Schriften. Hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Bd. VII. Berlin 1890, 19: »Pansophiam ab ulla characteristica expectare ridiculum est.« [Es ist lächerlich, von einer Charakteristik Allwissenheit zu erwarten.]

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physische oder willkürliche Gründe für die Verbindungen der Dinge zum Ausdruck.188 Übereinstimmung herrscht also nicht primär zwischen den Worten und den Sachen, sondern zwischen den kausalen Verbindungen der Worte und den kausalen Verbindungen der Dinge.189 Bleiben Leibniz’ Überlegungen hauptsächlich auf diese strukturale Analogie fokussiert, so versucht er nichtsdestoweniger seine Semantik in konkreten Erfahrungen zu gründen, wobei jedoch auch hier die Kluft zwischen Zeichen und Bezeichnetem bestehen bleibt.190 Die Analogie zu Böhmes Natursprache scheint also eher schwach, betrifft sie doch einzig die Vorstellung einer primordialen, intuitiven Erkenntnis, ohne aber den symbolischen Zeichen Kräfte und Wirkungen zuzusprechen, wie dies für die Signaturensprache bezeichnend ist.191 Ungeachtet der konträren Einschätzungen, welche Funktion und Bedeutung der Natursprache in Leibniz’ Sprachphilosophie zukomme, lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass More wohl kaum einen Anreiz für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Böhmes Natursprache bilden kann. Ja, es erscheint fraglich, ob Leibniz überhaupt Mores Censura oder eine seiner anderen, kürzeren Stellungnahmen zu Böhme rezipiert hat.192 Generell gilt es, das Interesse Leibniz’ an More vielleicht etwas geringer einzuschätzen, als dies gemeinhin geschieht. Gerade wo es um die Kabbala geht, begegnen wir bei Leibniz einer irritierenden Unkenntnis oder Nonchalance, was Mores eigentliche Intentionen betrifft. Zwar bezieht sich Leibniz in seiner sogenannten Réfutation de Spinoza193 wiederholt auf Mores Fundamenta, der Liste kabbalistischer Axiome also, der wir bei Hinckelmann und Wachter begegnet sind, sitzt dabei jedoch einem fundamentalen Irrtum auf. 188

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Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essai concernant l’entendement humain, III, 2, § 1. In: Ders., Die philosophischen Schriften (Anm. 187), Bd. V (1882), 260: »car si nous avions la langue primitive dans sa pureté, ou assés conservée pour estre reconnoissable, il faudroit qu’il y parût les raisons des connexions soit physiques, soit d’une institution arbitraire, sage et digne du premier auteur.« [Hätten wir nämlich die Ursprache in ihrer Reinheit, oder zumindest so erhalten, dass sie erkennbar wäre, so müssten darin die Gründe der Verbindungen erscheinen, seien sie physisch, seien sie kraft willkürlicher Einsetzung, die weise und des ersten Urhebers würdig wären.] Donald Rutherford: Philosophy and Language in Leibniz. In: The Cambridge Companion to Leibniz. Hrsg. v. Nicholas Jolley. Cambridge 1995, 224–269, hier: 241–243. Ebd., 249–251. – Mit Heinekamp gilt es zudem festzuhalten, dass im Gegensatz zu Böhme die Natursprache für Leibniz Bewusstseinsinhalte und nicht die Natur der Sache zum Ausdruck bringt; Albert Heinekamp: Ars Characteristica und natürliche Sprache bei Leibniz. In: Tijdschrift voor Filosofie 34 (1972), 446–488, hier: 475–481. Vgl. Stephan Meier-Oeser: Die Spur des Zeichens. Das Zeichen und seine Funktion in der Philosophie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Berlin 1997 (Quellen und Studien zur Philosophie 44), 340–342; Wolf Peter Klein: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins. Berlin 1992, 205– 216; Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München 1995, 191–193. Der Umstand, dass Henri Justel (1620–1693) Leibniz auf das Erscheinen von Mores Opera omnia aufmerksam macht (Edel [Anm. 185], 89), reicht wohl kaum, um das Studium der Censura auch nur schon als wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Gottfried Wilhelm Leibniz: Réfutation inédite de Spinoza. Hrsg. v. Louis Alexandre Foucher de Careil. Paris 1854. Der irreführende Titel stammt vom Herausgeber. Zu Leibniz’ Spinozakritik, Kabbalaverständnis und Wachterlektüre vgl. Georges Friedmann: Leibniz et Spinoza. Paris 21962, 201–229.

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More verurteilt ja die pantheistischen Implikationen der durch Knorr von Rosenroth publizierten lurianischen Kabbala, und er tut dies in Hinsicht auf sein eigenes, rechtgläubiges Kabbala-Verständnis. Leibniz hat entweder vergessen, was Mores Einstellung zur Kabbala ist, oder aber die wenigen Seiten so oberflächlich gelesen, dass er Mores scharfe Zurückweisung als Bekenntnis missversteht. Aus diesem Missverständnis die »Keimzelle von Leibnizens Monadologie« zu machen, wie dies Feilchenfeld bereits 1923 tat, erscheint in Anbetracht des langen Entwicklungsprozesses von Leibniz’ System und den zahlreichen weiteren bekannten Quellen reichlich übertrieben.194 Es ist also alles andere als höchst plausibel, dass Leibniz durch Mores Censura auf Böhme aufmerksam wurde, und tatsächlich haben wir – soweit ich sehe – nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass dem so wäre. Mores Censura gar zur strukturellen Vorlage für Leibniz’ Aurora195 zu machen,196 erscheint hingegen als höchst unplausibel, lässt sich in dieser kleinen Schrift doch kein einziger motivierter Bezug zu Mores Censura noch zu Böhmes Aurora feststellen – vom Titel mal abgesehen, dem wir im Übrigen auf frühneuzeitlichen Erbauungsschriften nicht selten begegnen. Näherliegend wäre es, allfällige Übereinstimmungen zwischen Böhme, More und Leibniz auf den Arzt und Hermetiker Franciscus Mercurius van Helmont (1614–1699) zurückzuführen, der sowohl mit More als auch Leibniz zeitweilig in engem Kontakt stand.197 So belegen van Helmonts Abhandlung zum Naturalphabet, seine intensive Mitarbeit an Knorrs Kabbala denudata, seine alchemistischen und paracelsischen Studien eine Reihe von Forschungsinteressen, die Leibniz teilt. Welche Rolle jedoch More hierbei spielen soll, bleibt unklar; nicht nur unterscheiden sich seine religiösen und philosophischen Überzeugungen deutlich von denjenigen van Helmonts,198 vielmehr erscheint unergründbar, was denn More zu der angeblich recht umfassenden Böhme-Kenntnis van Helmonts beigetragen haben könnte. Ob und inwieweit Leibniz und van Helmont über Böhme verhandelt haben, ist nicht belegt. Die geringe Kenntnis von Böhmes Schriften, die Leibniz noch 1698, im Todesjahr van Helmonts, gegenüber Morell behauptet, lässt vermuten, dass Böhme kein zentraler Gegenstand der Unterredungen war. Aber auch die Nähe van Helmonts zu Anne Conway erlaubt

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Vgl. die ausgesprochen pertinente Untersuchung von Stuart Brown: Leibniz and More’s Cabbalistic Circle. In: More, Tercentenary Studies (Anm. 2), 77–95, bes. 80–83. Gottfried Wilhelm Leibniz: Guilielmi Pacidii Lubentiani Aurora seu Initia Scientiae Generalis a Divina Luce ad humanam felicitatem. In: Ders., Die philosophischen Schriften (Anm. 187), Bd. VII, 54–56. Es handelt sich um eine von Leibniz’ zahlreichen Schriften bezüglich der Verbesserung (emendatio) menschlicher Vernunft und Erkenntnis. Edel (Anm. 185), 89–96. Leibniz lernt van Helmont bereits 1671 kennen; die Wege kreuzen sich in den folgenden Jahren verschiedentlich, doch sind es vor allem der Aufenthalt Leibniz’ im Frühjahr 1688 in Sulzbach sowie der Briefverkehr der Jahre 1694–1698, die einen intensiven Austausch belegen. Vgl. Gerd van den Heuvel: Leibniz und die Sulzbacher Protagonisten Christian Knorr von Rosenroth und Franciscus Mercurius van Helmont. In: Morgen-Glantz 11 (2001), 77–104; Coudert (Anm. 129), 309–311. Vgl. ebd., 220–240.

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es nicht, Leibniz’ gelegentliche Erwähnungen199 von Mores vertrauter Freundin ›ceteris paribus‹ zu einem eigentlichen Indiz der Vermittlung Böhmes über den weiteren Kreis der Cambridger Platonisten zu erklären. Conway erwähnt in ihren Principia Böhme nicht ein einziges Mal; und es erscheint forciert, die darin enthaltenen neuplatonischen und origenistischen Denkfiguren zu Böhme’schen Gedankengut zu machen. Besondere Bedeutung für die These einer großen Nähe200 zwischen Böhme und Leibniz misst Susanne Edel Aufzeichnungen bei, die Leibniz mit Von der wahren Theologia mystica überschrieben hat. Über Entstehungszeit201 und -anlass dieser Schrift kann bei heutigem Editionsstand bloß spekuliert werden. Während der Leibniz-Herausgeber Gaston Grua als Quellen Michelangelo Fardella (1650–1718),202 Christian Thomasius (1655–1728) oder van Helmont erwägt, nennt Edel als Anlass die Lektüre der Theologia Mystica John Pordages,203 eines ›Behmenist‹ also. Als Indiz hierfür wertet sie den Umstand, dass Morell Leibniz die 1698 erschienene deutsche Übersetzung zur Lektüre empfiehlt.204 Dass Leibniz diesem Rat gefolgt wäre, ist nicht bekannt. Trotz des sanften Verdachts lassen sich Ähnlichkeiten – sei es in der Wortwahl, sei es in der Argumentation – zwischen den besagten Schriften nur schwer bezeichnen;205 dass diese mutmaßlichen Ähnlichkeiten nun gar einen Transfer Böhme’scher Kerngedanken bewerkstelligen könnten, erscheint nicht nachvollziehbar. So steht die Behauptung, bei Leibniz’ Aufzeichnungen handle es sich um eine eigentliche »Übersetzung der Monadenlehre in die Sprache der Mys199

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Als Beleg für Leibniz’ Hochschätzung Anne Conways wird am häufigsten zitiert: Gottfried Wilhelm Leibniz: Brief an Thomas Burnett vom 24. August/3. September 1697. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Briefe. Hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie. Erste Reihe. Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel. Bd. 14. Mai–Dezember 1697. Berlin 1993, 450. – Zu diesem Brief und besagter Erwähnung vgl. die Bedenken von Brown (Anm. 194), 84. Oder eines großen Einflusses Böhmes auf Leibniz. Es bleibt unklar, zu welcher Ansicht Edel tendiert. Zwar behauptet Edel wiederholt, dass ihre Untersuchung vergleichend sei und nicht von direkten Übernahmen oder einer »kreativ unbedeutenden Verarbeitung« (Edel [Anm. 185], 206) ausgehe, doch wählt sie vorzüglich eine Argumentation und Ausdrucksweise, die nichts anders bedeutet, als direkte Kenntnis, Übernahme und Verarbeitung. Guhrauer verortet die Schrift »in die letzten zehn oder fünfzehn Jahre des siebzehnten Jahrhunderts«, während Grua den Zeitraum 1694–1697 angibt; Franz Vonessen: Vorbemerkung des Herausgebers. Zu: Gottfried Wilhelm Leibniz: Zwei kleine Philosophische Schriften. In: Antaios 8 (1967), 121. Vgl. hierzu Daniel Garber: Leibniz and Fardella. Body, Substance, and Idealism. In: Leibniz and his Correspondents. Hrsg. v. Paul Lodge. Cambridge 2004, 123–140. [John Pordage:] Theolologia mystica: oder Geheime und verborgne göttliche Lehre von den Ewigen unsichtbarlichkeiten: als vom Mundô & Globô Archetypô […]. Amsterdam 1698. Edel (Anm. 185), 120. Ich muss gestehen, dass es mir nach Prüfung beider Texte nicht möglich war, auch nur eine Stelle in Von der wahren Theologia mystica zu finden, die eine spezifische oder auffällige Ähnlichkeit zu Pordages Abhandlung aufweist. Edels (Anm. 185 u. 120–123) spärliche Zitate aus der englischen Version von Pordages Theologia belegen eher das Gegenteil von dem, was sie belegen sollten. Im Übrigen sind die nummerierten Argumente (120 f.), welche Pordage als Grundlage von Von der wahren Theologia mystica plausibilisieren sollten, in sich und untereinander widersinnig.

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tik Böhmes«,206 auf tönernen Füßen. Gegen die Ansicht Edels spechenen jedoch nicht nur der Mangel an positiven Belegen, sondern auch Leibniz’ eigene Aussagen, die zu bezweifeln guter Gründe bedürfte. So schreibt Leibniz noch 1697 an Morell, dass er weder Böhme noch Poiret ausreichend gelesen habe. Er räumt zwar ein, dass er »vielleicht mit ihnen übereinstimmen würde«, und zwar in denjenigen Punkten, die der Vernunft entsprechen. Die Konzession erscheint aber nicht wirklich großzügig, ist es doch nahezu gewiss, dass Leibniz mit jedem Autor übereinzustimmen gewillt ist, der seinerseits mit der Vernunft übereinstimmt. Da die Sache für ihn nun mal ist, wie sie ist, folgert er denn auch, dass es seines Erachtens nicht lohne, seine Zeit mit dem Studium genannter Autoren zu verlieren, es sei denn sein Briefpartner könne ihm in wenigen Worten den Schlüssel zu deren Schriften liefern. Seine eigenen Meditationen nämlich brächten ihn weiter, und da das Licht letztlich ja aus derselben Quelle fließe, sei ihm dieser Weg auch lieber.207 Es ist derselbe Gedanke, den Leibniz in einer recht ausführlichen Darstellung der Hauptzüge seiner Religionsphilosophie unter expliziter Bezugnahme auf Böhme in einem Schreiben an Morell im Jahre 1698 äußert: Wenn man sich gegen die Vernunft erklärt, wie es mehrere gute Leute tun, so ist dies ein klares Zeichen dafür, dass man nicht ausreichend unterrichtet ist; die Vernunft ist die natürliche Stimme Gottes und einzig durch sie muss die Stimme des geoffenbarten Gottes rechtfertigen, damit unsere Einbildungskraft oder eine andere Illusion uns nicht betrügen möge; denn andernfalls: »sua cuique Deus fit dira cupido« [seine heftige Begierde einem jedem zum Gott wird; Vergil Aeneis IX, V. 185]. Gäbe es weder Offenbarung, noch Schrift, so hörten die Menschen nicht auf, zur Glückseligkeit zu gelangen, indem sie ihrem inneren Licht folgten (das heißt der Vernunft), welchem der Beistand des Hl. Geistes nicht ermangeln würde. Da aber die Menschen sich ihrer Vernunft schlecht bedienen, so war die Offenbarung des Messias nötig. Da sie, mein Herr, die Gedanken Böhmes so schätzen und so viele andere aufgeklärte Personen es ebenfalls tun, so wünschte ich seine Lehrmeinungen in verkürzter Form kennenzulernen. Im jetzigen Zustand meiner Beschäftigungen ist es mir fast unmöglich, die Werke dieses Autors zu lesen, um dasjenige herauszupicken, was verstreut und versteckt unter den dunklen Wendungen zu finden ist. Ich gestehe ihnen, dass Redeweisen wie diejenige, die sie von Böhme berichten, in welcher er Gott »Das auge des Ungrundes da sich der unerforschliche will in einem Spiegel zu seiner selbst erkantniß faßet« nennt, mich nicht befriedigen. Dies sind metaphorische Äußerungen, die man nach Belieben wenden kann, und ich will eigentliche und deutliche.208 206 207

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Ebd., 118. Gottfried Wilhelm Leibniz: Brief an Andreas Morell von Januar 1698 (?). In: Ders., Sämtliche Schriften und Briefe (Anm. 199), Bd. 15, 264: »Sans avoir assez lû Böhme ny Poiret, je m’accorderois peutestre avec eux en ce qu’ils ont de raisonnable. Car de la maniere que je conçois les choses, elles me semblent indubitables et demonstratives; sans la presence d’un ami qui me donne en peu de mots la clef de ces auteurs, je perds trop de temps à les étudier, et j’avance bien mieux par mes propres meditations, qui viennent de cette même divine source de lumiere qui les peut avoir éclairés; puisqu’il est seur, que Dieu et la lumiere se trouvent en nous.« Gottfried Wilhelm Leibniz: Brief an Andreas Morell vom 9. Oktober 1698. In: Ders., Sämtliche Schriften und Briefe (Anm. 199), Bd. 16, 163: »Quand on declame contre la raison comme font plusieurs bonnes gens, c’est une forte marque, qu’on n’en est pas assés bien instruit; la raison est la voix naturelle de Dieu et ce n’est que par elle que la voix de Dieu revelée se doit justifier; à fin que nostre imagination, ou quelque autre illusion ne nous trompe point; autrement: sua cuique Deus fit dira cupido. […] Quand il n’y auroit ny revelation publique,

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Mehr noch: Leibniz ist nicht nur mit der Ausdrucksweise Böhmes unzufrieden, sondern fährt mit einer Kritik an einem falschen Begriff Gottes fort, in der er den Voluntarismus verwirft209 und gegen Morells Darstellung von Böhmes Lehre die Unkörperlichkeit Gottes behauptet: Die Geister sind keine subtilen Körper. Denn die Geister und die Seelen sind Einheiten, die Körper aber Mannigfaltigkeiten. Zwar glaube ich tatsächlich, dass jeder erschaffene Geist und jede Seele immer von einem organisierten Körper begleitet wird und dass sie nie vollständig davon getrennt sind, nicht einmal durch den Tod. Die Einheit kann nicht untergehen, die Zusammensetzungen aber gehen durch die Auflösung unter. Hätte ich die Wahl, so wäre ich eher für dasjenige, was sie von Jane Leade gemäß Origenes und anderen anführen, als dasjenige, was sie Böhme zubilligen.210

Die Identifikation der Vernunft mit dem inneren Licht kann also beim besten Willen nicht als Garant für eine bestimmte, i. e. Böhme’sche Mystik herhalten. Vielmehr benennt Leibniz die Tradition, in die er diesen Gedanken sowie sein eigenes Gottesbild erkennt, hier unmissverständlich selbst: Es ist diejenige eines Origenes und seinesgleichen.211 Dasselbe Schreiben entwickelt darüber hinaus eine Reihe von philosophischen Argumenten, die sich allesamt in den knapp fünf Seiten Von der wahren Theologia mystica wiederfinden: Das Verhältnis von unmittelbarer und mittelbarer Offenbarung, die Vorstellung einer falschen quietistischen Mystik, die sich von dem Wohl der Mitmenschen in praktischer Hinsicht abwendet, die Kritik an der Enthusiasten »Erhitzung ihres Geblüts«,212 die Ab-

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ny ecriture; les hommes suivant les lumieres internes naturelles (c’est à dire la raison), aux quelles l’aide de la lumiere du S. Esprit, ne manqueroit pas au besoin, ne laisseroient pas de parvenir à la vraye beatitude. Mais comme les hommes usent mal de leur raison; la revelation publique du Messie a esté necessaire. Puisque vous estimés tant, Monsieur, les pensées de Bohme, et que tant d’autres personnes éclairées en font autant, j’en souhaiterois connoistre les dogmes en raccourci; car dans la situation presente de mes occupations, il m’est presque impossible de lire les ouvrages de cet auteur, pour ramasser ce qu’il y a de bon dispersé et caché sous des locutions obscures. Je vous avoue que des manières de parler comme celle que vous rapportés de Bohme, où il appelle Dieu Das auge des Ungrundes da sich der unerforschliche will in einem Spiegel zu seiner selbst erkantniß faßet, ne me contentent gueres. Ce sont des expressions metaphoriques qu’on peut tourner comme l’on veut, et moy j’en veux des propres et distinctes.« Ebd., 164: »La volonté n’est point la premiere source; C’est tout le contraire[:] elle suit naturellement la connoissance du bien.« [Der Wille ist nicht die erste Quelle. Ganz im Gegenteil: Er folgt auf natürliche Weise der Erkenntnis des Guten.] Ebd.: »Les esprits ne sont pas des corps subtils. Car les esprits et les ames sont des unités, et les corps sont des multitudes. Il est vray que je crois que tout esprit creé et toute ame est tousjours accompagnée d’un corps organisé, et quelle n’en est jamais entierement detachée[,] pas même par la mort. Les unités ne sçauroient perir, mais les aggregés perissent par la dissolution. Si j’avois le choix je serois plus tost pour ce que vous rapportes de Jane Leade apres Origene et autres, que pour ce que vous attribués à Böhm.« Dieser Verweis dürfte für die Gottesvorstellung des späten Leibniz bedeutend sein, er ist jedoch alles andere als originell. Schmidt-Biggemann (Philosophia perennis [Anm. 32], 360) sieht, namentlich in Fragen der Willensfreiheit, die »kirchliche Dogmatik bis ins 18. Jahrhundert« durch Origenes bestimmt. Leibniz: Von der wahren Theologia mystica. In: Ders., Zwei kleine Philosophische Schriften (Anm. 201), 128–133, hier: 129.

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lehnung einer falschen Gelehrsamkeit, der das wahre Licht fehlt, die Notwendigkeit, über Vernunft und Erfahrung durch Schlüsse und Wahrscheinlichkeit zur Erkenntnis zu gelangen u. a. m. Kurz, die inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen dem Brief an Morell aus dem Jahre 1698 und den Aufzeichnungen zur Wahren Theologia mystica sind von der Art, dass allfällige Ergänzungen durch die Lektüre Pordages, die Leibniz von Morell erst 1700 empfohlen wird, genau bezeichnet werden müssten, um die Beziehung zu Böhme in positiver Hinsicht nachvollziehbar erscheinen zu lassen. Die zahlreichen Gegenüberstellungen von Böhme- und Leibniz-Zitaten, die Edel vornimmt,213 weisen wenn überhaupt entfernte Ähnlichkeiten auf, wobei jedoch ein Vergleich, sei es mit der Seelenlehre des Hl. Augustinus, dem Liber de causis, dem Liber viginti quattor philosophorum, einer der zahlreichen zeitgenössischen Abhandlungen zur mystischen Theologie oder einer christlich argumentierenden Erkenntnistheorie mit Sicherheit eine vergleichbar, wohl gar höhere Trefferquote liefern würde. Und auch was die Form betrifft, so erlauben Leibniz’ angebliche Neologismen keine solchen Schlüsse. Auffällige Ausdrücke wie »Selbststand«, »Unwesen«, »Lichtweg«, »Schattenweg« etc. finden sich weder bei Pordage, noch – soweit ich weiß – bei Böhme; sie sind mit anders lautenden, und auch Anderes bedeutenden Ausdrücken Böhmes nicht in eins zu setzen.214 Was schließlich das Theodizee-Problem betrifft, so bemerkt Edel zurecht, dass Böhmes Dialektik von Gut und Böse zu weiten Teilen aus Pordages Theologia verbannt wird,215 erkennt dieser doch in seinen trinitarischen Spekulationen über das Auge Gottes, »daß kein Böses in Gott seyn kan«.216 Die Frage nach dem Bösen will er vielmehr als Theodizee-Problem betrachtet sehen.217 Daraus kann nun aber unmöglich folgen, dass Leibniz Aussagen zu den non entia, dem »Unwesen«,218 von Böhme inspiriert seien, folgen sie doch klar seiner eigenen 213 214

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Edel (Anm. 185), 127–151. Gerade Selbststand – eine seit dem 16. Jahrhundert nachweisbare Prägung für Substanz oder Suppositium – bezeichnet die Aseität Gottes und daraus abgeleitet das Selbstwesen der Seele, deren Wolff’sches, aber auch Leibniz’sches Verständnis, wie Oetinger bemerkt, diametral demjenigen Böhmes entgegengesetzt ist: »In der Wolfischen Philosophie werden zwar die Eigenschafften GOttes aus der Aseitate, d. i. daß GOtt den Grund des Seyns in sich selbst hat, derivirt, nemlich, daß Gott nothwendig ist, daß er unverändlich ist, in welchem nichts a non esse übergehen kann ad esse, daß er ewig ist ohne Succesion, daß er independent ist, uns sich selbst genugsam, daß er unendlich ist, d .i. eine Allheit aller möglichen Vollkommenheiten besitze, und folglich keine Grade und Einschränckungen habe in demselben.«; Oetinger (Anm. 176), Bd. II, 157 f. Auch Pordage zeigt sich gegenüber einem Schöpfer, der nicht sukzessive, sondern in einem einmaligen Akt, erkennt und erschafft, skeptisch; vgl. Pordage (Anm. 203), 24 f. Edel (Anm. 185), 123. Pordage (Anm. 203), 30. Pordages Ausgangspunkt stellen Böhmes »40 Seelen-Fragen« – i. e. Antwort auf die 40 Fragen von der Selen oder Psychologia vera – aus dem Jahr 1620 dar. Vgl. Pordage (Anm. 203), 26. Die non entia gehören zum festen Bestand der scholastischen Terminologie und sind nicht nur für die Logik, sondern auch für Theologie und Erkenntnistheorie von Bedeutung; vgl. Ulrich Gottfried Leinsle: Das Ding und die Methode. Methodische Konstitutionen und Gegenstand der frühen protestantischen Metaphysik. I. Tl.: Darstellung. Augsburg 1985, z. B.

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Theodizee-Konzeption. Wo aber weder eine intendierte, noch eine nachweisbare Bezugnahme vorliegt, kann wohl kaum von »Missverständnis« die Rede sein.219 Weder die Theodizee, noch die Monadologie können als Früchte einer bald beschränkten, bald freizügigen Hermeneutik bezeichnet werden. Wie die wirkungsmächtigen Veränderungen der Physik im ausgehenden 17. Jahrhundert zustande kommen, gehört sicherlich zu den schwierigsten Fragen der Ideen- und Wissenschaftsgeschichte. Der Nachweis von Einflüssen mag hier hilfreich sein, solange die behaupteten Einflüsse so etwas wie Erklärungspotential entfalten. Die oftmals fehlende Quellenkenntnis und lückenhafte Editionslage sind ernstzunehmende Hindernisse, nicht aber Freikarten für Spekulationen. Solche Lücken sollten vielmehr mit Zweifel und Vorsicht gefüllt werden, die hohe Anforderungen an Erklärungen stellen. Was Böhme für More, Newton oder Leibniz an Denkinhalten bereitstellt, die zur Entwicklung einer eigenen Philosophie beitragen, was für spezifische Fragen Böhme aufwirft, die More, Leibniz oder Newton zu einer Revision ihrer Denksysteme veranlassen, ja, welche Spezifika selbst von den Zeitgenossen mit dem Namen Böhmes verbunden werden, dies alles gilt es zu klären. Beantworten wir diese Fragen nicht, ja stellen wir sie nicht einmal, so liefern wir nichtssagende Erklärungen zu Dingen, die wir vielleicht gar nicht verstehen wollen.

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334 f. – Leibniz’ Behandlung der Dichotomie Wesen-Unwesen folgt hier im Übrigen seinen bekannten dyadischen Überlegungen zu 1 und 0: »Alle Geschöpfe sind von Gott und nichts; ihr Selbstwesen von Gott, ihr Unwesen vom nichts. Solches weisen auch die Zahlen durch eine wunderbare Weise, und die Wesen der Dinge sind gleich den Zahlen.« Leibniz: Von der wahren Theologia mystica, 131. Die Frage nach dem Nichts taucht bei Pordage in einem völlig anderen Zusammenhang auf: »O welche Feder kann die hohe Reinigkeit dieser ewigen Liebe ausdrucken und beschreiben? Sie ist die ewige Freyheit/ weil sie von allen Dingen frey ist. Sie ist ein lauter leydend Nichts.«; Pordage: Theologia mystica, 48. Edel (Anm. 185), 209.

Friedrich Vollhardt

»Pythagorische Lehrsätze« Schwärmerkritik und Konsensdenken bei Daniel Colberg, Heinrich Wilhelm Clemm und Friedrich Christoph Oetinger Zu den wichtigsten Vermittlern der Lehre Jakob Böhmes gehörte am Ende des 17. Jahrhunderts der aus Regensburg stammende Jurist und Theosoph Johann Georg Gichtel (1638–1710). Bekannt ist seine Mitwirkung an der Amsterdamer Edition der Schriften Böhmes von 1682 und seine Vorbereitung der zweiten Gesamtausgabe, die 1715 erschien.1 In diesen Jahrzehnten hat Gichtel eine nicht geringe Zahl von Anhängern gewonnen, die ihre spiritualistischen Einsichten in die alltägliche Lebenspraxis zu überführen suchten – die Rede ist von einer ›Theosophia practica‹ –, indem sie den Gelderwerb ablehnten und sexuelle Enthaltsamkeit übten. An diese ›Engelsbrüder‹ richtete Gichtel eine Reihe von Sendschreiben, die in Teilausgaben seit 1700 publiziert wurden. Einige Drucke des ersten Bandes enthalten einen separaten, mit einem eigenen Titel versehenen Anhang, der in mehrfacher Hinsicht von Interesse ist: Einige Sprüche der Alten/ welche gantz und genau in diese Theosophiam Practicam gehen, und mit dem Geist des hoch=seligen Autoris [Gichtel] eintreffen […].2 Mit dieser Sammlung von Stellen wird der Versuch unternommen, der theosophischen Bewegung eine Geschichte zu geben, die möglichst weit zurückreicht. Angeführt werden die Homilien des Makarius, Schriften von Origenes, Augustinus, Bernhard von Clairvaux und immer wieder Tauler. Bei den wenigen neueren Autoren wird streng zwischen »Catholiquen« (Hugo von St. Viktor), »Lutheranern« (Andreas Osiander) und »Reformirten« (Johannes Piscator) unterschieden. Die mit spürbarer Distanz genannten Konfessionen machen auf das Fehlen einer Institution aufmerksam, die bei der Produktion der Historiographie hätte hilfreich sein können.3 Wie ein Ersatz für den nicht vorhandenen ekklesiologischen Zusammenhang wirkt daher die 1

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Vgl. Carlos Gilly: Zur Geschichte und Überlieferung der Handschriften Jacob Böhmes. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007 (Pimander 16), 39–54, bes. 43 f. Johann Georg Gichtel: Theosophia Practica Halten und Kämpfen ob dem H. Glauben bis ans Ende/ Durch die Drey Alter des Lebens JEsu Christi, Nach den Dreyen Principien Göttliches Wesens, mit derselben Ein= und Aus=Gebuhrt Duch Sophiam in der Menschheit […]. Dritte Edition, vermehret und verbessert. Leyden 1722. – Der genannte Anhang findet sich nicht regelmäßig in den von J. W. Überfeld nach dem Tod des Autors besorgten Editionen der insgesamt sieben Teile umfassenden Theosophia Practica. Ein Mangel, der sich bei den religiösen Dissidenten der Zeit immer wieder bemerkbar macht; für Jean de Labadie und seine Anhänger hat dies Michel de Certeau untersucht: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert. Aus dem Franz. von Michael Lauble. Frankfurt a. M. 2010, bes. 444 f.

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im Anschluss gegebene Auswahl von Berichten, in denen die Grabstätte und das Wohnhaus Jakob Böhmes beschrieben werden (»III. Bey Jac. Böhms gewesener Wohnung […]«; »IV. Jdem von Jacob Böhms Grabe«; »V. Näheres Relatum eines Freundes in Görlitz, Mense Decembr. Anno 1716«; »VI. Fernerer Bericht aus Görlitz/ Anno 1717. nach dem großen Brand«). Am Ende des 17. Jahrhunderts begibt man sich in Görlitz auf Spurensuche, um einen Memorialort zu schaffen, der eine Kollektivbeziehung herstellen sollte, die sich im Falle der Gichtelianer nur für wenige Jahre stabilisieren ließ. Die Geschichtsschreibung der Gegner erwies sich hier als erfolgreicher – eine nicht-intendierte Erinnerungsstiftung im Zeitalter der ›Historia literaria‹. Die starke Betonung der ethisch-religiösen Praxis auf der Seite der Pietisten und Theosophen bildete jedoch, wie zu zeigen sein wird (Abschnitt IV), eine bleibende Herausforderung für die orthodoxe Kritik. Es sollte nicht die einzige bleiben: Die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts ermöglichte einen neuen Blick auf die pythagoreisch-platonische Überlieferung und ersetzte die polemische Argumentationsstrategie durch alternative Modelle, wie am Beispiel des Tübinger Theologen Heinrich Wilhelm Clemm (V) und in einem Friedrich Christoph Oetinger gewidmeten Epilog (VI) zu zeigen ist. Nur kurz sei daran erinnert, dass die Schriften Böhmes ihre Wirkung bereits früh über den Dissens entfalteten, der in den Kontroversschriften thematisiert wurde. Die Sicht der Kritiker ist aufschlussreich, wobei verschiedene Stufen der Rezeption zu unterscheiden sind: Auf die Feststellung der Irrtümer in den polemischen Streitschriften am Beginn des 17. Jahrhunderts folgt die Untersuchung in einem eher akademischen Diskurs, der seinen Gegenstand aus einem zunehmenden Abstand wahrnimmt; im einen Fall geht es allein um die Verurteilung, im zweiten dann um ein Verstehen der Texte aus ihren umstrittenen religionsgeschichtlichen Ursprüngen.4 Das Werk Daniel Colbergs (1659–1698) nimmt hier eine Zwischenstellung ein. Bevor auf dessen Böhme-Kritik eingegangen werden kann (III), ist kurz die Gesamtanlage des Werkes (I) zu beschreiben, wobei die von Colberg betonten vorreformatorischen Ursprünge des zeitgenössischen Spiritualismus eine besondere Beachtung verdienen (II).

I Die Abhandlung des lutherischen Theologen ist nicht erst von der neueren Forschung5 als Quelle für den frühneuzeitlichen Renaissance-Platonismus und Spiri4

5

Ausführlicher dazu und mit weiteren Verweisen Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, 89–123. Vgl. den Handbuchartikel von Joachim Telle (in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, Bd. 2 [2008], 461), der die wichtigsten Daten verzeichnet. Die jüngst erschienene Studie von Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004 (Frühe

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tualismus, kurz: als »Häresienkompendium« (Telle) entdeckt worden. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat Heinrich von Stein in einer kirchenhistorischen Studie den Autor erwähnt und zu denen gerechnet, »die seit Wiederherstellung der Wissenschaften von einer platonischen Trinität geredet haben«; dabei werden weitere Namen aus dem engeren protestantischen Kontext herangezogen, neben dem einflußreichen Jacob Thomasius etwa Bucher, Cyprian, Rechenberg und Löscher.6 Mit dem Stichwort Platonismus ist zugleich das thematische Feld genannt, in dem das historiographische Werk Colbergs zu verorten ist und wo es für einen längeren Zeitraum Geltung beanspruchen konnte. Gemeint ist die Suche und der behauptete Nachweis einer Verbindung zwischen der antiken Philosophie und den häretischen Strömungen im Christentum: »Der erste so hierzu Anlaß gegeben/ ist ohne Zweifel Pythagoras.« Der barocke Untertitel macht dann genauere Angaben: Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, untern Namen der Paracelsisten/ Weigelianer/ Rosencreutzer/ Quäcker/ Böhmisten/ Wiedertäuffer/ Bourignisten/ Labadisten/ und Quietisten. Betrachtet man die Konkurrenz, in der Colberg schrieb und veröffentlichte, ist nach den Gründen für den Erfolg zu fragen, schließlich erlebte das umfangreiche Werk 1709/10 eine zweite Auflage und wurde im 18. Jahrhundert immer wieder benutzt. Die Veröffentlichung in der Volkssprache dürfte ein Grund für dieses anhaltende Interesse gewesen sein, in den 1690er Jahren aber noch nicht der ausschlaggebende. Man hat daher zu Recht auf das methodische Konzept verwiesen, das der Autor entwickelt hat, um sein Werk von den Erzeugnissen der ›Theologia polemica‹ und der »konventionellen häresiologischen Literatur«7 abzugrenzen. Bereits die Zweiteilung lässt das theoretische Anliegen erkennbar werden: im ersten Band wird der Ursprung der Heterodoxie auf den Platonismus zurückgeführt. Die hieraus entstandenen Sekten und Gruppen werden danach in chronologischer Folge dargestellt, wobei die historische Beschreibung um so dichter wird, je mehr sich die Aufzählung der Gegenwart nähert. Eigene Kapitel erhalten die im Titel genannten Dissidenten, bis hin zum Pietismus. Darunter selbstverständlich auch – an zentraler Stelle und mit mehrfachen Erwähnungen in den angrenzenden Abschnitten zur nachreformatorischen Zeit – Jakob Böhme. Im zweiten Teil folgt eine systematische Analyse und Katalogisierung der Irrtümer, die sich an den orthodoxen Glaubensartikeln orientiert. Untersucht werden

6

7

Neuzeit 99) behandelt den lutherischen Theologen umfassend; vorausgegangen ist dieser für die künftige Forschung grundlegenden Untersuchung ein Aufsatz von Hans Schneider: Das Platonisch-hermetische Christenthum – Ehre Gott Daniel Colbergs Bild des frühneuzeitlichen Spiritualismus. In: Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace. Hrsg. v. Nicola Kaminski u. a. Tübingen 2002 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 113), 21–42; wenige Hinweise bei Christine Maillard: Eine Wissensform unter Heteroxieverdacht: die spekulative Alchemie nach 1600. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 117), 267–289, hier: 277–284. Heinrich von Stein: Der Streit über den angeblichen Platonismus der Kirchenväter. In: Zeitschrift für die historische Theologie 31 (1861), 319–418, hier: 371 u. 397. – Zu dieser Abhandlung auch Lehmann-Brauns (Anm. 5), 124. Schneider (Anm. 5), 26.

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hier die Gotteslehre, die Christologie und Anthropologie sowie die Lehrstücke von der Wiedergeburt, der Taufe und Rechtfertigung bis hin zum Ehestand. Im Grunde bietet der zweite Band »nur eine nach Maßgabe der Dogmatik strukturierte Neudisposition der im ersten Teil bereits dargelegten Grundsätze […].«8 Entscheidend ist die Diagnose des Platonismus, sie bildet das Zentrum des gesamten Werkes, von dem her alle heterodoxen Lehren als Paganisierung der christlichen Religion erklärt werden: »Der Platonismusvorwurf vertiefte so die traditionelle Schwärmerkritik, indem er in der christlichen Übernahme des antiken Platonismus die historische und konzeptionelle Grundlage der innerchristlich-schwärmerischen Häresien lokalisierte.«9 Dieser theologisch-systematische Aspekt zeichnet das Werk Colbergs aus – doch erklärt er auch seinen Erfolg? Wohl nur zum Teil. In der Vorrede wird zwar der Versuch zur Strukturierung der diversen religiösen Abweichungen hervorgehoben – der »Connexum aller und ieder Lehr=Puncte«10 –, doch im selben Zusammenhang wird auch auf die Erfahrung »vielfältiger mündlicher Unterredung mit den Weigelianischen und Böhmistischen Sonderlingen« verwiesen, deren »Theologia nichts anders als eine schnöde Vermengung des Christlichen Glaubens mit der Platonischen un[d] Hermetischen Philosophie in sich fasse«. Mehr noch: der Streit mit den Böhme-Anhängern habe den Autor überhaupt erst dazu bewogen (»hab ich mir vorgenommen diesen Grund ein wenig genauer zu untersuchen«), seine Historische Erzehlung auszuarbeiten, mit dem Vorsatz den rechten Verstand/ den die Schwärmer unter dunckele/ unverständliche und zweydeutige Redens=Arten verstecken/ ans Tages=Licht zulegen/ und damit zu erweisen/ daß die Fanatici eine weit andere Lehr führen/ als sie äußerlich das Ansehen haben wollen [sic!]/ und wie sie die Christliche Religion mit dem Munde zwar bekennen/ im Hertzen aber verwerffen und in lauter Mystisches Wesen verkehren […].11

Von der vorbildlichen Lebensführung soll man sich nicht täuschen lassen, unter jeder praktischen Theosophie verbirgt sich ähnlich wie bei den »Valentianern/ Gnosticis und Manichæern« der schlimmste Irrglaube. Um den gefährlichen Konkurrenten begegnen zu können, muss das Wissen um die historischen Zusammenhänge auch zur Anwendung kommen. Der Autor möchte nicht nur in abstracto den neuplatonischen Lehrgehalt des spiritualistischen Schrifttums aufdecken und terminologische Konfusionen beseitigen, sondern ein Instrument für das reale Streitgespräch zur Verfügung stellen. Es ist, so lässt sich schließen, die Marktlage, das heißt der um 1700 gewachsene Bedarf an orthodoxen Argumentationshilfen, der das Interesse an Colbergs Kompendium geweckt haben dürfte. Die »böhmistischen Sonderlinge«, mit denen disputiert zu haben der Verfasser vorgibt, finden in dem Kapitel zu Böhme erneute Erwähnung (311 und 319), es 8 9 10

11

Lehmann-Brauns (Anm. 5), 119. Ebd., 123. M. Ehre Gott Daniel Colberg: Das Platonisch=Hermetisches Christenthum/ Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie […]. [Tl. I.] Franfurt a. M./Leipzig: Moritz Georg Weidmann 1690, Bl. )( )( 2v. Ebd., Bl. )( )( 2v u. )( )( 3r.

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handelt sich also um mehr als nur eine werbestrategische Äußerung im Vorwort. Bevor auf dieses Kapitel eingegangen wird, noch eine Bemerkung zur Anlage des Werkes und zum Aufbau der Argumentation.

II Für Colberg ist es die rationale, aristotelisch geprägte Theologie des Mittelalters, die als Gegenreaktion die Mystik hervorrief, mit der sich »ein Hauffen Schwärmereyen ausgebreitet« habe: »Aus diesem Platonischen Ey sind hervorgekrochen die Weigelianer, Rosenkreutzer/ neuen Propheten/ Stifelianer, Methisten/ Hoburgianer, Böhmisten/ Wiedertauffer/ Quäcker/ Bourignisten, Quietisten, Septenisten, und wie das Geschmeis sonst immermehr Namen haben mag.«12 Bei dieser Genealogie, die von Dionysios Areopagita über Bernhard, Bonaventura, Tauler und die Devotio moderna bis ins 17. Jahrhundert reicht – und die auch, wie bemerkt, für die Anhänger Gichtels verbindlich war –, hat Colberg mit einer nicht geringen Schwierigkeit zu kämpfen: der Theologia Deutsch, jenem anonymen Traktat aus dem 14. Jahrhundert, den Luther wiederentdeckt und dem er durch seine Drucke von 1516 und 1518 zu einer Erfolgsgeschichte verholfen hatte, obwohl das Buch »Redens=Arten führe/ die nicht tolerabel, noch excusabel« seien.13 Wie sollte der orthodoxe Theologe mit dieser Empfehlung umgehen, die in Bezirke der spätmittelalterlichen Mystik führte? Die Antwort ist gewunden: »Wenn es sich also mit der Teutschen Theologie verhält/ warumb hat sie denn Lutherus drucken lassen/ und in der Vorrede höchst recommendiret? Dieses pflegen die Schwärmer einzuwenden: dergleichen Gedancken entstehen auch offt bey Einfältigen.« Dem wird entgegengehalten, dass Luther »nicht schlechter Dings; sondern Vergleichungsweise redet«, weshalb die Empfehlung nur »comparativè« zu nehmen sei, unter Berücksichtigung der besonderen Zeitumstände: »flugs nach angefangener Reformation, zum Beweiß/ daß auch mitten im Pabstthum welche gefunden worden/ die der natürlichen Kräffte Vollkommenheit/ die Freyheit des menschlichen Willens und Rechtfertigung aus den guten Wercken/ läugnen.« (80 f.) Das trifft zu, doch hat Luther an der Schrift zugleich auch das auf die individuelle Erfahrung bezogene, keiner kirchlichen Weisung unterworfene Motiv der Nachfolge Christi interessiert, kurz eine »lebendige Theologie dialektischen Zuschnitts«, die sich »den Kategorien von Neu und Alt« entzieht.14 Eben dieses auf die religiöse Praxis (Gichtel!) zielende Moment macht den Text verdächtig. Ausdrücklich erwähnt und abgelehnt wird die Lehre von den »drey Mystischen Wege[n]« (79), ein Aufstiegsschema, das zur Vereinigung mit Gott anleiten soll. 12 13 14

Ebd., 75. – Die folgenden Seitenverweise beziehen sich auf diese Ausgabe, Hervorhebungen im Text (Kursivierungen etc.) bleiben durchgehend unberücksichtigt. Vgl. auch Lehmann-Brauns (Anm. 5), 151. Alois M. Haas: ›Theologia deutsch‹, Meister Eckhart und Luther. In: Variorum munera florum: Latinität als prägende Kraft mittelalterlicher Kultur. Festschrift Hans F. Haefele. Hrsg. v. Adolf Reinle u. a. Sigmaringen 1985, 321–328, hier: 323.

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In der Theologia Deutsch beschreibt diesen Weg zur »volkommenheit« das kurze Kapitel 14: Nv sal man wissen, das nymant erlucht mag werden, er sey denne vor gereyniget, geluttert vnnd gelediget. Auch mag nymant mit got voreyniget werden, er sey danne vor erluchte. Vnd dar vmmb seynt drey wege: zum ersten die reynigunge, czum andern die erluchtunge, czum drittin die voreynunge.15

Der Text lässt in der Folge offen, wie die Mitwirkung des Menschen an dieser Vereinigung zu denken ist, die auf der Gnade Gottes beruht. Hier lassen sich »zwei verschiedene Intentionen«16 erkennen, die in einer unaufgelösten Spannung zueinander stehen. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Auslegung haben die Wirkung des Textes nicht beeinträchtigt, im Gegenteil. Die fehlende dogmatische Eindeutigkeit machte den Traktat zu einem exemplarischen ›Wahrheitszeugen‹ für die spiritualistischen Bewegungen im 17. Jahrhundert, er bestätigte die orthodoxiekritischen Denkmuster und diente der Identitätsstiftung unter den Gegnern der Wittenberger Theologie, die sich dabei natürlich gerne, wie Colberg konstatiert, auf Luther als Herausgeber des ›Franckforters‹ beriefen. Diese Tendenzen bündeln sich schließlich in dem Kompendium der Kirchen- und Ketzer-Historie von Gottfried Arnold, das an der Wende zum 18. Jahrhundert erscheint und selbstverständlich auch ein Kapitel zur Theologia Deutsch enthält. Colberg hat – das ist sein Verdienst – die Bedeutung des Traktats erkannt, der in der Nachfolge der Dominikanermystik einen Weg direkter Heilsvermittlung beschrieb. Die Wirkungsgeschichte und deren Erforschung ist ein Desiderat der Forschung geblieben, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass sowohl Luther als auch seine Gegner auf der radikalen Seite der Reformation den Text benutzt haben. Um hier Klarheit zu schaffen, entwickelt Colberg seine historische Betrachtung der vorreformatorischen Ursprünge des zeitgenössischen Spiritualismus, mit der er zu erweisen sucht, wie die heutigen Schwärmereyen aus der Platonischen und Pythagorischen Philosophie/ durch Vermischung derselben mit dem Wort GOttes und der Christlichen Theologie/ zuerst entsprossen […] von einigen der Platonischen Sect zugethanen Kirchenvätern geheget/ von alten und neuen Ketzern fortgepflantzet/ und von den Mysticis Theologis zur Vollkommenheit gebracht seyn. Von denen sie die heutigen Fanatici und Enthusiasten geborget/ und als ein der Welt verborgenes göttliches Geheimniß gerühmet und ausgebreitet haben. (88 f.)

Zu diesen Laientheologen aus den subkulturellen Milieus zählt Colberg auch Jakob Böhme, dessen Porträt sich im achten Kapitel des ersten Bandes findet. 15

16

›Der Franckforter‹ (›Theologia Deutsch‹). Kritische Textausgabe. Hrsg. v. Wolfgang von Hinten. München 1982 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 78), 88. Andreas Zecherle: Die ›Theologia Deutsch‹. Ein spätmittelalterlicher mystischer Traktat. In: Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther. Hrsg. v. Berndt Hamm u. Volker Leppin. Tübingen 2007 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 36), 1–95, hier: 55.

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III Bemerkenswert ist die Einleitung zu diesem Abschnitt, in der auf die besondere Popularität des Theosophen hingewiesen wird, dessen weit verbreitete Schriften viel gelesen und empfohlen würden. Mit dem alltagsweltlichen, gleichwohl gewählten Vergleich zwischen der »Fischer=Einfalt der heiligen Schrift« und den »Grillen der Böhmischen Schuster=Theologie«17 markiert Colberg dabei die Richtung, in der sich seine Argumentation bewegen wird. Die prophetische Gabe des angeblich ungebildeten Laien wird in Zweifel gezogen, der Berufung auf den Geist wird der Buchstabe der Schrift entgegengehalten: Wir wissen wohl/ daß wir vieler Ungunst auff uns laden werden/ daß wir Jacob Böhmen und seine Schrifften mit unter die Zahl der Platonischen Schwarmgeister setzen/ angesehen ihrer viel diese Schrifften hoch veneriren/ fleißig lesen/ und als den Grund aller göttlichen und menschlichen Weißheit heraus streichen/ und andern recommendiren. […] Aber wie dem allen/ so können wir nicht umbhin des Jacob Böhmen Enthusiasterey mit zu berühren/ nicht allein darumb/ weil sich die ietzigen neuen Propheten/ Chiliasten und Quäcker=Gesellen/ Joh. Rost/ Quirinus Kuhlman[n]/ Antoinetta Bourignon, hauffenweise auff ihn beruffen […]. (308)

Es sind drei eng aufeinander bezogene Argumente, mit denen Colberg die Attraktivität der Schriften Böhmes zu erklären versucht, um ihren Reiz abzuschwächen: 1. die angebliche Inspiration des Mystikers wird als psycho-pathologischer Defekt gedeutet; 2. der Mythos des einfältigen Laien wird mit dem Hinweis auf dessen Lektüren in Frage gestellt; 3. für einige Abhandlungen wird die Autorschaft Böhmes bestritten. Wie wird aus einer mentalen Repräsentation die Behauptung einer visionären Erfahrung? Diese Frage, die auf den Kern mystischer Erfahrungsweisen zielt, wie sie auch Böhme für sich in Anspruch genommen hat, beantwortet Colberg mit der Beschreibung eines psychischen Mechanismus; aus dem exzeptionellen Moment religiöser Inspiration wird ein natürliches Phänomen der Phantasieproduktion: Aber/ wie es unmüglich sich aller Gedancken zu entschlagen/ indem die Phantasey immer beschäftiget ist/ auch den am meisten/ wenn man sich allen Gedancken entziehen will; (denn da weiß sie das ihr vom Gedächtniß zugeschobene so artig zu bilden un[d] vorzustellen/ daß ein solcher in Gedancken sitzender Mensch offt nicht weiß/ woher ihm dieser oder jener Einfall kommen/ wie ein ieder bey ihm selbst abnehmen kan) also ist es dem guten Böhmen auch ergangen/ indem er vermeinte auff ein inwendiges Licht zu mercken/ empfand er durch Vorstellung des Gedächtniß lauter Fanatische Grillen/ in welchen er sich/ durch spintisiren und nachgrüblen/ zuerlustigen und die Gedancken zu üben pflegte. (316)

17

Tl. I, 308. – Die einprägsame Handwerksmetaphorik hat Colberg aus einer polemischen Schrift von Erasmus Francisci (Gegenstrahl der Morgenröte christlicher und schrifftmässiger Warheit wider das sterngleissende Irrlicht der Absonderung von der Kirchen und den Sacramenten. Nürnberg 1685) übernommen, die er in seiner Widerlegung ausführlich zitiert.

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Ausgelöst wird dieser psychische Vorgang durch verführerisches Schrifttum, die »Fanatischen Bücher[ ]«, bei deren Lektüre zudem – wie Colberg vermutet – »der Teuffel werde mit Hand im Spiel gehabt« (317) haben. Spuren dieser Lektüre entdeckt man in den »ungebräuchliche[n] Terminos und Redens=Arten«, die Böhme aus den »klugen Heyden/ dergleichen Plato, Pythagoras, Trismegistus […] und den Juden/ nämlich den Cabalisten zusammen gesuchet/ und also diese Autores […] nebst den heutigen Alchymisten und Rosencreutzern/ müsse gelesen und daraus das Fundament seines Mischmasches gesogen haben.« (315) Dabei wird die eigentliche Offenbarung vergessen, die – nach der »Regel Pauli« – nur in den »heilsamen Worte[n] oder gesunden reinen Redens=Arten« der Bibel zu finden ist. Mit dem Wissen um die Schrift lässt sich eine Legitimation des Lehramtes verbinden und zugleich eine Kontrolle ausüben, die bei dem wachsenden Sektenwesen als besonders wichtig erscheint. Deshalb bekämpft Colberg die bei Kaspar von Schweckfeld, Valentin Weigel oder Böhme18 zu findende Berufung auf den göttlichen Geist und das ›verbum internum‹ vehement und mit der Strenge der frühen Reformatoren, denn dieser Irrthum benimmt der heiligen Schrifft alle Krafft und Würckung. Diese bestürmen die Schwärmer ins gemein/ wenn sie den heiligen Geist vom Wort absondern/ die heilige Schrifft vor einen Schall/ Hall/ Hülse/ und Liter ausruffen/ die äußerlich in die Ohren schlägt/ und in der Luft zerstiebet/ aber das Hertz nicht berühret/ nicht erleuchtet/ nicht wiedergebähret/ noch einige innere Würckung verrichtet. Dis ist der Haupt=Knote/ darauff der Fanatismus meistentheils beruhet/ daß sie einen Unterscheid und Trennung machen/ zwischen dem inwendigen und auswendigen Wort […]. Von der Böhmisten Consens zeuget Abr. von Frankkenberg/ dessen Wort im Nosce Teipsum […] gefunden werden.19

Dieser Irrtum betrifft auch die Christologie, an der sich die Abweichung von der offiziellen Lehre besonders klar demonstrieren lässt: Die Aufferstehung Christi bedeutet Jacob Böhmen so viel/ als eine Auffrichtung des inwendigen Lichtes in dem verbliebenen him[m]l[ischen] Theil des Menschen. […] Platonische Grillen sind es/ zu deren Bemäntelung die Schrifft mißbrauchet wird. Wir lesen an keinem Ort/ daß Christus in uns aufferstehen möge. […] Nun urtheile iemand hievon/ ob diesses nicht heisse/ mit dem Munde groß Geblärr […] machen/ in der That aber und im Hertzen Christum verleugnen. […] Ist ein subtiler Socinianismus mit der Platonischen Schwärmerey kräfftig vermischet/ damit ja der Teuffel den Haupt=Punct unsers Christenthums nicht unangefochten lasse.20

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Die Kombination der Namen – zusammengefügt zu einem Ketzer-Triumvirat mit landsmannschaftlichem Hintergrund – findet sich in der Zeit häufiger, auch in der akademischen Literatur; vgl. Gottlieb Wernsdorf (Praes.)/Gottlieb Liefmann (Resp.): Dissertatio historica de Fanaticis Silesiorum et speciatim Qvirino Kvhlmanno. Wittenberg 1733, 25. Ehre=Gott Daniel Colberg: Des Platonisch=Hermetischen Christenthums Ander Theil/ Darinn die Stücke der heutigen Fanatischen Theologie, nach Ordnung der Glaubens=Artickel vorgetragen/ aus den Schrifften der Schwärmer gründlich untersuchet/ nach ihrem rechten Verstand und Ursprung erördert/ und aus Gottes Wort kurtz und deutlich widerleget werden. Frankfurt a. M./Leipzig: Moritz Georg Weidmann 1691, 43 u. 49. Ebd., 310, 312 u. 323.

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Die Sätze des Häretikers werden an der Heiligen Schrift als höchster Wahrheitsinstanz geprüft und mit der als selbstverständlich vorausgesetzten Lehrautorität verworfen. Die Gründe für den Irrglauben spielen eine eher untergeordnete Rolle, mit dem Hinweis auf den Platonismus und den Sozinianismus werden sie pauschal angedeutet. Die Verbindungen zwischen den heterodoxen Bewegungen sind für die Orthodoxie ein notorisches Problem, weshalb man sich bei deren Unterscheidung keine überflüssige Mühe macht – »kräfftig vermischet« erscheinen Colberg die anti-trinitarischen und neuplatonischen Ideen, die hermetischen Spekulationen und, das wird besonders hervorgehoben, die aus der Melancholie hervorgehenden Wahnvorstellungen: Denn das solches gar offt/ zumahl den Hypochondriacis und Melancholisch=getemperirten Leuten begegne/ ob sie gleich in andern Sachen einen vollen Witz behalten/ wissen die Medici, und bezeugts die vielfache Erfahrung/ daraus man unzehlich viel Exempel könte anführen. (313)

Der Name Böhmes steht hier stellvertretend für eine bedrohliche Kommunikationsstörung mit vielfältigen Ursachen. Abschließend ist noch auf das dritte Argument einzugehen, die von Colberg umrisshaft entwickelte Theorie einer kollektiven Autorschaft, wie sie ähnlich auch Abraham Hinckelmann angedeutet hat. Danach sollen die mit Böhme befreundeten »Doctores und Medici, seine schwere Zunge erleichtert« und ihn »auch wohl gar zum schreiben instigiret haben«, um ihre Lehren auszubreiten: und unterm Schein/ daß sie von einem einfältigen Manne aus göttlicher Offenbahrung hergeflossen/ ein grösser Ansehen gewinnen möchte. Haben demnach die falschen Chymici den Jacob Böhmen zum Werckzeuge gebrauchet/ damit ihr Irrthum füglicher außgebreitet würde/ nachmahls haben sie zu seinen Schrifften/ nach Beliebung hinzugethan/ sie/ ihrer Rosencreutzerischen Meynung nach/ verbessert/ auch wohl einigen Tractat/ unter Jacob Böhmens Namen/ eingeschoben/ damit es an nichts mangele/ ihr Vorhaben auff allerhand Weise ins Werck zu setzen. (320)

Dieses Argument ist später von Johann Christoph Adelung aufgenommen worden. Freunde und Gönner haben, so die Vermutung, »Theile der Theosophie« bearbeitet und dem ungelehrten Autor überlassen, dem man dann eine besondere prophetische Gabe zuschrieb, um für öffentliche Aufmerksamkeit zu sorgen. Diese Manipulation hatte für Böhme, wie Adelung mutmaßt, krankhafte Folgen, da die im Hintergrund wirkenden Schwärmer »sich auch keine Mühe verdrießen ließen, ihm ihre Träume unterzuschieben, und einen vollständigen Narren aus ihm zu bilden.«21 Diese Enthüllung eines vermeintlichen (Rosenkreuzer-)Komplotts ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: aus der Ketzerverfolgung wird die Anamnese einer Krankheit, an die Stelle des erleuchteten Individuums tritt das Gemeinschaftswerk 21

[Johann Christoph Adelung:] Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen= und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden. Zweyter Theil. Leipzig 1786, 232.

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einer Gruppe. Sowohl die Frage nach den Rationalitätsstandards, unter denen das Werk Böhmes zu beurteilen ist, als auch die nach der Kommunikationssituation, in welcher die Texte in und durch einen Kreis begeisterter Anhänger ihre Wirkung entfalten, sind für eine Untersuchung der Theosophia revelata von Belang. Bei Adelung spielen beide Faktoren eine Rolle, der dogmatische Rationalismus22 verhindert jedoch eine eingehendere Reflexion (die religiöse Problematik der Schriften ist am Ende des 18. Jahrhunderts offenbar unverständlich geworden, das Sinnangebot ließ sich nicht mehr kollektiv stabilisieren).

IV Bei Colberg ist die Herausforderung, die von den Schriften Böhmes ausging, noch viel unmittelbarer zu spüren. Dass sie eine solche Faszinationskraft besitzen, wird, wie bemerkt, mit der Paganisierung des Christentums seit der Spätantike erklärt. Eine Deutung, die ein wesentliches Moment ignoriert oder geflissentlich übersieht, worauf bereits die Zeitgenossen aufmerksam gemacht haben. Gemeint ist die ethische Instanz, eine praktizierte Frömmigkeit als Gegenentwurf zum moralischen Versagen des orthodoxen Klerus, also ein ganz und gar lebensweltliches Motiv, wie es etwa in Gichtels Theosophia practica zu finden war: »Und warum schreibet man denn gar nicht wieder das Aristotelische Atheistische Christenthum? Aber wieder das Platonisch=Hermetische Christenthum will man mit Feuer und Schwerdt dreinschlagen/ da doch bey diesem der Irrthum mehr in Verstande/ bey jenen aber die Boßheit in Willen ist?« Das ist, im Ton unverkennbar, die von Christian Thomasius an Colberg gestellte Frage, die er in seiner Besprechung des Buches in den Monatsgesprächen noch polemisch zuspitzt: Aber was für einen unsäglichen Schaden leidet das Christenthum/ wenn durch die Aristotelische zänckische Theologie die Leute sich bereden/ daß das Reich Gottes bestehen könne/ wenn man frist und säufft/ Rachgier/ Ehr= und Geldgeitz nebst andern Wercken des Fleisches ausübet/ und nur aus Gewohnheit in die Kirche gehet/ die Sacramenta braucht/ und wenn man sterben will/ nur saget: Man habe seinen Herrn JEsum in Hertzen.23

Die Einwände gegen Colberg gehören in das Spektrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die Thomasius seit den 1680er Jahren führt. Zu nennen ist hier seine Kritik am schulmäßigen Aristotelismus und Pedantismus, die Ablehnung des Papsttums wie der lutherischen Orthodoxie sowie seine Skepsis gegenüber der neuen Experimentalphysik und der cartesianischen Philosophie. Im Umgang mit der Theologischen Fakultät entwickelt Thomasius dabei eine komplexe Argumentationsstrategie, mit der er eine direkte Konfrontation mit dem Gegner auf diesem nicht ungefährlichen Feld zu vermeiden sucht. Als Grundsatz gilt je22 23

Vgl. den Beitrag von Wilhelm Kühlmann in diesem Band. Christian Thomas: Freymüthiger Jedoch Vernunfft= und Gesetzmäßiger Gedancken Uber allerhand/ fürnemlich aber Neue Bücher December des 1689. Jahrs. Halle 1690, 1131.

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doch – und dessen Beachtung vermisst er in Colbergs Historischer Erzehlung – dass allen Formen der Geschichtsschreibung eine kritische Funktion eigen ist. Zu ihren Aufgaben gehört die Entdeckung der Vorurteile, die den wahren Fortschritt in der Wissenschaft verhindern. Die Vorurteilskritik muss das Feld frei machen, bevor die Wahrheit ihr Gebäude errichten kann.24 Dieser Appell richtet sich auch an den Verfasser einer gelehrten Geschichte der antiken philosophischen Schulen, der ein »unpartheyischer und zu keiner Philosophischen Secte über die Gebühr sich neigender Christ« sein sollte; da nun »in Untersuchung der Platonischen Lehren der Herr Colberg die normam veritatis nicht wohl beobachtet/ so hat er auch bald im ersten Capite alle Lehren/ die mit des Platonis dogmatibus überein kommen/ sie mögen nun gute oder böse seyn/ zusammen verworffen.«25 Entscheidend ist das ethische Argument. Die Fähigkeit, gut und gerecht zu handeln, wird in der aristotelischen Tradition als Klugheit bezeichnet und als ein ›habitus intellectualis‹ aufgefaßt, der allmählich durch Erfahrung und Übung wächst. Um das Vermögen der Klugheit zu entwickeln, muss die eigene, notwendig beschränkte Kenntnis durch historische Zeugnisse, eben das Wissen der Philosophie- und Kirchengeschichte erweitert und vervollständigt werden, auch was die Warnung vor falschen Lehren betrifft.26 Doch eben dieses »Aristotelische und Scholastische Christenthum« hat, wie Thomasius einwendet, »das Volck nicht from« gemacht: Aber die Platonische oder auch Mystische Theologie dringet so sehr auf ein gut Leben/ und erfordert dasselbe sonderlich von der Clerisey/ deckt auch ohne respect dieser ihre Fehler zu weit auff. Wer wolte dazu stille schweigen? Und wie würde das stehen/ wenn man keinen für einen Geistlichen wolte passiren lassen/ wenn er nicht from wäre? Besiehe nur mit unpartheyischen Augen die Kirchen=Historien/ so wirst du finden/ daß eben deswegen Weigelius, Antoinette Bourignon, Labadie, ja auch Molinos (von denen Papisten) verfolget worden. Dieses ist die causa vera. Die Platonische Philosophie, und die Enthusiasterey ist nur der prætext.27

In der moralischen Lebensführung entdeckt Thomasius einen ebenso strengen wie unfehlbaren Maßstab, an dem die dogmatischen Grundsätze und rezeptions24

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Vgl. Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Bd. XX: Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit [1713]. Hrsg. v. Friedrich Vollhardt. Hildesheim 2006, 94: »Die Philosophische Historie zeiget ihm [dem Studioso Juris] den Weg die wahre Weißheit von der falschen zu unterscheiden/ und ohne diese Historie ist er wie eine Glocke ohne Klöppel. Die Historie der Rechtsgelahrheit zeiget ihm zwischen der Legulejisterey und der Rabulisterey die Mittelstraß. Die Politische/ absonderlich die Römische und Teutsche Historie öffnet ihm zum Jure publico des Römischen Reichs die Thür; und ohne dieselbe ist er blind und stumm. Endlich giebet ihm die Kirchen-Historie Cautelen an die Hand/ daß er eines Theils rechtschaffene und der Republic nützliche Lehrer nicht verachtet/ andern Theils kein Sclave der Popenzenden Geistlichkeit werde.« Thomas (Anm. 23), 1128 u. 1126. Vgl. Merio Scattola und Friedrich Vollhardt: ›Historia literaria‹ – Geschichte und Kritik. Das Projekt der Cautelen vom 16. Jahrhundert bis zur Frühaufklärung. In: Christian Thomasius im literarischen Feld. Hrsg. v. Manfred Beetz u. Herbert Jaumann. Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 20), 159–186, bes. 180 f. Thomas (Anm. 23), 1132 f.

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historischen Annahmen der streitenden Religionsparteien – ihre nur vorgeschobenen Prätexte – zu messen sind. Der thomasianische Praktizismus greift hier voraus auf eine Problemformulierung der sittlichen Subjektivität, die sich erst in der idealistischen Philosophie ganz entfalten sollte.28 Am Beginn des 18. Jahrhunderts veränderte sich der Blick auf die antike Philosophie. Die für Colberg noch ganz selbstverständlich in der Perspektive der lutherischen Orthodoxie vorgetragene Kritik an den paganen, über die mittelalterliche Mystik tradierten Irrtümern verlor allmählich ihr heilsgeschichtliches Fundament. Doch auch die im Humanismus entwickelten wohlwollenden Einschätzungen der antiken Philosophie wurden nun objektiv geprüft: »Das Denken der Antike war fortan in einem säkularen Rahmen neuer Eigenständigkeit zu situieren und mit einem untheologischen Untergrund zu versehen.«29 Zu dieser Neukonzeption hat Johann Jacob Brucker mit seiner monumentalen, in fünf Bänden erschienenen Historia critica philosophiae (1742/1744) wesentlich beigetragen.30 Durch diese Darstellung wurde die Kenntnis der »antiken wie der mittelalterlich-neuzeitlichen Philosophie in sachlicher wie methodischer Hinsicht auf eine vollkommen neue Basis gestellt.«31 Die Wirkung war enorm, auch in der Kirchengeschichtsschreibung, wo dem von Colberg entworfenen Deutungsschema die Grundlage entzogen wurde, da die Philosophie – das hatte Brucker gezeigt – als »ein historisches Phänomen sui generis« zu betrachten war, das weder »ein Integral der Theologie noch ein literarisches Genus neben anderen noch ein beliebiges Sammelbecken für jede Art von Polyhistorie«32 darstellte. Das pythagoreisch-platonische Erbe war nun auch vom protestantischen Lehramt neu zu interpretieren, in der Auseinandersetzung mit den Schwärmern konnten die Quellen nicht länger in der historisch inadäquaten Weise Colbergs gedeutet und bewertet werden.

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Vgl. Dieter Henrich: Ethik der Autonomie. In: Ders.: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie. Stuttgart 1982, 6–56, bes. 41: »Wenn sich die Beziehung des Willens auf das Gute nicht schon vom guten Willen her verstehen läßt, so noch weniger aus einem Zweck, der ihm als Willen vorausgeht und ihn in Anspruch nimmt.« Georg Rechenauer: Die frühgriechische Philosophie im säkularen Blick: Von Brucker zu Tennemann. In: The Presocratics from the Latin Middle Ages to Hermann Diels. Hrsg. v. Oliver Primavesi u. Katharina Luchner. Stuttgart 2011 (Philosophie der Antike 26), 247– 280, hier: 248. Zu dem lateinischen Werk und der 1731/36 vorausgegangen deutschen, für das Studium entworfenen Philosophiegeschichte (Kurtze Fragen aus der philosophischen Historie) vgl. Jacob Brucker (1696–1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung. Hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Theo Stammen. Berlin 1998 (Colloquia Augustana 7). Rechenauer (Anm. 29), 251. Ebd.

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V Ein aussagekräftiges Beispiel für die geforderte Anpassung an die wissenschaftlichen Sachverhalte liefert der Tübinger Mathematiker und Theologe Heinrich Wilhelm Clemm (1725–1775). In seiner Einleitung in die Religion und gesammte Theologie hat er dem alten und neuen »Fanaticismus« ein umfangreiches Kapitel gewidmet, in dem nicht mehr pauschal nach Schulzusammenhängen gefragt, sondern idealtypisch zwischen einem »natürlichen« und einem »geistlichen« Enthusiasmus unterschieden wird. Am Beginn steht, nicht anders als bei Colberg, das Erbe »der platonischen und pythagorischen Philosophie«, das mit dem Christentum an Bedeutung verloren habe. Als Beleg wird sogleich Bruckers Darstellung der antiken Eklektik angeführt, aus welcher – unter Einbezug christlicher Elemente – die erste Form fanatischer Irrlehren hervorgegangen und tradiert worden sei.33 Da die göttliche Gnade den Philosophen keine höhere Einsicht gewährt, versuchen diese »durch natürliche Kräfte« oder durch »eine verhaßte Nachäffung« christlicher Glaubenslehren zu erzwingen, was ihnen vorenthalten bleibt. Nicht selten verdichtet sich dieser »Eigensinn« und die »unvermerkte Heucheley« zu einem Krankheitsbild, das sich etwa bei Plotin zeigt, der – wie auch Brucker anmerkt – »aufs äusserste milzsichtig und melancholisch« gewesen sei.34 Das Urteil über den »geistlichen Fanaticismus« fällt dagegen milder aus, da »Leute von dieser Gattung« mit nachvollziehbaren Vorsätzen handeln und oft nur durch Unwissenheit in einen Konflikt mit der christlichen Lehre geraten, ein individuelles »Versehen«, das sich beheben lässt. Der Gegner soll nicht »durch brennen, hauen, stechen« beseitigt, sondern durch »gelinde Mittel« geheilt werden: Angeboten wird eine neue Strategie im Umgang mit den Schwärmern, womit sich sowohl die rhetorisch-literarische Technik der Streitschrift als auch die Wahl der erklärenden Einzelfälle ändern. Die von Colberg vorgelegte Liste der Kontrahenten wird teilweise übernommen (mit besonderer Hervorhebung Böhmes), doch gibt es auch signifikante Umbesetzungen: Wir wollen die Sache mit einigen Exempeln erläutern. Es ist bekannt, was für Lehrformen in dem vorigen Jahrhundert durch die theosophische Secten, wie sie genennt werden, nach und nach aufgekommen seyen. Joh. Bapt. von Helmont wird für einen der vornehmsten Stifter davon gehalten; indeme seine Vorgänger, Paracelsus, Fludd, und vornehmlich Böhm [sic!], keine so förmliche Systeme schrieben. […] Wenn wir ein kurzes Urtheil fällen sollen, so ist es dieses. Die theosophische Lehrer haben […] darinnen gefehlt, daß sie die chemische Sprache in die Theologie einführten, und die Lehre von der Erleuchtung, Wiedergeburt, Erneurung und Vereinigung mit GOtt nicht mit den Schriftworten ausdrukten, welche doch bey den Geheimnissen nothwendig gebraucht werden müssen […]; hernach haben sie sich […] verleiten lassen, natürliche Einbildungen und Phantasien für ausserordentliche göttliche

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Heinrich Wilhelm Clemm: Vollständige Einleitung in die Religion und gesammte Theologie. Erster Band. Tübingen 1762, 104 f. Ebd., 107–109. In dieser Hinsicht erweist sich Brucker »als genuiner Erbe der orthodoxen Platonismus-Kritik eines Colberg, Bücher und Mosheim. Die (neu)platonische Tradition wird zu einer melancholischen Tradition.« (Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, 169)

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Gnadenwirkungen zu halten. Endlich haben sie nicht bestimmt genug sich ausgedrukt, und solche Sätze hie und da vorgetragen, aus welchen man das Emanationssystem, welches dem Spinozistischen nahe kommt, etwa herausbringen könnte.35

Mit der Erwähnung Spinozas begibt sich Clemm auf die Höhe der zeitgenössischen Diskussion über Freidenkertum, Atheismus und religiösen Nonkonformismus. Dabei verwendet er nicht den gerade erst eingeführten und in sich widersprüchlichen Begriff des ›Pantheismus‹, sondern bringt den bekannten Grundsatz der metaphysischen Rationaltheologie (»deus sive natura«) in Verbindung mit einem nicht näher explizierten System der Emanation. Diesem konnte man eine generative Idee unterlegen oder einen mythologischen Charakter zuschreiben und so – wie der Newtonianer Joseph Raphson – als eine in Europa nur unter Fanatikern und Schwärmern (»Fanatici quidam & Enthusiastae«) verbreitete Lehre abtun.36 Ob Clemms Argumentation in diese Richtung weist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Aufschlussreicher ist die Erwähnung des Arztes, Alchemisten und Paracelsisten Johannes Baptista van Helmont (1579–1644), den Clemm an die Spitze seines Ketzerkatalogs setzt. Der ältere van Helmont wurde durch die medizinische Fakultät der Universität Louvain angeklagt, da er die Heilkraft der Religion leugnete, kirchlichen Reliquien magische Kräfte zuschrieb und eine heterodoxe Seelenlehre vertrat, die Clemm kurz referiert.37 Gleich im Anschluss erwähnt er auch den Sohn Franciscus Mercurius van Helmont (1614–1698), der das »System« des Vaters »noch weiter ausgebreitet, und mit den Sätzen der jüdischen Cabbala vermehrt« habe.38 In der Tat haben die Schriften des Iatrochemikers und Kabbalisten, der enge Beziehungen zu dem Kreis um Christian Knorr von Rosenroth und Henry More unterhielt, am Ende des 17. Jahrhunderts Aufsehen erregt, nicht zuletzt durch das von ihm behandelte Problem der Präexistenz der Seelen und seine Konzeption der Seelenwanderung.39 Dieses offenbar heikle Thema, auf das Clemm anspielt, hatte More in einem Gedicht unter dem Titel Psychathanasia Platonica (1642) behandelt, in dem er die Errungenschaften der modernen Kosmologie mit den Theorien des Florentiner Neuplatonismus verband.40 35 36

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Ebd., 109–112. Zit. n. Winfried Schröder: Deus sive natura. Über Spinozas so genannten Pantheismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009), 471–480, hier: 472; Raphson dürfte den Begriff ›pantheismus‹ in der lateinischen Form gepägt haben. J. B. van Helmont hat seine Anklage durch die Inquisition provoziert; vgl. Kaspar von Greyerz: Religion und Wissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert: Eine Einführung. In: Religion und Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert. Hrsg. v. Kaspar von Greyerz u. a. Heidelberg 2010 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 210), 9–31, bes. 19 f. Clemm (Anm. 33), 110. Vgl. Rosmarie Zeller: Wissenschaft und Chiliasmus. Heterodoxe Strömungen am Hof von Sulzbach. Wissenschaft und Chiliasmus bei Christian Knorr von Rosenroth, Franciscus Mercurius van Helmont und Henry More. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 117), 291–307, bes. 304 f. Vgl. Hans Blumenberg: Pseudoplatonismen in der Naturwissenschaft der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1971 (Abhandlungen der geistes- und sozialwiss. Klasse der Akademie der Wissenschaften Mainz 1971, 1), 21: »More sieht in der Ablösung des geozentrischen durch das

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More und die beiden van Helmonts stehen exemplarisch für jene Bewegung im 17. Jahrhundert, die Richard H. Popkin als »third force« neben den empiristischen und rationalistischen Modellbildungen bezeichnet. Deren Vertreter sahen sich mit einem Skeptizismus konfrontiert, dem sie mit einer Kombination aus Erkenntnissen der neuen Naturforschung und theosophischen Spekulationen, einer millenaristischen Schriftdeutung und wissenschaftlichen Reformbemühungen zu begegnen suchten; die Werke Böhmes erhielten in diesem Netzwerk eine Schlüsselstellung.41 Der gebildete Mathematiker Heinrich Wilhelm Clemm – der mit Leonhard Euler verkehrte, dem er seine Lettre sur quelques paradoxes du calcul analytique (1752) gewidmet hat – dürfte diesen in der Wissenschaftsgeschichte erst spät entdeckten Zusammenhang zwischen experimenteller Methode und spekulativer Naturforschung, zwischen New Science und Spiritualismus gesehen haben. Da die beiden Mediziner auch im Lager der rationalistischen Philosophen und deistischen Intellektuellen der Zeit hohes Ansehen genossen (der jüngere van Helmont stand mit zahlreichen Mitgliedern der Royal Society in Verbindung42), lieferten sie das geeignete Beispiel, um auf einen mystischen Rahmen der empirischen Naturforschung43 aufmerksam zu machen, für Differenzierungen im Lager der Gegner zu sorgen und damit zugleich – hier weicht die literarische Strategie am entschiedensten von den älteren Modellen der Streitschrift ab – um Verständnis für die Häretiker und ihre religiösen Anliegen zu werben: Ueberhaupt ist die mystische Theologie […] so gar nicht zu verwerfen, daß man vielmehr mit allem Fleiß selbige empor bringen sollte. Dann die Ursache, warum sie noch undeutlich, oder unverständlich, oder wenigstens nicht so völlig, wie einige andere Theile der Theologie, vorgetragen wird, ist blos diese, daß sich so viele aufgeklärte Theologen vor ihr scheuen, und diesen Hauptpunkt nicht viel berühren, und die Sache entweder auf sich beruhen lassen, oder, welches noch unbilliger ist, gar übel davon sprechen. In dieser Sache sollte man ganz anderst zu Werke gehn.44

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heliozentrische System die Überwindung der Herrschaft des sinnlichen Scheins durch die der rationalen Einsicht und darin die Selbstbefreiung des menschlichen Geistes von seiner Verhaftung an die Unmittelbarkeit der physischen Organe.« Vgl. Richard H. Popkin: The Third Force in Seventeenth-Century Thought: Scepticism, Science and Millenarianism. In: Ders.: The Third Force in Seventeenth-Century Thought. Leiden, New York 1992 (Brill’s Studies in Intellectual History 22), 90–119, zu Böhme bes. 96 f. u. 102 passim; zur Aufnahme dieses Forschungsansatzes bei der Untersuchung ähnlicher Zirkel in den deutschen Territorien vgl. Martin Mulsow: Metaphysikentwürfe im ComeniusKreis 1640–1650. In: Konstellationsforschung. Hrsg. v. Martin Mulsow u. Marcelo Stamm. Frankfurt a. M. 2005, 221–257, bes. 224 f. Vgl. Allison P. Coudert: The Impact of the Kabbalah in the Seventeenth Century. The Life and Thought of Francis Mercurius van Helmont (1614–1698). Leiden 1999 (Brill’s Series in Jewish Studies 9), 170 ff. Vgl. Berthold Heinecke: Wissenschaft und Mystik bei J. B. van Helmont (1579–1644). Bern, Berlin 1996 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 20), 167 ff. Clemm (Anm. 33), 112.

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Was sich hier anzukündigen scheint, ist eine weitgehende Reform in Glaubensfragen. Anders als Colberg lässt Clemm keine Berührungsängste erkennen. Seine Sicherheit im Umgang mit dem »geistlichen Fanaticismus« gewinnt er dabei aus einem Argument, das sich auf die Trennung der Kompetenzbereiche bezieht und an den theoalchemischen Traktaten des 16. und 17. Jahrhunderts besonders gut demonstrieren lässt: Die »chemische Sprache« habe dort nichts zu suchen, wo sich die Geheimnisse des Christentums nur »mit den Schriftworten« ausdrücken lassen, die an diesen Stellen – der Ton wird nun direkter – auch »nothwendig gebraucht werden müssen« (s. o.); notwendig, da die Theologie als Wissenschaft nach ihrer eigenen Logik verfährt, nicht anders als die Jurisprudenz oder Medizin, womit zugleich jedoch der Anspruch aufgegeben wird, die Leitwissenschaft aller akademischen Fächer zu sein. Es geht um exklusive Ansprüche im Raum der religiösen Kommunikation, kurz um die Sicherung eines Systemzustandes im Verweis auf die in der Mitte des 18. Jahrhunderts bereits weitgehend vollzogene Ausdifferenzierung der Disziplinen und deren konfessionelle Neutralität.45 Um diese Ansprüche durchzusetzen, bedarf es freilich gesellschaftlicher Institutionen, zu denen auch das kirchliche Lehramt gehört. Wie diese Grenze zu kontrollieren ist, lässt sich der geschmeidigen Argumentation nicht leicht entnehmen. Es entsteht der Verdacht, dass »der Einbau von reformbezogenen Reflexionsschleifen« in die Verständigung mit den Dissidenten »selbst dann eine Funktion erfüllt, wenn sie an dem, was getan wird, nicht viel ändern.«46 Die Strategie der Vereinnahmung beherrscht Clemm virtuos, wie an einer Stelle aus dem Kapitel über die »Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion« gezeigt werden kann, an der noch einmal die pythagoreische Philosophie erwähnt wird. Den Anlaß bildet eine literarische Neuerscheinung. Der am Hof Friedrichs II. lebende Jean-Baptiste de Boyer, Marquis d’Argens (1703–1771), ein Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften und Vertreter des radikalen Deismus, veröffentlichte 1762 die französische Übersetzung eines pseudoepigraphischen, Ocellus Lucanus – einem angeblichen Schüler des Pythagoras – zugeschriebenen Textes aus dem ersten Jahrhundert vor Christus.47 Es ist, wie Clemm kurz zusammenfasst, »ein Buch von der Welt […] hundert Jahre vor dem Socrates.« Diesem ›ältesten‹ Philosophen habe der »Herr Marquis 45

46 47

Vgl. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Hrsg. v. André Kieserling. Frankfurt a. M. 2000, Kap. 5. – Vgl. auch Walter Sparn: Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Hrsg. v. Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, 18–57, bes. 57: Die theologische Aufklärung »hat sich der Aufgabe gestellt, den Verlust an dogmatischer Substanz, der mit den Umwälzungen der werdenden Neuzeit verbunden war, innerhalb der Theologie selbst zu verantworten, und hat versucht, die dogmatische Diskontinuität in die Kontinuität des theologischen Themas einzuholen.« Luhmann (Anm. 45), 246. Genaue bibliographische Angaben zu der französischen Übersetzung und der im Folgejahr gedruckten deutschen Version in: Der Marquis d’Argens. Hrsg. v. Hans-Ulrich Seifert u. Jean-Loup Seban. Wiesbaden 2004 (Wolfenbütteler Forschungen 103), 323; wenige Hinweise zu der Übersetzertätigkeit des Autors – dem Ocellus folgte auch eine Ausgabe des Timaeus Locrus – bei Jens Häseler: Der Marquis d’Argens und die Berliner Akademie. In: Ebd., 77–91, bes. 88 f.

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d’Argens« mit seiner Übersetzung »eine besondere Ehre gemacht«, indem er sie »mit gelehrten Dissertationen über die Metaphysik, Physik und Moral der Alten erläutert hat.« Über die in der Schrift entwickelte Kosmologie wird nicht viel mitgeteilt, die für den protestantischen Theologen anstößigste These lässt sich in einem Satz zusammenfassen: »Die Welt ist nothwendig, ewig, nicht hervorgebracht, unzerstörlich, und dauret ohne Aufhören fort.«48 Das steht in einem direkten Widerspruch zur Schöpfungslehre Luthers, für den Gott die Welt aus dem Nichts erschaffen hat (»ex nihilo factum coelum et terram«49), ohne vorhandene Materie, nur durch das Wort. Dieser Überzeugung haben nicht wenige Gelehrte und Opponenten der Wittenberger Theologie widersprochen, darunter Böhme, noch dazu spöttisch, wobei er die Unendlichkeit des Universums als Argument einführt: »Der einfältige spricht/ Gott hat alles auß NJCHTS gemacht/ er kennet aber denselben GOtt nicht/ und weiß nicht/ waß er ist: wan er die Erde ansiehet/ mit sampt der tieffen über der Erden/ so denckt er/ das ist nicht GOtt/ oder da ist ist nicht GOtt.«50 Diese nachreformatorischen Debatten bilden eine Voraussetzung für die Veröffentlichung und Aneignung des neupythagoreischen Textes. In seiner lakonischen Stellungnahme übergeht Clemm diesen Zusammenhang bewußt: Aus diesem philosophischen System [des Ocellus] erhellet, daß man weder einen GOtt, noch einen künftigen Zustand des Menschen nach dem Tod, folglich auch keine Religion dabey nöthig hat. […] Wir haben hier blos einen Auszug von diesem alten Lehrgebäude geben wollen; dann es wird nicht nöthig seyn, es zu widerlegen, indeme es sich schon selbst widerlegt, wenn man nur sagt, was darinnen steht. So siehet es nun mit der philosophischen Religion aus.51

Der Tübinger Theologe hat die religionskritische Funktionalisierung der antiken Quelle zweifellos erkannt. Er versucht die Intentionen des Übersetzers zu unterlaufen, indem er dessen ›gelehrte Dissertationen‹ (s. o.) ignoriert und den Text, der in seiner Darstellung als eine Kuriosität erscheint, für die eigene Argumentation in Dienst nimmt: Die antiken Vorstellungen von der kosmischen Natur und der Götterwelt widerlegen sich selbst, sie bilden keine ernsthafte Herausforderung für die christliche Dogmatik. Die Ausgabe des »berühmten« (Clemm) Marquis d’Argens erscheint damit als eine interessante, unsere historischen Kenntnisse erweiternde und entsprechend zitierfähige, letztlich aber belanglose Liebhaberei eines Altertumswissenschaftlers. Dass sich der preußische Kammerherr von seinem Ocellus-Kommentar eine andere Wirkung erwartet hat, ist anzunehmen. In der Vorläufigen Einleitung deu48 49

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Clemm (Anm. 33), 447. Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe 42. Band. Weimar 1911, 15. Vgl. zu dieser Stelle Johannes Schwanke: Creatio ex nihilo. Luthers Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts in der Großen Genesisvorlesung (1535–1545). Berlin/New York 2004 (Theologische Bibliothek Töpelmann 126), 106 f. Jakob Böhme: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 143/Bibliothek der Frühen Neuzeit 6), 386 [Morgenröthe im Aufgang, Kap. XXI]. Clemm (Anm. 33), 447 f.

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tet er zwar an, dass er nur dem Text dienen wolle, der vor »zweytausend fünfhundert Jahren« geschrieben worden sei, um »weiter nichts als die nackte Wahrheit vor[zu]tragen.« Daher habe er auf rhetorische Verzierungen und witzige Einfälle verzichtet, um dem Leser keine »parisisch=griechische Schrift«, sondern »die Arbeit des Ocellus« zu bieten.52 Für die Übersetzung mag dies zutreffen, nicht jedoch für die beigefügten Abhandlungen, die im Untertitel des Werkes als Fortsetzung von d’Argens’ äußerst erfolgreicher Philosophie du bon sens, ou Réflexions philosophiques sur l’incertitude des connaissances humaines angekündigt werden.53 Zu diesen Anmerkungen bemerkt der Autor einleitend: Mein Vorsatz ist gewesen, in denselben die vornehmsten Punkte der Gottesgelehrsamkeit, der Naturlehre, und der Sittenlehre zu erörtern, und die Uebereinstimmung oder Verschiedenheit der ältern und neuern Gottesgelehrten und Weltweisen in Absicht derselben zu zeigen […]: so habe ich mich öfters genöthiget gesehen, einige philosophische Lehrsätze, welche von den Gottesgelehrten zu ihrer Wissenschaft geschlagen worden, zu bestreiten.54

Bestritten wird damit der Alleinvertretungsanspruch der Theologie als selbständiger »Wissenschaft« in Fragen der Weltentstehung und Selbstdeutung des Menschen, also jene Trennung der Bereiche und ihrer Inhalte, auf der Clemm zu bestehen versucht, um möglichst viel an dogmatischer Substanz zu bewahren – der später von Kant gelöste ›Streit der Fakultäten‹ kündigt sich an. Auf die Provokation des französischen Aufklärers hat der protestantische Theologe nicht reagiert, obwohl sich große Teile der Ocellus-Beigaben kritisch (und bisweilen maliziös) mit der christlichen Doktrin auseinandersetzen, etwa mit der bereits angesprochenen Schöpfungslehre oder der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele. Der vorplatonische Text bietet dabei nur den Anlass für ausgedehnte Exkurse in die neuesten philosophischen Debatten, die sich zu einem religionskritischen Resümee verdichten lassen, in welchem dann abschließend noch einmal die Autorität des ›ältesten Philosophen‹ aufgerufen werden kann: Nimmt man nun alles dieses zusammen, daß die Alten nicht nur nicht geglaubet haben, daß es möglich sey, daß eine Sache aus Nichts entstehen könne […]: so wird man leicht sehen, daß es dieser Denkungsart noch am natürlichsten war zu behaupten, daß die nothwendig ewige Materie auch von aller Ewigkeit her in einer bestimmten Gestalt und Form gewesen

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Marquis d’Argens: Betrachtungen des Ocellus von Lukanien über die Welt. Aus dem Griechischen in das Französische übersetzt und mit verschiedenen Abhandlungen über die wichtigsten Punkte der Hauptwissenschaft der Naturlehre und der Sittenlehre der Alten, die man als den zweyten Theil der Weltweisheit der gesunden Vernunft ansehen kann, begleitet […]. Breßlau: George Gottlieb Horn, Bl. b3v u. b4r. – Auf die ›parisische‹ Form des intellektuellen Gesprächs hat d’Argens dennoch nicht ganz verzichtet, wenn er etwa eine kurze Geschichte des Papsttums in seine Darstellung einfügt, über den Jesuitenorden herzieht (»die Journalisten von Trevoux«) oder seine Kritik an dem Materialismus La Mettries durch Anekdoten aus dem Hofleben verstärkt. Das im Berliner Verlag von G. C. Walther – dem Verleger Voltaires – erschienene Buch erlebte 13 Auflagen innerhalb von 30 Jahren; vgl. Martin Fontius: Voltaire in Berlin. Berlin 1966 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 24), 51 f. Marquis d’Argens, Betrachtungen des Ocellus von Lukanien über die Welt (Anm. 52), Bl. b5v u. b6r.

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sey. Und hierzu haben sie sich desto eher durch die Gründe, die ich zu Anfang dieser Anmerckung beygebracht habe, und die man auch in dem Ocellus findet, überreden lassen.55

Die Rehabilitierung der pythagoreisch-platonischen Tradition geschieht im Zeichen einer aufgeklärten Vernunft und der Potsdamer Philosophie du bon sens, die in der Sittenlehre der »alten Weltweisen […] gesunde und der menschlichen Glückseligkeit zuträgliche Grundsätze« entdeckt, obwohl diese – oder gerade weil sie – »die göttliche Vorsehung geleugnet« haben.56 Die Frage, wie Natur und Vernunft in Übereinstimmung zu bringen sind angesichts der Tatsache, dass sich die Menschen kaum als besserungsfähig (oder -willig) erweisen, übergeht d’Argens ebenso souverän wie die nach dem Raum des Handelns, dessen Grenzen sich im Gang der Kulturgeschichte für den einzelnen erweitert haben. Entscheidend ist für ihn allein der Beitrag, den die antike Philosophie zur Enttheologisierung unseres Wissens über die moralische Lebensführung des Menschen leistet.

VI Eben dieser Beitrag machte in der Schwärmerkritik um 1700 die theosophischen und pietistischen Versuche einer Intensivierung der alltagsweltlichen Frömmigkeit verdächtig, diese wurden – wir kehren an den Ausgangspunkt der Überlegungen zurück – als »platonische Paganisierung des Christentums« denunziert.57 Es kann daher nicht verwundern, dass der nicht aufgelöste Problemkonnex in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu neuen, ganz überraschenden Konstellationen führte, vor allem in der spekulativen Richtung des schwäbischen Pietismus. Noch offensiver als Clemm suchte Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) das Gespräch nicht, wie zu erwarten, mit den orthodoxen Ketzermachern, sondern mit einem möglichst prominenten philosophischen Gegner und Religionskritiker: der Adressat ist Friedrich der Große. Oetinger vertritt dabei eine mit der populären Schrift des Marquis d’Argens konkurrierende Lehre vom Gemeinsinn. Das gesellschaftliche Leben lässt sich ebensowenig wie das individuelle Handeln nur auf abstrakte Regeln gründen.58 Doch worauf dann? Der jede Erkenntnis leitende 55 56

57 58

Ebd., 15–17. Ebd., 345: »so gehe ich ietzt noch weiter, und behaupte ganz zuversichtlich, daß man unter allen neuern Weltweisen (ich nehme selbst dieienigen nicht aus, die in Absicht des theoretischen Theils der Religion die allerverdammlichsten Sätze angenommen haben, wie zum Beyspiel Spinoza, Hobbes, Toland, Kollin, Pomponace […]) keinen einzigen wird zu nennen wissen, der nicht mit eben so viel Eyfer als unsre strengsten Gottesgelehrten die Abscheulichkeit der Laster gezeiget hätte […].« Lehmann-Brauns (Anm. 5), 186. Friedrich Christoph Oetinger: Inquisitio in sensum communem et rationem [1752]. ND der Ausg. Tübingen 1753. Hrsg. v. Hans-Georg Gadamer. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, § 11: »Igitur sensus communis est viva & penetrans perceptio ocjectorum, toti humanitati obviorum, ex immediato tactu & intuito [sic!] eorum, quæ sunt simplicissima, utilissima & maxime necessaria, tum a visibilibus, tum ab invisibilibus orta, habens secum evidentiam internam […].«

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sensus communis ist für ihn kein nur theoretisches Vermögen, sondern zugleich praktisch, genauer ein sensorium supersensuale, wie es »Gott einem Layen, dem Jacob Böhm, durch ein, von dem großen Philosophen de Sans-Souci verlangtes, aber von ihm nicht erkanntes, Sensorium ins Unsichtbare geoffenbahrt hat […].«59 Es ist ausgerechnet die Theosophie Böhmes, die Oetinger dem undoktrinalen, bekanntlich zur Skepsis und zu Sottisen über das Christentum60 neigenden Roi philosophe empfiehlt, um die – in der Tat vorhandenen – Inkonsistenzen seiner »Metaphysica specialis«61 aufzulösen und die von Friedrich abgewiesene Frage nach der Individualprovidenz zu beantworten. Ein ehrgeiziger Bekehrungsversuch, bei dem sich Oetinger auf die eigene Erfahrung berufen konnte, war er doch selbst bei der Beschäftigung mit der zeitgenössischen Wissenschaft und Philosophie »in eine fast gänzliche Desperation« verfallen, aus der ihn erst das Studium der antiken Naturlehre befreit habe, aus der seine Abhandlung über die Philosophie der Alten (1762) hervorgegangen sei.62 Und bereits in der Inquisitio in sensum communem trifft er eine Auswahl der zur Orientierung dienenden philosophischen Werke: »Systema Philosophi Teutonici, nec non Baconis de Verulamio. Antiquorum Systemata in parallelismum constituit cum modernis Illustris Marchio D’Argens in sua republica litteraria.«63 Der Marquis d’Argens wird hier erneut als Kenner der antiken Literatur eingeführt und unmittelbar neben Jakob Böhme als Vertreter der hermetisch-theosophischen Tradition zum Zeugen für eine Genealogie der Wahrheit. Beide Autoren, so verschieden sie sein mögen, repräsentieren die Gesamtheit unseres Wissens und stehen für ein Konzept von Philosophie in einem theologischen Rahmen: philosophia perennis.64 Entscheidend ist der von Oetinger angenommene »Konsensus« der Positionen, er »wird zur höchsten Gewähr der Vernunft.«65 Wir haben es hier mit einer Art »Schnittmengen-Theorie der Wahrheit« zu tun; der Gedanke besagt, »daß bei Vorliegen unterschiedlicher Auffassungen oder Zeugnisse jedenfalls der Teil als wahr anzusehen ist, in dem diese Zeugnisse und Auffassungen übereinstimmen […].«66 Mit der Konfessionalisierung gewinnt ein solches Kon59

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Zit. n. Ernst Benz: Der Philosoph von Sans-Souci im Urteil der Theologie und Philosophie seiner Zeit (Oetinger, Tersteegen, Mendelssohn). Wiesbaden 1971 (Abhandlungen der geistes- und sozialwiss. Klasse der Akademie der Wissenschaften Mainz 10), 27 f. – Der Anhang vom Philosophen von Sans-Souci findet sich in Oetingers Öffentlichem Denkmal der Lehrtafel der Prinzessin Antonia (1763). Vgl. Friedrich II. König von Preußen: Totengespräch zwischen Madame de Pompadour und der Jungfrau Maria [1772/73]. Hrsg. u. übers. von Gerhard Knoll. Berlin 1999. Bernhard Taureck: Friedrich der Große und die Philosophie. In: Friedrich der Große und die Philosophie. Texte und Dokumente. Hrsg. v. dems. Stuttgart 1986, 7–47, hier: 41. Das Zitat aus der Philosophie der Alten bei Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Erster Band: Elemente und Fundamente. München 1969, 150. Oetinger (Anm. 58), § 66. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis im Spätmittelalter. Eine Skizze. In: Innovation und Originalität. Hrsg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 9), 14–34. Zimmermann (Anm. 62), Bd. 1, 155. Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a. M. 1995, 147 f.

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sensdenken an Reiz, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet es weite Verbreitung, neigt dabei jedoch zur Überdehnung, was die Aufstellung von Konsensus-Reihen betrifft. Oetinger liefert dafür mehr als einen Beleg; unter den vielen Namen, die er aufführt (»longum esset enarrare theorias Philosophorum«67), trägt vor allem Böhme zur Grundlegung seiner Philosophia sacra bei. Und es ist Oetinger, der den eklektisch-ästhetischen Ideenbedarf (Zimmermann) seiner Zeit befriedigt und die Theosophie Böhmes an Herder, den jungen Goethe, Schiller68 und den nachkantischen Idealismus vermittelt.69 Doch das gehört in den zweiten Teil der Wirkungsgeschichte Jakob Böhmes.

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Oetinger (Anm. 58), § 66. Vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«. Würzburg 1985 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 17), 77 ff. Vgl. Walter Sparn: Philosophie. In: Geschichte des Pietismus Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hrsg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2003, 227–263, bes. 255 f.

II. Die Wirkungsgeschichte Böhmes bis an das Ende des 18. Jahrhunderts

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Streitbare Irenik Religiöse Toleranz, poetische Kritik und die Reflexion religiöser Diversität bei Jakob Böhme und Johann Conrad Dippel (1673–1734) Im Jahr 1711 war in einer (radikal-)pietistischen Schrift, die sich selbst als Freye und freywillige Replic auf die so titulierte Abgenöthigte Antwort/ eines zeitlichen Ministerii bezeichnete, eine Bestandsaufnahme und Kritik des zeitgenössischen Wissens über Jakob Böhme zu lesen. Der Autor, der sich die Mühe gemacht hatte, die Originalschriften häretisierter Mystiker mit ihrer Darstellung in zeitgenössischen Kirchengeschichten zu vergleichen, vermittelt nicht nur einen Eindruck vom unterschiedlichen Wissensstand um Jakob Böhme im Diskurs, sondern er deutet auch die Konfliktlinien an, die das Interesse an Böhmes Texten bestimmen. Ein Auszug aus dieser Schrift liest sich folgendermaßen: Könnet ihr aus seinen [Weigels] Schrifften ein anders beweisen, so sollt ihr mich sehr vor der Welt beschämen; Aber vielleicht habt ihr nicht einmal etwas von seinen Schrifften in eurer Bibliothec, und schämet euch doch nicht, solche abscheuliche Lästerung, die kein Mensch glauben kan, der nur ein Blat von diesem Mann gelesen, euren Vorfahren, als infalliblen Lehrern, nachzuschreiben […] Mit gleicher Aufrichtigkeit und historischer Erfahrenheit repetiret ihr das blinde Urtheil unsers Heideggers von Jacob Böhm. Hier gebet ihr erstlich sein Buch, Mysterium Magnum genannt, vor das erste an, so er ausgegeben, NB. welches doch das allerletzte ist, und sein erstes Buch, Aurora genannt, folget bey diesem nach; abermal zu einem Beweiß, wie confus eure Kirchen=Historien müssen beschrieben seyn. Weiter getrauet ihr abermal nicht, die vermeynte Gotteslästerung anzurühren, als nur mit Lateinischen Worten des Heideggers, um ja dem Pöbel euer Gemüth nicht zu entdecken, so ihr doch allen Verständigen entdecket. Denn hättet ihr diese vermeynte Gotteslästerung: Daß der Teuffel/ von Anfang ein Engel des Lichts/ aus Gottes Wesen geschaffen sey/ aber hernach willig in das Reich der Finsternis gefallen, teutsch wollen vorlegen; so bin ich versichert, keiner von euren eigenen Leuten, der seine Gedancken noch etwas brauchen kan, würde diesen Satz so gotteslästerlich halten, als unsere reine Prædestinations=Lehre; die da sagen und lehren muß: Daß GOtt den Teuffel geschaffen zu einem Teuffel/ und daß er nach dem kräfftigen und unhintertreiblichen Willen und Rathschluss GOttes gefallen ist. Dieses ist ein Satz, der GOtt ins Angesicht lästert, und alle Gedancken von GOttes Heiligkeit, Liebe, Weißheit und Gerechtigkeit aus den Hertzen der vernünfftigen Menschen muß ausrotten: Da hingegen Jacob Böhms Meynung nicht allein in sich nicht ungereimt und wider die Vernunfft ist, als welche das Nichts, woraus Alles soll geschaffen seyn, nimmermehr begreiffen kan; sondern auch expres von Paulo bevestigt wird in dem Brief an die Römer, da er im Ende des 11. Capitels spricht: Aus GOtt/ durch GOtt/ und zu GOtt/ oder in Ihn hinein/ sind alle Dinge. […] Aus diesen wenigen Passagen könnet ihr, geliebte Brüder, leicht abnehmen, wie schlecht ihr solltet mit euren Historien und Kätzer=Censuren bestehen.1 1

Johann Conrad Dippel: Freye und freywillige Replic auf die so titulierte Abgenöthigte Antwort/ eines zeitlichen Ministerii, in der Evangelisch-Reformirten Gemeinde zu Wesel […] In: Johann Conrad Dippel: Eröffneter Weg zum Frieden mit GOTT und allen Creaturen

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Diese Passage stammt aus der Feder Johann Conrad Dippels (1673–1734), und sie benennt als Kontext für die Marginalisierung der Erinnerung an Böhme doktrinäre Differenzen, schlichte Unwissenheit und Abwehr konkurrierender Sinnangebote. Dabei beweist sie jedoch ex negativo, dass auch Interesse an Böhmes Person und ein differenziertes Wissen von Böhmes Texten im frühen 18. Jahrhundert präsent war. Jakob Böhmes Schriften wurden im Milieu des Pietismus, insbesondere des radikalen, nicht kirchlich eingebundenen Pietismus vielfältig rezipiert, fortgeschrieben und in neue Sinnhorizonte eingefügt. Diese Rezeptionsprozesse trugen maßgeblich zur Dynamisierung und Differenzierung religiösen Wissens und der sozialen Praxis bei. Böhmes Theorie des androgynen Urmenschen wurde im Pietismus um 1700 zur Folie für Reflexionen zum Zusammenleben der Geschlechter und zur Institution Ehe, die von libertinärer Sophien-Mystik bis zur keuschen ›Geschwister‹-Verbindung reichten. Ebenso bildete Böhmes prophezeite Lilienzeit ein Paradigma für philadelphische und chiliastische Bewegungen, die in zwar kämpferische, aber auch produktive Spannung zur lutherischen Orthodoxie traten, indem sie die Stellung der Kirche im öffentlichen Leben problematisierten, Bekenntniszwang und Standesdenken ablehnten und damit vielen theologischen Aufklärern den Weg ebneten. Böhmes Metaphysik des Willens befruchtete theologische Neubestimmungen der Erlösung, die die Bedeutung der individuellen Ausrichtung von Imagination und Willen gegenüber dem Dogma der stellvertretenden Rechtfertigung betonten und damit die Rolle des Individuums stärkten. Böhmes Naturphilosophie schließlich, die Deutung der Natur als Leib Gottes sowie seine Metaphysik des Bösen, das Konzept eines dunklen Prinzips in Gottes ewiger Natur und allen Kreaturen wurde in naturphilosophischen Auseinandersetzungen mit den neuen Philosophien von Descartes, Spinoza, Wolff und Leibniz bereits an der Wende zum 18. Jahrhundert und damit lange vor Böhmes Wiederentdeckung in der Romantik zum Fundus der Kritik an naturphilosophischem Mechanismus, Atomismus und Substanzdualismus. Eine Schlüsselfigur für die theologische, philosophische und naturphilosophische Rezeption, Transformation und Vermittlung der Schriften Jakob Böhmes im Wissensfeld von Pietismus und Aufklärung des frühen 18. Jahrhunderts ist der (radikal-)pietistische Theologe, Arzt und Alchimist Johann Conrad Dippel, der als einer der »meistgelesenen Autoren des 18. Jahrhunderts« neben dem Ehepaar Petersen, Gottfried Arnold und Johann Henrich Reitz gilt.2

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Durch die Publication der sämtlichen Schrifften Christiani Democriti, In Drey Bänden, […] Mit einer kurtzen allgemeinen Vorrede des Auctoris, und einer andern von dem Herausgeber. Berleburg 1747 (im Folgenden zitiert als »EWFG »sowie Band und Seitenzahl), Bd. 2, 374–488, hier: 392. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hrsg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, 107–197, hier: 156.

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1. Johann Conrad Dippel Freidenker der Frühaufklärung Dippel ist als Arzt, Alchimist, Theologe und Freidenker Autor eines ca. 3 000 Druckseiten umfassenden Werks, das zu einem bedeutenden Anteil aus Streitschriften besteht. Anhand dieses Schriftkorpus lässt sich die situative Einbettung eines Interesses an Jakob Böhmes Schriften sowie ihre produktive Rezeption verfolgen, die neben und in Auseinandersetzung mit Autoren der kirchlichen Tradition, der Patristik sowie den aufklärerischen Naturphilosophien erfolgte. Zu seinen Gegnern in theologischen Kontroversen, die sich größtenteils um theologische Sachfragen wie Taufe, Rechtfertigungslehre, Willensfreiheit, Sündenbegriff, Bekenntniszwang oder Verständnis Christi drehen, zählen im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts Theologen wie der Offenbacher Hofprediger Conrad Bröske, der Superintendent von Wernigerode Heinrich Georg Neuß, der Rostocker Professor Albert Joachim von Krackevitz und sein Greifswalder Kollege, der Pietistengegner Johann Friedrich Mayer. In seinen späten Lebensjahren treten neben dem Hamburger Pastor Erdmann Neumeister und dem Hallenser Theologen Joachim Lange noch Vertreter des theologischen Wolffianismus wie der Holsteinische Hofprediger und Konsistorialrat Peter Hansen oder der Inspektor von Nauen und spätere Hauptpastor der Michaeliskirche in Hamburg Friedrich Wagner hinzu.3 Als Arzt und Naturphilosoph rezipiert Dippel Schriften von Jan Baptist van Helmont, Paracelsus oder auch die Naturphilosophie Jakob Böhmes, die er jedoch in Auseinandersetzung mit René Descartes, Baruch de Spinoza, Thomas Hobbes und Nicolas de Malebranche rationalisiert. Im Zuge seiner medizinischen Studien, die er 1711 mit der Promotion bei Bernhard Weiß (Albinus) an der Universität Leiden abschließt, setzt er sich darüber hinaus kritisch mit mechanistischen und deterministischen Positionen in praktisch-medizinischer Anatomie und der Philosophie des Spinozismus, Cartesianismus und Wolffianismus auseinander.4 3

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Einige dieser Dispute sind aufgearbeitet. S. Douglas H. Shantz: Between Sardis and Philadelphia. The Life and World of Pietist Court Preacher Conrad Bröske. Leiden/Boston 2008 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 133), 187–219; Wolf-Friedrich Schäufele: Taufe und Wiedergeburt bei Johann Conrad Dippel. In: Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. Hrsg. v. Udo Sträter u. a. Tübingen 2009, 219–228; Theodor Mahlmann: ›Die Rechtfertigungslehre ist der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt.‹ Neue Erkenntnisse zur Geschichte einer aktuellen Formel. In: Zur Rechtfertigungslehre in der Lutherischen Orthodoxie. Hrsg. v. Udo Sträter. Leipzig 2005, 167–271, hier: 171–176; Walther Rustmeier: Johann Conrad Dippel in Schleswig-Holstein. III. Dippels Kontroverse mit Petrus Hansen in Plön. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte. 2. Reihe, Bd. 16 (1958), 147–169; Walther Rustmeier: Johann Conrad Dippel in Schleswig Holstein. I. Dippels Eingreifen in die Kontroverse Dassow-Muhlius. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte. 2. Reihe, Bd. 14 (1956), 36–50. Zur naturphilosophischen Rezeption s. Irmtraud Sahmland: Pietistische Anatomie-Kritik. In: Alter Adam und Neue Kreatur (Anm. 3), 795–808; Irmtraud Sahmland: Das medizinische Konzept Johann Conrad Dippels im Kontext geistesgeschichtlicher Tendenzen um 1700. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hrsg. v. Udo Sträter u. a. Tübingen 2005, 597–610; Stefan Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutsch-

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Dippel gehört, glaubt man zeitgenössischen Dokumenten, zu den prominentesten Freidenkern deutscher Sprache. So ist der Artikel in Johann Anton Trinius Freydencker-Lexicon über ihn der mit Abstand längste Artikel, der nicht nur alle bekannten Philosophen der Aufklärung weit übertrifft, sondern auch eine bis heute gültige Bibliographie seiner Schriften sowie der Schriften seiner Gegner und Anhänger enthält.5 Christian Gottlieb Ackermanns Biographie über Dippel aus dem Jahr 1781 vergleicht diesen mit Luther. Dabei machte er als Tertium Comparationis nicht nur ähnliche Charaktereigenschaften aus – umfassende Bildung, ein zuweilen hitziges Urteil und eine an »Kühnheit« grenzende Freimütigkeit –, sondern er diagnostiziert auch einen vergleichbaren kommunikationsgeschichtlichen Kontext, nämlich den schwelenden Religionsstreit, bei dem sich jede Religionspartei allein im Besitz der Wahrheit glaube.6 Ackermanns Einschätzung, dass der Mensch Religion mit seinen Meinungen verquicke und somit zweckwidrig gehandhabte Religion zur Folie von Konflikten bis hin zu Menschen- und Nationalhass wird,7 rekurriert direkt auf Dippels Frühschriften, die den Bekenntniszwang auch unter Rückgriff auf theosophische Texte ablehnen. Dippels zeitweiliger Bewunderer und späterer Gegner, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, kommentierte im Jahrzehnt nach Dippels Tod 1734, dass dessen Anhänger im Land »Legion« seien und »man bald nichts als Dippelianer um sich«8 habe. Samuel Reimarus übernahm in seiner Apologie der vernünftigen Verehrer Gottes fast wörtlich Dippels Argumente gegen die Rechtfertigungslehre, ohne allerdings diesen namentlich zu nennen. Ein Fragment seiner religionsphilosophischen Arbeiten, Gedanken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdiensts entstand in Auseinandersetzung mit einem literarischen Schlagabtausch zwischen Dippel und Friedrich Wagner aus den Jahren 1731 und 1732. Reimarus verfasste ein Kapitel Untersuchung der Schlüsse des Herrn Friedrich Wagners, welche derselbe bey Gelegenheit der Widerlegung des Democritus von dieser Materie angebracht hat. Zur Veröffentlichung kam es allerdings nicht, da Wagner 1743 nicht nur Senior des Geistlichen Ministeriums in Hamburg, sondern damit auch

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land (1710–1791). Stuttgart 1997 (Studia Leibnitiana supplementa 31), 134–150; Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel und die Aufklärung. In: Aufklärung in Hessen. Facetten ihrer Geschichte. Hrsg. v. Bernd Heidenreich. Wiesbaden 1999, 95–106; Johanna GeyerKordesch: Die Nachtseite der Naturwissenschaft. Die ›okkulte‹ Vorgeschichte zu Franz Anton Mesmer. In: Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus. Hrsg. v. Heinz Schott. Stuttgart 1985, 13–30. Art. »Johann Conrad Dippel, sonst Christianus Democritus«. In: Johann Anton Trinius: Freydenker-Lexicon, oder Einleitung in die Geschichte der neuern Freygeister ihrer Schriften und deren Widerlegungen. Leipzig Bernburg 1759, 182–241. Neben dem über 60–seitigen Artikel zu Dippel erscheinen die Artikel zu Spinoza (27 S.), Hobbes (9 S.) und Hume (4 S.) fast bescheiden. So Goldschmidt (Anm. 4), 96. Johann Gottlieb Ackermann: Das Leben Johann Conrad Dippels. Leipzig 1781, 5–7, 108– 111. Ebd., 5 f. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Des Herrn Grafen Vorrede zu der neuen Edition seiner Bedencken in IV Tomis. In: Büdingische Sammlung einiger in die Kirchen-Historie einschlagender sonderlich neuer Schrifften. 3 Bde. Büdingen 1742–1745, hier: Bd. 1, 305.

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Reimarus’ Vorgesetzter geworden war.9 Johann Christian Edelmann, selbst einer der bekanntesten Freidenker des Jahrhunderts, Grenzgänger zwischen (Radikal-) Pietismus und Aufklärung, Bewunderer des Hamburger Dichters Barthold Hinrich Brockes, bekannte offen und herzlich, von Dippel entscheidende Impulse und Denkanstöße empfangen zu haben.10 Er trat literarisch, kirchenkritisch und naturphilosophisch in dessen Fußstapfen, womit er selbst noch das Interesse des alten Goethe zu wecken vermochte. Dieser vermerkte im elften Eintrag in sein Tagebuch im April 1827, dass er Edelmanns 1740 erschienenen Moses mit aufgedecktem Angesicht kannte.11 Und wenn Eckermann von ebendiesem 11. April 1827 zu berichten weiß, dass sich die Unterhaltung mit Goethe sowohl um Erörterungen zu Lessing und Jacobi als auch um die naturphilosophische Reflexion über einen belebten Kosmos drehte,12 dann steht diese mögliche Koinzidenz in einer Tradition, die sich nicht nur über den Spinozastreit, sondern auch über die Rationalisierung kosmologischer Theorien durch pietistische Autoren wie Edelmann und Dippel bis zu Jakob Böhme zurückverfolgen lässt.13 Dippel gewinnt seine naturphilosophische Position, die Edelmann wiederum weiterentwickelt, in Auseinandersetzung mit Böhme, Paracelsus und van Helmont d. Ä. ebenso wie mit den Naturphilosophen des 17. Jahrhunderts Spinoza, Descartes, Malebranche und Hobbes. Seine naturphilosophischen Schriften rationalisieren theosophische und paracelsische Topoi wie das Konzept des Mysterium Magnum oder Böhmes Metaphysik des Bösen im Hinblick auf zeitgenössische Fragestellungen wie die Frage nach der Freiheit Gottes wie des Menschen.14 9

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Gerhard Alexander: Spinoza und Dippel. In: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Hrsg. v. Karlfried Gründer u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Heidelberg 1984 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 12), 93–110, hier: 93. In Bezug auf die Ausführungen zu Dippel und Spinoza ist Alexanders Analyse jedoch problematisch. Johann Christian Edelmann: Selbstbiographie 1749–1752. In: Ders.: Sämtliche Schriften in Einzelausgaben. Hrsg. v. Walter Grossmann. Bd. XII. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976, 162 f. u. 203 f. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887 ff., hier: III. Abt., Bd. 11: Goethes Tagebücher 1827–1828. Weimar 1900, 44. Eckermann zitiert Goethe mit den Worten: »Ich denke mir die Erde mit ihrem Dunstkreise gleichweise als ein großes lebendiges Wesen, das im ewigen Ein- und Ausatmen begriffen ist.« Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl Eibl. u. a. Frankfurt a. M. 1987 ff., hier: II. Abt., Bd. 12: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. Hrsg. v. Christoph Michel. Frankfurt a. M. 1999, 238. So bereits Heinz Laag: Der Pietismus ein Bahnbrecher der deutschen Aufklärung. In: Theologische Blätter 12 (1924), 269–277. Ebenso Heinrich Bornkamm: Pietistische Mittler zwischen Jakob Böhme und dem deutschen Idealismus. In: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Hrsg. v. Heinrich Bornkamm, Friedrich Heyer u. Alfred Schindler. Bielefeld 1975, 139–154. Dippels naturphilosophische Beschäftigung mit Böhme spiegelt sich in drei Texten, die in unterschiedlichen Lebensphasen entstanden sind: In Anderer Theil des Weg=Weisers zum Licht und Recht in der äussern Natur (1704), der noch sehr alchimistisch geprägten Entfaltung seiner Naturphilosophie, erläutert er Böhme durch die hermetischen Schriften; in Fatum fatuum, seiner Schrift über die Willensfreiheit (1708), findet eine rationalisierende und wechselseitig befruchtende Evaluierung alter animistischer und zeitgenössisch aufklärerischer Naturphilosophien statt, und in seiner medizinischen Dissertation Vitae animalis morbus et medicina (1711) ist das alte Konzept eines geistdurchwirkten Kosmos zu einer

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Als habilitierter Theologe und promovierter Mediziner besaß Dippel die akademische Bildung, das Wissen praktischer Naturstudien sowie die ärztliche Erfahrung am Krankenbett, um kenntnisreich und selbstbewusst in theologische und naturphilosophische Debatten einzugreifen und seine Argumentationen mit spitzer Feder zu vertreten. Sein selbstgewähltes Pseudonym Christianus Democritus nach dem lachenden Philosophen Demokrit von Abdera spielt nicht nur auf den traditionellen Topos des Lachens über die Torheit der Welt an, sondern impliziert im radikalpietistischen Diskurs noch zweierlei: Erstens galt Demokrit nach Valentin Weigels Der güldene Griff (1578) als der Philosoph, der sich selbst die Augen ausstach, um besser mit dem inneren Auge göttliche Dinge sehen zu können15 und zweitens wendete Dippel diesen Topos dahingehend, dass er ohne Ansehen von Ständen und Personen seine Wahrheit aussprechen wollte, wobei ihm mehr daran lag, Bestehendes kundig zu hinterfragen als neue unverrückbare Wahrheiten vorzulegen.16 Als nicht institutionell gebundener Außenseiter, der theologische Sachfragen auf deutsch vor einem breiten Lesepublikum diskutierte, bestehende Lehrmeinungen unter kenntnisreichem Rückgriff auf die Bibel, Tradition und Geschichte kritisierte und mit teilweise bissigem Spott Angriffe parierte, avancierte er zu einem Hauptgegner der Orthodoxie. Sein Lebenslauf ist von häufigen, teilweise erzwungenen Ortswechseln von Gießen, Berlin, Maarsen (Niederlande), Altona, Bornholm, Stockholm und Berleburg geprägt.17 Im kulturgeschichtlichen Gedächtnis blieb er vorwiegend als Spötter in Erinnerung, wobei das Bild, das Adelungs Geschichte der menschlichen Narrheit von Dippel zeichnet, Dippels rationale Argumentationen im Kontext der theologischen

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Philosophie des Lebens entwickelt, die auf Jakob Böhme noch als Anreger zurückblickt. Noch im Jahr 1733, als ein bis in die moderne Forschung hinein Dippel fälschlich zugeschriebenes Buch unter seinem Namen erscheint, Microcosmische Vorspiele eines neuen Himmels und einer neuen Erde, setzt er sich kritisch mit Böhme auseinander, dem er trotz kritischer Distanz eine grundsätzliche Wertschätzung nicht abspricht. EWFG, Bd. 1, 919– 1028, hier: 1015 f.; Bd. 2, 1–122, hier: 7; Bd. 2, 124–373, hier: 336 f.; Bd. 3, 399–466, hier: 401 ff. Valentin Weigel: Der güldene Griff. Hrsg. v. Horst Pfefferl. Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, 34. Weiterführend zu Weigels Epistemologie Heinz Längin: Grundlehren der Erkenntnislehre Valentin Weigels. In: Archiv für Geschichte der Philosophie, 41 (1932), 435–478; Winfried Zeller: Naturmystik und spiritualistische Theologie bei Valentin Weigel. In: Epochen der Naturmystik. Hrsg. v. Antoine Faivre u. Rolf Christian Zimmermann. Berlin 1979, 105– 124, hier: 113; Andrew Weeks: Valentin Weigel (1533–1588). German Religious Dissenter, Speculative Theorist and Advocate of Tolerance. New York 2000, 117. Zu Dippels Kenntnis Weigels ab dem Jahr 1697: Johann Konrad Dippel: Papismus Protestantium Vapulans. In: EWFG, Bd. 1, 106. Dippel: Christiani Democriti Schluß=Rechnung. In: Ebd., Bd. 1, 1051 f.; Dippel: Fatum fatuum. In: Ebd., Bd. 2, 122. Dippels Biographie ist differenziert geschildert in Wilhelm Bender: Johann Konrad Dippel. Ein Freigeist aus dem Pietismus. Bonn 1882. Ausgewogen auch Karl Buchner: Johann Konrad Dippel. In: Historisches Taschenbuch. Hrsg. v. Friedrich von Raumer. 3. Folge, 9. Jg. Leipzig 1858, 207–355. Sehr detailliert zum jungen Dippel Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel. Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung. Göttingen 2001. Knapp Ernst Fischer/Udo Roth: Art. »Dippel«. In: Literaturlexikon: Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Begr. von Walther Killy. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann. Bd. 3, vollst. überarb. Aufl. Berlin/New York 22008, 42–44.

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Streitkultur vollständig ausblendet und das wirkungsgeschichtlich folgenschwere Portrait eines »indifferentistischen Schwärmers« zeichnet sowie dessen Philosophie – ähnlich wie die Böhmes – als Produkt einer lebhaften Einbildungskraft pathologisiert.18 Dippel setzt sich mit Böhmes Texten sowohl theologisch wie naturphilosophisch auseinander, wobei die theologische Begegnung zuerst, nämlich ab 1699 publizistisch nachweisbar ist. Sie fand im kommunikationshistorischen Kontext der religiösen Kontroversen um die Deutungs- und Definitionshoheit des ›rechten Glaubens‹ statt, die mit Auseinandersetzungen um religiöse Devianz, um Heterodoxie, Häresie und die Haltung gegenüber Andersgläubigen einherging, wobei der Devianzbegriff nicht nur Pietisten und innerlutheranische Kritiker umfasste, sondern ebenfalls andere Religionen, namentlich Juden, ›Türcken‹ (Muslime) und Heiden. Die Frage nach Heterodoxie ist mit der Frage nach Bestimmungskriterien von Orthodoxie verbunden, und sie indiziert Differenzierungsprozesse der diskursmächtigen Religion, die für die Entstehung von Neuem in der Frühen Neuzeit grundlegend waren und der Aufklärung entscheidende Vorarbeit leisteten.19 Dippels Beispiel zeigt, wie die historische Anthropologie von Böhmes Theosophie den Ermöglichungsgrund eines Denkens von Freiheit, von Verantwortung des Individuums vor Gott und schließlich einer Reflexion von religiöser Diversität bildete.20 Böhme wurde im orthodoxen Diskurs der Zeit undifferenziert der Schwärmerliteratur zugerechnet. In den Jahren 1690/91 hatte Daniel Ehregott Colbergs Platonisch-hermetisches Christenthum spiritualistische Literatur, platonische Philosophie und Böhmes Theosophie systematisierend als unchristliche Häresien zusammengefasst. Als vielseitig belesener Analytiker hatte Colberg mit dem scharfen Blick des informierten Gegners den gesamten Diskurszusammenhang mystischer, paracelsischer, hermetischer und rosenkreuzerischer Provenienz zum Anderen der Orthodoxie erklärt und dabei Jakob Böhmes Schriften nicht aus seinem Kompendium der Schwärmerkritik ausgeschlossen, da dieser, wie Col18

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Johann Christoph Adelung: Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen= und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager und anderer philosophischer Unholden. Erster Tl. Leipzig 1785, 314–347. Zu Adelungs Geschichte der menschlichen Narrheit als Ketzergeschichte im Sinn des Wolff’schen Rationalismus Wilhelm Kühlmann: Biographische Methode und aufgeklärte Revision der Geschichte – Johann Christoph Adelungs Paracelsusbiographie. In: Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrasts von Hohenheims im deutschen Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Stuttgart 1994, 541–556, sowie desselben Beitrag in diesem Band. Michael Titzmann: Religiöse Abweichung in der Frühen Neuzeit. Relevanz – Formen – Kontexte. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte und Michael Titzmann. Tübingen 2006, 5–118, hier: 12 ff. Die Erforschung des Einflusses Böhmes auf Dippel ist ein altes Desiderat der Forschung. So galt Böhme bislang unspezifiziert als Quelle von Dippels Theologie. Chauncey David Ensign: Radical German Pietism (c. 1675–1760). Diss. Boston University School of Theology. Ann Arbor (MI) 1955 (Doctoral Publication Series. Publication No. 12), 159 u. 296. Bereits Emanuel Hirsch bezeichnete 1951 die Kenntnis Böhmes als »Voraussetzung einer vollständig befriedigenden Darstellung von Dippels Theologie.« Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Gütersloh 1949 ff., hier: Bd. 2 (1951), 277.

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berg erläutert »in dem Grunde mit ihnen einig/ und eben dieselbe Schwärmerey treibet«.21 Erkenntnisleitendes Kriterium für die Einschätzung der Rechtgläubigkeit war für Colberg in dieser Analyse das Kriterium der Schriftgemäßheit gewesen.22 Die macht- und kirchenkritischen Implikationen des hermetisch-platonischen Diskurses, für die im Pietismus die theosophische und apokalyptische Begrifflichkeit vielfach die sprachliche Matrix bildete, erschließen sich aus den Texten des Danziger Predigers Friedrich Christian Bücher, der, aufbauend auf Colberg, um 1700 den Vorwurf gegen den Pietismus richtete, im Kern eine platonische und damit unchristliche Philosophie zu vertreten. In Plato mysticus in Pietista redivivus (1699), in Haupt=Gründe des Fanaticismi (1699) und in Lutherus Anti-Pietista (1701) assoziierte Bücher pietistisches Streben nach Erneuerung der religiösen Praxis mit den radikalen Kräften der Reformation, analysierte penibel per ›parallelismo‹ die Analogien zwischen den Schriften pietistischer Theologen und dem verworfenen Platonismus und geißelte die pietistische Praxis von Privatzusammenkünften, ihre Hinterfragung der Autorität der symbolischen Bücher und ihre chiliastische Naherwartung zur Jahrhundertwende, da sich diese mit der Hoffnung auf das Ende der als ›Babel‹ verachteten Amtskirche verband.23 Mit dieser Analyse formulierte Bücher einen Vorwurf, auf den Philipp Jakob Spener umgehend beschwichtigend reagierte. Zwar stritt Spener ab, Platon überhaupt so weit gelesen zu haben, um von ihm beeinflusst werden zu können, doch war er 21

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Ehre Gott Daniel Colberg: Das Platonisch-hermetisches Christenthum /Begreiffend die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer/ Rosencreutzer/ Quäcker/ Böhmisten/ Wiedertäuffer/ Bourignisten/ Labadisten/ und Quietisten. Frankfurt a. M./Leipzig 1690 (zweiter Tl. 1691), Bd. 1, 309. Zu Colberg umfassend Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004, 112 ff.; Hans Schneider: Das ›Platonisch-hermetische Christenthum‹ – Ehre Gott Daniel Colbergs Bild des frühneuzeitlichen Spiritualismus. In: Hermetik: Literarische Konfigurationen zwischen Babylon und Cyberspace. Hrsg. v. Nicola Kaminski, Heinz Drügh u. Michael Hermann. Tübingen 2002, 21–42; knapp Christine Maillard: Eine Wissensform unter Heterodoxieverdacht. Die spekulative Alchimie nach 1600. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit (Anm. 19), 267–289; Friedrich Vollhardt: Die Theosophie Jakob Böhmes und die orthodoxe Kritik. In: Prädestination und Willensfreiheit. Luther, Erasmus, Calvin und ihre Wirkungsgeschichte. Hrsg. v. Wilfried Härle, Wilfried u. Barbara Mahlmann-Bauer. Leipzig 2009, 167–178, hier: 171. Colberg, Christenthum (Anm. 21), Bd. 1, )()(3v, 171: »Wo bleibet hier die göttliche Autorität der Wort GOttes? wo die Reverentz und Ehrerbietung/ so wir demselben schuldig seynd? ists nicht eitel Betrigerey/ viel von der heiligen Schrifft sagen/ und doch ihren rechten natürlichen Verstand verwerffen/ und sie/ nach eigenen Träumen/ vom inwendigen Licht/ und nach Heydnischer Platonischer Blindheit richten.« Vgl. auch Schneider (Anm. 21), 28. Friedrich Christian Bücher: Plato Mysticus in Pietista Redivivus, Das ist: Pietistische Übereinstimmung Mit der Heydnischen Philosophia Platonis Und seiner Nachfolger/ Besonders in der Lehre von denen so genandten Himmlischen Entzuckungen/ Alle und jede/ Welche die wahre Gottseligkeit lieben/ für der Tiefe des Sathans zu warnen/ In einem Augenscheinlichen Parallelismo Richtig gezeiget/ Schrifftmäßig erörtert/ und dem Urtheil der Evangelischen Kirche übergeben. […] Danzig 1699. Ders.: Lutherus Anti-Pietista, d. i. D. Martin Luthers Schrifftmäßiges Urtheil von dem Pietismo […] Wittenberg 1701. Ders.: Haupt=Gründe des Fanaticismi So in der Verführung unserer ersten Eltern/ und der Schwärmer/ zu der Apostel und Lutheri Zeiten Aus der H. Schrifft und der Christl. Antiquität eröffnet. Danzig 1699. Zu Büchers Plato Mysticus auch Lehmann-Brauns (Anm. 21), 187 ff.

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durch Büchers Angriffe gezwungen, zu den kritischen Implikationen der vielfach von Laien getragenen pietistischen Bewegung Stellung zu nehmen. Dazu gehörte der Vorwurf, durch die Verbreitung deutschsprachiger Bücher könnten Menschen politische Rechte fordern – ein Vorwurf, den 80 Jahre später Johann Melchior Goeze noch Lessing im Fragmentenstreit machte – sowie der Kritikpunkt des Synkretismus, dass man »andre religionen bald entschuldige/ bald lobe/ bald vor brüder erkenne«, also den Anspruch auf alleinigen Wahrheitsbesitz aufgebe.24 Der Synkretismusvorwurf war auf Gottfried Arnolds Unparteiische Kirchenund Ketzerhistorie gemünzt, doch traf diese Diagnose nicht die pietistische Bewegung als ganzes. Mit der Jahrhundertwende verbanden sich in pietistischen und philadelphischen Zirkeln tatsächlich chiliastische Hoffnungen, die teilweise in Erwartung einer universellen Verbrüderung, teilweise jedoch auch als schreckenbesetzte Apokalyptik artikuliert wurden und in beiden Fällen die soziale und religiöse Krisenstimmung spiegelten.25 Im Zuge der Verlagerung der altprotestantischen Erwartung des jüngsten Gerichts zu einer innerweltlichen Reich-GottesVorstellung gewannen jedoch auch unter Pietisten die Erwartung einer Bekehrung der Juden, des Falls des Papsttums und die Mission von Heiden und Türken drängende, nämlich endzeitliche Relevanz.26 Die Haltung gegenüber Andersgläubigen differierte zwar zwischen Vertretern der Orthodoxie und (kirchlichem) Pietismus, doch gaben beide Seiten den Anspruch auf Wahrheitsexklusivität nicht auf: Während die Spätorthodoxie auf die Bekämpfung von Ketzern und die Unterdrückung der Juden setzte, hoffte Spener auf die Bekehrung von Juden und Heiden und die Überwindung der konfessionellen Spaltung durch den Fall des Katholizismus vor dem jüngsten Tag.27 In diesem Kontext gewinnt die Reflexion des religiös Anderen, wie sie Johann Conrad Dippel ebenfalls im Jahr 1699 vornahm, größere Tiefenschärfe, und sie macht das sinnstiftende Potenzial, das Jakob Böhmes Schriften in den theologischen Debatten um 1700 entfalten konnten, augenfällig.

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Philipp Jakob Spener: Vorrede. In: Sapientia Dei, in Mysterio Crucis Christi Abscondita. Die wahre Theologia Mystica oder Ascetica, Aller Gläubigen A. und N. Test. Entgegen gesetzet Der falschen aus der Heydnischen Philosophia Platonis und seiner Nachfolger. In zwey Theil abgefasset Durch Balthasar Köpken/ Inspect. Zu Nauen. Nebst Hrn. D. Phil. Jacob Speners Vorrede. Halle 1700. Nicht paginiert. Spener vertrat nicht nur gegenüber Platon, sondern auch gegenüber Böhme die Haltung, diesen nicht gut genug zu kennen, um über ihn urteilen zu können. Helmut Obst: Jakob Böhme im Urteil Philipp Jakob Speners. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XXIII (1971), 22–39. Zur apokalyptischen Naherwartung im Pietismus Hans Schneider: Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Manfred Jakubowski-Tiessen et. al. Göttingen 1999, 187–212. Zum historischen Vorlauf der Apokalyptik als Paradigma des Krisenbewusstseins in der Frühen Neuzeit Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichte und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Anja Hallacker u. Boris Bayer. Göttingen 2007, 141 ff. Einen Überblick über die Haltung der Pietisten zu Vertretern anderer Religionen bietet Johannes Wallmann: Der alte und der neue Bund. Die Haltung des Pietismus gegenüber den Juden. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hrsg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 143–165. Ebd., 144 u. 146.

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Im Jahr 1699 publizierte Dippel eine Schrift mit dem programmatischen Titel Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie, oder kurtzer theosophischer Entwurf, aus was Ursachen das verworrene Religions-Gezänk in der Christenheit entsprungen, durch was Mittel es fortgeführt und auf was Art es endlich zernichtet möge werden.28 Dippel war zum Zeitpunkt ihres Erscheinens gerade 26 Jahre alt, vor anderthalb Jahren habilitiert und doch am Ende seiner kaum begonnenen theologischen Karriere. Der Freund Gottfried Arnolds hatte in dem Jahr, in dem Arnold seine Professur an der Universität Gießen niederlegte, eben dort eine Streitschrift veröffentlicht, in der er die Praxis des Religionseids als unchristlichen Gewissenszwang verwarf, mit philologischer Akribie theologische Autoritäten wie Luther und Augustinus des ungenauen Übersetzens bezichtigte und die forensische Rechtfertigungslehre, den articulus stantis et cadentis ecclesiae, durch eine spiritualistisch geprägte Wiedergeburtslehre ersetzte.29 Als Reaktion auf Dippels Streitschrift hatte man den aufmüpfigen Autor mit Hausarrest und Publikationsverbot belegt, was ihn jedoch nicht daran hinderte, weitere Schriften zu verfassen und diese unter Umgehung der Zensur beim Drucker Bonaventura de Launoy im isenburgischen Offenburg drucken zu lassen.30 Unter diesen Texten befindet sich auch die Schrift Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie, die Dippel in einem Brief an das Konsistorium in Darmstadt eine »theosophische Meditation von dem Ursprung der Sekten«31 bezeichnet. Ihre Wirkungsgeschichte ist beachtlich. Dippel formulierte im theosophischen Entwurf zeitgleich mit dem Erscheinen von Arnolds Unpartheiischer Kirchen- und Ketzerhistorie eine pointierte Kritik am Streit um den seligmachenden Glauben, die über Rezensionen und Artikel bis in die Schweiz und bis zur 28

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Johann Konrad Dippel: Anfang, Mittel und Ende. In: EWFG, Bd. 1, 405–444. Auch in späteren Jahren bezieht sich Dippel noch auf diese Frühschrift. Dippel: Ein Hirt und eine Heerde. In: Ebd., Bd. 1, 1061–1101, hier: 1063. Johann Konrad Dippel: Papismus Protestantium vapulans. In: EWFG, Bd. 1, 93–234. Zu Dippels universitärem Umfeld in Gießen Goldschmidt, Johann Konrad Dippel (Anm. 17), 52 ff., zur Streitschrift ebd., 208 ff. Bonaventura de Launoy war geflohener Hugenotte und bekannt für radikalpietistische Drucke, die angesichts der Zensurbestimmungen ein nicht geringes Geschäftsrisiko darstellten. Hans Schneider: Gottfried Arnold in Gießen. In: Gottfried Arnold. Hrsg. v. Dietrich Blaufuß u. Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, 267–299, hier: 287. Ebenso Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt im radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ Historie der Wiedergebohrnen und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989, 137 ff. Die Buch- und Druckszene der radikalpietistischen Literatur ist eine eigene (Sub-)Kultur. Die ganze radikalpietistische Literatur hätte nach offiziellen Zensurbestimmungen nie gedruckt werden dürfen, dennoch avancierte sie zum Massenlesestoff des 18. Jahrhunderts und fungierte als unterschwellig fermentierende Kraft für eine Vielzahl der sprachlichen, thematischen und poetologischen Innovationen des Jahrhunderts. Hans-Jürgen Schrader: Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte. Ein Überblick. Sowie ders.: Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 4 (Anm. 26), 386–403 u. 404–427. Schreiben Dippels an das Darmstädter Konsistorium vom 9. März 1699. In: Wilhelm Diehl: Neue Beiträge zur Geschichte Johann Konrad Dippels in der theologischen Periode seines Lebens. In: Beiträge zur hessischen Kirchengeschichte. Hrsg. v. Wilhelm Diehl u. Walter Köhler. Bd. 3. H. 2 Darmstadt 1906, 135–184, hier: 170.

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Mitte des 18. Jahrhunderts Nachhall fand. Dabei ging allerdings das Wissen um die herausragend irenische Position der Schrift in der Empörung über Dippels teilweise unakademische Wortwahl verloren. Der seligmachende Glaube, so heißt es im Text, bestehe nicht in Glaubensbekenntnissen, zeitgenössisch ›Meinungen‹ genannt (von ›ortho‹-›doxa‹, rechte Lehre bzw. Meinung), sondern in einer Hingabe aller Seelenkräfte an das Wort Gottes im Seelengrund. Und, so fährt Dippel fort, diesen seligmachenden Glauben könnten alle Juden, Christen und Heiden haben, wenn sie auch von christlichem Glaubenswissen wie dem Athanasianischen Glaubensbekenntnis so wenig wüssten wie eine Kuh.32 Das eingängige Bild der Kuh wird noch anonym 1733 in einem Spottgedicht auf die Pietisten aus der Schweiz zitiert33 und findet 1759 als Beispiel für Dippels vermeintliche Respektlosigkeit Eingang in den Artikel im Freidenkerlexikon. Im Diskurs gesehen ist Dippels These kühn: 20 Jahre vor einem Zentraldatum der deutschen Aufklärung, vor der Vertreibung Christian Wolffs aus Halle, nachdem dieser in einer Vorlesung über die Chinesen den Heiden immerhin Tugend zugesprochen hatte, spricht Dippel den Heiden nicht nur Tugend, sondern sogar den seligmachenden Glauben zu, wenn diese – ohne Konversion! – ihrem eigenen religiösen Weg zu Gott folgten. Und er belegt diese These sinnigerweise mit dem Beispiel des Hermes Trismegistos, den er in voller Kenntnis der Spätdatierung des Corpus hermeticum ungerührt als Beispiel für die Offenbarung Gottes bei den Heiden liest.34 Dieser Autor, so schreibt Dippel, habe die Geheimnisse der christlichen Religion lediglich »mit anderen Namen« ausgedrückt und könne den Heiden den Weg zum ewigen Leben zeigen. Gerade Hermes gilt ihm als Beweis, dass Gottes Gnade an keine Zeit und Umstände der Personen gebunden sei, sondern dass Gott sich auf vielerlei Weise offenbare, wann und wie er wolle.35 Dippel nennt Hermes an dieser Stelle nicht primär als Magus, sondern als Vertreter einer anderen Kultur. Spätestens an dieser Stelle überschreitet Dippel nicht nur den orthodoxen, sondern auch den pietistischen Wissenshorizont, der das Thema der Heidenmission noch gut kennt.36 Die Rezension in der orthodoxen Zeitschrift Unschuldige Nachrichten bezeichnet Dippels Gleichsetzung von christlichem und paganem Wissen konsequenterweise als »gottloß«.37 Vergleichbar zu Dippel argumentiert dagegen der Aufklärer Christian Thomasius in seiner Dissertation über die Ketze32 33

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Dippel, Anfang, Mittel und Ende (Anm. 28), 428. Anon.: Lied zum Bären=Tantz. Zit. in Johann Konrad Dippel: Poetischer Wiederhall aus Teutschland auf den zierlichen Bären=Tantz welchen ein Schweitzer Poet und D. Medicinae in Bern, die sogenannte Pietisten zu schrecken, neulich auf dem Theatro derer Gelehrten cantando praesentiret hat. In: EWFG, Bd. 3, 379–398, hier: 384. Dippel wäre damit ein Beispiel für das ›langsame Ende des Hermetismus‹. Martin Mulsow: Epilog: Das schnelle und das langsame Ende des Hermetismus. In: Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance. Hrsg. v. Martin Mulsow. Tübingen 2002 (Religion und Aufklärung 9), 305–310. Dippel, Anfang, Mittel und Ende (Anm. 28), 429. Shantz (Anm. 3), 93 ff. Ebenso Hermann Wellenreuther: Pietismus und Mission. Vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Geschichte des Pietismus (Anm. 26), 168–193. Rez. Christ. Democriti Anfang, Mittel und Ende der Orthodoxie und Heterodoxie. In: Unschuldige Nachrichten 1712, 931–933, hier: 932.

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rei.38 Schließlich weist Dippels Argumentation Übereinstimmungen ganzer Passagen zu Böhmes Schriften auf. Die gelassene Reflexion des religiös Anderen, die nicht einmal auf vermeintlich vorchristliche Literatur beschränkt ist, sondern andere Glaubensgemeinschaften in der Gegenwart mit einschließt, gewinnt vor dem Hintergrund von Böhmes Anthropologie an Tiefenschärfe.

2. Anthropologie, Seelenbegriff und Wiedergeburt nach Jakob Böhme Jakob Böhmes Anthropologie, Seelenbegriff und Wiedergeburtskonzept fußt zunächst auf einer trichotomen Anthropologie, die über die mittelalterliche Theologia Deutsch und die Predigten Johannes Taulers in den frühneuzeitlichen Diskurs vermittelt und dort mit spiritualistischer Literatur wie Valentin Weigels Gnothi seauton sowie paracelsischen Texten wie Theophrasts von Hohenheims Astronomia magna verbunden wurde. Darüber hinaus akzentuiert Böhme sie analog zu seinem modalen Trinitätskonzept. Nach Böhme ist der Mensch weder einfaches Geschöpf noch separates Abbild Gottes, sondern wird aus dem Wesen aller Wesen und damit aus allen drei Welten geboren.39 Böhme spricht der Seele drei trinitätsanaloge Regimente zu, erstens das dunkle Zorn- oder Vater- Prinzip, zweitens das helle Liebe- oder ›Sohn‹-Prinzip und schließlich den Geist der äußeren Welt.40 Da die Seele wesentlich aus Gott ist, ihre Natur aber am schöpferischen Qualifizieren der sieben Naturgeister in der ewigen Natur Gottes teilhat, liegen 38

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Christian Thomasius/Johannes Christoph Rube: An haeresis sit crimen (1697), dt. Ob Ketzerei ein strafbares Laster sei (1705), sowie dies.: De jure principis circa haereticos (1697), dt. Vom Recht evangelischer Fürsten gegen die Ketzer (1705). In: Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Bd. 23: Auserlesene deutsche Schriften. Erster Tl. Hrsg. v. Werner Schneiders. Hildesheim 1994, 211–353, hier: 244. Jakob Böhme: Theosophische Briefe, 11: 31; ders.: Psychologia Vera, oder Vierzig Fragen von der Seelen, 2:1: »Ihre Essentien sind aus’m Centro Naturæ, aus dem Feuer, mit allen Gestalten der Natur, es liegen alle 3 Principia darinnen: Alles was GOtt hat und vermag, und was GOtt in seiner Drey=Zahl ist, das ist die Seele in ihrer Essentz.« (Die Texte Böhmes werden zit. n. der Ausgabe Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961. Nicht nachgedruckte Schriften werden nach der vollständigen Ausgabe von 1730 zitiert. Die Textstellen werden unter Nennung des Kapitels und der Abschnittsnummer angegeben.) Zur Anthropologie auch Sibylle Rusterholz: Jakob Böhme und seine Anhänger. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das heilige römische Reich deutscher Nation Nord- und Ostmitteleuropa. Hrsg. v. Helmut Holzey u. Wilhelm Schmidt-Biggemann unter Mitarb. v. Vilem Mudroch. Basel 2001, 61– 142, hier: 78 ff. Jakob Böhme: Psychologia vera, 2:1; ders.: De triplici vita hominis, oder Vom dreifachen Leben des Menschen, 18:4. Böhmes Vom dreifachen Leben des Menschen sowie die 40 Fragen von der Seelen entstehen beide 1620. Ausführlich zu diesen Texten Alexandre Koyré: La philosophie de Jacob Boehme. New York 1968 (Paris 1929), 237 ff. sowie Andrew Weeks: Boehme. An Intellectual Biography of the Seventeenth-Century Philosopher and Mystic. New York 1991, 142 ff.

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erstens alle überhaupt möglichen Eigenschaften in ihr, und sie hat zweitens einen freien Willen, mit dem sie von diesen Eigenschaften erwecken oder lassen kann welche sie will.41 Im Vergleich zum dominanten christlichen Diskurs bringt dies eine signifikante Aufwertung der Rolle des freien Willens mit sich. Schöpfung und Fall beschreibt Böhme entsprechend in mythologischer Bildlichkeit als willentliche Verlagerung der Imagination aus dem mit Gott einigen Willen in den eigenen Willen, womit die Seele unter den qualifizierenden Einfluss des dunklen Prinzips gerät. Im Gegensatz zur zeitgenössischen christlichen Theologie zeichnet Böhme damit selbst den Fall Luzifers weder als Rebellion gegen Gott noch als Verstoßung des zum Teufel gewordenen Engels, sondern als Kreation des Dunklen aus der Potenzialität in die Aktualität, da Luzifer, genau wie nach ihm Adam, die Schiedlichkeit schmecken, also erfahren wollte.42 Das dunkle Prinzip fungiert kosmologisch als Ursache der Schiedlichkeit bzw. der Trennung und damit der Bedingung des Werdens in Theogonie, Kosmogonie und Anthropologie. Anschließend an Luthers Vision der Schöpfung als Creatio ex nihilo43 nimmt Böhme jedoch verschiedene Umdeutungen signifikanter Systemstellen vor, sodass entsprechend das Nichts als Ungrund und Fülle des Seins erscheint, das personale Trinitätsmodell als modales und die Creatio ex nihilo mit einer Creatio ex se aus dem vormals schlechthin Undifferenzierten enggeführt wird.44 Anthropologisch fungiert das dunkle ›Feuer‹- oder ›Vater‹-Prinzip als Urstand der Seele, als Prinzip ihrer Absonderung von Gott und als Loslösung aus ihrem primordialen Zustand.45 Das göttliche Bild in der Seele wird überschattet und unter den Kräften der Selbstheit eingeschlossen, die die Existenz in der materiellen Welt dem Kräftespiel aus Hell und Dunkel, Leben und Tod unterwerfen.46 Der prälapsarische Adam verliert im Fall die Androgynie, ewige Wachheit und feinstoffliche Körperlichkeit. An die Stelle des verlorenen adamitischen Wissens tritt bei Böhme nun die Vernunft, die in einer charakteristischen Opposition zum Verstand steht. Die Vernunft dringt nicht aus Gott, sondern aus sich selbst, d. h. 41 42 43

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Böhme, Psychologia Vera, 2:3–5. Böhme, Mysterium Magnum, 9:7–10. Ebenso Rusterholz (Anm. 39), 78. Johannes Schwanke: Creatio ex nihilo. Luthers Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts in der großen Genesisvorlesung (1535–1545). Berlin/New York 2004 (Theologische Bibliothek Töpelmann 126). Jakob Böhme: Von der Gnadenwahl, 1:4–9. – Zum Kontext des Ungrund-Gedankens Sibylle Rusterholz: Elemente der Kabbala bei Jakob Böhme. In: Mystik und Schriftkommentierung. Hrsg. Günther Bonheim u. Petra Kattner. Berlin 2007 (Böhme-Studien 1), 15–45. Allgemeiner Wilhelm Schmidt-Biggemann: Das Geheimnis des Anfangs. Einige spekulative Betrachtungen im Hinblick auf Böhme. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jakob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994, 113–127. Ders.: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998, 193 ff. Jüngst Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, 89–123, hier: 109. Böhme, Psychologia vera, 1:185; auch Susanne Edel: Die individuelle Substanz bei Leibniz und Böhme. Die Kabbala als Tertium Comparationis für eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung. Stuttgart 1995, 133 f. Jakob Böhme: Theosophische Sendbriefe, 1:6–10.

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sie wird in Bezug zum Wirken des dunklen Prinzips der Selbstheit gedacht. Sie ist abhängig vom Menschenurteil, sie richtet und urteilt, denn sie ist auf das Außen beschränkt. Der Geist Gottes jedoch ist ihr verschlossen, denn, so Böhme, er »ist nicht in ihr«.47 Böhmes Vernunftbegriff steht im Kontext der zermürbenden schultheologischen Kontroversen um den ›rechten‹ Glauben. Seine rekurrierende Betonung der ›Äußerlichkeit‹ der Vernunft und ihrer Buchstabengelehrtheit, die gerade kein Verständnis für die göttliche Tiefe aufbringt, assoziiert die Vernunft mit der akademischen Theologie; umgekehrt kann Böhme in Beschreibung seiner eigenen Geisterfahrung sagen, sie habe ihn gerade nicht durch die Vernunft ereilt, habe jene aber in Ergriffenheit tanzen lassen.48 Nach Böhme existieren die drei Welten ineinander, nicht neben- oder nacheinander, was zu bemerkenswerten Umdeutungen des Zeit- und Raumverständnisses in Kosmologie und Psychologie führt. Das Reich Gottes ist nach Böhme nach wie vor in dieser Welt, jedoch den menschlichen Augen und der menschlichen Erfahrung entzogen. »GOtt ist im Himmel und der Himmel ist im Menschen. Will aber der Mensch im Himmel seyn, muß der Himmel im Menschen offenbar werden.«49 Diese Vorstellung erschüttert zusammen mit Böhmes Bekenntnis zum Heliozentrismus das aristotelische Raumkonzept, das die Erde in Kristallschalen eingeschlossen und vom Himmel getrennt denkt. Der Gedanke der Ubiquität des Himmels und seiner Verbindung mit dem Seelengrund entstammt bei Böhme dem spiritualistischen Diskurs und ist in Valentin Weigels Vom Ort der Welt oder im Dialog über das Christentum vorgeprägt.50 Dieser Topos ist bei Weigel die konsequente Umsetzung von Lk 17, 21 nach der alten lutherischen Bibelübersetzung: »Das Reich Gottes ist inwendig in euch.« Weigel weiterdenkend konzipiert Böhme das Eingehen in den Himmel nicht als Ortsveränderung, sondern als Ausrichten der Imagination auf das zweite Prinzip, das lichte ›Sohn‹-Prinzip, das dadurch im Menschen stärker zu quellen und zu wirken beginnt. Böhmes Theorie der Imagination in Fall und Erlösung ist die Fortführung und Steigerung eines paracelsischen Konzepts, wie es z. B. im paracelsischen Liber de Imaginibus

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Ebd., 12:22. Zu Vernunft und Verstand s. auch Edel (Anm. 45), 129 ff. Sibylle Rusterholz: Zum Verhältnis von ›Liber Naturae‹ und ›Liber Scripturae‹ bei Jakob Böhme. In: Gott, Natur und Mensch (Anm. 44), 129–146, hier: 143. Zum spiritualistischen Kontext Andrew Weeks: Historische Finsternis und poetisches Licht im Werk Jakob Boehmes. In: Erkenntnis und Wissenschaft Jacob Böhme (1575–1624). Hrsg. durch die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften e. V. zu Görlitz. Görlitz 2001, 9–20, hier: 11 f. Ernst-Heinz Lemper: Voraussetzungen zur Beurteilung des Erfahrungs- und Schaffensumfelds Jakob Böhmes. In: Gott, Natur und Mensch (Anm. 44), 41–69. Böhme, Theosophische Sendbriefe, 12:17. Ebd., 12:48. Valentin Weigel: Vom Ort der Welt. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Siegfried Wollgast. Stuttgart Berlin 1977, 349 ff; Valentin Weigel: Dialog über das Christentum. In: ebd., 574. Dazu Weeks, Valentin Weigel (Anm. 15), 106.

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formuliert ist.51 Die neue Geburt hat in Böhmes Theologie zentrale Bedeutung und wird durch die Neuausrichtung der Imagination erstrebt. Dabei fungiert die Auferstehung Jesu als Paradigma für die Wiedergeburt jedes einzelnen. In theosophischer Metaphorik muss dabei das sogenannte verzehrende Feuer wieder ins Licht gewandelt werden, bis die neue Geburt dem Menschen die verlorene Gottebenbildlichkeit durch den Geist Christi im Innersten der Seele und der Welt eröffnet.52 Im Vergleich zur kirchlichen Dogmatik finden in diesem Modell einige entscheidende Umdeutungen zentraler Eckpunkte des christlichen Narrativs statt. Erstens verliert die Erbsünde und mit ihr die ontologische Trennung von Gott an Gewicht. Zweitens gewinnt das individuell akzentuierte Streben nach Wiedergeburt soteriologische Bedeutung. Damit erfährt drittens der Status historischen Wissens vom Heilshandeln Jesu, das ja Gegenstand der kirchlichen Bekenntnisse ist, eine signifikante Relativierung. Zwar ist und bleibt Böhme gläubiger Christ. Dennoch ist in seinem Modell vor allem die Ausrichtung des eigenen Willens und der eigenen Imagination zentral, nicht die zu glaubende Annahme eines historischen Wissens vom Heilshandeln Christi. Und indem diese Soteriologie anthropologisch abgesichert wird, eröffnet sie die Möglichkeit, dieses Modell auch prinzipiell in vorchristlichen oder außerchristlichen Kulturen gedanklich zu erproben. An diesem Punkt schließt sich eine Reflexion des religiös Anderen an, die bereits bei Böhme zeitgenössisch außergewöhnlich ist und die Dippel in seiner Reflexion über den Ursprung der Glaubensparteien fruchtbar macht.

3. Der eine Geist und die vielen Begriffe – Streitbare Irenik bei Böhme und Dippel Das Reich Gottes, so hatte Böhme immer wieder betont, ist nicht nur prinzipiell inwendig im Menschen, es liegt auch in einer dimensionalen Differenz zur geschaffenen Welt, die Raum und Zeit transzendiert. Wiederholt hatte Böhme die Nichträumlichkeit des göttlichen Geistes betont: Gott wohnt nicht über den Sternen, denn er ist überall gegenwärtig, heißt es im Dreifachen Leben des Menschen.53 Ebenso ist der göttliche Geist zeitlos, so betont Böhme in den Theosophischen Sendbriefen und zitiert Psalm 90, 4:

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Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. 1. Abteilung. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Hrsg. v. Karl Sudhoff. Bd. 13. München/Berlin 1931, 384. Böhme, Psychologia vera, 1:154, 12:4, 12:28/29ders.: Von der Menschwerdung Jesu Christi, 12:17. Jakob Böhme: Vom dreifachen Leben des Menschen, 1:51: »Die pure Gottheit ist überall gantz gegenwärtig allen Orten und enden: Es ist überall die Geburt der H. Dreyzahl in einem Wesen; und die Englische Welt reichet an allen Enden, wo du hinsinnest, auch mitten in der Erden, Stein und Felsen: Also auch die Hölle, oder das Reich des Zorns GOttes ist auch überall.«

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Auch ist das Alte vor tausend Jahren im Lichte so nahe und leicht zu erkennen, als es heute geschieht. Denn vor GOtt ist tausend Jahr kaum als für uns eine Minute oder Augenblick. Darum ist seinem Geiste alles nahe und offenbar, beides das Geschehene und das Zukünftige.54

Wenn dem göttlichen Geist alles zeitliche Geschehen gleich nahe ist, dann muss Gott auch von jedem Punkt in der Zeit aus gleich nahe sein. An dieser Stelle überschreitet Böhme einen Eckpunkt des christlich-dogmatischen Wissensfeldes, da dieser Zeitpunkt sogar vor der schriftlichen Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift oder außerhalb des christlichen Kulturraums liegen kann. An diesem systematischen Ort wird der christliche Exklusivitätsanspruch auf Wahrheitsbesitz, der sich an den Zeitpunkt einer schriftlichen Offenbarung bindet, unterlaufen. Nicht ein bestimmtes historisches Wissen, sondern das Streben zur neuen Geburt steht im Zentrum von Böhmes Verständnis vom Christ-Sein. Ein frommer Heide kann ebenso selig werden wie ein Christ, heißt es im dreifachen Leben des Menschen, an Bekenntnissen und Meinungen liege nichts.55 Christus wohnt allein im Tempel des Herzens, und dort kann er von jedermann gefunden werden. Herausragend sind Böhmes Aussagen selbst noch zu Beginn des sogenannten Dreißigjährigen Kriegs über die Türken: »Wo bußfertige Menschen sind, welche ihre Sünde bereuen, und aus derselben ausgehen, und sich in die Barmhertzigkeit GOttes wenden, die sind in Christo, und ob sie Türcken sind.«56 Böhmes Aussagen zu den Türken als Volk und zum Islam als historischer Religion sind durchaus vom Klima der militärischen Bedrohung durch das osmanische Reich geprägt.57 Sie finden aber nicht primär als Religionsvergleich, sondern überwiegend typologisch statt. Muslime und Christen erscheinen als Kinder ihrer Stammväter Ismael und Isaak, die jedoch beide Söhne eines Vaters waren. Die Stammväter werden typologisch auf das dunkle und das helle Prinzip bzw. auf das Reich der Natur und das Reich der Gnade bezogen. Damit kommt den Türken als Volk, die um die Gottessohnschaft Christi nicht wissen, zwar die Assoziation mit dem dunklen Prinzip zu, aber angesichts der historischen Zerstrittenheit der Christen selbst gewinnt für Böhme die individualpsychologische Ausrichtung auf das helle ›Sohn‹-Prinzip deutlich an Gewicht. Böhme analysiert die Spaltung des Glaubens in Christen und Muslime als historisches Resultat des bereits seit Jahrhunderten wogenden Glaubensstreits. Die Uneinigkeit der Christen habe die Abspaltung der Muslime überhaupt erst hervorgebracht. Eindeutig sind seine Worte daher zur zeitgenössischen Bekehrungs54 55

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Böhme, Theosophische Sendbriefe, 8:12. Böhme, Vom dreifachen Leben des Menschen, 11:82: »Denn GOttes Wille stehet allen Menschen offen, er sey wes Namens er wolle. Es kan ein Heide selig werden, wenn er sich zu dem lebendigen GOtt wendet. […] Wird doch der Stumme und Taube selig, der von GOtt nie nichts gehöret hat, so er seine Imagination in Gehorsam und Willen GOttes und seine Gerechtigkeit setzet: Wer will den richten, du Sophist, der du aus Meinungen Glauben machest?« Böhme, Vom dreifachen Leben des Menschen, 11:91. Hierzu und zum folgenden Günther Bonheim: Der Spötter Ismael und seine Kinder. Jacob Böhmes Auseinandersetzung mit dem Islam. In: Mystik und Schriftkommentierung (Anm. 44), 47–69.

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rhetorik: Wer unter den Christen meine, die Türken erschlagen zu müssen, der sei selbst des Antichrists Tier.58 Eine prägnantere Antithese zum späten Luther ist kaum denkbar, da dieser die Türken – unter dem Eindruck der türkischen militärischen Erfolge in Wien – diskursmächtig im Deutungsmuster des apokalyptischen Tiers aus der Vision des Propheten Daniel interpretiert hatte.59 Böhme dagegen akzentuiert die äußere Religionszugehörigkeit kaum, im Gegenzug gewinnt jedoch die anthropologische und psychologische Entscheidungskraft der Seele an Gewicht, die nicht kulturell gebunden ist. Daß man aber will sagen, daß derjenige, so die Tauffe nicht hat, als die Juden und Türcken, und andere Völcker, bey welchen diese Erkentnis nicht ist, welche den Leuchter nicht haben, daß sie alle von GOtt verstossen seyn, indeme sie doch sonst heftig mit ihrer Lehre, Leben und That in die Liebe Gottes eindringen, das ist Phantasey und Babelisch geredet, ohne Erkentniß. Es lieget nicht die Seligkeit alleine im äusseren Worte, sondern in der Kraft; wer will den Ausstossen der in GOtt eingehet?60

Durch die überragende Bedeutung, die das Wiedergeburtskonzept in Böhmes Anthropologie besitzt, lässt sich die Reflexion kultureller Differenzen auf das Reich der Natur einschränken. Sie findet sogar in der paulinischen Theorie von der Gottessohnschaft der Begnadeten eine biblische Referenz,61 mit der Böhme die Differenzen von race, class and gender in Christus, d. h. nach der neuen Geburt, signifikant relativieren kann. Die systematischste Erörterung zur Einheit der Offenbarung und der Vielfalt ihrer Begriffe entfaltet Böhme in den Theosophischen Sendbriefen. Offenbarung ist für Böhme kein geheimes oder exklusives Wissen, sondern die Eröffnung dessen, was im Seelengrund jedes Menschen unerkannt präsent, aber ohne Wiedergeburt des einzelnen unverfügbar bleibt. Denn GOtt führet keinen neuen oder fremden Geist in uns, sondern Er eröffnet mit seinem Geist unsern Geist als das Verborgene der Weisheit GOttes, welche in iedem Menschen lieget, nach dem Maß und auf die Art seiner innerlichen verborgenen Constellation.62

Böhme unterscheidet zwei Ebenen: den einen Geist Gottes, der in der Tiefe transpersonal gedacht ist sowie seine historisch und persönlich gefärbte Manifestation. Mit dieser Argumentationsfigur erklärt er die vieldiskutierten Differenzen in den heiligen Schriften:

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Böhme, Vom dreifachen Leben des Menschen, 11:94. Martin Luther: Heerpredigt wider den Türken. In: WA 30/2, 160–197. Böhme, Psychologia vera, 14:11–12. Diese Haltung findet sich bei Böhme bereits in der Aurora, seinem Erstlingswerk: Jakob Böhme: Aurora, 11:34: »Wahrlich, es ist nur ein GOtt. Wenn aber die Decke von deinen Augen getan wird, daß du ihn siehst und erkennest, so wirst du auch alle deine Brüder sehen und erkennen, es seien gleich Christen, Juden, Türcken oder Heiden. Oder meinest du, daß GOtt nur der Christen GOtt sei? Leben doch die Heiden auch in Gott! Wer rechttut, der ist ihm lieb und angenehm.« Vgl. auch Bonheim (Anm. 57), 63. Gal 3,28. Böhme, Theosophische Sendbriefe, 12:26.

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Die Offenbarung geschiehet durch Eröffnung des Geistes GOttes, durch die Constellation der Seelen. Von Anfang der Welt her haben alle Propheten von Christo geweissagt, einer so, der ander anderst. Sie haben nicht alle einerley Rede in einerlei Forma geführet, sondern ein ieder, wie ihm der Geist GOttes in seiner seelischen Constellation eröffnet hat, aber aus Einem Centro haben sie alle geredet. Also geschieht es noch heute: Die Kinder GOttes reden alle aus Eröffnung des Geistes Christi, welcher ist GOttes, ein ieder nach seinem Begriff.63

Auf die praktische Reflexion des Religionsstreits gewendet, führt diese Einsicht konsequenterweise zu einer Bewusstmachung der perspektivischen Gebundenheit aller Aussagen und bietet folglich einen Ansatzpunkt zu einer Historisierung und Kontextualisierung der dogmatisch gefassten Worte über Gott. Nicht eine neue Lehre ergibt sich aus Böhmes Reflexion, sondern die Gelassenheit gegenüber allen existierenden Lehren, da man sie als jeweils persönliche Begriffe oder als perspektivisch gebundene Manifestationen des einen göttlichen Geistes interpretieren kann. Konsequenterweise unterläuft diese Interpretation auch die Dynamik der Ausgrenzung: Ich richte niemand, und ist das Verdammen ein falsches Geschwätz. […] Ich erfreue mich vielmehr der Gaben meiner Brüder. Ist es aber, daß sie eine andere Gabe auszusprechen gehabt haben als ich, soll ich sie darum richten?64

Wie aber lässt sich unter diesen Voraussetzungen eine Offenbarung auf Wahrheit überprüfen? Auch darüber hat Böhme reflektiert: Während die Orthodoxie Schriften nach dem Kriterium der Schriftgemäßheit überprüft, verschiebt Böhme selbst das Kriterium für die religiöse Authentizität einer Aussage vom Dogma zum Tun, zum biblischen Wort Jesu »an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen«: »Die rechte Proba der Kinder GOttes ist diese: Ein demütiges Herz, das sich nicht selber suchet noch ehret, sondern suchet immerdar seinen Bruder in der Liebe.«65 Nicht also der Grad an Korrespondenz mit einer kanonisierten Aussage zeichnet nach Böhme den rechten Glauben aus, sondern eine Lebenshaltung. Der rechte Glaube manifestiert sich in dem Grad, in dem der Sprecher die eigene Selbstheit überwunden hat, d. h. in nichts anderem als dem Grad, in dem sich die Teilhabe am ›Sohn‹-Prinzip in der Liebe manifestiert. Dieser Weg allerdings ist nicht das Privileg einer einzigen Religion, sondern eine anthropologische Universalie: Nicht bin allein ich also, sondern es sind alle Menschen also, es seien gleich Christen, Juden, Türken oder Heiden; in welchem die Liebe und Sanftmut ist, in dem ist auch GOttes Licht.66

Der Weg zur Gottesliebe führt für Böhme damit über die Menschenliebe: Was suchen wir dann lange? Lasset uns nur uns untereinander selber suchen und kennen; wenn wir uns finden, so finden wir alles, wir dürfen nirgend hinlauffen GOtt zu suchen, auch so können wir Ihme keinen Dienst thun. Wenn wir uns nur selber suchen und lieben, so lie63 64 65 66

Ebd., 12:33. Ebd., 12:35. Ebd., 12:37. Böhme, Aurora, 22:52.

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ben wir GOtt: was wir uns selber untereinander thun, das thun wir GOtt; wer seinen Bruder und Schwester suchet und findet, der hat GOtt gesuchet und funden.67

Böhmes Neuakzentuierungen betreffen erstens die Akzeptanz vielfältiger Begriffe in der Rede vom einen Geist und zweitens die Umdeutung des Christ-Seins von einem propositionalen Wissen hin zu einer Transformation des Seins. Beides galt den orthodoxen Kritikern als Inbegriff der Häresie. Nicht umsonst bittet Böhme in seinen Briefen darum, seinen Namen nicht zu nennen und ihn vor dem Druck seiner Texte zu fragen.68 Im späten 17. Jahrhundert hatten sich allerdings die Kommunikationssituation und die publizistische Öffentlichkeit geändert. Dieses Wissen wird in Quietismus und radikalem Pietismus verbreitet und publiziert, obwohl es von orthodoxen Stimmen wie Friedrich Christian Bücher oder Valentin Ernst Löscher nach wie vor als Schwärmerei und Synkretismus kritisiert wird.69 Johann Conrad Dippels theosophische Meditation über den Ursprung der Religionsparteien, Anfang, Mittel und Ende der Ortho- und Heterodoxie aus dem Jahr 1699, die im Hausarrest nach seinem Protest gegen Religionseid und Gewissenszwang entstand, macht das Sinnangebot, das in Böhmes Reflexion zur Pluralität der Begriffe liegt im historischen Moment der Frühaufklärung sichtbar. Zunächst gewinnen in Dippels Reflexion der Ortho- und Heterodoxie Böhmes Differenzierung zwischen verschiedenen Ebenen des Wissens und sein Vernunftbegriff strategische Bedeutung. Im Eröffnungsgedicht differenziert Dippel ebenfalls zwischen der Vernunft, die dem äußeren Menschen zugerechnet wird und einem tiefen Wissen aus Offenbarung, das sich dem inneren Menschen eröffnet. Das Gedicht subsummiert das gesamte akademische Lehrsystem unter die Begriffe der Vernunft und des äußeren Menschen: Es soll der Wahrheit Licht durch Lehren, Hören, Wehren/ von aussen fließen ein, so lang Vernunft regiert.70

Dippels Vernunftbegriff ist der Gegenentwurf zum Vernunftbegriff der akademischen Theologie, der sich formal an aristotelischer Logik orientiert und funktional in der Streittheologie zur Verteidigung der eigenen Position gegenüber anderen Lehren eingesetzt wurde.71 Gegenüber diesem Vernunftbegriff hatte bereits Böh67 68 69

70 71

Böhme, Vom dreifachen Leben des Menschen, 11:106. Böhme, Theosophische Sendbriefe, 7:7. Zu den Rezeptionsschritten und zu den teilweise gewundenen Wegen der Texte Böhmes ›in die Welt‹ und unter die Druckpresse s. die detaillierten Aufsätze in Theodor Harmsen (Hrsg.): Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen des Abraham Willemsz van Beyerland. Amsterdam 2007 (Pimander 16). Zur Gegenseite Jörg Baur: Valentin Ernst Löschers ›Praenotiones theologicae‹. Die lutherische Spätorthodoxie im polemischen Diskurs mit den frühneuzeitlichen Heterodoxien. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit (Anm. 19), 425–475. Dippel, Anfang, Mittel und Ende (Anm. 28), 406. In diesen Argumentationslinien konnten Juden, Muslime, ›Heiden‹ und abweichende christliche Positionen auch als Lehren des Teufels bezeichnet werden. Johann Friedrich König: Theologia positiva acroamatica. (Rostock 1664). Hrsg. v. Andreas Stegmann. Tübingen 2006, 16 f.

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me betont, dass die Vernunft lediglich aus sich selbst und nicht aus Gott dringt.72 In Dippels Gedicht erscheint der Vernunftbegriff der streittheologischen Praxis analog dazu als unwesentliche Verstrickung im Außen. Die streittheologische Praxis ist nach Dippel geradezu als Resultat des treibenden, dunklen Prinzips der Schiedlichkeit gezeichnet, das die Dynamik der Religionsstreitigkeiten de facto produziert. Charakteristischerweise zählt für Dippel nicht die Frage vom rechten Wissen, sondern vom rechten Handeln: Ach merk es tolle Welt! Laß Meynung, Zanken, Fragen;/ Der Ketzer sitzt in dir, den magst du greiffen an/ und wann du ihn getödt, und in das Grab getragen/ so sollst du haben recht, vor Gott und jedermann.73

Dippels Inversion des Ketzerbegriffs knüpft wiederum an Böhme an und unterminiert die traditionelle Bedeutungsgeschichte des Ketzerbegriffs sogar im Vergleich zu Arnolds Verwendung des Begriffs als des wahren Christen in der Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie: Der Ketzer ist in Dippels Gedicht nicht mehr der Andere, weder der Schwärmer, noch der Türke oder der Heide. In signifikanter Differenz sogar zu Dippels eigenen Frühschriften bezieht sich der Ketzerbegriff nun nicht einmal mehr auf den politischen Gegner, den Orthodoxen oder Ketzermacher. Der Begriff des Ketzers bezeichnet in Dippels Gedicht das Prinzip der Selbstheit in der eigenen Seele, das nach Böhme als dunkles Prinzip in jedem einzelnen Menschen existiert. In dieser radikalen Psychologisierung des Ketzerbegriffs liegt gleichzeitig eine grundsätzliche Relativierung jeder Form von Rechtgläubigkeit begründet, da jede Lehre, ob ortho- oder heterodox, notwendig an das begrenzte Wissen des äußeren Menschen gebunden wird, an die Perspektivität und Historizität des ›persönlichen Begriffs‹, wie Böhme sagte. Daraus zieht Dippel beachtliche Konsequenzen: Im weiteren Text reduziert er sämtliche Dogmen, die Bekenntnisschriften wie die frühchristlichen Glaubensbekenntnisse auf ihre Historizität, indem er ihre turbulenten und interessegeleiteten Entstehungsprozesse offenlegt. Er zeigt auf, wie allein im Zuge des frühchristlichen Arianismusstreits neun verschiedene Konkordienformeln in 30 Jahren als letztgültige Wahrheit zu beeiden waren.74 Und er spricht die Disposition zur Gewalt in der Pragmatik von Glaubensbekenntnissen unverhohlen an: So ist es ja eine übernatürliche Thorheit, wann wir einen Menschen, der sonst in seinem Wandel darthut, daß Christus in ihm wohne, wegen anderer Meynung, die wir ihm doch nicht nehmen können, von der Bruder=Lieb und Gemeinschaft in Christo ausschliessen. […] Bosheit aber und ein Werck des Fleisches ist es, wo man die Irrige wegen der heterodoxie (anderer Meynung) von der allgemeinen erbarmenden Liebe ausschliesset. […] Teuflische Wut ist es endlich, wo man gar mit äusserlicher Gewalt und Verfolgung seine Meynungen den andern beyzubringen oder durch Soldaten und Heckers=Knechte die Orthodoxie auszu-

72 73 74

Vgl. Böhmes Differenzierung in: Böhme, Theosophische Sendbriefe, 12:24. Dippel, Anfang, Mittel und Ende (Anm. 28), 406. Ebd., 423 f.

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breiten trachtet […]; in welchen Handlungen alle Göttliche und Weltliche Rechte, ja alles Zeugnis der gesunden Vernunft oder des Gewissens übergangen wird.75

Diese durchaus aufklärerischen Worte richten sich leidenschaftlich gegen jede Form von Gewissenszwang. Dieser wird als Ausdruck des Ketzers in der eigenen Seele, nach Böhme: als Treiben des dunklen Prinzips lesbar. Die theosophische Begrifflichkeit ist in Dippels Texten einer rationalen Argumentation gewichen, doch bindet das psychologische Wissen Dippels Argumentation nach wie vor an Böhmes Haltung, es könnten nicht alle Menschen unter einerlei Erkenntnis gezwungen werden.76 Jahre später charakterisiert Dippel diese Bestrebungen gegenüber Johann Friedrich Mayer als Brutalität und Illegalität des Religionszwangs.77 Verlangest Du mit Ernst, der Wahrheit Glanz zu haben/ so gaff nicht weit herum, das Wort ist auch in dir.78

Das Wort bezeichnet im Gedicht nicht länger die Heilige Schrift, sondern den Schöpfungslogos, an dem jede Seele in ihrem Grund teilhat. Damit wird jedoch die exklusive Bindung der Wahrheit an eine äußere Vermittlungsinstanz prononciert aufgehoben. Das Wort muss nicht länger über die Predigt und damit über ein äußeres Ereignis vermittelt werden, sondern liegt als innere Autorität in jedem Menschen, die sich allerdings erst denjenigen erschließt, die sich ihm tatsächlich zuwenden. Auch Böhme hatte geschrieben, jede einzelne Seele, »ein ieder für sich selber« müsse ins Leben Christi dringen.79 Die zeitgenössische Orthodoxie betrachtete allerdings genau diese Verschiebung von der Vermittlungsnotwendigkeit des Worts zum Glauben an die Unmittelbarkeit der göttlichen Erfahrung als heterodox, wie die Evaluation der Dippel’schen Theologie aus den Unschuldigen Nachrichten im Jahr 1702 deutlich macht.80 Dippels Akzentuierung einer inneren Autorität, im Kontext ein Reflex auf den Religionseid und die Identifikation der Wahrheit mit dem Korpus der symbolischen Bücher, eröffnet in Dippels Reflexion über Ortho- und Heterodoxie den Denkhorizont für kulturell verschiedene Begrifflichkeiten. Er geht sogar so weit, den Heiden ihre eigene Begrifflichkeit für diese innerseelische Wahrheitsinstanz zuzugestehen, die im christlichen Kontext mit dem inneren Wort oder, in Arnolds Geheimnis der göttlichen Sophia (1700), mit der göttlichen Weisheit gleichgesetzt wird:81

75 76 77 78 79 80 81

Ebd., 430. Böhme, Theosophische Sendbriefe, 1:14. Johann Konrad Dippel: Unpartheyische Gedancken /Uber eines so genannten Schwedischen Theologi Kurtzen Bericht von Pietisten. In: EWFG, Bd. 1, 1200. Dippel, Anfang, Mittel und Ende (Anm. 28), 406. Böhme, Vom dreifachen Leben des Menschen, 1:20. Anon.: Systema Theologiæ Dippelianæ. In: Unschuldige Nachrichten (1702), 766–768, hier: 767. Gottfried Arnold: Das Geheimnis der göttlichen Sophia. (Leipzig 1700). Hrsg. v. Walther Nigg. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963, )(2v.

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Ein Heide weiß vielleicht nicht, wer in ihm mächtig ist, und was wir Gnade, Christus oder Licht von oben heißen, nennt er Vernunft, Gesetz, rückständiges Ebenbild oder mit anderen Namen.82

Von Böhme zu Dippel und über diesen hinaus in die Aufklärung führt ein Bewusstsein um die kulturelle Spezifizität religiöser Begrifflichkeit und damit um die unterschiedliche Inkulturation religiösen Wissens. Böhmes Seelenbegriff bietet Dippel die Folie, um religiöse Diversität zu denken, die nicht in einen orthodoxen Wahrheitsbegriff münden muss. Das Beispiel des Heiden Hermes Trismegistos zeigt, dass es unterschiedliche Wege zum Heil gibt, da Gott sich vielfältig offenbart. Damit wird die in die Moderne verweisende Vorstellung einer prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Wissens mit all seinen vielfältigen Ausdifferenzierungen vorstellbar. Wie Böhme kennt aber auch Dippel bei aller Toleranz gegenüber äußeren Ausdrucksformen keine Beliebigkeit in der Frage nach Wahrheit an sich. Wichtig als Quintessenz aller Religion, die für Christen, Juden, Türken und Heiden gleichermaßen gelte, bleibt für Dippel der Vers aus 1Joh 16b, nach dem Gott die Liebe ist, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.83 Das ist, gerade im Kontext theosophischen Wissens, alles andere als eine Verflachung der Religion zur Moral. Angesichts der theosophischen Anthropologie lassen sich kulturelle Unterschiede zwar der Natur und nicht länger der Seele zuordnen, doch erbt Dippels Argumentation damit auch Böhmes Insistieren auf der Notwendigkeit des Strebens zur neuen Geburt. Keine Seele kommt bei Böhme umhin, in sich selbst zu dringen und sich mit dem Liebe- bzw. ›Sohn‹-Prinzip zu ›infizieren‹, das allein die Qual des treibenden Prinzips, dem die Seele in der irdischen Existenz unterworfen ist, überwinden kann.84 Vergleichbar legt Dippels Schrift über den Ursprung des Religionsstreits, der letztlich als Resultat des Prinzips der Schiedlichkeit in den Menschen selbst erscheint, nicht nur die Freiheit von Bekenntniszwängen, sondern vor allem auch die Verantwortung für die Überwindung ihrer Voraussetzungen in die Hände des Individuums. Der Verweis auf das Liebesgebot als Schlusspunkt einer Entdogmatisierung und Ethisierung christlichen Wissens steht im Kontext zeitnaher verwandter Vorstöße der Frühaufklärung wie diejenigen Spinozas, Thomasius’ oder Lockes. Dippels Argumentation unterscheidet sich jedoch von Spinozas Theologischpolitischem Traktat oder von Lockes Brief über die Toleranz durch das Fehlen von staatstheoretischen oder politischen Überlegungen. Dippel argumentiert genau wie Böhme anthropologisch, und das macht die Universalisierbarkeit seiner Thesen auf der einen Seite und ihre Kompromisslosigkeit auf der anderen Seite aus. Dippels ikonoklastischer Furor, für den er berühmt und wohl auch berüchtigt wurde, richtet sich pragmatisch gegen jede Verabsolutierung an Wissensbeständen, die nun als Konstrukte der Vernunft und damit potenziell als kontingent

82 83 84

Dippel, Anfang, Mittel und Ende (Anm. 28), 429. Ebd., S 440. Böhme, Vom dreifachen Leben des Menschen, 1:20.

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betrachten werden können. Inhaltlich jedoch erscheint seine Reflexion des religiös Anderen als konsequente Fortführung von Böhmes These von dem einen Geist und den vielen Begriffen.

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Das Bild Jakob Böhmes im Unterricht Hoher Schulen deutschsprachiger Länder (1670–1740)

1. Einleitung – rezeptionsgeschichtlicher Überblick – Altdorfer Beispiel Frühneuzeitliche Unterrichtsgeschichte ist im Blick auf die Hohen Schulen des Alten Reichs aus mancherlei Gründen ein vernachlässigtes historiographisches Terrain: Die Erwartung, auf memorativ eintönige Vorlesungen zu stoßen und zu wenig originellen Ergebnissen zu gelangen, sowie der damals von Staat, Kirche und Universität ausgeübte Konformitätsdruck halten die Motivation, sich dem sperrigen Gegenstand zuzuwenden, ebenso in Grenzen wie die Fülle der Quellen, deren Interpretation in der Regel gute lateinische Sprachkenntnisse voraussetzt. So kündigt der Beitragstitel ein Projekt an, das noch kaum angelaufen und dessen Umfang unbekannt ist. Trotzdem lässt sich das stark verallgemeinerte Forschungsresultat in einem summarischen Überblick vorwegnehmen: Leben und Werk Jakob Böhmes blieben in katholischen Hohen Schulen unbeachtet und waren an Universitäten und Gymnasien in deutschsprachigen Ländern lutherischer und reformierter Konfession unerbittlicher Kritik ausgesetzt. Selten nur, so zeitweise an der von Pietisten dominierten Universität Gießen, weniger ausgeprägt an der Halleschen Fridericiana, wurde ein freundlicheres Bild des frühneuzeitlichen mystischen Spiritualismus und damit des Görlitzer Schusters und seiner Anhänger gezeichnet.1 Der Forschung, die sich seit einiger Zeit vermehrt um die Böhme-Gegner kümmert,2 steht ein Quellenarsenal von Lehrbüchern aller Art, von Schulreden, 1

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Über die im Umfeld Hoher Schulen größtmögliche Annäherung an die spiritualistische Theosophie, freilich ohne dass der Name Jakob Böhmes fallen würde, s. die unter Johann Heinrich May (1653–1719) verteidigten Dissertationen über die göttliche Sophia in: Selectiorum exercitationum philologicarum et exegeticarum per viginti annos, & amplius, in alma Ludoviciana […] institutarum tomi II. Frankfurt a. M. 1711, dort insbesondere Sophia exul (Respondent: Johann Melchior Hölcker) (162–178) mit dem für die vertretene SophienLehre typischen Wortlaut des Titelblatts und dem Sophien-Lob auf die Universitäten Gießen und Halle (ebd., 173) am Schluss: »[…] scio quippe & grata mente agnosco, quod alicubi, ac nominatim hîc Giessae Hassorum & Halae Saxonum, Sapientia vera locum domiciliumque adhuc habeat, & habere amplius desideret. Utinam modo frequentes obsequentesq; essent Sapientiae alumni!« Zur Bedeutung der Stimmen von Böhme-Gegnern s. Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin/ New York 2009, 89–123, bes. 98–100.

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Programmschriften, Dissertationen, Vorlesungsverzeichnissen und -nachschriften zur Verfügung. Es ermöglicht auch die folgenden zaghaft vorgenommenen Differenzierungsversuche. Aus forschungspragmatischen Gründen stützen sie sich hauptsächlich auf eine Auswahl von Dissertationen zeitlich und räumlich unterschiedlicher Provenienz. Ihre Interpretation ergab einige grundlegende Befunde, die vorgestellt werden. Zum Einstieg werfen wir einen kurzen Blick in ein auch von Vertretern der lutherischen Orthodoxie gern zitiertes Lehrbuch über die Austragung von Glaubenskontroversen, die Summa controversiarum religionis des reformierten niederländischen Theologen Jan Hoornbeek (1617–1666). Dieser absolvierte seine Studien in Leiden und Utrecht, wo er 1644 Theologieprofessor wurde. 1646 erschien der Commentarius de paradoxis, et heterodoxis Weigelianis, 1650 der erste Teil einer Widerlegung der Sozinianer. 1654 übernahm Hoornbeek, einer der damals bekanntesten protestantischen Kontroverstheologen, eine Theologieprofessur in Leiden, wo er 1666 starb. Seine Summa, die eine allgemein theoretische Einleitung über kontroverstheologische Disputationen enthält, erschien zwischen 1653 und 1697 in vier Auflagen.3 In der Abhandlung über die disputatio werden in aufsteigender Rangfolge drei entstehungsgeschichtlich aufeinander folgende Religionstypen unterschieden, von denen die höheren bzw. fortgeschrittenen Stufen auch die Eigenschaften der von ihnen überbotenen enthalten. Es handelt sich 1. um die natürliche Religion aller Menschen, 2. um die von den Juden praktizierte mosaische Religion des Alten Testaments und 3. um das auf das Neue Testament zentrierte Christentum.4 Die Austragung von Glaubenskontroversen unterstellt Hoornbeek den Normen einer Disputationsethik, die u. a. von den Kontrahenten verlangt, die verhandelte Sache von der Person, die stets der Schonung bedürfe, strikt zu trennen.5 Kontroversisten müssen ferner über Kenntnisse der alten Sprachen, des Hebräischen und Griechischen, sowie der Philosophie verfügen.6 Bei der Vorbereitung der Disputation, die sich mit Vorteil des sokratischen Verfahrens bediene, folge auf die Lektüre einschlägiger Bücher (lectio) das Nachdenken (meditatio).7 Wer Anleitung im theologischen Disputieren suche, lese die einschlägigen Werke des lutherischen Theologen Martin Chemnitz oder des reformierten Georg Sohn,

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4 5

6 7

Referenztext: Jan Hoornbeek: Summa controversiarum religionis, cum infidelibus, haereticis, schismaticis. Editio secunda, auctior, & emendatior. Utrecht 1658. – Weitere Aufl.: Utrecht 1653; Kohlberg 1676; Frankfurt a. O. 1697. Hoornbeek: Dissertatio de controversiis, et disputationibus theologicis (Anm. 3), 1–55, hier: 8. Ebd., 34: »In eristicis eo diligentius secernenda res est quae agitur, à persona, & adversario, quo majus hic periculum, si utrumque imprudenter aut malitiose commisceas, & à realibus transeas ad personalia, seu quod tum ferè fit, ad convitia, quibus plus noceas, quam causae caeteroquin bonae, aliàs prosis.« Vgl. auch die Mahnung zur Mäßigung, 37. Ebd., 38. Ebd., 49 (lectio, meditatio), 53 (sokratische Methode): »Quare mihi semper probata fuit ratio disputandi Socratica, quâ per continuas pressasque interrogationes & responsiones, veritas in fine ita certo colligitur, concluditurque, ut assensum sui ab omnibus facile impetret […].«

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vor allem aber die Confessiones und De doctrina christiana von Augustinus.8 In den Hauptabschnitten des Handbuchs erteilt Hoornbeek dann in einzelnen Kapiteln konkrete Anweisungen, wie man sich im Streit mit den verschiedenen Glaubensgegnern zu verhalten habe. Zu ihnen zählen neben den Heiden, Juden, Mohammedanern, Katholiken, Wiedertäufern, Sozinianern, Remonstranten, Lutheranern, den Anhängern Robert Brownes und den Griechisch-Orthodoxen die auch esprits forts genannten enthusiastae und libertini. Den esprits forts widmet Hoornbeek fast 200 des rund 1 000 Seiten umfassenden kontroverstheologischen Vademecums.9 Im Zentrum der Enthusiasmuskritik, die sich auch gegen die Theologia Deutsch und damit die spätmittelalterliche Mystik wendet sowie generell die verdunkelnde Allegorik der Schwärmer bekämpft, steht erneut die ausführlich widerlegte Theosophie Valentin Weigels.10 Nur wenige Sätze widmet Hoornbeek dagegen Jakob Böhme,11 der so dunkel und verworren schreibe, dass es sich gar nicht lohne, auf seine abstrusen Vorstellungen genauer einzugehen.12 In der Auseinandersetzung mit Böhme-Anhängern (›Bohemicolae‹) genüge es, immer wieder auf Klarheit zu dringen, die von ihnen ohnehin nicht zu bekommen sei.13 Der obscuritas-Vorwurf lässt jede hermeneutische Anstrengung des Kritikers überflüssig und sinnlos erscheinen. Mit diesem generellen Verdikt war für Hoornbeek das endgültige Urteil über Jakob Böhme gesprochen. Totschweigen des Namens, pure Verachtung, Schimpftiraden oder einsilbige Kritik sind denn auch die in den konsultierten akademischen Kleinschriften häufig angetroffenen Reaktionen. Sie fallen unter die Begriffe der grundsätzlichen Rezeptionsverweigerung oder gar des Rezeptionsverbots. Daneben gab es mildere Formen der Ablehnung, insgesamt ein breites Spektrum von Ausdrucksformen der Kritik. Nachdem um das Jahr 1700 herum radikalpietistische Hauptwerke, zum Beispiel die Schriften Pierre Poirets sowie die Kirchen- und Ketzerhistorie und – kurz darauf – die Mystische Theologie des Poiret-Rezipienten Gottfried Arnold, erschienen waren, nahm die Böhme-Kritik in theologischen und philosophischen Dissertationen der von den protestantischen Orthodoxien beherrsch8 9 10

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Ebd., 54 (Sohn: Kapitel ›de disputatione‹ in ›De verbo dei‹; Chemnitz: Prolegomena der Loci theologici). Ebd., 378–562. Ebd., 384 f. (Theologia Deutsch; Tauler); 397–438 (Weigel). Zur geschwollenen, hochtrabenden unverständlichen Rede, 384: »Hinc quasi meri spirituales homines sint nostri Enthusiastae, quando de re aliqua, vel sacris loquuntur aut scribunt, tam sublimi, cothurnato, & allegorico utuntur sermone, ut nec aliis, nec sibi intelligantur«. Ebd., 455–458. Ebd., 458 (nach einer Häufung provokativer, an ein Böhme-Zitat gerichteter Fragen): »Vides quot hinc ex sinuoso & prodigioso sermone quaestiones, quot haereses? Quis illis dignè examinandis tempus frustra terat, vel ab aliquo hoc exigat?« Ähnliche Äußerung über die Enthusiasten im Allgemeinen, ebd., 386: »[…] longas multasque adversus illos scriptiones faciendi ergo author non sum.« Ebd., 457: »Nec satis habent illi homines errare in sententiâ, nisi quoque scandalum verbis fecerint. Quomodo cum hisce monstris aliter agas, quam uti initio dixi, producas solummodo, ad nuda & perspicua themata adigas, atque ad probationem? fugient, sat scio, at vel ita se satis ostendent, liquebitque quod dico, examen & conflictum praesentem illos non sustinere.«

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ten Hohen Schulen den kräftigsten Aufschwung. Daher wird der chronologische Schwerpunkt der folgenden Darlegungen mit einer Ausnahme auf der Zeit kurz vor 1700 und in den ersten drei Dezennien des 18. Jahrhunderts liegen. Zu den akademischen Zentren der Pietismus- und Mystikkritik zählten die Universitäten Wittenberg, Tübingen, Rostock, Greifswald, Leipzig und Straßburg, die Hohen Schulen von Danzig, Bremen, Soest, Lübeck und Zürich sowie weitere hauptsächlich der Ausbildung von Theologen dienende protestantische Gymnasien. Für andere Universitäten wie Kiel, Königsberg und Altdorf, an denen die lutherische Orthodoxie ebenfalls einflussreich war, konnte bislang nur eine weit geringere Zahl böhmekritischer Stellungnahmen ermittelt werden, ebenso für Jena. Dort wurde Gottlieb Stolles Litterärgeschichte im Unterricht verwendet, welche den Studenten ausdrücklich von der Lektüre von Böhme-Schriften abriet.14 In Helmstedt verzehrten Georg Calixts unter dem Begriff des Synkretismus bekämpfte theologische Lehre und deren kontroverstheologische Folgen viel geistige Kampfkraft der orthodoxen Lutheraner. Für die 1694 gegründete Universität Halle ist auf die Beschäftigung Christian Thomasius’ mit Jakob Böhme hinzuweisen. Beide Sonderfälle ermuntern dazu, auf landesspezifische, an bestimmte Hohe Schulen gebundene Prioritäten und Konstellationen der Polemik zu achten. Dies lohnt sich auch bei dem nun ausführlicher präsentierten Beispiel der Universität Altdorf, wo die Kräfte der Kontroverstheologen weit über die Schwelle zum 18. Jahrhundert hinaus in einem außergewöhnlich hohen Maß im Konflikt mit dem Sozinianismus gebunden waren. Dort wurde erstmals 1705, notabene von einem auswärts in Amt und Würden stehenden Schulmann, ein ausschließlich mit der Widerlegung Böhmes befasster Thesendruck verteidigt.15 Mit dieser Dissertation erwarb Adam Wild (1677–1736), damals Professor am Gymnasium Durlach, später Pfarrer in Durlach, Lörrach und Pforzheim, ohne die Teilnahme eines Respondenten den theologischen Doktorgrad.16 Erst im Jahre 1696 hatte die Academia Norica dieses Graduierungsprivileg erhalten. Die Widmung Wilds an seinen Schwiegervater Daniel Dietrich Scheid(t), Geheimrat des Markgrafen von Baden, sowie die Grußadressen der beiden Altdorfer Professoren Christoph Sonntag (1654–1717) und Daniel Moller (1642–1712), der in einem Kurzgedicht den Fischerberuf des Apostels dem des Schusters gegenüberstellte,17 unterstreichen die Bedeutung der mit der Disputation erlangten hohen akademischen Wür14

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Gottlieb Stolle: Anleitung zur Historie der Gelahrheit. Jena 41736, 568: »Doch werden junge Leute wohl thun, wenn sie die meisten dieser Auctorum ungelesen lassen.« Böhme befindet sich hier in Gesellschaft von Amos Comenius, Robert Fludd, Abraham von Franckenberg, Quirinus Kuhlmann und anderen Anhängern der mosaischen Physik, von denen Morhof »[…] nicht viel [hat] halten wollen« (ebd., 567). Adam Wild: Specimen inaugurale academicum, sistens luem animarum Boehmisticam, ubi ostenditur, quanto cum animarum periculo Jacobi Boehmii, sutoris Görlizensis, scripta planè fanatica vel amentur & legantur, vel aliis ad legendum commendentur. 23. Juni 1705. Altdorf. Eine später verteidigte Altdorfer Dissertation, die eher nebenbei auf Böhme eingeht, erwähnt Vollhardt (Anm. 2), 99, Anm. 30: Johann Wilhelm Baier (Präses), Georg Schaar (Respondent): De phantasia matre enthusiasmi. Altdorf 1721. Kurzbiographie in: Hans Georg Wackernagel, Max Triet, Pius Marrer (Hrsg.): Die Matrikel der Universität Basel. IV. Band: 1666/67–1725/26. Basel 1975, 306 f. Wild (Anm. 15): »Non Sutor fuit, ast Piscator Apostolus […]« Bl. )o(v.

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de. Der theologische Doktortitel wurde stets Gelehrten verliehen, die sich bereits um die Theologie und den wahren Glauben verdient gemacht hatten und mit einer Inauguraldissertation ihre Rechtgläubigkeit einmal mehr unter Beweis stellen wollten. So ließ auch dieser Disputant in seinem Urteil über Jakob Böhme jede Versöhnlichkeit vermissen, warnte vor einem milden Umgang mit den Dissidenten und fügte in seine Dissertation ein vom brandenburgischen Kurfürsten im Jahre 1700 gegen die mystischen Spiritualisten, u. a. gegen Böhmes Werk, erlassenes deutschsprachiges Mandat als Musterbeispiel obrigkeitlicher Zensurpolitik ein.18 Der Aufruf Wilds an die Träger politischer Herrschaft, Werke Böhmes und seiner Anhänger radikaler Zensur zu unterwerfen, kann gar als späte Kritik an der nachsichtigen Haltung des Nürnberger Rats 60 Jahre zuvor im Umgang mit dem Weigelianismus verstanden werden.19 Anhand von Zitaten aus den Theosophischen Send-Schreiben und der Aurora, die Wild mit lateinsprachigen, der Entrüstung Ausdruck gebenden Kommentaren durchmischte, werden Böhme mit polemischem Pathos einmal mehr Unverständlichkeit und theologische Haltlosigkeit vorgeworfen, seine Kritik an der akademischen disputatio und am Elenchus sowie Hauptirrtümer (Schöpfungslehre, Rolle Luzifers, Lehre von den sieben Geistern und anderes mehr) zurückgewiesen und der Schuster der Neuerungssucht bezichtigt.20 Die Gelehrsamkeit, die dem Bücherwissen und historischen Kenntnissen vertraut, wird gepriesen, das geisttheologische Wissensideal, das sich anmaßend auf die Unmittelbarkeit göttlicher Inspiration berufe, verurteilt.21 Nicht zuletzt aus aktuellem Anlass verfolgte Wild die Verbreitung von Böhmes Werk mit wachsender Besorgnis.22 Den die Mystiktheologie und den Missbrauch der Collegia pietatis attackierenden Corollaria ist zu entnehmen, dass der Verfasser weniger den Görlitzer Schuster als die immer zahlreicher werdenden Pietisten treffen wollte.23 Zu seinen Hauptgewährsleuten zählen Abraham Calov, aus des18 19

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Ebd., 31 f. (Brandenburgisches Regierungs=Secret des Herzogthums Magdeburg, Halle, den 25. Juni 1700). Vgl. Richard van Dülmen: Schwärmer und Separatisten in Nürnberg (1618–1648). Ein Beitrag zum Problem des »Weigelianismus«. In: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973), 107–137. Wild (Anm. 15), Send-Schreiben (9, 11); Aurora (22, 25, 26 f.); höhnische Kommentare (z. B. 11, 17 u. 26); obscuritas-Vorwurf (z. B. 18 u. 21); Aufzählung unbiblischer Inhalte in deutscher Sprache aus Böhmes Werk (15 f.); Zurückweisung von Böhmes Kritik an der Gelehrsamkeit und der disputatio, Rechtfertigung der Kontroverse (13 f.); Neuerungssucht, Häresievorwurf (18). Wild (Anm. 15), 11, mit der Belegstelle aus Jakob Böhme: I. B. T Theosophische SendSchreibens. Amsterdam 1658, Das XI. Send-schreiben An Herrn P.[aul] K[aym]. vom 18. Novembr. A. 1620, 108, die wie folgt beginnt: »Jch habe es nicht aus Historien zusammen geraffet/ und also Meynungen gemacht/ wie die Babilonische Schule thut/ da man umb Worte und Meynungen zancket: Jch habe durch Gottes-Gnade selber eigene Augen bekommen/ und mag in mir selber in Christi weinberge arbeiten.« Wild unterstellt in seinem in das Zitat eingeflochtenen Kommentar (ebd.), dass Böhme mit den Historien auch die Bibel meine: »(intelligit etiam ipsam Scripturam S.)«. Auf diese oder ähnliche Annahmen stützt sich der von orthodoxen Theologen oft erhobene Vorwurf der Bibelfeindschaft Böhmes. Ebd., 19 f. Ebd., 31 f., bes. Corollarium IV, das glaubensfördernde, nützliche, von schädlichen Collegia pietatis unterscheidet.

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sen Anti-Böhmius (1684) Wild ein Hoornbeek-Zitat aufgreift,24 Wilds Rostocker Lehrer Johannes Fecht (1636–1716), der Prediger Johann Christoph Holtzhausen (1640–1695) und der Tübinger Theologe Tobias Wagner,25 auf den gleich näher eingegangen wird. Diejenigen Dissertationen, die in unserer Zeitspanne ausschließlich Leben, Werk und Wirkung Jakob Böhmes gewidmet sind, entfallen zur Hauptsache auf die Universitäten Wittenberg und Tübingen, weniger zahlreich auf die Leipziger Albertina. Dieser wirkungsgeschichtliche Befund wird durch die Lektüre-Empfehlungen der meisten Litterärgeschichten und der lexikalischen Nachschlagewerke aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts grosso modo bestätigt,26 soweit sie Dissertationen und andere akademische Kleinschriften betreffen. Bei der folgenden Tour d’Horizon greife ich daher hauptsächlich auf Thesendrucke zurück, die an den eben genannten drei Universitäten verteidigt wurden. Ein Abschnitt beschäftigt sich mit der Böhme-Rezeption im Unterricht frühneuzeitlicher Gymnasien (Soest, Bremen).

2. Unterrichts- und Wirkungsgeschichte: Einzelbeispiele – fragmentarisch rekonstruierte Zusammenhänge Angesichts der vielen frühneuzeitlichen Kleinschriften, die der Schwärmerkritik gewidmet sind und auf Person und Werk Jakob Böhmes näher oder nur andeutungsweise eingehen, erscheint hier die weitgehende Beschränkung auf Dissertationen bzw. auf Thesendrucke naheliegend, die sich ausschließlich mit dem Opus des Görlitzer Schusters befassen. Nicht selten nehmen sie aus polemisch-prophylaktischen Gründen in der Disputation zu erwartende Argumente der Gegner bzw. der Opponenten vorweg. In der Regel unter dem Vorsitz eines Präses oder, wie das obige Altdorfer Beispiel zeigt, sine praeside setzten sich die Disputanten als treue Anhänger der lutherischen oder der reformierten Orthodoxie in Szene und verurteilten klar die als heterodox gebrandmarkten Positionen der Gegner. Die Häresiekritik folgte durchweg den Regeln des Elenchus. Sie zog Enthusiasten vor das Forum der natürlichen Vernunft, diffamierte ihre Ansichten als widervernünftig (paradox) und wies Toleranzansprüche zurück. Mit erheblichem Argumentationsaufwand verteidigte man den wahren Glauben einerseits gegen die Anmaßungen Ungelehrter, andererseits gegen Widersacher in den eigenen Reihen, die, entweder wie die Sozinianer, der natürlichen Vernunft zuviel zutrauten oder aber das – unterschiedlich definierte – richtige Mittelmaß natürlicher Gotteserkenntnis durch übertriebenen Offenbarungsglauben verfehlten. In der Disputation wurde in der Regel der in den Vorlesungen und in den übrigen Collegia vermittelte Stoff repetiert. Deshalb geben sie ein recht zuverlässiges Bild des Unterrichts an den frühneuzeitlichen Hohen Schulen. Die disputatio 24 25 26

Ebd., 5. Ebd., 8 (mit Hinweis auf Böhme-Lektüre Wagners), 19 u. 21. Vgl. den Beitrag von Dirk Werle in diesem Band.

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war das geeignetste Mittel, die Theologiestudenten übungshalber auf die Auseinandersetzungen mit real präsenten Glaubensgegnern vorzubereiten. Trotz des Aufschwungs humanistischer Irenik und der sie flankierenden Scholastikkritik gewannen die Dissertationen und Disputationen an den Hohen Schulen während und vor allem nach der Reformation zusätzliche Bedeutung. Die aus den Thesendrucken gewonnenen Erkenntnisse über die Böhme-Rezeption wären durch Befunde aus anderen Textgattungen, u. a. (theologischen) Lehrbüchern, kontroverstheologischen Anleitungen, Programmschriften, Schulordnungen, Vorlesungsverzeichnissen, Gutachten und Briefen, zu ergänzen.27 Schließlich müssten die orthodoxen Positionen der Universitätsschriften mit den heterodoxen genau verglichen werden, was hier nicht geleistet wird. Heterodoxe Autoren, die außerhalb der Hohen Schulen und der Gelehrtenkreise ihre Anhänger rekrutierten, stießen in der Forschung bislang auf weit größeres Interesse als ihre an den Hochschulen etablierten erbitterten Kritiker, von denen einige nun kurz vorgestellt werden.28 Dieser Forschungslage ist der hochgradige Fragmentcharakter der folgenden Ausführungen großenteils geschuldet. Die künftige Böhme-Rezeptionsforschung wird hier anknüpfen können.

2.1 Theologische Fakultät Tübingen – Tobias Wagner Theologische Dissertationen, die sich inhaltlich mit Böhmes Werk auseinandersetzten, wurden in der Regel, wie das Beispiel Wilds andeutet, von Anfängern weder abgefasst noch verteidigt. Im Alter von fast 82 Jahren verabschiedete sich der Tübinger Theologieprofessor Tobias Wagner (1598–1680) mit dem Propempticum judicium theologicum de scriptis Jacobi Boemi von AltSeidenburg/ dicti Teutonici Philosophi von seinem Lehramt. Er hatte 1619 das Studium in Tübingen aufgenommen, im Jahr darauf den Grad des Baccalaureus erlangt, wurde 1623 Magister und amtete von 1624 bis 1653 als Diakon und Pfarrer in Esslingen. 1635 promovierte er in Tübingen zum Doktor der Theologie, übernahm 1653 eine Theologieprofessur, war 1654/55 Rektor der Universität und jahrzehntelang ein führender Kontroverstheologe und Repräsentant der lutherischen Orthodoxie.29 Schon 1633 veröffentlichte Wagner zum Schulgebrauch eine Einführung in die 27

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Zum Quellenspektrum theologischer Didaktik s. Andreas Stegmann: Johann Friedrich König. Seine Theologia positiva acroamatica (1664) im Rahmen des frühneuzeitlichen Theologiestudiums. Tübingen 2006, bes. über »Die Gattung Dogmatikkompendium«, 100–185. Zum beträchtlichen Forschungsdefizit s. die zusammenfassende Bemerkung von Sibylle Rusterholz zur Wirkungsgeschichte Jakob Böhmes in den Streitschriften des 17. und frühen 18. Jahrhunderts in: Grundriss der Geschichte der Philosophie begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neubearb. Ausg., hrsg. v. Helmut Holzhey. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hrsg. v. Helmut Holzhey u. Wilhelm Schmidt-Biggemann unter Mitarb. v. Vilem Mudroch. Basel 2001, 83. Biographie nach Matthias Wolfes in: Traugott Bautz (Hrsg.): Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. XVIII. Herzberg 2001, 1468–1472 (aktualisierte Fassung vom 2.9.2008 unter www.bautz.de/bbkl).

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Rhetorik und Dialektik,30 in der er erstens auf die Gewinnung des Disputationsthemas aus den Örtern der Dialektik (thematis sive theseos constitutio), zweitens auf die Präsentation der Einwände (oppugnatio) und schließlich auf die Lösung des zur Diskussion gestellten Problems (solutio) einging. Von den Opponenten forderte er Klugheit vor, Aufmerksamkeit während, mäßigendes Verhalten und Dankesbezeugungen nach der Disputation.31 Sowohl bei theologischen als auch philosophischen Themen müssen sie ihre Einwände in syllogistischer Form vorbringen.32 Mit einem ausschließlich der Dialektik gewidmeten Kompendium, das mehrere Auflagen erreichte,33 bekräftigte er seine didaktische Vorliebe für die Behandlung kontroverstheologischer Fragen in Schuldisputationen. Die Dissertation über Jakob Böhme, die sich leicht diesem Hauptbetätigungsfeld Wagners zuordnen lässt, wurde im Jahr 1679 unter dessen Vorsitz vom Tübinger Stipendiaten Johann Friedrich Räther verteidigt, von dem zwar die Widmung an den Herzog Rudolf August von Braunschweig-Lüneburg (1627–1704), nicht aber der Dissertationstext stammt. 1692 erließen die Herzöge von BraunschweigLüneburg und von Braunschweig-Wolfenbüttel ein Edikt gegen die Sekten, das die Prediger unter anderem aufforderte, sich böhmistischer Umtriebe zu enthalten.34 Räther gedachte als Pfarrer nach Zellerfeld zurückzukehren, wo er als Pfarrerssohn Jahre seiner Kindheit verbracht hatte.35 Die vom orthodoxen Tübinger Lutheraner abgehaltene Disputation war auch für den Respondenten der geeignete Anlass, Rechtgläubigkeit öffentlich zu bezeugen, den Gönnern zu danken und sich der politischen Obrigkeit seiner zukünftigen Wirkungsstätte zu empfehlen. Einleitend wird in Wagners Dissertation im Anschluss an Hoornbeek Böhmes Leben im Abriss vorgestellt, auf die durch Übersetzungen weite Verbreitung von Böhmes Werk hingewiesen, und es werden Parallelen zwischen dem Görlitzer Schuster und dem ›linken Flügel‹ der Reformation gezogen.36 Ein Zitat aus den Theosophischen Send-Schreiben, das Schlüsselbegriffe enthält – die vom natürlichen Ich befreite Gelassenheit, die Einkehr in den inwendigen Grund –, skizziert 30

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Tobias Wagner: Gymnasiolum logico-rhetoricum, compendiosè monstrans viam & methodum ad praxin dialecticae & rhetoricae in thematibus I. tractandis, II. resolvendis, III. disputandis, in usum scholae Eßlingensis conscriptum. Tübingen 1633. Ebd., 47–52. Ebd., 48, erste Regel, unter »industria in conflictu«: »Opponens Argumentum suum proponat in Formâ Syllogisticâ: Et hoc quidem in omni Materiâ, tàm Theologicâ, quàm Philosophicâ.« Tobias Wagner: Compendioli dialectici pars prior/pars posterior, nucleum praeceptorum logicorum complectens in usum scholae Esslingensis. Ulm 1650. Ders.: Compendiolum dialecticum: nucleum praeceptorum dialecticorum exhibens; cum annexa manuductione ad praxin. Ulm 21661. Wolfes (Anm. 29) nennt eine weitere Edition: Ulm 1680. Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007, Chronologie, 492. Tobias Wagner (Präses), Johann Friedrich Räther (Respondent): Propempticum judicium theologicum de scriptis Jacobi Boemi von AltSeidenburg/ dicti Teutonici philosophi. Juli 1679. Tübingen, Widmung, Bl. A2v. Wagner/Räther (Anm. 35); Carlstadt, Schwenkfeld (1 f.); Hoornbeek (2), auch an anderen Stellen (9 u. 13); Verbreitung von Böhmes Werk in Frankreich, den Niederlanden und England (3).

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das mentale Profil des Schwärmers.37 Der Präses unterstreicht, dass er von Böhme die Theosophischen Send-Schreiben, Von dem dreyfachen Leben deß Menschen und die Viertzig Fragen von der Seelen Urstand gelesen habe, was mehrere Zitate aus den beiden erstgenannten Publikationen bezeugen.38 Fälschlicherweise schrieb der Tübinger Theologe die ebenfalls oft zitierte,39 1640 anonym erschienene Schrift Iehior oder Morgenröthe der Weißheit von Paul Felgenhauer (1593– ca. 1677)40 Jakob Böhme zu, was der Verfasser des Böhme-Artikels in Zedlers Universallexikon, der den richtigen Autor nennt, kritisch vermerkte und allgemein bekannt machte.41 Für die Kenntnis der Böhme-Rezeption respektive des von ihr verantworteten Böhme-Bildes ist diese Fehlzuschreibung von erheblicher Bedeutung. In jedem der zwölf ›Pronuntiata‹ genannten, auf die Einleitung folgenden Thesenabschnitte greift Wagner einen Hauptaspekt Böhme’scher Lehre auf und unterwirft ihn, gestützt auf Originalzitate aus dem Werk des inkriminierten Autors, schärfster Kritik. Zu Beginn (Pronuntiatum I) weist er Böhmes Behauptung, erleuchtet zu sein, zurück.42 In den folgenden Pronuntiata geht es hauptsächlich um die Äußerungen des Görlitzer Schusters, die sowohl der Bibel als auch den aus ihr hergeleiteten Glaubensartikeln widersprechen.43 Anstoß erregt vor allem Böhmes Kritik an 37

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Ebd., 1. Das Zitat lautet in der von Wagner herangezogenen Böhme-Ausgabe (Anm. 21): »[…] darzu dan eine wahre Gelassenheit und Verlassenheit der menschlichen Selbheit gehöret/ daß sich der Mensch gantz in seinen inwendigen grund wendet/ und in seiner selbheit gantz zu nichte machet« (Das XXXIII. Send-schreiben An Herrn J[ohann] B[utowisky] vom 13. Decembr. 1622, 246). Wagner/Räther (Anm. 35): Zitathinweise auf Theosophische Send-Schreiben, 1, 6, 8 f., 12, 18, 20 u. 24–26; Von dem dreyfachen Leben, 12–16 u. 23 f. Ebd., Zitatnachweise 10, 12, 15 f., 18 f., 21 u. 24–27. Biographie: Ernst Georg Wolters: Paul Felgenhauers Leben und Wirken. In: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 52 (1954), 63–84. Johann Heinrich Zedler: Universallexicon. Bd. 4. Halle/Leipzig 1733, 356–358, hier: 358, mit der Kritik auch an Erasmus Francisci, der denselben Fehler mit weit schwerwiegenderen Folgen noch als Wagner beging. Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie vom Anfang des Neuen Testaments bis auf das Jahr Christi 1688. II.3.4. Repr. der Frankfurter Ausg. von 1729. Hildesheim 1967 (ED Frankfurt a. M. 1700), Theil III., Das V. Capitel. Von Paulo Nagelio, und Paulo Felgenhauern, 13, 56, führt in der Liste der Felgenhauer-Titel: »Aurora sapientiae, Morgenröthe der Weißheit 1628 in 12mo.« Das Büchlein Jehior, das die vergriffene Aurora sapientiae ersetzte (Wolters [Anm. 40], 76), war Arnold wohl nicht bekannt. Felgenhauers Aurora besaß er in der auch Wolters (ebd.) bekannten Ausg. von 1629, s. Catalogus bibliothecae b. Godofredi Arnoldi, inspectoris et pastoris Perlebergensis. 1714, 63. In: Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Hrsg. v. Dietrich Blaufuß u. Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, 401 (»Morgenröthe der Weißheit/ 629.«). Zur Verwechslung der Felgenhauerschen Aurora sapientiae mit Böhmes Aurora samt der Kritik an Wagner s. Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie, Theil II., Buch XVII, Das XIX. Capitel. Von Jacob Böhmen, 56, 1155. Wagner/Räther (Anm. 35), 6 f. Ebd., Pronuntiatum II, 8; Pronuntiatum IV, 9 f. (hier wieder die unwissentliche Berufung auf Böhme alias Felgenhauer); Pronuntiatum V, 10 f. (»Scatent Scripta Boemi assertis, quae Sacrae Scripturae in faciem contradicunt.« [Ebd., 10]); Pronuntiatum V [recte VI], 11 f. (Böhmes Attacke gegen das äußere Wort); Pronuntiatum VII, 12 f., mit der Lehre von drei Büchern (Buch der Natur, Heilige Schrift, Mensch als Buch) gemäß Felgenhauer.

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den offiziellen Vertretern des geistlichen Lehramts.44 Der Vorwurf sprachlicher Dunkelheit wird mit einer Aussage des Schusters gestützt, der sein Unvermögen selber zugebe.45 Geisttheologie und Erleuchtungsanspruch sowie die damit verbundene Diskriminierung von Buchstabe, Schrift, Gelehrsamkeit und Universität werden erneut verurteilt, ebenso die Vermischung von Theologie und Philosophie in der theosophischen Naturspekulation, welche die Harmonie von Mikro- und Makrokosmos behaupte und in der Innen- und Außenwelt vereinigenden Signaturenlehre sowie in der Annahme eines Einflusses der Gestirne auf den Menschen kulminiere.46 Diese Kritik an der theosophischen Kosmogonie verfehlte insofern ihr Ziel, als sie in erster Linie nicht Böhme, sondern den mit ihm verwechselten Felgenhauer traf. So befolgte Wagner mehr noch als gewollt den Rat des von ihm wiederholt zitierten Hoornbeek, die Auseinandersetzung mit Böhme auf einen intellektuellen Minimalaufwand zu beschränken.47 Böhmes Werk wird ohne Nachweise sowohl der schwenckfeld-weigelianischen Tradition als auch der mittelalterlichen Scholastik mit der allgemeinen Begründung zugeordnet, beiden sei intellektuelle Dunkelheit eigen.48 Die häretischen Abwege Böhmes werden auf dessen melancholisches Temperament, also eine natürliche Ursache, zurückgeführt, die der vom Wahn Besessene und von der superbia Angetriebene mit dem Heiligen Geist identifiziert habe.49 Der Tübinger Theologe richtete seine Kritik gegen alle Nichtgelehrten, die mit ihren deutschsprachigen Dichtungen und mit Kenntnissen in Astronomie, Astrologie und Chemie (respektive Alchemie) von sich reden machten.50 Daher betraf Wagners Protest die Generierung und Verbreitung falschen bzw. laienhaften Wissens, das sich der Kontrolle der Gelehrten und der von ihnen beherrschten Institutionen entzog. Nicht von ungefähr werden die Medien und Wege gelehrter Wissensdistribution gegen die Schuster, die nicht bei ihrem Leisten blieben und die Ständeklausel missachteten, verteidigt. In Wagners Dissertation trafen verschiedene Spielarten der Böhme-Rezeption zusammen: Erstens die durchgängige Häretisierung Böhmes durch unmittelbaren Rückgriff auf sein Werk; zweitens die Zuschreibung von Texten fremder Autoren 44 45

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Ebd., Pronuntiatum VIII, 13 f. (Belege aus Von dem dreyfachen Leben). Ebd., obscuritas-Vorwurf, 9, ebd., Bekenntnis im vierten Theosophischen Send-Schreiben (Anm. 21), 21: »25. Daß ich euch aber in etlichen Puncten schwer verständig bin in meinen Schrifften/ ist mir leid/ und wündsche/ ich könnte meine Seele mit euch theilen/ daß ihr möchtet meinen Sinn ergreiffen.« Ferner ebd., 23 f. Ebd., Pronuntiatum IX, 15–17, Referat im Anschluss an Felgenhauer und Böhmes Von dem dreyfachen Leben deß Menschen; Stein der Weisen, Naturtheogonie (Pronuntiatum X, 17–19). Abwehr der im 16. Theosophischen Send-Schreiben (Anm. 21, 169) geübten Kritik an der Disputation (Pronuntiatum XII, 24) und Erwiderung auf die Scholastikkritik: »ipse [Böhme] ad confundendos animos disputacissimus, obscurissimus, intricatissimus: ut vel sola obscuritas nos Theologos absterreat à Theologiâ Scholasticâ, tanquam ab opacissimâ nebulâ resplendescentis Evangelii, ad cujus dissipationem Lutherus, & plerique superioris, & in praesens currentis seculi Theologi Brentius, Chemnitius, alii innumeri, per solam sacrae Scripturae faculam nihil intentatum reliquerunt.« Ebd., Pronuntiatum X, 19: »[…] indeque vix dignum, qui operosè refutetur.« Ebd., 24 (vgl. Anm. 46; Scholastik) u. 27 f. (Verortung in einer mystisch-spiritualistischen Tradition). Ebd., 28, Bezug nehmend auf Kaspar Marcuccis Quadripartitum melancholicum. Ebd.

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an Böhme und hieraus resultierende Fehlurteile über Böhmes Werk und Person; drittens die moralische und intellektuelle Diskreditierung respektive Psycho-Pathologisierung Böhmes und viertens die historische Verortung Böhmes in einer frühneuzeitlichen häretischen, ungelehrten oder/und sogar in einer mittelalterlich-scholastischen Tradition. Während andere Anti-Böhme’sche Thesendrucke sich mit der bloßen Erzählung des Lebenslaufs und allenfalls mit ein paar aus dem Kontext gerissenen Böhme-Zitaten begnügten, um das abstruse Denken und Schaffen des Görlitzer Schusters zu veranschaulichen, legte Wagner immerhin Wert auf eine zusammenhängende Präsentation ihm zentral erscheinender Inhalte von Böhmes Werk, die er im letzten Teil seiner Dissertation sogar in einer Tabelle unter den Rubriken ›von Gott‹, ›vom Menschen‹, ›über den postlapsarischen Zustand‹, ›Mittel der Bekehrung‹, ›falsche Mittel‹, ›Schöpfung‹, ›nach dem Leben‹ aufgrund topischer Gesichtspunkte zu ordnen versuchte.51 Mit dieser gelehrten Zurichtung Böhme’schen Gedankenguts entschärfte er nolens volens den gegen den Görlitzer Schuster erhobenen obscuritas-Vorwurf, freilich, ohne dass dies in den Kreisen der lutherischen Orthodoxie zu einer wohlwollenderen Aufnahme von Böhmes Werk geführt hätte. In den Thesenschriften der anschließenden, vom letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts bis ca. 1715 dauernden Periode traten die erwähnten Rezeptionstypen eher getrennt voneinander, einige seltener, in Erscheinung, doch es kamen andere hinzu. So nahm zum Beispiel mit größerem Abstand des Erscheinens einer Dissertation von den Lebensdaten Böhmes die unmittelbare Vertrautheit der Disputanten mit dessen Werk zunächst ab, und es wurden fast nur BöhmeRezipienten zum Gegenstand böhmekritischer Schuldisputationen. Dies änderte sich einige Zeit nach dem Erscheinen der ersten litterärgeschichtlichen Kompendien. Auf den unterrichtsgeschichtlichen Nutzen der Zitate und Stellennachweise im Böhme-Kapitel von Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie52 sowie auf Arnolds Rezeption von Pierre Poirets Böhme-Bild gehe ich hier nicht ein, doch führte die Beschäftigung der beiden radikalen Pietisten mit Böhme die Disputationsteilnehmer vorerst nicht zu weiterer Beschäftigung mit Böhme-Texten, sondern zu verstärkter Abwehr und Lektüreabstinenz.

2.2 Mitteldeutsche Universitäten: Wittenberger Orthodoxie – Ausblick auf die Universität Leipzig Weil in den Dissertationen vermehrt amplifikatorische Argumentations- und Darstellungsformen verwendet wurden, fügte man auch häufiger narrative Passagen ein; die Rhetorik gewann an Bedeutung, während auf formallogische Beweisinstrumente, insbesondere die Syllogistik, zunehmend verzichtet wurde. Die Funkti51 52

Ebd., 22 f. Bibliographischer Nachweis s. Anm. 121; zur rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung von Abraham von Franckenbergs Böhme-Vita auch für Böhme-Gegner vgl. den meine Darlegungen in vielerlei Hinsicht ergänzenden Beitrag Cecilia Muratoris in diesem Band, der ich für den anregenden Gedankenaustausch über die frühneuzeitliche Böhme-Rezeption danke.

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on der Kurzthesen, das heißt der mehr oder weniger isolierten Behauptungssätze, übernahmen sogenannte Corollaria im Anhang der Dissertationen. Im Hinblick auf die Böhme-Rezeption lässt sich die Rhetorisierung der Thesendrucke mit einer 1698 an der Universität Wittenberg verteidigten Dissertation illustrieren, welche die zentrale Bedeutung der Historie als Kampfinstrument um den wahren Glauben bereits in der Titelbezeichnung ›Dissertatio historica‹ verrät. Unter dem Vorsitz des später berühmt gewordenen Kontroverstheologen Gottlieb Wernsdorf (1668–1728), damals noch Adjunkt und gleichzeitig Dekan der philosophischen Fakultät, verteidigte der aus Breslau stammende, später als Pfarrer in Leipe und danach in Zedlitz bei Steinau wirkende Gottlieb Liefmann seine Dissertation über schlesische Fanatiker.53 Nach einer kurzen begriffsgeschichtlichen Einleitung setzt sich diese in einem ersten Teil aus Kurzbiographien Caspar Schwenckfelds sowie von dessen Anhängern zusammen. Eher beiläufig fallen einige Namen von Gegnern Schwenckfelds. In der kurzen Erwähnung Jakob Böhmes siedelt der Verfasser diesen außerhalb des engen Kreises der Schwenckfeldianer an, sieht ihn aber in einer starken Abhängigkeit von dem mit Schwenckfeld übereinstimmenden Valentin Weigel.54 Mehr Beachtung erfahren Abraham von Franckenberg (1593–1652), dessen dreigliedriges Emblem und dessen Grabinschrift abgedruckt werden, sowie andere Böhme-Freunde.55 Der zweite Hauptabschnitt besteht lediglich aus der Biographie Quirinus Kuhlmanns (1651–1689),56 der neun Jahre vor dem Erscheinen der Wittenberger Dissertation in Moskau wegen Ketzerei zum Feuertod verurteilt worden war und für den Respondenten die Merkmale des Schwärmers und Erzketzers schlechthin in sich vereinigt: Abkehr von der Gesellschaft, Wahnvorstellungen, hervorgebracht von einer der Kontrolle der Vernunft entglittenen Einbildungskraft, Trübsinn, Verbrüderung mit Gleichgesinnten, messianisches Sendungsbewusstsein, hartnäckiger Eigensinn und Verstocktheit, wechselvolles Leben, Verfolgung durch Kirche und Staat, rascher Prozess und Verurteilung, gerechte Todesstrafe. Das drastische Exempel war als Warnung für die Gelehrten gedacht: Der mit herausragenden intellektuellen Fähigkeiten ausgestattete Kuhlmann sei durch 53

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Gottlieb Wernsdorf (Präses), Gottlieb Liefmann (Respondent): Dissertatio historica, de fanaticis Silesiorum, et speciatim Quirino Kuhlmanno. 22. Oktober 1698. Wittenberg. Biographische Notiz in: Siegismund Justus Ehrhardt: Evangelische Kirchen- und Prediger-Geschichte der Stadt und des Fürstenthums Ligniz. Lignitz 1789, 294. Die Stelle lautet, ebd., Bl. C4v: »Val. Weigelius quemadmodum in omnibus fere cum Schwenckfeldio convenit & utriusq; egregius interpolator est Jac. Böhmius, famosus ille Gorlicensis Enthusiasta, ita ambo non paucos opinionum suarum fanaticarum admiratores assertoresque in Silesia invenerunt, quorum insigniores, ne nimium longa sumatur oratio, hic commemorabo.« Ebd., Bl. D1v–D2v. Zu Leben und Werk s. Franz Günter Sieveke: Art. »Kuhlmann, Quirin(us)«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, Bd. 7 (2010), 117–120. – Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Anja Hallacker u. Boris Bayer. Göttingen 2007, hier: 187–225.

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eigenes Verschulden vom Weg wahren Glaubens abgekommen und daher dem Wahnsinn anheimgefallen.57 Liefmann kannte sich zwar in der Geschichte seiner Heimat aus und hatte Zugang zu schlesischen Handschriften, war aber in seinem Urteil über die Schwärmer von den lutherischen Kontroverstheologen Ehregott Daniel Colberg, Abraham Calov und vom Lübecker Superintendenten August Pfeiffer sowie von Jan Hoornbeek abhängig. Jakob Böhme selbst steht, wie erwähnt, nicht im Zentrum der Anklagen, sondern ist fast nur in seinen Anhängern präsent. Für den Verfasser lebte er in Kuhlmann gleichsam weiter, was mit Parallelstellen aus Böhme-Schriften und Kuhlmanns Neubegeistertem Böhme (1674) verdeutlicht wird.58 Im Kuhlmann-Kapitel zieht der Respondent Böhme’sche Wendungen, so das Paradoxon »der Grund im Ungrund«, ins Lächerliche und behauptet, die Irrtümer Kuhlmanns würden auch von gemäßigten Böhme-Anhängern zurückgewiesen.59 Ohne Bedenken empfiehlt er die Lektüre einzelner Kapitel des Neubegeisterten Böhme, damit sich die Leser von den unsäglich abstrusen Ideen Kuhlmanns eine Vorstellung machen könnten.60 Gerade die Lektüre der verfemten Texte, nicht das Rezeptionsverbot, wird dem Leser die Augen öffnen. Auf eine Präsentation von Kuhlmanns Invektiven gegen die lutherische Kirche und deren führende Theologen wird im Einzelnen ebenso verzichtet wie auf weitere Ausführungen über Kuhlmanns unkonventionelle Lehre.61 Die Beziehung zur Konfessionspolemik blieb in den Disputationsschriften viel ausgeprägter als in den Litterärgeschichten, obwohl auch diese ihre Verbindung mit der Kontroverstheologie nie ganz verleugnen wollten und konnten. Ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen der Dissertation über die schlesischen Fanatiker wurde unter dem Vorsitz des Magisters Johann Adam Calo, der sich um die Aufnahme in den Lehrkörper der philosophischen Fakultät der Wittenberger Universität bewarb, eine nur Jakob Böhme gewidmete Pro-Loco-Dissertation verteidigt.62 In dieser erzählt Calo zunächst, im Anschluss an Abraham von Franckenberg, Böhmes Vita, die er mit dem vollständigen Abdruck von Quellenzeugnissen, dem Trauergedicht des Görlitzer Arztes Michael Kurtze und Böhmes Grabschrift, abschließt.63 Hierauf listet er in chronologischer Folge die Werke Böhmes auf und teilt den Titel der Gichtel’schen Amsterdamer Böhme-Ausgabe von 1682 in aller Ausführlichkeit mit.64 Dann fasst er in 17 Einzelparagraphen die Kernsätze der Böhme’schen Theosophie, und zwar mit genauer Angabe von Belegstellen aus 57 58 59 60 61 62

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Wernsdorf/Liefmann (Anm. 53), Bl. E1r. Ebd., Bl. F2v–F4r. Ebd., Bl. G2v. Ebd., Bl. F4v. Ebd., Bl. F4r. Johann Adam Calo (Präses), Anton Gunther Moehring (Respondent): Vita Jacobi Boehmii. 24. November 1707. Wittenberg. Der Thesendruck erschien unter verändertem Titel noch in einer zweiten Auflage (Wittenberg 1715), was für die damalige Beliebtheit von Calos Böhme-Vita spricht. Frau Ulrike Mehringer, UB Tübingen, danke ich für bibliographische Auskünfte. Ebd., caput I. De vita et morte Jacobi Boehmii, Bl. A2r–B4v; Trauergedicht und Grabschrift Bl. B3v–B4v. Ebd., cap. II. De scriptis Iacobi Boehmii, Bl. C1r–C3r; Titel der Gichtel’schen Ausgabe Bl. C2v f.

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einem breiten Quellenkorpus, in verständlicher Sprache zusammen.65 So präsentiert Calo zum Beispiel in einer These kurz Böhmes Schöpfungslehre samt dessen Dreiweltentheorie und verteidigt in einer anderen das theologische Disputieren.66 Der Schlussabschnitt ist Böhmes Anhängern gewidmet, an erster Stelle Abraham von Franckenberg, dessen Schriften ebenfalls aufgelistet werden.67 Lebensmotto und Grabspruch Franckenbergs entnahm der Wittenberger Magister im vollen Wortlaut der Dissertation Liefmanns, fügte aber Angaben über die ebenfalls als Böhme-Anhänger geltenden Christian Hoburg und Friedrich Breckling sowie deren Werkverzeichnisse hinzu.68 Die von der früher erschienenen Wittenberger Dissertation vorgezeichnete Litterärhistorie des Böhmismus als Ketzergeschichte wird nun, auch als Antwort auf Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie sowie sie als Informationsquelle beiziehend, fortgeschrieben, aktualisiert. Zwar legte Calo Wert darauf, Pietisten und Böhmisten zu unterscheiden, doch werden von ihm Spener, Arnold und Petersen zu den Böhme-Anhängern in unmittelbare Beziehung gebracht und damit abqualifiziert.69 Diese Geringschätzung insbesondere gemäßigten Pietisten gegenüber markierte zwar einen Tiefpunkt im Verhältnis der lutherischen Orthodoxie zu Nonkonformisten, andererseits erfuhr Böhmes Werk durch den Rekurs auf die Amsterdamer Ausgabe erneut unmittelbar historische Beachtung. Bezeichnenderweise überließen der Kandidat für das Wittenberger philosophische Lehramt und der Respondent die inhaltliche Auseinandersetzung mit Böhmes Werk in erster Linie den Theologen.70 Im Unterricht der philosophischen Fakultät jedoch gewann die Böhme-Rezeption allein durch den Anschein von Urteilsabstinenz, der in Dissertationen erweckt wurde, hier und dort an Boden. Dies auch da, wo, wie in Wittenberg, auf der Rolle der Philosophie als Magd der Theologie länger und konsequenter als anderswo bestanden wurde. Die Lektionen in Logik und Litterärgeschichte blieben selbst an der Leucorea von der Vorurteilskritik nicht unbeeinflusst. Dies trug dort allerdings zu einer grundlegenden Neueinschätzung von Leben und Werk Böhmes nicht bei, löste doch auch der Verfasser der präsentierten Wittenberger philosophischen Dissertation sein Versprechen, neutrale Litterärhistorie zu betreiben,71 nicht ein. An verschiedenen Stellen machte er keinen Hehl aus seiner dezidierten Ablehnung der 65 66 67 68 69

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Ebd., cap. III. De dogmatibus Iacobi Boehmii, Bl. C3r–D2r. Ebd., These V, Bl. C4v (Kosmologie: Gott, Engel, irdische Kreaturen); These XV, Bl. D1v (Gelehrtenkritik). Ebd., cap. IV. De quibusdam asseclis Iacobi Boehmii, Bl. D2r–E4r; Franckenberg Bl. D2v– D4r. Ebd., Bl. D3v (Motto und Grabschrift); Bl. D4v–E1r, Elias Praetorius respektive Christian Hoburg; Bl. E1r–E2r (Friedrich Breckling). Ebd., Bl. E3v. Zum Verhältnis Speners zu Böhme vgl. Helmut Obst: Jakob Böhme im Urteil Philipp Jakob Speners. Winfried Zeller zum 60. Geburtstag. In: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte 23 (1971), 22–39. Calo/Moehring (Anm. 62), Bl. C3r: »Nolo autem istas [sententias] oppugnare, propterea, quod partim illud negotium ad forum Theologicum spectet, partim etiam, quod ab aliis iam dudum ad lydium lapidem ea examinata, firmioribus pariter atque argumentis uellicata fuisse sciam.« Ebd.: »A libris ad praecipuas, quae scriptis continentur, sententias accessum facio, quas non confutare, sed ut rerum gestarum scriptor paucis enarrare studebo.«

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Böhme’schen Theosophie.72 Deren Transposition in Kurzthesen machte einerseits Grundgedanken Böhmes leichter nachvollziehbar, löste sie andererseits aber aus dem Kontext und führte gleichzeitig zu Vereinfachungen und Verfälschungen. Aber nur in dieser für den Schulgebrauch zurechtgestutzten Form waren Böhmes Aussagen für die Gelehrten fassbar, in ihrem Sinn und Geist einigermaßen zu verstehen und mit dem vertrauten Argumentationscode zu widerlegen. Den eben skizzierten Eindruck verstärkt eine andere, 1730 an der Universität Leipzig wiederum von einer akademischen Subalternperson verteidigte philosophische Pro-loco-Dissertation, welche die auch von Christian Thomasius und anderen behandelte Frage nach dem Verhältnis von Schuhmachern zur Philosophie erneut aufgriff.73 Die anspruchslose Arbeit der Schuster beflügle zwar deren Neigung, sich der Spekulation hinzugeben oder gar einer krankhaften Einbildungskraft freien Lauf zu lassen. Hieraus dürften jedoch keine verallgemeinernden Schlussfolgerungen über die Anfälligkeit der Schuster für häretische Lehren gezogen werden.74 Das freundliche Bild, das Morhof im Polyhistor von Böhme entwarf, und damit die zu große Toleranzmarge dieser Litterärgeschichte,75 stieß aber beim Verfasser auf Ablehnung. Die Enthusiasmuskritik im vierten Buch von John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand, die in der Leipziger Thesenschrift beiläufig zur Lektüre empfohlen wird und in der der englische Philosoph auf die Schwierigkeit hinwies, Inspirationsansprüche zu begründen oder zu widerlegen, zogen die Disputanten dennoch nicht für Beweiszwecke heran.76 Christian Thomasius’ Böhme-Dissertation diente ihnen einzig als litterärhistorischer Steinbruch.77 Als unterrichts- und wirkungsgeschichtliches Zeugnis ist die Leipziger Disputationsschrift trotzdem von einigem Interesse. Ihr bibliographischer Kanon deckt sich im Bereich der Dissertationen nämlich weitgehend mit dem des Böhme-Artikels in Zedlers Universallexikon.78 Dieser enthält auch einen Hinweis auf die unter dem Vorsitz von Rektor Iustus Wessel Rumpaeus am Soester Gymnasium verteidigte Böhme-Dissertation.

2.3 Böhme-Rezeption an Gymnasien – die Beispiele des lutherischen Soest und des reformierten Bremen Justus Wessel Rumpaeus (1676–1730) studierte nach dem Besuch der Schulen in Unna, Soest und Dortmund an der Universität Rostock, wo er 1702 den Magistergrad erlangte. 1704 setzte er in Greifswald seine Studien fort, wurde dort Baccalaureus der Theologie, Sonnabendprediger an der Kirche St. Jacobi und 72 73 74 75 76 77 78

Ebd., z. B. in These III, Bl. C4r: »De Deo quam absurde, tam impie loquitur.« Jeremias Fridericus (Präses), Adam Sigismund Bürger (Respondent): Exercitatio historicomoralis de sutoribus fanaticis. 14. April 1730. Leipzig. Ebd., § VIII, 26; § XVIII, 34; § XXIV, 43. Ebd., § VIII, 26. Vgl. den Beitrag von Cecilia Muratori in diesem Band, die ausführlich auf die Rolle des Schuhmacherberufs in der Kontroverse um Jakob Böhme eingeht. Ebd., § XVII, 33. Ebd., § XIX, 35. Zedler (Anm. 41).

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1705 Adjunkt der theologischen Fakultät. 1708 übernahm er das Rektorat am Archigymnasium in Soest.79 Im Jahr zuvor war er in Greifswald, nachdem er eine zweistündige Vorlesung über Jakob Böhme gehalten hatte, zum Doktor der Theologie gekürt worden.80 Der mit ihm befreundete Kontroverstheologe und Dekan der theologischen Fakultät Johann Friedrich Mayer (1650–1712)81 lud zur Anti-Böhme-Lehrveranstaltung mit einer Programmschrift ein, in der er einen in seinem Besitz befindlichen Brief Veit Ludwig von Seckendorffs (1626–1692) an Abraham Calov vom 3. März 1684 drucken ließ.82 Der Spenerfreund Seckendorf äußerte sich in seinem Schreiben abfällig über Böhmes dunkle Sprache. Mayer benutzte den Brief als Autoritätszeugnis, mit dem er erneut seine Missbilligung von Philipp Jakob Speners milder Beurteilung Jakob Böhmes stützte.83 In der sieben Jahre darauf veröffentlichten Soester Gymnasialdissertation84 nahm Rumpaeus offenbar in erweiterter Form das in Greifswald Vorgetragene auf und beschäftigte sich standardmäßig mit Böhmes Leben und Werk sowie mit dessen Anhängern und Gegnern. Er ordnete die Rezipienten vier Gruppen zu, den treuen Gefolgsleuten Böhmes, den kompromissbereiten Vertretern von zwei Zwischenpositionen und den harten Kontrahenten.85 Auf der Basis theologischer Örter zählte Rumpaeus zehn Hauptirrtümer Böhmes auf: Sie betrafen die Heilige Schrift, das Wesen Gottes, die Schöpfung, die Engel, den Menschen, die Sünde, Christus, die Taufe, das Abendmahl und die Auferstehung.86 Auch er betrachtete 79 80

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Wagenmann: Rumpaeus, Justus Wesselius. In: ADB. Bd. 29: v. Rodde – v. Ruesch. Leipzig 1889, 662 f., der irrtümlicherweise 1711 als Jahr der theologischen Promotion angibt. Justus Wessel Rumpaeus (Präses), Johann Christoph Beurhusius (Respondent): De Iacobo Bohmio, Palaeo-Seidenburgensi. 12. März 1714. Soest, hier § 1, 1: »Septennium fere est, cum mihi honores in Theologia Doctorales, examinibus feliciter exantlatis, ambienti a venerando Theologorum ordine in Regia Pomeranorum Uniuersitate cursorias, ut vocant, de Jacobo Böhmio Lectiones demandatas duabus absoluerem Horis […]«. Zu Leben und Werk Mayers: Dietrich Blaufuß: Der Theologe Johann Friedrich Mayer (1650–1712). Fromme Orthodoxie und Gelehrsamkeit im Luthertum. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer. Tübingen 1994, 319–347. Johann Friedrich Mayer: Decanus collegii theologici Jo. Frid. Mayer […] ad lectiones cursorias anti-böhmianas viri plurimum reverendi atq; praecellentissimi Dn. M. Justi Wessel. Rumpaei […] invitat atq; Seckendorffii, per-illustris de Jacobo Böhmio, è mscr. edit judicium. Greifswald (1707), hier: 3–5. Ebd., 4: »Legi dudum Böhmii quaedam, sed ut difficiles nugas, aut horrida ex fumo Alchymistico & Theophrasti deliriis eruto vocabula tanqvam Sibyllina Carmina aut Cabbalas Gnosticas fastidivi.« Vgl. Anm. 80. Ebd., 17–20. Die Einteilung übernahm Rumpaeus der anonym erschienenen Schrift ›Eines Liebhabers der Wahrheit Rettung der Wahrheit und Unschuld (wider Simons »Große Leute fehlen auch« [Frankfurt a. M. 1694])‹, nachgewiesen bei: Paul Grünberg: Philipp Jakob Spener. Dritter Bd. Göttingen 1906, 280, Nr. [491]. Das deutschsprachige, von Rumpaeus in extenso wiedergegebene Zitat umfasst rund drei Quartseiten. Neben den dezidierten BöhmeAnhängern und -Gegnern gibt es unter den Kompromissbereiten solche, die in Böhme zwar einen frommen Mann sehen, aber ihn der Dunkelheit im sprachlichen Ausdruck zeihen, und andere, die sich des Urteils über ihn enthalten; zu letzteren wird Philipp Jakob Spener gezählt. Ebd., 9–16. »Habes, Lector Beneuole, ita specimen Mataeologiae Böhmianae secundum locos Theologicos deductae, una cum illius refutatione.« (Ebd., 16)

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Böhmes Schriften als Satanswerk, trat für obrigkeitliche Verbote häretischer Bücher ein,87 plädierte aber dennoch, anders als Hoornbeek, für eine genaue Lektüre der verfemten Texte: »Es ist aber zu wünschen, dass die Gelehrten Böhmes Schriften lesen, damit sie sich nach einer genauen Prüfung der Inhalte über deren Billigung oder Ablehnung aussprechen können.«88 In der Dissertation nahm Rumpaeus aber aus kontroverstheologisch-didaktischen Gründen die endgültige, uneingeschränkt negative Bewertung vorweg und verwahrte sich einmal mehr gegen Speners unentschiedenes Urteil.89 Damit grenzte er sich vom Bild des der Mystik zugeneigten radikalen Spener ab, wie es Calo gezeichnet hatte. Rumpaeus zitierte eine längere Passage aus Wagners Disputationsschrift und erklärte sich mit dem Tübinger Gewährsmann solidarisch;90 er nahm sich so die Anfänge der akademischen Böhme-Rezeption zum Vorbild und wollte damit endlich einen Schlussstrich unter die im orthodoxen Lager ohnehin erstarrte Debatte um Leben und Werk des Görlitzer Schusters ziehen: Wie nach gehaltener Weinlese nur noch vereinzelte Trauben gefunden und geerntet würden, so sei nun einmal der Vorrat einschlägiger Argumente fast aufgebraucht.91 Immerhin veranschaulicht das Soester Beispiel,92 wie die Verketzerung Böhmes im Universitätsunterricht ihren Anfang nahm und dann von ein- und derselben Person in die Lehrveranstaltung einer nicht mit Promotionsprivilegien ausgestatteten Hohen Schule hineingetragen wurde. Auch stärkte die Soester Anti-Böhme-Dissertation das Ansehen der aristotelischen Logik als Instrument der im Glaubenskampf eingesetzten natürlichen Vernunft. Bereits in einer anderen, noch in Greifswald verteidigten Dissertation hatte Rumpaeus auf die Unverzichtbarkeit der Syllogistik in der Schuldisputation hingewiesen und damit dem Elenchus und den Beweisformen der herkömmlichen Logik im akademischen Alltag den angestammten Platz gesichert.93 Gerade für formallogische Kritik boten Böhmes Schriften der Schulphilosophie, wie mehrfach bezeugt, Übungsfelder und Angriffsflächen: Unaufgelöste respektive unwiderlegte Paradoxa hatten in den Hohen Schulen keinerlei Rückhalt. Neben 87 88

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Ebd., 23 (Verbote, Vorbild: Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg 1694, Herzöge von Braunschweig 1692) u. 25 (im Anschluss an Tobias Wagner und Johann Fecht). Ebd., 22: »Optandum vero esse, ut viri eruditi scripta ipsius legant, examinent, et post accuratam considerationem vel de approbatione vel de reiectione eorundem pronuncient.« Gefährlich schien es den Vertretern der Orthodoxie, wenn Böhmes Schriften Unberufenen, das heißt Studienanfängern, inkompetenten Gelehrten oder gar Laien, in die Hände fielen. Ebd., 21 f. Ebd., 25. Ebd., 26: »Nihil ergo amplius superest, quam ut ingenue confiteamur, haec, quae de Böhmio eiusque scriptis et dogmatibus commentati fuimus, non esse noua, sed iam ante aliquot annos a Scriptoribus Anti-Böhmianis proposita, adeo, ut nos acinos tantum post vindemias collegerimus, Sudiosae [sic!] Iuuentuti unice heic inseruientes.« Die Bedeutung der Soester Dissertationen würdigt im Rahmen der Geschichte des Soester Gymnasiums Hans-Ulrich Musolff: Säkularisierungsphasen der Oberstufen protestantischer Gymnasien in Westfalen im 17. und frühen 18. Jahrhundert. In: Säkularisierung vor der Aufklärung? Bildung, Kirche und Religion 1500–1750, hrsg. v. Hans-Ulrich Musolff, Juliane Jacobi, Jean-Luc Le Cham. Köln u. a. 2008, 103–138. Hier auch Hinweise zur Krise des Soester Gymnasiums in den Jahren 1700–1709 (ebd., 129). Justus Wessel Rumpaeus (Präses), Johann Heinrich Rehboom (Respondent): De methodo disputandi per syllogismos. Greifswald 1704.

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der biblischen Offenbarung war die natürliche Vernunft – auch bei der Auslegung der Heiligen Schrift – unentbehrlich im Kampf der Orthodoxien gegen den mystischen Spiritualismus und dessen Nachfahren, die radikalen Pietisten. Am Beispiel von zwei Dissertationen des Bremer Gymnasiums soll nun auch die von reformierter Seite ausgehende Opposition gegen Böhmes Theosophie exemplarisch vorgestellt werden. 1686 verteidigte der aus Hessen stammende Conrad Mel (1666–1733) unter dem Vorsitz des Bremer Geschichts- und späteren Theologieprofessors Matthias Boot (1648–1727)94 zwei von ihm verfasste böhmekritische Dissertationen. Mel besuchte das Gymnasium in Hersfeld, dann die Universität Rinteln, das Gymnasium in Bremen95 und die niederländische Universität Groningen. Danach übernahm er ein Pfarramt im kurländischen Mitau, später in der deutsch-reformierten Gemeinde Memel, bevor ihn Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg 1697 zum Hofprediger nach Königsberg berief, wo er 1702 außerordentlicher Professor der Theologie wurde. Er setzte sich auch für die Heidenmission ein und gilt als Hauptrepräsentant des reformierten Pietismus. 1705 kehrte er nach Hessen zurück und wurde Rektor am Gymnasium Hersfeld. Nach dem Vorbild August Hermann Franckes gründete der ›Spener Hessens‹ genannte Mel in Hersfeld ein Waisenhaus.96 Die beiden Anti-Böhme’schen Thesendrucke werfen ein Schlaglicht sowohl auf Mels Bremer Studienzeit als auch auf die an einem reformierten Gymnasium beheimatete Streitkultur und Enthusiasmuskritik.97 Im ersten, am 30. Januar 1686 verteidigten Probestück, das im Vorwort die Häretiker als Teufelskinder verdammt, wirft Mel sieben Fragen auf und beantwortet sie der Reihe nach:98 Böhme wird u. a. aufgrund seines Aussehens auf einem genau beschriebenen Kupferstichporträt als Hypochonder und Melancholiker bezeichnet,99 im Folgenden das Böhme’sche Werk von den Schwenckfeldianern, von Paracelsus sowie Valentin Weigel, kurz, vom Menschenwort, abhängig gesehen, der unmittelbare Einfluss des Heiligen Geistes auf den Görlitzer Schuster

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Zu Boot vgl. Heinrich Wilhelm Rotermund: Lexikon aller Gelehrten, die seit der Reformation in Bremen gelebt haben nebst Nachrichten von gebohrenen Bremern, die in anderen Ländern Ehrenstellen bekleideten. Erster Theil. Bremen 1818, 57. Mel war im April 1685 im Bremer Gymnasium als Theologiestudent eingeschrieben (freundlicher Hinweis von Thomas Elsmann, Bremen). Daten zu Leben und Werk: Werner Raupp: Mel (Mell), Conrad. In: Traugott Bautz (Hrsg.): Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. V. Herzberg 1993, 1179–1184 (aktualisierte Fassung vom 24.11.2010 unter www.bautz.de/bbkl). Zur Geschichte des Bremer Gymnasiums s. Wim Janse: Elitenbildung und Migration: Theologieprofessoren in Bremen (1584–1812). Ein komparativ-prosopographischer Versuch. In: Konfession, Migration und Elitenbildung: Studien zur Theologenausbildung des 16. Jahrhunderts. Hrsg. v. Herman J. Selderhuis u. Markus Wriedt. Leiden 2007, 321–357 (hier auch weitere Literatur). Matthias Boot (Präses), Conrad Mel (Respondent): Lustramen particulae mundi tenebrosi seu examen candidum quorundam heterodoxorum Jacobi Böhmii philosophi Teutonici. 30. Januar 1686. Bremen; Praefamen, 1 (Häresie als Teufelswerk). Ebd., 4 f.: »Quod ad temperamentum ejus attinet, videbatur subtristis, melancholicus, hypochondriacus, ut apparet ex facie, non ita pridem satis artificiose redditâ.« (Ebd., 4)

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daher verneint.100 In weiteren vier Abschnitten geht es um die biblische Schöpfungslehre, u. a. um das Wesen der Protoplasten und den Vorgang der Erschaffung der ersten Menschen, der gemäß dem sensus litteralis und nicht dem sensus mysticus zu deuten sei, sowie um Moses’ historische Glaubwürdigkeit.101 Am Schluss bekämpft Mel, der auf eine Dissertation des Rinteler Professors Heinrich Vagedes († 1698) verweist, den Glauben an die Existenz von Geistererscheinungen; diese führt er auf natürliche, namentlich psychopathologische Ursachen zurück.102 Die unter dem Titel ›Superpondium‹ vereinigten Corollaria weiten die Enthusiasmuskritik auf den gesamten nachreformatorischen Spiritualismus, namentlich auf Sebastian Franck und die Münsteraner Täufer, aus.103 Mels Dissertation forderte im selben Jahr einen unbekannten, wohl in Hessen lebenden Böhme-Anhänger zu einer bis jetzt verschollenen Entgegnung heraus. Diese veranlasste den Angegriffenen zu raschem Handeln. In einer zweiten böhmekritischen Disputation wies er den Kontrahenten in die Schranken und festigte die eigene Position unter erneuter Bezugnahme auf alle Einzelfragen mit verdeutlichenden und komplementären Argumenten.104 So unterstreicht Mel z. B. noch einmal, dass der auf die Bibel angewendete sensus mysticus der Heiligen Schrift nicht angemessen sei, sondern den Sinn der schlichten Glaubenswahrheiten verdunkle und entstelle.105 Dem Versuch des Angreifers, Böhme Rechtgläubigkeit zuzubilligen, entgegnete Mel mit dem Vorwurf der Verfälschung des biblischen sensus litteralis durch alchemistische Fiktionen einer ausufernden Phantasie.106 Sowohl die Abwehr des Geisterglaubens als auch das Vertrauen in den Buchstaben der Heiligen Schrift und die Ablehnung der allegorischen Bibelauslegung rücken für den Vertreter der reformierten Orthodoxie den wahren Glauben in das Licht dessen, was die natürliche Vernunft leistet. Bemerkenswerter noch als das im Streitschriftenwechsel zugespitzte inhaltliche Pro und Contra ist die Instrumentalisierung der akademischen Disputation als Medium der Kritik an einer einzigen, von einem Böhme-Anhänger verfassten Schutzschrift. Böhmes Theosophie erhält in der auf einzelne Lehrpunkte fixierten Auseinandersetzung eine viel größere kontroverstheologische Dignität als sie von Jan Hoornbeek vorgesehen

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Ebd., 8: »Non E. Scientia Philosophi nostri fuit supernaturalis, sed si qua fuit, acquisita, ex diligenti lectione variorum librorum. Sicque spinis tribulisque Paracelsianis, Weigelianis, Schwenkfeldianis animus Böhmii infectus.« Ebd., 9–19 (Quaestiones III–VI). Ebd., 19–21: Quaestio VII: Et tandem, quid sentiat idem de animarum apparitione? Ebd., 21: Vagedes’ Disputatio de apparitione spirituum (Marburg 1671). Ebd., 22 (elf Corollaria; Kritik an der Wiedergeburt: Corollarium X., auch gegen Täufer und Sebastian Franck). Matthias Boot (Präses), Conrad Mel (Respondent): Revelatio profundorum de tenebris seu censoris nuperum nostrum examen candidum, Böhmianorum sub censuram vocantis, refutatio pacifica. 28. August 1686. Bremen. Ebd., 1 (Vorrede), 15–17; 19 f.: »Simplex igitur & nativus historiae sensus ante omnia quaerendus & retinendus est, quia is solus gignit certas sententias, & ad fidei dogmata confirmanda est idoneus. Allegoriae verò plerumque sunt inanes speculationes.« (Ebd., 19) Ebd., 16, 28 u. 34.

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war, den Mel bereits in der ersten Anti-Böhme-Dissertation an einer Stelle als Gewährsmann herangezogen hatte.107

2.4 Henry-More-Rezeption – Verschmelzung von Böhme- und Pietismuskritik an der Universität Tübingen In der Erinnerung der Leipziger Disputanten von 1730 blieb unter den BöhmeKritikern der lutherischen Spätorthodoxie auch der Name Johann Wolfgang Jägers (1647–1720) haften,108 mit dem ich an den Ausgangsort der unterrichtsgeschichtlichen Darlegungen, die Universität Tübingen, zurückkehre. Gleichzeitig ergibt sich eine Verbindung zur reformierten Föderaltheologie, die der streitbare Tübinger Professor für die lutherische Dogmatik nutzbar zu machen verstand.109 Nach dem Besuch des Stuttgarter Gymnasiums und der Klosterschulen in Hirschau und Bebenhausen schloss Jäger 1669 die philosophischen und theologischen Studien an der Universität Tübingen ab.110 Eine Zeitlang war er Erzieher der Söhne Herzog Eberhards III. und kehrte im Jahre 1680 an die Universität zurück, an der er nach verschiedenen beruflichen Zwischenstationen dank der Unterstützung des Hofs 1704 zum ersten Ordinarius für Theologie aufrückte. Gleichzeitig wurde er Propst an der Tübinger Stiftskirche zu St. Georg. Johann Wolfgang Jäger war ein Hauptrepräsentant lutherischer Kontroverstheologie, Anhänger der Naturrechtslehre von Grotius und Pufendorf sowie einer der erbittertsten Feinde des mystischen Spiritualismus und der radikalen Pietisten. Seine theologischen Lehrbücher fanden weit über Württemberg hinaus Verbreitung. Jäger widmete eine Dissertation, die er 1708 von Georg Ludwig Gmelin (1687–1756), dem späteren Superintendenten, verteidigen ließ, der Widerlegung von Henry Mores um Annäherung und Ausgleich bemühtem Urteil über Böhme.111 Für die verhältnismäßig rücksichtsvolle Haltung des Cambridger Platonikers brachte der Tübinger Theologe keinerlei Verständnis auf. Zu sechs umstrittenen Fragen ließ Jäger Mores Antworten112 in kurzen Zitatauszügen sowie in Paraphrasen abdrucken und ihnen 107 108 109

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Boot/Mel, Lustramen (Anm. 98), 4. Friderici/Bürger (Anm. 73), § XVII., 34. Für Anselm Schubert: Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung. Göttingen 2002, 152–156, war Jäger der »[…] erste lutherische Theologe, der erkannte, welche ungeahnten Möglichkeiten das föderaltheologische Schema für die lutherische Theologie bot und im Anschluß an Pufendorf eine eigene, lutherische Föderaltheologie vorlegte« (ebd., 152). Biographische Angaben bei Gunda Wittich: Art. »Jäger, Johann Wolfgang«. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon bearb. und hrsg. v. Friedrich Wilhelm Bautz. Bd. 2. Hamm 1990, 1433–1435 (aktualisierte Fassung vom 9. Juni 1998 unter www.bautz. de/bbkl). Johann Wolfgang Jäger (Präses), Georg Ludwig Gmelin (Respondent): De Jacob. Boehmio judicium Henrici Mori philosophi & theologi celeberrimi Angli publica disputatione discussum & ventilatum. Sept. 1708. Tübingen. Henry More: Philosophiae Teutonicae censura: sive epistola privata ad amicum, quae responsum complectitur ad quaestiones quinque de philosopho Teutonico Jacobo Behmen illiusque philosophia, ab autore latine reddita. London 1679. In: Ders.: Opera omnia. London

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seine Kritik folgen: Zur Debatte standen Böhmes Erleuchtung und Auserwähltheitsanspruch (Frage I), eine psychologische Beurteilung Böhmes (Frage II), die Art und Herkunft von Böhmes Hauptirrtümern (Frage III), die von More und Jäger verworfene Natursprache (Frage IV), das Böhme’sche Konzept der Gärung (fermentatio) und die Lehre von den sieben Quellgeistern innerhalb der Naturkosmogonie (Frage V) sowie die Zulassung von Böhmes Irrtümern durch die göttliche Vorsehung (Frage VI).113 Mores an Böhme gerichtetem obscuritas-Vorwurf begegnete Jäger mit der Forderung nach rationalen, sprich psychologischen Erklärungen: So sah er in Böhmes Natursprachenlehre ein Phantasiegebilde, Indiz eines verdorbenen Verstands, mehr noch eines moralischen Defekts, der auf den mit dem melancholischen Temperament verbundenen Hochmut zurückgehe.114 Die mosaische Kabbala, in deren Abhängigkeit More Böhmes Kosmogonie gestellt hatte, betrachtete Jäger als Erfindung müßiger Menschen, nicht als Kern einer ernst zu nehmenden Philosophie.115 Seine Kritik zielte in erster Linie auf Henry More, Pierre Poiret sowie Antoinette Bourignon und die Lehre der Wiedergeburt, nicht auf Leben und Werk Jakob Böhmes, ihres Vorgängers, von dem Jäger sie beeinflusst sah.116 Allen Verharmlosungs- und Differenzierungsbestrebungen, mit denen Böhmes Person und Werk verteidigt und geschützt werden sollten, widersetzte sich Jäger und nahm die mit der agonistischen Zielsetzung verbundene Komplexitätsreduktion in Kauf. More hatte sich dagegen in seiner Epistola mit bemerkenswertem hermeneutischem Aufwand Böhmes Naturtheosophie zu nähern versucht. Von der Einordnung Böhmes in eine neuplatonische Tradition nahm der Tübinger Theologe zwar Abstand,117 doch siedelte auch er den Schuster in einer Überlieferungstradition an, zu der er sogar das kopernikanische Weltbild rechnete.118 Jägers radikale Kritik an Böhme äußert sich in der Verschärfung der More’schen Böhme-Kritik: Aus einem heilbaren Leiden, mit dem der Engländer das Werk des Philosophus Teutonicus verglich, wurde bei Jäger eine tödliche Krankheit. Für den Tübinger Theologen ist Böhme auch ethisch nicht zu

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1679 (Repr.: Henry More: Opera omnia II, opera philosophica, tomus 1. Hildesheim 1966), 531–561. Zum Verhältnis der Philosophie Mores zu Böhme s. die Analyse Eric Achermanns in diesem Band. Jägers Referat von Mores Böhme-Rezeption und daher auch Jägers Urteil über Böhme erreichen nicht den Differenziertheitsgrad der Böhme-Kritik Mores. Die More’sche Textvorlage enthält nur fünf Fragen und eine Schlussfolgerung (conclusio), Jägers Entgegnung sechs Quaestiones, da Jäger der von More unter Quaestio III subsummierten Natursprache einen besonderen Frageabschnitt widmet (Quaestio IV). Jäger/Gmelin (Anm. 111), 19. Ebd. More wirft, gemäß Jägers Zitat aus Mores Epistola, Böhme vor » […] quod nesciret ritè distinguere inter Corticem Mosaicae Cabbalae & Medullam, sive Mysterium, in quo Vera consistit Philosophia.« (ebd., 18). Vgl. die zitierte Stelle in der dritten Quaestio von Mores Epistola (Anm. 112) auf S. 544. Jäger/Gmelin (Anm. 111), Poiretkritik, 15 (Gottvater als ens tenebricosum; über den Seelengrund, animae nostrae fundus), 20, 27 u. 28 (Poiret und Antoinette Bourignon). More, Epistola (Anm. 112), Böhme als (Neu-)Platoniker: »Hoc summè Platonicum est, etiam ad ipsius Plotini sublimem gradum.« (Conclusio, 558) Jäger/Gmelin (Anm. 111), 10.

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retten: Der gute Wille entschuldigt nicht den häretischen Gedanken.119 More, der in Böhme eine Perle der Vorsehung entdeckt zu haben glaubte, wird von Jäger mit Böhmes superbia und deren diabolischem Ursprung konfrontiert.120 Wo hingegen der Engländer zu Böhme grundsätzlich auf Distanz ging, so in der Annahme einer Natursprache, stimmte Jäger ihm vorbehaltlos zu. Nicht von ungefähr wusste schon Gottfried Arnold in seiner Kirchen- und Ketzerhistorie zu berichten, dass More auch für Böhme-Gegner eine Autorität war.121 Jägers Anti-More-Dissertation ist ein Zeugnis der bislang auch unabhängig von der Böhme-Rezeption wenig erforschten Wirkung der Cambridger Philosophen auf die Hohen Schulen deutschsprachiger Länder. Neben der Universität Tübingen spielte hier einmal mehr die Leucorea eine führende Rolle,122 gab es doch verschiedene Fronten, an denen der Einfluss Mores zu bekämpfen war. Schon lange vor Jägers Reaktion hatte nämlich die Philosophie der Cambridger Platoniker in deutschen Adelskreisen beträchtliche, selbst politisch gestützte Anerkennung erfahren. Das bekannteste Beispiel ist der Hof des Pfalzgrafen Christian August von Sulzbach (1622–1708) und der ihn umgebende Gelehrtenkreis um Christian Knorr von Rosenroth (1636–1689).123 Die Cambridger stellten an die protestantischen Orthodoxien weit höhere kritische Anforderungen als der mit dem obscuritas-Vorwurf vergleichsweise leicht ins geistige Abseits zu verbannende Jakob Böhme. Immerhin ist bemerkenswert, dass der später führende Württemberger Pietist Johann Albrecht Bengel (1687–1752) während seines Tübinger Studiums unter dem Vorsitz Jägers eine gegen die Mystiktheologie gerichtete Dissertation verteidigte. Zwar standen hier hauptsächlich die Jesuiten in Jägers Schussfeld, doch am Rand richtete er sich erneut auch gegen Böhme, vor allem aber wiederum gegen 119

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Ebd., 25 f. (Unterscheidung von heilbarer und todbringender Krankheit), 27 (tödliche Krankheit) u. 27 (gute Absicht entlastet nicht: »Nec excusat Böhmium bonus animus, sive bona intentio. Vix enim ullus est haereticus, qui non etiam crediderit, se bonam defendere causam«). Ebd., 28 (Schlusspointe) u. 27 (superbia). More, Epistola (Anm. 112), 557, schrieb: »Tam manifestum est undiquaque, tale Phaenomenon, qualis erat Jacobus Behmen, Gemmam potiùs fuisse quàm Maculam in Divina Providentia, quamvìs quantùm ad opinionem de sua Inspiratione planè esset deceptus.« Hier ein Beispiel für die Argumentationsweise, deren Ausgewogenheit Jäger missfiel. Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie, Vom anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688. Frankfurt a. M. 1729 (ND Hildesheim 1967, Bd. I.1.2.), Theil II, Buch XVII, Das XIX. Capitel, Von Jacob Böhmen, 1135, § 11 (More und sein unbestechliches Urteil, das Arnold zur Verteidigung Böhmes heranzog). Einige Titelnachweise in Hanspeter Marti: Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie, unter Mitarb. v. Karin Marti. München u. a. 1982, 299 (Nr. 4560; Wittenberg 1693, Präses: Valentin Ernst Löscher), 271 (Nr. 3990; Wittenberg 1712), 116 (Nr. 725; Wittenberg 1712) u. 142 (Nr. 1266; Wittenberg 1722). Rosmarie Zeller: Naturmagie, Kabbala, Millenium. Das Sulzbacher Projekt um Christian Knorr von Rosenroth und der Cambridger Platoniker Henry More. In: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 11 (2001), 13–76; dies.: Wissenschaft und Chiliasmus. Heterodoxe Strömungen am Hof von Sulzbach. Wissenschaft und Chiliasmus bei Christian Knorr von Rosenroth, Franciscus Mercurius van Helmont und Henry More. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Helmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, 291–307.

Das Bild Jakob Böhmes im Unterricht Hoher Schulen deutschsprachiger Länder

433

den radikalen Pietismus gelehrter Prägung.124 Wie das Beispiel Bengels zeigt, wirkte sich Jägers Polemik teilweise vielleicht sogar kontraproduktiv aus. Wie Jäger verankerten alle erwähnten Vertreter der lutherischen Orthodoxie Böhme und sein Werk in historischen, sprich irdischen Kontexten; mit dem Hinweis auf Traditionsabhängigkeit und Bindung an das äußere Wort wurde allen Erleuchtungsansprüchen der Boden entzogen. Dieser Aufwertung historischer Argumente in der Glaubenspolemik konnten die Erleuchteten entweder nur die nicht weiter begründbare Behauptung, sie seien eben erleuchtet und ihre Gegner nicht, oder dann historische Beispiele anderer Erleuchteter entgegenhalten. Der gemeinsame Nenner der beiden konträren Positionen ist im letzteren Fall der – von diametral verschiedenen – Beweisinteressen unternommene Rekurs auf die Geschichte, der unter anderem in der vermehrt rhetorisch-narrativen Gestaltung der Dissertationen seinen Ausdruck fand. Die aktuelle Forschung setzt, von anderen Erkenntnisprioritäten und -perspektiven her, die historische Zuordnung von Böhmes Leben und Werk fort.125 Man mag den hier in Erinnerung gerufenen frühneuzeitlichen Schulmännern vorwerfen, nicht zum geschichtlichen Kern der Theosophie Jakob Böhmes oder gar zum tiefen Sinn der in ihr verkündigten Wahrheiten vorgestoßen zu sein, und bei ihnen zumindest das Ringen um ein adäquates Verständnis vermissen. Derartige Erwartungen würden aber die hier präsentierten Protagonisten überfordern. Trotzdem verdient das akademische Kleinschrifttum zu Böhmes Leben und Werk von Seiten der Rezeptions- und Unterrichtsgeschichte Beachtung.

3. Fazit Aus der vorliegenden historischen Skizze, die sich fast nur auf eine einzige frühneuzeitliche Quellengattung, die Dissertationen, stützte, sollte hervorgegangen sein, inwiefern der Böhme-Kritik im Einflussbereich Hoher Schulen historiographische Bedeutung zukommt. Dies nicht nur, weil damit die Böhme-Kontrahenten, insbesondere die Kontroverstheologen, endlich vermehrt einbezogen werden, sondern weil so das institutionelle Umfeld der Böhme-Freunde und -gegner stärker beachtet und damit die reine Ideengeschichte verabschiedet wird. Allerdings steht im Blick auf Böhme die Erforschung akademisch-personeller und politischer Konstellationen sowie der Bedeutung gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen noch in den Anfängen. Daher sind die rezeptionsgeschichtlichen Spuren, die eben aufgedeckt wurden, anhand eines viel umfangreicheren Quel124

125

Johann Wolfgang Jäger (Präses)/Wilhelm Ludwig Mohl/Johann Albrecht Bengel [hier: Johannes Albertus Bengel, Winnedensis] (Respondenten): Dissertatio de theologia mystica, ejusque processu. 25./26. Februar 1707. Tübingen, hier über Böhme § LXIII, 62 und vor allem § LXXVII, 64, wo Böhme zusammen mit Pierre Poiret, Jan van Ruysbroek und anderen uneingeschränkt verurteilt wird. Vollhart (Anm. 2) unternimmt einen neuen, ›einleuchtenden‹ Versuch mit dem Verweis auf den Einfluss der mittelalterlichen Mystik (Eckhart, Tauler), bes. der Theologia Deutsch, 120 f.

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Hanspeter Marti

lenkorpus weiter zu verfolgen. Mit Sicherheit lassen sich noch zahlreiche, hier unbeachtete Einflusszonen Böhme’schen Denkens ausfindig machen. Auf bestimmte Ereignisse und Entwicklungen, z. B. das Schicksal Quirinus Kuhlmanns und den aufkommenden Pietismus, reagierten die protestantischen Orthodoxien u. a. mit verstärkter Böhme-Kritik im Dienst damals aktueller kontroverstheologischer Zielsetzungen. Im Görlitzer Schuster machten die Schulgelehrten den seine Kompetenzen überschreitenden Laien dingfest, gegen dessen Anmaßungen (superbia) die Wissenschaft, die Wahrheit und die Ständeordnung, von der politischen Obrigkeit und den Kirchenvorstehern unterstützt, zu verteidigen waren. Im Zerrspiegel der Böhme-Kritik stößt der Historiker auch bei den Repräsentanten gelehrter Selbstbehauptung auf konträre, an den Hohen Schulen marginalisierte oder überhaupt nicht vertretene Wissensformationen: An einem geeigneten Beispiel, der kontrovers(theologisch)en Argumentation der Orthodoxien, lernt er den heute zu Recht eingeforderten historiographischen Umgang mit Fremdperspektiven kennen, der ein anderes und neues Licht auf die Geschichte frühneuzeitlicher Heterodoxien und deren Selbstverständnis wirft. Nicht zuletzt lenken die akademischen Auseinandersetzungen mit Böhmes Theosophie die Aufmerksamkeit auf frühe innerschulische Bemühungen, die Theologie von der Philosophie im weitesten Sinn des Worts, der auch von der Schule abgelehnte Disziplinen wie die Alchemie umfassen konnte, zu trennen. So grundsätzlich ablehnend der Tenor und polemisch zugespitzt die Reaktionen auf Böhmes Leben und Werk in frühneuzeitlichen Gelehrtenkreisen waren, so sehr wird einmal mehr das Bemühen des Historikers um differenzierte Erkenntnis belohnt. Dabei braucht weder die Härte der damaligen Auseinandersetzungen um die Glaubenswahrheit abgemildert noch das durch Unterdrückung und Verfolgung heterodoxer Meinungen entstandene Leid verharmlost zu werden. Einen Beitrag zur heute so beliebten Geschichte frühneuzeitlicher Streitkulturen leistet die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem böhmekritischen akademischen Kleinschrifttum allemal.

Cecilia Muratori

»Tanta verborum confusione« Die Rezeption von Franckenbergs Bericht durch Arnold und Mosheim Im Journal von neuen deutschen Original Romanen erschien 1804 eine Nachtwachen betitelte Schrift, deren Autor, August Klingemann, sich hinter dem Pseudonym Bonaventura versteckte.1 Der Name Jakob Böhmes wird in dieser Schrift, die in 16 Nachtwachen gegliedert ist, mehrmals erwähnt. In der vierten Nachtwache erinnert sich die Hauptfigur des Textes, der Nachtwächter Kreuzgang, an seine Kindheit und tut so, als ob er im Buch seines Lebens lesen würde, das aus einer Reihe von Bildern (oder besser gesagt von Holzschnitten) besteht. Im dritten Bild erinnert er sich an die Figur seines Adoptiv-Vaters, der Schuster war, und porträtiert ihn beim Arbeiten – er betont aber, dass seine Augen so aussehen, als ob er in tiefe Anschauung versunken sei. Der Protagonist selbst sitzt daneben auf Hans Sachs’ Buch Fastnachtspiele und liest aus Böhmes Morgenröte im Aufgang.2 Kreuzgangs Vater, Hans Sachs und Jakob Böhme: Drei mystische Schuster stehen im Zentrum dieser Darstellung, die damit die Verbindung zwischen der Arbeit als Schuster und der Vertiefung in die göttlichen Geheimnisse in den Vordergrund stellt. In der Tat spielt dieses Modell vom mystischen Schuster eine bedeutende Rolle in der Böhme-Rezeption von Seiten der Romantiker, wie schon Paola Mayer belegt hat.3 In dieser Hinsicht gibt Klingemanns Erzählung eine in der Frühromantik nicht seltene Interpretation der Figur Jakob Böhmes wieder. 1

2

3

Zur Geschichte dieser Schrift vgl. Gerhard Schulz: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 7. Tl. 1. München 1983, 438. Vgl. auch Hans-Dietrich Dahnke u. a.: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 7. Berlin 1978, 453. Da erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts bewiesen werden konnte, dass August Klingemann die Nachtwachen geschrieben hatte, identifizieren die beiden oben erwähnten deutschen Literaturgeschichten nicht eindeutig den Autor der Schrift. Als mögliche Autoren wurden zum Beispiel vorgeschlagen: Clemens Brentano, Friedrich Schlegel, Caroline Schlegel, E. T. A. Hoffmann und auch Schelling, der 1802 im Musenalmanach einige Gedichte unter dem Pseudonym Bonaventura veröffentlicht hatte. Vgl. dazu Hermann Michels Einleitung zu seiner Ausgabe der Nachtwachen (Berlin 1904, bes. 43 u. 67). Zur Geschichte der Identifizierung des Autors der Nachtwachen s. auch Franz Schultz: Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura. Untersuchung zur deutschen Romantik. Berlin 1909, 84 f. Ernst August Friedrich Klingemann: Nachtwachen des Bonaventura. Hrsg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt a. M. 1974, 39 f.: »Auf einem Buche sitze ich, aus einem lese ich; mein Adoptiv-Vater beschäftigt sich mit einem Schuhe, scheint aber zugleich eigenen Betrachtungen über die Unsterblichkeit Raum zu geben. Das Buch worauf ich sitze, enthält Hans Sachsens Fastnachtsspiele, das woraus ich lese, ist Jakob Böhmens Morgenröthe, sie sind der Kern aus unserer Hausbibliothek, weil beide Verfasser zunftfähige Schuhmacher und Poeten waren«. Paola Mayer: Jena Romanticism and its Appropriation of Jakob Böhme: Theosophy, Hagiography, Literature. Montreal u. a. 1999. Zum Einfluss Böhme als »fictionalized character«

436

Cecilia Muratori

Wie ist aber dieses Modell entstanden, das sogar als Mythos beschrieben werden könnte? Wie hat sich diese besondere Darstellung von Böhme als gotterleuchtetem Schuster entwickelt? Und darüber hinaus: Woher kommt eigentlich diese Darstellung, aus Böhmes Schriften oder aus anderen Quellen? Im Folgenden werde ich zu belegen versuchen, dass eine Rekonstruktion der Rezeption Böhmes durch Gottfried Arnold in seiner Kirchen- und Ketzerhistorie sowie die Debatte über Arnolds Darstellung des Mystikers – eine Debatte, in die auch Johann Lorenz Mosheim involviert war – Licht auf die Entstehungsgeschichte dieses Modells werfen kann. Die These, die ich vorschlagen werde, ist die Folgende: Sowohl in der Darstellung des Lebens Böhmes in der Kirchen- und Ketzerhistorie als auch und insbesondere in der Diskussion, die der Veröffentlichung von Arnolds Schrift folgte, spielt der Gründliche[ ] und wahrhafte[ ] Bericht von dem Leben und Abscheid des in Gott selig-ruhenden Jacob Böhmens von Böhmes Anhänger Abraham von Franckenberg die zentrale Rolle.4 Die einflussreiche Biographie Franckenbergs war in der Tat noch in den Jahren, als Klingemanns Nachtwachen veröffentlicht wurden, die Hauptquelle für Informationen über das Leben Jakob Böhmes.5 Das beweist zum Beispiel eine 1832 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung erschienene Rezension des Buchs Jakob Böhme. Ein biographischer Denkstein von Friedrich de la Motte Fouqué, das ein Jahr zuvor, 1831, gedruckt wurde. Der Rezensent schreibt, dass die Biographie von de la Motte Fouqué eigentlich gar keine neue Biographie sei, sondern lediglich eine Überarbeitung der Biographie Franckenbergs. Da de la Motte

4

5

vgl. z. B. 83. Dank dieser Fiktionalisierung konnte Böhme sogar als Vorläufer der Romantiker dienen (ebd.). Abraham von Franckenberg: Gründlicher und wahrhafter Bericht von dem Leben und Abscheid des in Gott selig-ruhenden Jacob Böhmens. In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961, hier: Bd. 10, 5–31 (im Weiteren mit der Sigle »SS«). Zur Geschichte der Überlieferung von Franckenbergs Biographie s. Carlos Gillys Aufsatz Zur Geschichte der Böhme-Biographien des Abraham von Franckenberg. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007, 331–363 (331: »Alle Böhme-Biographien gehen auf diesen Bericht zurück, der von manchen aufs höchste gerühmt [Peuckert, Kayser], von anderen aber ganz oder teilweise abgetan wird als Erfindung des ›theosophisch phantasierenden Franckenberg‹ [Fechner, Jecht] oder ›als zuweilen phantastisch ausgeschmückter Lebenslauf des von ihm kreierten Wundermannes aus Görlitz‹ [Lemper]«). Vgl. auch Sibylle Rusterholz: Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme. Versuch einer Neubestimmung aufgrund kritischer Sichtung der Textgrundlagen. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Klaus Garber. Bd. 1. Tübingen 2005, 205–241. In dieser Hinsicht ist auch die Tatsache bemerkenswert, dass Klingemann in der ersten Nachtwache erzählt, Jakob Böhme habe am Sterbebett eine ferne Musik gehört, die niemand anderer als er hören konnte: Dieselbe Geschichte wird auch von Franckenberg in seinem Bericht erzählt. Vgl. Klingemann (Anm. 2), 16: »So entschlummerte Jakob Böhme, indem er die ferne Musik vernahm, die Niemand, ausser dem Sterbenden hörte.« Franckenberg (Anm. 4), 21: »[…] seinen Sohn Tobias rufte und fragte: Ob er auch die schöne Music hörte?«

»Tanta verborum confusione«

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Fouqué Franckenbergs Biographie einfach wiederholt, schließt der Rezensent: »Böhme’s wahre Biographie steht demnach noch zu erwarten«.6 Franckenbergs biographischer Bericht erlebte einen einzigartigen Erfolg, da er ab 1682 in jeder Ausgabe der Böhme’schen Werke veröffentlicht wurde, sodass man sagen kann, dass er zu einer Art Einführung in die Lektüre von Böhmes Schriften wurde.7 Die Tatsache, dass Arnold das Kapitel, das er Böhme in der Historie widmet, mit zahlreichen Anspielungen auf Franckenbergs Bericht eröffnet (ein Bericht, den er eben für wahrhaft hält), scheint in diesem Kontext besonders relevant zu sein. Wie ich im Folgenden zeigen werde, hat Arnolds Präsentation von Franckenbergs Bericht als vertrauenswürdige Hauptquelle über das Leben des Mystikers einen großen Einfluss auf Böhmes Rezeptionsgeschichte zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert ausgeübt. Die Ketzerhistorie hat somit zur erfolgreichen Verbreitung von Franckenbergs Böhme-Darstellung beigetragen. Auf diese Weise tritt Franckenbergs Biographie auch in den Mittelpunkt der Debatte, die Arnolds Historie auslöste und an der auch Mosheim mit einigen bedeutenden Bemerkungen in seinem Werk Institutionum historiae ecclesiasticae antiquae et recentioris libri quatuor teilnahm. Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie und Mosheims Institutionum libri quatuor bilden insofern den Rahmen meiner Rekonstruktion, da Arnolds Böhme-Darstellung und Mosheims Widerlegung derselben es meines Erachtens erlauben zu verstehen, auf welche Aspekte von Böhmes Biographie die Rezeption zwischen 1699 (als Arnolds Schrift zum ersten Mal veröffentlicht wurde) und 1755 (Datum der Veröffentlichung von Mosheims Institutionum libri quatuor) fokussierte. Arnolds Ketzerhistorie und Mosheims Institutionum libri quatuor gehören auf jeden Fall zu den erfolgreichsten Werken im 18. Jahrhundert, und mit ihrer Verbreitung wurden auch ihre Böhme-Darstellungen bekannt. Es handelt sich um eine sehr relevante Phase in der Böhme-Rezeption; eine Phase, die noch nicht im Detail rekonstruiert wurde, die aber als Ausgangspunkt der späteren Rezeption Böhmes bei den Frühromantikern betrachtet werden kann. In dieser Zeit entsteht 6

7

Vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 37, Bd. 1 (1832), 296. Der Rezensent unterschreibt mit der Abkürzung »K.R«. Schon im Jahr 1802 wurde in der Allgemeinen Literatur-Zeitung eine neue Biographie Böhmes rezensiert: Johann Friedrich Sillig: Boehme. Ein biographischer Versuch. Pirna 1801. Auch in diesem Fall schreibt der Rezensent, der Autor habe sich lediglich auf Franckenbergs Biographie gestützt (s. Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 215, Bd. 3 [1802], 245–248, hier: 245). Zur Datierung von Franckenbergs Bericht s. Gilly (Anm. 4), 331 f. Vgl. auch János Bruckner: Abraham von Franckenberg. A Bibliographical Catalogue with a Short-List of his Library. Wiesbaden 1988, 37. Die Datierung des Berichts ist ein Thema, das auch in der Rezeption von Arnolds Historie debattiert wurde: Vgl. vor allem Ernst Salomon Cyprian: Fernere Proben von Gottfried Arnolds Partheylichkeit/ vornehmlich die Geschichte derer Quacker/ Brownisten/ D. Krellens und Jacob Böhms betreffende/ so in der Ketzer=Historie angemercket. Frankfurt a. M./Leipzig 1702, 32. Diese Schrift wurde auch gedruckt in: Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie (1742), Bd. 3, Erster Abschnitt, 107– 118. Eine Kurtze Erinnerung des Lebens und Wandels Jacob Böhme wurde 1640 zusammen mit Jakob Böhmes Mysterium Magnum veröffentlicht und 1644 von Durand Hotham ins Englische übertragen als The Life of One Jacob Bœhmen (s. Bruckner, XVII). Der Einfluss von Franckenbergs Darstellung des Lebens Jakob Böhmes spielte somit eine entscheidende Rolle in der englischen Böhme-Rezeption. Vgl. auch Mayer (Anm. 3), 28–34.

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eben der Mythos des gotterleuchteten Schusters aus Görlitz, der sich auf die Imagination vieler Romantiker auswirken wird. Das Böhme-Kapitel aus der Kirchen- und Ketzerhistorie wurde allerdings selbst zu einem Schwerpunkt der Debatte über den Wert von Arnolds Werk allgemein und insbesondere über seine Parteilichkeit in der Darstellung der Ketzer. Über Jakob Böhme wurde deswegen eifrig debattiert; Franckenbergs Interpretation steht aber immer im Vordergrund dieser Debatte, insbesondere in den vielen, oft anonym verfassten Schriften, die der Verteidigung oder der Kritik von Arnolds Historie gewidmet waren. Einige dieser Schriften (wie zum Beispiel die anonyme Schrift Aufrichtige Anmerkungen Uber die bißher erregte Strittigkeiten/ Wegen der Kirchen- und Ketzer-Historie des Herrn Arnolds)8 sind in diesem Kontext besonders wichtig, da ihre Autoren sich direkt mit Arnolds Böhme-Darstellung zu beschäftigen scheinen und nicht mit Böhmes Schriften. Die Entstehung des Mythos vom mystischen Schuster ist in dieser Hinsicht Resultat des Erfolgs einer Interpretation, nämlich derjenigen seines berühmten Biographen. Als erstes muss folglich kurz dargestellt werden, wie Arnold Franckenbergs Bericht rezipiert hat und wie Mosheim sich von Arnolds Böhme-Interpretation distanzierte, um damit den Rahmen dieser Untersuchung zu skizzieren.

1. »Tanta verborum confusione« In vieler Hinsicht bilden Arnolds und Mosheims Darstellungen einen Kontrast. In seiner Kirchen- und Ketzerhistorie widmet Arnold Jakob Böhme ein detailliertes Kapitel; in Institutionum libri quatuor umfasst die Darstellung Böhmes weniger als eine Seite. Während Arnold sehr ausführlich über Böhmes Schriften und deren Inhalt berichtet, hält Mosheim Böhme für einen verworrenen Enthusiasten, der keineswegs als Philosoph beschrieben werden kann, da er »Chymicis imaginibus et tanta verborum confusione et caligine omnia miscet«.9 In Böhmes Werken sucht man nach Mosheim vergebens nach einem Weg, da der Autor eben keine deutliche und festgesetzte Terminologie verwende, sondern alles vermische und so ein großes Chaos von Wörtern entstehen lasse.10 Von dieser Bewertung 8

9

10

Anonymus: Aufrichtige Anmerkungen uber die bißher erregte Strittigkeiten/ Wegen der Kirchen= und Ketzer=Historie des Herrn Arnolds. In: Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie. Bd. 3. Zweiter Abschnitt. Schaffhausen 1742, 1–89. Vgl. auch die Vorrede (14) zu diesem dritten Band, wo behauptet wird, dass die Schutzschrift Aufrichtige Anmerkungen »von einem ungenannten Arnoldischen Freund heraus gegeben« wurde. Johann Lorenz Mosheim: Institutionum historiae ecclesiasticae antiquae et recentioris libri quatuor. Helmstedt 1755, 954–955: »Ab ingenuitate, pietate, veri bonique amore qui laudabunt hominem, nobis id facient haud invitis: atqui viri ab ipso Deo instituti, aut Philosophi sapientis et sani nomine qui eum ornandum esse ducunt, luce ipsi careant necesse est: ita enim Chymicis imaginibus et tanta verborum confusione et caligine omnia miscet, ut ipse sibi obstrepere videatur«. Wenn man zum Beispiel Böhmes Interpretation des Galater-Briefes (V, 17) folgt, »so ist die Schrift keine Offenbarung, sondern ein Räthselbuch«, schreibt Mosheim in Sitten=Lehre der Heiligen Schrift (Johann Lorenz Mosheim: Sitten=Lehre der Heiligen Schrift. Tl. 1. Leipzig

»Tanta verborum confusione«

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der Schriften Böhmes ausgehend ist die Tatsache, dass Mosheim in seiner Kurzdarstellung nie aus Böhmes Werken zitiert, nicht überraschend. Viel wichtiger ist aber, dass er sich stattdessen direkt auf Arnolds Böhme-Darstellung in der Historie bezieht. In einer Fußnote schreibt Mosheim mit einer gewissen Ironie, dass Arnold immer besonders ausführlich diejenigen lobe die andere verachten: »[…] ARNOLDVS, qui copiosus semper esse solet in illi efferendis et ornandis, quos alii vituperant«.11 Und Jakob Böhme ist eben ein solcher Ketzer, den Arnold lobt und der nach Mosheim dieses Lob gar nicht verdient. Im Katalog von Mosheims Bibliothek, der nach seinem Tod hergestellt wurde, ist zwar die 1730 erschienene Ausgabe von Böhmes Werken aufgelistet, wann aber Mosheim in der Tat die Ausgabe erworben hatte, konnte bis jetzt nicht eindeutig geklärt werden.12 Es ist aber meines Erachtens klar, dass vielmehr Arnolds Ketzerhistorie, ein Werk, das – so Mosheim – »finem saeculi turbavit«,13 der wirkliche Anlass für die Verfassung dieser Kurzdarstellung in Institutionum libri quatuor war als die Lektüre der Werke Böhmes (die in diesen Zeilen keine eindeutige Spur hinterlassen hat). Mosheims Böhme-Kurzdarstellung kann in dieser Hinsicht als sein Beitrag zur Debatte, die Arnolds Interpretation anregte, verstanden werden – eine Debatte, in der die Rezeption von Franckenbergs Biographie die Schlüsselrolle spielte. Eben diese Ambiguität über die Quellen der Böhme-Darstellung prägt nicht nur das Kapitel über den Mystiker in Institutionum libri quatuor, vielmehr kann sie als das Merkmal dieser Phase der Böhme-Rezeption gelten. Nicht nur Böhmes Werke sind von »tanta verborum confusione« gekennzeichnet: Auch die Debatte über deren Autor gerät zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert in eine große Verwirrung. In der Tat scheint diese Debatte sich um einige Schlüsselwörter zu drehen, die auf der einen Seite zur Entstehung einer bestimmten Standard-Darstellung von Böhme führen und auf der anderen die Verwechslung zwischen verschiedenen Niveaus in der Beschreibung des Mystikers fördern. Die Selbstdarstellung, die Böhme in seinen Schriften vorlegte, rückt damit in den Hintergrund.14 Eine besondere Interpretation, die von Abraham von Franckenberg, tritt stattdessen in den Vordergrund, zusammen mit dem Wortschatz, dessen sich Franckenberg in seiner Biographie bediente, um das Leben seines Meisters zu beschreiben. Aus dieser »verborum confusione« entsteht eine bestimmte Art 5

11 12 13 14

1773, 21). Mosheim verweist hier auf die folgende Stelle in Böhmes Vierzig Fragen von der Seele: XVII. Frage. Vgl. zu dieser Stelle Friedrich Vollhardt: Christliche Moral und civiles Ethos. Mosheims Sitten=Lehre der Heiligen Schrift. In: Johann Lorenz Mosheim (1693– 1755). Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte. Hrsg. v. Martin Mulsow u. a. Wiesbaden 1997, 347–372, hier: 360–361. Mosheim, Institutionum (Anm. 9), 955. Vgl. dazu Ralph Häfner/Martin Mulsow: Mosheims Bibliothek. In: Johann Lorenz Mosheim (1693–1755) (Anm. 10), 373–399. Johann Lorenz Mosheim: Institutiones historiae christianae recentioris. Helmstedt 1741, 599. Wie Böhme sich in der Tat da präsentiert, ist eine Frage, die ich hier nicht in Betracht ziehen kann, die aber schon in anderen Studien angesprochen wurde, unter anderen von Ernst Benz: Der Prophet Jakob Böhme. Eine Studie über den Typus nachreformatorischen Prophetentums. Wiesbaden 1959.

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und Weise, Böhme und seine Lebensgeschichte zu betrachten – eine Art und Weise, die oft Böhmes Anhänger und Böhmes Kritiker grundsätzlich teilen. Der Erfolg dieser Darstellung Böhmes basiert auf einigen im Kontext dieser Rezeptionsgeschichte immer wiederkehrenden Wörtern, auf die sich auch Arnold und Mosheim, unter Anspielung auf Franckenberg, häufig beziehen. Im Folgenden soll insbesondere die Relevanz von drei Wörtern im Rahmen dieser Rezeptionsgeschichte hervorgehoben werden, auf denen die Figur des gotteserleuchteten Schusters Jakob Böhme basierte: die Termini Historie und Lebenslauf und das Schlüsselwort Schuster. In den abschließenden Bemerkungen werde ich zusätzlich kurz die Aufmerksamkeit auf das Wort Wunder lenken, ein Wort, das schon in Franckenbergs Biographie vorkommt, um die merkwürdigen Ereignisse im Leben des Schusters Jakob Böhme zu beschreiben, und das in vielen der Texte wiederholt wird, die sich zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert mit der Lebensgeschichte des mystischen Schusters aus Görlitz beschäftigten.

2. Die Historie und der Lebenslauf Jakob Böhmes Sein Vorhaben als Böhme-Biograph erklärt Franckenberg am Anfang seines Berichts: Zu beschreiben den Gottseligen Lebens=Lauff dieses von Gott hochbegnadeten Zeugens und Teutschen Wunder=Mannes Jacob Böhmens, möchte wol ein klugsinnig, und ansehnlicher Zier=Redner von nöthen seyn: Weil sichs aber bis auf ietzt noch keiner, auch von seinen eigenen Landes=Leuten unterfangen; will ich nur als ein Benachbarter für meine wenige Person so viel mir aus mündlicher Zusammen Sprache des selig Verstorbenen von 1623 und 1624 bis annoch im Gedächtniß verblieben, kürzlich und einfältig, iedoch gründlich und wahrhaftig anmelden.15

Die Entscheidung, den »Lebenslauf« von Böhme zu verfassen, rechtfertigt Franckenberg, indem er sich als Augenzeuge vorstellt: Er behauptet nämlich, dass sein Bericht auf mehrere Gespräche, die er mit Böhme selber geführt habe, zurückgehe. Der von ihm beschriebene Lebenslauf des Mystikers wird deswegen als gründlich und wahrhaftig vorgestellt, da alles, was Franckenberg schreibt, eigentlich aus Böhmes mündlichen Erzählungen stammt. Der Leser soll folglich an der Wahrhaftigkeit der vielen übernatürlichen Episoden, die laut Franckenberg das Leben seines Meisters Jakob Böhme charakterisierten, nicht einmal zweifeln. Ein Leser scheint wirklich daran nicht gezweifelt zu haben: Gottfried Arnold. Die folgende Behauptung eröffnet das Kapitel über Böhme in Arnolds Historie: Dieses mannes historie und sache ist insgemein in diesen letzten jahren mehr als alle andere/ obwol noch nicht völlig, untersuchet worden. Hier wollen wir uns in selbige streitigkeiten gar nicht einlassen/ sondern bey einer unpartheyischen erzehlung der merckwürdigsten um-

15

Franckenberg (Anm. 4), 6.

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stände beruhen/ jedoch daß weder der Göttlichen noch auch historischen wahrheit dabey etwas vergeben werde.16

Das Vorhaben, »unparteiisch« von Böhmes Leben zu berichten, hält Arnold nicht davon ab, Franckenbergs Biographie als wahrhafte Hauptquelle für die Darstellung der Lebensgeschichte des Mystikers zu halten. Historische und göttliche Wahrheit – so Arnold – sollen beide in seiner Erzählung berücksichtigt werden. Er zeigt aber deutlich, was er unter »historischer Wahrheit« versteht, indem er schreibt: Die geschichten von seiner [Böhmes] person sind von einem Schlesischen Edelmann, Abraham von Franckenberg, anno 1651. auffgesetzet worden/ und zwar/ wie er selbst versichert/ aus Böhmens eigener relation, die er anno 1623. und 24. in der conversation mit ihm erhalten/ woraus wir folgendes kürzlich zusammen ziehen wollen.17

Diese Rechtfertigung von Franckenbergs Art und Weise, Böhmes Lebenslauf zu verfassen, hatte bedeutende Folgen.18 Spiegelt dann Franckenbergs Erzählung das Porträt wider, das Böhme von sich entworfen hatte? Ist Franckenbergs Böhme der wahrhafte Böhme, wie Franckenberg suggeriert, der historische Böhme, wie Arnold zu bestätigen bemüht ist? 1702 erschien ein Buch, das den sehr deutlichen Titel Fernere Proben von Gottfried Arnolds Partheylichkeit trug.19 Der Autor, Ernst Salomon Cyprian, be16

17 18

19

Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie/ von Anfang des Neuen Testamens bis auff das Jahr Christi 1688. Frankfurt a. M. 1699, Bd. 1, Tl. 2, Buch 17, Kap. 19, 656. Franckenberg spielt wegen seiner Opposition gegen alle Mauerkirchen eine wichtige Rolle in der Ketzerhistorie (s. Abraham von Franckenberg: Briefwechsel. Eingel. und hrsg. v. Joachim Telle. Stuttgart Bad Cannstatt 1995, 23). Vgl. dazu Mayer (Anm. 3), 29: »Because of the authoritative aura with which, as an eyewitness account, the text surrounded itself (and in the absence of competitive versions) Franckenberg’s biography could determine future receptions not only by its content, but by its interpretation of it«. Arnold, Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie (Anm. 16), 657. Mayer (Anm. 3), 38: »Arnold deploys the same hagiographic strategies that Franckenberg had adopted in order to present Böhme as a martyr to the true religion«. Über Arnolds Parteilichkeit s. auch Sandra Pott: Radical Heretics, Martyrs or Witnesses of Truth? The Albigenses in Ecclesiastical History and Literature (1550–1850). In: Heresy in Transition. Transforming Ideas of Heresy in Medieval and Early Modern Europe. Hrsg. v. Ian Hunter u. a. Aldershot u. a. 2005, 181–194, hier: 186. Zu Franckenberg bei Arnold s. auch Reinhard Breymayer: Der wiederentdeckte Katalog zur Bibliothek Gottfried Arnolds. In: Gottfried Arnold (1666–1714). Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714. Hrsg. v. Dietrich Blaufuß u. Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, 55–143, bes. 88. Vgl. Anm. 7. Zu Cyprians Kritik an Arnolds Historie s. Hans Schneider: Cyprians Auseinandersetzung mit Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie. In: Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung. Hrsg. v. Ernst Koch u. Johannes Wallmann. Gotha 1996, 111–135. Es soll zusätzlich darauf hingewiesen werden, dass eine Schrift 1698 anonym erschienen war, die den Titel trug: Historia Jacob Böhmens des Schusters zu Görlitz/ bürtig von alt Seydenburg Oder: Beschreibung/ Der führnemsten Begebenheiten/ die sich mit Jacob Böhmen und dessen Schrifften zugetragen/ Mit seinen eigenen Worten fürgestellet durch einen Liebhaber der gedachten Böhmischen Schrifften (Hamburg 1698). Die Schrift besteht hauptsächlich aus Zitaten aus Böhmes Schriften, die in Sektionen gegliedert werden. Im Kontext der in diesem Aufsatz rekonstruierten Rezeptionsgeschich-

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hauptet, dass eben Arnolds Umgang mit Franckenbergs Bericht ein klarer Beweis dafür ist, dass Arnold seine Quellen nicht nach deren historischer Wahrhaftigkeit wählt: Nach Cyprian benutzt Arnold Franckenbergs Biographie parteiisch, weil er dadurch eine bestimmte Darstellung von Böhmes Lebenslauf in den Mittelpunkt seiner eigenen Böhme-Interpretation stellen will. Franckenberg sei ein »ErzBöhmist«, schreibt Cyprian, und was er sagt, sei deswegen »ein sehr schlechter Beweiß«.20 Arnolds Böhme-Darstellung ist dagegen für Cyprian ein gutes Beispiel für die Parteilichkeit des Autors: Arnold interessierte sich nicht für die wahre Geschichte Jakob Böhmes, sondern für den fiktiven Lebenslauf, den sein Schüler Franckenberg verfasst hatte. Auch Georg Heinrich Götze behauptet in seiner erfolgreichen Schrift De sutoribus eruditis/ Vermischte Anmerckungen von Gelehrten Schustern, dass Arnolds Historie »sehr schädlich« sei,21 weil der Autor in seiner historischen Darstellung des Lebens Böhmes parteiisch gewesen sei. Götze schreibt: Denn ob er zwar nur auf historische Weise dessen Begebenheiten und Schrifften erzehlet, so siehet doch jedweder augenscheinlich, wie partheysch er es thut, und daß er diesen Menschen verdeckter Weise zu vertheidigen, sich vorgenommen, auch diejenigen scharff durchziehet, welche an Böhmens Träumen kein Wohlgefallen gehabt.22

Dieselbe Meinung, nämlich dass Arnold in seiner Darstellung parteiisch gewesen sei, teilt auch Mosheim. Nur wenige Seiten vor seiner Kurzdarstellung Böhmes in Institutionum libri quatuor schreibt er über Arnolds Methode als Historiker: Si, quod omnes fatentur, Historici primum hoc munus est, ne quam vel gratiae, vel simultatis suspicionem excitet, hoc certe nemo minus ad Historiam scribendam aptus fuit.23

Da Arnolds Historie, wie Cyprian hervorgehoben hatte, auf einer parteiischen Quelle fußt, nämlich dem Lebenslauf des Mystikers, den sein Schüler Franckenberg zur Ehrung seines Meisters schrieb, ist sie keine wahre Geschichte. Mosheim erwähnt den Biographen in der Liste der wichtigsten Nachfolger Böhmes. Schon das Incipit dieses Kapitels weist aber darauf hin, dass der Gründliche[ ] und wahrhafte[ ] Bericht auch in Mosheims Böhme-Darstellung im

20 21

22 23

te s. insbesondere die erste Sektion zum Thema »Woher Jacob Böhme seine Wissenschaft habe« und die fünfte Sektion »An Jacob Böhmens Einfalt soll man sich nicht ärgern«. Cyprian (Anm. 7), 29. Götzes Schrift, die ursprünglich auf Latein erschienen ist, wurde 1728 ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Der Titel der lateinischen Version lautet: Georg Heinrich Götze: De sutoribus eruditis vel gelehrten Schustern: observationes miscellaneae, in examine autumnali scholae Lubecensis A. 1708 propositae. Lübeck 1709. Der Titel der deutschen Übersetzung (aus der ich zitiere) lautet: Georg Heinrich Götze: Der Heiligen Schrifft Doctoris und Superintendentis zu Lübeck, Vermischte Anmerckungen von gelehrten Schustern Beym Examine des Gymnasii zu Lübeck In einer Lateinischen Rede vorgetragen. Aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt. Jena 1728, 33. Ebd. Mosheim, Institutionum (Anm. 9), 948–949.

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Hintergrund präsent sein könnte, da Mosheim nämlich Böhme als »sutor Görlicensis«, den Schuster aus Görliz, vorstellt.

3. Der Schuster aus Görlitz Die Tatsache, dass Böhme einen Teil seines Lebens als Schuster tätig war, spielt in Franckenbergs Bericht eine entscheidende Rolle. Am Anfang der Biographie erzählt er die folgende Geschichte: […] Denn wie mir der selige Mann selber erzehlet, hat sichs einsmals bey seinen Lehrjahren zugetragen, daß ein fremder zwar schlecht bekleideter, doch feiner und ehrbarer Mann, von den Laden kommen, welcher ein Paar Schuh für sich zu kauff begehret; Weil aber weder Meister noch Meisterin zu hause, hat J. B. als ein Lehr=Junge, selbige zu verkauffen, sich nicht erkühnen wollen, bis der Mann mit Ernst darauf gedrungen: Und als er ihm die Schuh (der Meinung Käuffern abzuschrecken) ziemlich hoch und über rechte Billigkeit geboten, hat ihm der Mann dasselbe Geld alsobald und ohne einige Wiederrede dafür gegeben, die Schuh genommen, fortgegangen, und als er ein wenig von dem Laden abgekommen, stille gestanden, und mit lauter und ernster Stimme geruffen: Jacob, komme heraus! Worüber er in sich selbst erschrocken, daß ihn dieser unbekante Mann mit eigenem Tauff=Namen genennet, und sich doch erholet, aufgestanden, zu ihm auf die Gasse gegangen. Da ihn der Mann eines Ernst=freundlichen Ansehens, mit Lichtfunckelnden Augen, bey der rechten Hand gefasset, ihme strack und starck in die Augen gesehen und gesprochen; Jacob, du bist klein aber du wirst groß und gar ein ander Mensch und Mann werden, daß sich die Welt über dir verwundern wird!24

Die Weissagung erfolgt in einem bestimmten Setting: einem Schuhladen. Dieselbe Geschichte hat Arnold in seiner Darstellung wiederholt: Merckwürdig ist unter andern/ daß in seinen lehr=jahren einsmals ein unbekanter und erbarer mann vor seines meisters laden kommen/ des vorsatzes/ ein paar schuhe daselbst zu kauffen.25

Die Prophezeiung des Fremden wird dann auch in Arnolds Historie nach Franckenberg zitiert. Der Bericht erzählt auch andere Geschichten von ähnlichem Kaliber: Als junger Hirte habe Jakob Böhme zum Beispiel in einem Berg »[…] einen offenen Eingang gefunden, in welchem er aus Einfalt gegangen, und darinnen eine grosse Bütte mit Gelde angetroffen […]«.26 In Franckenbergs Erzählung 24 25 26

Franckenberg (Anm. 4), 9–10. Arnold, Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie (Anm. 16), 657. Franckenberg (Anm. 4), 7. Die zwei Geschichten (d. h. die Begegnung mit dem Fremden im Schuhladen und die Entdeckung des Schatzes in der Grotte) werden auch von Johann Adam Calo mit direkter Bezugnahme auf Franckenberg wiederholt: »Si enim (a) ABRAAMO a FRANCKENBERG fidem tribuo, duo celebritatis suae praesagia habuit hic BOEHMIVS. Alterum fuisse scribit, quod puer pecora pascendo in cavernam cuiusdam montis praeter spem, atque opinionem ingressus, magnas pecunias, a quibus tamen abstinuerit, invenisset: alterum vero, quod vir ignotus, nescio quis, ipsum in officina absente magistro adivisset, simulque, empto calceorum pari, ita ipsum appellasset: Iacobe, tu quidem parvus es, sed

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war Böhmes Leben von Prophezeiungen und Vorahnungen charakterisiert; er insistiert auf der Einfältigkeit des Settings (der Schuhladen, der Berg), auf dem von Böhme ausgeübten Beruf (Lehrjunge, Viehhirte) und auf den großen Aufgaben, die den jungen Böhme noch in der Zukunft erwarten.27 Wie aber schon Alexandre Koyré bemerkt hatte »[…] ce n’est pas Boehme, c’est Frankenberg, qui était constamment préoccupé de présages. Boehme lui-même n’en parle jamais«.28 Was den Beruf des Schusters betrifft, so spielt er eine entscheidende Rolle in der Rezeption von Franckenbergs Bericht. Schon zu seinen Lebzeiten wurde Böhme oft anhand seines Berufes identifiziert (man denke an Gregor Richters Angriffe gegen den häretischen Schuster).29 Böhme selber hatte oft hervorgehoben, dass das Ausüben eines einfältigen Berufs ein Merkmal des Lebens der Gotterleuchteten sei, wie zum Beispiel im Fall der Evangelisten, und hatte damit in gewisser Weise den Weg zu einer bestimmten Darstellung seiner selbst als Schuster-Prophet vorbereitet.30 Aber nur durch Franckenbergs prophetisch orientierte Interpretation sowie durch Arnolds Rezeption der merkwürdigen Lebenserfahrungen des mystischen Schusters aus Görlitz wird der Beruf des Schusters eindeutig zum zentralen Merkmal des Lebens Jakob Böhmes.

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magnus, et plane alius homo eris, ut mundus te admiraturus sit. Propterea pietatem colas, Deum timeas, verbum eius magni aestimes. Lubenti comprimis animo diviniores literas legas, quae te consolari aeque, ac erudire possunt. Nam multa pati Te oportebit, sed intrepido modo sis animo. Deo enim es carus, et ille tibi est propitius« (Johann Adam Calo [Präses], Anton Gunther Moehring [Respondent]: Vita Iacobi Boehmii. Wittenberg 1707, § 4). Bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Schrift in der zweiten (allerdings ansonsten unveränderten) Ausgabe (1715) den Titel Historia Iacobi Boehmii, sutoris Goerlitiensis, oder Lebens=Beschreibung/ Schrifften/ Lehren und Nachfolger des schwärmerschen Schusters Jacob Böhmens zu Görlitz trug: Der Bezeichnung Böhmes als Schuster kommt hiermit eine besondere Bedeutung zu. Dass die Eltern Jakob Böhmes auch einfältige, arme Leute gewesen sein sollen, ist ein Detail, das Franckenberg betont: Franckenberg (Anm. 4), 7: »Es ist der selige Mann Jacob Böhme […] von seinem Vater Jacob und seiner Mutter Ursula, beyden armen und geringen Bauers=Leuten, guter Teutscher Art, aus Christlich- und unbeflecktem Ehebett gezeuget, auf diese Welt geboren, Jacob (als ein künftiger Untertreter des Esauitischen Geburt) genant worden«. Vgl. dazu auch Koyrés Interpretation in: Alexandre Koyré: La philosophie de Jacob Boehme. Paris 1929, 9–10. Dieses Detail wird zum Beispiel unter anderen von Abraham Calovius übernommen (Anti-Böhmius, in quo docetur, quid habendum de secta Jacobi Böhmen, sutoris Görlicensis? […]. Wittenberg 1684, 4). Vgl. zum selben Thema auch: Ieremias Fridericus (Präses), Adam Sigismund Bürger (Respondent): Exercitatio historico-moralis de sutoribus fanaticis […]. Leipzig 1730, 23 (§ XI), und Calo/Moehring, Vita Iacobi Boehmii (Anm. 26), § 1. Vgl. auch Mayer (Anm. 3), 33: »Franckenberg stresses Böhme’s poverty, humility, piety, gentleness, the patience with which he suffered the taunts and persecution of the benighted authorities and of the populance, and - again and again - his lack of formal learning«. Koyré (Anm. 27), 17. Vgl. auch Flavio Cuniberto: Jakob Böhme. Brescia 2000, 35. Vgl. Gregor Richter: Iudicium Gregorii Richterii Gorlicii, ministri ecclesiae patriae primarii de fanaticis sutoris enthusiastici libris […]. Görlitz 1624, zum Beispiel § 3: »Ergo abeas, nun quam redeas, pereas malè, Sutor:/ Calceus in manibus sit tibi, non calamus«. Vgl. auch Koyré (Anm. 27), 56–57. Vgl. z. B.: Jakob Böhme: Aurora oder Morgenröthe im Aufgang. In: SS, Bd. I, 104 f. (Kap. 9, § 3–5).

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Dies beweist unter anderem eine Schrift, die 1703 in einem Supplementa, Illustrationes und Emendationes zur Verbesserung der Kirchen=Historie betitelten und von Arnold selber herausgegebenen Sammelband veröffentlicht wurde. Die anonyme Schrift Aufrichtige Anmerkungen Uber die bißher erregte Strittigkeiten/ Wegen der Kirchen- und Ketzerhistorie des Herrn Arnolds enthält ein Kapitel, in dem der Autor genau die Rezeption von Arnolds Darstellung Jakob Böhmes in Betracht zieht. Böhme wird schon im ersten Satz als »einfältige[r] Schuster« präsentiert und in der Tat ist der ganze erste Teil der Schrift der Verbindung zwischen dem Beruf des Schusters und der Prophezeiung gewidmet. Der Autor schreibt, dass laut Augustinus viele Schuster bei den Griechen als Philosophen geehrt wurden; er erzählt auch von Priester-Schustern (laut Cotelerius), von Schustern als Gesetzgebern (laut Theodoretus), und von Schustern als von Gott inspirierten Menschen (aus einer Vita des heiligen Antonius). »Endlich ist auch Hans Sachs, ein Schuster und Schulmeister aus Nürnberg nicht unbekannt«, liest man am Ende dieser Liste.31 In diesen Anmerkungen zu Arnolds Böhme-Darstellung steht der Beruf des Schusters eindeutig im Zentrum. Diese Schrift beweist daher, dass sich die Aufmerksamkeit in der Rezeption von Franckenberg über Arnold und dann in der Debatte über die Ketzerhistorie mehr und mehr auf dieses Detail aus dem Leben Jakob Böhmes konzentriert. Die Konstruktion des Mythos vom einfältigen Schuster nahm so ihren Anfang, wie die Tatsache bestätigt, dass Hans Sachs und Jakob Böhme nebeneinander gestellt werden, wie auch später in Klingemanns Nachtwachen. Dem Beruf des Schusters kommt hiermit eine spezifische Bedeutung im Rahmen dieser Rezeptionsgeschichte zu.32 Ein Beweis dafür sind, neben der schon erwähnten Schrift Aufrichtige Anmerkungen Uber die bißher erregte Strittigkeiten, auch die vielen Abhandlungen zur Figur des erleuchteten Schusters, die im 18. Jahrhundert veröffentlicht wurden. 1730 legte Adam Sigismund Bürger, »sub præsidio Ieremiae Friderici«, der Universität Leipzig eine Exercitatio historico-moralis de sutoribus fanaticis vor, in der er die spezifische Verbindung zwischen Schusterei und Schwärmerei thematisiert.33 Die Schrift endet mit dem berühmten Spruch »ne sutor ultra crepidam«, um anzudeuten, dass ein Schuster ungeeignet sei, Philosophie zu betreiben. Die erwähnte Schrift von Georg Heinrich Götze, De sutoribus eruditis, endet ebenfalls mit der »[…] weise[n] Erinnerung, welche Apelles einem zu verwitzigen Schuster einsten gab Ne sutor ultra crepidam Ey Schuster! bleib du bey deinem Leisten«.34 Die Tatsache, dass diese beiden Schriften, die sehr verschiedene Titel tragen – der erste (De sutoribus fanaticis) deutlich polemischer als der zweite (De sutoribus eruditis) – mit demselben Spruch enden, ist an sich relevant. Trotz der 31 32 33 34

Anonymus (Anm. 8), 77 f. Zu dieser Schrift s. auch Schneider (Anm. 19), 113. Götze, Von gelehrten Schustern (Anm. 21), 48 (24 in der lateinischen Version der Schrift). Vgl. Anm. 27. Für zahlreiche Hinweise zum Thema der Verbindung zwischen Schusterei und Schwärmerei bedanke ich mich bei Hanspeter Marti. Zur Geschichte dieses Spruchs s. Andreas Stein: Proverbii ne sutor ultra crepidam, origo et significatio, oratorio actui ordinario, seu orationibus trium discipulorum, qui a teneris annis hactenus in castris nostris καδδύναμιν & laudabiliter militarunt, valedictoriis de discursu benevolo præmissa. Weimar 1686.

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verschiedenen Untersuchungsperspektiven teilen die zwei Autoren letztlich die Meinung, dass ein Schuster am Besten nur sein Handwerk betreiben solle. In der Tat kann man zwischen Götzes Schrift und der Exercitatio de sutoribus fanaticis Ähnlichkeiten erkennen: Sie verwenden teilweise dieselben Quellen (unter anderem Arnold und Breckling) und sie beschäftigen sich oft mit denselben gelehrten, schwärmerischen Schustern, unter anderem Böhme und George Fox.35 Während Götze aber nicht direkt auf die Frage eingeht, warum ausgerechnet der Beruf des Schusters zur Gelehrsamkeit (oder zu schwärmerischen Gedanken) führen soll,36 wird diese Frage in der Exercitatio direkt gestellt: Verum enim vero non inepte hoc loco quaestionem moveri posse existimaverim, quae nimirum sit causa, quod sutores prae omnibus aliis opificibus tam pudendo novaturiendi laborent pruritu, ut animo ad fanaticismum insigniter proclivi tot tantasque saepe machinari turbas non erubescant.37

Die Antwort des nachfolgenden Paragraphen lautet dementsprechend: Quantum itaque mihi datur cernere, ad quaestionem in præcedenti §. propositam alio atque alio modo non impertinenter responderi potest. Et primo quidem quod forte ipsius opificii ratio perbellam ejusmodi vesanis hominibus occasionem subministret, varios somniandi fingendique errores, quippe quod tantam advertentiam tantamque solertiam non requirit, ut animus inter εγχειρήσεις aliis speculationibus indulgere nequeat.38

Dieser Argumentation zufolge ist die einzige, sehr allgemeine Verbindung zwischen dem Beruf des Schusters und dem Fanatismus, dass dieses Handwerk ungesunden Menschen zu viel Zeit für wilde Spekulationen lasse. Im Folgenden wird in der Tat erklärt, dass Schuster häufig fast auf automatische Art und Weise arbeiten, sodass der Geist sich mit »variis meditationibus« beschäftigen kann.39 Trotz dieser ungenauen Erklärung zeigen die vielen Beispiele schwärmerischer Schuster, die in der Exercitatio (so wie auch in Götzes Schrift) erwähnt werden, dass ein präzises Modell – nämlich das vom mystischen Schuster – entstanden war. Die genaue Verbindung zwischen diesem Beruf und der Schwärmerei bleibt aber selbst für den Autor der Exercitatio nicht eindeutig erklärbar. Nichtsdestotrotz beschäftigen sich sowohl die Exercitatio also auch Götzes Schrift mit diesem Modell. Dasselbe Modell ist auch in der schon erwähnten Literatur zu Arnolds Historie präsent, in der diese Darstellung von Böhme als Schuster zu einem Topos wird. Dass diese Darstellung gerade in vielen Schriften übernommen wurde, die sich auf die Kontroverse über Arnolds Historie eingelassen hatten, ist ein guter 35 36

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Über George Fox s. Fridericus/Bürger (Anm. 27), § 12; Götze, Von gelehrten Schustern (Anm. 21), § 8. In diesem Kontext ist es wichtig zu bemerken, dass Götze Autor einer anderen kurzen Schrift ist, die den Titel trägt: De mercatoribus eruditis, vel Gelehrten Kauffleuten/ Diatribe […]. Lübeck 1705. Fridericus/Bürger (Anm. 27), 33 (§ XVII). Ebd., 34 (§ XVIII). Ebd.

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Beweis für deren wachsende Popularität. Bemerkenswert ist der Catalogus testium veritatis, den Friederich Breckling zur »erleuterung der ganzen Historie/ sonderlich des 15. Capitels im III. Theils« verfasst hatte.40 Hier lautet die BöhmeDarstellung: »Jacob Böm/ ein schuster aus Görlitz/ von Gott hoch begabet und erleuchtet/ und der gelehrten welt zum zeichen und wunder gestellet/ daß vieler herzen gedancken an seinen wunderschrifften offenbahr werden möchten«.41 Der Schuster aus Görlitz war ein Wunder für die Welt, seine Schriften sind Wunderschriften, schreibt Breckling. Das Wort Wunder bezeichnet in diesem Kontext den übernatürlichen Charakter vieler Taten Jakob Böhmes, eines wahren »Wunder-Mannes«, wie ihn Franckenberg am Anfang seines Berichts präsentiert hatte. Erwähnenswert ist auch die zitierte Passage aus Franckenbergs Biographie, in der die Prophezeiung im Schuhladen erzählt wird. Der Fremde behauptet nämlich: »[Jakob] du wirst groß und gar ein ander Mensch und Mann werden, daß sich die Welt über dir verwundern wird« (Hervorh. d. Verf.). Die Rezeption der merkwürdigen und wundervollen Geschichten aus dem Leben des Schusters, die Franckenberg erzählt hatte, scheint im Kontext dieser Interpretation die zentrale Rolle zu spielen: In der Tat scheint die Übernahme dieser Geschichten in dieser Phase der Böhme-Rezeption ein trait d’union zwischen den vielen Schriften zu sein, die sich kritisch oder parteiisch mit dem Fall Jakob Böhmes beschäftigten.

4. Schluss Mit dem Gründliche[n] und wahrhafte[n] Bericht tritt das Wundervolle (im Sinne des Magischen, des Übernatürlichen, des Vorahnungsvollen) in die Beschreibung des Lebens Jakob Böhmes, des Schusters aus Görlitz, ein. In der Rezeption des Berichts durch Gottfried Arnold wird dieses Element sogar verstärkt, indem er dem Biographen als Augenzeugen Glaubwürdigkeit zugesteht. Darüber hinaus bestätigt die Kontroverse über Arnolds Historie, dass in der Tat hauptsächlich über die von Arnold vermittelte Darstellung von Böhmes Anhänger und Biographen debattiert wird und nicht über den Inhalt von Böhmes Schriften oder über die Art und Weise, wie Böhme sich selbst in diesen porträtiert hatte. Der schon erwähnte Ernst Salomon Cyprian kritisiert Arnolds Übernahme der wundervollen Erzählungen aus Franckenbergs Vita, indem er fragt: Handelt es sich wirklich um Wunder oder einfach um Fabeln, die von Arnold übertragen wurden? Er schreibt: Überhaupt ist es sehr parteyisch/ wenn er Böhmens Leben aus denen Böhmisten/ Hegenitio, Weisnero, Matthæi oder Zimmermann […] und vornehmlich Franckenbergen erzehlet/ wel40

41

Gottfried Arnold: Fortsetzung und Erläuterung oder dritter und vierdter Theil der unpartheyischen Kirchen= und Ketzer=Historie, bestehend in Beschreibung der noch übrigen Streitigkeiten im XVIIden Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1700, 760. Friedrich Breckling: Catalogus testium veritatis. In: Ebd., 760–780, hier: 765. Diese Stelle wird auch von Georg Heinrich Götze in der Schrift Vermischte Anmerckungen von gelehrten Schustern angeführt (Anm. 21), 33–34, in der Götze schreibt, dass Breckling Arnolds Böhme-Darstellung gefolgt sei. Breckling wird auch in den §§ 11 u. 16 erwähnt.

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cher letzte bekandt/ er habe die Nachricht aus Böhmens eigener Relation, der sich ja/ wie wir alle wissen/ sehr gern gelobet/ und lächerlich auffgeschnitten. Bevorab ist es eine Einfalt/ daß er die Fabel/ ob wäre einmal ein Mann zu Böhmen/ da er noch das Schuster=Handwerck gelernet/ kommen/ und hätte gesaget: Jacob/ du bist klein/ aber du wirst groß werden; ohne alle Bedingung und Zweiffel/ als wäre es ein Stück des Evangelii von Christo/ daher saget […]. Gewiß ist es wunderlich/ daß Arnold alle Historicos […] als verdächtig tractiret […]; Aber nicht eine einzige Erzehlung derer Böhmisten verwirfft/ oder auch nur in Zweiffel zeucht.42

Indem Arnold nicht zweifelt und den von Franckenberg erzählten Wundern (oder Fabeln) Glaubwürdigkeit zugesteht, wird das vom berühmten Biographen skizzierte Porträt seines Meisters zum Maßstab jeder Darstellung Böhmes. Sie wird hiermit zum wichtigen Anhaltspunkt auch für diejenigen Darstellungen, die die Arnoldische völlig widerlegen möchten: nicht nur die Cyprians sondern auch die Mosheims. Die beiden Schriften De sutoribus eruditis und De sutoribus fanaticis sind, trotz ihrer verschiedenen Titel, auch ein Beispiel dieser grundsätzlichen Übereinstimmung. Indem Mosheim die Debatte über Jakob Böhme rekonstruiert, die Anfang des 18. Jahrhunderts anlässlich der Veröffentlichung der Ketzerhistorie angestoßen wurde, schreibt er in seinem Versuch einer unparteiischen und gründlichen Ketzergeschichte: Ich sehe es ohne Unwillen, daß Jakob Böhmes Nachfolger für die Ehre ihres Meisters streiten und ihn von vielen Irrthümer zu reinigen sich bemühen, die ihm seinen Widerlegern vorgeworfen werden.43

Böhme ist aber nach Mosheim selbst schuld daran, »daß ihn einige häßlicher abmalen, als er ist«,44 weil er nicht deutlich gelehrt und geschrieben hat, sodass man aus der »tanta verborum confusione« seiner Schriften nichts Eindeutiges erfahren kann. Diese Undeutlichkeit ist laut Mosheim der wahre Grund der Streitigkeiten über Jakob Böhme. Weitere Details fügt aber Mosheim auch in diesem Fall nicht hinzu; stattdessen erinnert er an Arnold, der sich schuldig gemacht habe nicht unparteiisch gegenüber den Ketzern gewesen zu sein. Indem er sich mit Arnolds Böhme-Darstellung und ihrer Rezeption beschäftigt, wird auch Mosheim mit einer anderen Art von »verborum confusio« konfrontiert, einer Verwirrung, die nicht aus Böhme selber stammt, sondern in der erfolgreichen Rezeptionsgeschichte von Franckenbergs Biographie ihre Wurzeln hat. Man könnte also an dieser Stelle fragen: Von welcher Darstellung Böhmes ist eigentlich die Rede in der Kontroverse zwischen den Nachfolgern und den Widersachern des Mystikers, wie Mosheim die zwei Parteien definiert? Die rekonstruierte Rezeptionsgeschichte beweist, dass sich diese Streitigkeiten grundsätzlich nach einem Modell richten, das aus Franckenberg stammt und das bestimmte Charakteristika aufweist. Dieser Böhme, der Wunder-Mann, der von Gott er42 43 44

Cyprian (Anm. 7), 24. Johann Lorenz Mosheim: Versuch einer unparteiischen und gründlichen Ketzergeschichte. Helmstedt 1746, 17. Ebd.

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leuchtete Schuster, steht im Zentrum der Rezeptionsphase, die sich um Arnolds Historie dreht. Indem dieses Modell die Debatte prägt, wird von Böhmes Schriften oft Abschied genommen.45 In dieser Hinsicht ist der Mythos des einfältigen Schusters und seines wundervollen Lebenslaufes Resultat einer bestimmten apologetischen Konstruktion und – was noch wichtiger und bis jetzt wenig erforscht ist – ihrer Verbreitung, zu der Arnolds Ketzerhistorie deutlich beigetragen hat. Ein Mythos, mit dem sich Verteidiger und Widersacher befassen mussten und der noch bis in die Zeit der Frühromantik großen Einfluss ausübte, bis auf die Seiten der Nachtwachen des Bonaventura, in denen Böhme als »gar absonderliche[r] Schuhmacher«46 dem Publikum um 1804 vorgestellt wurde.

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Über die Lektüreabstinenz von Böhmes Schriften s. den Aufsatz von Hanspeter Marti in diesem Band, bes. die Tle. 2.1 u. 2.3. Klingemann (Anm. 2), 41: »Jetzt sitzt er [Kreuzgang] Tag und Nacht bei’m Jakob Böhme und Hans Sachs, welches zween gar absonderliche Schuhmacher waren, aus denen auch zu ihrer Zeit niemand klug werden konnte.«

Günther Bonheim

Die »große Reinigung« vom »gemeinen Geiste« Zu den Umständen der Entstehung der dritten BöhmeGesamtausgabe 1730/31 und zu ihrem philologischen Ertrag Als im Jahr 1728 die Arbeit an der dritten Gesamtausgabe der Schriften Jacob Böhmes begonnen wurde, lag das Erscheinen der zweiten Gesamtausgabe gerade 13 Jahre zurück, das der ersten 46 Jahre. Warum man sich in solch vergleichsweise kurzen Abständen zweimal aufs Neue der Mühe unterzog, ein mehr als 4 000 Druckseiten umfassendes Werk durchzusehen, um es dann in einer vielleicht verbesserten Edition wieder an die Öffentlichkeit zu bringen, ist nicht unmittelbar ersichtlich; mehrerlei spielte in diese Entscheidungen sicher hinein; zu den Hintergründen und Umständen hier kurz das Folgende: Ebenso wie bereits die Ausgabe von 1715 ging die Ausgabe von 1730 aus dem Wirken einer Gemeinschaft hervor, die man heute dem sogenannten radikalen Pietismus zurechnet und die als die Gemeinschaft der »Engels-Brüder« bekannt wurde oder auch der »Gichtelianer«.1 Begründer war, wie der Name sagt, Johann Georg Gichtel, sein Nachfolger als Haupt der Gemeinschaft der mit ihm befreundete Johann Wilhelm Überfeld, der von seinem Vorgänger dessen rigide Forderungen der Ehelosigkeit und der Ablehnung von Kirchgang und Sakramenten übernahm. Um ihn, mehr noch als um die Person Gichtels, wurde von einer wachsenden Zahl von Anhängern ein außerordentlicher Kult betrieben, den Überfeld selbst zumindest geduldet zu haben scheint. Seine »Sendschreiben und Briefe«, so Johann Heinrich Kindervater, zeitgenössischer Pfarrer im thüringischen Nordhausen, das eine kleine Überfeld-Gemeinde beherbergte, würden »von der Brüderschafft so angenommen werden/ als ob sie unmittelbar von Gott kämen/ so gar/ daß sie sich nicht mehr auf die H. Propheten u. Aposteln/ sondern auf Überfeld und seine Schriften erbauet.«2 Dokumentiert findet sich diese Verehrung in zigtausenden Abschriften 1

2

Neuere Forschungsarbeiten zu dieser Gemeinschaft sind nicht eben reichlich vorhanden. Informationen zu einzelnen ihrer Gemeinden finden sich in Arbeiten von Gertraud Zaepernick: Johann Georg Gichtels und seiner Nachfolger Briefwechsel mit den Hallischen Pietisten, besonders mit A. M. Francke. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Bd. 8: Der radikale Pietismus. Hrsg. v. Martin Brecht u. Andreas Lindt. Göttingen 1983, 74–118, von Thilo Daniel: Die Bedeutung des biographischen Umfeldes für Zinzendorfs Dresdner Unionspläne. In: Union – Konversion – Toleranz. Dimensionen der Annäherung zwischen den christlichen Konfessionen im 17. und 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Heinz Duchhardt u. Gerhard May. Mainz 2000, 267–287, sowie von Jürgen J. Seidel: Baron Carl Joseph von Campagne und die Gichtelianer in der Schweiz. Ein Beitrag zum Radikalpietismus im Zürcher Oberland. Zürich 2006. Johann Heinrich Kindervater: Die neue Engels=Brüderschafft als eine Veritable Quäckerey […]. Nordhausen 1719, 7.

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Günther Bonheim

von Überfeld-Briefen, die sich im Bestand der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften in Görlitz, in der Universitätsbibliothek Breslau oder auch im Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland in Düsseldorf erhalten haben. Von Jacob Böhme ist in diesen Briefen ausgesprochen selten die Rede. Dass sich Überfeld in einer Traditionslinie sah, die über Gichtel bis auf jenen zurückführte, ließe sich aus den in ihnen enthaltenen Erwähnungen oder Verweisen allein nicht herauslesen. Mancherlei, so etwa die von Gichtel verhängten Verbote, hätte mit Zitaten aus Schriften Böhmes schließlich auch nicht unterbaut werden können. So war es gewiss nicht nur und wohl nicht einmal in erster Linie die Hochschätzung dieser Schriften und ihres Verfassers, die zu dem Entschluss führte, die durchaus respektable Amsterdamer Edition von 1682, an der Gichtel maßgeblich mitgewirkt hatte, durch eine neue zu ersetzen. Andere persönliche Motive kamen hinzu. Entscheidend war wohl letztlich ein Zerwürfnis mit den übrigen Herausgebern, allen voran dem Hardewijker Theologieprofessor Alhart de Raadt, wenige Jahre nach dem Erscheinen der Edition.3 Und ebenso war es ein Zerwürfnis mit dem Herausgeber der Edition von 1715, dem Haupt der Engelsbrüder in Hamburg und Schleswig-Holstein Johann Otto Glüsing, das den Anstoß gab zur dritten Edition von 1730. In einem Brief an diejenigen, die die philologische Hauptarbeit für die Neuausgabe leisteten, hebt Überfeld als wesentliches mit ihr verbundenes Anliegen hervor, dass die Schriften Böhmes von dem gemeinen geiste, welcher von den letzten Besitzern [der Manuskripte] über dieselben gebracht, sollen gereiniget werden […] u. all der Segen über euch kommen, welcher den vorigen Editoren bereitet war, sie sich aber desselben unwerth gemachet. Waren beyderseits, so wol de Raadt als Glüsing Daemonici, von einem bösen Geiste im Grunde u. Wurtzel der Seelen besessen […].4

Im Anhang zur Edition selbst fehlt dann im Kapitel »Von den alten und neuen Editionen oder Abdrücken dieser hohen Schriften« de Raadt unter den Herausgebern der Edition von 1682. Und zu der von Johann Otto Glüsing veranstalteten Ausgabe heißt es unter Vermeidung einer namentlichen Nennung ihres Herausgebers: »in der zu Hamburg, unter unserer Leydischen Direction ao. 1715 besorgten neuen Auflage der gesamten Wercke« wurde die Amsterdammer Edition von ao. 1682 […] zum Grunde geleget; nur daß noch viele diensame Verbesserungen hinzukamen, welche wir mittlerweile so wol aus des sel. Herrn Gichtels Hand=Exemplar […] als auch sonsten aufgesuchet. Es nahm sich aber unser damaliger Hamburgischer Agent die strafbare Freyheit, daß er bisweilen seiner eigenen Caprice mehr

3

4

Zu den Hintergründen vgl. Carlos Gilly: Zur Geschichte und Überlieferung der Handschriften Jacob Böhmes. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007, 39–54, hier: 45 sowie die weiter noch ins Detail gehende zugehörige Anmerkung auf S. 404. Ungedruckter Brief Johann Wilhelm Überfelds vom 17. März 1730 an Johann Caspar Tröger und Franz Michael Clinge. Görlitz, Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften, Signatur LA II 40a (hs. Briefkopie).

Die »große Reinigung« vom »gemeinen Geiste«

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folgete als unserer gethanen Anweisung: welches man in dieser abermaligen neuen Auflage nach Möglichkeit zu redreßiren getrachtet.5

Unmittelbarer Anlass für den Beginn der Arbeit an dieser dritten Edition war der Umstand, dass die aus dem Nachlass des Abraham Willemsz van Beyerland stammenden Böhme-Autographen und -Abschriften, die nach dem Streit mit Glüsing aus dem Besitz der Überfeld-Gemeinschaft verlorengegangen waren, wieder zurückerlangt werden konnten. In einem Brief vom 7. September 1728 an seine Mitbrüder in Aurich schildert Johann Heinrich Potthoff die Vorgänge so: Vor »ohngefehr 14 Tagen« seien die »Manuscripta«, die »in den unreinen Händen der bewusten abtrünnigen Menschen geblieben« seien, »zum öffentlichen Verkauf in einer auction gekommen, u. durch 2 verschiedene Personen in Haerlem erstanden worden«. Von ihnen hätten sie wenig später »redimiret« werden können, sodass sie nun »aus der Philister Händen wieder gerettet« seien und »völlig Gott geheiliget« würden. Und Potthoff fügt an: »Es ist ein solcher Schatz, l. brüder, den ihr euch nicht vorstellen werdet, so wenig als ich, ehe ich ihn gesehen«.6 Die Vorbereitungen für die dritte Edition scheinen im unmittelbaren Anschluss begonnen zu haben. Geht man davon aus, dass die Arbeit im Herbst 1730 abgeschlossen wurde – in einem Brief vom Juli 1730 schreibt Überfeld, dass man »hoffet […] gegen die Leipziger Herbst-Messe damit fertig zu seyn« –,7 dann ist das Riesenwerk im Verlauf von knapp zwei Jahren entstanden. Zu verdanken scheint es im Wesentlichen zwei Mitgliedern der Leipziger Brüder-Gemeinde mit Namen Franz Michael Clinge und Johann Caspar Tröger zu sein. In einem Tröger zugeeigneten Mitgliederverzeichnis aus dem Jahr 1749 ist an Informationen über die beiden nichts weiter als ihre Geburtstage, ohne Geburtsjahre, zu erfahren, die Tatsache, dass sie beide zuletzt im sächsischen Glaucha ansässig waren und dass Clinge zum Zeitpunkt der Anfertigung des Verzeichnisses bereits verstorben war.8 Möglicherweise ist er mit jenem Franz Michael Clinge identisch, der, falls beide Schriften tatsächlich ein und denselben Verfasser haben, 1701 in Berlin einen Richtige[n] Wegweiser zu der Einigen Warheit in Erforschung der

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»Von den alten und neuen Editionen oder Abdrücken dieser hohen Schriften; it. von der Holländischen, Englischen, Lateinischen und Frantzösischen Ubersetzung derselben; besonders von Bayerlands angewandten Fleiß; nebst anderweitigen Auszügen«. In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961 (im Weiteren mit der Sigle »SS«), hier: Bd. X, 96–126, hier: 103 f. Ungedruckter Brief Johann Heinrich Potthoffs vom 7. September 1728 an die Brüdergemeinde in Aurich. Görlitz, Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften, Signatur LA II 13 (hs. Briefkopie). Zu den Ereignissen um den Erwerb des Beyerland-Nachlasses vgl. auch Gilly (Anm. 3), 45. Ungedruckter Brief Johann Wilhelm Überfelds vom 9. Juli 1730 an Georg Sigmund Winckler. Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften, Signatur LA II 40c (hs. Briefkopie). Vgl. »Verzeichnis derer uns bis dato bewusten lieben Mitglieder und Freünde. Zusammengetragen 1744, Revidiret 1749, Seinem lsten Confr. Joh. Casp. Tröger auf seinem Gebuhrtstag den 7 Mart 1749 in Liebe offeriret von Fried Sigism. Rotteller«. Görlitz, Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften, Signatur LA III 258 (Hs.).

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verborgenen Heimligkeiten der Natuhr 9 veröffentlicht hatte und an dem 1738 in Leipzig erschienenen alchemistischen Werk Philosophisches Licht und Schatten: oder Ausführlicher Unterricht de Prima Materia Lapidis Philosophorum zumindest beteiligt war.10 Und vielleicht handelt es sich bei Johann Caspar Tröger um ebenjenen, der als Respondent einer 1717 in Leipzig eingereichten Dissertation genannt wird, in der es, dem Titel zufolge, um die wunderbare Fortdauer des nicht dauerhaften Körpers geht.11 Die Leitung der Edition befand sich in Leyden, dem Wohnort Überfelds, von wo aus Johann Gottfried Pronner, nach Überfeld der nächste in der Hierarchie der Gemeinschaft, mit den Leipziger Brüdern zu Fragen der Textwiedergabe, der Anlage der Register etc. in Kontakt stand. Der Anspruch ans eigene Tun war erklärtermaßen hoch. In einem schon gegen Ende der Arbeiten geschriebenen Brief berichtet Überfeld von der außerordentlichen Sorgfalt, mit der die drei Verantwortlichen zu Werke gingen: »Wie dan die l. brüder Tr[oeger] u. Cl[inge] kein einig Wort daran sie einig Dubium haben, laßen hingehen, darüber sie sich bisher mit lbr. Bronner nicht berahten, als welcher diese Edition in so weit praepariret.«12 Als ein inzwischen eingelöster wird der ehrgeizige Anspruch in der Ausgabe selbst noch einmal ausführlich dargelegt und dem »Libellus Emendationum« vorangestellt, »d. i. [dem] Verzeichniß Vieler Verbesserungen dieser neuen Auflage, Theils nach des Autoris eigener Hand, theils nach den allerältesten und bewährtesten Copeyen, welche von seinen vertrautesten Freunden und ersten Liebhabern gefertiget worden.« Dort heißt es: DEm geneigten Leser dienet zur Nachricht, daß sich viele wichtige Aenderungen, die einen gantz andern Sinn des Geistes geben, hier befinden, und nicht wenig mangelhafte Stellen ergäntzet sind. So wird ferner auch daraus zu ersehen seyn, was diese neue Edition sonst noch für ansehnlichen Zuwachs oder Beyfügungen, und anderweit verbesserte und richtigere Maße bekommen. Zwar sind einige wenige Oerter von den vorigen Editoribus, um bessern Zusammenhangs willen, mit Fleiß geändert worden, und diese hätten wir auch wol so lassen können: wir halten aber dafür, die rechten Kenner werden es uns Danck wissen, daß wir den Text, so wie er in den Originalien stehet, ohne eigenmächtige Crisin hergestellet haben; da die in vorigen Editionen geschehene Aenderungen sich in diesem Verzeichniß auch befinden, und von einem gelehrten und curiosen Liebhaber als lectiones variantes, deren man auch im Text selbst verschiedene eingeschaltet, mit Vergnügen können gebrauchet werden. Ein Exempel ist im Wege zu Christo vom H. Gebet § 6 […] Da in den vorigen Editionen stehet: Wie wir darinnen sind […] wofür wir gesetzet: Wie er sey darinnen […] ob es schon nicht so gut mit dem vorhergehenden zusammen hänget. Die Einfalt des Autoris hatte es aber 9

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Franz Clinge: Ein Richtiger Wegweiser zu der Einigen Warheit in Erforschung der verborgenen Heimligkeiten der Natuhr/ Dargestellet von Francisco, J. U. D. und Hoch-Fürstl. Mecklenburg. Residenten in Berlin. Berlin 1701. Dorothea Juliane Wallich/Franz Clinge: I. Philosophisches Licht und Schatten: oder Ausführlicher Unterricht de Prima Materia Lapidis Philosophorum, Worinne klahr […] gezeuget wird 1. Welche Objecta man hierbey zu vermeiden 2. Welches Subjectum man zu eligiren […] Deme als eine Zugabe beygefüget Ein wahres Particular, oder eine schöne Tinctura, und Citrination der Lunae […]. Leipzig/Nordhausen 1738. Georg Heinrich Ayn/Johann Caspar Tröger: Disputatio Physica De Mirabili Corporis Non Durabilis Duratione. Leipzig 1717. Ungedruckter Brief Johann Wilhelm Überfelds vom 2. Oktober 1730 an O. [vermutlich Johann Gottfried Oertel]. Görlitz, Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften, Signatur LA II 41b (hs. Briefkopie).

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so hingeschrieben, darum wir es billig so gelassen, wie in andern dergleichen Stellen mehr, zum Beweiß der Aufrichtigkeit, womit man in allem zu Werck gegangen.13

Da man allgemein keinen Grund sah, an dieser Aufrichtigkeit zu zweifeln, gilt die dritte Gesamtausgabe bis heute als die mit Abstand zuverlässigste von allen. Nicht zuletzt zeugt der von ihr erstellte Faksimile-Nachdruck, der in den Jahren zwischen 1942 und 1961 publiziert wurde und der die Basis der allermeisten Arbeiten bildet, die seither über Böhme verfasst wurden, davon, dass sie immer noch einiges Vertrauen genießt. Mit seinem Urteil über die Leydener Edition trug Werner Buddecke sicher maßgeblich dazu bei. In seinem 1937 erschienenen Verzeichnis der Böhme-Ausgaben schreibt er: Ueberfeld u. seine Mitarbeiter machten gründlicher, als es bei der letzten Redaktion geschehen war, von den Handschriften Gebrauch […]. Die Bearbeitung geschah in der Weise, daß der Text der bestehenden Gesamtausgaben vor allem mit den Originalen und mit den ältesten u. bewährtesten Abschriften sorgfältig verglichen und durchgängig verbessert wurde […]. In dem Verzeichnis der Verbesserungen sind sämtliche nicht nur in der gegenwärtigen, sondern auch »in vorigen Editionen geschehene Änderungen« mitgeteilt.14

Und er schließt mit dem Fazit: Die Urteile aller Kenner der vorliegenden Ausgabe stimmen darin überein, daß sie an Vollständigkeit und Genauigkeit sowohl die früheren als auch die späteren übertrifft. Sie ist, obwohl kritische Ansprüche seitens der Philosophie und besonders der Sprachforschung eine erneute Bearbeitung notwendig erscheinen lassen, bis heute die maßgebliche Gesamtausgabe.15

Im Zuge seiner Arbeit an der in den 1960er Jahren erschienenen kritischen Böhme-Ausgabe konnte Buddecke dieses Urteil in Bezug auf die Originalhandschriften überprüfen. Dabei zeigte sich, dass der philologische Gewinn vor allem eine kleinere Schrift, nämlich den ersten der beiden Briefe an Paul Kaym betraf, für dessen Textkonstitution die Editoren von 1730 das Autograph nachweislich »zum ersten Mal« hinzugezogen hatten.16 Da nun allerdings gerade zu den Autographen inzwischen Buddeckes buchstabengetreue Ausgabe vorliegt, ist die Frage der Zuverlässigkeit der Ausgabe von 1730 im Vergleich zu den früheren Editionen in diesem Punkt nur noch von historischem Interesse. Anders verhält

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15

16

SS, Bd. X, 135 f. Werner Buddecke: Die Jakob Böhme-Ausgaben. Ein beschreibendes Verzeichnis. 1. Tl.: Die Ausgaben in deutscher Sprache. Göttingen 1937, 34. »Sämtliche« Änderungen sind übrigens keineswegs verzeichnet. Vgl. dazu auch Anm. 33. Ebd., 35. Und ähnlich schreibt Buddecke fast 30 Jahre später: »Mit ihm [dem »Historische[n] Bericht von dem Leben und Schriften […] Jacob Böhmens«] und einem dreifachen Register schließt die letzte kritische Gesamtausgabe, die beste und vollständigste, die wir besitzen.« Werner Buddecke: Jacob Böhme. Die Urschriften. Bd. 2. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, 479 f. Werner Buddecke: Jacob Böhme. Die Urschriften. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963, 365.

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es sich da mit jenen Böhme-Schriften, von denen sich nur Kopien erhalten haben, insgesamt etwa Dreiviertel des Gesamtwerks. Eine von ihnen, ebenfalls eine kleinere, in der Ausgabe von 1730 umfasst sie insgesamt 19 Seiten, ist der Gründliche Bericht vom irdischen und himmlischen Mysterio.17 Sie stammt aus dem Jahr 1620 und soll dem »Herrn von Sommerfeld zu Liebe geschrieben« sein.18 In insgesamt neun Texten unternimmt Böhme in ihr den Versuch, den Weg aus dem Nichts des Anfangs zu einem ersten Etwas und zur Ausdifferenzierung in die Vielheit des Seienden, namentlich in die Vielheit der Sprachen, bis hin zur Rückführung ins ewige Eine zu beschreiben. Bekannt wurde sie vor allem durch ihren Eingangssatz »Der Ungrund ist ein ewig Nichts«19 und die sich daran anschließenden Spekulationen zur Natur dieses Ungrunds, der hier nicht zum ersten Mal bei Böhme begegnet, zu dem sich aber im Gründlichen Bericht so etwas wie die Schlüsselstelle in seinem Werk findet. Interessant war und ist der Text von daher vor allem für die philosophische Böhme-Rezeption. Insbesondere Schopenhauer, der im Ungrund den bythos der Valentinianer und darüber hinaus Vorstellungen der indischen Philosophie wiederzuerkennen glaubte, setzte sich mit ihm auseinander.20 Gedruckt wurde die Schrift zum ersten Mal in einer von Beyerland angefertigten Übersetzung ins Holländische im Jahr 1642.21 Die erste deutsche Ausgabe erschien 1676 im Verlag des Henricus Betkius in Amsterdam.22 Es folgten die Drucke im Rahmen der Gesamtausgaben von 1682,23 171524 und 1730.25 Über die Abschriften, die den Editoren von 1730 neben den vorliegenden Drucken für die Kollation zur Verfügung standen, geben sie selbst folgende Auskunft: »Irdisch und himmlisch Mysterium bestehet in 5 Copeyen, von der Hand des ersten Schreibers auch der Herren Hegenici und Prunii.«26 Mit jenem ersten Schreiber ist vermutlich Michael Ender von Sercha gemeint. Jedenfalls werden er und sein Bruder in einer Übersicht über die Scribenten so charakterisiert:

17 18 19 20

21 22 23

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25 26

SS, Bd. IV (1957), 93–111. Ebd., Bd. X, 86. Ebd., Bd. IV, 97. Vgl. dazu vor allem den Aufsatz von Thomas Regehly: Fabula docet. Vom Oupnek’hat über Irenäus zu Böhme, Schelling und Schopenhauer. In: Philosophien des Willens. Böhme, Schelling, Schopenhauer. Böhme-Studien. Beiträge zu Philosophie und Philologie. Bd. 2. Hrsg. v. Günther Bonheim u. Thomas Regehly. Berlin 2008, 81–104. Een grondelijcker berecht Van’t Aerdsche en van’t Hemelsche MYSTERIUM […]. S.l. 1642. Gründlicher Bericht vom Irrdischen und Himmlischen MYSTERIO […]. Amsterdam 1676. Des Gottseeligen Hoch=Erleuchteten JACOB BÖHMENS Teutonici Philosophi Alle Theosophische Wercken […]. Amsterdam 1682 [einzelne Teile des Gesamtwerks lassen sich beliebig zusammenstellen; Gründlicher Bericht, 91–104]. THEOSOPHIA REVELATA. Das ist: Alle Göttliche Schriften Des Gottseligen und Hocherleuchteten Deutschen THEOSOPHI Jacob Böhmens […]. S.l. 1715 [Gründlicher Bericht 1581–1592]. THEOSOPHIA Revelata: Das ist: Alle Göttliche Schriften des Gottseligen und Hocherleuchteten Deutschen Theosophi Jacob Böhmens […]. S.l. 1730. SS, Bd. X, 130.

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Die ersten, richtigsten und mit den Originalien nachgesehenen Copeyen waren bey dem Edlen Herrn, Carl und Michael von Endern, Gebrüdern, unweit Görlitz, zu Leutholtzhayn auf dem Lande seßhaft, wo sie anfangs beysammen beruheten. Diese Liebhaber Christi liessen die eigene Handschrift des Autoris, wenn 1, 2 oder drey Bogen davon vorhanden gewesen, alsbald abholen, schrieben dieselbigen ab, und schickten sie so dann weiter fort an andere […].27

Diese anderen, das waren, wie sich aus Böhmes Briefen entnehmen lässt, vornehmlich zwei; der eine, Christian Bernhard, ein »Zoll-Einnehmer zum Sagan«,28 der andere der schon genannte Abraham von Sommerfeld, der seinen Gerichtsschreiber die Kopierarbeit machen ließ. Nicht zu diesen ersten gehörten Ehrenfried Hegenicht und Heinrich Prunius, von denen, wie wir hörten, ebenfalls Abschriften des Gründlichen Berichts vorlagen. Hegenicht, ein späteres Mitglied des Görlitzer Rats, hatte Böhme nicht persönlich kennen gelernt. Zum Zeitpunkt der Niederschrift des Gründlichen Berichts war er erst 16 Jahre alt. Erst nach Böhmes Tod wurde er nach eigenen Angaben mit dessen Freunden bekannt.29 Und von Prunius heißt es in der Ausgabe von 1730, dass er ao. 1638 aus Italien retournirete, mit einigen guten Freunden sel. J. B. so bey Görlitz wohneten, in Bekantschaft kam, und von ihnen einen ziemlichen Theil der Schriften erhielt, von welchem er eine völlige Specification hinterlassen hat.30

Da im Jahre 1638 ein Großteil der Böhme-Abschriften und -Originale entweder bereits in Holland war oder aber, auch durch Vermittlung von Prunius, um das Jahr 1640 nach Holland gelangte, das Original des Gründlichen Berichts dort aber nie als Teil eines Konvoluts verzeichnet wurde, ist davon auszugehen, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits verlorengegangen war und dass Prunius es nie zu Gesicht bekommen hat. Ebenso wie vermutlich auch Hegenicht hat er sich bei seiner Kopie des Textes aller Wahrscheinlichkeit nach selbst bereits auf Abschriften stützen müssen. Verglichen mit der Quellenlage, wie sie sich in Bezug auf den Gründlichen Bericht für die Edition von 1730 aus dem zitierten knappen Vermerk erschließen lässt, ist die Situation heute eine eher verbesserte. Erhalten geblieben sind neben einer fragmentarischen insgesamt acht vollständige frühe Abschriften, unter ihnen diejenigen von Michael Ender, Abraham von Sommerfeld und Ehrenfried Hegenicht sowie zwei von Heinrich Prunius. Eine sechste Abschrift, die sich im Bestand der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel befindet, stand den Editoren von 1730 unzweifelhaft nicht zur Verfügung und ist auch Buddecke bei seiner Arbeit an seinem Verzeichnis der Böhme-Handschriften entgangen. Da einiges in ihr darauf hindeutet, dass sie vom Original gefertigt wurde, erscheint es durchaus

27 28 29

30

Ebd., 127. Ebd., 127 f. Vgl. SS, Bd. X: »Hrn. Ehrenfried Hegenicii, Patricii und Raths-Verwandten in Görlitz, Send=Schreiben, wegen Sel. J. Böhms Talent und dessen Schriften, auch seiner Erkentniß des Grundes der Natur […]« (53–61, bes. 54). Ebd., 128.

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möglich, dass sie von Christian Bernhard stammt, wogegen auch nicht das äußere Erscheinungsbild spricht.31 Für den Versuch eines Vergleichs ergibt sich daraus Folgendes: Maßstab für die Beurteilung der Qualität der jeweiligen Textedition ist der Grad ihrer Übereinstimmung mit den Abschriften vornehmlich von Ender und Sommerfeld, wobei der Text der Wolfenbütteler Abschrift zusätzlich noch der Bestätigung dienen kann. Unter diesen Voraussetzungen stellt der Text der Gesamtausgabe von 1682 gegenüber der Erstedition von 1676 offensichtlich einen Fortschritt dar, wenn auch wohl keinen so großen, wie man ihn nach Buddeckes Darstellung erwarten könnte, in der es heißt, dass die Herausgeber »in mühevoller Arbeit« und »auf das sorgfältigste die bisherigen Drucke mit den Handschriften« verglichen.32 Was die sinnrelevanten Abweichungen anlangt, die mir aufgefallen sind, so kommt die Ausgabe von 1682 in 18 Fällen dem Original mutmaßlich näher, in neun entfernt sie sich eher von ihm. Der Text der Ausgabe von 1715 folgt dann im Wesentlichen dem von 1682; die wenigen Änderungen, die nicht allein die Orthographie betreffen, scheinen mehr auf eigenmächtigen, die Unebenheiten der Vorlage glättenden Eingriffen zu beruhen, als dass sie sich einer neuerlichen Beschäftigung mit den Handschriften verdanken. Anders, nämlich auf den ersten Blick um einiges uneindeutiger sieht es mit dem uns hier besonders interessierenden Verhältnis der Editionen von 1682 und 1730 aus. Zumindest 56 voneinander abweichende einzelne Wörter oder kleinere Passagen lassen sich zwischen ihnen im Text des »Gründlichen Berichts« ausmachen.33 In acht Fällen ist dabei nicht zu entscheiden, welche Variante dem Original mutmaßlich näher kommt, in 26 scheint es tatsächlich diejenige der Edition von 1730 zu sein; doch stehen dem immerhin 22 Änderungen gegenüber, für die es unter den genannten Prämissen keine Basis gibt und die insofern gegenüber dem bereits erreichten Editionsstand einen Rückschritt bedeuten. Um zunächst ein Beispiel für die Verbesserungen zu geben: »und das ist der Ewige Verstand der Magiae« heißt es gleich zu Beginn der Schrift im ersten der neun Texte der Ausgabe von 168234 – »Und das ist der ewige Urstand der Magiae« (Hervorh. d. Verf.) lautet demgegenüber die Fassung der Ausgabe von 1730.35 Die Korrektur ist hier zweifelsohne berechtigt. Nicht nur die zwei bzw. drei frühen, sondern alle sechs hinzugezogenen Abschriften unterstützen die veränderte Lesart. Keinen ausreichenden Beleg gibt es dagegen für folgende andere vorgebliche Verbesserung, die die Herausgeber ebenfalls in ihrer Liste der Emendationen ver31

32 33

34 35

Die Signatur lautet: HAB Wolfenbüttel Cod. Guelf. 778 Helmst., Bl. 373r–385r. In der Aktualisierung von Buddeckes Handschriftenverzeichnis aus dem Jahr 2000 ist sie verzeichnet und beschrieben unter der Nummer 101.b (Jacob Böhme. Verzeichnis der Handschriften und frühen Abschriften. 1934 durch Werner Buddecke erstmals hrsg., überarb. v. Matthias Wenzel unter Mitarb. v. Daniela Friese u. Karin Stichel. Görlitz 2000, 73). Buddecke, Die Jakob Böhme-Ausgaben (Anm. 14), 11. Nicht nur 15, wie im »Verzeichniß Vieler Verbesserungen« von den Editoren selbst angegeben (vgl. SS, Bd. X, 146). Nicht berücksichtigt wurden hierbei die Verbesserungen im Titel der Schrift. JACOB BÖHMENS Teutonici Philosophi Alle Theosophische Wercken (Anm. 23), 93. THEOSOPHIA Revelata (Anm. 25), 97.

Die »große Reinigung« vom »gemeinen Geiste«

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zeichnet haben: Im achten Text des Gründlichen Berichts heißt es in der Ausgabe von 1682: »Und ob ihm der Freye Wille GOttes entgegen tritt und straffet/ so heuchelt der Abgott doch nur dem Freyen Willen/ als dem Geiste GOttes mit dem Munde«.36 In der Ausgabe von 1730 findet sich der Text um ein Wort ergänzt: »Und ob ihm der freye Wille GOttes entgegen trit und strafet ihn« (Hervorh. d. Verf.),37 heißt es da. Schaut man zur Klärung dieser Differenz in den Abschriften nach, dann findet man die Lesart der Ausgabe von 1730 nur durch eine von ihnen, nämlich durch eine der beiden Abschriften von Heinrich Prunius unterstützt. Bei allen anderen, und vor allem eben bei den frühen, von Böhme selbst noch veranlassten, fehlt das »ihn«. Und noch etwas weiteres lässt sich bei dieser Recherche entdecken: Der Text der Ausgabe von 1730 folgt bei nahezu sämtlichen Abweichungen von der Amsterdamer Edition dieser einen Abschrift von Prunius, die in Buddeckes Verzeichnis unter der Nummer 101 eingeordnet ist; noch fünf weitere Male ist sie wie im zitierten Beispiel die einzige, die die letztlich favorisierte Lesart bezeugt. Warum die Herausgeber sie somit gleichsam zur Leithandschrift erkoren haben, bleibt unerfindlich. Schließlich waren sie sich sehr wohl des Umstands bewusst – in ihrer Beschreibung der einzelnen Scribenten weisen sie ja selbst darauf hin –, dass Prunius erst nach seiner Rückkehr aus Italien 1638 mit dem Kopieren von Böhme-Schriften begonnen haben kann, also zu einer Zeit, in der viele der Autographen bereits nicht mehr greifbar waren. Und so wie in Bezug auf den Wortlaut der Texte kann noch in drei weiteren Hinsichten letztlich nicht davon die Rede sein, dass die Edition von 1730 einen Fortschritt gegenüber derjenigen von 1682 darstellt: in Bezug auf die Interpunktion, auf die Unterteilung der Schrift in Absätze und auf die im Text hervorgehobenen Wörter und Textpassagen. Was zunächst die Interpunktion anlangt, so beschränkte sich Böhme, wie wir ja auch aus Buddeckes kritischer Ausgabe der Autographen wissen, ausschließlich auf Virgeln und Punkte, mit denen er etwa im Verhältnis 10 : 1 seine Texte strukturierte. Hieran hielten bereits die ersten Publikationen nicht fest. Schon im ersten Druck des Gründlichen Berichts aus dem Jahr 1676 fügte man, wenn auch noch sparsam, Doppel- und Strichpunkte, Frage- und Ausrufezeichen hinzu. Die Editionen von 1682 und 1715 folgten dann im Wesentlichen dieser Vorgabe. 1730 differenzierte man die Zeichen noch ein wenig weiter aus, vor allem aber eliminierte man nun sämtliche Virgeln und ersetzte sie großenteils durch Kommata, woraus sich für die Texte eine bunte Abfolge nahezu aller auch heute noch gängigen Satzzeichen ergab. So wurden zum Beispiel aus den insgesamt 19 Virgeln, sechs Punkten und zwei Strichpunkten des dritten Textes in der Ausgabe von 1682 14 Kommas, sechs Punkte, drei Strichpunkte und ein Doppelpunkt in der von 1730. Dass sich die Editoren insofern nicht immer nur an der von ihnen erklärtermaßen hochgeschätzten »Einfalt des Autoris« orientierten – auch in jenen Schriften, zu denen sie, wie etwa zur Aurora, das Böhme’sche Original in Händen hatten, hielten sie es schließlich nicht anders –, haben sie selbst wahrscheinlich nicht einmal als Eigenmächtigkeit wahrgenommen. Dabei veränderten sie mit diesen letztlich immer auch interpretatorischen 36 37

JACOB BÖHMENS Teutonici Philosophi Alle Theosophische Wercken (Anm. 23), 101. THEOSOPHIA Revelata (Anm. 25), 107.

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Eingriffen in die Texte deren Charakter erheblich. Im Besonderen die Einfügung von Doppelpunkten und Ausrufezeichen brachte neben einer Modifizierung der jeweiligen Aussage einen beständigen Wechsel von Tempo und Intonation in die Satzgefüge, der Böhmes parataktischen Konstruktionen so jedenfalls nicht eigen ist. Ähnlich ist die Situation im Hinblick auf die Untergliederung der Texte. Auch in diesem Punkt verhielt sich Böhme eher zurückhaltend – ein bis zwei Einschnitte und Neuansätze pro Druckseite kann als das normale für seine Textgestaltung gelten. Und auch hier wieder liefert, was das Beispiel des Gründlichen Berichts anlangt, die Edition von 1676 das Vorbild für alle weiteren. Der einzige Unterschied besteht nur darin, dass die Abschnitte in der Erstedition von Anfang bis Ende durchnummeriert sind – insgesamt belaufen sie sich auf 73 –, während in den drei nachfolgenden die Nummerierung mit jedem der neun Texte von vorne beginnt. In den zwei bzw. drei frühen Abschriften findet sich für eine solche Unterteilung in kurze Abschnitte keine Basis. Michael Ender gliedert seine Kopie in 18, Abraham von Sommerfeld in 24 Abschnitte. Vergleichbar viele enthalten dagegen die beiden Abschriften von Prunius, nämlich 55 die eine und 94 die andere, wobei diese letztere, die Buddecke unter der Nummer 80 verzeichnet, mit dem späteren Druck zudem noch darin übereinkommt, dass auch in ihr bereits die Abschnitte eines jeden Textes durchnummeriert sind. Und auch im Einzelnen zeigen sich Übereinstimmungen. So ist ebenso wie in allen vier Editionen der Schrift der dritte Text in vier und der sechste in neun Abschnitte unterteilt. Und damit als letztes noch zu den Hervorhebungen. Im Gründlichen Bericht der Ausgabe von 1730 ist neben einigen Wörtern und Wortverbindungen eine kleinere Textpassage durch Fettdruck besonders markiert. Sie steht etwas unterhalb der Mitte des sechsten Textes und lautet: »Das ist: Da die Wunder der Turbae am Ende stehen, wird ein Herr geboren, der die gantze Welt regieret, aber mit vielen Aemtern.«38 Dass gerade diese Aussage vor allen anderen ausgezeichnet wird, muss ein wenig erstaunen. Unter den vielen markanten und eminenten des Traktats sticht sie nicht sonderlich hervor; es gibt genügend andere, die man einer Akzentuierung mindestens ebenso für wert halten würde. Im Vergleich der Editionen zeigt sich dann, dass derselbe Satz, und dort ebenfalls als einziger, bereits in der Edition von 1715 graphisch hervorgehoben wird. In den Editionen von 1676 und 1682 ist das nicht der Fall, dafür sind dort eine Reihe anderer Textpassagen und eine sogar in unmittelbarer Nachbarschaft besonders markiert. In den Abschriften, und zwar in sämtlichen, auch denen von Prunius, fehlt an dieser Textstelle jede Form der Hervorhebung. In Anbetracht all dessen spricht letztlich wenig dafür, dass die Ausgabe von 1730 die hohe Meinung, die Werner Buddecke von ihr kundtut, tatsächlich rechtfertigt. Dass »Ueberfeld u. seine Mitarbeiter« wirklich »gründlicher« arbeiteten, als es bei den vorigen Redaktionen geschehen war, lässt sich anhand der hier betrachteten kleinen Schrift nicht nachweisen. Und unter den Mängeln dieser Edition ist derjenige, den Buddecke an ihr beanstandet, nämlich »daß Böhmes 38

Ebd., 104.

Die »große Reinigung« vom »gemeinen Geiste«

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Sprachform und Schreibung nicht erhalten geblieben [seien], sondern unbedenklich dem neueren Gebrauch angepaßt« wurden,39 sicher noch der geringste. Dabei lag den Herausgebern augenscheinlich viel daran, von sich das Bild äußerst sorgfältig arbeitender Philologen zu vermitteln, denen es wesentlich darum zu tun war, mit der »Reinigung vom gemeinen Geiste« der Vorgänger-Editoren zugleich eine Reinigung der Texte von den enthaltenen Ungenauigkeiten und Fehlern zu verbinden. Und absprechen kann man ihnen sicher nicht, dass sie sich um eine solche Verbesserung auch tatsächlich bemühten – das geht nicht zuletzt aus den Korrekturlisten hervor, die zwischen Leyden und Leipzig hin- und hergeschickt wurden. Ich denke, das Hauptproblem wird letztlich die Kürze der Zeit gewesen sein, in der, aus welchen Gründen auch immer, das Projekt abgeschlossen werden sollte. Denn in den knapp zwei Jahren zwischen Ende 1728 und Herbst 1730 dürfte eine derart gründliche Revision, wie sie angeblich durchgeführt wurde, von den zwei Bearbeitern beim besten Willen nicht zu leisten gewesen sein, und das zumal ja noch viel Mühe und Zeit auf die Ausgestaltung des Anhangs, also die Anlage der verschiedenen Register etc. verwendet wurde. So erscheint es eher als zweckrational gedacht, wenn August Faust »im Kriegswinter 1941/42« in Bezug auf die Faksimile-Edition der Schrift von den »Drey Principien«, mit der er den Wiederabdruck der Leydener Gesamtausgabe eröffnete, seinen Rückgriff auf diese Edition mit den Worten unterbaut: »Ein guter und zuverlässiger Text des vorliegenden Neudrucks« ist »gewährleistet«.40 Ein wenig mehr Vorsicht und Skepsis ist da sicherlich angebracht.

39 40

Buddecke, Jacob Böhme (Anm. 15), Bd. 2, 480. SS, Bd. II, 22. Auch Faust weist, darin ganz offensichtlich Buddecke folgend, auf die »Sprachform«, die »(wie überall in der Ausgabe von 1730) leider stark modernisiert« (22) sei, als einzigen Mangel der Edition hin.

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Günther Bonheim

Anhang

Vergleich eines Textausschnitts aus der Schrift Gründlicher Bericht vom irdischen und himmlischen Mysterio (in der Ausgabe von 1730 [Anm. 17] enthalten in Text 8, Abs. 6)

Text in der Abschrift mutmaßlich von Christian Bernhard: So ist der wiellen der Ausgeburt/ als ein abtrunieger eine Meineidisch huhr/ den er ist eine gebärerin/ der falschheit,

von Michael Ender: so ist der willen der außgeburtth alß ein abtrünnige meineÿdische hure, denn er ist eine gebährerinn der falscheitt,

von Abraham von Sommerfeld: So ist der wille der Außgeburtt, als Ein abtrinniger, Eine Meineidische hure, dan Er ist Eine Gebährerin der falscheidt,

Text in der Edition von 1676: so ist der Wille auß der Geburt/ als ein Abtrünniger/ eine Meyneydische Hure; Dan er ist eine Gebärerin der Falschheit

von 1682: so ist der Wille der aus der Gebuhrt urständet/ als ein Abtrünniger/ eine meyneydige Hure; Dan er ist eine Gebärerin der Falschheit

von 1715: ist der Wille (der aus der Geburt urständet als ein Abtrünniger/) eine maineydige Hure; Dan er ist eine Gebärerin der Falschheit

von 1730: so ist der Wille (der aus der Geburt urständet als ein Abtrünniger,) eine meineidige Hure; Dann er ist eine Gebärerin der Falschheit

Dirk Werle

Jacob Böhme in der Historia literaria – mit einem Blick auf Jacob Bruckers kritische Philosophiegeschichte

1. Welche Rezeption? Welche Art von Rezeptionsforschung ist am Werk, wenn man die Rezeption Jacob Böhmes in der Literärgeschichtsschreibung untersucht? Das Ziel einer Rezeptionsgeschichte kann, wenn sie sich vor allem für den rezipierten Gegenstand oder Autor interessiert, die Rekonstruktion einer Erfolgsgeschichte sein, auch einer Misserfolgsgeschichte oder einer Rehabilitationsgeschichte. In jedem Fall wird damit das Ziel verbunden sein, den thematisierten Gegenstand oder Autor in seiner großen historischen Bedeutung zu würdigen.1 Viele Rezeptionstheoretiker würden aber sagen, dass eine Rezeptionsgeschichte für ein solches Unterfangen der nicht vollständig geeignete Weg sei, indem sie mehr über die Rezipienten lehre als über den oder das Rezipierte. Dieser Auffassung ist bereits der frühe Rezeptionshistoriker Hermann August Korff, der in seiner 1913 vorgelegten, 1917 publizierten Habilitationsschrift Voltaire als klassizistischer Autor im literarischen Deutschland des XVIII. Jahrhunderts schreibt: »Die Feststellung, wie weit sich die Wellenkreise Voltaires im 18. Jahrhundert verfolgen lassen, wäre sinnlos, wenn dabei Voltaire der Held dieser Feststellung sein sollte. […] Wenn es einen Sinn haben soll, diese Frage zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, so kann nicht der Beeinflusser, sondern nur der Beeinflusste der eigentliche Held der Untersuchung werden.«2 Rezeptionsgeschichte als Wirkungsgeschichte ist nicht unbedingt geeignet, dem sachlichen Kern dessen näher zu kommen, was da rezipiert worden ist; sie lehrt eher etwas über die Rezipienten. Ein anderer früher Rezeptionstheoretiker, Julian Hirsch, hat das 1914 mit dem Gleichnis einer Lawine zu veranschaulichen gesucht: Auch wenn die Lawine durch einen kleinen Stein ausgelöst worden ist, dann kommt ihre Wirkung, etwa die Zerstörung eines Gebirgsdorfes, nicht durch den Stein zustande, sondern durch den Schnee, der

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Vgl. für die Böhme-Rezeption in dieser Hinsicht etwa Gerhard Wehr: Aspekte der Wirkungsgeschichte Jakob Böhmes. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994, 175–196. Hermann August Korff: Voltaire im literarischen Deutschland des XVIII. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe. Heidelberg 1917, 13 f. Vgl. zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext Ludwig Stockinger: Hermann August Korff – Geistesgeschichte in drei politischen Systemen. Erscheint in: Geschichte der Leipziger Germanistik. Hrsg. v. Günther Öhlschläger u. a. Berlin/New York 2012, 10 [im Manuskript].

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sich um den Stein gelagert hat. Es wäre nun sinnlos, in der Lawine nach dem Stein zu suchen, um ihre Wirkung ermessen zu können.3 Eine weitere Unterscheidung betrifft die Frage nach der Art der Rezeption. Viele rezeptionsgeschichtliche Studien untersuchen so etwas wie produktive, kreative Aneignung eines großen Geistes durch einen anderen.4 Diese Art der Rezeptionsforschung erklärt aber nicht alle Aspekte der kulturgeschichtlichen Überlieferung von Wissen oder auch Ideen, die sich bekanntlich nicht ausschließlich nach Art eines hohen Geistergesprächs vollzieht, sondern auch mit Blick auf die Ebene der massenhaften Verbreitung des Wissens untersucht werden muss, die nicht durch produktive Aneignung vor sich geht, sondern durch Abschreiben, Umschreiben, Zusammenschreiben. In diesen Bereich gehört eine Frage wie: Was konnte man zu Beginn des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Bereich über einen Autor wie Jacob Böhme wissen? Klaus Weimar hat in einem Beitrag über »Interesse an der deutschen Literatur des 16. und 17. im 18. Jahrhundert« darauf aufmerksam gemacht, dass man beispielsweise im Jahr 1710 als »Mann im besten Jugendalter«, der »erfolgreich die Oberklassen des Gymnasiums in seiner Vaterstadt absolviert« hat, »bald als Student an die Landesuniversität gehen« und die Zeit bis dahin nutzen möchte, um »sich über die deutsche Literatur zu informieren«, und zwar über »die ältere, die vor mehr als einem halben Jahrhundert geschrieben worden ist« – bei diesem Unterfangen auf große, wenn nicht unüberwindbare Probleme gestoßen sein muss.5 Wollte man sich zur gleichen Zeit über Jacob Böhme informieren, so waren die Probleme geringer, denn Böhme wurde nicht als Dichter, sondern als Philosoph einsortiert, und mit der Philosophie, die vor mehr als einem halben Jahrhundert geschrieben worden war, konnte man sich ganz gut bekannt machen – nämlich in den Werken, um die es im Folgenden gehen wird und die unter dem Oberbegriff Historia literaria firmieren.6

2. Positionen der Historia literaria Der folgende Überblick über die Darstellung Böhmes in einigen zentralen Werken der Historia literaria wird kursorisch ausfallen. Es geht mir darum zu zeigen, dass die Autoren ihre Darstellungen jeweils mit unterschiedlichen Leitperspektiven 3 4

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Julian Hirsch: Die Genesis der Ruhmes. Ein Beitrag zur Methodenlehre der Geschichte. Leipzig 1914, 274. Vgl. dazu mit Blick auf Böhme die instruktive ›Pilotstudie‹ von Günther Bonheim: Zur literarischen Rezeption Jacob Böhmes im Allgemeinen und zur dadaistischen im Speziellen. In: Daphnis 25 (1996), 307–367. Klaus Weimar: Interesse an der deutschen Literatur des 16. und 17. im 18. Jahrhundert. In: Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750. Hrsg. v. Marcel Lepper u. Dirk Werle. Stuttgart 2011, 53–63, hier: 53. Einen Überblick über Funktionen und Programme der Historia literaria bieten Frank Grunert u. a.: Ein Leitfaden durch das Labyrinth. Zur Funktion der Gelehrsamkeitsgeschichte in der Frühen Neuzeit. In: Sonderforschungsbereich 573: Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit. 15.–17. Jahrhundert. Mitteilungen 2006, H. 2, 35–42.

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und unter Verwendung unterschiedlicher Topoi organisieren, obwohl die Darstellungen inhaltlich oft ziemlich ähnlich sind – die Literärhistoriker schreiben nicht selten voneinander ab. Da sie außerdem offenbar auch von anderen Quellen abschreiben, tauchen viele der in den Literärgeschichten vorfindlichen Leitperspektiven und Topoi in anderen Zusammenhängen der Rezeptionsgeschichte Böhmes auf; das Interessante ist, dass sie innerhalb der Historia literaria durchaus nicht homogen Verwendung finden.7 Das Gesamtbild wird einen Überblick über literärgeschichtliche Positionen ermöglichen, wie sie Ende des 17., vor allem aber in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in der deutschen Gelehrtenrepublik entwickelt wurden und innerhalb derer die Darstellung Böhmes eine zwar nicht zentrale, aber doch recht aufschlussreiche Rolle spielt. Als Einsatz der Historia literaria, wie sie vor allem von Francis Bacon projektiert worden war, gilt bekanntlich der zuerst 1688 veröffentlichte Polyhistor literarius, philosophicus et practicus Daniel Georg Morhofs.8 Er prägt auch im Falle der Thematisierung Böhmes den Diskurs der Gelehrtengeschichtsschreibung. Die meisten folgenden Literärhistoriker greifen Morhofs Ausführungen auf und schreiben sie in der einen oder anderen Richtung aus. An mehreren Stellen von Morhofs systematisch aufgebautem Werk wird auf Böhme Bezug genommen. Er wird in einem Kapitel »De libris mysticis & secretis« als Nachfolger von Dionysius Areopagita und Theophrastus Paracelsus genannt, dessen Lehren zudem auf pythagoräischem Gedankengut beruhten,9 in einem Kapitel »De Phyſica Moſaica, ejusque Interpretibus, &c.« wird der wissenschaftliche Stellenwert des Mysterium magnum diskutiert,10 in einem Kapitel »De Plantis & Vegetatione« wird der Traktat De signatura rerum erwähnt, in dem nicht nur von Pflanzen, sondern noch von vielen anderen Dingen die Rede sei,11 und schließlich geht Morhof in einem Kapitel »De Theologicis Scriptoribus« auf weitere Schriften 7

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Die reichhaltigen Quellenverweise in den Böhme-Darstellungen der Historia literaria möchte ich hier nicht im Einzelnen nachweisen, obwohl eine detaillierte Rekonstruktion die hier vorgelegten Ergebnisse vertiefen und weiter differenzieren könnte. Ebenfalls aufschlussreich wäre eine Berücksichtigung der Lokalisierung der verschiedenen Werke in unterschiedlichen regionalen Zusammenhängen – der institutionellen Situierung der Verfasser an bestimmten Schulen und Universitäten sowie der regionalen Verteilung des Einsatzes der jeweiligen Werke. Auch das kann ich hier nicht vertiefen. Ich zitiere im Folgenden die vierte Auflage: Daniel Georg Morhof: Polyhistor, literarius, philosophicus et practicus. Cum accessionibus virorum clarissimorum Ioannis Frickii et Iohannis Molleri, Flensburgensis. Editio quarta […]. Lübeck 1747. Die erste Auflage enthielt lediglich die ersten beiden Bücher des ersten Teils; die restlichen Teile wurden erst postum im Rahmen der zweiten Auflage 1709 veröffentlicht. Zu Morhofs Übergangsposition zwischen der Gelehrsamkeit des Barock und der Aufklärung vgl. Siegfried Seifert: »Historia literaria« an der Wende zur Aufklärung. Barocktradition und Neuansatz in Morhofs »Polyhistor«. In: Europäische Barock-Rezeption. Hrsg. v. Klaus Garber. Tl. 1. Wiesbaden 1991, 215–228. Das Verhältnis zur Historia literaria beleuchtet im Kontext der Kieler Universitätsgeschichte Paul Nelles: Historia litteraria and Morhof: Private Teaching and Professorial Libraries at the University of Kiel. In: Mapping the World of Learning: The Polyhistor of Daniel Georg Morhof. Hrsg. v. Françoise Waquet. Wiesbaden 2000, 31–56. Morhof (Anm. 8), Bd. 1, 92 f. [Lib. 1, Kap. 10]. Ebd., Bd. 2, 165 f. [Lib. 2, Kap. 3]. Ebd., Bd. 2, 426 f. [Lib. 2, Kap. 40].

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Böhmes ein, die als kabbalistisch und abstrus qualifiziert werden.12 Böhme gilt Morhof in erster Linie als Paradiesvogel: der Ungelehrte als Teil der Gelehrtenkultur. Das bringt er zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Mirabile profecto viro huic, utut plebejo, ingenium fuit, & ſingulari animi impulſu agitatum.«13 Böhmes Selbstaussage, er habe seine Kenntnisse durch Offenbarungen erlangt, referiert Morhof mit Distanz.14 Zudem greift er den ubiquitären Vorwurf der Dunkelheit von Böhmes Schriften auf. Er habe Bücher geschrieben, »non omnino ſenſu omni deſtitutos, ſed tamen tenebricoſos, & qui vix intelligi poſſint ab aliquo«.15 Burkhard Gotthelf Struves zuerst 1704 erschienene, 1706 neu aufgelegte Introdvctio ad notitiam rei litterariae & vsvm bibliothecarvm weiß über Böhme wenig zu berichten. Bemerkenswert ist hier jedoch der frühaufklärerische Gestus rational begründeter Abwehr, der mit einer Rhetorik vornehmer Urteilszurückhaltung vorgetragen wird. In einem Kapitel »De libris damnatis et prohibitis«, unter dem Paragraph »Mysticorum ſcripta«, verleiht Struve Böhme einen zweifelhaften Ehrentitel: Er sei »recentiorum myſticorum ſine dubio pater«.16 Von der Rezeption dieser neuen Mystiker berichtet Struve: »Omnes iudicant, paucisſimi intelligunt.«17 Und er fügt einen kurzen Bericht seiner eigenen Leseerfahrung hinzu: »Legi, peruolui horum ſcripta, nec condemno, nec adprobo: non intelligo.« Struve führt mithin die Dunkelheit der Schriften Böhmes und der Seinen zurück auf eine grundsätzliche Unzugänglichkeit gegenüber rationaler Rekonstruktion – ein Topos, der in der Folge ebenfalls immer wieder aufgegriffen wird. Besondere Wichtigkeit innerhalb der Geschichte der Rezeption Böhmes durch die Historia literaria beansprucht Jacob Friedrich Reimmanns nicht auf die internationale res publica literaria, sondern auf eine nationale Gelehrtengeschichte abzielender, 1709 veröffentlichter Verſuch einer Einleitung In die Historiam literariam derer Teutſchen. Seine Ausführungen zu Böhme stechen durch große Ausführlichkeit und das Bemühen um weitestgehende Neutralität gegenüber dem Gegenstand heraus. Reimmanns Verſuch folgt der Darstellungsform eines vielleicht nach dem Muster des Katechismusunterrichts gestalteten Frage- und Antwortspiels, und unter den Nummern 318 und 319 werden zwei Fragen zu Böhme beantwortet.18 Die erste lautet: »Was weiſtu von Jacob Boehmen vor particula12 13 14 15

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Ebd., Bd. 3, 554 f. [Lib. 5, Kap. 1] Ebd., Bd. 1, 92 f. Ebd., Bd. 2, 166; Bd. 3, 554 f. Ebd., Bd. 2, 166. Vgl. noch – am Ende der hier rekonstruierten Tradition – Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon […]. Erster Tl.: A–C. Leipzig 1750 [ND Hildesheim/New York 1981], 1170 f., hier 1171. Ebenso der Böhme-Artikel im von Johann Heinrich Zedler verlegten Großen Universallexicon Aller Wissenschaften und Künste […]. Bd. 4. Halle/Leipzig 1733, 356–358, hier 356. Die Abhängigkeit der Böhme-Artikel im Jöcher und im Zedler von den Darstellungen der Historia literaria wird man aber, anders als im Falle mancher anderer Artikel in den beiden Lexika, nicht als überdeutlich bezeichnen können. Burkhard Gotthelf Struve: Introdvctio ad notitiam rei litterariae & vsvm bibliothecarvm. […] Editio ſecunda, auctior & emendatior. Jena 1706, 460 f. [Cap. 9: De libris damnatis et prohibitis, § 23: Mysticorum ſcripta], hier: 460. Ebd., 461. Jacob Friderich Reimmann: Verſuch einer Einleitung In die Historiam literariam derer Teutſchen. Und zwar Des dritten und letzten Theils Erſtes Hauptstueck […], Halle 1709,

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ria?« Als Antwort stellt Reimmann eine Liste verschiedener Quellen zu Böhmes Biographie zusammen, die in der Folge in Grundzügen referiert wird. Dabei stützt sich Reimmann im Wesentlichen auf Abraham von Franckenbergs BöhmeBiographie.19 Als wichtige Quelle für sein Böhme-Wissen gibt Reimmann unter anderem Gottfried Arnolds Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie an, ein Beleg für seine innerkonfessionelle Toleranz und das Bemühen, pietistische Tendenzen mit aufklärerisch-›rationalistischen‹ ins Gespräch zu bringen.20 Die zweite Frage zu Böhme lautet: »Was ſind denn das aber vor ſcripta dieſes Mannes, die hie inſonderheit mit zu unſerer ſubſtrata materia gehoeren?« Es folgt zuvörderst der Hinweis auf die Böhme-Gesamtausgabe von 168221 nebst einigen Böhme-Epitomen und schließlich als Hinweis auf besonders die physica betreffende Schriften die kurze Charakterisierung von Mysterium magnum und De signatura rerum. Von Morhof übernimmt Reimmann die Perspektive auf Böhme als Ungelehrten, der dennoch Teil der Gelehrtenkultur ist – bereits Morhof hatte Böhme durchgängig als »homo plebejus« angesprochen.22 Peter Dahlmanns 1710 erschienener Schauplatz der Masquirten und Demasquirten Gelehrten bey ihren verdeckten und nunmehro entdeckten Schrifften ist im Wesentlichen eine teils gekürzte, teils erweiterte Übertragung von Vincent Placcius’ 1708 postum erschienenem Theatrum anonymorum et pseudonymorum.

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418–430 [Buch 2, Sectio 3: De historia literaria Germanorum nova, Oder von dem Letzten Periodo der Hiſtoriæ Literariæ bey denen Teutſchen; aufgrund eines Paginierungsfehlers ist der betreffende Seitenbereich zweimal vorhanden, es handelt sich um den zweiten so paginierten Seitenbereich]. Dass Reimmann keine systematische Darstellung anziele, auch hinter Pierre Bayles Konzept einer historischen Kritik zurückfalle und im Ganzen die auf Bacon zurückgehenden Vorstellungen einer Historia literaria nicht verwirklichen könne, behauptet Herbert Jaumann: Jakob Friedrich Reimmanns Bayle-Kritik und das Konzept der ›Historia literaria‹. Mit einem Anhang über Reimmanns Periodisierung der deutschen Literaturgeschichte. In: Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743). Hrsg. v. Martin Mulsow u. Helmut Zedelmaier. Tübingen 1998, 200–213. Jaumann glaubt daraus schließen zu müssen, die Historia literaria sei weniger »Schauplatz eines ›Umbaues‹ der Polyhistorie in Richtung ›modernen‹ Systemdenkens«, sondern eher mit einer »stillgelegten Baustelle« zu vergleichen, »die feucht und verrottet im fernen Nebel der Frühmoderne zurückbleibt« (ebd., 209). Vielleicht ist die Vermutung, dass diesem Vergleich eine gewisse Parteilichkeit in der Bewertung frühneuzeitlicher Konzeptionen der Gelehrsamkeit zugrunde liege, nicht vollkommen an den Haaren herbeigezogen. In Bayles Dictionnaire historique et critique findet sich übrigens kein Artikel über Böhme. Inwieweit es sich bei dieser Biographie eigentlich um eine Reihe von Biographien handelt, zeigt Carlos Gilly: Zur Geschichte der Böhme-Biographien des Abraham von Franckenberg. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007, 329–363 u. 440–445 [Anm.]. Reimmann (Anm. 18), 426 f. Reimmanns ambivalente Haltung zu Arnold in diesem Zusammenhang rekonstruiert Hanspeter Marti: Litterärhistorie und Ketzergeschichte. Reimmanns historiographische Toleranz. In: Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743). Hrsg. v. Martin Mulsow u. Helmut Zedelmaier. Tübingen 1998, 60–75. Der Hinweis auf Arnold als Quelle Reimmanns für Informationen über Böhme findet sich ebd., 61. Vgl. zu deren Bedeutung Frans A. Janssen: Die erste Ausgabe von Böhmes gesammelten Werken 1682. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt (Anm. 19), 249–254 u. 433 f. [Anm.]. Morhof (Anm. 8), Bd. 1, 92 f.; Bd. 2, 166; Bd. 3, 554 f.

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Entsprechend dem primären Ziel des Werks, anonym und pseudonym erschienene Werke ihren wirklichen Autoren zuzuweisen, liegt diesem Werk in besonderer Weise ein methodisches Ideal philologischer Kritik zugrunde, das »auf den Gesamtzusammenhang der überlieferten Wissensbestände« ausgeweitet wird,23 so in diesem Bereich Schein und Lüge aufdeckt und ans Licht bringt. Dass die Autorschaft Böhmes an seinen Schriften unter Gelehrten umstritten sei, darauf hatte bereits Morhof hingewiesen und die Auffassung vertreten, dass der Nachweis eines Ghostwriters bisher erfolglos geführt worden sei.24 Dahlmann referiert nun den entsprechenden Eintrag bei Placcius, der verschiedene Zeugnisse zusammenträgt, um die Diskussion vorzuführen, die er in den Worten zusammenfasst: Etliche Gelehrte ſtehen in der opinion, als wenn nicht Jacob Boehme/ welcher ſeiner Profeſſion nach ein Schuſter geweſen/ dieſer abſtruſen und ſubtilen Schriften Author ſey/ ſondern daß vielmehr ein anderer Author dieſelben Schrifften ſub nomine Böhmii heraus gegeben habe/ dann die meiſten koennen ſich nicht einbilden/ daß ein ſolcher Schuſter dergleichen hohe heimlich Weißheit ſolte vorbringen koennen/ welche Philoſophie auch oeffters von den Allergelehrteſten nicht hat koennen begriffen werden.25

Vor allem referiert Dahlmann das auf Abraham Hinckelmann zurückgeführte Gerücht, nach dem Balthasar Walther der Verfasser von Böhmes Schriften sei, der das Pseudonym des braven Schusters mit dessen Einwilligung verwendet habe 23

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Mit dieser Formulierung charakterisiert Helmut Zedelmaier: ›Historia literaria‹. Über den epistemologischen Ort des gelehrten Wissens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert 22 (1998), H. 1: Enzyklopädien, Lexika und Wörterbücher im 18. Jahrhundert, 11–21, hier: 17 den Gesamtbereich der Historia literaria. Morhof (Anm. 8), Bd. 1, 93; Bd. 2, 166. Die Frage, wie der einfache Schuster das für die Abfassung seiner Schriften notwendige gelehrte Wissen habe erwerben können und wie die Beziehung seines Denkens zu verwandten zeitgenössischen Konzeptionen zu beschreiben und zu erklären sei, ist bis heute nicht vollständig beantwortet. Vgl. dazu Ernst-Heinz Lemper: Voraussetzungen zur Beurteilung des Erfahrungs- und Schaffensumfelds Jakob Böhmes. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994, 41–69; jetzt aber vor allem Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, 89–123. Schauplatz der Masquirten und Demasquirten Gelehrten bey ihren verdeckten und nunmehro entdeckten Schrifften/ Aus gewiſſen Anzeigungen/ glaubwuerdigen Nachrichten/ und wahrſcheinlichen Conjecturen bewaehrter Maenner/ nach ihren vornehmſten Denckwuerdigkeiten/ ſamt Beyfuegung neuer Raiſonnements und Autoritaeten kuertzlich dageſtellet Von Peter Dahlmann. Leipzig 1710, 308–314 [Erſte Abtheilung/ Darinne Die Authores Pseudonymi varii generis, oder ſolche Scripta, welche mit falſchen fingirten/ und angenommenen monſtreuſen Nahmens-Larven mundiret und coloriret ſind/ vorgeſtellet werden; darbey auch die Scripta suppositia, oder ſolche/ welche faelſchlich mit Practicken unterſchoben/ und liſtiglich einem Auctoritaetiſchen Scriptori angedichtet ſind/ Adespota, Pseudepigrapha &c. &c. zugleich auch die Authores plagiarii, oder ſolche/ welche anderen das Ihrige in ihren Scriptis allzu mercklich promoviret haben/ mit inſeriret/ vornehmlich aber meiſtentheils entdecket/ conjecturiret/ recenſiret/ und beurtheilet zu befinden. Methodo alphabetica. T. VI.], hier: 309. Vgl. Vincentius Placcius: Theatrum anonymorum et pseudonymorum […]. Hrsg. v. Matthias Dreyer. Vorrede v. Johann Albert Fabricius, Hamburg 1708, 582–584 [De Scriptoribus pseudonymis detectis liber, Nr. 2639].

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und sich in der Folge aus Angst vor Verfolgung wiederum in Hinckelmann umbenannt habe. Der Verfasser von Böhmes Schriften sei mithin ein Vorfahre Hinckelmanns.26 Im vierten Stück von Christoph August Heumanns 1715–1726 anonym erschienenen Acta Philosophorum, das iſt: Gruendl. Nachrichten Aus der Hiſtoria Philoſophica, Nebſt beygefuegten Urtheilen von denen dahin gehoerigen alten und neuen Buechern, einem literärgeschichtlichen Journal, findet sich ein zu einer Einleitung zur Historia Philosophica gehöriges Kapitel »von dem ingenio philosophico«. Böhme wird hier nicht als Gegenstand an sich selbst behandelt, sondern als Beispiel für eine bestimmte Ausprägung des philosophischen Ingeniums. Heumann greift zur Charakterisierung des ingenium philosophicum die Lehre von den drei Hauptkammern des Gehirns auf, die entsprechend der auf die Physiologie Galens zurückgehenden Theorie von den Hirnventrikeln, die dann durch Augustinus kanonisch wurde, die Bereiche des Gehirns beziehungsweise der Erkenntnis oder der Klugheit bezeichnen: imaginatio, ratio und memoria. Gemäß dieser Dreiteilung hatte der frühe Programmatiker der Historia literaria, Francis Bacon, in De augmentis scientiarum den Bereich menschlichen Wissens in Historie, Poesie und Philosophie aufgeteilt.27 Heumann unterscheidet nun in der Nachfolge dieser Lehre drei Philosophentypen: Wir haben alſo dreyerley ingenia, indem bey etlichen ein gutes Gedaechtnis iſt/ aber wenig judicium; bey andern eine ſo ſtarcke Einbildungs-Krafft/ daß ſie das judicium nicht laeſſet empor kommen: und endlich bey andern ein ſcharffes und durchdringendes judicium. Die erſten wenn ſie die Philoſophie ſtudiren/ ſo werden ſie Sectarii, wie ehemals die Scholaſtici. Die andern werden Fantaſten und Enthuſiaſten/ wie Boehme/ Kuhlmann/ und dergleichen. Die dritten aber werden rechte Philoſophi. Dieſe letzten ſehen mit ihren eigenen Augen. Die erſten ſehen durch eine Brille und durch ein fremdes Glaß: die mittelſten aber traeumen und bilden ſich ein/ ſie ſaehen/ da ſie doch die Augen zugeſchloſſen haben.28

Böhme ist also für Heumann kein rechter Philosoph, da er zuviel imaginatio und zu wenig iudicium besitzt. Dieses Urteil war bereits bei Morhof vorgeprägt, der Böhme mehrfach als Enthusiasten bezeichnet hatte.29 Auch Heumann nennt Böhme einen Enthusiasten, definiert das aber näher als einen Autor, der ein Übermaß

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Dahlmann (Anm. 25), 310 f. Francis Bacon: De augmentis scientiarum [1623]. In: The Works of Francis Bacon. Faksimile-ND der Ausgabe von Spedding, Ellis u. Heath. London 1857–1874 in 14 Bdn. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, 413–837, hier: 494 f. [Buch II, 1]. Acta Philosophorum, das iſt: Gruendl. Nachrichten Aus der Hiſtoria Philoſophica, Nebſt beygefuegten Urtheilen von denen dahin gehoerigen alten und neuen Buechern, Vierdtes Stueck. Halle 1716, 582 f. [§ X. Gegeneinanderhaltung der dreyen Arten der ingeniorum]. Vgl. zu der Stelle Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004, 365. Morhof (Anm. 8), Bd. 2, 166; Bd. 3, 554.

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an ingenium phantasticum,30 dabei aber durchaus »ein Chriſtlich-geſinnetes Gemuethe« besitzt,31 anders als Autoren wie Spinoza oder Lucilio Vanini, die als Naturalisten und Atheisten klassifiziert werden. Von Böhme dagegen heißt es, es habe ihm lediglich am iudicium gemangelt: »Daher ſchrieb er Buecher/ die voller Geheimniſſe/ das iſt/ dunckel s) und verwirret waren/ und durch deren Leſung diejenigen/ ſo von Natur zum Phantaſiren aufgelegt/ vollends zu rechten Narren gemacht wurden.« Hier setzt Heumann eine Fußnote und erlaubt sich einen Scherz: »Ich glaube/«, schreibt er, »dieſes ſey der Urſprung des gekannten Sprichwortes/ da man/ wenn man von dunckeln und verwirreten Schrifften redet/ zu ſagen pfleget: Dieſes ſind mir lauter Boehmiſche Doerffer.« Als Schwundstufe der Historia literaria, von der die programmatisch anspruchsvolleren Werke von Reimmann oder Heumann abzugrenzen seien, gelten in der Forschung Werke wie Johann Adam Bernhards 1718 veröffentlichte Kurtzgefaſte Curieuſe Hiſtorie derer Gelehrten, Darinnen Von der Geburth/ Erziehung/ Sitten/ Fatis, Schrifften sc. gelehrter Leute gehandelt, Und hin und wieder angewieſen wird was in dieſem unter denen Teutſchen zumal ſo beliebten ſtudio gantz ueberflueßig, zum Teil auch einer beſſern Unterſuchung noch benoethiget. Und in der Tat handelt es sich konzeptionell um ein Kuriositätenkabinett der Gelehrtengeschichte. Für die Rezeptionsgeschichte Böhmes in der Historia literaria ist Bernhard jedoch in anderer Hinsicht von besonderer Bedeutung: Er bringt, soweit ich sehe, zum ersten Mal ein Böhme-Interpretandum in die Welt der Gelehrtengeschichtsschreibung, das in der Folge verschiedentlich aufgegriffen wird:32 die Deutung Böhmes als Spinozist. Dabei bezieht sich Bernhard auf zwei Referenzautoren: »Guſtavus Hervvech hat in einer Diſſert. zu Leipzig 1709. den Jacob Böhm auch unter die Naturaliſten und Spinoziſten zu bringen geſucht, da ihn ſchon Joh. Muller auch zu einem Atheiſten machen wollen in einer Schrift 30

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Heumann (Anm. 28), 583–585 [§. XI. Anmerckungen von dem ingenio phantaſtico], hier: 583: »Wir wollen bey dem ingenio phantaſtico, welches man auch meteorologicum nennen kann/ noch ein wenig ſtille ſtehen/ indem daſſelbe in der Philoſophie am gefaehrlichſten iſt/ weil ein ſolches Irrlicht nicht nur den Phantaſten ſelbſten/ ſondern auch viel andere Leute zu verfuehren vermoegend iſt: wie die Erfahrung bezeuget.« Ebd., 599–601 [§. XIX. Von dem ingenio des Plotini, Porphyrii, Platonis, Boehmii, Vanini], hier: 600. Inwieweit Heumann bereits Shaftesburys einschlägige Reflexionen im Brief über den Enthusiasmus von 1707 zur Kenntnis genommen hat, konnte ich bisher nicht ermitteln. Für den Hinweis auf die philosophiehistorische Wichtigkeit Shaftesburys für den hier traktierten Zusammenhang danke ich Nele Schneidereit (Dresden). Etwa von Gottlieb Stolle: Anleitung zur Hiſtorie der Gelahrheit, denen zum beſten, ſo den Freyen Kuenſten und der Philoſophie obliegen, in dreyen Theilen nunmehr zum viertenmal verbeſſert und mit neuen Zusaetzen vermehret, herausgegeben, Jena 1736, 570 f. [Anm. zu Böhme] und Nicolaus Hieronymus Gundling: Hiſtorie der Gelahrheit, Oder Ausfuehrliche Discourse, die er, in verſchiedenen Collegiis Literariis, ſo wohl ueber ſeine eigene Poſitiones, als auch und zwar vornemlich, ueber Tit. Herrn Profeſſoris, C. Christoph. Avgvst. Hevmanni, Conſpectum Reipublicæ Literariæ, gehalten […]. Vierter und letzter Theil, in ſich enhaltend Die Hiſtoriam Literariam Seculi XVIII. […] Alſo ans Licht geſtellet, von J. G. B. [Johann Gottlob Boehme] Frankfurt a. M./Leipzig 1736, 4996–5005 [Continuatio des Vierten Capitels (De Ortu & Progreſſu Studiorum Literariorum) Sect. IV. (De Hiſtoria Literaria Seculi XVII.) § CCLV], hier: 5001 f. Gundlings postum aus Vorlesungen zusammengestelltes Kompendium enthält gegenüber seinen Vorgängern nichts Neues zu Böhme.

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welche 1679. gedruckt worden und dieſen titul fuehret: Fanatiſcher Atheiſt aus Jacob Bohmens gottloſen Buechern entdecket.«33 Den Atheismus-Verdacht hat im Rahmen der Historia literaria bereits Morhof angedeutet, als er schrieb, Böhmes philosophische Ansichten beruhten auf einem Konglomerat antiker Häresien.34 Bernhard aber schließt mit einer alternativen – allerdings ebenfalls bei Morhof vorgeprägten – Klassifizierung: »Beſſer referirt man ihn unter die Fanaticos.«35 Gottlieb Stolles wie Bernhards Curieuse Historie erstmals 1718 publizierte, 1736 in vierter Auflage erschienene Anleitung zur Hiſtorie der Gelahrheit, denen zum beſten, ſo den Freyen Kuenſten und der Philoſophie obliegen erwähnt Böhme nur en passant in einem Kapitel »Von der Physic oder Naturlehre« – neben anderen Autoren wie Robert Fludd, Johann Amos Comenius und Aegidius Guthmann.36 Interessant ist Stolles Beitrag, der in einer längeren Fußnote seine Stellung zu seinen Vorläufern detailliert darlegt, vor allem deshalb, weil bei ihm eine bestimmte Tendenz der Historia literaria besonders deutlich zum Ausdruck kommt: das moralisch-pädagogisch motivierte Anliegen, dem Leser gute Bücher zu empfehlen und von schlechten abzuraten. Stolle schließt seine Aufzählung nämlich mit dem Satz: »Doch werden junge Leute wohl thun, wenn ſie die meiſten dieſer Auctorum ungeleſen laſſen.«37

3. Jacob Bruckers kritische Philosophiegeschichte als Transformation der Literärgeschichte Böhmes Die bis hier kursorisch vorgestellten Stationen der Böhme-Rezeption in der Historia literaria finden um die Mitte des Jahrhunderts eine Zusammenfassung und Weiterentwicklung durch Jacob Bruckers Historia critica philosophiae a tempore resvscitatarvm in occidente literarvm ad nostra tempora. Bruckers Philosophiegeschichte ist im engeren Sinne keine Historia literaria mehr, allein schon aus dem Grund, dass es sich nicht um eine Geschichte des Gesamtbereichs der Gelehrsamkeit handelt, sondern um die auf eine Disziplin oder besser Fakultät

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Johann Adam Bernhard: Kurtzgefaſte Curieuſe Hiſtorie derer Gelehrten, Darinnen Von der Geburth/ Erziehung/ Sitten/ Fatis, Schrifften sc. gelehrter Leute gehandelt, Und hin und wieder angewieſen wird was in dieſem unter denen Teutſchen zumal ſo beliebten ſtudio gantz ueberflueßig, zum Teil auch einer beſſern Unterſuchung noch benoethiget. […] Frankfurt a. M. 1718, 489–494 [Lib. III. De Ætate virili Eruditorum, Pars 6. Von der Religion derer Gelehrten, Cap. 4. Von Naturaliſten, fanaticis &c.], hier: 491. Morhof (Anm. 8), Bd. 2, 166. Vgl. ebd., 427. Stolle (Anm. 32), 567 f. [Tl. 2, Kap. 4, § 29]. Vgl. zur von Stolle propagierten moralischen Zwecksetzung der Historia literaria Frank Grunert: Von ›guten‹ Büchern. Zum moralischen Anspruch der Gelehrsamkeitsgeschichte. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Hrsg. v. dems. u. Friedrich Vollhardt. Berlin 2007, 65–88, hier: 67 f.

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reduzierte Geschichte.38 Gleichwohl ist bekannt, dass Brucker mit seiner Darstellung in einem engen Traditionsbezug zur Historia literaria steht, insbesondere zu den Arbeiten Heumanns,39 der freilich der Überschreitung der Konzeption der Historia literaria, nicht zuletzt durch die Verengung des Gegenstandsbereichs von philosophia und ihrer Geschichte, schon den Weg gewiesen hatte.40 Das von Heumann in den Vordergrund gestellte Prinzip einer vernünftigen Beurteilung der philosophischen Tradition kommt bei Brucker programmatisch durch das Differenz stiftende Adjektivattribut der Historia critica philosophiae zum Ausdruck. ›Kritisch‹ bedeutet hier, dass die vernunftgeleitete Urteilskraft auf historische Sachverhalte angewandt wird.41 Und so greift Brucker auch bei seiner Darstellung Böhmes im vierten, 1743 erschienenen Band viele Elemente auf, die innerhalb der Böhme-Rezeption durch die Historia literaria vorgeprägt waren – gleichzeitig verleiht er aber seiner gesamten Darstellung einen kritischen Drive, wie es ihn vorher innerhalb dieser Textsorte, soweit ich sehe, nicht gegeben hat.42 Eine Zwischenstufe bildet die Darstellung in Bruckers früherer, auf Deutsch verfasster Philosophiegeschichte, den Kurtzen Fragen Aus der Philosophischen Historie, näherhin in deren 1735 erschienenem sechstem Teil. Hier sind bereits im Wesentlichen alle inhaltlichen Elemente der späteren Darstellung beisammen; allerdings gibt es auch wichtige Unterschiede, die zeigen, dass die spätere Historia critica nicht bloß, wie manchmal gesagt wird, eine Übersetzung der Kurtzen Fragen ist, sondern immerhin eine konzeptionelle Veränderung impliziert. Die Darstellung in den Kurtzen Fragen folgt noch stärker den von der Historia literaria vorgegebenen Modellen: Die katechetische Form wird von Reimmann übernommen; das Kapitel zu Böhme wird durch die Frage eingeleitet: »Hat ſich ſonſt noch jemand unter den Theoſophicis einen berühmten Nahmen gemacht?«43 Die Struktur eines knappen Haupttexts mit ausführlichen, die notitia auctorum et librorum sicherstellenden Fußnoten entspricht ganz den genretypischen Erwartungen, wie sie etwa durch Stolle vorgeprägt sind. Hier trägt Brucker viele der in den Vorläufertexten vorhandenen Elemente zusammen, bis hin zu Heumanns Witz:

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Dieser Reduktion entspricht im gleichen Zeitraum die Ersetzung literärhistorischer Einführungen durch fachenzyklopädische Veranstaltungen, etwa im Lehrplan der Göttinger Universität; vgl. Martin Gierl: Historia literaria. Wissenschaft, Wissensordnung und Polemik im 18. Jahrhundert. In: Historia literaria (Anm. 37), 113–127, hier: 126. Vgl. etwa die Hinweise bei Zedelmaier 1998 (Anm. 23), 19 f. Ausführlich rekonstruiert die Einflüsse Mario Longo: Geistige Anregungen und Quellen der Bruckerschen Historiographie. In: Jacob Brucker (1696–1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung. Hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Theo Stammen. Berlin 1998, 159–186. Vgl. Lehmann-Brauns (Anm. 28), 378. Vgl. ebd., 358. Jacob Brucker: Historia critica philosophiae a tempore resvscitatarvm in occidente literarvm ad nostra tempora. Bd. 4,1. Leipzig 1743, 695–705 [Periodus III : A restavratione literarvm ad nostra tempora, Pars I: De stvdio philosophiæ emendandæ sectario, Lib. III: De philosophis, novam philosophandi viam tentantibus, Cap. III: De Theosophicis, §§ 20–23]. Jacob Brucker: Kurtze Fragen Aus der Philoſophiſchen Hiſtorie, Von Chriſti Geburt Biß auf Unſere Zeiten, Mit Ausführlichen Anmerckungen erläutert. Sechſter Tl. Ulm 1735, 1152– 1183 [3. Buch, 3, Capitul von den Theoſophicis, § 6], hier: 1152.

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Weil Böhmens Schrifften groſſentheis ſo finſter ſind, daß zu vermuthen, Böhme habe ſie ſelbſt nicht verſtanden, ſo, daß in den Actis Phil. l. c. not. […] gemuthmaſſet wird, der Urſprung des Sprüchwortes, daß man verwirrte Dinge Böhmiſche Dörfer zu nenne pflegt, ſeye von ſolcher Dunckelheit Jacob Böhmes herzuleiten: So haben ſich verſchiedene gefunden, welche ſich bemühet, dieſe Finſternis zu vertreiben, und Böhmen ein deutlicher Licht anzuzünden.44

Bereits in den Kurtzen Fragen zeichnet sich Bruckers Darstellung Böhmes gegenüber ihren literärhistorischen Vorläufern durch einen Zuwachs an Ausführlichkeit aus. In der Historia philosophica critica kommt ein Zuwachs an Polemik hinzu, die sich in den Kurtzen Fragen, soweit ich sehe, erst andeutet. Brucker beginnt seine Darstellung Böhmes innerhalb des Buchs »De philosophis, novam philosophandi viam tentantibus« im Kapitel »De Theosophicis«, über die Theosophen als eine der nachreformatorischen philosophischen Sekten,45 mit einer Begründung, warum Böhme überhaupt behandelt werde. Die Antwort: Er ist ein einflussreicher Schulbegründer: »eo minus a nobis praetereundus, quia hoc potiſſimum auctore ſchola theoſophica in certam formam coaluiſſe viſa eſt«.46 Brucker referiert zu Beginn seines Unterfangens wie manche andere Autoren der Historia literaria auch Böhmes Biographie in starker Anlehnung an die Ausführungen Franckenbergs, auf den er auch explizit Bezug nimmt,47 aber Brucker durchsetzt sein Referat mehr als seine Vorläufer mit kritischen Kommentaren. Diese Kommentare erfüllen stärker als ähnliche Kommentare in den Texten der Historia literaria die Funktion der Distanzierung vom überlieferten Böhme-Wissen. Zwar hatte bereits Reimmann nach dem Referat einer der bei Franckenberg überlieferten Anekdoten hinzugefügt: »Welches alles ob es in der That und Warheit alſo ergangen, das wollen wir ſo wenig vor gewiß bejahen, als verneinen.«48 Derlei Distanzierungsgesten treten aber bei Brucker gehäuft auf: »Rem ita accidiſſe eius narrant biographi« und ähnliche Distanzierungsformeln sind häufig.49 Insgesamt kann man sagen, dass Bruckers Darstellung Böhmes im Vergleich zu den Vorläufer-Darstellungen innerhalb der Historia literaria eine Tendenz zur Psychologisierung zugrunde liegt – die, wie anderen Beiträgen dieses Bandes zu entnehmen ist, bereits früher im Bereich des Dissertationsschrifttums oder auch in Daniel Colbergs Platonisch-Hermetischem Christenthum vorgeprägt 44 45

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Ebd., 1168. Zu Bruckers Unterscheidung von eklektischer und Sektenphilosophie Wilhelm SchmidtBiggemann: Jacob Bruckers philosophiegeschichtliches Konzept. In: Jacob Brucker (1696– 1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung. Hrsg. v. dems. u. Theo Stammen. Berlin 1998, 113–134, bes. 129, sowie Ulrich Johannes Schneider: Das Eklektizismus-Problem der Philosophiegeschichte. In: ebd., 135–158. Brucker 1743 (Anm. 42), 695 [§ XX]. Dieser Grund entspricht dem ersten Kriterium Reimmanns, welche Autoren man in die Darstellung aufzunehmen habe: jene, die von einer Sache zum ersten Mal geschrieben haben. Vgl. Grunert 2007 (Anm. 37), 67. Das vierte Kriterium, man solle auch jene aufnehmen, die am paradoxesten und sonderbarsten einen Gegenstand behandelt hätten, scheinen die meisten Historia-literaria-Autoren mit Blick auf Böhme für entscheidend zu halten. Brucker 1743 (Anm. 42), 696 [§ XXI]. Reimmann (Anm. 18), 423. Brucker 1743 (Anm. 42), 696 [§ XXI].

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war. Böhmes brennende Einbildungskraft und sein angeborenes Temperament hätten, so Brucker, zu einer ekstatischen Geistesverfassung geführt. Wie aber dieser Geisteszustand entstehe, wüssten jene, »qui conditionem humani cerebri intelligunt«.50 Mit Hilfe der Annahme eines überhitzten Gemüts lassen sich nach Brucker sowohl die ganze Anlage von Böhmes Philosophie als auch seine verschiedenen Erleuchtungserlebnisse sowie der merkwürdige Begriffsgebrauch psychologisch erklären. Das Urteil, dass Böhmes Philosophie dunkel sei, übernimmt Brucker ebenfalls. Allerdings ist die in dem Zusammenhang verwendete metaphorische Bildersprache bei Brucker viel stärker ausgeprägt als bei seinen Vorläufern. Leitend wird die dichotomische Hell-dunkel-Metaphorik. Die psychologische Erklärung von Böhmes Schriften erkläre alle Irritationen »luce meridiana clarius«.51 »[L]ucem et ordinem« suche man dagegen in Böhmes Schriften vergeblich;52 stattdessen finde man überall »obſcuritas nocti denſiſſimae ſimilis«.53 Den alten Verdacht, Böhme habe seine Schriften nicht selbst verfasst, greift Brucker auf und macht daraus eine Theorie doppelter Autorschaft, wie sie bereits bei Hinckelmann und Colberg diskutiert wurde: Ein Gelehrter müsse dem kenntnislosen Böhme bei der Abfassung seiner Schriften geholfen haben, anders könne man sich nicht erklären, dass darin gelehrte Begriffe wie »philoſophia, aſtrologia, principium, elementum, qualitas, corpus, forma, ſubſtantia, ſpecies« vorkämen.54 Schreibfehler, die in den Schriften aufträten, schreibt Brucker dann dem kenntnislosen Schuster zu; etwa dass Böhme statt ›Mercurius‹ ›Marcurius‹ schreibe und ›Saliter‹ statt ›Salpetra‹. Die bei Heumann ausführlich entwickelte Überlegung, Böhme habe zuviel imaginatio, dafür aber zu wenig iudicium besessen, greift Brucker auf und verstärkt sie rhetorisch: Hätte Böhme, so Brucker, mehr iudicium besessen, das seinen Geist in seinen Grenzen gehalten hätte, dann hätte man ihn »inter praclariſſima [sic] recentioris aetatis ingenia« zählen können, so aber seien die Trugbilder seiner Einbildungskraft »velut e tripode dicta«.55 Mit dem Bild des Dreifußes des Sehers spielt Brucker womöglich auf Platons Kritik des dichterischen Enthusiasmus an, der den seiner Sinne nicht mächtigen Dichter dazu bringt, »das auf ihn Einströmende willig hervorquellen« zu lassen.56 So bringt Brucker Böhme in Zusammenhang mit der philosophisch kritisierten Seher-Dichtung. Den polemischen Höhepunkt von Bruckers Ausführungen zu Böhme bildet der ostentativ zum Scheitern gebrachte Versuch, den Traktat De tribus principiis rational zu rekonstruieren und seine Hauptthesen als verständlichen Argumentationszusammenhang ins Lateinische zu übersetzen. Den Versuch bricht 50 51 52 53 54 55 56

Ebd. Ebd., 698 [§ XXII]. Ebd., 698 f. Ebd., 701. Ebd., 699. Ebd., 700. Armin Müller: Art. »Enthusiasmus«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter u. a. Bd. 2. Basel 1972, 525–528, hier: 525. Vgl. Plat. Leg. 719c. Brucker spricht auch von »Boehmii deliramenta«, Brucker 1743 (Anm. 42), 695 [§ XX].

Jacob Böhme in der Historia literaria

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Brucker schließlich ab mit dem Fazit: »Non penetrabimus altius in hanc ſyluam denſiſſimam, et quo longius mirus generationum et emanationum architectus progreditur, eo obſcuriorem.«57 So viel könne man immerhin sagen: In Böhmes Philosophie laufe alles darauf hinaus, dass Gott als Quell aller Dinge und Essenzen betrachtet werde, aus dem alles Seiende in immer neuen Emanationen herausfließe58 – der Lehrsatz also, den Hinckelmann, auf den Brucker an dieser Stelle explizit verweist, als Grundirrtum Böhmes ausgezeichnet hatte.59 Bruckers Polemik gegen Böhme wird unterstützt durch eine Rhetorik der Kommunikation: Brucker adressiert wiederholt den Leser und nimmt dessen negatives Urteil gegenüber Böhme vorweg. Nach der erwähnten, gescheiterten Rekonstruktion von Böhmes Gedankengang leitet Brucker sein Fazit ein: »Ex his vero nebulis Lectorem liberemus, licet ſatis obſcura et incomprehenſibilia ſint«.60 Und zum Schluss seiner Ausführungen verweist er auf die Amsterdamer Ausgabe von 1682. Hierin könne man mehr Schriften Böhmes lesen, »quibus diutius cum taedio Lectoris inhaerere non licet«.61 Bevor ich an die bisherigen Ausführungen einige allgemeine abschließende Überlegungen zur Böhme-Rezeption in der Historia literaria anfüge, möchte ich das bisher Gesagte in drei Punkten zusammenfassen: 1.) Bei der Untersuchung der Rezeption Böhmes durch die Historia literaria kann man mehr über die Rezipienten lernen als über den Rezipierten – und das, obwohl es sich um einen Fall unauffälliger Rezeption handelt, der es um die Tradierung von Wissen geht, nicht um die originelle, kreative Umformung. 2.) Obwohl die Autoren der Historia literaria in erster Linie Wissen tradieren möchten, unterscheiden sich die Darstellungen zu Böhme mit Blick auf Leitperspektiven, dominante Topoi, Ausführlichkeit der Darstellung und die jeweilige Position innerhalb der Ordnung des jeweiligen Werks. Nun könnte man einwenden: Insofern die Historia literaria vor allem mit der Zwecksetzung antritt, Wissen zu erschließen und nicht intellektuell originell zu sein, mag es sein, dass man diese Unterschiede nicht zu wichtig nehmen sollte – großenteils geht es den jeweiligen Autoren nur um irgendeine Erschließungsheuristik und Darstellungsform. Das stimmt aber nur zum Teil: Die unterschiedlichen Darstellungsweisen sind eben nicht völlig kontingent: Morhof wirkt diskursprägend durch die Hervorhebung der Nicht-Zugehörigkeit Böhmes zur Gelehrtenwelt und der Dunkelheit von dessen Schriften; Struve führt diese Dunkelheit auf eine grundsätzliche Unzugänglichkeit gegenüber rationaler Rekonstruktion zurück; Reimmann dagegen exerziert an Böhme das Ideal ausführlicher und unparteilicher Darstellung; Dahlmann konzentriert sich auf die Frage, ob der ungelehrte Böhme seine Schriften selbst verfasst haben konnte; Heumann zeigt, inwiefern Böhme als unphilosophischer Enthusiast und Phantast zu klassifizieren ist; Bernhard greift die Deutung Böhmes als Spinozist auf; Stolle betont 57 58 59 60 61

Ebd., 702 [§ XXIII]. Ebd., 704. Vgl. dazu den Beitrag von Martin Mulsow in diesem Band. Brucker 1743 (Anm. 42), 704. Ebd., 705.

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aus moralisierender Perspektive, dass Böhmes Schriften keine guten Bücher sind. 3.) Brucker integriert in seiner Philosophiegeschichte die meisten dieser Perspektiven auf und Topoi über Böhme, radikalisiert die Bewertung Böhmes aber im Sinne aufgeklärter Kritik. Das schlägt sich auch rhetorisch in der Verschärfung der Polemik nieder.

4. Böhme und die Literärgeschichte Das Ideal des allumfassenden Wissens, das die Historia literaria von den Polyhistoren des 17. Jahrhunderts übernimmt, ist vor dem Hintergrund drohenden Verlusts oder auch wahrgenommenen Mangels zu sehen: Das Bewusstsein der Gelehrten ist in der Zeit ziemlich ausgeprägt für den Umstand, dass der erreichte Wissensstand durchaus gefährdet ist, abstrakt durch Vergessen, konkret durch Katastrophen, die die Wissensbestände dezimieren oder auslöschen. Im hier untersuchten Fall geht es um den drohenden Verlust des Wissens um die Kulturgeschichte der mehr oder weniger unmittelbaren Vergangenheit am Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis. Nun ist es so, dass die Literärhistoriker durchgängig Böhmes Bücher nicht für gute Bücher halten, die überliefert werden sollten. Aus verschiedenen Gründen wird er in den Werken trotzdem erwähnt und thematisiert: Erstens natürlich, weil Böhme am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert durchaus kein vergessener Autor ist, seine Anhänger für zahlreich gehalten werden und man ihnen nicht die Deutungshoheit über ihren Helden überlassen möchte. Zweitens aber auch aus der traditionell-gelehrten Vorstellung heraus, dass selbst ein aus Sicht der Literärhistoriker nicht empfehlenswerter Philosoph wie Böhme ein Teil der res publica literaria ist, über die der Leser einen Überblick erhalten soll. So gilt er als per se wert der Erinnerung und der kritischen Auseinandersetzung. Es gilt jedoch mutatis mutandis, was Friedrich Vollhardt über die Böhme-Rezeption bei Hinckelmann geschrieben hat: Auch in den Texten der Historia literaria verliert »das Werk Böhmes eher an Kontur […], da es in eine Reihe gleichartiger Irrlehren gestellt wird und damit nur ein […] Beispiel für den Umgang mit dissidenten Positionen liefert […].«62 Daniel Fulda beobachtet in der Zeit um 1700 einen Wandel vom ›traditionellen‹, am Ideal universalen Wissens orientierten, zum modernen, politisch-galanten Modell gelehrten Verhaltens.63 Das trifft wohl nur für Teile der Gelehrten62 63

Vollhardt (Anm. 24), 100. Daniel Fulda: Von der Polyhistorie zur modernen Wissenschaft. Zum politisch-galanten Gelehrtenideal der Frühaufklärung. In: Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Ulrich Johannes Schneider. Berlin/New York 2008, 281–288. Fuldas Hauptgewährsmann für seine These ist Christian Thomasius. Zu dessen für die Historia literaria folgenreicherer Orientierung der Gelehrsamkeit an den Idealen der Nützlichkeit und der »zur Glückseligkeit[ ] führende[n] Praxis« vgl. Frank Grunert: Die Pragmatisierung der Gelehrsamkeit. Zum Gelehrsamkeitskonzept von Christian Thomasius und im Thomasianismus. In: Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Hrsg. v. Ulrich Johannes Schneider. Wiesbaden 2005, 131–153, hier: 143.

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republik zu; die zeitgenössischen Literärhistoriker machen diesen Wandel nicht oder nur in Ansätzen mit. Vielleicht liegt hier ein Moment, das Böhme bei aller Kritik zu einer interessanten, begrenzt anschlussfähigen Figur werden lässt: Er repräsentiert einen Gelehrten, der seine Ideen gänzlich unbeeinflusst von gesellschaftlichem Erfolg und von kollegialer Anerkennung betreibt. Was Böhmes Philosophie für die Literärhistoriker nicht anschlussfähig erscheinen lässt, hat erstens mit dem Umstand zu tun, dass sie ihren Werken ein durchgängig säkulares Gelehrsamkeitsideal zugrunde legen, und zweitens damit, dass aus Sicht der Historia literaria das Wissen vornehmlich aus den Büchern kommt. Aus dieser Perspektive muss eine Konzeption wie die Böhmes, die ihr Wissen aus göttlicher Offenbarung zu beziehen vorgibt, gänzlich obsolet erscheinen.64 Was hier aber für Böhme spricht, ist sein Protestantismus: Durchgängig betonen die Literärhistoriker, dass an Böhmes pietas als Anhänger der lutheranischen Konfession kein Zweifel sei65 – auch das ein bereits im 17. Jahrhundert geprägter und verbreiteter Topos. Auch die Historia literaria fußt in einer protestantisch geprägten Weltsicht, wenngleich sie sich in völlig anderer Weise ausprägt als bei Böhme. Das protestantische Moment in der Historia literaria liegt in dem Leitideal protestantischer Gelehrsamkeit, das Zedelmaier mit Blick auf die res publica literaria des 16. Jahrhunderts auf das Schlagwort Bibliotheca universalis gebracht hat – gegen das katholische Ideal der Bibliotheca selecta.66 Die Historia literaria repräsentiert eine späte Ausprägung dieses protestantisch geprägten Gelehrsamkeitskonzepts. Wenn man auch Bruckers Konzept der kritischen Philosophiegeschichte in diese Dichotomie einpassen möchte, dann wird man sagen müssen, dass der in einer gemischtkonfessionellen Umgebung tätige Protestant Brucker67 Elemente der Ideale von Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta kombiniert und mit Blick auf ein modernes Geschichtsverständnis weiterentwickelt. Dass der Protestant Brucker den Protestanten Böhme in diesem Rahmen umso polemischer angeht, hat aber vor allem mit der ›rationalistischen‹ Basis zu tun, auf der Brucker agiert. Vor allem Martin Gierl hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Historia literaria ein wissensgeschichtliches Schwellenphänomen darstellt: Einerseits kann sie als Spät- und Schwundform polyhistorischer Enzyklopädik betrachtet werden, andererseits als wegweisende Vorstufe aufgeklärter Wissenschaft.68 Auch unter diesen beiden Gesichtspunkten muss ein Autor wie Böhme, insofern er sein 64

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Vgl. in dem Zusammenhang Sibylle Rusterholz: Zum Verhältnis von Liber Naturae und Liber Scripturae bei Jacob Böhme. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz, Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994, 129–146. Morhof (Anm. 8), Bd. 1, 93; Bd. 2, 166; Bd. 3, 554 f. Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln u. a. 1992. Vgl. dazu Etienne François: Bruckers Stellung in der Augsburger Konfessionsgeschichte. In: Jacob Brucker (1696–1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung. Hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Theo Stammen. Berlin 1998, 99–109. Vgl. den Problemaufriss Martin Gierl: Bestandsaufnahme im gelehrten Bereich: Zur Entwicklung der ›Historia literaria‹ im 18. Jahrhundert. In: Denkhorizonte und Handlungsspielräume. Historische Studien für Rudolf Vierhaus zum 70. Geburtstag. Göttingen 1992, 53–80, bes. 55–57.

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Dirk Werle

Wissen weder aus Büchern noch aus rationaler Reflexion zu beziehen vorgibt, sondern aus göttlicher Offenbarung, suspekt erscheinen. In den literärgeschichtlichen Darstellungen Böhmes finden sich aber Elemente beider Konzeptionen von Gelehrsamkeit, die die Thematisierung Böhmes trotzdem nahe legen: einerseits Elemente des polyhistorischen Objektivitäts- und Neutralitätsideals, nach dem zunächst einmal alle Autoren und Werke erfasst und referiert werden müssen, andererseits die aufgeklärt-kritische Perspektive, nach der man mit Hilfe philosophischer Kritik auch aus dem Falschen lernen könne – je nach Konzeption des betreffenden Werkes tendieren die Darstellungen eher nach der einen, eher nach der anderen Seite. Eine Entwicklung lässt sich vor allem erkennen, wenn man Bruckers Philosophiegeschichte heranzieht, die das kritische Ideal radikalisiert.

Hanns-Peter Neumann

Die Rezeption des englischen Böhmismus im LeibnizWolffianismus (Canz, Ploucquet, Schelling sen.)

1. Ein Kapitel aus der Rezeptionsgeschichte des englischen Böhmismus in der deutschen Frühaufklärung – Die Metaphysica des Böhmisten John Pordage more geometrico demonstrata 1715 erschien bei Johann Martin Hagen in Frankfurt/Leipzig eine deutsche Übersetzung von Manuskripten des englischen Böhmisten John Pordage mit dem Titel: Göttliche und Wahre Metaphysica, Oder Wunderbahre/ durch eigene Erfahrung erlangte Wissenschafft Der unsichtbaren und ewigen Dinge […].1 Während die beiden letzten Bände des insgesamt dreibändigen Werkes in der Tat Übersetzungen von Traktaten John Pordages darstellen,2 besteht der gesamte erste Band aus einer ausführlichen Einführung in das metaphysische System und in die Persönlichkeit des englischen Böhmisten.3 Der anonyme Verfasser hat seine »Einleitung« in die Metaphysica in zwei Bücher aufgeteilt, die insgesamt rund 700 Seiten umfassen. Das erste und bei weitem umfangreichste Buch ist der Versuch, die philosophischen, physikalischen und theologischen Prinzipien Pordages zu rekapitulieren und diese mit dem »Systema der alten Hebräer« und mit den »Zeugnüsse[n] der Alten« – der anonyme 1

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[John Pordage/Anonymus (Hrsg.):] Göttliche und wahre METAPHYSICA, Oder Wunderbahre/ und durch Erfahrung erlangte Wissenschafft/ Der unsichtbaren und Ewigen Dinge: Nemlich von denen unsichtbaren Welten/ Als der Göttlichen/ der Ewigen Natur/ der Englischen/ der Hölle und Paradißischen/ ihren Einwohnern/ deren Regierung/ Gestalt/ Sprache/ Verrichtung und andern Wundern; dergleichen noch nie ans Licht gekommen/ so lang die Welt gestanden/ Durch Johann Pordädschen/ Der Artzney Doctor, Aus seinen MSptis getreulich gezogen/ Nebst einer Einleitung Jn die darin enthaltene Materien/ Aus dem Englischen mit besonderm Fleiß übersetzt. Matth. 13.35. Jch will aussprechen Dinge/ die verborgen gewesen von Grundlegung der Welt her. Frankfurt a. M./Leipzig 1715. [John Pordage:] Göttliche und wahre METAPHYSICA, Oder Wunderbahre/ und durch Erfahrung erlangte Wissenschafft/ Der unsichtbaren und Ewigen Dinge/ Entdeckt durch D. Johann Pordädsche/ Zweyter Band/ Jn sich haltend drey Tractat Als von der Ewigen Welt/ Von der Ewigen Natur/ Und von der Englischen Welt. Frankfurt a. M./Leipzig 1715; [John Pordage:] Göttliche und wahre METAPHYSICA, Oder Wunderbahre/ und durch Erfahrung erlangte Wissenschafft/ Der unsichtbaren und Ewigen Dinge/ Entdeckt durch D. Johann Pordädsche/ Dritter Band/ Jn sich haltend Den vierten und fünfften Tractat Von der Finstern Welt/ und von dem Paradies. Frankfurt a. M./Leipzig 1715. [Anonymus:] Göttliche und wahre METAPHYSICA, Oder Wunderbahre/ und durch Erfahrung erlangte Wissenschafft/ Der unsichtbaren und Ewigen Dinge/ Entdeckt durch D. Johann Pordädsche/ Erster Band/ Jn sich haltend die Einleitung Jn Zwey Büchern. Frankfurt a. M./ Leipzig 1715. Im Folgenden zitiert als »Met. Einleitung«.

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Hanns-Peter Neumann

Verfasser beschränkt sich bei seinem Rekurs auf die Antike und Spätantike, auf die Pythagoreer und die Kirchenväter – zusammen zu denken.4 Das zweite Buch referiert die Persönlichkeit John Pordages im Stile einer frommen, gelehrten Hagiographie, die die göttliche Inspiration des englischen Böhmisten betont und die Übereinstimmung der Ansichten John Pordages mit der Theosophie Jakob Böhmes nachweist. Mit den eingeschobenen »Auslegungen etlicher Wörter«5 rechtfertigt der anonyme Verfasser die Terminologie, die er bei der Doxographie und Übersetzung der Werke Pordages verwandt hat. Im Unterschied zu früheren Übersetzungen von Werken Pordages ins Deutsche fällt folgende Eigentümlichkeit der Metaphysica ins Auge:6 Die gesamte Metaphysica ist in Paragraphen aufgeteilt, die die böhmistische Theosophie Pordages in Lehrsätzen und in der Widerlegung von Gegenargumenten abhandeln. Vor allem in seiner »Einleitung« legt der anonyme Übersetzer in der Tat großen Wert darauf, das von Pordage vertretene böhmistische Lehrgebäude im demonstrativen Verfahren, more geometrico, darzulegen. Es geht ihm um den Nachweis, 4 5 6

Met. Einleitung, zum »Systema der alten Hebräer«, 405–477 (§§ 143–146), zu den »Zeugnüsse[n] der Alten«, 477 – 533 (§§ 147–156). Ebd., 577 ff. Vgl. z. B. folgende Übersetzungen: John Pordage: THEOLOGIA MYSTICA: oder Geheime und verborgne göttliche Lehre von den Ewigen unsichtbarlichkeiten: als vom Mundô & Globô Archetypô, das ist/ vom rechtem Original Welt=Runde und uranfänglichen Haupt=Model oder Welt aller Welten/ Globen, Essentien/ Centren/ Elementen/ Principien/ und Schöpffungen/ wie sie Namen haben oder genannt werden mögen. Nicht aus vernünfftlichem Wissen/ sondern aus göttlich wesentlichem Schauen und Erkennen/ in Englischer Sprache beschrieben/ und noch aufn Sterbbette zum Drucke zu befördern anbefohlen von Einer Person von Qualität: J. P. M. D. Anietzo in unsere Mutter=Sprache übergesetzt […]. Amsterdam 1698; John Pordage: SOPHIA: das ist/ Die Holdseelige ewige Jungfrau der Göttlichen Weisheit: oder Wunderbahre Geistliche Entdeck= und Offenbahrungen/ so die theure Weisheit einer heiligen Seele gegeben. […] Empfangen und im Englischen 1675. Beschrieben durch Johannes Pordage M. D. Nunmehro aus dem Manuscripto übergesetzt und zum Druck befördert. Amsterdam 1699; John Pordage: Vier Tractätlein Des Seeligen Johannes Pordädschens M. D. Jn Manuscriptis hinterlassen: Und nun denen Liebhabern zu Gefallen übergesetzt: Das Erste I. Von der Aeussern Gebuhrt und Fleischwerdung JEsu Christi. Das Andre II. Von der Mystischen und innern Gebuhrt und Fleischwerdung JEsu Christi/ oder Seiner Gebuhrt in uns/ und unsrer Gebuhrt in Jhme. Worinnen die Natur der Wiedergebuhrt aus dem Grunde eröffnet wird. Das Dritte III. Vom Geiste des Glaubens/ und von den unterschiedlichen Graden und Arthen des Glaubens. Das Vierdte IV. Experimentale Entdeckungen von Vereinigung der Naturen/ Essenzen/ Tincturen/ Leiber/ Personen und Geister: denen vorgefügt sind einige Lehrsätze vom äussern und innern Menschen. […]. Amsterdam 1704. – Der Übersetzer der Amsterdamer Pordage-Ausgaben ist möglicherweise der aus Nürnberg vertriebene, in Utrecht als Schulmeister tätige, überzeugte Böhmist Loth Fischer, der zunächst Anhänger Johann Georg Gichtels war, sich dann unter dem Einfluss Jane Leads von Gichtel entfremdete und Leads Schriften ins Deutsche übertrug; vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Hrsg. v. Martin Brecht, Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler u. Hartmut Lehmann. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hrsg. v. Martin Brecht. Göttingen 1993, 405; ders.: ›Philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und mährischen Rock‹. Zu Zinzendorfs Kirchenverständnis. In: Aspekte der Zinzendorf-Forschung (Anm. 52), 19; zu Loth Fischers Zugehörigkeit zu pietistischen Kreisen in Nürnberg vgl. Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002, 242 ff.

Die Rezeption des englischen Böhmismus im Leibniz-Wolffianismus

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dass die böhmistischen Lehren den »gesunden Principiis«7 der Vernunft nicht widersprechen, »aus klaren unläugbaren Gründen«8 hergeleitet und in ein logisch kohärentes philosophisches System gebracht werden können. Damit stellt sich der anonyme Übersetzer explizit in Opposition zu einer, etwa im Titel der 1698 in Amsterdam erschienenen Übersetzung der Theologia Mystica anklingenden Auffassung, wonach die Theologie des John Pordage nicht aus »vernünfftlichem Wissen/ sondern aus göttlich wesentlichem Schauen und Erkennen« entwickelt worden sei.9 Der anonyme Übersetzer und Herausgeber der Metaphysica des John Pordage lehnt zwar nicht das »göttlich wesentliche Schauen« ab, er geht jedoch von der grundsätzlichen Vereinbarkeit von Vernunft und Glaube aus, wie sie u. a. Leibniz in seinem dem Essais de Théodicée vorangestellten Discours de la conformité de la foi avec la raison von 1710 proklamiert hat.10 Zur Absicht der Systematisierung der Spekulationen Böhmes im Sinne einer klareren Gliederung und eines transparenteren Stils, die bereits John Pordage dazu angeleitet hatte, die Lehren Böhmes so zu explizieren, dass möglichst vielen Lesern der Zugang zu Böhme erleichtert wird, gesellt sich folglich das Vorhaben der Mathematisierung respektive Rationalisierung böhmistischer Spekulationen, ein Vorhaben, das sich nun aber nicht auf Böhmes Schriften selbst, sondern vielmehr auf Pordages bereits vereinfachende Darlegung der Lehren Böhmes bezieht.11 Es gibt nun leider keinen Hinweis darauf, ob der anonyme Übersetzer Christian Wolffs 1712 erschienene sogenannte Deutsche Logik, die Vernünfftigen Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkäntnis der Wahrheit, oder die 1710 publizierten Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschafften gekannt und sich an der darin grundgelegten logischen Hermeneutik orientiert hat.12 Dem Anspruch oder der Erwartungshal7 8 9 10

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Met. Einleitung, »Summarischer Jnhalt Dieser Einleitung […]«, unpag. Ebd., »Vor=Erinnerung«, 4r. Vgl. Pordage, THEOLOGIA MYSTICA […] (Anm. 6). Zur Problematik des Verhältnisses von Vernunft und Glaube in Bezug auf den Leibniz-Clarke-Briefwechsel vgl. z. B. Ursula Goldenbaum: Philosophie im Spannungsfeld von Vernunft und Glauben. Das Beispiel des Briefwechsels von Samuel Clarke und Gottfried Wilhelm Leibniz. In: Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1998, 387–417. Zur Rezeption Böhmes in England vgl. Nils Thune: The Behmenists and the Philadelphians. A Contribution to the Study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries. Uppsala 1948, zu Pordage vgl. v. a. »Dr. Pordage as an Interpreter of Jacob Boehme’s Theosophy, 33 ff.; Martin Brecht: Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts. In: Geschichte des Pietismus (Anm. 6), 214: »Die Böhme vereinfachenden Schriften der ›Behmenists‹ wurden in Amsterdam ins Deutsche übersetzt.«; Brian J. Gibbons: Gender in Mystical and Occult Thought. Behmenism and its Development in England. Cambridge 1996, zu Pordage bes. 6–13; Manfred Brod: A Radical Network in the English Revolution: John Pordage and His Circle, 1646–54. In: English Historical Review 484 (2004), 1230–1253; William Reginald Ward: Early Evangelicalism. A Global Intellectual History, 1670–1789. Cambridge 2006, 48–49. Zur logischen Hermeneutik Wolffs vgl. Hanns-Peter Neumann: Hermeneutik im Wolffianismus. In: Hermeneutik, Methodenlehre, Exegese – Zur Theorie der Interpretation in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Günter Frank u. Stephan Meier-Oeser. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 379–421; vgl. auch Marianne Schröter: ›Von Erklärung einer mit Verstande geschriebenen

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tung, der sich der anonyme Verfasser mit seiner Einführung in das philosophische System Böhmes und Pordages stellt, entsprechen aber weitgehend die logischen Anforderungen und die rationalen Prinzipien, d. i. das Prinzip des Widerspruchs und das principium rationis sufficientis, die auch Leibniz und Wolff mit der Darlegung ihres philosophischen Systems verbunden haben. Weitaus wahrscheinlicher als eine mögliche Orientierung an der LeibnizWolff’schen Philosophie dürfte allerdings der Einfluss Isaac Newtons und Samuel Clarkes gewesen sein. Wäre der Leibniz-Clarke-Briefwechsel nicht erst 1717, sondern schon einige Jahre zuvor erschienen, würde man den Eindruck gewinnen, dass sich die »Einleitung« des anonymen Verfassers in die metaphysischen Lehren des John Pordage unmittelbar im Diskurs dieses Briefwechsels bewegten und gleichsam ein Theorieangebot unterbreiteten, in dem das Newton’sche Konzept des absoluten Raums mit dem Gottesbegriff Böhmes und Pordages zusammengeführt wird. Vermutlich war der anonyme Autor aber mit den Debatten vertraut, die sich an Samuel Clarkes A Demonstration of the Being and Attributes of God More particularly in Answer to Mr. Hobbs, Spinoza, And their Followers […] (London 1705), eine Schrift, die zu den Boyle-Lectures Clarkes gehört, entzündet haben.13 Wichtige Argumente, die in der Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Clarke, der in diesem Streit als Stellvertreter Newtons fungierte, ausgetauscht werden, sind hier bereits genannt.14 Hinzu kommt, dass auch Clarke, wie der Titel deutlich macht, sich am Leitbild des demonstrativen Verfahrens orientiert. Der anonyme Verfasser der »Einleitung« hatte also ausreichend paradigmatische Vorbilder, die ihm Veranlassung genug zu geben vermochten, die böhmistische Theosophie mit philosophischen, rationalen Argumenten zu untermauern. Ganz sicher aber kannte der anonyme Verfasser die Schriften Henry Mores, an dessen Descartes-Kritik er anknüpfte, Knorr von Rosenroths Kabbala denudata und Johann Stephan Rittangels lateinische Übersetzung des Sefer Jezirah (Liber Jezirah qui Abrahamo patriarchae adscribitur, Amsterdam 1642), die er im Abschnitt über das »Systema der alten Hebräer« als Belege der böhmistischen

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und insonderheit der Heiligen Schrift‹. Wolffs Hermeneutik – Aspekte ihrer Wirkungsgeschichte. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Wolffiana II.3 (Gesammelte Werke 103). Hrsg. v. Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph. Hildesheim u. a. 2007, 97 ff.; Luigi Cataldi Madonna: Die unzeitgemäße Hermeneutik Christian Wolffs. In: Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung. Hrsg. v. Axel Bühler. Frankfurt a. M. 1994, 26–42. Jenkin Thomas Philipps edierte 1713 eine lateinische Fassung der Clarke-Schrift: Jenkin Thomas Philipps: Historia Atheismi […] Cui accedit Samuelis Clark Tractatus Eximius De Existentia et Attributis Dei, Contra Spinosam Atque Hobbesium […]. Altdorf 1713. Eingehend diskutiert wurden die theologischen und naturphilosophischen Ansichten Clarkes u. a. im Briefwechsel zwischen Joseph Butler und Samuel Clarke, den Butler 1716 herausgab: Joseph Butler: Several Letters to the Reverend Dr. Clarke, from a Gentleman in Glocestershire, […] with the Dr’s Answers thereonto. London 1716. Zu Butler vgl. den Sammelband: Joseph Butler’s moral and religious thought. Hrsg. v. Christopher Cunliffe. Oxford u. a. 1992. Zu Clarkes Newtonianismus vgl. Jeffrey R. Wigelsworth: Samuel Clarke’s Newtonian Soul. In: Journal of the History of Ideas 70 (2009), 45–68; Larry Stewart: Samuel Clarke, Newtonianism, and the factions of post-revolutionary England. In: Journal of the History of Ideas 42 (1981), 53–72. Zu Clarkes Biographie vgl. James P. Ferguson: An Eigtheenth Century Heretic. Dr. Samuel Clarke. Kineton 1976, zu den Boyle-Lectures s. ebd., 23–34.

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Theologie des Lichts und des Raums heranzog.15 Die deutsche Teilübersetzung des Liber Jezirah, die der anonyme Verfasser angefertigt hat, ist womöglich die erste deutsche Übersetzung des Sefer Jezirah überhaupt.16 Warum aber sollte eine auf den Prinzipien des Satzes vom zureichenden Grunde und des Satzes vom Widerspruch fußende systematisierende Rationalisierung des Pordageschen Böhmismus um 1715 überhaupt erforderlich gewesen sein? – Die Antwort auf diese Frage fällt nicht sonderlich schwer. Denn in der »Vor=Erinnerung« nennt der Verfasser explizit die Leser, die mit der »Einleitung« adressiert werden sollten; das seien nämlich diejenigen Leser, die »studiret« haben.17 Bei diesem besonderen Klientel, den studierten Akademikern, zu denen sich auch der Verfasser zugehörig bekennt, stoßen die Schriften Böhmes und Pordages aus verschiedenen Gründen auf erheblichen Widerstand: Dann weil die meisten derselben der Art zu seyn pflegen/ wie ich auch gewesen/ daß sie bald alles verwerffen/ wann sie ein und andere Redens=Arten antreffen/ deren sie noch nicht gewohnt sind/ oder wann es das Ansehen hat/ als ob der Autor sich hier und dort wiederspreche/ oder daß die Sache sich in einer Offenbahrung gründt/ davon die Vernunfft nicht finden kann/ daß/ und warum es so sey/ oder doch daß es wahrscheinlich oder wenigstens nicht wieder die Vernunfft sey.18

Die Urteile über den dunklen Stil, über die Widersprüchlichkeit und Unbegründetheit der Lehren Böhmes und der Böhmisten werden vom anonymen Verfasser als Vorurteile bezeichnet, die auf einem oberflächlichen »Ansehen« beruhen,19

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Vgl. dazu den instruktiven Überblick bei Brian P. Copenhaver: Jewish Theologies of Space in the Scientific Revolution: Henry More, Joseph Raphson, Isaac Newton and their Predecessors. In: Annals of Science 37 (1980), 489–548. Vgl. auch John Tull Baker: An historical and critical examination of English space and time theories from Henry More to Bishop Berkeley. Bronxville (New York) 1930. Allgemein zur Geschichte der Raumtheorien vgl. Franz Sander: Die Entwicklung der Raumtheorien in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Halle (Saale) 1931; Max Jammer: Concepts of space: the history of theories of space in physics. Cambridge/Mass. 1954. – Der anonyme Verfasser lässt somit anders als der Hamburger Pastor und Orientalist Abraham Hinckelmann den Böhmismus in der jüdischen Kabbala wurzeln. Im Streit mit Johann Jakob Zimmermann hatte Abraham Hinckelmann in seiner Detectio Fundamenti Boehmiani (Hamburg 1693) genau das Gegenteil nachzuweisen versucht, dass Böhmes Theosophie nämlich nicht mit der jüdischen Kabbala kompatibel sei; vgl. dazu Martin Mulsow: Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann. In: Erzählende Vernunft. Hrsg. v. Günter Frank, Anja Hallacker u. Sebastian Lalla. Berlin 2006, 91–104, bes. 97 f. Ob der anonyme Verfasser der »Einleitung« in die Metaphysica mit den Hamburger Böhme-Streitigkeiten um 1693 vertraut war, ist mangels entsprechender Verweise im Text nicht zu beantworten. Ob sich in Johann Steudners Jüdische ABC Schul von dem Geheimnus dess dreyeinigen wahren Gottes und Schöpffers Jehova. Aus dem […] letzsten Spruch und Auslegung R. Mosis Botril, über dess Patriarchen Abraham ersten Satz cap. I. im Buch Jezirah, eröffnet und mit Christlichen Anmerckungen, aus mehrern Zeugnussen H. Schrifft und Jüdischen Rabbinen, bezeichnet und erklärt […] (Augsburg 1665) ebenfalls eine Teilübersetzung des Sefer Jezirah verbirgt, konnte ich mangels Autopsie bisher nicht überprüfen. Met. Einleitung, »Vor=Erinnerung«, 3v. Ebd., 3v–4r. Ebd., 4r.

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»Vorurtheile«,20 denen aber, werden die Lehren Böhmes und Pordages deutlich, d. h. philosophisch begründet präsentiert, abgeholfen werden könne. Der Böhmismus sollte auf diese Weise, durch die Adaptation einer wissenschaftlich seriösen Präsentation, unter Akademikern hoffähig gemacht werden, indem seinen Lehren zwar nicht der inspirative Offenbarungscharakter genommen, das Offenbarte aber in seiner Vereinbarkeit mit der Vernunft demonstriert werden sollte. Mit der in der summarischen Inhaltsübersicht bereits anklingenden Invektive gegen Cartesianer, Naturalisten, Atheisten und Spinozisten wird zugleich suggeriert, dass der philosophisch begründete Böhmismus orthodox und fromm sei, ja, dass seine Anhänger wichtige Mitstreiter im Kampf gegen den Cartesianismus, Atheismus, Materialismus und Spinozismus sein könnten, weil sie seriöse philosophische Argumente ins Feld zu führen wüßten, um der logisch persuasiven Versuchung, der man durch Spinozas more geometrico formulierte Ethica oder durch Descartes’ streng argumentativ verfahrende Principia philosophiae ausgesetzt sein mochte, widerstehen zu können.21 Dies aber hieß, den Böhmismus mit der gleichen mathematisch-logischen Überzeugungskraft zu versehen, wie sie Descartes oder Spinoza aufzuweisen hatten. Was lag dabei näher, als sich inhaltlich und methodisch nach den Descartes- und Spinoza-kritischen wissenschaftlichen Schriften Newtons und Clarkes, methodisch, jedoch inhaltlich kontrovers nach denjenigen Leibniz’ oder gegebenenfalls Wolffs zu richten und die von Descartes und Spinoza vorgegebene Methodik gegen diese selbst zu wenden? Der anonyme Verfasser der »Einleitung«, soviel ist jedenfalls klar, wollte den Böhmismus mit den gleichen methodischen Mitteln verteidigen und propagieren, die im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit in Gebrauch waren. Im Folgenden wird es um die kritische Auseinandersetzung gehen, die die böhmistischen Lehren des John Pordage, so wie sie von dem anonymen Autor einleitend in der Metaphysica dargestellt wurden, von Seiten dreier Leibniz-Wolffianer erfahren haben. Bei den drei Leibniz-Wolffianern handelt es sich um Israel Gottlieb Canz, Gottfried Ploucquet und Joseph Friedrich Schelling, den Vater des berühmten Philosophen. 1741 wurde unter dem Vorsitz des Tübinger Professors für Metaphysik und Logik Israel Gottlieb Canz die These disputiert und gegen Einwände verteidigt, dass Gott ein Geist und keineswegs ausgedehnt sei. Der größte Teil der Disser20 21

Ebd., 4v. Ebd., o. P., der »Vor=Erinnerung« vorangestellt: »Summarischer Jnhalt Dieser Einleitung/ Worin kürtzlich und gründlich gezeiget wird Die Wahre Lehre von Geistern/ GOtt/ dessen Zustand vor/ in/ und nach der Schöpffung/ der Schöpffung selbst/ den mancherley Welten/ dem Leben/ Tode/ Bilde GOttes/ Ursprung und Natur des Bösen/ Fall des Menschen/ authorität der Heil. Schrifft/ u. samt der Jüdischen urältesten Philosophia, &c. Denen Gelehrten und Ungelehrten sehr nützlich zu lesen/ Als ein Exempel/ Wie man nach gesunden Principiis philosophiren/ folglich GOtt und seine grosse Wunder/ wie auch sich selbst recht erkennen/ und für den Jrrthümern der falsch=berühmten Kunst der Cartesianer/ Naturalisten/ Atheisten/ Spinosisten und anderer sich hüten möge.«

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tation mit dem Titel Veritas Deus est Spiritus Idemque Neutiquam Extensus diskutiert breit zitierte Passagen aus dem 12. Kapitel der »Einleitung« in die 1715 erschienene Göttliche und wahre Metaphysica des böhmistischen Mystikers und Theosophen John Pordage, das u. a. die Größe und Weite Gottes thematisiert und expliziert. 1748 erschienen die Primaria Monadologiae Capita, die mit dem Accessit der Berliner Akademie anlässlich der Preisfrage zum naturwissenschaftlichen Explikationspotential der Leibniz’schen Monadologie ausgezeichnete Preisschrift des Canz-Schülers und erklärten Leibniz-Wolffianers Gottfried Ploucquet. Im vierten Kapitel der Preisschrift verhandelt Ploucquet die »stärksten« Einwände gegen die Existenz einfacher Dinge oder Monaden und führt gleich an erster Stelle den Autor der »Einleitung« in John Pordages Metaphysica an, aus dessen Kapitel über das Wesen des Geistes er zitiert, um das Zitierte zu kommentieren und zu widerlegen. 1756 disputierte Joseph Friedrich Schelling unter dem Vorsitz seines Lehrers in metaphysicis Gottfried Ploucquet das Konzept von den entia simplicia und geht in seiner gegenüber der Monadenlehre kritischen Dissertatio philosophica de simplicibus auch sehr kurz und prägnant auf die kabbalistischen und spinozistischen Implikationen der Metaphysica John Pordages ein. Zentrales Thema bei allen drei Auseinandersetzungen ist der Begriff des Raumes in seinen Auswirkungen auf den Gottesbegriff. Es wird also zunächst einmal nötig sein, die wichtigsten Punkte der in der Einführung verhandelten philosophisch oder more geometrico dargelegten böhmistischen Lehren zu rekapitulieren, die Gegenstand der Kritik geworden sind. Diese finden sich im ersten Kapitel über das Wesen des Geistes und im zwölften Kapitel über die Größe und Weite Gottes.

2. Das System der theosophischen Physik, Epistemologie und Metaphysik in der »Einleitung« zur Metaphysica des englischen Böhmisten John Pordage Der anonyme Verfasser der »Einleitung« geht zunächst vom empirischen Befund aus, dass es Bewegung und Veränderung in der Welt gebe.22 Die Bewegung in der Welt führt er auf die Wirkung einer bewegenden Kraft zurück, die auf leidende oder passive Körper ausgeübt wird.23 Dabei stelle die immaterielle, autonome Substanz, die man Geist nenne, die »bewegende Krafft«, »ein lauter Würcken«,24 das aktive Kraft- und Lebensprinzip schlechthin dar, während das Materiell-Körperliche das schlechthin passive Prinzip repräsentiere. Das Wesen eines Geistes besteht demnach in der Kraft, unmittelbar auf Körper einwirken zu können.

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Ebd., Cap. I, § 1, 3. Ebd., Cap. I, § 2, 3. Ebd., Cap. I, § 11, 5.

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Der influxus physicus immediatus, der hier vom anonymen Verfasser mit Aristoteles und gegen Descartes und Leibniz behauptet wird,25 beruht auf einer intentionalen Kraftentfaltung des Geistes: Ein Geist entfaltet seine Kraft, weil er sich kraft seines Willens dazu entschließt. Der Geist hat einen empfindenden, freien Willen – der Autor bemüht dafür die Begriffe der »Selbst=Entschliessung und Selbst=Richtung«26 –, d. h. der Geist empfindet das, was er potentiell wollen kann, und wählt unter den Objekten, die seine »Empfindungs=Krafft« empfindet, dasjenige aus, worauf er seine Entfaltungskraft beziehen will: »Der Wille empfindet/ und die Empfindungs=Krafft will: Und beyde zusammen machen nur ein einfaches Wesen aus/ welches das Centrum oder der innerste Grund des Geistes ist.«27 Der Wille stelle das »principium physicum« aller Bewegung, die Empfindung das »principium morale« oder die Zweckursache dar, »warum die Bewegung auf dieses oder jenes und nicht auf ein anderes Ding gehet.«28 In der herangezogenen Terminologie werden bereits diverse Einflüsse deutlich, derer sich der anonyme Verfasser bedient hat, so etwa im Terminus »Centrum«, der bei Böhme, aber auch in der von Knorr von Rosenroth rekonstruierten lurianischen Kabbala eine wichtige Bedeutung besitzt und den der anonyme Verfasser verwendet, um die freie, sich in die Weite erstreckende Kraft von Geistern als Partizipation an der Kraft der Selbstentfaltung und -erstreckung Gottes auszuweisen. Zudem finden sich gelegentlich Fußnoten oder in Klammern gesetzte Anmerkungen im Text, die für bestimmte Begriffe, die der Autor im Text gebraucht, das lateinische Äquivalent wiedergeben. So nennt der anonyme Verfasser für »lauter Würcken« das lateinische »merus actus« (§ 11), für »Würcksamkeit« entsprechend »activitas« (§ 14), für »Krafft« »vis« (§ 12), für »Selbst=Entschliessung und Selbst=Richtung« »propria determinatio suorum motuum & actuum« (§ 15).29 Das lateinische Äquivalent für ›Empfindung‹ fehlt bedauerlicherweise. Naheliegend wäre aufgrund der Hierarchisierung der »Empfindungs=Krafft« in Grade der Intensität der Begriff der sensatio oder sogar der Begriff der perceptio, sodass mit der Empfindungskraft die vis sensitiva oder gar die vis perceptiva angesprochen wäre, die sich, wie der anonyme Autor schreibt, in eine bewegende Kraft transferieren lasse. Mit perceptio würde der anonyme Verfasser einen wichtigen Terminus der rationalistischen Epistemologie aufgreifen, der bei Descartes, Leibniz und Wolff eine bedeutende Rolle spielt, und in die böhmistische Terminologie integrieren. Nun kommt der deutsche Terminus »Empfindungs=Krafft« auch in anderen Kontexten vor, die es erlauben, ausgehend von der geistigen Empfindung, von der der anonyme Autor in der »Einleitung« spricht, die Empfindung bereits als einen niederen Grad des Denkens zu bezeichnen. So hat Johann Jakob Scheuchzer den seelischen Ver25 26 27 28 29

Ebd., Cap. I, § 13, 5. Ebd., Cap. I, § 17, 6. Ebd., Cap. I, § 20, 7. Ebd., Cap. I, § 22, 8. Eine solche begriffliche Distinktion in »determinatio suorum motuum« und »determinatio suorum actuum« findet sich z. B. auch im Kommentar zur aristotelischen Metaphysik von Jean-Baptiste Du Hamel: Philosophia vetus et nova ad usum scholæ accommodata […]. Amsterdam 1700, Bd. 3, 191 ff., bes. 193.

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mögen des Willens und des Verstandes Empfindungskraft zugesprochen.30 Er erklärt die Empfindung zu einer dunklen Entdeckung der »Vorwürffe« (Objekte), während der Verstand zu einer »Wissenschaft der wahren Bildnussen von vorkommenden Dingen« gelange.31 Johann Michael Schwimmer benutzt den Begriff der »Empfindungs=Krafft« für die sensitiven Seelen der Tiere.32 Naheliegend scheint außerdem die Verwendung des Terminus »Empfindungs=Krafft« in Heinrich Horchs Die Filadelfische Versuchungs=Stunde/ Jn Ansehung des so genannten Ewigen Evangeliums […] (Marburg 1715). Horch sieht in der Empfindungskraft »ein Bild des unsterblichen GOttes« in der sündhaften Kreatur, eine dieser »eingepflantzte Begierde« und »Hungers=Qual/ so aus Ermangelung der seligen Gemeinschaft ihres gütigen Schöpfers« entsteht.33 – Der Begriff der Empfindungskraft lässt also auf einen bestimmten perzeptiv-sensitiven Grad geistigen Bewusstseins schließen, den dieses mit Tier- und Pflanzenseelen gemeinsam hat. Der vom anonymen Autor ins diskursive Spiel gebrachte Terminus der Empfindungskraft erinnert dann in der Tat sowohl an Leibniz’ und Wolffs Begriff der perceptio (bei Wolff beginnen die Vorstellungen oder Perzeptionen anders als bei Leibniz mit den sensitiven Perzeptionen)34 als auch an das Moment der böhmistischen und philadelphischen Lehre von der Begierde. Wie auch bei Horch drückt sich beim anonymen Verfasser der »Einleitung« die Empfindungskraft durch Wille und Begierde aus, deren letztes Ziel die Gemeinschaft mit Gott ist.35 Ohne letztlich eindeutige Bezüge herstellen zu können, lässt sich doch zumindest vermuten oder die These formulieren, dass im Begriff der Empfindungskraft, wie ihn der anonyme Autor in Szene setzt, eine Synthese philosophisch-epistemologischer mit theosophischer Terminologie vollzogen wird. Der empfindende Wille eines Geistes spürt, so der anonyme Verfasser weiter, ein Sehnen danach, sich mit seinem Gegenstand zu vereinen und sich in diesem zu realisieren. Ein Geist entfaltet sich, indem er sich in einer tätigen, bewegenden, auf den Gegenstand seines Willens gerichteten Kraft äußert. Diese Kraft – und hier beruft sich der anonyme Autor explizit auf Johann Baptist van Helmont – 30

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Johann Jakob Scheuchzer: Physica, oder Natur=Wissenschafft. Erster Theil. Zürich 21711 [11701], 317: »Gewiß ist hiermit/ daß der Mensch denket/ und zwahr allezeit […].«; ebd.: »[…] dann sie [die Seele] allezeit denket/ denket/ wann sie liebet/ empfindet/ zweiflet/ bejahet/ verneinet. […] so daß man dem Verstand und Wille wol zulegen kan die Empfindungskraft.« Scheuchzer (Anm. 30), 318. Johann Michael Schwimmer: Deliciae Physico-Hortenses, Oder Physicalische Garten=Lust […]. Erfurt 21702, 147. Heinrich Horch: Die Filadelfische Versuchungs=Stunde/ Jn Ansehung des so genannten Ewigen Evangeliums […]. Marburg 1715, 45. Zu Horch s. Martin Schmidt: Art. »Horch, Heinrich«. In: NDB. Bd. 9, 623–624. 1720 wird Heinrich Köhler den Begriff der perception in § 14 der Monadologie tatsächlich mit »Empfindung« übersetzen: »[…] ist nichts anders als dasjenige, welches man die EMPFINDUNG oder Perception nennet«; vgl. die synoptische Edition des französischen Originals, der deutschen Übersetzung Köhlers und der lateinischen Übersetzung von 1721 in Antonio Lamarra, Roberto Palaia, Pietro Pimpinella: Le Prime Traduzioni Della Monadologie Di Leibniz (1720–1721). Introduzione Storico-Critica, Sinossi Dei Testi, Concordanze Contrastive. Florenz 2001, 143 ff., hier: 150. Zur Begierde und zum »Hunger« vgl. Met. Einleitung, Cap. I, § 46 ff., 20 ff.

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nimmt in der kosmischen Hierarchie unterschiedliche Intensitäten an, von Mineralien und Erzen über Pflanzen und Tiere bis zum Menschen und zu Gott.36 Ein Geist hat demnach, je nach Intensität beziehungsweise je nach Beschränktheit seines Wesens, eine bestimmte Quantität an Stärke und Macht. Der anonyme Verfasser versucht nun, die Offenbarung der jeweiligen Kraftintensität als ein räumliches Umsichgreifen, als eine dreidimensionale Erstreckung, Ausstrahlung und Strahlkraft des Geistes auszuweisen, mittels derer sich dieser zugleich eine räumliche Größe und Gestalt gebe. Neben der Ausdehnung besitze ein Geist aber darüber hinaus auch die Fähigkeit, sich in seiner Ausdehnung wieder kontrahieren zu können.37 Die Vorstellung der kontrahierenden Fähigkeit des Geistes geht auf die Theorie des simsum aus der lurianischen Kabbala zurück, wie sie z. B. in Knorr von Rosenroths Kabbala denudata […] (Frankfurt a. M./Sulzbach 1677–1684) nachzulesen ist. Im Kapitel über das »Systema der alten Hebräer« rekurriert der anonyme Verfasser an mehreren Stellen auf die kabbalistische Lehre vom simsum, zitiert dafür allerdings nur geringfügig die Kabbala denudata und wesentlich ausführlicher aus Rittangels Übersetzung des Sefer Jezirah.38 Bedingung für die Möglichkeit der Existenz ausgedehnter Geister sei es, dass Substanzen ohne Ausdehnung nicht zu begreifen seien. Man mag sich zwar durch Abstraktion eine Substanz ohne Ausdehnung denken können; konkret aber, realiter, könne man sich eine Substanz nur ausgedehnt vorstellen, und so trete ein Geist real auch immer nur ausgedehnt auf.39 Mit explizitem Verweis auf die jüdische Gotteslehre sowie auf Böhme, Pordage, Hans Engelbrecht,40 aber auch auf die Heilige Theresa und Angela da Foligno beschreibt der anonyme Verfasser Gott daher keineswegs im metaphorischen, sondern im wörtlichen Sinne als »eine unendliche Weite [oder Ausdehnung] eines unbegreiflichen Liechts«, das »allen Dingen [räumlich] gegenwärtig ist/ nicht allein mit seiner Würckung/ sondern auch mit seinem Wesen«, in welchem »alle Dinge […] leben/ weben und sind.«41

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Ebd., Cap. I, § 23, 9. Ebd., Cap. I, § 40, 19. Ebd., Cap. XII, § 143, 406. Ebd., Cap. XII, § 145, 412–455 beinhaltet eine ausführliche Zitation in deutscher Übersetzung aus Rittangels Sefer Jezirah-Übertragung; zur Kontraktion vgl. ebd., 454: »[…] da wurde solches Licht [das göttliche Licht] einiger massen/ in sich zusammen gezogen/ und wiche von einem gewissen Punct rings herum von allen Seiten zurück/ also daß ein lediger Platz blieb/ genannt der leere Raum/ welcher gleichweit an allen Seiten entfernet war von dem besagten Punct/ der gantz genau in der Mitte war.« Ebd., Cap. I, § 28, 11. Zum ›Schwärmer‹ Hans Engelbrecht (1599–1642) s. Friedrich Wilhelm Bautz: Art. »Engelbrecht, Hans«. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 1. Hamm 1990, 1512. Engelbrecht wurde im späten 18. Jahrhundert als deutscher Swedenborg gehandelt, vgl. [Hans Engelbrecht]: Der Teutsche Swedenburg: oder: Hans Engelbrechts außerordentliche Aussichten in die Ewigkeit; nebst deßen merkwürdigen Leben und sonderbaren Schriften; als ein Pendant zu Swedenburgs sämmtlichen Werken. Amsterdam 1783. – Der anonyme Verfasser der »Einleitung« verweist auf Hans Engelbrecht: Eine wahrhafftige Geschicht und Gesicht von Himmel und Hellen. O. O. 1640, bezieht sich allerdings auf eine Ausgabe von 1697. Met. Einleitung, Cap. I, § 29, 11–12.

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Extension ist also eine Eigenschaft, die nicht nur der Materie, sondern auch dem Geist zugeeignet wird. Allerdings bezweifelt der anonyme Verfasser, dass das Hauptmerkmal der Materie, wie Descartes behauptet, in der Ausdehnung bestehe.42 So impliziere Ausdehnung keineswegs Teilbarkeit und Vergänglichkeit. Verantwortlich für Teilbarkeit und Vergänglichkeit sei vielmehr das Prinzip der »Zweyheit« sowie die reale Zusammensetzung von Körpern, während Unteilbarkeit und Unvergänglichkeit auf Einheit und »Einwesigkeit« zurückzuführen seien. Solange man nicht bewiesen habe, dass das Prinzip der Zweiheit nicht wesentlich ausgedehnt wäre oder Extension impliziere, sei auch nicht erwiesen, dass Ausdehnung per se mit Teilbarkeit einherginge und als Synomym für Materie oder Materialität aufzufassen sei – Gottfried Ploucquet wird später im Rekurs auf Leibniz diesen Beweis zu erbringen versuchen. So aber bliebe es durchaus denkbar und denkmöglich, dass Einheit und Ausdehnung miteinander vereinbar seien.43 Für seine Argumentation konnte sich der anonyme Verfasser auf die pythagoreische Dialektik zwischen dem monadischen und dem dyadischen Prinzip berufen, so wie sie bei Henry More und Ralph Cudworth aufgefasst worden ist. Vor allem die Raum- und Gotteslehre Henry Mores, die mit pythagoreischen und kabbalistischen Vorstellungen angereichert ist und die More in der kritischen Auseinandersetzung mit Descartes entwickelt hat, weist deutliche Überschneidungen mit der Argumentation des anonymen Verfassers der »Einleitung« auf. In den Abschnitten »Systema der alten Hebräer« und »Fernere Zeugnüsse der Alten« nennt er die Opera Philosophica Mores in der Londonder-Ausgabe 1679 und zitiert ausdrücklich aus der darin enthaltenen Schrift Enchiridion metaphysicum.44 Die gegen Descartes und womöglich auch gegen Leibniz und Wolff gerichtete Spitze einer solchen Argumentation liegt auf der Hand: Extensio und cogitatio, Ausdehnung und Denken schließen sich nicht notwendig aus wie dies der Cartesische Dualismus von res cogitans und res extensa, aber auch die LeibnizWolff’sche Unterscheidung von einfachen Substanzen und Komposita suggeriert. Teilbarkeit komme der Ausdehnung nämlich nicht per se und de facto zu, sondern resultiere aus der Beschränktheit unseres Verstandes, der, um die Dinge erfassen und verstehen zu können, diese gedanklich in Teile zerlege beziehungsweise die Welt nur in Teilen zu betrachten vermöge, weil er sie in ihrer Einheit und Gesamtheit nicht überblicken könne.45 Irrtum resultiert folglich aus der verkehrten Anwendung des Verstandes, wenn man nämlich das Ergebnis der ideellen, mentalen Operation der Teilung auf die Realität selbst projiziert. In Wirklichkeit sind Ausdehnung und Raum selbst unteilbare Einheiten, eine Tatsache, die der anonyme Verfasser für so selbstevident hält, dass seiner Ansicht nach Ausdehnung 42 43 44 45

Ebd., Cap. I, § 30, 12–13. Ebd., Cap. I, § 31–33, 13–14. Eine sehr gute Darstellung der kabbalistisch und pythagoreisch beeinflussten Raumtheorie Mores findet sich bei Copenhaver (Anm. 15), 515–529. Met. Einleitung, Cap. I, § 34, 14.

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und Raum keiner weiteren Definition und Erklärung mehr bedürften. Wolffianer wie Canz und Ploucquet werden später die behauptete Selbstevidenz der Einheit des Raumes bestreiten und den Vorwurf erheben, der Autor der »Einleitung« in die Metaphysica John Pordages stelle unbegründete Behauptungen auf. Immerhin aber führt der anonyme Verfasser neben dem Äther auch das Sonnenlicht als Beispiel für etwas unteilbar Ausgedehntes an, um die behauptete Selbstevidenz der Unteilbarkeit von Ausdehnung und Raum zu erhärten: Dann lieber theile doch einmal/ wenn du kanst [und dies zu können, wird rhetorisch verneint!]/ dieses äusserliche Sonnen=Licht in wesentliche Stücke/ und zeige uns ein Theiligen/ das von seinem Gantzen abgesondert wäre: verschließ es in ein Glaß/ und hebe es auf zum Gebrauch; so wirst du eine treffliche Leuchte haben.46

Die mentale Teilbarkeit des Lichts wird zugestanden, keineswegs aber die reale physikalische Separierbarkeit des Lichts in Lichtteile. Diese nämlich sei empirisch nicht bezeugt. So unteilbar wie das Sonnenlicht sei nun auch das weitaus subtilere Licht Gottes sowie der unendliche, ungeschaffene und ewige »Raum aller Dinge« (spatium),47 der auch ohne die Präsenz von Körpern eine extramentale Existenz besäße, mitunter nicht als bloßes Erzeugnis der Imagination zu werten sei: »[…] der Raum,« so heißt es, »ist nicht unzertrennlich eins mit dem Cörper; nicht die Wesenheit oder das Wesen des Cörpers: nicht aller Raum ist geschaffen von GOtt.«48 Wie Letzteres zu verstehen ist, verdeutlicht der anonyme Verfasser explizit mit folgender Aussage: »Derowegen muß man nothwendig einen ungeschaffenen und ewigen Raum erkennen.«49 – Würde man den ungeschaffenen und ewigen Raum als Körper auffassen, dann würde »diese gantze sichtbare Welt/ GOtt selbst seyn/ und alle besondere Dinge werden nichts anders seyn/ als so mancherley Modificationes oder Beschaffenheiten GOttes.«50 Darin aber bestehe der »wahre Spinozismus«, den der anonyme Verfasser als natürliches »Kind der Cartesianischen Philosophie« bezeichnet.51 Daraus folgt aber, dass der böhmistische Raumbegriff in seiner Interpretation durch den anonymen Verfasser die Vorstellung einer unkörperlichen, immateriellen, unteilbaren Extension impliziert, die zugleich mit einer theologischen Licht-Physik und -Metaphysik assoziiert ist. Der Cartesische Dualismus von res cogitans und res extensa ist vor diesem Hintergrund genauso wenig aufrecht zu erhalten wie der Monismus Spinozas. Die cogitatio vermag durchaus, so der anonyme Verfasser, als räumliche Erstreckung, als atmosphärische Ausbreitung und Ausdehnung ohne Materialität konzipiert zu werden, ohne sich in Kontradik46 47 48 49 50 51

Ebd., Cap. XII, § 19, 349. Ebd., Cap. XII, § 25, 351. Ebd., Cap. XII, § 32, 354. Ebd., Cap. XII, § 46, 361. Ebd., Cap. XII, § 38, 358. Ebd., Cap. XII, § 38, 358. Vgl. dazu die Stelle in Spinoza: Ethica II, Prop. 2: »Extensio attributum Dei est, sive Deus est res extensa.«

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tionen zu verstricken. Damit widerspricht der anonyme Verfasser explizit dem im 17. und 18. Jahrhundert kursierenden Cartesischen Argument »Deus cogitat. Ergo non est extensus.«52 Er ist allerdings so vorsichtig, dies nur zu konjizieren und die widerspruchfreie Annahme der Assoziierbarkeit von Denken und Ausdehnung herauszustellen: Daß die Gedancken eine Beschaffenheit der Weite/ oder die Weite eine Beschaffenheit der Gedancken seyn/ sage ich nicht. Daß aber GOtt nicht könne in einer einfachen Substanz diese beyde Realitäten vereinigen/ und unzertheilet mit einemmal herfür bringen/ das sehe ich nicht. Vielmehr sehe ich wol selbstständige Wesen/ die nicht gedencken/ aber ich kan kein Denckendes mir fürstellen/ das/ so weit es eine warhafftig verhandene [sic!] Substanz ist/ gar keine Weite habe. Dahero deucht mich/ die unterste Realität/ so aller Substanz gemein ist/ seye die Extension; die höhere aber und nicht so gemeine sey das Gedencken.53

In der Opposition von teilbarer körperlicher und unteilbarer unkörperlicher Ausdehnung bleibt hingegen ein moderater Dualismus bestehen, auch wenn das immateriell Ausgedehnte unmittelbar auf das materiell Ausgedehnte einwirken kann.54 Die Unterschiede der substanziellen realitates sind indes nur gradueller Natur. Obgleich die geschaffenen »Realitäten« durchaus eigenständige Wesen sind, stellen sie dennoch nur beschränkte Ausprägungen ihres »vollkommene[n] ursprüngliche[n] Muster[s] in GOtt« dar, der »auf die vollkommenste Art ein weit um sich greifendes Wesen« ist.55 Nun hütet sich der anonyme Verfasser zwar, den ungeschaffenen ewigen Raum offen mit Gott zu identifizieren. Er schreibt Gott jedoch Ausdehnung als Merkmal seiner konkreten realen Existenz zu: Gott ist, wie eben zitiert, ein »auf die vollkommenste Art […] weit um sich greiffendes Wesen.«56 Dadurch aber besitzt er die Fähigkeit, allem Existierenden seinem Wesen und seiner Kraftwirkung nach räumlich gegenwärtig zu sein. Dabei spezifiziert der anonyme Verfasser nicht eindeutig, ob der ungeschaffene ewige Raum nur das Medium ist, in das die göttliche Kraft ausstrahlt, oder ob er die Ausdehnung Gottes selbst sein soll. Gleichwohl tendiert er zu einer merkwürdigen Synthese beider Alternativen, wenn er, zwischen sensus abstractus und sensus concretus differenzierend, sagt, dass der Raum das Wesen Gottes »in sensu concreto« sei.57 Damit ist gemeint, dass die Räumlichkeit Gottes jenes göttliche Attribut vorstellt, durch das Gott – in sensu concreto anders als in sensu abstracto, in dem das Attribut im Prozess des rationalen Denkens von dessen Träger abstrahiert und mitunter sogar hypostasiert werde, immer als Substrat seiner Eigenschaft mitgedacht – »sich um und um in

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Ebd., Cap. XII, § 131 (Anm. [b]), 398. Ebd., Cap. XII, §§ 111–113, 387–388. Eine ähnliche Differenzierung zwischen materieller und immaterieller Ausdehnung findet man in der Naturphilosophie Pierre Gassendis, so wie sie von François Bernier dargestellt worden ist; vgl. François Bernier: Abrégé de la philosophie de Mr. Gassendi. Paris 1674, 5 ff. Met. Einleitung, Cap. XII, § 116, 393. Ebd. Ebd., Cap. XII, § 55, 365.

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die Weite erstrecket«58 und allen Dingen in seiner Unermesslichkeit präsent ist »wie das Licht allen durchsichtigen Dingen gegenwärtig ist/ die in dem Licht sind.«59 Die räumliche Allgegenwart Gottes aber, die äußerste alles durchdringende Subtilität der Ausstrahlung und Strahlkraft des göttlichen Wesens bedingt dessen Empirizität und somit auch die Idee, die wir, in einem gleichsam sinnlichen Offenbarungsakt, vom göttlichen Wesen haben können. Genau in diesem Kontext argumentiert der anonyme Autor der »Einleitung« auch konsequent gegen die Cartesische Lehre von den ideae innatae und setzt dieser entgegen, dass »alle Erkäntnuß […] ihren Ursprung von den Sinnen/ das ist/ von der wesentlichen Empfindung der Dinge selbst« haben müsse.60 Empfindung fasst der anonyme Verfasser dabei freilich in einem sehr weiten Sinne auf, der an das bereits oben Erwähnte anschließt: Unter den Begriff der Empfindung subsumiert er nicht nur die äußeren sinnlichen Wahrnehmungen, sondern auch die inneren und »innigsten«, d. h. »wesentliche[n]« Empfindungen, zu denen er unter Berufung auf Pierre Poirets Fides et Ratio collatae […] (Amsterdam 1708) die Erscheinungs- und Wirkweisen des Gewissens, der »Triebe und Bewegungen zu dem wahren Gut« und die Wirkungen des »göttlichen Wortes« zählt.61 Auf diese Weise hinterlassen die empfundenen Dinge, die man sich wohl als sinnliche, emotionale und kognitive Ereignisse vorstellen muss, in uns ihre Spuren, ihre Gedächtnisbilder und Ideen. Die besondere Fähigkeit des Verstandes besteht nun darin, aus diesen Ideen selbsttätig neue Verknüpfungen bilden und Dinge hypothetisch konstruieren zu können, »die er wircklich nicht empfindet/ noch empfunden hat/ oder deren Eigenschafften er nicht alle empfunden hat/ und die wir doch gleichwol gerne wissen wolten.«62 In dieser Selbsttätigkeit des menschlichen Verstandes verortet der anonyme Verfasser den »Ursprung aller Jrrthümer«.63 Irrtum entsteht, sobald die Konjekturalität der mentalen Konstruktion von empirisch nicht oder nicht eindeutig belegten Dingen zugunsten der Annahme aufgegeben wird, dass die Dinge a priori mit unseren Ideen übereinstimmen und sich an diesen orientieren müssten. So ist, wie bereits erwähnt, für den anonymen Verfasser die Idee der Teilbarkeit des Raumes fälschlich auf die Realität projiziert worden, obwohl der Raum nur mental, d. h. nur imaginär teilbar sei. Um solchen Irrtümern abzuhelfen, bedarf es des göttlichen Beistandes. Im Falle des göttlichen Beistandes nämlich berührt Gott unsere Imagination oder Bildungs=Krafft durch seine eigene/ anfänglich in seinen Gedancken gemachte Ideen/ und bringt dadurch die unserige zurechte mehr oder weniger/

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Ebd., Cap. XII, § 57, 366. Ebd., Cap. XII, § 56, 365. Ebd., Cap. XII, § 91, 379. Ebd., Cap. XII, § 91, 379. Vgl. Pierre Poiret: Fides et Ratio Collatae […]. Amsterdam 1708, Praefatio, 48 ff. Met. Einleitung, Cap. XII, § 91, 379–380. Ebd., Cap. XII, § 90, 378.

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nachdem wir Jhm getreu seyn/ Jhn fleissig darum bitten/ oder nach dem Werck/ wozu er uns gebrauchen will.64

Die inspirative Korrektur des Verstandes durch die vom Verfasser hervorgehobene »Berührung« Gottes ist, so heißt es, aber ein exklusiver Glücksfall, der nur wenigen widerfährt. Zu diesen wenigen rechnet der anonyme Autor Jakob Böhme und John Pordage. Die extramentale Existenz eines absoluten, unteilbaren, leeren Raumes gehörte zu denjenigen Theoremen, die Newton und Clarke gegen Leibniz vertreten haben, der, wie auch Wolff, den Raum als imaginären, kognitiven Ordnungsbegriff verstanden hat. Dass auch ein denkendes Wesen nicht als existent vorstellbar sei, wenn man ihm die Ausdehnung und Räumlichkeit abspräche, ist ein Argument, das sich bei Samuel Clarke durchaus häufiger findet, so etwa im Brief an Joseph Butler vom 28. November 1713: […] and nothing can possibly be conceived to exist without thereby presupposing Space: Which therefore apprehend to be a Property of the Self existent Substance. […] Extension indeed does not belong to Thought, because Thought is not a Being; But there is Need of Extension to the existence of every Being, to a Βeing which has or has not Thought […].65

In einem Schreiben an Butler vom 29. Januar 1714 wird Clarke noch genauer, indem er die »Self existent Substance« als »Substratum of Space« definiert,66 eine Definition, die sich auch beim anonymen Verfasser der »Einleitung« in die Metaphysica des John Pordage findet. Die Idee des Raumes sei die Idee einer Relation, die notwendig existieren müsse, selbst aber keine Substanz sei. Vielmehr sei sie das real-existierende Attribut der »Self existent Substance«, von dessen Existenz die Existenz des Raumes abhänge.67 Die allgemeine philosophische Begründung dafür gibt Clarke bereits in A Discourse Concerning the Being and Attributes of God […] (London 1706). Hier heißt es in der dritten Proposition: »For modes and attributes exist only by the existence of the substance to which they belong.«68 In der gleichen Proposition leitet Clarke die Existenz des leeren Raums oder Vakuums daraus ab, dass Flüssigkeiten nicht überall den gleichen Widerstand aufweisen, sie also durch Leerräume unterbrochen sind: »Therefore all space is not filled with matter; but, of necessary consequence, there must be a vacuum.«69 In der Kontroverse zwischen Leibniz und Clarke respektive Newton geht es unter Anderem um Newtons Umschreibung des Raums als eines sensorium Dei. Hier werden die Parallelen zwischen der »Einleitung« in die Metaphysica und der Clarke-Newton’schen Raumkonzeption noch deutlicher, etwa wenn der Raum als 64 65 66 67 68 69

Ebd., Cap. XII, § 91, 380. Butler (Anm. 14), 17. Ebd., 27. Ebd., 27 f. Samuel Clarke: A Discourse Concerning the Being and Attributes of God […]. London 1768 [London 11706], B 8r. Clarke (Anm. 68), B 13r.

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»wirklich unteilbar, so sehr er auch gedanklich teilbar ist« und als göttliches Attribut definiert wird, das mit der Allgegenwart Gottes einhergeht.70 Selbst wenn der anonyme Verfasser der »Einleitung« in die Metaphysica die erstmals 1717 erschienene Leibniz-Clarke-Korrespondenz nicht zu berücksichtigen vermochte und möglicherweise auch Clarkes Raumkonzeption von 1705/06 nicht wahrgenommen hat, so konnten dem aufmerksamen zeitgenössischen Leser die Ähnlichkeiten zwischen dem englischen Böhmismus, dem Cambridger Platonismus und dem Newtonianismus nicht unbemerkt bleiben.

3. Die kritische Rezeption des böhmistischen Raum- und Gottesbegriffs bei Israel Gottlieb Canz Zwischen dem Erscheinen der Göttlichen und Wahren Metaphysica 1715 und der Dissertation des Tübinger Leibniz-Wolffianers und Professors für Logik und Metaphysik Israel Gottlieb Canz,71 die sich mit der Einführung des anonymen Verfassers in die Metaphysik des John Pordage auseinandersetzt, liegen 26 Jahre. Möglicherweise erklärt diese Zeitspanne, warum sich Canz und schließlich auch Ploucquet und Schelling sen. nur auf das erste und das letzte Kapitel des aus zwölf Kapiteln bestehenden ersten Teils des ersten Buches der »Einleitung« beziehen: So wird in keiner Weise auf die Sophien-Mystik, auf die innergöttliche Entfaltung sowie auf die schöpferische Entfaltung Gottes in die Welt, kurz auf

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Samuel Clarke: Der Briefwechsel mit G. W. Leibniz von 1715/16. Hrsg. u. übers. v. Ed Dellian. Hamburg 1990, Clarkes zweite Entgegnung 4, 22; Clarkes dritte Entgegnung 3, 35: »Der Raum ist nicht ein Wesen, ein ewiges und unendliches Wesen, sondern eine Eigenschaft oder eine Folge der Existenz eines unendlichen und ewigen Wesens. […] Denn der unendliche Raum ist einer, wirklich und wesentlich unteilbar.«; Clarkes vierte Entgegnung 8–10: »Der von Körpern leere Raum ist das Merkmal einer unkörperlichen Substanz. […] Der leere Raum ist keine Eigenschaft ohne Subjekt; denn unter leerem Raum verstehen wir nie einen von allem, sondern nur einen von Körpern leeren Raum. In jeglichem leeren Raum ist sicherlich Gott gegenwärtig […] Der Raum ist keine Substanz, sondern ein Merkmal; und ist er ein Merkmal des Notwendigen, so wird er folglich […] notwendig existieren. […] Denn der Raum und die Dauer sind nicht hors de Dieu, sondern sie sind durch seine Gegenwart verursacht […].«; Clarkes fünfte Entgegnung 36–48: »Gott existiert nicht im Raum und in der Zeit, sondern sein Dasein verursacht Raum und Zeit.«, das bedeute nicht, »daß Raum und Zeit von ihm verschiedene Wesenheiten sind, in denen er existiert.« Zu Canz vgl. Matthias Wolfes: Art. »Canz, Israel Gottlieb«. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. XVIII. Herzberg 2001, 243–256, sowie Christoph Kolb: Die Aufklärung in der Württembergischen Kirche. Stuttgart 1908, 28–34. Michael Franz danke ich an dieser Stelle für die Bereitstellung seines Manuskripts zu Canz’ Biographie, vgl. nun die veröffentlichte Fassung in: The dictionary of eighteenth-century German philosophers. Hrsg. v. Heiner F. Klemme. Bd. 1. London u. a. 2010. Canz gehörte schon in den späten 1720er Jahren durch seine damals berühmt gewordene und von Wolffianern überschwenglich begrüßte Schrift Philosophiae Leibnitianae et Wolffianae usus in theologia, per praecipua fidei capita (Frankfurt a. M./Leipzig 1728) neben Georg Bernhard Bilfinger zu den bekanntesten Wolffianern.

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die theosophischen, theogonischen und kosmogonischen Spekulationen Böhmes und Pordages rekurriert. Die Beschränkung auf die Diskussion des böhmistischen Gottes- und Raumbegriffs lässt sich jedoch aus dem Kontext heraus gut begründen. Nicht umsonst verweisen Canz und nach ihm Ploucquet auf den brieflich ausgefochtenen theologischen, metaphysischen und physikalischen Diskurs zwischen dem Newtonianer Samuel Clarke und Leibniz. Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel, der von 1715 bis zum Oktober 1716 dauerte und durch Leibniz’ Tod im November 1716 unterbrochen wurde, ist erstmals 1717 in London publiziert worden.72 Herausgegeben und übersetzt von Heinrich Köhler erschien die Leibniz-Clarke-Korrespondenz schließlich 1720 samt der ebenfalls von Köhler ins Deutsche übersetzten Antwort, die der Lieblingsschüler Wolffs Ludwig Philipp Thümmig auf Clarkes fünftes Schreiben gegeben hat, das Leibniz aufgrund seines Todes nicht mehr hatte beantworten können.73 1740 erfuhr der Leibniz-Clarke-Briefwechsel zusammen mit Thümmigs Antwort nicht nur eine Neuauflage, sondern erschien zudem noch in einer lateinischen Fassung – allesamt von Wolffianern oder zumindest Wolff-Sympathisanten initiierte Editionen.74 Nicht zu vergessen ist Pierre Des Maizeaux’ Recueil de diverses 72

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A collection of papers, which passed between the late learned Mr. Leibnitz, and Dr. Clarke: in the years 1715 and 1716. Relating to the principles of natural philosophy and religion. With an appendix. To which are added, Letters to Dr. Clarke […] from a gentleman of the university of Cambridge: […] Also Remarks upon a book, entituled, A philosophical enquiry concerning human liberty. London 1717. Merckwürdige Schrifften/ Welche auf gnädigsten Befehl Jhro Königl. Hoheit der CronPrinceßin von Wallis/ Zwischen dem Herrn Baron von Leibnitz/ und dem Herrn D. Clarcke/ über besondere Materien der natürlichen Religion/ in Frantzös. und Englischer Sprache gewechselt, und nunmehro mit einer Vorrede Christian Wolffens/ Königlichen Preußischen Hof-Raths/ P. P. O. und dermahlen Pro-Rectoris auf der Universität zu Halle/ Nebst einer Antwort Herrn Ludwig Philipp Thümmigs/ auf die fünffte Englische Schrifft/ Wegen ihrer Wichtigkeit in teutscher Sprache heraus gegeben worden/ von Heinrich Köhlern. Frankfurt a. M. 1720. – Vgl. zu dieser Ausgabe Emile Ravier: Bibliographie Des Œuvres De Leibniz. Hildesheim u. a. (ND der Ausg. Paris 1937), Nr. 351, 196. Unter Nr. 352 listet Ravier Köhlers Übersetzung eines unbetitelten Manuskripts von Leibniz auf: Lehr Sätze über die Monadologie. Frankfurt a. M./Leipzig 1720. In dieser Ausgabe ist ebenfalls der Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke enthalten. [Caspar Jacob Huth (Hrsg.):] Des Freyherren von Leibnitz kleinere philosophische Schriften. als I. Lehrsätze von den Monaden zur Erläut. der Theodicee II. Verthaidigung seiner Harmonie wider Baylen III. Geheimniß der Schöpfung nach seiner Dyadik IV. Mit Herrn D. Clarken gewechselte Schriften nebst V. Herrn Thümmigs Antwort auf Herrn Clarkens leztes Schreiben und VI. Herrn Prof. Köhlers Discurs über das Licht der Natur/ mit einer Vorrede Herrn Christian Wolffs Dermahligen Königlichen Preusischen Hofraths P. P. O. und Prorectoris auf der Universität Halle ehedem von dem Jenaischen Philosophen Herrn Heinrich Köhler teutsch übersetzet nun auf das neue übersehen von M. Caspar Jacob Huth der teutschen Gesellschaft in Jena Senior. Jena 1740. – Huth war ein Schüler Köhlers, der dessen Übersetzungen in überarbeiteter Fassung erneut herausgab. Vgl. Ravier (Anm. 73), Nr. 412, 235–236. – Samuel Clarke/Leibniz: Viri ill. Godefr. Guil. Leibnitii Epistolarum pentas, Una cum totidem responsionibus D. Samuelis Clarckii. Accedunt […] Lud[ovici] Phil[ippi] Thummigii ad ultimam responsionem Clarckianam instantia, et Samuelis Koenigis dissertatio De theoria virium vivarum seu De mensura virum, quae corporibus in motu constitutis insunt; Ultima hac Diss. excepta, reliqua omnia latin donavit, & adjectis notis uberius illustr.

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Pièces sur la Philosophie, la Religion naturelle, l’Histoire, les mathematiques, etc. par Mrs Leibniz, Clarke. Newton et autres Autheurs célèbres, 1720 in Amsterdam erstmals publiziert, 1740 in erweiterter Fassung erneut herausgegeben. Im Recueil ist auch der Leibniz-Clarke-Briefwechsel in französischer Sprache enthalten.75 Hinzu kam 1741 eine deutsche Teilübersetzung der sogenannten Boyle-Lectures Samuel Clarkes, zu denen die 1705 gedruckte Demonstration of the being and attributes of God gehört.76 Eine ähnliche editionsgeschichtliche Konjunktur in den späten 1730er- und frühen 1740er Jahren feierten die Schriften Isaac Newtons: So erschien die von Clarke ins Lateinische übersetzte Schrift Newtons zur Optik Optice Sive de reflexionibus, refractionibus, inflexionibus et coloribus lucis Libri tres erstmals 1706, dann 1719 und schließlich 1740. Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica wurden erstmals London 1687, in erweiterter, verbesserter Fassung London 1714 und schließlich 1739 bis 1742 in einer kommentierten Version in Genf ediert. Kurzum: Die Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Newton und in der Folge zwischen Leibniz-Wolffianern und Newtonianern war seit 1713/14 bis in die 1750er Jahre hochaktuell und nicht zuletzt aufgrund des Prioritätenstreits zwischen Leibniz und Newton zur Frage, wer den calculus, den Infinitesimalkalkül respektive die Fluxionsrechnung erfunden habe, auch hochbrisant.77 Wolff hatte sachlich und wissenschaftspolitisch, gerade hinsichtlich der Kontroverse zwischen Leibniz und Newton, bewusst das Erbe Leibniz’ angetreten. Die LeibnizNewton-Kontroverse beziehungsweise der Streit zwischen Leibniz-Wolffianern und Newtonianern kulminierte schließlich in der Monadenpreisfrage der Berliner Akademie auf das Jahr 1747 und im Streit um die vis viva und die Methode de

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Nicolaus Engelhard, Phil. & Math. Prof.; Ad calcem libri adjecta est G(odefridi) G(uilielmi) Leibnitii Caussa dei asserta per Justitiam ejus […] Carmine Hexam. reddita. Groningen 1740. Vgl. Ravier (Anm. 73), Nr. 411, 235. Vgl. die genauen bibliographischen Angaben zur Des Maizeaux-Ausgabe von 1720 und 1740 bei Ravier (Anm. 73), Nr. 354, 198–200 u. Nr. 410, 233 f. Samuel Clarke: Ein Auszug aus Dr. Samuel Clarkes überzeugendem Beweise des Wesens und der Eigenschaften Gottes. Diese Teilübersetzung findet sich in: Vertheidigung der natürlichen und geoffenbarten Religion, oder Gilbert Burnets Auszug der von Robert Boyle gestifteten Reden. Aus d. Engl. übers. von Elias Caspar Reichard, durchges. u. zum Dr. befördert von Siegmund Jacob Baumgarten. Leipzig 1738–1741. Vgl. dazu z. B. Jason Socrates Bardi: The calculus wars. Newton, Leibniz, and the greatest mathematical clash of all time. London 2006; Joachim O. Fleckenstein: Der Prioritätsstreit zwischen Leibniz und Newton. Basel 1956. – Zu Leibniz’ Rezeption der Principia Newtons vgl. Domenico Bertoloni Meli: Equivalence and priority: Newton versus Leibniz: including Leibniz’s unpublished manuscripts on the Principia. Oxford, Berlin 1993. – Zur Kontroverse zwischen Newtonianern und Wolffianern vgl. R. S. Callinger: The Newtonian-Wolffian Controversy (1740–1759). In: Journal of the History of Ideas 30 (1969), 319–330; Thomas Ahnert: Newtonianism in early Enlightenment Germany, c. 1720 to 1750: metaphysics and the critic of dogmatic philosophy. In: Studies in History and Philosophy of Science 35 (2004), 471–491.

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minimis et maximis zwischen Maupertuis und Samuel König 1752/53.78 Die Leibniz/Wolff-Newton-Kontroverse war es denn auch, die für die über den anonymen Herausgeber der Metaphysica vermittelte Rezeption des englischen Böhmismus bei Canz und Ploucquet entscheidend gewesen ist. Die Rezeption des englischen Böhmismus im Leibniz-Wolffianismus der Tübinger Schule verband sich mit dem Versuch, die Nähe der bereits bei Johann Christoph Gottsched als obskure Schwärmerei diffamierten Anschauungen Böhmes und Pordages zum sogenannten Newtonianismus aufzuzeigen und diesen als besondere Form mathematisch-physikalischer Schwärmerei auszuweisen,79 deren Manko in der richtigen Applikation philosophischer respektive logischer Methodik lag, ein Manko, das, wie Canz ausdrücklich feststellt, die Entstehung von Häresien zu verantworten habe: »Nicht die Philosophie selbst, sondern deren mangelnde Kenntnis bringt Häretiker hervor.«80 Den folgenschwersten Fehler der Newtonianischen Mathematici und der Böhmisten sah man darin, dass das mathematisch Imaginäre für real und das Reale für imaginär gehalten würde. Dabei konnte man auf die frühen Invektiven Wolffs gegen die mathematici Newton und Clarke zurückgreifen. Schon in seiner Besprechung der 1717 in London erschienenen Collection of Papers, which 78

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Zu den Monadenstreitigkeiten vgl. Laurence L. Bongie: Introduction. In: Etienne Bonnot de Condillac: Les Monades. Oxford 1980, 9–107, bes. 21 ff.; Cornelia Buschmann: Die philosophischen Preisfragen und Preisschriften der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert. In: Aufklärung in Berlin. Hrsg. v. Wolfgang Förster. Berlin 1989, 165–228, bes. 182 ff.; Roberto Palaio: Berlino 1747. Il dibattito in occasione del concorso dell’ Accademia della Scienze. In: Nouvelle de la République des Lettres 1993/1, 91–119; Juan Arana: La Mecánica y el Espíritu. Leonhard Euler y los origines del dualismo contemporáneo. Madrid 1994, 19–85; Barbara Bauer: Die Anfänge der Berliner Académie Royale des sciences im Urteil der gelehrten Öffentlichkeit. In: Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Aufklärung. Hrsg. v. Klaus Garber, Heinz Wismann u. Winfried Siebers. Tübingen 1996, Bd. 2, 1413–1453, bes. 1430 ff.; Martin Mulsow: Monadenlehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1747–1760. Hamburg 1998, 1–12; HannsPeter Neumann: ›Den Monaden das Garaus machen‹ – Leonhard Euler und die Monadisten. In: Mathesis & Graphé. Leonhard Euler und die Entfaltung der Wissenssysteme. Hrsg. v. Horst Bredekamp u. Wladimir Velminski. Berlin 2010, 121–155; Johannes Bronisch: Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus. Berlin/New York 2010, 232–305. – Zum Vis-viva-Streit vgl. u. a. Helmut Pulte: Das Prinzip der kleinsten Wirkung und die Kraftkonzeption der Rationalen Mechanik. Eine Untersuchung zur Grundlegungsproblematik bei Leonhard Euler, Pierre Louis Moreau de Maupertuis und Joseph Louis Lagrange. Stuttgart 1989, bes. 64 ff.; Ursula Goldenbaum: Das Publikum als Garant der Freiheit der Gelehrtenrepublik. Die öffentliche Debatte über den Jugement de L’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres sur une Lettre prétendue de M. de Leibnitz 1752–1753. In: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. Hrsg. v. Ursula Goldenbaum. Tl. 2. Berlin 2004, 511–651. Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst […]. Leipzig 41751 [Leipzig 11730], 93. Israel Gottlieb Canz (Praeses), Heinrich Christoph Bilfinger, Johann Christian Zeller, Johann Friedrich Baumann (Respondentes): Veritas Deus est Spiritus Idemque Neutiquam Extensus, Academico Discursu Philosophice Adversus Mysticos, Philosophos, Atheos, Asserta, Vindicata. Tübingen 1741, § 92, 33: »Nec Philosophia ipsamet, sed manca ejus cognitio, haereses parit.«

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passed between the late learned Mr. Leibniz and Dr. Clarke hatte es Wolff nicht an deutlichen Worten gegenüber Clarke und Newton fehlen lassen. Mangelnde metaphysische Expertise führe dazu, dass die Mathematik »den Ungeheuern der Einbildung, die für die Naturerkenntnis ein Hindernis darstellen, erliegt.«81 In die gleiche Richtung zielt Wolffs Differenzierung von Metaphysik und Mathematik in seinem Vorwort zu den Merckwürdigen Schrifften: Unerachtet die metaphysischen Wahrheiten von einer ganz andern Beschaffenheit sind, als die mathematischen; so daß auch blose Mathematici dazu nicht aufgeleget sind, sondern wenn sie darüber kommen, gemeiniglich nur leeren Einbildungen nachgehen: so kan man doch durch Exempel aus der Mathematik, sonderlich der Algebra, die metaphysischen Begriffe nicht wenig erläutern.82

Die mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie, die Newton beschrieben hatte, ersetzt Wolff durch die metaphysischen Prinzipien der Mathematik, die ihrerseits allenfalls zur Exemplifizierung metaphysischer Begriffe herangezogen wird. Die Naturphilosophie aber, die sich allein auf mathematische Prinzipien stützt, erklärt Wolff zu einem Bereich »leerer Einbildungen«. Auf diesen Bereich »leerer Einbildungen« verweist Wolff noch einmal am Schluss seines Vorworts zu den Merckwürdigen Schrifften, wenn er Clarke attestiert, dieser »hänget noch sehr an den Sinnen und der Einbildung, daraus die gemeinen Vorurtheile fliesen [sic!], wodurch die Wahrheit in der Metaphysik aufgehalten wird.« Zum mathematisch Imaginären zählten nun aber gerade der Raum- und der Zeitbegriff. So konnte man die gleichen Argumente, die man gegen Clarke und Newton vorbrachte, auch gegen den böhmistischen Herausgeber und Übersetzer der Schriften John Pordages applizieren. Einige Argumente, die Canz und Ploucquet gegen Pordage und dessen Herausgeber und Übersetzer geltend machen, sind denn auch unmittelbar Leibniz’ Briefen an Clarke entlehnt, die die gleiche Problematik thematisierten. Dazu gehört z. B. das Argument, das Leibniz im vierten Brief an Clarke anführt, wonach der absolute und leere Raum unter der von Clarke gemachten Bedingung, dass der Raum keine Substanz, sondern eine Eigenschaft sei, die als Folge der Existenz eines ewigen und unendlichen Wesens ausgewiesen wird, Eigenschaft von etwas sein müsse. Nur welcher Substanz, so Leibniz’ rhetorische Frage, sollte der Raum »als Eigenschaft oder Zustand zukommen?«83

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Gottfried Wilhelm Leibniz: Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel. Hrsg. und übers. von Volkmar Schüller. Berlin 1991, 278 (Textanhang: »Wolffs Besprechung der englischen Originalausgabe in den Acta Eruditorum von 1717«); vgl. Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Jean École u. a. II. Abteilung: Lateinische Schriften, Bd. 38.1: Sämtliche Rezensionen in den Acta Eruditorum (1705–1731), Tl. 1. Hrsg. v. Hubert A. Laeven u. Lucy J. M. Laeven-Aretz. Hildesheim u. a. 2001, 975 (Acta Eruditorum, Mensis Octobris A. MDCCXVII., 446): »[…] sed in explicanda natura non sufficere Mathesin solam, quin potius eam citra Metaphysicae verioris subsidium monstra imaginationis parere, cognitioni Naturae obicem ponentia […].« Köhler (Anm. 73), Vorrede Wolffens, b3r–b3v. Clarke (Anm. 70), Leibniz’ Vierter Brief 8, 43.

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Clarke hatte, wie schon erwähnt, darauf geantwortet, dass der Raum Eigenschaft einer unkörperlichen Substanz sei.84 Canz und Ploucquet zitieren und explizieren diese von Leibniz unbeantwortet gelassene rhetorische Frage, indem sie dieses Mal aber nicht gegen Clarke, sondern gegen den anonymen Herausgeber von Pordages Metaphysica argumentieren. Eine Eigenschaft ohne Dinge, denen sie zukommt, sei ein ens abstractum.85 Ein extramundaner leerer Raum aber sei eine Eigenschaft ohne Dinge. Also müsse er eine abstrakte Vorstellung sein, die ausschließlich im Geist des Abstrahierenden existiere, aber keine extramentale Realität beanspruchen könne: »Du siehst also«, so Canz in einer direkten Adresse an den anonymen Verfasser der Einführung, den er unter die mystici zählt und als »doctissimus Pordaetschii Editor«86 anspricht, »dass dein Raum bloß ein imaginärer Raum ist.«87 Über die noch recht moderaten polemischen Äußerungen hinaus, die etwa die vom anonymen Autor behauptete Selbstevidenz der Einheit des Raums und bisweilen die Kompetenz des anonymen Verfassers in metaphysicis et logicis in Frage stellen, widmet sich Canz ausführlich der Widerlegung der »Einleitung« des anonymen Verfassers in die Metaphysica des John Pordage. Dabei gesteht Canz dem anonymen Autor immerhin die besten, nämlich fromme Absichten zu und spricht ihn, obwohl er die »Stimme Spinozas« zu vernehmen vermeint,88 vom möglichen Vorwurf des Spinozismus frei: »Ich glaube,« so Canz ausdrücklich, »dass du unschuldig und frei von einem solchen Vergehen bist.«89 Ganz schlüssig ist diese gönnerhafte Geste freilich nicht. Denn in den an die Widerlegung des Böhmisten anschließenden Ausführungen zu Hobbes, Clarke und Spinoza wird implizit deren inhaltliche Nähe zu den böhmistischen Lehren des anonymen Verfassers herausgestellt, indem mitunter Argumente, die Canz bereits gegen den Herausgeber der Metaphysica angeführt hat, nun gegen die von Canz explizit zu Atheisten erklärten Hobbes, Clarke und Spinoza mit nahezu gleichem Wortlaut wiederholt werden.90 Nur gegenüber Andreas Rüdiger, der laut Canz allein deswegen annehmen würde, dass die Seele – freilich nur das seelische subjectum, nicht aber die Seele als immaterielles Ebenbild Gottes – ausgedehnt sei, weil er den influxus physicus immediatus zwischen Seele und Leib begründen wolle, verhält sich Canz ähnlich zurückhaltend wie gegenüber dem anonymen böhmistischen Verfasser.91 Dennoch deutet Canz zumindest die scheinbare 84 85

86 87 88 89 90 91

Ebd., 53. Canz (Anm. 80), § 39, 14–15: »Affectio sine rebus, queis competit, spectata, est ens abstractum. Atqui extensio, seu spatium, extra mundum, vacuum, est affectio sine rebus. Abstracta igitur idea est. Abstracta vero non existunt nisi in mente abstrahentium.« Ebd., § 8, 4. Ebd., § 40: »Vides ergo, spatium tuum esse imaginarium […].« Ebd., § 58, 22: »Agnosco Spinozae vocem.« Ebd.: »Te innocentem, & hujus sceleris purum esse, credo.« Zu Hobbes und dessen Auffassung, dass die Natur Gottes ausgedehnt sei, vgl. ebd., § 106 ff.; zu Spinoza vgl. §§ 129 ff., 50–56. Zu Rüdiger vgl. ebd., § 115 ff., 44–49. Canz bezieht sich dabei kritisch auf Andreas Rüdigers »Praefatio« an den Leser. In: Andreas Rüdiger: Herrn Christian Wolffens Meinung von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt; und D. Andreas Rüdigers, Gegen-Meinung. Leipzig 1727, Praefatio, unpag., §§ 16–30.

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Nähe Rüdigers zu John Pordage an (»Nolim tamen hanc ipsi sententiam tribuere« [Hervorh. d. Verf.]).92 Auch Christian Thomasius kommt, was die luminöse Ausdehnung des göttlichen Wesens betrifft, bei Canz, jedoch auch nur vorsichtig und andeutungsweise, in das Fahrwasser des englischen Böhmisten (»Nescio quid ille Thomasius de natura Dei statuerit […].« [Hervorh. d. Verf.]).93 Besonders auffällig aber ist nun die Kritik Canz’ an Clarkes Raumbegriff. Da Canz in der Auseinandersetzung mit der Raumkonzeption des anonymen Verfassers der »Einleitung« in die Metaphyisca des John Pordage den gleichen Raumbegriff referiert, auf den er auch in der Diskussion Clarkes zurückgreift, assoziiert er indirekt Clarkes Raumbegriff mit demjenigen des Böhmisten und vermittelt so den Eindruck, dass die Newtonianische Theorie des Raums im Grunde böhmistisch ist. Canz zitiert aus Samuel Clarkes viertem Brief an Leibniz, wonach der Raum keine Substanz, sondern das Attribut eines notwendigen Wesens sei und deswegen mit größerer Notwendigkeit existieren müsse als selbst diejenigen Substanzen, die nicht notwendig seien. Der Raum sei unermesslich, unbeweglich und ewig. Daraus folge aber, so Clarke, nicht, dass alles außerhalb Gottes ewig sein müsse. Denn Raum und Zeit existierten nicht außerhalb und unabhängig von Gott, sondern seien durch dessen Gegenwart verursachte unmittelbare und notwendige Folgen der göttlichen Existenz. Canz versucht nun, die Lücken in Clarkes’ Argumentation aufzudecken: Wenn die Unermesslichkeit Gottes Raum erfordert, dann geht der Raum der Unermesslichkeit Gottes voraus und ist nicht, wie Clarke lehrt, deren Folge. Wird der Raum nämlich als ein ausgedehntes receptaculum konzipiert, dann muss er vor dem von ihm Aufzunehmenden vorhanden sein. Dann aber ist er keine Folge der Existenz Gottes, sondern geht der Existenz Gottes voraus.94

Hier unterstellt Canz nicht nur, dass, wie für den anonymen Verfasser der »Einleitung«, auch für Clarke die Unermesslichkeit Gottes in dessen wesenhafter räumlicher Kraftausbreitung begründet sei, obgleich Clarke zwischen der Unermesslichkeit und der ›räumlichen‹ Allgegenwärtigkeit Gottes wohlweislich differenziert hat. Auch die Auffassung eines unendlichen, unbeweglichen, ewigen und vor allem ungeschaffenen Raums wird von Canz als eine dem Newtonianismus und Böhmismus gemeinsame Lehre herausgestellt. Möchte man nun der in den Augen Canz’ absurden Annahme, der Existenz Gottes gehe die Existenz eines ewigen Raums voraus, begegnen, bleiben nur zwei Lösungsmöglichkeiten: Entweder man stellt die Böhmistische und Newto92 93 94

Canz (Anm. 80), § 124, 48. Ebd., §§ 127–128, 49–50. Ebd., § 114, 43, Anm. 15: »Primo si Dei immensitas spatium requirit: tum eam spatium antecedit, non est, ut Clarckius docet, sequela ejus. Spatium quippe, si ut receptaculum concipitur extensum, prius concipi debet, quam de recipiendis cogitare queas. Non sequitur ERGO EXISTENTIAM DEI, SED EAM ANTECEDIT.« – Den gleichen Einwand hatte Joseph Butler im vierten Brief an Clarke formuliert: Joseph Butler (Anm. 14), 25: »But now, if space be not absolutely independent, I do not see what we can conclude is so; for it is manifestly necessary itself, as well as antecedently needful to the existence of all other things, not excepting (as I think) even the self-existent substance.«

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nianische Raumkonzeption grundsätzlich in Frage, wie Canz das tut, oder aber man identifiziert Ausdehnung und Dauer sowie Raum und Zeit mit Gott selbst und erklärt alles Geschaffene zu dessen Modifikationen. Dass Clarke – und mit diesem der anonyme Verfasser der »Einleitung« – letztere Alternative präferiert hätten, liegt für Canz auf der Hand: Beiden schreibt Canz zu, ausgehend von ihrer Raumkonzeption Gott implizit als ein materielles und ausgedehntes Wesen begriffen zu haben. Canz selbst beansprucht, wie zu erwarten, die erstgenannte Alternative für sich. Die Leibniz-Wolff’sche Konzeption des Raums als einer relativen Ordnung der Dinge in Lagen, sofern, wie es bei Canz heißt, die Dinge gleichzeitig und unterscheidbar sind,95 macht es für Canz erst möglich, ein von Raum, Ausdehnung und Materie unabhängiges, absolutes, vollkommenes, notwendiges transzendentes Wesen vernünftig denken und begründen zu können. So beruht nach Canz auch der Gottesbegriff, den der anonyme Verfasser der »Einleitung« in die Metaphysica des John Pordage vertritt, dass Gott nämlich ein ausgedehntes Licht sei, wobei Ausdehnung und Licht als unteilbar vorausgesetzt würden, auf einer falschen Auffassung davon, was Licht sei. Zunächst hätten neuere Experimente gezeigt, dass das äußere Licht – etwa durch Lichtbrechung – teilbar sei, was für Gott unmöglich zutreffen könne.96 Dann ließe sich der Begriff des Lichts allgemeiner fassen, sodass der vom anonymen Verfasser ausdrücklich bestrittene metaphorische Charakter der Aussage, Gott sei Licht, offenbar würde: »Licht ist etwas«, so Canz’ Definition, »das uns die Dinge, ob nun in oder außerhalb von uns, unterscheidbar macht.«97 – Licht heißt folglich Erkennen, Differenzieren. Differenzieren meint, die Dinge auseinander zu setzen, was in unterschiedlicher Intensität zu geschehen vermag: Je mehr wir differenzieren, desto größer wird der Raum.98 Raum und Zeit sind daher Resultate des hier von Canz mit dem Begriff des Lichts belegten Erkenntnisprozesses. Wenn Gott also als Licht bezeichnet wird, dann wird damit angedeutet, dass Gott, laut Canz im Sinne der Relation seiner immateriellen vis agendi zu uns, ursächlich für unsere Erkenntnis sowie für das differenziert Erkennbare ist. Dies ist aber eine Ursächlichkeit, die nicht in der räumlichen wesenhaften Allgegenwart Gottes gegründet ist, wie laut Canz von Böhmisten und Newtonianern gleichermaßen behauptet würde, sondern in einem durch die anhaltende Kraftwirkung Gottes bedingten Partizipationsverhältnis von Gott und Mensch. 95

96 97 98

Vgl. ebd., §§ 11–14, 5 f. Vgl. dazu Christian Wolff: Metafisica Tedesca con le Annotazioni alla Metafisica Tedesca. Testo tedesco a fronte. Hrsg. v. Raffaele Ciafardone. Mailand 2003, 88, § 48: »Daher, wenn wir die Sache nicht anders ansehen wollen, als wie wir sie erkennen; so müssen wir den Raum für die Ordnung derer Dinge annehmen, die zugleich sind. Und also kan kein Raum seyn, wenn nicht Dinge vorhanden sind, die ihn erfüllen […].« Vgl. ebd., § 31, 11–12. Ebd., § 11, 6: »[…] lux, quidquid res, sive in nobis, sive extra nos, nobis discernibiles facit.« Ebd., § 44, 17: »Quidquid extra nos à sensibus non distinguitur, in eo nullum esse spatium videtur. In quibus sic satis multa distinguimus: ea spatium mediocre occupare, putamus. Denique ubi innumera discernimus sensu, v. g. si coelum, terramque tuemur: ibi immensum esse spatium, judicamus.«; ebd., § 48, 18: »Ex hoc sequitur, spatium definiendum esse, per ordinem rerum, quatenus simul sunt, & possunt discerni […].«

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4. Gottfried Ploucquets monadologische Argumentation gegen die böhmistische Geist- und Raumlehre Wie sehr auch Gottfried Ploucquet den englischen Böhmismus innerhalb der Kontroverse zwischen Leibniz-Wolffianern und Newtonianern situiert hat,99 lässt sich an Zweierlei zeigen: 1. Zu Beginn des dritten Kapitels seiner Preisschrift Primaria Monadologiae Capita interpretiert Ploucquet Canz’ oben besprochene Dissertatio als die beste Widerlegung – besser noch als diejenige Ludwig Philipp Thümmigs – der Einwände, die Samuel Clarke im fünften Brief an Leibniz gegen diesen erhoben hatte.100 Ploucquet beruft sich dafür aber auf die Kritik, die Canz an der böhmistischen Raumkonzeption geäußert hat.101 2. Am Anfang des fünften Kapitels reiht Ploucquet die in der Einführung des anonymen Verfassers in die Metaphysik John Pordages dargestellten Lehren unter die besten und stärksten Argumente gegen die Existenz der Monaden ein.102 Aktuell diskutiert Ploucquet in seiner Preisschrift aber Leonhard Eulers 1746 anonym erschienene Invektive gegen die Monadenlehre (»Gedancken von den Elementen der Cörper«),103 in der Euler, der von Wolffianern gemeinhin im polemischen Sinne als Newtonianer bezeichnet worden ist, die Monadenlehre als wissenschaftlich unhaltbar beurteilt und die Wahrheit der sogenannten Rationalen Mechanik postuliert, die auf den Prämissen eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit aufbaut. Auch hier also wird der Böhmismus in unmittelbarer Nachbarschaft zum Newtonianismus disputiert.

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Zu Ploucquet vgl. Karl Aner: Gottfried Ploucquets Leben und Lehren. Hildesheim u. a. 1999 (Nachdruck der Ausgabe Halle a. S. 1909); Michael Franz: Einleitung. In: Gottfried Ploucquet: Logik. Hrsg., übers. und mit einer Einleitung versehen von Michael Franz. Hildesheim u. a. 2006, VII–LVII; Hanns-Peter Neumann: Zwischen Materialismus und Idealismus – Gottfried Ploucquet und die Monadologie. In: Der Monadenbegriff zwischen Spätrenaissance und Aufklärung. Hrsg. v. Hanns-Peter Neumann. Berlin/New York 2009, 203–270. Gottfried Ploucquet: Primaria Monadologiae capita accessionibus quibusdam confirmata et ab objectionibus fortioribus vindicata. In: Dissertation Qui A Remporté Le Prix Proposé Par L’Academie Royale des Sciences et Belles Lettres Sur Le Système Des Monades. 11. Stück. Berlin 1748, Cap. III, § 66, 181–182. – Insgesamt besteht Ploucquets Primaria Monadologiae Capita aus 6 Kapiteln: 1. De Existentia Elementorum Simplicium, seu Demonstratio, qua evincitur, impossibile esse, ut, positis rebus, non existant simplicia (§§ 1–44); 2. De Natura Elementorum Simplicium Seu Monadum (§§ 45–64); 3. De Spatio et Tempore (§§ 65–86); 4. De Phaenomenis ex Pluralitate Monadum Genitis, Extenso et Motu (87–109); 5. De Objectionibus Fortioribus. I. Contra Existentiam Simplicium Seu Monadum (§§ 110– 146); 6. Quo Examinabo Recens Editam Monadologiae Contrariam Dissertationem, Quae Nuper Prodiit Berolini Sub Titulo: Gedancken von den Elementen der Cörper, in welchen das Lehr=Gebäude von den einfachen Dingen und Monaden geprüfet, und das wahre Wesen der Cörper entdecket wird (§§ 147–193). Ploucquet (Anm. 100), Cap. III, § 67, 182. Ebd., Cap. III, § 111, 204. Leonhard Euler: Gedancken von den Elementen der Cörper, in welchen das Lehr=Gebäude von den einfachen Dingen und Monaden geprüfet, und das wahre Wesen der Cörper entdecket wird. Berlin 1746.

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Da Ploucquet viele der Argumente von Canz wiederholt, verzichte ich hier auf eine ausführliche Darstellung der Auseinandersetzung Ploucquets mit der »Einleitung« des anonymen Verfassers in die Metaphysica und beschränke mich stattdessen darauf, einen Eindruck von der Argumentation Ploucquets zu vermitteln.104 Ein zentrales Argument des Böhmisten war dessen Zweifel daran, dass Ausdehnung ein Wesensmerkmal der Materie sei. Ploucquet fasst diesen Zweifel wie folgt zusammen: »Wenn das Wesen der Materie nicht in der Ausdehnung besteht, dann widerstreitet es nicht, dass der Geist ausgedehnt ist.«105 Ploucquet macht sich anhand eines Beispiels über die Absurdität einer solchen Argumentation lustig: »Wenn das Wesen der Materie nicht in einem abstrakten Begriff besteht, dann widerstreitet es nicht, dass der Geist ein abstrakter Begriff ist. Wer aber kann einen solchen Paralogismus gut heißen?«106 Denn zunächst müsse man die Prämisse beweisen, bevor man die Schlussfolgerung behaupten dürfe. Der anonyme Verfasser aber würde nur den Schein erwecken wollen, richtig zu argumentieren. In Wirklichkeit würde er unbewiesene Behauptungen aufstellen. Ploucquet unterstellt dem Böhmisten damit die gleiche philosophische Inkompetenz, die er auch an Leonhard Euler bemängelt.107 Ein weiteres zentrales Argument des anonymen Verfassers bestand darin, dass nur deswegen, weil man die Idee Substanz und die Idee Ausdehnung gedanklich voneinander separieren könne, die Schlussfolgerung unzulässig sei: »also können sie nicht beyeinander in einem Dinge stehen.«108 Ploucquet gesteht die Richtigkeit dieser Aussage zu. Es sei in der Tat falsch, daraus, dass A nicht in der Idee ›B‹ enthalten sei, zu schließen, dass ›A‹ und ›B‹ nicht zugleich bestehen könnten. Vielmehr sei diese Schlussfolgerung korrekt: »Also erstreckt sich A nicht auf das Wesen von B, so dass B ohne A bestehen kann.« Dann gelte aber auch, und hier kehrt Ploucquet das Argument wiederum gegen den anonymen Verfasser selbst, der die mentale Separierbarkeit der Ideen der Ausdehnung und der Substanz ja bereits zugestanden hat, folgender Syllogismus:

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Die Auseinandersetzung mit den Argumenten des anonymen Verfassers der »Einleitung« in die Metaphysica John Pordages finden sich in: Ploucquet (Anm. 100), §§ 111–119, 204– 210. Ploucquet (Anm. 100), § 112, 205: »Si essentia materiae non consistit in extensione, non repugnabit, spiritum esse extensum.« Ebd., § 112, 205: »Si essentia materiae non consistit in abstracto conceptu, tum non repugnat, spiritum esse conceptum abstractum. Quis toleret hunc paralogismum?« Ebd., Cap. VI, § 159, 239 heißt es, dass der Autor (Euler) seine Behauptungen nicht bewiesen habe: »[…] dn. Autorem non demonstrasse, quodvis corpus in suo statu permanere, donec mutare eundem cogatur ab alio corpore vel obstaculo extrinseco.« Siehe auch Cap. VI, § 165, 240: »Motus hic jam assumitur & supponitur. Dn. Autor plane non inquirit in ideam motus, non recenset requisita, quae necessaria sunt ad constituendum illum effectum, qui motus appellatur.« Ebd., § 118, 210.

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Die [mentale] Idee der Ausdehnung ist nicht in der [mentalen] Idee der Substanz enthalten. Also erstreckt sich die Ausdehnung nicht auf das Wesen der Substanz, so dass eine Substanz ohne Ausdehnung bestehen kann.109

Dies aber ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass einfache Substanzen oder Monaden existieren können. Das mag als kurzer Einblick in die Art der Auseinandersetzung Ploucquets mit dem anonymen Verfasser der »Einleitung« in die Metaphysik des englischen Böhmisten John Pordage genügen. Wichtig erscheint mir hier nur noch Folgendes: Ploucquet führt wie Canz gegen den Böhmisten die gleichen Argumente ins Feld wie gegen den vermeintlichen Newtonianer Leonhard Euler. Beiden wirft Ploucquet vor, die philosophische Methode inkorrekt appliziert zu haben. Bei beiden kritisiert er, dass sie die rein imaginären mathematischen Begriffe des Raums und der Zeit zu ontologischen Entitäten erklärt hätten. Ploucquets mit dem Accessit der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichneter Traktat Primaria Monadologiae Capita gehört dem unmittelbaren Kontext der Kontroverse zwischen LeibnizWolffianern und Newtonianern um das naturphilosophische Explikationspotenzial der Leibniz’schen Monadenlehre zwischen 1746 und 1748 an. In seiner promonadologischen Schrift stellt Ploucquet, indem er die Argumente des anonymen Verfassers der »Einleitung« als die stärksten Einwände gegen die Monadenlehre präsentiert, geschickt das vermeintlich Böhmistische des Newtonianismus und das vermeintlich Newtonianische des Böhmismus heraus. Der anonyme Verfasser der »Einleitung«, der den Böhmismus im philosophischen Stil, d. h. more geometrico präsentiert, fungiert in diesem spezifischen Debattenzusammenhang als Platzhalter für Leonhard Euler und die Newtonianer. ›Newtonianismus‹ und ›Böhmismus‹ werden zu austauschbaren Etiketten. Dass damit der Newtonianismus zu einer gleichsam mathematisch-physikalischen, magischen Schwärmerei erklärt wird, dürfte Ploucquet bewusst gewesen sein. In eine ähnliche magische Schräglage hat auch der Wolffianer Johann Heinrich Samuel Formey die Newtonianischen mathematici gebracht. In § 46 seiner gegen Euler gerichteten Prüfung der Gedanken eines Ungenannten von den Elementen der Körper (Leipzig 1747) heißt es: So geht es, wenn der Meßkünstler das Fahrzeug nach seinem Gefallen führet, und gewohnet ist, selbst auf dem eingebildeten Meere herumzuschiffen, wo die Puncte, Linien, Oberflächen und so viel andere Erdichtungen für etwas wirkliches angesehen werden. Er wird seinen Weg auf diesem unermeßlichen Weltmeere der Absonderungen fortsetzen: und da er gleichsam wie ein Zauberer alles zu etwas wirklichem machet, was er unterwegens antrifft, Dauer, Raum, Zeit, Ort; so wird er durch seine erhabene Kunst von neuem den Farben, dem Geruche, Geschmacke, und allen andern unendlichen, von ihren Subjecten abgesonderten Eigenschaften, Wirklichkeiten beylegen. Endlich wird er sich gerades Weges eine Straße 109

Ebd., § 118, 210: »Licet autem non sequatur: A non continetur in idea του B: ergo A & B simul consistere nequeunt. Procedit tamen haec consequentia: Ergo A non pertinet ad essentiam του B, & B consistere potest sine A. Applicando haec ad materiam substratam, consequentia haec est verissima, idea extensionis non continetur in idea substantiae, ergo extensio non pertinet ad essentiam substantiae, adeoque substantia existere potest sine extensione.«

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zum Sammelplatze aller abgesonderten Ergötzungen bahnen, woran er sich mit voller Genüge, und mit so vieler Wollust sättigen wird, als wenn sie vollkommen wirklich wären.110 [Hervorh. d. Verf.]

5. Joseph Friedrich Schellings Kritik am Böhmismus John Pordages Anders als bei Israel Gottlieb Canz und Gottfried Ploucquet sieht es bei Joseph Friedrich Schelling aus, in dessen 1756 erfolgter Dissertatio philosophica de simplicibus eine solche explizite Engführung zwischen Newtonianismus und Böhmismus nicht zu finden ist.111 Zwar rekurriert Schelling ausdrücklich auf Canz und Ploucquet, sobald er auf John Pordage zu sprechen kommt: So heißt es, dass dasjenige, was bezüglich des Dogmas von Gott als eines unendlich ausgedehnten Lichts sowie von der Ausdehnung und Materialität der göttlichen Natur mit Blick auf Pordage disputiert werden könne, bereits von Canz in dessen Dissertation Veritas Deus est Spiritus idemque neutiquam extensus herausgestellt worden sei: Dass auch Pordage das Seine aus dieser Lehre geschöpft hat, ist niemandem verborgen, und selbst der Herausgeber seiner metaphysischen Werke zeigt das in seiner Überschrift über Kap. 12 an. Was bezüglich dieses Dogmas disputiert werden kann, das stellt sich heraus der selige Canz in seiner Dissertation Die Wahrheit ›Gott ist Geist‹ und derselbe ist keineswegs ausgedehnt.112

Schelling weist nun aber auf einen Zusammenhang hin, der von Canz und Ploucquet gerade nicht berücksichtigt worden ist, nämlich dass der Böhmist Pordage seine Lehren der Theologie der sogenannten Emanatianer und ›Kabbalisten‹ entlehnt habe.113 110 111

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113

Johann Heinrich Samuel Formey: Prüfung der Gedanken eines Ungenannten von den Elementen der Körper. Leipzig 1747, § 46, 30–31. Zu Joseph Friedrich Schelling vgl. Karl Müller: Prälat Joseph Friedrich Schelling, der Vater des Philosophen. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 42 (1938), 89–124; Michael Franz: Joseph Friedrich Schelling, Klosterprofessor in Bebenhausen. In: ›… so hat mir/ Das Kloster etwas genüzet.‹ Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen. Hrsg. v. Michael Franz u. Wilhelm G. Jacobs. Tübingen 2004, 139–157; Michael Franz u. Hanns-Peter Neumann: Joseph Friedrich Schellings Dissertatio philosophica de simmplicibus et eorum diversis speciebus von 1758. Einführung, Text und Übersetzung. In: Der Monadenbegriff zwischen Spätrenaissance und Aufklärung (Anm. 99), 339–399, zu Schelling v. a. 339–344. Schelling, Dissertatio philosophica (Anm. 111), 356–399, hier: 390–391 (§ 12): »Sua quoque hausisse ex hac doctrina PORDAGIVM, neminem latet, & ipse quoque Editor operum illius metaphysicorum indicat in inscriptione Cap. XII. Quae vero circa hujus dogmata disputari queunt, ea exhibet B. CANZIVS in Diss. Veritas Deus est Spiritus idemque neutiquam extensus.« – Wie sehr Schelling an die Dissertatio von Canz anknüpft, zeigt auch seine Argumentation gegen Andreas Rüdiger – vgl. ebd., § 11, 382–383 –, die im Wesentlichen von Canz stammt, aber gewissermaßen philosophiehistorisch kontextualisiert wird, indem Schelling im gleichen Zusammenhang Maimonides, Kleanthes u. a. diskutiert. Schelling, Dissertatio philosophica (Anm. 111), § 12, 388–389.

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Joseph Friedrich Schelling hat die Auseinandersetzung um den Böhmismus also nicht länger auf die möglicherweise seinerzeit nicht mehr ganz so aktuelle Kontroverse zwischen Leibniz-Wolffianern und Newtonianern bezogen, sondern mit dem Verweis auf Johann Georg Wachters Spinozismus im Judenthumb […] (Amsterdam 1699) und Johann Franz Buddes Introductio ad historiam philosophiae Ebraeorum (Halle 1702) in den Vorlauf und Entstehungskontext der Übersetzung und Edition der Metaphysica John Pordages von 1715 zurückdatiert. Die Metaphysica des englischen Böhmisten reiht sich demnach in die Diskussion zum Spinozismus, dieser aber wiederum in die Konjunktur der Debatte um die Kabbala zwischen 1670 und 1715 ein. Der böhmistische Gottesbegriff, der, so Schelling im Rekurs auf Budde, in der historisch tradierten kabbalistischen Gottesvorstellung verwurzelt sei, wie dies der anonyme Verfasser der »Einleitung« explizit vorgeführt habe, wird von Schelling als Irrtum interpretiert, der mit dem hylozoistischen Konzept einer perzeptiven Materie und mit der Vorstellung der Räumlichkeit oder Ausdehnung Gottes einhergehe. Schelling hat in den §§ 5 und 7 seiner Dissertatio den Nachweis zu erbringen versucht,114 dass die Materie keiner Perzeption fähig sei beziehungsweise keine vis repraesentativa habe und dass das Ich, die Seele, immateriell sein müsse. Das »Ens intelligens finitum«, die Seele, das Ich, verdanke seine Existenz wiederum einem »ens summum, independens, intelligentissimum«, das »omnis materiae expers« sei.115 Die Argumentation in den §§ 5 und 7 appliziert Schelling nun auf den kabbalistischen, spinozistischen und böhmistischen Gottesbegriff: Nun werde ich die Kraft beider Argumentationen anwenden. Es gibt nämlich […] welche, die zwar ein derartiges höchst verständiges Seiendes [=Gott] behaupten, aber dennoch unter einem so groben Schema, dass jeder sehen muss, dass sie der göttlichen Natur Materie beimischen. Eines solchen Irrtums werden mit Recht alle Emanatianer überführt, unter diesen aber besonders die Kabbalisten.116

Diesem »Irrtum« zufolge würde Gott als »unendlich ausgedehntes Licht« (sub luce infinite extensa), von den Kabbalisten »Or haensoph« genannt, vorgestellt; die Welt aber sei »nicht anders als durch eine Ausweitung [per expansionem] Gottes geschaffen worden.«117 Um sich gegen die vermeintliche von den Kabbalisten behauptete Identität von Gott und Welt zu wenden, rekurriert Schelling nicht nur auf seine Argumentation in den §§ 5 und 7, sondern auch auf Ploucquets Argumente gegen Spinoza in dessen Principia de substantiis et phaenomenis (Tübingen 1753).

114 115 116

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Vgl. ebd., § 5, 360–361; § 7, 362–365. Eine kurze Zusammenfassung der Argumentation findet sich in der Einleitung der Herausgeber, 344–349. Ebd., § 12, 386–389. Ebd., § 12, 388–389: »Jam applicabo vim utriusque argumenti. Sunt enim […], qui statuunt quidem ejusmodi ens summe intelligens, at vero sub schemate tam crasso, ut nemo non videat, eos materiam admiscere naturae divinae. Erroris hujus rei jure peraguntur omnes Emanatiani, interque eos imprimis Cabbalistae.« Ebd.

Die Rezeption des englischen Böhmismus im Leibniz-Wolffianismus

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Ohne zu berücksichtigen, dass der anonyme Verfasser der »Einleitung« in die Metaphysica des John Pordage mit Schelling die Auffassung teilt, dass die Materie passiv, ausgedehnt und der Perzeption nicht fähig sei; ohne zu bedenken, dass der anonyme Autor im Unterschied zu Schelling von der möglichen, d. h. widerspruchsfreien Existenz einer immateriellen Ausdehnung ausgeht, die allen geistigen Wesen zukomme, führt Schelling die Annahme der Identität von Welt und Gott, die er den kabbalistischen Böhmisten und Spinozisten zuschreibt, auf eine mangelhafte Differenzierung zwischen der nur geometrice vorstellbaren unendlichen Ausdehnung der Welt und der realen Unendlichkeit Gottes zurück, der unendlicher Realitäten fähig sei. Da die Leibniz-Wolffianer als bewiesen ansehen, dass Materie Ausdehnung und Ausdehnung Teilbarkeit impliziert, besteht zwar die Welt aus unendlich vielen, ausgedehnten Teilen, Gott aber ist und bleibt einfach und immateriell: »Gott ist nämlich ein von der Welt unterschiedenes Seiendes, und zwar ein höchst reales und höchst einfaches.«118 Die Omnipräsenz Gottes kann daher nicht auf der Extension Gottes beruhen, wie die Böhmisten und Spinozisten behaupten, sondern darauf – und hier folgt Schelling seinem Lehrer Ploucquet –, dass die Tätigkeit (operatio) Gottes, seine schöpferischen Handlungen »nach außen« (operationes ad extra), eine reale Schau (visio realis), d. i. reale Vorstellungen aller Dinge (repraesentationes reales) sind. Das ›Wo‹ des ad extra und das ›Wo‹ Gottes bleiben dem menschlichen Verstand verborgen: »Was nun aber jenes Wo sei, in dem Gott ist, und von wo aus er handelt, das wagte ich nicht zu bestimmen. Ich kenne die Endlichkeit des menschlichen Verstandes, der Unendliches zu begreifen nicht in der Lage ist.«119 Weil nach Leibniz und Wolff Raum und Zeit aber grundlegende Ordnungstätigkeiten des perzeptiv-differenzierenden Bewusstseins sind, stellt sich die Frage nach dem ›Wo‹ noch auf eine ganz andere Weise: Sollte nämlich, wie Ploucquet und Schelling meinen,120 das Wirken Gottes mit seinen Real-Vorstellungen respektive mit der göttlichen Schau aller Dinge identisch sein – »Gott stellt sich auf reale Weise das gesamte Weltall als existierend vor, mit allen seinen Wandlungen, mit allen seinen Zuständen, wie ein jeder aus dem [jeweils] früheren [Zustand] herleitbar ist.«121 –, dann handelt es sich hierbei tendenziell um eine idealistische Theologie, in der das scheinbar orts- und raumbezogene ad extra kaum mehr als extramentale, real ausgedehnte, handgreiflich existierende Schöpfung interpretiert werden kann. Die Omnipräsenz Gottes in der Welt gründet allein auf der rein intelligiblen Vorstellung der Welt durch Gott. Gott will und erkennt das Beste; er wählt entsprechend seiner Güte aus dem Repertoire der unendlich vielen möglichen Welten, die er sich vorstellt, den mundus optimus aus. Ob und wie der mundus optimus eine von der Perzeptivität Gottes und von der Perzeptivität der 118 119 120 121

Ebd., § 12, 393. Ebd., § 12, 393: »Quodnam vero sit illud ubi, in quo est Deus, & unde operatur, id non ausim determinare. Scio finitudinem intellectus humani, qui infinita capere nescius est.« Zu Ploucquets Lehre von der visio Dei realis vgl. Gottfried Ploucquet: Principia de substantiis et phaenomenis. Tübingen 1753, §§ 189–191. Schelling, Dissertatio philosophica (Anm. 111), § 12, 392–393: »Deus repraesentat sibi realiter totum universum ut existens cum omnibus suis mutationibus, cum omnibus suis statibus, uti quisque ex priori est deducibilis.«

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im Geist Gottes repräsentierten Monaden unabhängige raumzeitliche Existenz zu erlangen vermag – die zwischen Theogonie und Kosmogonie oszillierende Frage nach der offenbarenden schöpferischen Veräußerung Gottes in die Welt also –, bleibt unbeantwortet.

6. Friedrich Christoph Oetingers böhmistische Invektive gegen den Leibniz-Wolffianismus Der tendenziell idealistischen Theologie des Leibniz-Wolffianismus wurde selbst von Wolff-Schülern oder von Philosophen und Theologen, die in der Wolff’schen Philosophie ausgebildet waren, kritisch begegnet. Zu solchen Leibnizianisch und Wolffianisch geprägten Kritikern der Leibniz-Wolff’schen Philosophie gehörten in den 1730er und 1740er Jahren Sigmund Ferdinand Weißmüller und Jacob Friedrich Müller,122 die sich gegen den inhärenten Idealismus der Monadenlehre zur Wehr setzten und der Philosophie und Theologie einen realistischen Schub geben wollten.123 Ob nun auch Friedrich Christoph Oetinger zur Riege der Leibniz-Wolffianer zu zählen ist, darf füglich bezweifelt werden. Und doch war Oetinger in den 1720er Jahren durch Georg Bernhard Bilfinger in die Leibniz-Wolff’sche Philosophie eingeführt worden.124 Nur kurze Zeit nach Beginn seines Studiums der Leibniz-Wolff’schen logisch-hermeneutischen Methode kam Oetinger durch den Pulvermüller Johann Kasper Obenberger mit den Schriften Jakob Böhmes in Berührung. Er fand Geschmack an dessen Lehren und glaubte, »unter den imaginativsten Ausdrücken etwas raisonnables« zu finden, Ausdrücke, die freilich einer Korrektur durch Malebranche und Leibniz bedürften, um richtig verstanden werden zu können.125

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Zu Weißmüller vgl. Martin Mulsow: Pythagoreer und Wolffianer: Zu den Formationsbedingungen von vernünftiger Hermetik und gelehrter ›Esoterik‹ im Deutschland des 18. Jahrhunderts. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Anne-Charlott Trepp u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, 337–395, bes. 363 ff.; Martin Mulsow: Aufklärung versus Esoterik? Vermessung des intellektuellen Feldes anhand einer Kabale zwischen Weißmüller, Ludovici und den Gottscheds, 331–376 sowie Karin Hartbecke: ›Ein Evangelischer Theologus und Platonischer Philosophe‹ – Sigmund Ferdinand Weißmüller und die pythagoreische Tetraktys, 283–298. Beides in: Aufklärung und Esoterik – Rezeption – Integration – Konfrontation. Hrsg. v. Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarb. v. Andre Rudolph. Tübingen 2008. Sigmund Ferdinand Weißmüller: L’Analyse des êtres simples et réelles, ou la Monadologie de feu Msr. Baron de Leibnitz demasquée et l’idealisme renversé. Nürnberg 1736; Jacob Friedrich Müller: Die ungegründete und Idealistische Monadologie, oder Wahre Gestalt der Leibniz- und Wolfischen Lehre von denen einfachen Dingen. Frankfurt a. M. 1745. Vgl. dazu Oetingers Genealogie in Ulrike Kummer: Autobiographie und Pietismus. Friedrich Christoph Oetingers Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten. Frankfurt a. M. u. a. 2010, 74. Vgl. zur Begegnung mit dem Pulvermüller, Kummer (Anm. 124), 80: »Er bat mich in seine Stube, zeigte mir Jac[ob] Böhmen, und sagte: da ist die rechte Theologie. […] Ich fand aber

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Stattdessen haben Böhmes Lehren Oetinger dann aber umgekehrt dazu veranlasst, sich von Malebranche und der Leibniz-Wolff’schen Philosophie zu distanzieren und diese nach der Richtschnur des Böhmismus einer eingehenden Kritik zu unterziehen.126 Methode und Resultat seiner Kritik an der Leibniz-Wolff’schen Philosophie finden sich schließlich im zweiten Teil von Oetingers 1765 erschienener Abhandlung zu Emanuel Swedenborgs irdischer und himmlischer Philosophie.127 Darin vergleicht Oetinger nicht nur die Leibniz-Wolff’sche Philosophie, sondern auch die Physik Newtons mit der Theosophie Jakob Böhmes. Leibniz und Wolff bescheinigt er eine gegenüber Böhme defizitäre Theologie, deren Defizit in der mangelnden Trennschärfe zwischen Gott und Welt bestehe – ein Defizit, dass Joseph Friedrich Schelling gerade den Böhmisten und Spinozisten zum Vorwurf gemacht hatte: »Jn Wahrheit,« so Oetinger, »diese Philosophie [Wolffs], so sehr sie contingentiam mundi demonstrirt, beweist den Unterschied Gottes von der Welt am wenigsten.«128 Ganz anders fällt Oetingers Urteil über Newtons Philosophie aus, der er eine deutliche Nähe und Analogie zu den Lehren Böhmes attestiert. Zu den Analogien zwischen Newton und Böhme rechnet Oetinger u. a. den Raum- und Zeitbegriff. Das Verhältnis zwischen Gott, Raum und Zeit bei Newton entspreche dem Verhältnis von göttlichem Ungrund und Grund bei Böhme: Newton sagt, Gott sei nicht nur gegenwärtig durch seine Allwirkung und Allwissenheit, sondern er erfülle und mache selbst den Raum aus, seie also bei jedem Stäublein mit seiner Substanz zugegen. Den Raum und die Dauer hält er für zwei Wesen, die in Gott selbst gegründet sein. Der Raum folgt notwendig aus der Wirklichkeit Gottes. […] Eigentlich ist Gott weder im Raum noch Ort, aber weil er nothwendig allenthalben ist, so macht er den Raum und die Bleibstätte aller Geschöpfe aus. […] Diese Gedanken sind nur mit andern Worten von J. Böhm vortragen [sic!]: nemlich Gott in seiner Tiefe ist außer allem Raum und Zeit; aber in der Offenbarung seiner selbst macht er Raum und Zeit, oder er führt den Ungrund in den Grund.129

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gleichwohl unter den imaginativsten Ausdrücken etwas raisonnables, und dachte, mit Malebranche und Leibniz müste man dieses Layen terminos corrigieren […].« Zur Kritik Oetingers an Leibniz vgl. Wilhelm A. Schulze: Oetinger contra Leibniz. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), H. 4, 607–617. Friedrich Christoph Oetinger: Swedenborgs und anderer irdische und himmlische Philosophie […]. Frankfurt a. M./Leipzig 1765. Diese Ausgabe wurde in die von Ehmann besorgte Edition der Sämtlichen Schriften Oetingers aufgenommen und durch Erich Beyreuther 1977 erneut ediert: Swedenborgs irdische und himmlische Philosophie. In: Sämtliche Schriften. Zweite Abteilung: Theosophische Schriften. Zweiter Bd. Stuttgart 1977. Zu Wolffs Philosophie im Abgleich mit derjenigen Böhmes vgl. ebd., 241 ff. – Zum näheren Kontext vgl. Friedemann Stengel: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 2009 (Habilitationsschrift der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg), Kap. 5.2: Friedrich Christoph Oetinger, 405 ff. An dieser Stelle möchte ich Friedemann Stengel dafür danken, dass er mir das Manuskript seiner Habilitationsschrift zur Verfügung gestellt hat. Oetinger (Anm. 127), 242. Ebd., 198 f.

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Im Unterschied zu seinen Tübinger Zeitgenossen Israel Gottlieb Canz und Gottfried Ploucquet wertet Oetinger die Nähe zwischen Newtonianismus und Böhmismus als gleichsam wissenschaftlich fundiertes positives Signum der wahren und echten theosophischen Theologie Jakob Böhmes. Dem steht die defizitäre Theologie des Leibniz-Wolffianismus diametral entgegen: In seiner Kritik an Ploucquet bringt Oetinger den bereits oben skizzierten Mangel der tendenziell idealistischen Theologie des Leibniz-Wolffianismus gerade hinsichtlich der Offenbarung Gottes per creationem dann noch einmal auf den Punkt und seine eigene Ansicht von dem sphärischen Wesen der einfachen Dinge zum Ausdruck: Der Herr Professor widerlegt die Monaden,130 und bleibt doch dabei, daß er einfache Dinge ohne Jntension oder Extension concipirt. […] Er, der Herr Professor Ploucquet, concipirt sich ein einfaches Wesen als ein sich selbst offenbarendes Wesen, das also meinem Bedünken nach sphärice und nicht nur secundum unam plagam aus seinem Centro sich diffundiren und solchergestalt das abditum sui ins manifestativum verwandeln muß. Ob nun diß ohne Extension, ohne Uebergang aus einer Selbstbewegung, ins Offenbare geschehen könne, mögen andere urtheilen. Wie aus simplicibus die Schöpfung entstehe, wie die simplicia entweder nur zu einer einzigen oder zu vielerlei repraesentationibus realibus werden, davon schweigt man; und Leibnizens System, wie aus viribus primitivis derivativae werden, übergehet man; und sagt nur, wenn sich Gott die simplicia als manifestativa sui realiter repräsentire, so seie diß die Schöpfung oder Wirklichkeit der Dinge.131

Oetinger wirft der Leibniz-Wolff’schen Philosophie vor, aus Furcht vor dem Materialismus, »den man sich selbst zu einem Schreck=Gespenst macht«,132 die Schöpfungstheologie idealistisch verkürzt zu haben. Böhme und Newton hingegen repräsentieren auf paradigmatische Weise die Synthese von realistischer Philosophie und lebendiger Theologie. Hatten Canz und Ploucquet den Newtonianismus an die böhmistische ›Schwärmerei‹ angenähert, um ihn wissenschaftspolitisch als materialistischen Atheismus zu diffamieren, so hat Schelling den Böhmismus dem Spinozismus angeglichen und beide aus der kabbalistischen Gottesvorstellung hergeleitet, um Spinoza und Pordage im Rückgriff auf Leibniz, Wolff und Ploucquet zu widerlegen, ohne dabei noch wie Canz und Ploucquet die newtonianischen mathematici und böhmistischen Theosophen in Beziehung zueinander zu setzen. Bei Oetinger findet schließlich eine Umwertung des Verhältnisses zwischen Newtonianismus und Böhmismus statt, wie es die Leibniz-Wolffianer proklamiert hatten. Zwar sieht auch er die Parallelen zwischen dem Raumbegriff Newtons und Böhmes und bestätigt damit die Einschätzung von Canz und Ploucquet. Jedoch erkennt er gerade in der Nähe Newtons zu Böhme den Grund für die Überlegenheit der Philosophie Newtons über die Leibniz-Wolff’sche Philosophie in der Theologie. Mit Blick

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Ploucquet wendet sich in den Principia de substantiis et phaenomenis von 1753 von der Monadenlehre ab. Oetinger (Anm. 127), 272 f. Ebd., 273.

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auf eine Theologia ex idea vitae deducta verortet er auf Seiten des tendenziell idealistischen Raum- und Zeitbegriffs des Leibniz-Wolffianismus ein bei Böhme und Newton längst überwundenes theologisches Explikationsdefizit.133

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Friedrich Christoph Oetinger: Theologia ex idea vitae deducta […]. Frankfurt a. M./Leipzig 1765 erschien zeitgleich mit Oetingers Schrift über Swedenborgs irdische und himmlische Philosophie.

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Theosophie in der Aufklärung: Friedrich Christoph Oetinger

1. Oetingers aufklärerischer Böhmismus Wenn Oetinger (1702–1782), Theosophie und Aufklärung parallelisiert werden, dann werden damit zugleich verschiedene Wagnisse eingegangen und bewusst in Kauf genommen. Das erste Wagnis besteht darin, Oetinger nicht ausdrücklich in den Kontext des Pietismus zu stellen, in den er gemeinhin eingeordnet wird, wenn auch zuweilen mit dem etwas entschuldigenden Zusatz »spekulativer«1 oder einfach nur »schwäbischer« Pietismus, wodurch Oetingers Sonderrolle gegenüber anderen Pietismen scheinbar nivelliert werden soll.2 Das zweite Wagnis ist der Vergleich mit der ›Aufklärung‹. Nicht nur die historische Aufklärung, sondern selbstverständlich auch diverse systematische Aufklärungsverständnisse würden eine Beziehung zu diesem ›Theosophen‹, wie sie ihn nannten, empört zurückgewiesen haben. Es werde einem schon von »acht Seiten von dergleichen theosophischem Unsinn« ganz »eckelhaft, geschweige aber 800«, so ein Rezensent in der Allgemeinen deutschen Bibliothek 1780.3 Ganz unabhängig von solchen abwertendenden Qualifizierungen vor allem aus dem Umfeld der Berliner Aufklärung lässt sich als historisch-literarischer Befund aber nicht von der Hand weisen, dass Oetinger sich ganz bewusst auf die theologische und philosophische Herausforderung vor allem der LeibnizWolff’schen Philosophie und der naturphilosophischen Debatten bezog, die Peter Hanns Reill unter dem Sammelbegriff »enlightened vitalism« zusammengefasst

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Vgl. zum Beispiel Friedrich Christoph Oetinger: Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Hrsg. v. Gerhard Schäfer. 2 Bde. Berlin/New York 1999 [1776], Bd. 1, XV u. XIX (Einleitung). Ernst Benz hat allerdings bereits 1947 Oetingers Verdienst darin gesehen, dass der kirchliche Pietismus in Württemberg und die schwäbische Theosophie um einen »eigentümlichen Zug« bereichert wurden, nämlich durch Swedenborg. Oetinger wird auf diese Weise beiden Kategorien zugeordnet. Vgl. Ernst Benz: Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs. Frankfurt a. M. 1947, VIII. Rezension zu Oetinger: Biblisches und emblematisches Wörterbuch, dem Tellerschen Wörterbuch und Anderer falschen Schrifterklärungen entgegengesetzt. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 1780, Anhang zum 25.-36. Bd., 1. Abt., 65–70, hier: 65. Das Wörterbuch werde, mutmaßte der anonyme Rezensent, wohl kaum einen Leser finden, »es müßte denn ein eben so phantastischer Kopf als der V. seyn, der sich sonst schon in alle die schwärmerische Ideen hineingedacht hätte, wie dergleichen Leuten eigen zu seyn pflegen«.

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hat.4 ›Aufklärung‹, systematisch verstanden, ist aber auch Oetingers Selbstanspruch, wenn auch mit einer ganz eigenen Gewichtung, in historischer Perspektive ist sie es als Kontext seiner Naturphilosophie und Theologie allemal. Für das dritte Wagnis schließlich wäre der Terminus ›Theosophie‹ zu halten. Man vermag ihn im Grunde nur zu traktieren, wenn damit ganz deutlich die Einschreibung Jakob Böhmes bei Oetinger5 bezeichnet und zugleich betont wird, dass es sich um eine erhebliche Böhme-Modifizierung, um seine Anreicherung durch kabbalistische Quellen, vor allem der lurianischen Kabbala, durch Segmente aus Newtons Physik, durch den vorkritischen Kant, den Cartesianismus in der Manier Nicolas Malebranches, durch Leonhard Euler, den Tübinger Philosophen Gottfried Ploucquet, durch eine ganze Reihe, auf den ersten Blick weniger vordergründige naturphilosophisch-alchemistische Autoren und nicht zuletzt durch den rationalistisch-cartesischen Geisterseher Emanuel Swedenborg handelt.6 Vor allem aber wird Oetingers Böhmismus durch die kräftige Implementierung des apokalyptischen Biblizismus Johann Albrecht Bengels7 und durch eine ebenso kräftige Christozentrik verschoben und modifiziert, die Oetingers zeitweilig tiefer Beziehung zum Reichsgrafen Nikolaus Ludwig Zinzendorf zu verdanken ist.8 Böhmes Theosophie unterliegt auf diese Weise einer umfassenden Eingliederung in ein System, das sich kaum anders beschreiben lässt als ein gerahmter, trotz aller Fluidität begrenzter Eklektizismus, der innerhalb seiner Grenzen ein hybri4

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Vgl. Peter Hanns Reill: Vitalizing Nature in the Enlightenment. Berkeley u. a. 2005. Die Kriterien für den von Reill eingeführten Sammelbegriff finden sich ebd., 6–14, wobei der ›theosophische Vitalismus‹ Oetingers wohl in enger Verbindung zum »aufgeklärten Vitalismus« gesehen werden kann, auch wenn letzterer nicht die theologisch-kabbalistischtheosophische Aufladung aufweist wie ersterer. Vgl. aber dazu meine Habilitationsschrift: Friedemann Stengel: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2011, 153 f. (zu Swedenborg), sowie 510, 631–633 (zu Oetinger), 730 u. 744 f. Zu einem Vergleich Böhmes mit Oetinger vgl. knapp Roland Pietsch: Friedrich Christoph Oetinger und Jakob Böhme. In: Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 2, 71–84. Das Verhältnis zwischen Böhmismus im engeren Sinne und dem Begriff der Theosophie, der unter anderem aufgrund der spätaufklärerischen Polemik und unberechtigterweise auch auf dezidierte Nicht-Böhmisten wie Swedenborg angewandt wird, habe ich präzisiert in Friedemann Stengel: Art. Theosophie. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 13. Stuttgart u. a. 2011, 527–531. Die umfangreichste und bislang nicht mit einer kritischen Edition gewürdigte Verarbeitung der genannten und weiterer Autoren findet sich in: Friedrich Christoph Oetinger: Swedenborgs irdische und himmlische Philosophie. Stuttgart 1977 [ND der Ausg. Stuttgart 1858]. Das 1765 in Frankfurt a. M. und Leipzig [weitere Auflage ebd., 1776 f.] erschienene Werk besteht aus zwei Teilen. Tl. 1: Swedenborgs und anderer irrdische und himmlische Philosophie; Tl. 2: Der Irrdischen und Himmlischen Philosophie, zweyter Theil, worinnen 1. Swedenborgs. 2. Malebranche. 3. Newtons. 4. Cluvers. 5. Wolfens. 6. Ploucquets. 7. Baglius. 8. Frickers irrdische Philosophie mit Ezechiels himmlischer Philosophie verglichen wird. Zur Eschatologie Bengels, Oetingers und weiterer schwäbischer Theologen unter besonderer Berücksichtigung der Apokatastasis panton vgl. Friedhelm Groth: Die »Wiederbringung aller Dinge« im württembergischen Pietismus. Theologiegeschichtliche Studien zum eschatologischen Heilsuniversalismus württembergischer Pietisten des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1984. Zum Verhältnis zwischen Oetinger und Zinzendorf vgl. Martin Weyer-Menkhoff: Christus, das Heil der Natur. Entstehung und Systematik der Theologie Friedrich Christoph Oetingers. Göttingen 1990, 63–93.

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des und sich stets den zeitgenössischen theologisch-philosophischen Diskursen verdankendes Spiel darstellt, dessen Spielfeldgrenzen changieren und dennoch limitiert sind.9 Oetinger kann nur unter diesen Voraussetzungen überhaupt als Böhmist oder böhmistischer Theosoph bezeichnet werden, sofern nämlich Böhme zu seinen besonders gewichtigen und immer wieder herangezogenen Autoren gehört, aber in einer ›eigentlichen‹, ›wirklichen‹, adäquaten Gestalt aufgrund der Transformationsprozesse, in die er von Oetinger eingeschrieben wurde, kaum anzutreffen ist. Im Folgenden werden zunächst die Fronten skizziert, zwischen denen Oetinger sein Rezeptionsgemisch aus Alchemie und Magie, aus Kabbala, Astrologie, Hermetismus, Renaissanceneuplatonismus und Luthertum ›braut‹. Am Ende wird anhand eines Artikels aus Oetingers letztem großen Werk, dem Biblischen und Emblematischen Wörterbuch dessen Rezeptionsverfahren, die eklektische Manier seiner Zitation und die maskierende Behandlung seiner Autoren aufgezeigt, die in hohem Maße willkürlich erscheinen mag und die ›eigentlichen‹ Lehrgebäude nicht ohne weiteres erkennen lässt.

2. Oetingers Prägungen Oetingers akademische und nichtakademische gelehrte Biographie ist auf den ersten Blick von scheinbar ausgesprochenen Ambivalenzen gekennzeichnet. Seine akademische Grundausbildung erhielt er in Tübingen durch den theologischen Wolffianer Israel Gottlieb Canz und den philosophischen Wolffianer Georg Bernhard Bilfinger, der allerdings auch ein Anhänger des christologischen Cartesianers Nicolas Malebranche war.10 Hier wurde ihm nach eigenem Zeugnis das rationalistische Denksystem der Monadologie und der prästabilierten Harmonie als grundlegende Weltsicht vermittelt.11 Oetinger hielt sie lange Zeit für gut biblisch12 9

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Am Beispiel des Verhältnisses zwischen Oetinger und Swedenborg sowie zwischen Kant und Swedenborg habe ich die Beschreibung solch hybrid-fluider Prozesse aus diskurstheoretischer Perspektive und mit besonderem Gewicht auf den Anregungen aus den Postcolonial Studies dargestellt in: Friedemann Stengel: Diskurstheorie und Aufklärung. In: Ordnungen des Wissens – Ordnungen des Streitens. Gelehrte Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts in diskursgeschichtlicher Perspektive. Hrsg. v. Markus Meumann. Berlin 2012. Vgl. Ulrike Kummer: Autobiographie und Pietismus. Friedrich Christoph Oetingers Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten. Untersuchungen und Edition. Frankfurt a. M. u. a. 2010, 77 f.; Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 31 f. Zur Situation der Tübinger Philosophie zu Oetinger Studienzeit vgl. Sonja-Maria Bauer: Das Studium an der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen zur Zeit von Friedrich Christoph Oetinger. In: Mathesis, Naturphilosophie und Arkanwissenschaft im Umkreis Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782). Hrsg. v. Sabine Holtz, Gerhard Betsch u. Eberhard Zwink. Stuttgart 2005, 25–41, hier: 31–41. Vgl. Kummer (Anm. 10), 78. Er informiert hier im Rückblick ausführlich über seine philosophische Prägung. Leibniz habe er idealistisch verstanden und damals auf Hebr 11,3 bezogen. Vgl. Kummer (Anm. 10), bes. 78. Hebr 11,3: »Durch Glauben verstehen wir, daß die Welten durch Gottes Wort

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und selbst nach seiner später wenigstens verbal scharfen Abwendung von Leibniz und Wolff konservierte er unterirdische Gemeinsamkeiten mit Leibniz’schen Grundmustern in seiner Lehre, ohne dies ausdrücklich zuzugestehen.13 In Tübingen empfing Oetinger wahrscheinlich auch alchemistische Anregungen über den Philosophen Johann Conrad Creiling; zeitlebens hielt er wie Creiling an der Möglichkeit der Transmutation und stofflichen Vervollkommnung von Metallen fest.14 Außerhalb des Hörsaals kam er mit spiritualistischen Zirkeln und mit der jüdischen und christlichen Kabbala in Kontakt, deren Kenntnis er später durch das ausführliche Studium der lurianischen Kabbala vertiefte.15 In offenkundiger essentieller Parallele zu dem ›Handwerk‹ des Schusters Jakob Böhme will Oetinger durch einen Pulvermüller mit dem Schrifttum Böhmes, wahrscheinlich zuerst mit dessen Antistiefelius, oder Bedencken über Esaiae Stiefel in Berührung gekommen sein.16 Möglicherweise sollte mit diesem Hinweis die universitäre Verankerung Böhmes in der Tübinger Philosophie und Theologie verdeckt werden, denn an anderer Stelle berief sich Oetinger auf den Frankfurter Kabbalisten Koppel Hecht, der Oetingers Interesse für Böhme vehement bekräftigte. Er habe Hecht gebeten, ihn in die Kabbala einzuführen, aber dieser habe zunächst auf die Heilige Schrift verwiesen, bei der er bleiben solle. Dann habe er erklärt, die Christen hätten »ein Buch, das noch viel deutlicher von der Cabbala rede, als Sohar«, nämlich Jakob Böhme.17 Es ist zwar nicht deutlich, ob damit ein konkretes Buch oder Böhme als solcher gemeint war. Aber Oetinger hielt zeitlebens daran fest, seine Kenntnisse der Kabbala mit seinem Böhme-Verständnis eng zusammenzulesen und zu vermischen, wobei er stets die Superiorität Böhmes über die christliche Kabbala behauptete: Böhme sage »in dem Buch Mysterium magnum mehr als alle Cabbala der Juden«, konstatierte Oetinger 1776 lapidar im Biblischen und Emblematischen Wörterbuch.18 Wie tiefgründig Oetingers Beschäftigung mit Isaac Newton war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, stets betonte er aber, Newton, »der gröste Philosoph«, müsse Böhme »aufs fleissigste geprüft haben«. Zu seiner Attraktionslehre habe

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bereitet worden sind, so dass das Sichtbare nicht aus Erscheinendem geworden ist.« Vgl. auch Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 31 f. u. 36. Vgl. ebd., 34 f. u., 115. Vgl. Gerhard Betsch: Johann Conrad Creiling (1673–1752) und seine Schule. In: Holtz/ Betsch/Zwink (Anm. 10), 43–59. Alchemistische Literatur hat Oetinger besonders verarbeitet im ersten Band von: Die Philosophie der Alten wiederkommend in der güldenen Zeit; worinnen von den unsichtbaren Anfängen des Spiritus Rectoris oder bildenden Geists in den Pflanzen, von der Signatura rerum & hominum, von den Lehr-Sätzen des grossen Hippocratis und der Alten, und besonders der gemeinen und künstl. Gedenkungs-Art wie auch dem Ursprung der Puls gehandelt wird. 2 Bde. Frankfurt a. M./Leipzig 1762. Mit der lurianischen Kabbala will Oetinger nach eigenem Zeugnis durch einen anonymen Juden in Halle bekannt geworden sei, wo er 1735 kurzzeitig Dozent war, vgl. Kummer (Anm. 10), 89. Eva Johanna Schauer: Friedrich Christoph Oetinger und die kabbalistische Lehrtafel der württembergischen Prinzessin Antonia in Teinach. In: Holtz/Betsch/Zwink (Anm. 10), 165–181, hier: 166. Vgl. Kummer (Anm. 10), 80; Weyer-Menkhoff: Christus (Anm. 8), 39 f. Kummer (Anm. 10), 87. Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 165 [Hervorh. im Orig.].

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er bei dem Görlitzer Theosophen »seinen ersten Stoff angetroffen«.19 Newton habe »ganz neue Gedanken, die niemand vor ihm gehabt, welche aber zum Wunder mit J. Böhm allein einige Aehnlichkeit haben«.20 Oetingers Insistieren auf dem Böhmismus Newtons, der vor allem über Henry More vermittelt worden sei,21 kann als geradezu paradigmatisch für viele spätere Identifikations- oder Verwandtschaftsbehauptungen angesehen werden.22 Vor allem aber ist für diese frühe Zeit Oetingers persönlicher Kontakt mit Johann Albrecht Bengel zu nennen. Zwei Grundprägungen sind es, die Oetinger von ihm erhielt: ein realistisches Verständnis der Apokalypse, auch wenn er sich dessen mathematische Spekulationen nicht komplett zueigen machte, und seine exegetische Methode, die er selbst als realistischen Biblizismus verstand.23 Damit ist knapp ein erster Rahmen umrissen: Bengels Biblizismus und Apokalyptik, Böhmes Theosophie und die Kabbala, der philosophische Rationalismus in Gestalt des für Oetinger tendenziell idealistischen, aber dennoch immer frommen, weil christozentrischen Cartesianers Malebranche24 und in Gestalt der Leibniz-Wolff’schen Philosophie. Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Prägungen kaum miteinander zu vereinbaren waren: Wie für den philosophischen 19

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Friedrich Christoph Oetinger [anonym]: Inbegriff der Grundweisheit, oder kurzer Auszug aus den Schriften des teutschen Philosophen, in einem verständlicheren Zusammenhang. Frankfurt a. M./Leipzig 1774, 58. Vgl. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 198. Insbesondere die Begriffe »Attraction« und »Repulsion« seien der englischen Übersetzung Böhmes durch Henry More, Newtons Lehrer, entlehnt. Ernst Benz ist ebenfalls der Ansicht, dass Newtons Begriffe von Böhme stammten, der sie aus der kabbalistischen Sephirothlehre entwickelt habe. Vgl. Ernst Benz: Theologie der Elektrizität. Zur Begegnung und Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert. In: Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (1971), 685–782, hier: 757. So etwa durch Benz (Anm. 21), im Anschluss durch Gerhard Wehr in dem Kapitel Nachwirkungen von: Jakob Böhme in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Gerhard Wehr. Reinbek b. Hamburg 1971. Dass sich Oetinger selbst als theologischer Newtonianer und Böhmist gegenüber allen anderen theologischen Leibnizianern verstand, wurde bereits von den Zeitgenossen wahrgenommen, vgl. Rezension zu Oetinger: Theologia ex idea vitae deducta. In: Neue Theologische Bibliothek 1765, 617–643, hier: 622. Andere Rezensenten sprachen Oetinger hingegen die Legitimität der Behauptung von Gemeinsamkeiten zwischen Böhme und Newton rundweg ab, vgl. Rezension zu Oetinger: Swedenborgs und anderer irrdische und himmlische Philosophie. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1766, 26./27. Stück, 201–210, hier: 207. Vgl. die vor allem gegen Swedenborgs Eschatologie abgefasste Schrift Friedrich Christoph Oetinger: Kurzgefaßte Grundlehre des berühmten Würtenbergischen Prälaten Bengels betreffend den Schauplatz der Herabkunft Jesu zum Gericht des Antichrists vor dem jüngsten Tag samt den mitverbundenen lezten Dingen durch Halatophilum Irenaeum auf Kosten guter Freunde von Nürnberg zum Beweiß daß die H. Schrift in ihrem eigentlich unverblümten Verstand zu nehmen, samt einem Kupfer zum Druck befördert. O. O. 1769 sowie Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 570–572 u. 616–622. Oetinger behauptet in seiner Genealogie, Malebranches Christozentrismus habe ihn zu einem anti-arianischen »System von Christo« geführt. Zuvor sei er aufgrund seiner kabbalistischen Interessen arianischen Tendenzen ausgesetzt gewesen, vgl. Kummer (Anm. 10), 79. In der Philosophie der Alten würdigte er Malebranches Philosophie, die auf Jesus Christus als »Haupt aller Dinge« hinführe. Oetinger, Philosophie (Anm. 14), Bd. 2, 51.

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Rationalismus biblizistisches oder gar apokalyptisches Denken à la Bengel in der Regel fremd war, teilte Bengel nicht die theo-kosmogonischen Spekulationen aus dem Bereich der Kabbala und stand der Monadologie verständnislos gegenüber. Böhmes Theosophie war hingegen mit der biblizistischen Apokalyptik Bengels nicht kompatibel. Verwandtschaften zwischen Böhme und Leibniz25 erkannte Oetinger, der Leibniz vorwiegend mit der Brille Wolffs,26 aber vor allem aus der Sicht der anti-monadologischen Polemik Eulers und Justis27 um die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1747 las, nicht. In den 1730er Jahren hatte Oetinger engen Kontakt zu Zinzendorf, mit dem er sich aber wegen dessen Monismus in der Erlöserchristologie so tief überwarf, dass er gar Selbstmord begehen wollte.28 Von Zinzendorf übernahm er dennoch einen gewissen Christozentrismus, gerade wenn er betonte, dass dessen einseitige Orientierung auf die Erlöserschaft Christi das göttliche Walten in der Natur unberücksichtigt lasse und daher tendenziell diktatorische Züge trage. Ohne dieses ewige Wort aber, das Oetinger mit dem sensus communis gleichsetzt, »werden wir lauter päpste und herrscher der Gewissen, tyrannen und Menschenfänger, aber hasser der freyheit der Menschen«.29 Deshalb konzentrierte sich Oetinger nun auf den Logos, auf den »Christus als Heil [auch] der Natur«, ja als »wahre Medicin«30 und arbeitete mit Hilfe der Kabbala und Böhmes eine durch die 25

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Anders als Susanne Edel: Die individuelle Substanz bei Böhme und Leibniz. Die Kabbala als tertium comparationis für eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung. Stuttgart 1995; Dies.: Kabbala in der Theosophie Jacob Böhmes und in der Metaphysik Leibnizens. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hrsg. v. Dieter Breuer u. a. Wiesbaden 1995. Tl. 2, 845–856. Leibniz und Wolff werden von Oetinger nur selten unterschieden, er scheint zu seinem Leibniz-Bild aber durch Wolff gelangt sein. Vgl. Guntram Spindler: Oetinger und die Erkenntnislehre der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. I. A. der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. v. Martin Brecht u. a. Göttingen (im Weiteren mir der Sigle »PuN«), Bd. 10 (1984), 22–65, hier: 28. Vgl. etwa Oetingers Rechtfertigungsschrift von 1767 in Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), LXII, und Oetingers Swedenborg-Buch von 1765 insgesamt. Vgl. zur Debatte um die Preisfrage der Preußischen Akademie nun Hanns-Peter Neumann: »Den Monaden das Garaus machen«. Leonhard Euler und die Monadisten. In: Mathesis & Graphé. Leonhard Euler und die Entfaltung der Wissenssysteme. Hrsg. v. Wladimir Velminski u. Horst Bredekamp. Berlin 2010, 121–156. Nach seinem eigenen Bericht in einer 1780 mit den Murrhardter Predigten herausgegebenen Passionspredigt, vgl. Martin Weyer-Menkhoff: Friedrich Christoph Oetinger. Wuppertal, Zürich 1990, 73. Zu Oetingers Sichtweise nach Zinzendorffs Tod vgl. vor allem Friedrich Christoph Oetingers: Gespräch im Reiche der Todten zwischen dem gewesenen Urheber, Aeltesten und Bischof derer sogenannten mährischen Brüder, Nikolaus Ludwig, Grafen von Zinzendorf und Pottendorf, und dessen ehemaligen Freunde, dem berüchtigten Schwärmer, Johann Konrad Dippel, sonst Democritus Ridiculus genannt, der Arzneykunst Doktor und deklarirten Dänischer Kanzleyrath, worinnen beider seltene Handlungen und Begebenheiten erzählet werden. 2 Bde., Frankfurt a. M. 1760 f. Kummer (Anm. 10), 98. Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 207, Art. »Krankheit, Nosos«. Dass Christus Heil und Medizin sei, werde erkannt, wenn sich die Völker in der Stadt Gottes versammeln und den »Juden Recht geben« – das ist Oetingers Anknüpfung an die seit Pico della Mirandola kolportierte christlich-kabbalistische Vorstellung, die jüdische Kabbala sei mit dem

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Schöpfungsmittlerschaft Christi akzentuierte Theogonie aus, die den Christozentrismus dennoch beibehielt. Erst mit 36 Jahren gelangte Oetinger ins Pfarramt. Es waren vor allem seine experimentell-naturphilosophischen Arbeiten, die die Aufmerksamkeit des württembergischen Herzogs erregten und ihm schließlich das Dekanat in Herrenberg und dann sogar eine herzögliche Prälatur einbrachten.31 Als Oetinger ab Mitte der 1760er Jahre in kirchenamtliche Konflikte mit dem Stuttgarter Konsistorium geriet, die vor allem auf seine umfangreiche kommentierende und übersetzerische Arbeit an dem Werk des schwedischen Geistersehers Emanuel Swedenborg zurückgingen, war es nicht zuletzt diesem katholischen Herzog Karl Eugen zu verdanken, dass das gegen Oetinger eingeleitete Verfahren im Sande verlief.32 Swedenborg ist als weitere, von nun an nicht mehr wegzudenkende Quelle Oetingers anzusehen. Verschiedene naturphilosophische Elemente, aber vor allem Swedenborgs visionäre Berichte über den postmortalen Zustand der menschlichen Seelen und seine damit verbundene Theologie sind in Oetingers Werk eingegangen und dort, wo sie Bengels Apokalyptik und Böhmes Lehre von den göttlichen Kräften widersprachen, anverwandelt und modifiziert worden. Da Oetinger den seiner Ansicht nach allzu cartesisch und mechanistisch denkenden Swedenborg aber meist im Widerspruch zu Böhmes Theosophie sah,33 die Theosophie aber nun gerade Thema dieses Beitrags ist, steht Swedenborgs Einfluss hier nicht im Zentrum des Interesses.

3. Der idealistische Irrweg des Rationalismus Zunächst wird der wichtigsten Front nachgegangen, die Oetingers theologischem und naturphilosophischem Denken als Negativfolie diente und die er als Kontrast seiner Theosophie zugleich fortlaufend konstruierte. Es lässt sich letzten Ende nicht klar entscheiden, ob Oetingers scharfe Abwendung von der LeibnizWolff’schen Philosophie zeitlich vor seiner Adaption Böhmes und der Kabbala anzusetzen oder als Folge seiner böhmistisch-kabbalistischen Rezeptionen zu betrachten ist.34 Das Ergebnis aber ist klar: Es war eine bestimmte Auffassung der Monadologie und ihren Derivaten in der Aufklärungstheologie, der Oetinger seine Konstruktion eines theosophischen Biblizismus entgegenstellte. Oetinger berief sich bei seiner Ablehnung der Monadologie häufig auf Euler und auf eine

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Christentum identisch, vgl. dazu etwa Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis: Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998, 148–150. Zu den Beziehungen zwischen Oetinger und den Herzögen Eberhard und Karl Eugen vgl. knapp Weyer-Menkhoff: Oetinger (Anm. 28), 118; Benz, Swedenborg (Anm. 2), 40, 43, 169. Vgl. Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 519–521, sowie insgesamt Kap. 5.2.5. Vgl. dazu Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 594–596. Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 46, plädiert deutlicher dafür, dass Oetingers Bruch mit dem Leibniz-Wolff’schen Rationalismus durch Böhme veranlasst worden sei.

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theosophische Interpretation der Physik Newtons und Böhmes selbst. Die Lesart der Monadologie als einer rein idealistischen Weltsicht, die zeitgenössisch von Gottfried Ploucquet35 oder von solchen Autoren, die wie Siegmund Ferdinand Weißmüller ein physisches und stoffliches Monadenkonzept entwickelt hatten,36 ja gerade bestritten wurde, führte für Oetinger zu einer ganzen Reihe von äußerst gewichtigen Kritikpunkten an der zeitgenössichen rationalistischen Philosophie. Dabei lässt sich nicht sagen, ob Oetinger die »Oszillation« eines Verständnisses der Monaden als entweder stoffliche oder gänzlich immaterielle Entität schon in den philosophischen Entwürfen von Leibniz und Wolff bewusst war, da er stets zu einer idealistischen Interpretation griff, um die Monadologie in eben dieser Sicht abzulehnen.37 Es erübrigt sich daher die Frage, ob er dem philosophischen Rationalismus seiner prominenten Zeitgenossen anders begegnet wäre, hätte er Monaden etwa als körperlich-materielle Atome betrachtet. Dem philosophischen Rationalismus lag nach Oetingers Urteil wegen seiner Verbindung mit einer mechanistischen Weltsicht ein deterministisches, statisches und in seiner Tendenz idealistisches Gottes-, Natur- und Menschenbild zugrunde. Der Gott der Rationalisten erschien Oetinger als reiner Geist, der nicht mehr in der Welt wirkt, sondern die Weltmaschine »nach dem Modell eines mechanischen Triebwerks einer Uhr«38 mit einer festgelegten Energiemenge am Beginn aufgezogen hat, sodass sie nur noch nach mechanischen Regeln und nach dem Satz vom zureichenden Grund funktioniert und keinerlei Zufälle zulässt.39 Unter Berufung auf Newton akzeptierte er Leibniz’ Satz von den ewig gleichbleibenden Kräften ebensowenig. Schließlich gelange mit der Geburt eines neuen Kindes auch eine neue Kraft in die Welt, und eben diese Kraft vergehe bei seinem Tod 35

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Zu Ploucquet vgl. Hanns-Peter Neumann: Zwischen Materialismus und Idealismus – Gottfried Ploucquet und die Monadologie. In: Der Monadenbegriff zwischen Spätrenaissance und Aufklärung. Hrsg. v. Hanns-Peter Neumann. Berlin 2009, 203–270; Karl Aner: Gottfried Ploucquets Leben und Lehren. Halle 1909 [ND Hildesheim u. a. 1999], 43–52. Ploucquet »rettet« die Objektivität der Welt durch die aus der Philosophie Malebranches entlehnte »visio realis Dei«. Ebd., 49. Vgl. Martin Mulsow: Aufklärung versus Esoterik? Vermessung des intellektuellen Feldes anhand einer Kabale zwischen Weißmüller, Ludovici und den Gottscheds. In: Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Hrsg. v. Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarb. v. Andre Rudolph. Tübingen 2008, 331–376, hier: 357 f., 371; ders.: Pythagoreer und Wolffianer. Zu den Formationsbedingungen vernünftiger Hermetik und gelehrter »Esoterik« im Deutschland des 18. Jahrhunderts. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Anne-Charlott Trepp u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, 337–396, hier: 365 f. u. 385 ff.; vgl. auch Karin Hartbecke: »Ein Evangelischer Theologus und Platonischer Philosophe« – Sigmund Ferdinand Weißmüller und die pythagoreische Tetraktys. In: Neugebauer-Wölk/Rudolph, Aufklärung, 283–298, bes. 286 u. 289 f. Hanns-Peter Neumann sieht die »Oszillation des Monadenbegriffs zwischen körperlichem Atom resp. Materieteilchen und immaterieller Entität« und die daraus folgenden Monadendebatten schon bei Wolff und bei Leibniz selbst angelegt. Vgl. Hanns-Peter Neumann: Atome, Sonnenstäubchen, Monaden. Zum Pythagoreismus im 17. und 18. Jahrhundert. In: Neugebauer-Wölk/Rudolph, Aufklärung (Anm. 36), 205–282, hier: 210, sowie 250 f. u. 263–265. Vgl. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 156. Vgl. ebd., 208.

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auch wieder.40 Ganz anders als Leibniz gehe Newton gerade nicht davon aus, dass eine Summe der Kräfte erhalten werde wie »eine einmal aufgezogene Uhr«, sondern Bewegung hervorgebracht werde und verloren gehe, die Uhr also ständig »mit Kräften nachgebessert werden« müsse, weil Gott »zwar nach Ordnung und Regel, doch sehr frei und nach seinem Belieben« handele.41 Diese Frontstellung Newtons gegenüber Leibniz könnte Oetinger durchaus von dem Halleschen Wolffianischen Philosophen Johann Christian Förster entlehnt haben, dessen Philosophische Abhandlung über die Wunderwerke in der Neuen Theologischen Bibliothek Johann August Ernestis rezensiert wurde, einem Gelehrtenjournal, das zu Oetingers regelmäßiger Lektüre gehörte.42 Bei Newton erkannte Oetinger den Gedanken der freien, nicht mechanischen und nicht den geometrischen Regeln der Rationalisten gehorchenden göttlichen Kräfte aus der Theosophie Böhmes und der Kabbala, einer der Gründe für seine immer wiederkehrende Betonung des Böhmismus Newtons. Während Oetinger in der Freiheit das Merkmal sowohl Gottes als auch der geschaffenen Welt sah, konnte der Gott der Rationalisten die Welt nach seiner Auffassung nicht aus seinem Willen und seiner Allmacht schaffen; er hat aus Notwendigkeit43 und aufgrund seiner Vernunft die beste aller möglichen Welten schaffen müssen – einer Vernunft, deren Maßstäbe allerdings die Rationalisten 40 41 42

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Vgl. ebd., 250. Vgl. ebd., 199. Förster verweist auf die Annahme von Anhängern Newtons, »es sey unmöglich, daß GOtt diese physische Welt als eine Maschine so solte haben einrichten können, daß ihre Veränderungen ingesamt natürlich wären, wenn ihr Zweck erreicht werden solte. Um nun daher diese Maschine in ihrer Bewegung zu erhalten, und um diese zu ihrem Endzwecke zu lenken; so müsse GOtt manchmal eine ausserordentliche Handlung vornehmen, dadurch sie so verändert würde, daß ihr Zweck erreicht werde, welches sonst der Maschine natürlich unmöglich wäre. Kurz sie gleicht nach diesem Lehrgebäude einer Uhr, die denn und wenn entweder stocket oder unrichtig gehet; GOtt als der Künstler und Erbauer derselben muß deswegen manchmal an ihr bessern, wenn sie in ihrer Bewegung richtig fortgehen soll.« Dies werde aus der 31. Frage in Newtons Optick abgeleitet. Bilfinger habe versucht, Newton und Leibniz an diesem Punkt zu versöhnen. Johann Christian Förster: Philosophische Abhandlung über die Wunderwerke. Halle 1761, 70, 72. Auf eben diese Stelle wird in der Rezension verwiesen, vgl. Neue theologische Bibliothek 1762, 266–280, hier: 270. Oetinger bezog sich an mehreren Stellen auf Ernestis Neue Theologische Bibliothek, die zu den wichtigsten theologischen Fachblättern der Zeit zählte, vgl. etwa Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 125, sowie ebd., X, 374. Vgl. ebd., 242. An anderer Stelle sieht Oetinger mit dem Notwendigkeitsgedanken auch einen drohenden Spinozismus: »Seine [Gottes] Nothwendigkeit, zu sein, bringt keine Nothwendigkeit zu würken mit sich. Etwas Nothwendiges ist sui generis unicum, ein ewiges eins: GOtt müßte nach Nothwendigkeit auch eine ewige unanfängliche Würkung haben, mithin wäre die Welt ein ewiger Ausfluß von ihm, und so wäre die Welt und GOtt nicht unterschieden, er wäre nothwendig der Mittelpunkt der Welt.« Friedrich Christoph Oetinger: Höchstwichtiger Unterricht vom Hohenpriesterthum Christi, zur richtigen Beurtheilung der Nachrichten des Herrn von Schwedenborgs, in einem Gespräch nach Art des Hiob, zwischen einem Mystico, Philosopho und Orthodoxo, da jedesmal ein heutiger Hiob, ein um der Wahrheit willen leidender antwortet, sammt einer Vorrede vom Neide bei Frommen und Gelehrten, herausgegeben von einem Wahrheitsfreunde, der GOtte besonders über Oetinger danket. Frankfurt a. M./Leipzig 1772, 30.

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festgelegt haben.44 Deren Gott vermittele der Schöpfung nicht Leben, sondern Repräsentationen.45 Unvorstellbar ist dem Bengelianer Oetinger, dass die Welt eine ewige Serie sei und dass sie mit Gott wie alle Monaden präexistiert habe, wie die anti-apokalyptischen Rationalisten Leibniz und Wolff, die »Philosophen von Dan und Bethel«, aber auch Ploucquet meinten.46 Diesem Gott können die Eigenschaften von Leben, Wille, fortwirkender Kraft und Freiheit nicht zugeschrieben werden. Er ist seinen eigenen Gesetzen unterworfen und daher unfrei.47 Dies betrifft auch die Seelen: Wenn sie, wie in Leibniz’ und Wolffs dieses Mal nun ausgerechnet aus der Kabbala abgeleiteten Vorstellung,48 in instanti außerhalb der Zeit geschaffene und einfache Entitäten sein sollen,49 dann können sie in Oetingers Augen keine Freiheit besitzen, sondern unterliegen mechanischen Regeln und sind vor der Zeit determiniert. Nach Leibniz’ System können Seelen keine »innere Freiheit« besitzen, Freiheit stamme ausschließlich »von den umstehenden Dingen«.50 Simplices, einfache und mit Entelechie ausgestattete Dinge, lehnt Oetinger aber auch deshalb ab, weil sie mit der Vorstellung der Präexistenz und der Mechanik dicht zusammenhängen. Eine prästabilierte Harmonie, die vorausssetzt, dass sich Seele und Körper niemals berühren geschweige durchdringen können, führt in Oetingers Verständnis dazu, dass die Körper letztlich nicht nur für bloße Erscheinungen, sondern sogar für »Scheindinge«,51 ja für eine »idealistische 44

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Vgl. Wolfgang Schoberth: Geschöpflichkeit in der Dialektik der Aufklärung. Zur Logik der Schöpfungstheologie bei Friedrich Christoph Oetinger und Johann Georg Hamann. Neukirchen-Vluyn 1994, 154. An (u. a.) dieser Stelle trifft Oetinger nach Schoberths Untersuchung mit Hamanns Vernunftkritik zusammen. Vgl. ebd., 174, 181–183, 195, 264. Vgl. Friedrich Häussermann: Einführung. In: Friedrich Christoph Oetinger: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia. Hrsg. v. Reinhard Breymayer u. Friedrich Häussermann. 2 Bde. Berlin/New York 1977, Bd. 1, 31–50, hier: 38. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 155, 273. Nach 1Kön 12,28 f. stellt Jerobeam zwei goldene Kälber in Dan und Bethel auf. Laut Aner (Anm. 35), 61 f., scheint Ploucquet aber von der Unendlichkeit der Welt wieder abgerückt zu sein, wenn er 1782 behauptete, Gott habe nicht eine unendliche, sondern eine beschränkte Welt vorgezogen. Vgl. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 242; Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 189 f. Diese Lehre sei ebenso von den »uralten Cabbalisten abgegangen« wie auch Spinoza das ewige und ungeschaffene aktive und passive Prinzip aus dem »verderbten Cabbalismo und Cartesianismo genommen« habe. Vgl. Oetingers Abhandlung von dem Zusammenhang derer Glaubens-Articul mit den letzten Dingen (Görlitz 1757), zit. n. Reinhard Breymayer: Oetingers geheime Fehde mit Christian Thomasius. In: Holtz/Betsch/Zwink (Anm. 10), 251–283, hier: 281. Inwieweit Oetinger auf die u. a. von Johann Franz Budde und Johann Georg Wachter geführte Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Kabbala und Spinozismus rekurrierte, ist noch nicht erforscht. Vgl. Walter Sparn: Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza. In: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Hrsg. v. Wilhelm SchmidtBiggemann. Heidelberg 1984, 27–64, hier: 47–52. »Auf dictatorische Weise« bezeichneten die Philosophen »von Dan und Bethel« jeden Widerspruch gegen diese Behauptung schlichtweg als Materialismus. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 156. Vgl. Oetinger: Lehrtafel (Anm. 45), Bd. 1, 244 [Hervorh. im Orig.]. Dieser Begriff für die Leugnung alles Leiblichen durch die Kette der Philosophen, die von Plato über den Gnostiker Kerinth, über Leibniz und Wolff bis zu Semler gezogen wird, taucht regelmäßig in Oetingers Schriften auf, vgl. etwa Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1),

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Materie«52 gehalten werden wie die Monaden selbst, die nicht wirklich, sondern nur in Gottes Vorstellung existieren. Wenn Gott bei Leibniz und Wolff reiner, gänzlich unkörperlicher Intellekt ist,53 dann sind es nicht nur Raum und Zeit, die nur Schein sind und nichts Körperliches an sich haben, es sind die Monaden selbst, die Oetinger nicht wie Leibniz als phaenomena regulata mit einer gewissen Realität ausgestattet sieht, sondern als unkörperliche Einheiten, deren Leib im Grunde genommen überflüssig ist.54 Die Wolff’sche Philosophie läuft für Oetinger im Gegensatz zu seinem theosophischen Seelen- und Naturverständnis und zu seiner apokalyptischen, auf die Leiblichkeit abzielenden Weltsicht »auf Apparenzen« hinaus, nicht auf dynamische und »leibliche Subsistenz«.55 Oetingers Kritik an den theologischen Implikaten und Auswirkungen von Leibniz und Wolff richtet sich vor allem gegen den Arianismus der zeitgenössischen Theologie, die damit auch einen kabbalistischen Akzent übernommen habe, von dem sich der Kabbalist und Böhmist Oetinger distanziert. Christus sei von der Person Jesu abgelöst worden, sodass dieser weder als Erlöser noch als Schöpfungsmittler betrachtet werde.56 Die Gründe hierfür sieht Oetinger in einem modernen Doketismus, der wie einst Kerinth die Inkarnation genauso ablehnt wie die Erlösung und vor allem den Wortgehalt der Bibel und hier in erster Linie die Buchstäblichkeit der Offenbarung des Johannes.57

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Bd. 1, 119 (Farben sind nach Newton nicht Scheindinge, sondern »wesentliche Dinge«); Friedrich Christoph Oetinger: Die Metaphysic in Connexion mit der Chemie, worinnen sowohl die wichtigste übersinnliche Betrachtungen der Philosophie und theologiae naturalis & revelatae, als auch ein clavis und Select aus Zimmermanns und Neumanns allgemeinen Grundsätzen der Chemie nach den vornehmsten subjectis in alphabetischer Ordnung nach Beccheri heut zu Tag recipirten Gründen abgehandelt werden, samt einer Dissertation de Digestione, ans Licht gegeben von Halophilo Irenäo Oetinger. Schwäbisch Hall [1770], 31; Oetinger, Inbegriff (Anm. 19), 39 f. Vgl. die Anmerkung Oetingers in der Übersetzung von: Emanuel Swedenborg: Von den Erdcörpern der Planeten und des gestirnten Himmels Einwohnern, allwo von derselben Art zu denken, zu reden und zu handeln, von ihrer Regierungs-Form, Policey, Gottesdienst, Ehestand und überhaupt von ihrer Wohnung und Sitten, aus Erzählung derselben Geister selbst durch Emanuel Schwedenborg Nachricht gegeben wird. Ein Werk zur Prüfung des Wahren und Wahrscheinlichen, woraus wenigst vieles zur Philosophie und Theologie, Physik, Moral, Metaphysik und Logik kann genommen werden, aus dem Latein übersezt und mit Reflexionen begleitet von einem der Wissenschaft und Geschmack liebt. Anspach 1771, 185. Vgl. Schoberth (Anm. 44), 154. Vgl. Guntram Spindler: Das »Wörterbuch« als Werk der Philosophia sacra. In: Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 2, 85–107, hier: 94. Oetinger, Inbegriff (Anm. 19), 39. Vgl. Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 35, 58. Oetinger lastet den Arianismus auffälligerweise aber nicht der jüdischen Theologie insgesamt an, sondern macht die Adam-KadmonFigur bei Isaak Luria und in der Kabbala denudata dafür verantwortlich. Vgl. Friedrich Christoph Oetinger: Theologia ex idea vitae deducta. Hrsg. v. Konrad Ohly. 2 Bde. Berlin/ New York 1979 [1765], Bd. 1, 71. Vgl. Friedrich Christoph Oetinger: Beurtheilungen der wichtigen Lehre von dem Zustand nach dem Tod und der damit verbundenen Lehren des berühmten Emanuel Swedenborgs theils aus Urkunden von Stockholm theils aus sehr wichtigen Anmerkungen verschiedener Gelehrten. O. O. 1771, 93–96 (Auszug aus der Lehrtafel), sowie 96, wo Oetinger die doketistische Leugnung der Kerinthianer und des Kaiphas mit dem »Schein-Leib« der Wolffianer auf eine Stufe stellt. Vgl. auch Spindler, Wörterbuch (Anm. 54), 94.

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Wenn Oetinger Platonismus, Gnosis, Kerinthianismus und Doketismus in theologischer und in philosophischer Hinsicht ineins setzt, mit dem LeibnizWolffianismus verbindet und diesem Konglomerat eine »antignostische Gnosis« entgegensetzt, dann handelt es sich nicht um eine Verwechslung,58 sondern um eine gezielte polemische Zuschreibung, die aus seiner idealistischen Sicht der Theologie und Philosophie seiner rationalistischen Gegner resultiert, die er auf diese Weise identifiziert: Hinweg die Platonische und Leibnizische phantasmata, daß allein die Geister –Oντα (Wesen) seyen, Leiber seyen nur φαινόμενα (Erscheinungen), keine Wesen. Das ist der Ursprung der Cerinthischen Irrthümmer.59

Dieser kerinthianisch-rationalistische Doketismus hat für den Böhmisten Oetinger gravierende Auswirkungen im Blick auf die Frage nach der Herkunft und der Existenz des Bösen. Denn wer eine ewige Welt annimmt und zugleich die Realität des Bösen als privatio boni oder als bloße Folge der kreatürlichen Begrenztheit kleinredet, der kennt in Oetingers Augen auch keine wirkliche Freiheit, keine Erlösung, kein Jüngstes Gericht, kein Weltende, keine Neuschöpfung.60 Dahinter steckt für ihn eine notwendige Konsequenz des Idealismus, der den »Leib« – hier Christi und man kann auch sagen: den Leib Gottes – für reine Geistigkeit hält und den »Leib« der Heiligen Schrift in ebendieser Weise nur als Schein erachtet. Beispiele für diesen Ansatz sind ihm die allegorische Exegese Swedenborgs, aber auch die historisch-kritische Methode des Hallenser Neologen Johann Salomo Semler. Beide entspringen nach Oetingers Urteil ein und derselben Quelle. Die Neologie in Gestalt Semlers, Wilhelm Abraham Tellers oder Johann Joachim Spaldings61 auf der einen und Swedenborg auf der anderen Seite werden zu den Hauptgegnern des älteren Oetinger und zur Negativfolie für die Verfestigung und Radikalsierung seines realistischen Biblizismus und Apokalyptizismus.62

4. Theosophie gegen Idealismus und Rationalismus Was setzt Oetinger gegen diesen idealistisch verstandenen Leibniz-Wolffianismus, wenn er Materialismus, Idealismus und Pantheismus genauso vermeiden will wie einen Christomonismus, der sich autoritär über die Naturphilosophie erhebt und der Natur die Gottgewirktkeit im Rahmen einer creatio continua 58 59 60 61

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So Pierre Deghaye: La philosophie sacrée d’Oetinger. In: Ders.: De Paracelse à Thomas Mann. Les avaters de l’hermétisme allemand. Paris 2000, 116–163, hier: 123. Oetinger, Lehrtafel (Anm. 45), Bd. 1, 242. Das betrifft sowohl Leibniz und Wolff als auch Oetingers Lehrer Bilfinger, vgl. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 155 f., 251, 355; Häussermann (Anm. 45), 42. Zu den zeitgenössischen Theologen, die Oetinger im Biblischen und Emblematischen Wörterbuch kritisiert, vgl. Ursula Hardmeier: Friedrich Christoph Oetingers Kampf gegen »falsche Schriftauslegung«. In: Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 2, 108–128. Vgl. zu diesem Punkt insgesamt Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 594–629.

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abspricht, um Christus auf seine soteriologische Rolle zu reduzieren? Oetinger spricht nicht von Theosophie, sondern von Philosophia sacra, einem Lehrgebäude, das von Bengel und Böhme gerahmt ist und das er ebenso wie die theologisch gleichermaßen umstrittenen als auch aufgrund ihrer vermeintlichen Orthodoxie angegriffenen Johann Arndt, Philipp Jakob Spener und Bengel in Übereinstimmung mit dem »Evangelisch Lutherischen Symbolo« sieht. In einer freilich apologetischen Situation wundert sich Oetinger sogar, dass er durch die genannten Autoritäten »sogar Lutherisch ist«.63

4.1 Freiheit trotz Fines Dei praeordinati Die zentralen Eigenschaften, die Oetinger Gott und Mensch beilegt, sind Freiheit, Wille, Leben, Kraft und Geistleiblichkeit.64 Oetingers Interesse zielt auf einen Mittelweg zwischen einem geistlosen, mechanistischen und deterministischen Materialismus und einem leiblosen, doketistischen, die Leiblichkeit Gottes, der Seele und der Natur negierenden Idealismus – das sind die Fronten, zwischen die Oetinger die Vorstellung der Geistleiblichkeit einträgt. Das tragende Motiv seiner gesamten Lehre dürfte in der Eschatologie gesehen werden. Denn Oetinger betrachtet nicht nur den Menschen unter eschatologischer Perspektive, sondern auch Natur und Materie. Die Eschatologie prägt schon sein kosmogonisches Konzept: Alles, was erschaffen wird, ist in einem dynamischen Weltgeschehen zur Vollendung vorgesehen. »Lehre vom Vorsatz« kann er das nennen, wobei er sich scharf gegen die deterministisch verstandene und bei Leibniz wiedererkannte calvinistische Prädestinationslehre abgrenzt und lieber von »Allwirkung« als von dem für unbiblisch gehaltenen Begriff der Vorsehung spricht.65 Gott hat nicht die Beste aller möglichen Welten geschaffen, die Schöpfung hält an. Die harmonia praestabilita ist nicht der Ursprung, sondern das Ziel: »Fines Dei harmonice praeordinati« – das ist Oetingers eschatologische Umformulierung der prästabilierten Harmonie. Und die Engel ermöglichen es auf Gottes Befehl, dass diese Ordnung von den intelligenten Wesen auch erkannt werden kann.66 Dass Bengels Apokalyptik sich in seine Konzeption einpasst, versteht sich von selbst, denn dieser dynamische Prozess umfasst auch den postmortalen Interimszustand der Seelen bis hin zum Weltende. Anfang und Ende der Welt stehen fest, aber dazwischen herrscht nun gerade nicht der Determinismus im Sinne des mechanischen Räderwerks einer Uhr, sondern Freiheit. Oetinger vermag gar im Zufall das Prinzip des Schöpfungsverlaufs zu erkennen, an dessen Ende die Unordnung der Welt durch Gott erst in Ordnung gebracht wird.67 63 64 65

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Oetingers Rechtfertigungsschrift von 1767 (Anm. 27), LXVII, sowie ebd., 175. Vgl. zu diesen Punkten im Einzelnen Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 534–555. Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 349, Art. Vorsehung, Prognosis, Pronia, im Anschluss an »Vorsatz Gottes«. Der »Vorsatz« Gottes begründet letztlich auch Oetingers Apokatastasis-Lehre und seinen Chiliasmus. Vgl. Groth (Anm. 7), 108 f. u. 118. Vgl. Oetinger, Theologia (Anm. 56), Bd. 1, 200; Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 34 f. Unter Berufung auf Gottfried Ploucquet sieht er den Zufall aber nicht im Mikrokosmos der

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Geradezu singulär scheint er mit seinem Zweifel an der universellen Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grund dazustehen, den er bei der Vorordnung der Freiheit vor der Notwendigkeit des rationalistischen und aus dem (menschlichen) Vermögen der Vernunft abgeleiteten Kausalitätsprinzip gegen die letztlich deterministischen Rationalisten konsequenterweise, wenn auch nicht Zeit seines Lebens, erhebt. 1776 räumte Oetinger dem Satz vom zureichenden Grund ausdrücklich nur für das mechanische »Urwerk der gemachten, nicht formirten Welt« Gültigkeit ein.68 Ein Jahr später betonte er jedoch, dass es wegen der vielen Widersprüche, die durch das Böse in der Welt wirkten, nicht nach dem »Principio rationis sufficientis« gehe.69 Seine Aussagen über dieses kausale Kerngesetz der Mechanik sind zwar nicht im Gesamtwerk durchgehalten, sie stehen jedoch für Oetingers Bereitschaft, das Freiheitsprinzip mit allen Konsequenzen auch ins Reich der Natur zu übertragen, um die Nichtmechanizität und Nichtrationalität der göttlichen, die Natur belebenden Kräfte behaupten zu können.

4.2 Der souveräne Gott: Actus purissimus und Manifestatio sui Das hat Rückwirkungen auf Oetingers Gottesbild. Gegen Ordnung und Notwendigkeit als göttliche Prädikate der Rationalisten setzt er Freiheit und Wille, sogar Willkür: Gott wirkt »nach souverainer Willkühr«, und die Kräfte, durch die er handelt, gehorchen nicht den Notwendigkeiten der Materialität und Mechanizität.70 Wenn das »Suum« Gottes nicht »lauter Freiheit« sei, müsste »die Offenbarung seiner selbst ein nothwendiger Ausfluß« sein.71 Daraus würde ein

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Atome, er verschiebt ihn in den Makrokosmos der Welt als Ganzer. Vgl. Oetinger: Swedenborg (Anm. 6), 387. Damit wendet er sich vor allem gegen Leibniz, der den Zufall ausschließe. Gegen Leibniz’ ewige und gar gottgleiche »Concepte«, die Gott zur Handlung nach dem Prinzip des Besten »nöthigen«, betont Oetinger den Willen Gottes im Anschluss an das 1. Gebot, vgl. ebd., 208. Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 261; Spindler, Wörterbuch (Anm. 54), 98 f. Vgl. Friedrich Christoph Oetinger [anonym]: Freymüthige Gedanken von der ehelichen Liebe nebst einem Anhang verwandter Materien für Wahrheitsforscher, welche prüfen können. O. O. 1777, 71. An manchen Stellen wehrte er sich offenbar mit Blick auf die Gottesfrage gegen den Satz vom zureichenden Grund, wenn dieser mit der durchgehenden Determiniertheit und Kausalität verbunden war, was bei Leibniz nach der Kritik Voltaires, Clarkes und Newtons zu einem unvermeidlichen Schicksal führen müsse. Gott wäre dann ein passives Wesen und »kein Gott mehr«. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 206; vgl. auch Oetinger, Philosophie (Anm. 14), Bd. 2, 100. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 205; Oetinger, Beurtheilungen (Anm. 57), 61. Auch Newton setze »unter den Eigenschaften GOttes die Freiheit zuerst«. Auch damit schließt sich Oetinger an Ploucquet an. Allerdings ergänzt er, dass Gott sich aus Freiheit in die Natur herablasse und dadurch die Gläubigen »grüßt« wie »uns« auch die »7. Geister« [Sephiroth]. Aber »die Weltweisen wagen es nicht so weit«, das heißt bei Oetinger: zur Sephirothlehre, und schweigen lieber. Friedrich Christoph Oetinger: Abhandlung, daß die übersinnliche Leiber- und Geisterlehre des Herrn Professors Ploucquets in Tübingen, unter allen bisher bekandten Lehrversuchen der neueren Weltweisen, der in heiliger Schrift enthaltenen Naturlehre am nächsten komme. In: Schwäbisches Magazin von gelehrten Sachen 1777, 644–655, hier: 654 f.

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spinozistisches oder mechanizistisches Weltbild folgen. Gott selbst ist daher wie Luthers Deus absconditus als Suum unerkennbar, aber erkennbar durch das Produkt seiner Haupteigenschaft; als ens manifestativum sui bleibt Gott selbst zwar unveränderlich und damit auch unerkennbar, aber er manifestiert sich durch die Offenbarung selbst und ist damit Träger eines generativen Prinzips, das fortwährend die Schöpfung hervorbringt. Hiermit knüpft Oetinger erneut an Gedanken Ploucquets an, der das principium intellectus generativum im göttlichen Verstand als »geburtliche[n] Grund zur Hervorbringung der Dinge« betrachtet, sich aber nicht »weiter gewagt« habe, weil er »Materialismum fürchtet«.72 Oetinger schreibt Ploucquet nun das Verdienst zu, durch den von ihm kreierten »Grundsaz von der manifestatione sui« der Wolff’schen Philosophie »eine andere Gestalt gegeben« zu haben. Alle Kreatur ist auf diese Weise eine »wesentliche und reelle Abbildung aus GOtt ohne Emanation«.73 Und Gott ist aus dieser Sicht, so entnimmt es Oetinger Hermes Trismegistos, actus purissimus, sein Wille ist das Selbstoffenbarwerden mit dem Ziel der Leiblichkeit.74 Nur in der Schöpfung und nur unter körperlichen Gestalten ist Gott erkennbar. Gegen den Mechanizismus und Determinismus seiner rationalistischen Zeitgenossen – und gegen die cartesische Naturphilosophie Swedenborgs vor dessen neuplatonischer Wende – überträgt Oetinger den Freiheits- und Bewegungsgedanken Böhmes ins Feld der Kosmogonie. Das Werden steht vor dem Sein, die Bewegung vor der Substanz.75 Die Welt wird von Kräften, den Abglänzen bei Böhme oder den Sephiroth, durchflossen, wobei Oetinger eine neuplatonische Emanation und zugleich die von Wolff behauptete creatio ex nihilo unbedingt vermeiden will.76 Oetinger stellt sich die Schöpfung nicht aus Nichts, sondern aus Wasser durch Geist vor,77 und mit Böhme sieht er den Willen Gottes am Anfang, der eine raum- und zeitordnende Bewegung enthält, auch wenn Gott selbst außerhalb des Raumes und der Zeit ist: »Das ist das Wort, die Weisheit und Herrlichkeit Gottes«, wo der Grund aller Materie liegt.78 Was Gott eigen ist, ist der Wille zur Selbstoffenbarung, zur Verleiblichung. Doch bevor er etwas schaffen kann, richtet sich als »Anfang aller Realité«79 72

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Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 246, auch 384; Oetinger, Abhandlung (Anm. 71), 653; Oetinger, Inbegriff (Anm. 19), 4: »ein Wesen, das sich selbst offenbahrt im höchsten Grad, Ens manifestativum sui«. Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 65. Vgl. Oetinger, Philosophie (Anm. 14), Bd. 2, 39 f.; aber schon Friedrich Christoph Oetinger: Einleitung zu dem Neu-Testamentlichen Gebrauch der Psalmen Davids, der heutigen Ausschweifung in Liedern und Mund-Gebetern entgegengesezt. Neue verbess. Aufl. Stuttgardt 1776 [1748, 1750], 621, und zahlreiche Stellen im Gesamtwerk. Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), 296; zu Swedenborgs Naturphilosophie, vgl. Stengel, Aufklärung (Anm. 4), Kap. 2 (56–188). Vgl. Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 42 f. Vgl. Oetinger, Philosophie (Anm. 14), Bd. 1, 57. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 237. Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 48; Oetinger, Metaphysic (Anm. 51), 621. Hier beruft sich Oetinger auf den Sohar und identifiziert das Zimzum mit dem lm;v.x; aus Ez 1,4, das er an anderer Stelle mit der Ausbreitung der Stärke Gottes nach Ps 150,1 und dem »Ternarium sanctum« Böhmes (Oetinger, Swedenborg [Anm. 6], 201) oder auch mit dem elek-

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dieses Begehren, attractio nach Böhme, Zimzum nach Isaak Luria, gegen Gott selbst. Dadurch wird ein Raum frei, in den die Abglänze oder Sephiroth einfließen können, ein Raum, der Gott in seiner Abwesenheit ist, der aber durch die repulsio mit seinen Kräften wiederum gefüllt wird. Durch diesen nicht sukzessiven, sondern intensiven Vorgang wird die Polarität in die Schöpfung transportiert.80 Repulsio und attractio, die zentrifugale und zentripetale Kraft, die, wie Oetinger durch William Law zu wissen meint, Newton über Henry More von Böhme übernommen hat, sind die polaren Kräfte, die die Seele wie alles Geschaffene ausmachen.81 Zwischen Gott und Welt steht bei Böhme die göttliche Weisheit, Oetinger nennt sie Herrlichkeit oder Schechina wie in der Kabbala, identifiziert sie aber nicht mit Christus wie Reuchlin oder mit einem weiblichen Prinzip. Sie ist kein eigenes Wesen, sondern der Prozess der Selbstoffenbarung.82 Die Schechina umfasst die zehn Sephiroth, die Selbstbewegungsquellen Gottes. Sie streben aus Gott heraus und sind daher zwar aus Gott, aber nicht Gott selbst.83 Herrlichkeit, Leiblichkeit und Wort setzt Oetinger synonym.84 Vor der Verleiblichung der Sephiroth bewegen diese sich im Rad der Geburten, dem troco.j th/j gene,sewj aus dem Jakobusbrief 3,6.85 Wie bei Böhme wirft der »Schrack« oder die »blizende Dekussation« grobe Materie aus diesem Rad heraus,86 eine Modifikation der lurianischen »schebirah ha kelim« als einer Art Urknall.87 Durch die Allwirkung der göttlichen Kräfte hat alles Körperliche bis hin zu jedem Atom Leibliches und Unleibliches, Vergängliches und Unvergängliches an sich.88

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trischen Feuer gleichsetzt. In Oetinger, Lehrtafel (Anm. 45), Bd. 1, 133, verteidigt er Lurias Zimzum als angemessene Vorstellung für das Bedürfnis, sich »aus Freyheit seines Willens […] Schrancken« zu setzen. Vgl. Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 61. Vgl. oben Anm. 21 sowie Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 180. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 285: Die »Neutonianer« lobten Newton als »schöpferischen Geist«, weil er als erster die beiden Zentralkräfte »Contripetam & Centrifugam in die Grundweißheit eingeführt« habe. Law und andere wüssten aber, dass Newton Böhme »viel behandelt, wie er denn mehr nach FONTENELLE Lebens-Läufen in der Bibel als in Mathesi solle beschäftigt gewesen seyn« [Hervorh. im Orig.]. Vgl. auch ebd., 286; Oetinger, Metaphysic (Anm. 51), 471. Vgl. Otto Betz: Kabbala Baptizata. Die jüdisch-christliche Kabbala und der Pietismus in Württemberg. In: PuN 24 (1998), 130–159, hier: 148; Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 61; Schauer (Anm. 15), 172; Schoberth (Anm. 44), 162. Vgl. Erich Beyreuther: Einleitung. In: Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), IX-LXXIX, hier XIX. Auf der Lehrtafel der Prinzession Antonia verkörpert Christus sowohl die 10. als auch die 2. Sephirah, vgl. Betz, Kabbala (Anm. 82), 147 f. Vgl. Schoberth (Anm. 44), 161; Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 256. Vgl. etwa Oetinger, Metaphysic (Anm. 51), 419, aber oft im Gesamtwerk. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 10, 170 f., 329; Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 364; Oetinger, Inbegriff (Anm. 19), 10; Häussermann (Anm. 45), 35. Vgl. Oetinger, Lehrtafel (Anm. 45), Bd. 1, 134 f.; Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 61; Schauer (Anm. 15), 170. Vgl. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 239; Beyreuther (Anm. 83), XXV. Zu diesem Thema auch Schmidt-Biggemann, Philosophia (Anm. 30), 200 f.

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4.3 Das Böse: Eine unordentliche Generation Für Oetingers Theologie wesentlich ist die Frage nach einer realistischen Auffassung vom Bösen. Er lehnt die Vorstellung von einem Gott ab, der nur Liebe wäre wie etwa bei Johann Conrad Dippel und vielen Aufklärern, auch Theologen, die das Böse zugleich als bloß menschliche Eigenschaft oder als privatio boni betrachten.89 Umgekehrt geht für ihn aber auch Böhme zu weit, der meint, beim Schöpfungsakt würden Gottes Liebes- und Zorneswillen auseinanderbrechen.90 Denn damit würde das Böse in Gott zurückversetzt. Für Oetinger ist Gottes EnSof, der Ungrund, einheitlich,91 nicht dualistisch wie einige Jahre später bei dem württembergischen Theosophen Johann Michael Hahn, der sich trotz mancher Differenzen stark bei Oetinger bediente.92 Erst durch die Selbstoffenbarung Gottes wird die Polarität der Kräfte auch auf alles Geschaffene übertragen, ebenfalls nicht ein sukzessiver oder konsekutiver, sondern ein intensiver Vorgang im Sinne eines Ineinanders von Kräften oder von aktivem und passivem Lebensfeuer. Aus diesem Streit zwischen aktivem und passivem Feuer entstehe ein »motus alternus«, der der eigentliche Anfang des Lebens sei, nämlich »eine Geburt aus der Angst«.93 Das Böse entsteht dabei nicht aus Gottes Zorn wie bei Böhme, sondern aus der Finsternis, die Folge von Gottes Zimzum ist, als Folge eines Vorgangs – Geburt aus Angst – und nicht als Generation einer göttlichen Wesenseigenschaft – das könne »kein Idealist glauben«, für den der Schöpfungsbeginn selbst »lauter Licht ohne Finsterniß« sei.94 Das Böse hat aber neben dieser theo-kosmogonischen Erklärung auch seine Quelle in einer geschaffenen Intelligenz. Der gefallenene Engel Luzifer hat als erster gezielt die Freiheit der Selbstbewegung zur Verwirrung der Kräfte missbraucht. Er wurde dadurch Ursache erst des Chaos und dann der Materialität der Schöpfung, die vorher in Gott war.95 Demzufolge besitzt der Teufel für Oetinger kein unveränderliches, sondern ein dynamisches, stets sich veränderndes Wesen. Er stellt ihn sich weder endlich noch »mechanisch« vor. Durch seine Selbstbewegung, sein eigenes Rad der Geburt, gebäre er Lügen. Während in der menschlichen Seele eine »unordentliche Entzündung des Rads der Geburt« geschehen sei, habe die »unordentliche Entzündung, welche die Hölle, die Finsterniß dieser Welt und der Tod« heiße, »von Anbeginn des Falles« alles durchdrungen, »und 89 90 91

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Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 262 f., 271 u. 340. Vgl. Beyreuther (Anm. 83), XX, XXII; Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 195. Oetinger spricht von »Abgrund«, »Ungrund« oder von der »Verborgenheit« Gottes, wo in der Kabbala vom En-Sof und bei Böhme vom »Ungrund« die Rede ist. Vgl. Otto Betz: Friedrich Christoph Oetinger und die Kabbala. In: Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), 18; auch Deghaye, Oetinger (Anm. 58), 134. Vgl. Groth (Anm. 7), 198 u. 202. Vgl. Friedrich Christoph Oetinger: Procopii Divisch Theologiae Doctoris & Pastoris zu Prendiz bey Znaim in Mähren längst verlangte Theorie von der meteorologischen Electricité, welche er selbst magiam naturalem benahmet. Tübingen 1765, 87 f. Oetinger, Lehrtafel (Anm. 45), Bd. 1, 223. Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 147, Art. »Genugthuung«.

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so sündigt der Teufel von Anfang fort, und zeugt Falschheit aus Falschheit physice und moraliter.«96 Dass sich der erste Adam, den sich der späte Oetinger wie Böhme und explizit gegen Swedenborgs duale Figur von der himmlischen Ehe97 als androgyn vorstellt, im Widerstreit seiner Kräfte nicht an Gott, sondern am tierischen Leben orientiert hat, ist ein weiterer Grund für die Realität des Bösen.98 Gegen die zeitgenössische, besonders von Leibniz vertretene Lehre von der Präformation und gegen die an Leibniz anknüpfende evolutionäre Ausrollung der Dinge nach dem Modell der Palingenesie von Charles Bonnet99 votiert Oetinger mit kosmologischer und in der Konsequenz hamartiologischer Begründung für den Traduzianismus der Seele. Der Widerstreit der Kräfte und die Selbstbewegung alles Geschaffenen werden wie die Erbsünde weitergetragen, wobei die Freiheit des Einzelnen zwischen diesen Kräften erhalten bleibt und die Harmonie der Kräfte durch seine Wahl durcheinander bringen kann, sodass die natürliche Seele über die geistige Seele die Oberhand zu gewinnen vermag.100 Wenn das Böse als die in freier Entscheidung vollzogene Verirrung der Kräfte durch eine »unordentliche Generation«101 gedacht wird, liegt es trotz seiner kosmologischen Dimension stets auch in der Verantwortung des Einzelnen. Es wird deutlich, dass Oetinger das Böse in seine Theorie von den Kräften und Selbstbewegungsquellen einbaut. Er sieht von hier aus den »Defect in aller Philosophie«, die keine Selbstbewegung der Geschöpfe annehmen, darin, dass sie das Böse nicht erklären kann, ob nun Swedenborg oder Leibniz.102

4.4 Göttlicher Raum – göttliche Kräfte Der Raum, nicht nur der Raum des mundus sensibilis, sondern auch der des mundus intelligibilis, ist nicht wie bei Leibniz ideal oder von entkörperlichter Geistigkeit, sondern real, mit Newton, dem »gottseligsten«103 Philosophen, den Oetinger kennt. Nicht zu klären ist, ob Oetinger mit diesem Gedanken auf den Briefwech96 97 98

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Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 320, Art. Teufel. Vgl. Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 295–306 u. 616–629. Durch Adams Trennung in zwei Menschen und durch Satan seien Bosheit und Finsternis herbeigeführt worden. Vgl. Oetinger, Metaphysic (Anm. 51), 537, sowie Betz, Oetinger (Anm. 91), 37. Zu Bonnet vgl. auch Daniel Cyranka: Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung. Göttingen 2005, 429–455. Vgl. Oetinger, Metaphysic (Anm. 51), 548. Nur durch Christus können beide Seelen harmonisiert werden. Als Bonnets Palingenesie erschienen war, unterstellte er der Präformationslehre die Ablehnung jeder Geburt vor und plädierte stattdessen für die Epigenese, auch aus christologischen Gründen: Bonnet leugne die Inkarnation zugunsten der Präexistenz und spreche den Kreaturen das weibliche und männliche Prinzip ab. Vgl. Friedrich Christoph Oetinger: Gedanken über die Zeugung und Geburt der Dinge, aus Gelegenheit der Bonnetischen Palingenesie von Herrn Lavater in Zürch aus dem Französischen übersetzt. Frankfurt a. M./Leipzig 1774, 31 f., 38, 46 u. 58. Dazu Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 154. Ebd., 3, hier gegen Swedenborgs mechanische Erklärung aller Bewegungen. Ebd., 198.

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sel zwischen Leibniz und Clarke zurückgriff, in dem Leibniz Newton eine solche Sicht vorwarf, oder ob Oetinger tatächlich ein Exemplar der lateinischen Ausgabe von Newtons Opticks von 1706 besaß, wo der Raum als sensorium divinum bezeichnet wird.104 Nichtsdestoweniger betrachtete Oetinger den Raum in direkter Referenz auf Newton als sensorium Dei,105 Gottes Empfindungsorgan, Wirkstätte seiner Kräfte, seine Hände, Ohren, Füße, das »Fühlungswerkzeug GOttes, womit er alles nicht nur siehet, sondern fühlt, was unter den Erdbürgern vorgeht«.106 Um diese Behauptung zeitgenössisch zu stützen, referiert Oetinger immer wieder auf die Kritik des vorkritischen Kant an den Rationalisten und interpretiert dessen Verständnis von Raum und Zeit nicht als apriorische Größen, sondern wie Newton als real.107 Schließlich schöpft Oetinger aus Newtons Physik die Idee der Gravitation, verknüpft sie mit Swedenborgs Magnetismus und der neuentdeckten Elektrizität, um die Wirkung immaterieller Fernkräfte als einer »supermechanica vis« zu belegen, die er gegen das mechanistische Weltbild der Kontiguität ins Feld führt und mit seinem Verständnis der kabbalistischen Sephiroth und der sieben Geister Böhmes verbindet.108 Sie sind Beleg für die creatio continua: Gott greift durch seine Kräfte in seiner Allpräsenz und Allgegenwart beständig in die Schöpfung ein. Darin sieht sich Oetinger durch Newton bestätigt, womit er unter den Zeitgenossen keinesfalls allein war.109 Oetingers Kosmos besteht nicht aus unendlichen Monaden, er ist durchwebt von den aus Gott stammenden Kräften, die weder Geist noch Materie sind, sondern dazwischen fließen als ein Medium. Gleichzeitig gibt es keinen Geist ohne Materie und keine Materie ohne Geist – hierin besteht Oetingers Antwort auf den Idealismus, den er als »Pferdscheue[n] Schrecken«110 vor dem Materialis104

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Vgl. dazu Alexandre Koyré/I. Bernhard Cohen: The Case of the Missing Tanquam. Leibniz, Newton and Clarke. In: Isis 52 (1961), 555–566. Koyré und Cohen haben herausgearbeitet, dass Newton und Clarke versuchten, in den bereits gedruckten Exemplaren der lateinischen Ausgabe an der betreffenden Stelle ein neues Blatt einzusetzen, wo vor dem sensorium divinum ein tanquam eingefügt war, um den bloßen Gleichnischarakter der Aussage zu betonen. In mindestens vier erhaltenen Exemplaren ist aber die ursprüngliche Version erhalten geblieben – Koyré und Cohen fragen überdies, ob es sich nicht um die tatsächliche Auffassung Newtons handele. Leibniz habe sich »sehr moquirt«, dass Newton den Raum für das sensorium Dei gehalten habe. Er habe ihm vorgehalten, von Gott sehr niedrig zu denken, er »zernichte die Religion« – zu Unrecht, wie Oetinger meint, denn Newton halte die »Sinnlichkeit« Gottes »in Wahrheit« für »sehr erhaben«, auch wenn er sich darüber nicht genauer geäußert habe. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 200, sowie 342; Oetinger, Theologia (Anm. 56), 195. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 54), Bd. 1, 268, Art. Raum, dabei erneuter Vergleich mit Leibniz, nach dem Gott anders als bei Newton keine Farben sehe, sondern nur das Innerste der Monaden. Vgl. auch Spindler, Wörterbuch (Anm. 54), 100. Zu Oetingers Berufung auf Kant, die Spindler hier mit Verwunderung quittiert, vgl. unten 551 ff. Vgl. Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 153 f. Gott bewirke selbst die Gravitation und versieht passive Materie mit »thätige[r] Kraft«, denn »würde nicht alles in Stäublein zerfallen, wenn Gott seine freie Kraft einen Augenblick abzöge?« Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 202. Vgl. oben Anm. 42. Oetinger, Lehrtafel (Anm. 45), Bd. 1, 136.

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mus betrachtet, als eine überspannte Reaktion, um dem Materialismusverdacht zu entgehen. Das hat Auswirkungen auf Oetingers Sicht der Seele, die als geistliches, ätherisches oder elektrisches und unzerstörbares Feuer – eine auch von Bonnet geteilte Auffassung111 – wirkt oder nach biblischem Befund gar mit einem Feuer identisch ist und das Bild des künftigen Menschen bereits in sich trägt.112 Die Seele ist keine einfache Substanz wie in der Wolff’schen Psychologie, keine Leibniz’sche, sondern eher eine pythagoreische Monade.113 Sie besteht aus polaren Kräften, die von Gott als dem »Essentiator« in einem »intensum« »essentifiziert« werden, in dem wie bei Böhme die Kräfte ineinander »inquallieren«.114

4.5 Die Seele: Endelechie und Ens penetrabile Seele ist »Endelechia« – ein Begriff, den Oetinger von Melanchthon und Cicero kennt, die den aristotelischen Entelechie-Begriff zu platonisieren bzw. zu theologisieren versuchten.115 Er wendet sich mit dieser gewichtigen Konsonantenersetzung gegen die »Entelechie« als innere Vollkommenheit der monadischen Einheit bei Leibniz, die ihr Telos in sich selbst hat und lediglich über vis repraesentationis verfügt.116 Dagegen setzt Oetinger »Endelecheia« als Fortdauer, Ununterbrochensein. Natur und Seele besitzen nicht selbst ein Telos, sondern sind nur aus Gott und aus seinem Willen heraus zu verstehen. Aristoteles verstehe unter der Endelechie der Seele einen »motum sempiternum«, der von der »Endelechia prima« ins »ultimam« verlaufe.117 Leibniz habe ihn schlicht missverstanden. Dem entspricht auch Oetingers Zurückweisung der Unsterblichkeit der Seele, die Wolff aus ihrer Substantialität und Simplizität zu erweisen versuche.118 Nicht 111 112 113 114 115

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Benz, Elektrizität (Anm. 21), 746 f. Vgl. Oetinger, Philosophie (Anm. 14), Bd. 2, 7; Oetinger, Lehrtafel (Anm. 45), Bd. 1, 243; Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 295, Art. »Seele«. Vgl. Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 181 f. Vgl. dazu insgesamt auch Neumann, Atome (Anm. 37). Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 191, 211, 261 u. 346 f. Vgl. zum Endelechie-Begriff Sascha Salatowsky: De Anima. Die Rezeption der aristotelischen Psychologie im 16. und 17. Jahrhundert. Amsterdam/Philadelphia 2006, 72, 93–103, 187, 308 u. 371. Vgl. Oetinger; Swedenborg (Anm. 6), 149; Schoberth (Anm. 44), 112 f.; Schauer (Anm. 15), 177; Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 170, 193–196. Vgl. Oetingerm, Swedenborg (Anm. 6), 149, 316, 385. Vgl. etwa Christian Wolff: Psychologia rationalis methodo scientifica pertractata, qua ea, quae de anima humana indubia experientiae fide innotescunt, per essentiam et naturam animae explicantur, et ad intimiorem naturae ejusque autoris cognitionem profutura proponuntur. Editio nova priori emendatior. Frankfurt a. M./Leipzig 1740, §§ 643–695, darunter besonders: § 645: »Anima humana spiritus est.« § 658: »Omnis spiritus substantia simplex est.« § 659: »Spiritus quoque perfectissimus […] substantia simplex est.« § 669 f.: »Spiritus itaque omnis incorruptibilis est […], nisi per annihilationem.« Popularisiert wurde die Argumentation mit Substantialität und Simplizität durch Baumgartens Metaphysik, vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Halae Magdeburgicae 4. Aufl. 1757, besonders §§ 742–745, 755 f. u. 776–781 (Immortalitas animae humanae). Aus ganz anderen Gründen widerlegte einige Jahre nach Oetinger Kant in der Kritik der reinen Vernunft (bes. B 406–

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einfache, außerhalb der Zeit geschaffene Entitäten sind die Seelen für Oetinger, so wie nach seinem dynamischen Gottesbild in Gott selbst alles sukzessiv und nichts gleichzeitig besteht.119 Wie die Seelen selbst ihren Körper sukzessiv bauen, entstehen sie nicht in instanti, wie Leibniz meint, sondern ebenfalls sukzessiv.120 Aufgrund ihrer sukzessiven Generation, die er aber nicht im Sinne der bloßen Auswicklung einer präformierten Substanz versteht, sieht er die Seele weder als Monade, als simplex noch als punctum indivisibile. Sie bestehe aus einer Vielzahl von Kräften und sei ein in alles andere wirkendes Wesen.121 Die Seelen sind nicht augenblicklich geschaffen, sondern »aus dem Leib herausgezogen« und durch »sieben Fortgänge; endelechios zur Substanz gebildet« worden – so lautet Oetingers Verbindung zwischen der Substantialität der Seele bei den bekämpften Rationalisten der Leibniz-Wolff’schen Philosophie und der kabbalistischen, durch Böhme und die »Endelechie« angereicherten Sephiroth-Lehre.122 Die Seele ist für Oetinger nicht per se unsterblich wie Gott, sondern todesimmun, weil Gott es so will. Damit relativiert er eine Seelenontologie, die das Gewicht stärker auf die Gottähnlichkeit als auf die Distanz der Seele gegenüber Gott legt. Dieses Argument findet sich beispielsweise bei dem Leipziger Philosophen Andreas Rüdiger, der die Seele ähnlich wie Oetinger für körperlich und ausgedehnt und nur aufgrund des göttlichen Willens, nicht aus sich selbst, für unsterblichkeitsfähig hielt.123 Mit dem Tod stirbt nicht der »spiritus rector« oder die »Tinctur« nach Böhme, worunter Oetinger den verborgenen »siderischen oder ätherischen« Leib begriff, der ein Medium zwischen Leib und Geist ist.124 Etwas Körperliches bleibt an der Seele haften. Die Seele baut sich ihren Leib, während sie in ihm wächst, und sie hat bereits ohne Organe eine menschliche Figur.125 An diesem Punkt bezog sich Oetinger am Deutlichsten auf die Visionen Swedenborgs,

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413) die rationalistischen Unsterblichkeitsbeweise u. a. mit deren angeblicher Substantialität und Simplizität als Paralogismen einer transzendentalen Seelenlehre. Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 104, Art. »Erforschen, Ereuano«. Vgl. ebd., Bd. 1, 294, Art. »Seele«. Vgl. ebd.; Oetinger, Abhandlung (Anm. 71), 651 f.; Oetinger, Philosophie (Anm. 14), Bd. 2, 143. Friedrich Christoph Oetinger: Predigt von der weinenden Seele JEsu: Durch einen Freund zum Druck gegeben. Philadelphia 1773, 11. Vgl. Oetinger, Unterricht (Anm. 43), 42; Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 185. Für Rüdiger ist die Seele »nach ihrer Natur« nicht unsterblich, »sondern sie kan es durch die Gnade GOttes werden«. Vgl. Andreas Rüdiger: Herrn Christian Wolffens, Hochfürstl. Heßischen Hoff-Raths und Prof. Philos. & Mathem. Primarii etc. Meinung von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt; und Andreas Rüdigers, Hochfürstl. Sächsischen wircklichen Raths und Leib-Medici in Forst, Gegen-Meinung. Leipzig 1727, Vorrede (unpag.), besonders §§ 2–10. Zu Rüdiger vgl. Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 120–126. Rezeptionszusammenhänge zwischen Oetinger und Rüdiger lassen sich trotz zahlreicher Parallelen derzeit nicht belegen. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 222, Art. »Leib, Soma«; sowie ebd., 123, Art. »Fleisch«. Vgl. ebd., Bd. 1, 294.

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der neben dem mundus naturalis einen ausschließlich von menschlichen Seelen bewohnten mundus spiritualis annahm und selbst betreten haben will.126 Im Gegensatz zur prästabilierten Harmonie wirkt die Seele real in den Körper, beide durchdringen sich gegenseitig durch ein fluidum spirituosum, ein elektrisches Wesen, das Oetinger als Nervensaft, wiederum Tinktur oder als »ens penetrabile« bezeichnet.127 Hierbei handelt es sich vermutlich um eine Wortschöpfung Oetingers, die an Böhmes Rede von der »Quintessenz« als einer vierten Dimension zwischen göttlich und kreatürlich, zwischen geistig und materiell anknüpft. Die Figur des fluidum spirituosum als »Amphibium« zwischen Geist und Materie, das aus »Lymphe« und »Weltgeist« besteht und in den feinsten Membranen durch den Körper fließt, entnahm Oetinger von dem französischen Arzt Claude-Nicolas Le Cat, der 1753 mit einer Untersuchung über die Funktion dieses fluidum als Mittler zwischen der Seele und der Muskeltätigkeit des Körpers den Ersten Preis der Preußischen Akademie der Wissenschaften gewonnen hatte. Auch Le Cat sah es als ein Zwischending zwischen Geist und Materie und als Gemisch aus Weltgeist und Lymphe an.128 Mit dem ens penetrabile begründet Oetinger zudem seinen Vitalismus als Allwirksamkeit göttlichen Lebens in der Natur bis hin zu den Mineralien, die in abgestufter Weise ebenfalls Geist besitzen.129 Hier sieht er ein gewichtiges Argument gegen die kausale und mechanische Erklärung der Welt: Gott teilt seine Kräfte nicht durch »Kontiguität« mit, sondern durch »Interpenetrabilität«,130 entsprechend den von Newton entdeckten immateriellen Fernwirkungen oder der Elektrizität, die Oetinger ebenfalls theologisiert und seinem System einverleibt.131

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Vgl. dazu insgesamt Stengel, Aufklärung (Anm. 4). Vgl. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 285 u. 323; Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 207 u. 324 f., Art. »Tinctur«; Oetinger, Metaphysic (Anm. 51), 409, 507 f. Vgl. Claude-Nicolas Le Cat: Mémoire qui a remporté le prix sur la question proposée par l’Académie pour le sujet du prix de l’année 1753. In: Dissertation qui a remporté le prix proposé par l’Académie Royale des sciences et belles-lettres de Prusse, sur le principe de l’action des muscles avec les pièces qui ont concouru. Berlin 1753; Stengel: Aufklärung (Anm. 4), 158–170; Friedemann Stengel: Lebensgeister – Nervensaft. Cartesianer, Mediziner, Spiritisten. In: Aufklärung und Esoterik. Wege in die Moderne. Hrsg. v. Monika Neugebauer-Wölk. Berlin u. a. 2012. Vgl. Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 190–192; Pierre Hadot: Art. Praedominium. In: HWPh 7 (1989), 1225–1228, hier: 1225, 1227. Oetinger vermutet gelegentlich, dass es geistliche Leiber gebe, die eine »fünfte Dimension« besitzen, nämlich intensa, vgl. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 137. Die vierte Dimension bezeichnet er nach Paulus sonst als Dimension der Gnade, vgl. ebd., 314. Vgl. ebd., 9 f., 11 u. 128, und ab Mitte der 1760er Jahre an vielen Stellen. Vgl. Oetinger, Divisch (Anm. 93), 107; Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 10. Newtons Raumbegriff wird ebd., 358, ohne Weiteres als ens penetrabile bezeichnet. Zum Thema der Elektrizität vgl. Benz, Elektrizität (Anm. 21), 711–728.

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4.6 Geistleiblichkeit in Eschatologie und Christologie Geist und Leib durchdringen sich gegenseitig – das ist der Kern der für Oetinger geradezu als typisch erkannten Lehre von der Geistleiblichkeit, die viele seiner gegen Leibniz herangezogenen Referenzautoren wie Leonhard Euler wohl kaum mitgedacht hätten. Sie mündet in dem bekannten Satz: »Leiblichkeit ist das Ende der Werke GOttes«,132 fälschlicherweise oft gelesen als Ende der Wege Gottes. Wege Gottes aber könnte eine Emanationsvorstellung implizieren, die Oetinger mit seiner theosophischen Kosmogonie gerade vermeiden will.133 Er versteht die Schöpfung mit anti-cartesischer Note in großer Nähe zu Gott, aber sie bleibt in ihrer Geschaffenheit als Werk ›gemacht‹. Gott geht nicht in ihr auf. Bereits der Kontext, in dem dieses Zitat fällt, zeigt, dass es sich bei der Geistleiblichkeitslehre um ein Thema der Eschatologie Oetingers handelt. »Leiblichkeit ist das Ende der Werke GOttes, wie aus der Stadt GOttes klar erhellet.«134 Die Stadt Gottes, das himmlische Jerusalem, stellt sich Oetinger wie Bengel »sinnlich, massiv, handtastlich, nicht nach der Harmonie der Monaden«135 vor, nicht im übertragenen Sinne wie Swedenborg, der darunter eine neue, rein geistige Kirche versteht, die in der Geisterwelt vom Herrn selbst gegründet wurde.136 Und Oetinger grenzt sich auch gegen den Neologen Wilhelm Abraham Teller ab, der die Offenbarung »für jüdische Imaginationen«137 ausgeben wolle, und er attackiert als neologischen Protagonisten häufig Johann Salomo Semler, der die Apokalypse aus dem biblischen Kanon streichen wolle, weil er sie für eine christentumswidrige Ausgeburt der »Mikrologie« der Juden halte, geschuldet ihrem »elendigen« Messias- und Auserwähltheitsglauben und ihrer »niedrige[n] uncultivierte[n] Denkungsart«, versehen mit orientalischen »Ausschmückungen« und »asiatische[n] Wortspielen«.138 In der Geistleiblichkeitslehre vereinigt Oetinger mit Bengel und Böhme zwei seiner wichtigsten Autoritäten, indem er die böhmistische Theo-Kosmogonie eschatologisiert.139 Denn Geistleiblichkeit ist Thema der Eschatologie, weil sich die 132 133

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Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 223, Art. »Leib, Soma« [Hervorh. d. Verf.]. »Ende der Wege Gottes« schreibt auch Beyreuther (Anm. 83), XXIX. Schoberth (Anm. 44), 150, macht auf die ungenaue Verwendung der Aussage durch Jürgen Moltmann aufmerksam. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 223, Art. »Leib, Soma« [Hervorh. d. Verf.]. Ebd., Bd. 1, 103, Art. »Erbtheil«. Vgl. Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 291–295. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 103, Art. »Erbtheil«. Oetinger, Schauplatz (Anm. 23), 19 f.; Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 298. Vgl. dazu Hardmeier, Oetinger (Anm. 61), 112–120. »Mikrologie« gehört zu den Standardvokabeln Semlers für die jüdische Theologie als einer »sehr kleine[n] Denkungsart« der Juden. Vgl. etwa Johann Salomo Semler: Vorbereitung auf die Königlich Großbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi. Halle 1787, 14, sowie XXI, 43; ders.: Unterhaltungen mit Herrn Lavater, über die freie practische Religion; auch über die Revision der bisherigen Theologie. Leipzig 1787, 115, 169, 250, 256, 278 u. 355. Vgl. auch Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 169, 205–230; sowie insgesamt Schoberth (Anm. 44), 149–160.

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volle Geistleiblichkeit erst im Eschaton zeigen und erweisen wird. Bei Oetingers Referenzautoren Malebranche und modifiziert auch bei Swedenborg zielte die Schöpfung darauf ab, dass sich die in Körperlichkeit gefallenen Seelen im Reich des Herrn zu reiner Geistlichkeit verklären, die einen zum Bösen, die anderen im ewigen Prozess zum Heil.140 Oetinger wendet diese fines Dei um auf die Ganzheit des Menschen. Auch der Leib, der von der Seele gebaut worden ist, wird von der einstigen Verherrlichung betroffen sein und die Atome der zu Staub zerfallenen Körper werden zu vollendeter Geistleiblichkeit zusammengefügt werden. Es muss also zwischen dem bloßen Körper der reinen Diesseitigkeit und dem Leib unterschieden werden, der im Körper lebendig ist, aber über den Tod hinaus zur verherrlichten Leiblichkeit vorgesehen ist.141 Das Leib-Konzept Oetingers bezieht den Körper auf seine Vollendung im eschatologischen Leib hin ein und geht damit über bloße Körperlichkeit hinaus. Zugleich wird die Seele bei Oetinger im Gegensatz zu platonischen Vorstellungen – und Swedenborgs spiritistischer Neologie – nicht vom Hindernis des Leibes befreit, sondern der Leib selbst wird verherrlicht. Von einem »österlichen Materialismus«142 lässt sich also mit Recht sprechen. Und an einem weiteren Punkt weicht Oetinger von Malebranche, Swedenborg, aber auch von Kants religionsphilosophischen Spekulationen ab.143 Nicht die selbstbereitete Existenz in Himmel und Hölle ist das Ziel des Schöpfungsplans. Am Ende der Zeit steht die Wiederbringung aller Dinge: die Apokatastasis panton, bei der alle Dualismen in Gott selbst aufgehoben werden;144 gelegentlich spricht Oetinger sogar von der Apokatastasis des Teufels selbst, nachdem er dessen Realität gegen die Teufelsleugner, allen voran gegen Swedenborg und seine zeitgenössischen theologischen Pendants massiv behauptet hatte.145 Geistleiblichkeit ist aber auch Thema der Christologie. Mit seiner himmlischen und seiner irdischen Menschheit vereinigt Christus in sich die vollkommene

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Vgl. Friedemann Stengel: Swedenborg als Rationalist. In: Neugebauer-Wölk/Rudolph, Aufklärung (Anm. 36), 149–203, hier: 178–180. Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 49 f., Art. »Beine, Ostea«; ebd., 70, Art. »Coerper»; Oetinger, Gedanken (Anm. 69), 19: »Der Staub der Erde, dessen die Geister mangeln, muß in was größeres erhoben werden können, durch die Menschheit Christi, als die Engel vor sich haben.« So Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 232, im Anschluss an Walter Magaß. Bei Malebranche musste Gott der Apokatastasis die Ewigkeit der Höllenstrafen vorziehen, um dem Gesetz der »einfachsten und kürzesten Regeln« zu folgen. Vgl. Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 181 f. Zu den Eschatologien von Kant und Swedenborg vgl. Friedemann Stengel: Kant – »Zwillingsbruder« Swedenborgs? In: Kant und Swedenborg. Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis. Hrsg. v. Friedemann Stengel. Tübingen 2008, 35–98, hier: 62–69. Vgl. Groth (Anm. 7), 134; Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 203, mit der Betonung, dass Oetinger die Erlösung nicht nur der Menschheit, sondern der gesamten Natur meine. Vgl. Groth (Anm. 7), 140 f. Auch Bengel habe, »wenn auch verhaltener«, im Anschluss an 1Kor 15 die Apokatastasis des Teufels wenigstens »angenommen«. Dem entspricht das Bengel zugeschriebene Wort, wer die Apokatastasis nicht glaube, sei ein Ochse, wer sie aber predige, sei ein Esel. Vgl. Weyer-Menkhoff, Christus (Anm. 8), 205.

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Leiblichkeit.146 Er »vermählt« gleichsam Himmel und Hölle, Himmel und Erde, Tod und Leben.147 Der Opfertod am Kreuz lässt Jesu Blut die Erde durchtränken. Als ens penetrabile überträgt Christi Blut dem Leib ebenfalls die Eigenschaft der Penetrabilität und damit die Erlösungsfähigkeit; am Ende der Zeit werde »Gerechtigkeit aus dieser mit Jesu Blut tingirten Erde wachsen«.148 Kreuz und Auferstehung sind ebenfalls tragende Elemente in Oetingers Lehre, wobei die Überwindung von Tod und Teufel im Vordergrund steht, aber zugleich auch eine Rechtfertigung als Selbstversöhnung Gottes gegen die Abweisung der Sühnetodvorstellung bei Dippel, Swedenborg und einem großen Teil der Aufklärungstheologie behauptet wird. Allerdings hält Oetinger diese lutherische Soteriologie für unbegreiflich und beschreibt sie unter Berufung auf Paulus lieber als »Wiederherstellung der Herrlichkeit GOttes«.149

4.7 Emblematik Geistleiblichkeit ist Thema auch der eigenartigen, als Vorstufe der Hermeneutik Schellings150 angesehenen Auslegungstheorie Oetingers, die er als »emblematisch« bezeichnet und gegen die allegorisierende und historisierende Entwertung der Schrift gleichermaßen entwickelt, auch wenn er sie selbst nicht konsequent durchhält. Der Leib und der Geist des Buchstabens durchdringen einander, sie sind gegenseitig umwandelbar, der Unterschied zwischen Bild und Zeichen ist aufgehoben.151 Hinter dem Buchstaben der Schrift steht weder ein höherer (Swedenborg), noch ein anderer, erst zu entdeckender, beispielsweise moralischer, Sinn (Kant),152 aber auch die nur historische und grammatische Exegese der Neologen lehnt Oetinger ab. Kein Ding bedeutet etwas, sondern es ist genau das, was es bezeichnet. Der höhere Sinn wird im Emblem selbst offenbart.153 Oetinger hält diesen Ansatz nicht überall durch, denn er legt partiell selbst metaphorisch oder typologisch aus und verstößt selbst gegen seinen eigens dafür ausgearbeiteten Regelkatalog. Vor allem wendet er die emblematische Exegese 146

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Nach Schoberth (Anm. 44), 152, bildet nicht die Eschatologie, sondern die Christologie den Kern von Oetingers Theologie der Leiblichkeit, wobei die göttliche Offenbarung auch außerhalb der Inkarnation ihren Ort hat. Vgl. Pierre Deghaye: realiter und idealiter. Zum Symbolbegriff bei Friedrich Christoph Oetinger. In: PuN 10 (1984), 66–89, hier: 78. Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 57, 71; Oetinger, Schauplatz (Anm. 23), 13. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 272 f. So vor allem von Tonino Griffero: Figuren, Symbolik und Emblematik in Oetingers »Signatura rerum«. In: Holtz/Betsch/Zwink (Anm. 10), 231–249. Vgl. Griffero (Anm. 150), 246. Zu der inkonsequenten emblematischen Hermeneutik Oetingers vgl. Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 616–622 (»Swedenborg als Negativfolie der biblisch-emblematischen Hermeneutik Oetingers«). Vgl. ebd., sowie zu Kants exegetischen Empfehlungen in der Anthropologie in pragmatischer Absicht (AA VII, 191 f.) und im Streit der Fakultäten (AA VII, 45 f.) Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 681–683 [im Folgenden: Preußische-Akademie-Ausgabe unter der Sigle »AA«]. Vgl. Griffero (Anm. 150), 236; Schauer (Anm. 15), 176.

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an, um die Wirklichkeit seines apokalyptischen Weltbildes gegen dessen Bestreiter zu verteidigen. Es handelt sich im Grunde mehr um eine Theorie oder Theologie als um eine Methodik. Die leibliche Wirklichkeit des Schriftbuchstabens entfaltet sich eschatologisch, so wie alle Realität sich erst in der güldenen Zeit erfüllt. Biblizität und Apokalyptizität legen sich gegenseitig aus und die Epistemologie insgesamt steht unter eschatologischem Vorbehalt: Die »Dinge in ihrer lezten Figur und Bewegung (microscopice)« werden nicht einmal im nächsten »Aeon« sichtbar sein, sondern erst am Ende aller Zeit, »wann Gott sein wird alles in allem«.154 Aufgrund dieser ganz anders begründeten epistemologischen Beschränkung hält Oetinger wie später Kant nur die Phänomene überhaupt für erkennbar, nicht deren auf Vollendung zielende geistleibliche Wesen. Mit dieser erkenntnistheoretischen Zurückhaltung träfe für Oetinger im Übrigen ein charakteristisches Merkmal der aufgeklärten Vitalisten zu.155

5. Die Sichtbarkeit der unsichtbaren Welt Nach diesem knappen Überblick über die Theosophie Oetingers wird ein Text aus dem letzten großen Werk Oetingers herangezogen. Der Artikel »Welt, unsichtbare, Mundus intelligibilis, aorata«156 in seinem Biblisch-Emblematischen Wörterbuch von 1776 enthält in nuce die Schwerpunkte seiner Theosophie und bezeugt zugleich sein eklektisches Verfahren, mit dem er auf den ersten Blick scheinbar ganz disparate Schriften miteinander verbindet. Erstens sucht der Biblizist Oetinger eine biblische Referenz auf. Die unsichtbare Welt muss es geben, weil Paulus es so will und weil die gesamte Bibel geistige Dinge als leibliche betrachte – Kernthema von Oetingers Emblematik, die aber sogleich in ihrer ausdrücklich apokalyptischen Stoßrichtung präzisiert wird: Jesus spricht von den Stühlen und vom Thron in eschatologischer Perspektive. Der mundus intelligibilis muß existiren, weil Paulus will: wir sollen nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare sehen und weil er von Thronen, Herrschaften, Fürstenthümern und Obrigkeiten im Unsichtbaren oft und viel redt (Kol. 1,16).157

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Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), 127, oder Oetinger, Gedanken (Anm. 69), 77, hier am Beispiel der menschlichen Kenntnis von der »Generation rerum oder von den Geburten der Dinge«, bis zur Güldenen Zeit wisse man darüber nur, »so viel als uns nöthig ist«. Vgl. Reill: Nature (Anm. 4). Die aktiven Kräfte der Natur können auch aus der Sicht der Vitalisten nicht gesehen oder gemessen werden. Es sind okkulte Kräfte im traditionelle Sinn des Begriffs. Vgl. ebd., 8, sowie 6 u. 15. Vgl. im Folgenden Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), 405 f. [alle Hervorh. im Orig.]. Bibelübersetzungen nach der Revidierten Elberfelder Bibel. Kol 1,16: »Denn in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte: alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen.«

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Zweitens bekräftigt Oetinger seine Geistleiblichkeitslehre, die er für biblisch bezeugt hält. Unsichtbarkeit bedeutet nicht Leiblosigkeit. Kein Geist existiert ohne Materie – diese Behauptung hatte er seinen idealistisch-rationalistischen Gegnern stets entgegengehalten. Leiblosigkeit ist nicht nur für die Seelen unvorstellbar, die immer ein leibliches Schema an sich tragen, sondern auch für Gott selbst. Man meint zwar, die unsichtbaren Dingen seyen mit keiner Leiblichkeit verbunden, aber dem ist zuwider, daß die ganze Schrift durchaus geistliche Dinge als Leiblichkeit habende vorstellt.

Drittens wird die Geistleiblichkeit nochmals in den Kontext der Apokalyptik gestellt. Die Neuschöpfung der Welt als Wiedergeburt ist Endzweck Gottes. Die Schilderung dieser Neuschöpfung aus dem Neuen Testament fasst Oetinger als real auf, denn die Schrift selbst ist leiblich. Selbst JEsus sagt Matth. 19,18 [sic!]158, in der Wiedergeburt der Welt werde des Menschen Sohn sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und da werden auch die Apostel auf solchen 12 Stühlen sitzen (Matth. 25,31).159

Viertens wird die Begründung für diese Sicht mit seinem emblematischen Ansatz gegeben. Der Zirkelschluss liegt auf der Hand: Bezeichnungen von Unsichtbarem sind keine Symbole für etwas Unaussprechbares in einem rein geistigen, selbst bei der Exegese nur allegorisch aussprechbaren Sinne. Dass diese Begriffe überhaupt ausgesagt werden können, zeigt nicht nur die Leiblichkeit der Sprache an, sondern auch die Leiblichkeit dessen, was lediglich den Sinnen entzogen ist. Es wäre auch unmöglich, Emblemata von unsichtbaren Dingen zu geben, wenn unsichtbare Dinge keine Leiblichkeit hätten. Man sage mir, ob man einen Geist als ein ganz immaterielles Wesen denken kan? Keine einige Stelle aus der Schrift kann man anführen.

Fünftens ist noch einmal ein eindrückliches Beispiel für Oetingers Eschatologie, die nicht nur gegen die von Semler und anderen Neologen gewollte Ausgrenzung der Apokalypse aus dem Kanon, sondern besonders gegen Swedenborg gerichtet ist, der die Offenbarung allegorisch ausgelegt hat. Für Swedenborg ist das weiße Pferd ein neues göttliches Wort, das himmlische Jerusalem ist eine neue Kirche.160 Oetinger setzt nun dagegen, dass doch wohl Pferde und Städte gemeint sind,

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Mt 19,28: »Jesus aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auch ihr werdet in der Wiedergeburt, wenn der Sohn des Menschen auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen wird, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.« Mt 25,31: »Wenn aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen.« Vgl. vor allem Emanuel Swedenborg: De Equo Albo, de quo in Apocalypsi, cap: xix. Et dein de verbo et ejus sensu spirituali seu interno, ex Arcanis coelestibus. Londini 1758; deutsch: Das weiße Pferd in der Offenbarung. Über das Wort. Zürich 2o. J.

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wenn von Pferden und Städten geredet wird.161 Doch weist er bereits jetzt auf seine kabbalistisch-böhmistischen Anleihen hin: Es geht um das Septenarium, um die Siebenzahl der unteren Sephiroth, die auf Verleiblichung abzielenden Kräfte, die Oetinger wie schon Jahrzehnte vor ihm der Halle’sche Kabbala-Spezialist Johann Franz Budde gerade in der Offenbarung des Johannes wiederfindet.162 Auch davon weiß die Exegese Swedenborgs, an der Oetinger gerade den Mangel böhmistischer und kabbalistischer Bezüge häufig moniert, nichts.163 Oetingers Theosophie ist anti-neologisch, anti-swedenborgisch und anti-doketisch. Die heilige Offenbarung zeigt uns den vollen Schau-Platz unsichtbarer Dinge mit sichtbaren Figuren an. Da ist der Thron GOttes und des Lamms; da ist die Hütte des Zeugnisses; da sind die 7 Fackeln der 7 Geister und andrer Dinge, die nicht zu zehlen seynd: alle haben ein leibliches Kleid.164

Sechstens folgt der referentielle ›Beweis‹ aus der zeitgenössischen Philosophie. Die immaterielle Welt, sagt das tiefdenkende Original Genie des Prof KANT in seinen Träumen, kan als ein vor sich bestehendes Ganze angesehen werden, und man hat wohl Ursache zu bedenken, was Er p. 13–31 mit Grund behauptet.

Das Zitat aus Kants Träumen eines Geistersehers ist wörtlich: »ein vor sich bestehendes Ganze«,165 und auf den hier genannten Seiten finden sich genau die Ausführungen Kants, in denen Kant Swedenborgs System ausführlich und ohne offene Ablehnung darlegt.166 1766 hatte Oetinger wegen dieser Passagen an Swedenborg geschrieben, die Träume seien eine merkwürdige Schrift, weil sie sein ganzes System darstellten, ja ihm geradezu lobredeten, und ihn gleichzeitig »um nicht fanatisch zu scheinen, durch Beschuldigungen« erniedrigten.167 Swedenborg erschien dem Oetinger von 1776 nach seinen jahrelangen Kämpfen und Rechtfer161

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Vgl. Oetinger, Metaphysic (Anm. 51), 25; Oetinger, Schauplatz (Anm. 23), 12. Aus diesem Grund dürfte er u. a. die Artikel »Thiere« und »Vögel, unreine« in sein Wörterbuch eingefügt haben: Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 402 f. u. 404. Vgl. Rüdiger Otto: Johann Franz Buddes Verständnis der Kabbala. Einführung und Bemerkung zum Forschungsstand. In: Leibniz und das Judentum. Hrsg. v. Daniel J. Cook, Hartmut Rudolph u. Christoph Schulte. Stuttgart 2008, 223–249, hier: 234. Auch Budde bezieht sich ausdrücklich auf die Siebenzahl der Gemeinden, Leuchter, Sterne, Geister Gottes etc. Vgl. Belege bei Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 594–596 u. ö. Sieben Geister seit Apk 1,4; Apk 1,20: sieben Leuchter; Apk 7: Thron des Lamms. AA II, 330. Die von Oetinger genannten Seiten der Erstausgabe der Träume (Riga 1766) umfassen mit dem Hauptteil des Kapitels I.1 und der ersten drei Seiten von Kapitel I.2 der Träume genau die Abschnitte, die die stärksten Affinitäten zu Swedenborg aufweisen und die Oetinger als mit Idealismus vermischte Lehre Swedenborgs ansehen konnte. Das Zitat befindet sich auf S. 32. Vgl. zur Swedenborg-Rezeption Kants Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 640–656, sowie Stengel, Zwillingsbruder (Anm. 143), 45–62. Oetinger an Swedenborg am 4. Dezember 1766. In: Alfred Acton: The Letters and Memorials of Emanuel Swedenborg. 2 Bde. Bryn Athyn 21948 u. 1955, hier: Bd. 2, 628–630, Übersetzung nach dem Auszug bei: Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, textkritisch hrsg. und mit Beilagen versehen von Rudolf Malter. Stuttgart 1976, 127 f. Vgl. auch Stengel, Zwillingsbruder (Anm. 143), 46 f.

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tigungen auch aus politisch-taktischen Gründen offenbar nicht mehr geeignet, als Autorität für die intelligible Welt herzuhalten. An seine Stelle rückte Kant jetzt dort, wo Swedenborg vorher als der große Zeuge für die Geisterwelt gegolten hatte. Eben wurde noch ohne Namensnennung Swedenborgs Allegorese der Apokalyptik attackiert, nun taucht Swedenborg in der Maske Kants erneut auf, weil er die Leiblichkeit der Geisterwelt bezeugt hatte. Und Oetinger suggeriert jetzt, dass Kant seine Ausführungen unter Rückgriff nicht etwa auf den ungenannten Swedenborg, sondern auf Malebranche vorgebracht habe, wovon er in seinen ersten Reaktionen auf die Träume Kants nichts erkennen ließ, obwohl er schon damals über ausgezeichnete Kenntnisse der Schriften Malebranches verfügte und ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, auf ihn hätte zu verweisen. Siebtens nimmt Oetinger Bezug auf die Inauguraldissertation Kants von 1770. Wenn er den Kant des ersten Teils der Träume nicht als ironischen Kommentar zu Swedenborg las wie später die Kant-Forschung, sondern als ein Referat Swedenborgs, dann interpretierte er seine Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis in derselben Weise. Kant ist geneigt mit MALEBRANC überal eine Extensionem intelligibilem zu concipiren. Das ist sein Raum und Zeit, womit er die ganze neue Philosophie zu Boden wirft. Wir seyn an uns selbst ein finstrer Staub. Wäre GOttes Extensio intelligibilis nicht unser Eigenthum, so würden wir nichts sehen. In dieser extensione intelligibili, in diesem Raum und Zeit, als in GOtt, sehen wir alles, per continuam assistentiam, aber nicht mit leiblichen Augen, sondern als νοούμενα durch den Verstand.

Oetinger verbindet den Hinweis auf Malebranche, den er bei Kant findet, mit Malebranches intelligibler Ausdehnung und führt den malebranchisch gelesenen Kant mehrmals gegen die Raumtheorie von Leibniz und Wolff ins Feld.168 Nicht nur die Materie, auch der Geist und mithin die Geisterwelt sind ausgedehnt. Der Kommentator des Biblischen und Emblematischen Wörterbuchs weist darauf hin, dass Kant in der Dissertatio keinesfalls eine Raumtheorie wie Newton vertrete, sondern Raum und Zeit für apriorische Anschauungsformen halte.169 Aber wie kommt Oetinger zu eben dieser Lektüre Kants? Die entsprechende Stelle in Kants Inauguraldissertation bezieht sich auf eine Passage in Malebranches Méditations chrétiennes et metaphysiques, wo zwischen einer materiellen und einer intelligiblen, ewigen und unermesslichen Ausdehnung als der »Unermesslichkeit des göttlichen Wesens« unterschieden wird. Nur durch diese intelligible Ausdehnung erkennt der Mensch bei Malebranche überhaupt die von Gott geschaffene sichtbare Welt, die durch sich selbst nicht sichtbar werden kann, weil Materie den menschlichen Geist nicht zu berühren vermag. Die geschaffene Welt sei nur sichtbar und sinnlich wahrnehmbar, »weil Gott dem Geist bei der Präsenz der Körper die intelligible Ausdehnung repräsentiert und sie ihm durch die verschiedenen Farben durch andere Sinnesempfindungen

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Vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 268, 288 f. u. 351. Vgl. ebd., Bd. 2, 290.

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wahrnehmbar macht«. Denn »nur Gott wirkt in den Geistern: nur er kann sie erhellen und sie berühren.«170 Wie referiert Kant auf diese Stelle bei Malebranche, dessen Schriften Oetinger schon seit vielen Jahren heranzieht? In dem Zusatz zu § 22 der Dissertatio erwägt Kant, dass die Sinnenwelt nur durch die Gegenwart Gottes und nur im Verstand wahrgenommen und der Raum deshalb »erscheinende Allgegenwart« und die Zeit »erscheinende Ewigkeit« Gottes genannt werden kann, »quemadmodum fecit Malebranchius, cuius sententia ab ea, quae hic exponitur proxime abest: nempe nos omnia intueri in Deo« . 1 7 1 E s ist nun gerade die Übersetzung dieses Satzes, die Oetingers Lesart und damit der Stringenz seines eklektizischen Verfahrens Recht geben kann. Eine deutsche Ausgabe von 1901 liest: »wie Malebranche es gethan hat, dessen Ansicht von der hier vorgetragenen weit ab liegt, da nach ihm wir Alles in Gott schauen.«172 Eine zeitgenössische Übersetzung von 1797 sieht das ganz anders: »wie auch Mallebranch that, dessen Meinung von dem hier Vorgetragenen nicht weit entfernt ist: Nemlich, daß wir Alles in Gott schauen.«173 Aber auch Weischedel und Hinske lesen 1958: »nicht weit«174 und eine englische Übersetzung verstärkt die Referenz Kants auf Malebranche sogar auf eine »ziemliche« Nähe.175 Was gilt nun: »weit« oder »nicht weit«? Denn in dieser Übersetzung liegt mehr als nur eine Quisquilie. Die Probleme, die mit dem »proxime abest« verbunden sind, liegen auf der Hand. Denn »proxime« ist der Superlativ von »prope«: »nahe«, »unweit«, »in der Nähe«. Und »absum« kann heißen: »wegsein«, »fortsein«, »entfernt sein von«, aber auch einfach nur »gelegen sein von« als Ausdruck für eine örtliche Differenz. Was nun: »am nächsten 170

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Nicolas Malebranche: Méditations chrétiennes et métaphysiques. Hrsg. v. Henri Gouhier u. André Robinet. Œuvres complètes. Bd. 10. Paris 1986, 99, IX,IX: »Mais tu dois distinguer deux espèces d’étenduë, l’une intelligible, l’autre matérielle. L’étenduë intelligible est éternelle, immense, nécessaire. C’est l’immensité de l’Être Divin, entant qu’infiniment participable par la créature corporelle, entant que représentatif d’une matière immense, c’est en un mot l’idée intelligible d’une infinité de mondes possibles. C’est ce que ton esprit contemple, lorsque tu penses à l’infini. C’est par cette étenduë intelligible que tu connois ce monde visible: Car le monde que Dieu a créé est invisible par lui-même. La matière ne peut agir dans ton esprit, ni se représenter à lui. Elle n’est intelligible que par son idée qui est l’étenduë intelligible: elle n’est visible & sensible, que parce qu’à la présence des corps, Dieu représente à l’esprit l’étenduë intelligible, & la lui rend sensible par les différentes colœurs, ou les autres sensations qui ne sont que des modifications de ton Être. Car il n’y a que Dieu qui agisse dans les esprits: il n’y a que lui puisse les éclairer & les toucher.« Zur Stellenangabe vgl. auch Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 2, 290. AA II, 410, § 22, Scholion [Hervorh. im Orig.]. Vgl. Immanuel Kant: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Paul Gedan u. a. Leipzig 1901, Bd. 5, 3. Abt., 163 [Hervorh. im Orig.]. Immanuel Kant: Von der Form und den Prinzipien der Sinnen- und Verstandeswelt. In: Immanuel Kants sämmtliche kleine Schriften, nach der Zeitfolge geordnet. Königsberg, Leipzig 1797, Bd. 3, § 22 (unpaginiert) [Hervorh. im Orig.]. Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 62005 [1958], Bd. 3, 81. »[…] like Malebranche, whose opinion that we see all things in God is pretty nearly what has here been expounded.« William J. Eckoff: Kant’s Inaugural Dissertation of 1770 translated into English with an Introduction and Discussion. New York, Columbia College, Diss. phil. 1894, 73 [Hervorh. im Orig.].

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gelegen« sein, oder als Verstärkung des »Entferntseins«: »am weitesten entfernt sein«? Fest steht aber die Konsequenz aus dieser Übersetzung: Denn bei der Lesart »nicht weit von der unseren Meinung entfernt« hätte Malebranche mit der Behautpung der intelligiblen Ausdehnung als Grundlage der menschlichen Welt- und Selbsterkenntnis eben gerade nicht mystisch geschwärmt. Sondern Kant würde dafür votieren, es genauso wie er zu tun und nicht mystische Nachforschungen über die bloße Annahme der intelligiblen Ausdehnung [Welt] hinaus anzustellen. Allerdings kann auch gelesen werden, Malebranches Ansicht, dass wir alles in Gott sehen, sei Kants Meinung nahe, nicht aber dessen mystische Schwärmerei. Die alten und neuen Übersetzer sind sich darüber nicht im Klaren. Aber Oetinger liest so wie die Übersetzung von 1797, die englische Übersetzung und Weischedel/Hinske, auch wenn alle drei damit dem »Original Genie« Kants Unrecht getan haben sollten. Denn schließlich musste Oetinger bei seiner Lesart gar nicht überrascht sein, weil er in Kant bereits in den Träumen eines Geistersehers einen Parteigänger des ausgedehnten intelligiblen Raums der Geisterwelt gesehen hatte. Auf dieser Grundlage vertauschte er nun den Namen Kants mit dem des obsolet gewordenen Swedenborg. Er versteht die Apriorizität von Raum und Zeit scheinbar so, dass sie als göttlicher Raum und göttliche Zeit unverzichtbare Voraussetzungen der Erkenntnis schlechthin seien, aber in diesen göttlichen Bereich nicht ›geschwärmt‹ werden könne und solle. Auf diese Weise verwendet er Kant als ›moderne‹ autoritative Zementierung der intelligiblen göttlichen Ausdehnung bei Newton, Malebranche und Swedenborg, auch wenn er dabei schlichtweg übersieht, dass sich Kant in der Dissertatio sowohl von der Raumtheorie der »Engländer« als auch von der Leibniz’schen verbal abgrenzte.176 An mehreren Stellen lobt Oetinger Kant dafür, dass in dessen Schriften endlich einmal der Raum- und Zeitbegriff der »Luftbaumeister« Wolff und Crusius zu Fall gebracht werde, nämlich durch die Behauptung eines ewigen Raumes und einer ewigen Zeit.177 Ferner verwendet er für die intelligible oder Geisterwelt mehrfach den Ausdruck »transzendentale Dimension«.178 Unabhängig von der Bewertung der oben genannten Übersetzungsleistung hinsichtlich der Nähe Kants ausgerechnet zu dem christozentrischen Rationalisten Malebranche179 geschieht durch Oetinger eine faktische Rezeption, die durch 176

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Vgl. AA II, 403 f. Auch das 1772 von Oetinger in einem Brief ausgesprochene Urteil, »Professor Kant ist ein schöner Mann, und doch ein Weltgeist. Es wird ihm schwer werden, Platons Sentenz von der intelligibeln und sensibeln Welt zu erklären«, verhinderte nicht, dass Oetinger immer wieder auf ihn zurückgriff. Zit. n. Benz, Swedenborg (Anm. 2), 224. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 1, 268, Art. »Raum, Platysmos, Rakia«. Das an dieser Stelle von Oetinger zitierte semantische Feld Luftbaumeister – Wolff – Crusius stammt aus Kants Träumen eines Geistersehers und ist singulär in Kants Werk, vgl. AA II, 342. Auch die endzeitliche Stadt Gottes besitze die »transcendenzal-Dimension«, schreibt Oetinger schon in der Metaphysic (Anm. 51), 458 f., sowie 457. Vgl. zu Malebranche Margit Eckholt: Vernunft in Leiblichkeit bei Nicolas Malebranche. Die christologische Vermittlung seines rationalen Systems. Innsbruck, Wien 1994. Das Christusbekenntnis sei der Kern der »›christologischen Struktur von Rationalität›« im Denken Malebranches, wobei Eckholt selbst die Verbindung von Christologie und Rationalität in Anführungszeichen setzt. Ebd., 402.

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die Lektüre des kritischen Kant der Kritik der reinen Vernunft aus Gründen der Sterblichkeit des 1782 aus dem Diskurs der Lebenden geschiedenen Oetinger nicht mehr korrigiert werden konnte. Infolge seines theosophischen Deutungskonzepts lagen 1776 Kant und Malebranche jedenfalls dicht nebeneinander.180 Achtens trägt Oetinger in den gerade behaupteten immateriellen und ewigen, aber nicht unleiblichen Raum die sieben Sephiroth bzw. Geister nach Böhme und der Kabbala ein. Kant wird mit Malebranche (und Swedenborg) zum Newton’schen Protagonisten eines absoluten und realen Raumes. Die Bibelstellen beziehen sich auf die Präexistenz und Allgegenwart Gottes, die nach der genannten Anknüpfung an Malebranche der eigentliche Grund für die Wahrnehmung der Welt ist: Die 7 Geister sind der immateriellen Welt ihre materia; die Form ist die Coordination der Dingen in diesem ewigen Raum und Zeit nach Ap. Gsch. 17,28181 und Ps. 90,2.182

Neuntens konkretisiert er, was Geist ist, mit Ploucquet: Geistes-Sachen seynd Intensa, concentrirte Kräften in einander, sie können uniprincipialiter in einander liegen, und mit Unterschied wieder heraus treten und schiedlich werden und sensible in die Sinnlichkeit fallende Producte hervor bringen.

Geistige Wesen, demnach auch Geister und Seelen, sind keine Substanzen wie bei Wolff, sondern intensa aus gegeneinander wirkenden Kräften, die letztlich ihren Ursprung im theo-kosmogonischen Schöpfungsprozess haben. Sie werden essentifiziert183 zu einem Ganzen – Oetinger vermeidet ausdrücklich den Wolff’schen Begriff des Simplex oder der Substanz, sondern greift auf einen Terminus technicus bei Gottfried Ploucquet zurück, um die Vereinheitlichung der Kräfte mit dem Ziel sinnlicher Objekte auszudrücken: die Uniprinzipialität.184

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Wenigstens Schmucker weist auf Kants Schwanken in der Frage der Einordnung von Raum und Zeit in den 1760er Jahren bis zur Dissertation hin. Er habe sie einerseits beide für Formprinzipien aller subjektiven Erfahrung, aber trotz ihrer Apriorität zugleich für objektiv real gültig gehalten. Vgl. Josef Schmucker: Zur entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung der Inauguraldissertation von 1770. In: Kant-Studien 65 (1974), Sonderh., Tl. I, 263–282, hier: 280. Damit wäre wenigstens indirekt die Interpretation Oetingers – und im Übrigen der Übersetzung – für ›legitim‹ erklärt worden. Apg 17,28: »Denn in ihm leben und weben und sind wir, wie auch einige eurer Dichter gesagt haben: Denn wir sind auch sein Geschlecht.« Ps 90,2: »Ehe die Berge geboren waren und du die Erde und die Welt erschaffen hattest, von Ewigkeit zu Ewigkeit bist du, Gott.« In der Metaphysic (Anm. 51), 419, hatte Oetinger diesen böhmistischen Gedanken ebenfalls vorgetragen: Die sieben Geister werden wie die Seele als intensum gedacht, das nicht einfach, nicht zusammengesetzt, sondern ein »essentiatum« und ein »Rad der Geburten« nach Jak 3,6 ist. Vgl. Gottfried Ploucquet: Institutiones philosophiae theoreticae sive de arte cogitandi. Tübingen 1772, § 452, vgl. Oetinger, Wörterbuch (Anm. 1), Bd. 2, 290 [hier unrichtige Titelund Jahresangabe], sowie Oetinger, Abhandlung (Anm. 71), 652, passim. Vgl. auch WeyerMenkhoff: Christus (Anm. 8), 184.

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Zehntens folgt die Rückkopplung an ein wichtiges Motiv auch bei Nicolas Malebranche: die Inkarnation.185 »Darum ist GOtt Mensch worden […]«.

Nur durch sie, meint Malebranche, kann man überhaupt wissen, wirklich zu existieren.186 Die Inkarnation Christi ist für Oetinger das Scharnier bei der Leibwerdung und bei der Interpenetrabilität des Geistigen und Körperlichen. Elftens verweist Oetinger zuletzt auf die eschatologische Begrenzung der Geistleiblichkeitslehre: »[…] sonst wäre unmöglich GOtt anschauend einmal zu sehen, da wir ihn jetzt nur im Glauben sehen«.

Erst in der güldenen Zeit werden Leib und Geist tatsächlich und harmonisch zusammengeführt, wenn die fines Dei harmonice praeordinati187 erfüllt sind. Gleichzeitig wird Gott eine Leiblichkeit zugeschrieben, die erst in die eschatologischen Sinne zu fallen vermag, möglicherweise eine Reminiszenz und geistleibliche Modifizierung von Malebranches »Vision en Dieu«, die dieser ebenfalls auch eschatologisch als vollkommene Vereinigung der menschlichen Geister mit Gott versteht.188

6. Die Schlacken des Ennius In diesem kleinen Artikel des Biblischen und Emblematischen Wörterbuchs finden sich die tragenden Elemente der eschatologisch-theosophischen Geistleiblichkeitslehre Oetingers wieder. Oetingers Theosophie versteht sich als Kontrastprogramm zu den Entkörperlichungstendenzen und zum Mechanizismus als rationalistischem Allerklärungsprogramm einer Aufklärung, die nicht nur die vitale Allwirksamkeit der göttlichen Kräfte aus der Natur wegzudenken versucht, sondern dabei auch deren Leiblichkeit vergeistigt und tendenziell in Nichts aufzulösen droht. Deren Vertreter haben nach Oetingers Urteil die göttliche Begrenztheit der sinnlichen Welt durch ihren Anfang in Gott und ihr apokalyptisches, in die Allversöhnung mündendes Ende in Christus aus dem Blick verloren. Böhmes Theosophie und Bengels biblizistische Apokalyptik sind der 185

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Auch bei Malebranche vereinigt sich Gott [sic!] durch seine Inkarnation Gott mit den beiden Substanzen Geist und Körper und heiligt dadurch die ganze Natur, vgl. Eckholt, Vernunft (wie Anm 179), 381. Die Existenz der materiellen Welt ist nicht beweisbar, doch sie ist durch das Dogma der göttlichen Schöpfung unbezweifelt. Voraussetzung für die Schöpfung aber ist die Inkarnation. Vgl. Stefan Ehrenberg: Gott, Geist und Körper in der Philosophie von Nicolas Malebranche. Sankt Augustin 1992, 12 f., 89 u. 179 f. Vgl. oben Anm. 66. Vgl. Ehrenberg (Anm. 186), 29.

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Rahmen, in den Oetinger in eklektischer Manier Elemente aus den unterschiedlichsten zeitgenössischen Autoren einträgt. Zwischen dem Abfall der Schlacken des Ennius ist das Gold enthalten: »man soll ex stercoribus Enii das Gold heraussuchen, das ist aber mühsam für die delicate Sucher, die nur alles auf dem Bret hergetragen wissen wolen.«189 Man solle »abersonderlich bey der jezigen skeptischen Zeit, mit Langmuth und Salz« urteilen,190 meint Oetinger, der selbst gelegentlich das Pseudonym Halatophilus Irenaeus191 führte und damit seine ungebrochenen alchemisch-böhmistischen Neigungen kundgab. Mit dieser Devise legte Oetinger seinem Eklektizismus gegenüber den scheinbar unüberwindlichen Frontziehungen zugleich eine irenisch-friedensstiftende Intention bei, obwohl er die gegnerischen Fronten nicht selten selbst kräftig nachzeichnete, und zwar auch dann, wenn er sie zu befrieden versuchte. Trotz dieses mitunter willkürlich anmutenden irenischen Eklektizismus kann Oetinger als wichtigster, weil womöglich schon zeitgenössisch am stärksten rezipierter Böhme-Transporteur des 18. Jahrhunderts angesehen werden, obwohl ›sein‹ Böhme anverwandelt, aktualisiert und dabei rezeptionell erheblich verschoben worden ist. Oetingers böhmistische Theosophie ist ohne die Fronten, zwischen denen sie entstanden und zwischen denen Böhmes Einschreibung geschehen ist, kaum auf die Schliche zu kommen. Es liegt auf der Hand, dass Oetingers Werk ebenso eklektisch rezipiert wurde wie es selbst entwickelt worden ist. Bei der theologischen Rezeption wurden seine Kabbala, Alchemie und Theosophie oft viel zu wenig berücksichtigt oder ganz vergessen, bei anderen sein Selbstverständnis als Lutheraner, wobei der württembergische Begriff des Lutherischen durch Oetinger modifiziert mit eigenen Akzenten besetzt worden ist. Aufgrund allzu festgelegter Aufklärungsbegriffe schwankt seine Einordnung zwischen Gegenaufklärung und metakritischer (theosophischer) Aufklärung.192 Diese eklektische Rezeption galt aber schon für seine Zeitgenossen, etwa Goethe,193 Herder,194 Lavater,195

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Oetingers Übersetzung von Emanuel Swedenborg: Von den Erdcörpern der Planeten und des gestirnten Himmels Einwohnern […]. Anspach 1771, 172 f.; dieselbe Formulierung in Oetinger: Beurtheilungen (Anm. 57), 76. Das Zitat bezieht sich auf den römischen Poeten und Chronisten Ennius: »aurum colligere de stercore Ennii«. Vgl. Karl-Ernst/Heinrich Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Hannover, Leipzig 1918, Bd. 2, 2795. Vgl. Oetingers Rechtfertigungsschrift von 1767. In: Oetinger, Swedenborg (Anm. 6), LVI, hier im Blick auf Swedenborg. Ähnliche Formulierungen öfter im Gesamtwerk. »Halophilus Irenaeus« war demgegenüber Pseudonym seines Sohnes Theophil Friedrich. Vgl. Kummer (Anm. 10), 214. Zu den verschiedenen, sich teilweise überschneidenden Interpretationen Oetingers als Vorläufer der Anthroposophie (Gerhard Wehr), als gegenaufklärerischer (Emanuel Hirsch) oder metakritischer Vernunft- und Aufklärungskritiker (Schoberth, Gadamer), als Lutheraner (Betz, Weyer-Menkhoff u. a.) vgl. Stengel, Aufklärung (Anm. 4), 506–512. Vgl. Ulrich Gaier: Nachwirkungen Oetingers in Goethes »Faust«. In: PuN 19 (1984), 90– 123. Vgl. Ulrich Gaier: Herder und Oetinger. In: PuN 28 (2002), 213–236; Martin Brecht: Hahn und Herder. In: Ders.: Ausgewählte Aufsätze. Stuttgart 1997, 455–480. Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Lavater, der mit Oetinger korrespondierte und dessen Texte von Oetinger vielfach besprochen und kritisiert worden sind, mit diesem ist ein Forschungsdesiderat. Anregungen bei: Horst Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande –

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später Schelling.196 Hans-Georg Gadamer hat die Linie bis zu Hegel ausgezogen.197 Auch die Anthroposophie Rudolf Steiners198 und die Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs199 sind zu nennen. Und natürlich ist der württembergische Pietismus in seiner heterogenen Gestalt nicht ohne Oetinger und dessen Positionierung Jakob Böhmes im Jahrhundert der sogenannten ›Aufklärung‹ als Theosophical Enlightenment 200 zu beschreiben.

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Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert. Göttingen 1988, 47–54. Vgl. bisher (und umstritten): Robert Schneider: Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen. Würzburg 1938. Hinsichtlich der emblematischen Hermeneutik Oetingers als Vorläuferin der Hermeneutik Schelling vgl. Griffero (Anm. 150). Eine völlige Neudarstellung des rezeptionellen Verhältnisses zwischen Oetinger und Schelling bereitet in Heidelberg Jürgen Kaufmann vor. Hans-Georg Gadamer: Einleitung. In: Friedrich Christoph Oetinger: Inquisitio in sensum communem et rationem. Stuttgart-Bad Canstatt 1964 [ND], V-XXVIII, hier: V, XXIII. Vgl. Emil Bock: Christliche Theosophie. J. A. Bengel und Fr. Chr. Oetinger. Sonderdruck aus dem Buche »Vorboten des Geistes«. Stuttgart 1929. Vgl. zur Kritik an der – gleichwohl faktischen – Rezeption Oetingers bei C. G. Jung Schoberth (Anm. 44), 134–139. So der Titel des Buchs von Jocelyn Godwin (New York 1994), in dem Oetinger allerdings nicht erwähnt wird.

Albert Meier

Jacob Böhme und Karl Philipp Moritz

In der Moritz-Forschung spielt Jacob Böhme die merkwürdige Rolle eines Wiedergängers, der schattenhaft bleibt, wie regelmäßig er auch erscheint. Zuverlässig kommt Böhmes Name dort zur Sprache, wo Moritz als Autor der beiden Hartknopf-Romane, als Herausgeber des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde (zehn Bde. 1783–1793) und/oder als Begründer der Autonomieästhetik in ideengeschichtlichem Zusammenhang diskutiert wird. Ebenso zuverlässig jedoch gelangt die Beschäftigung mit Moritz’ eventuellem Böhme-Bezug über Erwähnungen nicht weit hinaus. Beinahe immer beschränkt sie sich auf Bemerkungen en passant, die keine gründliche Untersuchung voraussetzen und interpretatorisch folgenlos bleiben. Systematische Erforschungen liegen bislang nicht vor, und es steht nicht zu vermuten, dass sich an dieser Fehlanzeige je etwas ändern wird. Im Großen und Ganzen lässt sich von einer Art Konsens sprechen, der Moritz zwar eine »superficial acquaintance«1 mit Böhme zugesteht, dessen Einfluss auf die Ästhetik, Psychologie und Sprachphilosophie des Berliner Spätaufklärers aber nur in indirekten Filiationen erkennt. In diesem Sinne hat etwa Thomas P. Saine schon 1971 in Zweifel gezogen, dass »Moritz’ Naturbetrachtung« im Sinne einer von Böhme inspirierten »Panvitalisierung und Naturmystik zu sehen« sei; anstelle eines böhme-affinen Pantheismus konstatiert der amerikanische MoritzPionier »höchstens Naturpersonifizierung und teleologische Naturordnung«, die allerdings »nicht durch Hinweise auf Paracelsus und Böhme erklärt werden müssen«.2 Eine wenigstens partiell abweichende Auffassung haben in jüngerer Zeit namentlich Raimund Bezold und Ulrike Morgner vertreten. Bezold erklärt den Glauben der Titelfigur in Andreas Hartknopf. Eine Allegorie (1785), »daß die ganze Welt aus alkalischem Salz geschaffen sei«,3 unter Rekurs auf Böhme, gibt sich bei seiner Beweisführung aber mit einer einzigen Fußnote zufrieden: 1

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»The dominating imagery of morning (also to be found in the Geisterseher) may well have been reinforced by a superficial acquaintance with Böhme, but its chief sources lie in Masonic symbolism and also in the figurative vocabulary of Rationalism« (Mark Boulby: Karl Philipp Moritz: At the Fringe of Genius. Toronto u. a. 1979, 238). Thomas Peter Saine: Die ästhetische Theodizee. Karl Philipp Moritz und die Philosophie des 18. Jahrhunderts. München 1971, 30. Karl Philipp Moritz: Andreas Hartknopf. Eine Allegorie. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Hrsg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier. Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Frankfurt a. M. 1999 (Bibliothek deutscher Klassiker 159; im Weiteren mit der Sigle »AH«), 519–601, hier: 521.

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Die pansophische Herkunft des Symbols läßt sich etwa bei Jacob Böhme verfolgen. Salz als ›Pricipium‹ (sal) ist nach Böhme prima materia (J. Böhme, De Tribus Principiis oder Beschreibung der Drey Principien Göttliches Wesens, 1619, Cap. I,9; Sämtliche Schriften, Faks.-Neudruck der Ausgabe Johann Georg Gichtels von 1730, hrsg. v. W.-E. Peuckert, 11. Bde., Stuttgart 1955 – 1961, Bd. 2, S. 11) und ›Wurtzel der Natur‹ (J. Böhme, De Electione Gratiae, Von der Gnaden – Wahl, 1623, Cap. 3,3; Sämtl. Schriften Bd. 6, S. 27). In den spätrosenkreuzerischen Séancen spielte das derart bedeutungsvolle Salz eine wichtige Rolle.4

Ulrike Morgner unterstellt eine offenbar umfassendere Abhängigkeit des Hartknopf von der Ideenwelt Böhmes: »Die Referenz der ›Allegorie‹ auf Böhme ist nicht nur in ihren mystischen Implikationen vielfältig und kann deshalb jeweils nur angedeutet werden«.5 Drei Motive der Hartknopf-›Allegorie‹ bzw. der Predigerjahre, deren Titelheld sich »mit seiner Hände Arbeit sowohl, als vom Evangelium« (AH 529) zu ernähren wüsste, sollen jedenfalls belegen, »dass der Bezug zwischen Hartknopf und Böhme auch im Hinblick auf die Person des Protagonisten hergestellt werden kann«: Beide entstammen handwerklichen Berufen (Böhme war vor seiner Berufung als Schuster tätig), beider Lehren fügen sich nicht in ein dogmatisches System […]. Auch an anderer Stelle lassen sich Parallelen ziehen: Wenn z. B. Hartknopf in den ›Predigerjahren‹ Sophia Erdmuth heiratet, erinnert diese Verbindung an Böhmes Predigt von Adams erster Ehe mit der Sophia im paradiesischen Urzustand […].6

Als erste Zwischensumme ergibt sich damit die Beobachtung, dass es der Moritz-Philologie bislang nicht gelungen ist, eine substanzielle Verbindung zu Jacob Böhme aufzuzeigen. Die geltend gemachten Korrespondenzen sind – wenn überhaupt – höchst unscharf und schließen alternative, zumindest weniger umständliche Erklärungen nicht aus (und sei es auch bloß die einer ›zufälligen‹ Ähnlichkeit). Hinzu kommt, dass es keinerlei belastbare Information gibt, die eine eingehendere Auseinandersetzung Moritz’ mit Böhme auch nur wahrscheinlich macht. Weder im ›psychologischen Roman‹ Anton Reiser, der die Kindheit und Jugend dokumentarisch hinlänglich korrekt schildert, noch in den – freilich nur spärlich überlieferten – privaten Zeugnissen finden sich Indizien in diese Richtung, und sowohl Moritz’ erster Biograph, der eng mit ihm befreundete Karl Friedrich Klischnig,7 als auch Hugo Eybisch, der bis dato nicht überholte Erforscher

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Raimund Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984 (Epistemata XIV), 221. – Bezold geht hier nicht auf die Frage ein, warum Hartknopf explizit von ›alkalischem Salz‹ spricht, während die paracelsische Tradition eine ›Tria prima‹ behauptet (›Mercurius‹, ›Sulphur‹, ›Sal‹), in der die Spezifikation ›alkalisch‹ noch keine Rolle spielt. Ulrike Morgner: ›Das Wort aber ist Fleisch geworden‹. Allegorie und Allegoriekritik im 18. Jahrhundert am Beispiel von K. Ph. Moritz’ ›Andreas Hartknopf. Eine Allegorie‹. Würzburg 2002 (Epistemata 388), 63. Ebd., 63. Karl Friedrich Klischnig: Erinnerungen aus den zehn letzten Lebensjahren meines Freundes Anton Reiser. Als ein Beitrag zur Lebensgeschichte des Herrn Hofrath Moritz. Berlin 1794.

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von Moritz’ Kindheit und Jugend,8 sprechen dergleichen nirgendwo an. In dieses Bild passt, dass die einzige Erwähnung Böhmes in einem autobiographischen Text – d. h. in den Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782 – auffällig desinteressiert klingt und keinesfalls auf einschlägige Sachkundigkeit schließen lässt: »Nicht zu vergessen ist, daß die Schriften unsers Jakob Böhme sämtlich ins Englische übersetzt sind«.9 Immerhin handelt es sich bei England um dasjenige Land, in dem Böhme seine breiteste Wirkung entfaltet hat, sodass wiederholt Gelegenheit gewesen sein sollte, auf böhmistisches Gedankengut oder zumindest dessen Rezeption einzugehen.10 Dass Jacob Böhme, aller Spärlichkeit der Belege zum Trotz, aus der MoritzPhilologie nicht wegzudenken ist, geht mutmaßlich auf die Epoche machende Studie von Robert Minder zurück, die 1936 unter dem Titel Die religiöse Entwicklung von Karl Philipp Moritz aufgrund seiner autobiographischen Schriften erstveröffentlicht wurde und 1974 dann in der Neuauflage als Glaube, Skepsis und Rationalismus in der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, derart prominent platziert war, dass sie als Ausgangspunkt aller neueren Moritz-Forschung gelten darf. Aber auch bei Minder spielt Böhme seine – ohnehin diskrete – Rolle nur im Hintergrund, indem darauf verwiesen wird, dass Böhmes Schriften »den hannoverschen und braunschweigischen Geistlichen«, deren Predigten der junge Moritz ausführlich gehört hat, »besonders verdächtig« waren und »als alchimistische Werke« der Kritik unterlagen: »Ihr Einfluß auf Moritz tritt nirgendwo sehr offensichtlich zutage, es sei denn in einigen seltsamen sprachphilosophischen Abhandlungen«.11 Zeigen lässt sich hingegen, dass selbst in Moritz’ frühen Jahren die Umstände nicht günstig waren, um ihn für Jacob Böhme und dessen Denken zu interessieren. Beim quietistischen Hutmacher Johann Simon Lobenstein in Braunschweig, wo der zwölfjährige Moritz im Juni 1768 eine Lehre beginnen musste (bis April 1770), hätte an sich die beste Gelegenheit bestanden, sich mit diesem krausen Denken vertraut zu machen, da Lobenstein über seinen spirituellen Mentor Johann Friedrich von Fleischbein (1700–1774) zu einem Anhänger Johann Georg Gichtels (1638–1710) geworden war, der 1682 die erste vollständige BöhmeAusgabe veranstaltet hatte. Christoph Wingertszahn hat freilich die Schilderun8 9

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Hugo Eybisch: Anton Reiser. Untersuchungen zur Lebensgeschichte von K. Ph. Moritz und zur Kritik seiner Autobiographie. Leipzig 1909. Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782. In: Ders., Werke (Anm. 3), Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 145), 249–392, hier: 272. Ansonsten figuriert ›Böhme‹ bei Moritz – von einer gewichtigen Ausnahme abgesehen – nur noch als phonetisch verderbte Variante zu ›Bäume‹, wie ein fiktives Frühlingsgespräch zwischen einem Herrn und einer Dame in der Anweisung die gewöhnlichsten Fehler, im Reden, zu verbessern karikierend aufspießt: »Er. Sehen Sie, wie das Lohb uf die Böhme schon widder ausschlägt! o wie schön is doch der Frühling! | Sie. Ja, des freuet mir immer am mehsten, wenn ich sehe, wie die Böhme erscht anfangen grün zu werden, des seht jar zu schön aus« (in: Karl Philipp Moritz: Kleine Schriften die deutsche Sprache betreffend. Berlin 1781, 27). Robert Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobiographischen Schriften von Karl Philipp Moritz. Frankfurt a. M. 1974, 183.

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gen in Anton Reiser anhand von Fleischbeins Briefwechsel mit Lobenstein überprüfen (im Kern auch verifizieren) können und hebt im Resümee Fleischbeins (damit auch Lobensteins) Distanz zu Böhme hervor: Fleischbein selbst hatte in früheren Jahren zustimmend Böhmes Theosophie studiert; er lehnte aber danach die theosophische Spekulation dieser Schule ganz ab, denn die quietistische Doktrin setzte stattdessen auf die unreflektierte reine ›Übergabe‹ an Gott und den damit verbundenen ›nackten Glauben‹. Zudem äußerte Fleischbein grundsätzliche Kritik an Böhmes Lehren, der auch Gichtel verfiel – ohne daß Fleischbein je dessen Schriften gelesen hätte: ›Die sind mir nach ihrer Gemüthsbeschaffenheit wohl bekant sie haben einen Speculativen und würsamen Geist, und vieles mit andern Kleinen Religionsparteyen gemein. Es ist rar daß diese Personen wenn sie lang in diesen Speculationen gestanden, zum Innern solten gebracht werden. in dessen ist die Hand des HERRN nicht verkürtzet, es kommt aber darauf an ob sie wollen von J: Christo geheilet werden, und ob sie von ganzem Herzen wollen, und aus allen Kräfften sich darnach bestreben, also daß sie durch die stete Gegenwarth Gottes ins Innere eingehen.‹12

Die »Speculationen des Jacob Böhms«13 sind – einem Brief Fleischbeins an Regina Wiedner, seine »glühendste Anhängerin in Braunschweig«,14 zufolge (3.–5. März 1767) – geeignet, ihre Leser von den »innern Wegen des Duncklen Glaubens« abzuhalten: »Jacob Bohm aber hat einige Lehrsätze die in der That irrig und der Heiligkeit und Majestädt der Wesenheit Gottes verkleinerlich sind«.15 Wenn überhaupt, dann hätte Moritz während seiner Braunschweiger Lehrzeit also anti-böhmisch eingestimmt werden müssen, doch gibt es diesbezüglich keine substanzielle Spur. Von einer nennenswerten Kenntnis der einschlägigen Schriften Böhmes bzw. seiner Gefolgsleute ist für Moritz daher nicht auszugehen. Dass der Berliner Spätaufklärer dennoch immer wieder verdächtigt wird, in die Geschichte der Böhme-Rezeption zu gehören, dürfte nicht zuletzt in der ›Seltsamkeit‹ seines Schreibstils begründet sein, dessen ostentativ dilettantischer Gestus in der Tat an den Görlitzer Schuster erinnern mag. Insofern bietet es sich an, auch nach indirekten Beziehungen zu suchen und selbst vagere Übereinstimmungen ernst zu nehmen. Das betrifft wesentlich die ästhetische Theorie, die Moritz 1786–88 gemeinsam mit Johann Wolfgang Goethe in Rom entwickelt hat (Über die bildende Nachahmung des Schönen, 1788), deren Grundgedanke einer Selbstzweckhaftigkeit des Schönen jedoch schon im 1785 publizierten Aufsatz Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des ›in sich selbst Vollendeten‹ enthalten ist. Hans Joachim Schrimpf und Hans Adler betonen in diesem Zusammenhang, dass Moritz’ ästhetischer Leitgedanke, der wahre Künstler müsse sich in vollkommener Uneigennützigkeit ganz seinem

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Christof Wingertszahn: Anton Reiser und die ›Michelein‹. Neue Funde zum Quietismus im 18. Jahrhundert. Hannover 2002, 44 f. Zit. n. ebd., 52. Ebd, 37. Zit. n. ebd., 52.

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Werk hingeben,16 zwar die gleiche ›Denkfigur‹ enthalte wie der »mystische Quietismus«, jedoch von »genau entgegengesetztem Inhalt« sei: »Seine kunstphilosophische Konzeption meint das Gegenteil einer mystischen Weltabsage oder Daseinsverleugnung«.17 Wenn Schrimpf/Adler Moritz’ Formel von der ›Signatur des Schönen‹18 dennoch in der »Tradition des Paracelsus und Jakob Böhmes«19 verorten, liegt freilich ein Missverständnis vor: Für Moritz ›trägt‹ das vollkommene Kunstwerk nicht die ›Signatur‹ des Schönen, sondern ›ist‹ dessen Erscheinung, und das Stichwort der ›Signatur‹ bezeichnet hier nicht mehr als die Frage äußerer Merkmale, anhand derer sich das Schöne ›beschreiben‹ ließe. Statt weitläufig auf Paracelsus und Böhme zu verweisen, stützt sich Moritz’ Ästhetik vielmehr evident auf Johann Gottfried Herder, dessen Gott. Einige Gespräche [über Spinoza] (1787) »von der höchsten Ursache« nur zu sagen weiß: »sie ist, sie wirket«.20 Für das Kunstschöne stellt Moritz das Gleiche fest: »Und von sterblichen Lippen, läßt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen, als: es ist!«.21 Ein weiterer Bereich in Moritz’ Werk, für den ein Böhme-Bezug in Betracht kommt, sind seine Überlegungen zur Sprache, wie sie sich weniger in den entsprechenden Buch-Publikationen22 als in zahlreichen Beiträgen zu Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) finden. Friedrich Nicolai hat Moritz immerhin einschlägig bezichtigt: »›Es gibt auch grammatische Mystiker. Moritz war einer‹«.23 So wenig aber Moritz’ Verwendung des für Böhme charakteristischen Begriffs der ›Signatur‹ auf eine einschlägige Rezeption hinweist, so wenig haben seine Sprachtheorien mit Gedanken in der Aurora oder in De Signatura rerum zu tun. Unter dem Stichwort der ›Logos-Mystik‹ hat Karl Otto Apel Böhmes Vorgehen folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Statt das Körperliche der Lautbildung naturwissenschaftlich zu isolieren, legt er alle nur denkbaren anthropologisch-metaphysischen Implikationen der Mikrokosmosidee in seine ›psychosomatische‹ Deutung der Lautwerdung und Artikulation des geistigen Wortes

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»In diesem Verstande kann man sagen, daß der Künstler sein Werk aus Liebe zu dem Werke verfertige, indem er sich gleichsam eine Zeitlang für sein Werk aufopfert, sich selbst über dem Werke vergißt« (Karl Philipp Moritz: Die metaphysische Schönheitslinie. In: Ders., Werke, Bd. 2 [Anm. 9], 950–957, hier: 951 f.). Hans Joachim Schrimpf/Hans Adler: Nachwort. In: Karl Philipp Moritz: Beiträge zur Ästhetik. Hrsg. und komm. von dens. Mainz 1989 (excerpta classica III), 116–140, hier: 139. Moritz’ Aufsatz In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können (1788/89 zuerst in der Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin erschienen) ist 1793 im Rahmen der Sammlung Die große Loge oder der Freimaurer mit Wage und Senkblei unter dem Titel Die Signatur des Schönen wiederveröffentlicht worden. Schrimpf/Adler (Anm. 17), 135. Johann Gottfried Herder: Spinoza-Gespräche. 1. Fassung (1787): Gott. Einige Gespräche. In: Ders.: Werke. Hrsg. v. Wolfgang Proß. Bd. II: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. München/Wien 1987, 733–843, hier: 787. Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Ders., Werke, Bd. 2 (Anm. 9), 958–991, hier: 991. Insbesondere die Deutsche Sprachlehre für die Damen (1783). Friedrich Nicolai: ›Kritik ist überall, zumal in Deutschland, nötig‹. Satiren und Schriften zur Literatur. Hrsg. und mit Nachw., Anm. sowie Register vers. v. Wolfgang Albrecht. Leipzig/ Weimar 1987, 83.

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in der ›Schiedlichkeit‹ des Leibes«.24 Als ›psychosomatisch‹ mag sich auch Moritz’ Ansatz qualifizieren lassen, wenn er im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde die Sprache ›in psychologischer Rücksicht‹ untersucht und etwa den mit dem unpersönlichen ›es‹ verbundenen Vorstellungen nachsinnt oder die Flexionsformen deutscher Verben kausal erklären will. Anders als Böhme geht es Moritz allerdings nirgendwo um »das keiner Sprache angehörige ›innere Wort‹ (Augustinus’ ›verbum quod intus lucet‹)«.25 Anstatt durch Sprachanalyse das göttliche fiat besser zu verstehen,26 um sich in der Schöpfung angemessener aufgehoben zu wissen, hat Moritz vielmehr den Anspruch, durch »fortschreitendes zusammenhängendes Räsonnement«27 in die »Natur der Wörter einzudringen« (DS 159). Sein Erkenntnisziel ist der »Urquell unsers Denkens« (DS 17 f.) und damit die letztlich rationale, autonome menschliche Geistesleistung, die der Geschichtlichkeit des Bewusstseins (im Individuum wie in der Gattung) als Abstraktionsprozess zu immer mehr Vernunft Rechnung trägt: »so muß unsre Einbildungskraft sich verdunkeln, wenn es im Verstande helle werden soll« (DS 203). Als weit weniger mystisch denn realistisch-pragmatisch sind auch Moritz’ Aktivitäten als Freimaurer zu qualifizieren. Seine überlieferten Logenreden, Gedichte und Aufsätze zeigen ihn als dezidiert ethisch orientiert bzw. um eine lebensweltliche Relevanz der Logenarbeit bemüht. In diesem Sinn kümmert sich das Mitglied der Berliner St.-Johannis-Loge zur Beständigkeit (Aufnahme 1779; 1781 Geselle, 1784 Meister, 1789 Bruder Redner, 1791/92 Erster Aufseher) nirgendwo um Rituale und Arkana, sondern begreift den ›Freimaurer‹ als buchstäblich ›freien‹ Menschen, »der etwas bauet, das heißt, etwas mit Zweck und Absicht unternimmt«, das weniger ihm selbst als anderen eine »willkommne Herberge« sein kann.28 Im Vordergrund steht damit die Bildungsaufgabe, als Freimaurer zur Überwindung der ›Furcht‹ beizutragen: Hier ist es eben, wo der Freimaurer frei, und nicht nach Menschenfurcht und Menschengefälligkeit handeln muß. – Darum übt er sich bei unsern Zusammenkünften, die Menschen als sich alle gleich und als Brüder zu betrachten, damit er sich nicht durch das Verhältniß der Stände abhalten läßt, das zu thun, was er für recht hält. – Er wird deswegen kein Aufwiegler – denn er lernt sich der Nothwendigkeit unterwerfen – wo er keine Möglichkeit sieht, der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung abzuhelfen, da verschwendet er seine Kräfte nicht vergeblich, um sie auf Fälle zu sparen, wo sich ihm bessere Aussichten eröfnen. –29

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27 28 29

Karl Otto Apel: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico. In: Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Erich Rothacker. Bd. 8. Bonn 1963, 296. Ebd., 80. Vgl. die phonetisch-theologische Analyse von ›Am Anfang war das Wort‹ in Jacob Böhme: Morgen-Röte im Aufgangk. In: Ders.: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 143), 9–506, hier: 320 ff. Deutsche Sprachlehre für die Damen. In Briefen von Carl Philipp Moritz. Berlin 1782, XV (im Weiteren mit der Sigle »DS«). Karl Philipp Moritz: Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers. Von dem Verfasser Anton Reisers. In: Ders., Werke, Bd. 1 (Anm. 3), 701–762, hier: 746 f. Ebd., 748.

Jacob Böhme und Karl Philipp Moritz

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Wie der antiken Stoa geht es dieser ethisch motivierten Freimaurerei um eine innere Gemütsfreiheit. Was Seneca ›constantia‹ genannt hat, heißt bei Moritz ›Resignation‹: das vernunftgeleitete Sich-Unterwerfen unter das Notwendige bzw. Unvermeidliche, um die Kräfte nicht sinnlos zu verschwenden, sondern für zweckmäßigere Aktivitäten zu bündeln.30 Diese Grundtendenz, im mystischen Gewand die Bewährung im Alltag zu erleichtern, macht auch das zentrale Problemfeld der beiden Hartknopf-Romane aus, mit denen sich Moritz unzweifelhaft am weitesten auf die Denkweise von Schwarmgeistern eingelassen hat: Andreas Hartknopf. Eine Allegorie (1785) und Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790). Moritz erzählt die Geschichte eines religiösen Sonderlings auf Wanderschaft, der »seines Handwerks ein Grobschmied und ein Priester« ist und über zwei ›Arkana‹ verfügt: eines gegen die Schwindsucht und »ein noch weit größres«, »den Leib des Menschen durch die Seele zu heilen« (AH 529). Obwohl er evangelische Theologie studiert hat und offensichtlich als ordinierter Pfarrer anzusehen ist, erlaubt sich Hartknopf doch einige sektiererische Ansichten, da er in der Gottheit vier Personen annimmt (zur üblichen Trinität kommt das ›Wort‹ hinzu)31 und an die Erschaffung der Welt »aus alkalischem Salz« (AH 521) glaubt;32 seine Gemeinde segnet er nicht mit dem Kreuzzeichen, sondern indem er »mit dem Mittel- und Zeigefinger nur einen geraden Querstrich zweimal durch die Luft«33 zieht, und das Abendmahl zelebriert er gelegentlich in Gestalt von Rettich und Salz.34

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Vgl. Albert Meier: Weise Unerschrockenheit. Zum ideengeschichtlichen Ort von Karl Philipp Moritz’ Freimaurer-Schriften. In: Moritz zu ehren. Beiträge zum Eutiner Symposium im Juni 1993. Hrsg. v. Wolfgang Griep. Eutin 1996 (Eutiner Forschungen 2), 95–104. – Die freimaurerischen Motive der ›Hartknopf‹-Romane sind insbesondere von Michael Voges (Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 1987) und Edward Batley (Masonic Thought in the Work of Karl Philipp Moritz: Sheen or Substance? In: London German Studies 6 [1998], 121–146) untersucht worden. »Viere sind, die da zeugen im Himmel: der Vater, der Sohn, der Geist, und das Wort, und diese viere sind eins« (AH 540). Einen höchst instruktiven Überblick über die ›Salzalchemie‹ vom 16.-18. Jahrhundert bietet Joachim Telle: ›Vom Salz‹. Eine deutsche Alchemikerdichtung der frühen Neuzeit über den Gewinn einer Universalmedizin. In: Pharmazie in Geschichte und Gegenwart. Festgabe für Wolf-Dieter Müller-Jahncke zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Christoph Friedrich und Joachim Telle. Stuttgart 2009, 457–484 (dem Verfasser bin ich für seinen kollegialen Hinweis sehr zu Dank verpflichtet). Karl Philipp Moritz: Andreas Hartknopfs Predigerjahre. In: Ders., Werke, Bd. 1 (Anm. 3), 603–666, hier: 620 (im Weiteren mit der Sigle »AHP«). – Die Geste leitet sich möglicherweise vom ›Patriarchenkreuz‹ des Schottischen Freimaurer-Ritus her (vgl. die entsprechende Anmerkung im Kommentar zu Karl Philipp Moritz: Andreas Hartknopf. Eine Allegorie/ Andreas Hartknopfs Predigerjahre. Hrsg. v. Martina Wagner-Egelhaaf. Stuttgart 2001, 229). Vgl. Robert Charlier: Der heilige Rettich. Die Versinnlichung des Pneumatischen im ›Andreas Hartknopf‹ von Karl Philipp Moritz. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 47 (1997), 379–398.

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In diesem Kontext findet sich die einzige wertende Erwähnung Böhmes in Moritz’ Gesamtwerk, und sie könnte abfälliger nicht sein. Andreas Hartknopf. Eine Allegorie beginnt damit, dass die Titelfigur von zwei »Weltreformatoren und Kosmopoliten« in einen Graben gestoßen wird. Die »beiden besoffnen Kerl« (AH 525), »der eine zur Rechten Namens Küster, wirklich ein Küster, und der borstige zur Linken Namens Hagebuck« (AH 531), haben sich in Hartknopfs Geburtsort Gellenhausen eingenistet und treiben dort ihr Unwesen, indem sie die Jugend des Städtchens nach dem Vorbild des Dessauer Philanthropins zu erziehen behaupten, tatsächlich aber verderben. In rückhaltloser Parteilichkeit bzw. mit entsprechendem Sarkasmus weist der auktoriale (genauer: extradiegetischhomodiegetische) Erzähler die ursprüngliche Schuld an diesem Unsinn Jacob Böhme zu, indem er Hagebuck als einen an sich »ehrsame[n] Schuster« qualifiziert, der allerdings »eine höhere Flamme in sich lodern fühlte, und glaubte, daß er gar wohl fähig sei, in den Köpfen der Menschen ein Licht anzuzünden, deren Füßen er jetzt Schuhe anmessen mußte« (AH 531): Denn er hatte seines großen Handwerksgenossen Jakob Böhmens Schriften gelesen, dadurch war zuerst der Funke in ihm angezündet worden – denn es war ihm einmal, da er gerade den Pechdraht zog, als ob ihm eine Stimme vom Himmel zuriefe: Hagebuck! und er sagte: Herr, was ists? – Da rief ihm die Stimme weiter zu: Laß deinen Pechdraht liegen, und wirf deinen Pfriemen von dir, und gehe hin in ein Land, das ich dir zeigen will! […] Hans Hagebuck schnürte also sein Bündel, steckte seinen Jakob Böhme in die Tasche, und wanderte auf Dessau zu. – Hier verkannte man seine Talente nicht, und er fand Gelegenheit, den Unterricht des Philanthropins zu genießen, und studierte Basedows Elementarwerk in der deutschen Übersetzung, daßihm der Kopf rauchte; der Erfolg davon war, daß er binnen einem Jahre, sich schon stark genug fühlte wieder ein Lehrer der Menschen zu werden […]. (AH 531 f.)

Da es sich bei Hagebuck um die extrem negativ stilisierte Figur eines eitlen Heuchlers handelt, fällt die Kritik an ihm auf Jacob Böhme zurück. Konkret speist sich diese anti-schwärmerisch und daher letztlich aufklärerisch, d. h. rational motivierte Attacke aber aus Moritz’ klassizistischer Ästhetik, die das extrem seltene ›Genie‹ strikt von den vielen ›Liebhabern‹ unterscheidet, weil es nur sehr wenigen gegeben sein soll, als echte Künstler zu wirken. In seinem Schüler Hagebuck potenziert sich insofern Böhmes eigener Dilettantismus – Moritz steht in dieser Hinsicht ganz in der Tradition der etablierten Böhme-Kritik und lässt sich keineswegs auf irgendwelche Inhalte dieses Laien-Denkens ein, sondern begnügt sich mit dem Ausmalen der zerstörerischen Folgen. Abgesehen davon, dass Hagebuck im Jähzorn einen lahmen Pudel tot tritt, gelingt es ihm zuletzt aus purer Rachsucht, seine Gegner zu vernichten: Auf »Satan Hagebucks Anstiften« werden zunächst Hartknopfs Freunde – der alte Rektor Emeritus und der Gastwirt Knapp – hingerichtet, bevor fünf Jahre darauf auch Hartknopf selbst seine Lehre der ›Resignation‹ »mit seinem Märtirertode« (AH 601) besiegelt. Der Erzähler lässt keinen Zweifel daran, dass seine Titelfigur als merkwürdige Erscheinung zu gelten hat. Indem er Hartknopf aber in der Allegorie mit den tückischen Narren Hagebuck und Küster, in den Predigerjahren mit dem ebenso

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hämischen Küster Ehrenpreiß kontrastiert, schreibt er ihm eine menschliche Substanz zu, die ihn – allen seltsamen Auffassungen zum Trotz – moralisch rettet. In diesem Zusammenhang setzt die Hartknopf-Allegorie das von Shaftesbury entwickelte Konzept eines ›test by ridicule‹ erzählerisch um: Now what rule or measure is there in the world, except in the considering of the real temper of things, to find which are truly serious and which ridiculous? And how can this be done unless by applying the ridicule to see whether it will bear?35

Bevor Hartknopf von seinen Begleitern Hagebuck und Küster misshandelt wird, hat er auf seiner nächtlichen Wanderung zurück in den Geburtsort Gellenhausen vor »einem breiten Graben« mit stoischem Pathos halt gemacht: »Hier will ich still stehen« (AH 521). Als ihn die beiden »Weltreformatoren und Kosmopoliten« (AH 525) in den Graben stoßen, muss Hartknopf allerdings einsehen, dass der Graben kein Wasser führt und »er gleich anfangs trocknes Fußes hätte durchgehen können, wenn er statt seiner philosophischen Resignation, seine beiden Sinne Gesicht und Gefühl zusammengenommen hätte« (AH 524). In dieser Szene setzt der Erzähler seinen Protagonisten einer ›raillery‹ aus,36 indem er ihn objektiv eine Dummheit begehen lässt, die subjektiv dennoch unbedenklich bleibt. Weil Hartknopf weder »seinem Beleidiger« noch »sich selber« einen Vorwurf macht und den an sich peinlichen Vorgang nicht weiter ernst nimmt, legt er seine seltene Seelenkraft an den Tag, die ihn weit über Hagebuck und Küster erhebt. Der Leser kann daran »true gravity from the false«37 umso besser unterscheiden, als »die beiden Besoffnen« kurz darauf weit boshafter reagieren, von Hartknopf aber – vollauf verdient – »nach Herzenslust durchgeprügelt« (AH 527) werden. Moritz’ Auffassung von Schwärmerei zeigt sich hier und im weiteren Verlauf der Allegorie-Handlung deutlich: Absonderliche Ideen bzw. mystisches Denken aller Art gelten ihm solange als tolerabel, als sie sozialverträglich bleiben oder die Humanität38 vielleicht gar bestärken. Entscheidend ist insofern weit mehr die Ehrlichkeit der Überzeugung als deren jeweiliger Inhalt – den Gegensatz dazu bildet ein aus Unverstand und Egozentrik erwachsendes Schwärmertum, wie es Hagebuck und Küster vertreten, die mit ihren unverdauten Ideen nichts tun, als ein Städtchen und dessen Jugend moralisch zu korrumpieren, weil sie zwar »die ganze Menschheit […] liebevoll umfassen« können, der »einzelne Mensch« (AH 535 f.) ihnen aber nichts bedeutet. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, dass Mo35

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Anthony Ashley Cooper, third Earl of Shaftesbury: A Letter Concerning Enthusiasm to my Lord *****. In: Ders.: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Edited by Lawrence E. Klein. Cambridge 1999 (Cambridge Texts in the History of Philosophy), 4–28, hier: 8. Vgl. Albert Meier: Schwärmer auf dem Prüfstand. Shaftesburys ›raillery‹ in der deutschen Moralphilosophie und Dichtung des 18. Jahrhunderts. In: Festschrift für Erich Trunz zum 90. Geburtstag. Vierzehn Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. v. Dietrich Jöns u. Dieter Lohmeier. Neumünster 1998 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 19), 55–74, bes. 67–72. Shaftesbury (Anm. 35), 8. In Andreas Hartknopfs Predigerjahre ist mit Nachdruck von einem »einzigen hohen Begriff« die Rede, »der heißt: | Humanitas« (AHP 644).

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ritz die in Gellenhausen eingenistete »Kosmopolitenbande« (AH 531) zugleich in die Tradition Jacob Böhmes und in die – an sich davon ganz unberührte – Reformpädagogik von Johann Bernhard Basedows Philanthropin gestellt hat.39 Auf die inhaltliche Differenz zwischen dem mystischen und dem aufklärerischen Gedankengebäude kommt es gar nicht an – in Moritz’ Augen erscheinen vielmehr beide Denkweisen als gleichermaßen verwerflicher Unsinn, weil sie übereinstimmend nichts als Intoleranz praktizieren und zuletzt buchstäblich mörderisch werden. Eine zugleich konkretere und doch auch vagere Auseinandersetzung mit dem mystischen Denken der Böhme-Tradition führt Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790), worin eine Episode aus dem früheren Leben Hartknopfs nachgeholt wird, als Hartknopf durch eine »Klemme« gegangen ist, um in der Überwindung einer »Selbsttäuschung« zu einem »höhern Dasein vorbereitet« (AHP 605) zu werden. Der in seiner Hauptpfarre Ribbeckenau schon mit der Antrittspredigt gescheiterte Hartknopf begegnet in der Nebenpfarre Ribbeckenäuchen einem Geschwisterpaar und heiratet nach langem Bedenken die »jungfräuliche Seele« (AHP 650) Sophie Erdmuth, die Schwester des Pächters Heil; diese Trauung wird als »furchtbare Ceremonie« durch den »alten Superintendenten Tanatos« (AHP 652) vollzogen. Obwohl bald ein Sohn zur Welt kommt, geht die Ehe schnell in die Brüche, weil sich Hartknopf als Familienvater offenbar gar zu eingeengt fühlt – erst die Scheidung bringt Abhilfe, und der Erzähler lässt vermuten, dass einer von Hartknopfs Gleichgesinnten, der Grobschmied Kersting, Sophie Erdmuths zweiter Gatte wird. Die Parallele zu dem bei Jacob Böhme wiederholt erwähnten Mythos von der Hochzeit Christi mit der Jungfrau Sophia ist hier mit Händen zu greifen, zumal Hartknopf durchgehend als Postfiguration Christi stilisiert wird. Ebenso offensichtlich sind allerdings die Differenzen, da 1) Sophie durch ihren zweiten Namen buchstäblich eine ›Erdung‹ erfährt (und bei aller Jungfräulichkeit doch keinen mystischen Rang behauptet), 2) die Ehe ihrer Kürze zum Trotz fruchtbar wird und 3) die Auflösung der Gemeinschaft nicht lange auf sich warten lässt. Andreas Hartknopfs Predigerjahre gilt es folglich als eine – durchaus nicht komische – Ironisierung eines Kernmotivs der böhmistischen Mystik zu begreifen. Moritz’ Travestie gibt umso mehr der Wirklichkeit die Ehre und insistiert darauf, dass es entscheidend auf die Lebenspraxis und nicht auf eventuelle Hirngespinste ankommt. Moritz hat sich nie grundsätzlich gegen das mystische Denken ausgesprochen und Schwärmerei vielmehr – bei allem Abstand zu den jeweiligen Glaubensinhalten – als eine natürliche Dimension menschlichen Verhaltens erläutert, die allerdings erfahrungseelenkundlichen Erkenntniswert besitzt. In diesem Interesse führt sein Magazin 1789 eine »Publikationsoffensive zur Mystik«,40 die u. a. Brie39

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Moritz hat sich 1778 um eine Anstellung am Dessauer Philanthropin beworben, ist damit aber letztlich gescheitert. Dass die Figur Hagebuck als Karikatur Basedows zu verstehen ist, lässt eine Art ›Abrechnung‹ vermuten. Christof Wingertszahn: Mystik im Magazin. Moritz, Fleischbein, Maimon, Obereit. In: Karl Philipp Moritz in Berlin 1789–1793. Hrsg. v. Ute Tintemann u. Christof Wingertszahn. Hannover 2005 (Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800 4), 273–291, hier: 274.

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fe Fleischbeins (darunter fünf an Moritz’ Vater) an die Öffentlichkeit bringt. An der sachlichen Nichtigkeit der entsprechenden Gedankengänge bleibt kein Zweifel: »In der Mystik wird […] etwas als würklich angenommen, welches doch nichts weniger als würklich ist, sondern nur bloß in der Einbildung besteht«.41 In Über Mystik deutet Moritz jedoch eine Möglichkeit an, solche Unvernunft zu erklären bzw. die Neigung zu ihr begreiflich zu machen. Zwar handle es sich um eine »Metaphisik ohne Physik – ein Etwas, das über einem Abgrunde schwebt und gaukelt«; dennoch bleibe es »doch immer ein Etwas«, »woran zu zarte Gemüter sich gern festhalten mögen, weil sie durch das gröbere Irdische sich durchzuarbeiten scheuen; weil sie von der Menschenmasse gedrückt werden, und nun auf einmal ganz isoliert, in einer schönen Einsamkeit sich wiederfinden«.42 Indem die Schwärmerei so als eine Art von Seelenschwäche erscheint, kann sie auch anerkannt werden, und in der Tat scheint Moritz bei aller Distanz zur Mystik zumindest dann Sympathie für Mystiker zu empfinden, wenn diese es subjektiv ehrlich meinen und – anders als ein Hagebuck und Küster oder Ehrenpreiß – ›true gravity‹ beweisen. Andreas Hartknopfs Predigerjahre zeigt an der Gestalt von Hartknopfs väterlichem Vertrauten Herrn von G. – einem deutlichen FleischbeinPortrait – einen solchen Charakter, der bei aller Seltsamkeit doch seine Würde wahrt und daher aller Achtung wert ist.43 Christof Wingertszahn hat Moritz’ Einstellung in diesem Zusammenhang mit einem Zitat aus den Predigerjahren resümiert, das das dort die Titelfigur charakterisiert: »er konnte die Mystik wohl leiden, bis auf den Punkt hin, wo sie das menschliche Wissen ausschließt, und für Torheit achtet« (AHP 632). Abschließend bleibt demzufolge nur die Einsicht, dass es zwischen Karl Philipp Moritz und Jacob Böhme eine belegbare Beziehung weder gibt noch gegeben haben kann. Allzu groß sind die Differenzen: insbesondere der Abstand zu Böhmes Feststellung, die Natur habe »2. qualitäten in sich bis in das Gerichte GOttes/ eine liebliche/ himlische und heilige/ und eine grimmige/ höllische und durstige«.44 Bei Moritz findet sich von diesem Dualismus keine Spur. Mag er mit manchen Motiven – oder besser Denkweisen – auch an den »Philosophus der Einfältigen«45 erinnern, so lässt sich das bestenfalls auf Umwegen zurückverfolgen, bei denen die – freilich vagen – Vermittlungsstufen interessanter wären als der Ursprung. Moritz argumentiert als Ästhetiker wie als Psychologe, als Pädagoge wie als Philologe immer zugleich rational und erfahrungsorientiert, auch wenn er seine Beweisführungen eher laienhaft und damit begrifflich dunkel durchführen mag. Dass er vermutlich schon als Schüler mit Gottscheds Ersten 41

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Karl Philipp Moritz: Rath der Mystik wider die Schwärmereien der Einbildungskraft. In: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben von Karl Philipp Moritz. Achter Band, erstes Stück. Berlin 1791, 78–82, hier: 79 (der Artikel besteht im Wesentlichen aus einem auf den 8. Dezember 1769 datierten Brief Johann Friedrich von Fleischbeins). Karl Philipp Moritz: Über Mystik. In: Ders., Werke, Bd. 1 (Anm. 3), 897. Vgl. hierzu die Begründung in Wingertszahn (2005), 274. Böhme (Anm. 26), 23. Ebd., 325.

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Gründen der Welt-Weisheit in Kontakt gekommen ist und hieran denken gelernt hat,46 scheint insofern dauerhaft prägend geblieben zu sein. Moritz’ Auseinandersetzung mit allem Schwärmertum geschieht aber auf einer Metaebene, von der aus Toleranz leicht möglich ist und die am Primat des Wirklichen, d. h. eben auch des Körperlichen nicht zweifelt. Als Spätaufklärer ist er sich der Grenzen der Vernunft wohl bewusst, die er – anders als etwa sein Zeitgenosse Johann Georg Hamann – allerdings nirgendwo überschreiten will.

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»Er hatte sich von dem Bücherantiquarius unter andern Gottscheds Philosophie geliehen, und so sehr auch in diesem Buche die Materien durchwässert sind, so gab doch dies seiner Denkkraft gleichsam den ersten Stoß […]« (Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: Ders., Werke (Anm. 16), 85–518, hier: 299).

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Gegenaufklärung und Böhme-Rezeption in Frankreich: Louis Claude de Saint-Martin

I Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm die Aufklärung in Frankreich zunehmend provokante Formen an. Unverhohlen religionskritisches und materialistisches Schriftgut überschwemmte den klandestinen Buchmarkt oder zirkulierte als Handschriften in bestimmten Kreisen. Die Obrigkeit, die um den Glauben, den Landesfrieden und den Fortbestand der Sitten fürchtete, versuchte verstärkt mit repressiven Maßnahmen die Verbreitung von deviantem Ideengut zu ersticken. Autoren oder Verleger, die glaubensferne Produktionen ans Licht brachten, ohne ein schützendes Anonymat zu wahren, mussten mit scharfen Sanktionen und Verfolgung rechnen. Helvétius, der sich offen zu seinem 1758 bei Durand gedruckten De l’esprit bekannt hatte, konnte sich daher nur mit Mühe einer Verurteilung durch das Parlement entziehen. Aber auch von harten körperlichen Strafen wurde nicht abgesehen, wie der durch Voltaire angeprangerte Fall des am 1. Juli 1766 wegen Gotteslästerung hingerichteten Chevalier de la Barre zeigt. Auf den ›Fortschritt des Unglaubens‹ reagierten zudem die Vertreter der Kirche mit einer kaum überschaubaren Menge von feurigen und teilweise enorm voluminösen Gegenschriften: Allein die Lettres critiques ou analyse et réfutation de divers écrits modernes contre la religion (1755–63) des Abbé Gauchat bilden 19 Bände und Apologeten wie Abbé Bergier, Jean de Castillon oder Guillaume de Rochefort verfassten mehrere hundert Seiten starke Polemiken gegen d’Holbachs Système de la Nature (1770), das einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte. Als eine emblematische Figur der gegenaufklärerischen Kräfte, der sogenannten Anti-Lumières, gilt Chateaubriand, der, durch die spöttische und deistische Guerre des Dieux des Chevalier de Parny (1753–1814) empört, 1802 seinen leidenschaftlichen Génie du Christianisme publizierte.1 Die Frontlinien scheinen also klar definiert gewesen zu sein: auf der einen Seite die Philosophes mit ihren religionsfeindlichen Produktionen, auf der anderen Seite aber die Verteidiger der Rechtgläubigkeit mit ihren Apologien. In der neueren Forschung wurde allerdings durch Michel Delon, Didier Masseau, Wolfgang Albrecht, Christoph Weiß und andere darauf hingewiesen und herausgearbeitet, dass die Gegenaufklärung alles andere als eine homogene Bewegung darstellte, sondern dass sie sich vielmehr (wie die Lumières oder die deutsche 1

Ritchie Robertson u. Catriona Seth: Introduction. In: Évariste-Désiré de Parny: Le paradis perdu. Hrsg. v. Ritchie Robertson u. Catriona Seth. London 2009, 1–48, hier: 38.

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Aufklärung selbst) aus den unterschiedlichsten, ja widersprüchlichsten Motiven und Ideen generierte und konstituierte.2 So blühten im 18. Jahrhundert etwa neben der Orthodoxie auch Arkangesellschaften mit magischen Ritualen sowie mystisch-spiritualistische Strömungen, die zwar durch die Obrigkeit häufig sogar als gefährlich eingestuft wurden, aber dennoch gleichermaßen kämpferisch zur Verteidigung des Übersinnlichen gegen den Unglauben Position bezogen. Hierzu zählt der in Frankreich durch Martinès de Pasqually (1727–1774) verkörperte Martinismus, eine illuministisch-theosophisch orientierte und in Logen organisierte Bewegung, die den Rationalismus der Lumières als unzulänglich betrachtete, um die Tiefendimensionen der Wirklichkeit zu erfassen, und diesem den »illuminisme«, die »Erleuchtung«, als transrationale Erkenntnismöglichkeit gegenüberstellte.3 Im Artikel »Théosophes« der Encyclopédie charakterisierte Diderot diese Denkrichtung bereits um 1756 sehr treffend, aber auch unverkennbar spöttisch: Sie sei, so Diderot, »l’espece de philosophie la plus singuliere«; diejenigen, die sie gelehrt hätten, hätten mitleidig auf die Vernunft herabgesehen: ils n’avoient nulle confiance dans sa lueur ténébreuse & trompeuse; ils se prétendirent éclairés par un principe intérieur, surnaturel & divin qui brilloit en eux […] & qui les conduisoit aux découvertes les plus importantes & les plus cachées sur Dieu & sur la nature: c’est ce qu’ils ont appelé la théosophie.4

Die Vertreter des ihm zeitgenössischen Illuminismus, der synkretistische Tendenzen und neben biblischen Bezügen (u. a.) auch Verbindungen zum rinascimentalen Neoplatonismus, zur hermetischen Tradition und zur Kabbala aufwies, werden durch Diderot im Schlussparagraphen des Artikels als Halbgebildete bezeichnet; dazu hebt er die vernunftfeindliche, intolerante und rückschrittliche Haltung der modernen »théosophes« hervor, die er damit in die Gegenaufklärung eingeschrieben hat: Il y a encore quelques théosophes parmi nous. Ce sont des gens à demi-instruits, entêtés de rapporter aux saintes Ecritures toute l’érudition ancienne & toute la philosophie nouvelle […]; qui retrécissent autant qu’il est en eux l’empire de la raison, dont ils nous interdiroient volontiers l’usage […]; qui réduiroient volontiers toute connoissance à celle de la religion

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Michel Delon: Réhabilitation ou explication des préjugés. In: Nuove ragioni dell’anti-illuminismo in Francia e in Italia. Hrsg. v. Lionello Sozzi, Michel Delon u. a. Pisa, Genève 2001, 7–29; Didier Masseau: Les ennemis des philosophes. L’antiphilosophie au temps des Lumières. Paris 2000; Wolfgang Albrecht u. Christoph Weiß: Einleitende Bemerkungen zur Beantwortung der Frage: Was heißt Gegenaufklärung. In: Von ›Obscuranten‹ und ›Eudämonisten‹. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Christoph Weiß u. Wolfgang Albrecht. St. Ingbert 1997, 7–34. Vgl. hierzu Nicole Jacques-Chaquin: Art. Illuminisme et théosophie. In: Dictionnaire européen des Lumières. Hrsg. v. Michel Delon. Paris 2007, 657–660, und Gerhard Wehr: SaintMartin, der »Unbekannte Philosoph«. Berlin 1995, 12 f. Denis Diderot: Art. Théosophes. In: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres. Mis en ordre et publié par Mr.***. Tome 16ème: TE–Venerie. Neuchâtel [1765], 253–261, hier: 253.

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[…]; qui ont pris en aversion la Philosophie & les Philosophes, & qui réussiroient […] à nous replonger dans la barbarie, si le gouvernement les appuioit, comme ils le demandent.5 Es gibt noch einige Theosophen unter uns. Das sind halbgebildete Leute, die sich darauf versteifen, die gesamte alte Gelehrsamkeit sowie die ganze neue Philosophie auf die Hl. Schrift zu übertragen […]; die die Macht der Vernunft, soweit sie in ihnen ist, verkleinern und deren Gebrauch sie uns gerne verbieten würden […]; die gerne jede Kenntnis auf die der Religion reduzieren würden […]; die die Philosophie und die Philosophen hassen und denen es gelingen würde […] uns in die Barbarei zurückzuversetzen, wenn die Regierung sie unterstützen würde, wie sie es verlangen.

Zu den ursprünglichen Begründern der Theosophie rechnet Diderot Paracelsus, Valentin Weigel, Robert Fludd, Van Helmont und Pierre Poiret; überraschenderweise erwähnt er aber auch Jakob Böhme, von dessen Lehren er einen kurzen Abriss erstellt;6 Böhmes Einfluss auf das religiöse und mystische Denken war in Frankreich zur Zeit der Encyclopédie noch absolut marginal.7 Offenbar kannte Diderot Böhme auch nicht aus erster Hand; wie durch Jean Fabre festgestellt wurde, beruhen seine Ausführungen zur theosophischen und naturmystischen Tradition auf Jakob Bruckers Historia critica philosophiae.8 Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der »Philosophus teutonicus« durch Martinès de Pasquallys Schüler, den auch als »Philosophe inconnu« bekannten Louis Claude de Saint-Martin (1743–1803), wiederentdeckt.9 Durch die Übersetzung seiner Werke und die Interpretation seiner Lehren gab Saint-Martin auch für Deutschland den Anstoß zu einer weitflächigen BöhmeRenaissance, die über Kleuker, Baader und andere deutsche Gegenaufklärer10 des 18. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert zu Rudolf Steiner reicht.11 Aufgrund seiner anti-materialistischen und anti-rationalistischen Polemik gilt Saint-Martin als einer der Hauptvertreter der religiös nonkonformistischen Anti-Lumières; durch Jacques Domenech wurde sogar nahe gelegt, dass sein 1775 erschienenes Werk Des erreurs et de la vérité als »antithèse mystique« zu d’Holbachs fünf Jahre zuvor publizierten Système de la nature zu deuten sei.12 Als politischer Theologe 5 6 7

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11 12

Ebd., 261. Ebd., 258. Lediglich die heute wenig bekannte flämische Mystikerin Antoinette Bourignon (1616? –1680) hat Böhme bereits im 17. Jahrhundert rezipiert; vgl. hierzu Ernst Schering: Adam und die Schlange. Androgyner Mythos und Moralismus bei Antoinette Bourignon. Ein Beitrag zum Einfluß Jakob Böhmes auf das französische Geistesleben. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 10 (1958), 97–124. Jean Fabre: Lumières et romantisme. Énergie et nostalgie de Rousseau à Mickiewicz. Paris 1963, 70 f. Zu Diderot und die Theosophen s. aber auch Florian Mehltretter: Der Text unserer Natur. Studien zu Illuminismus und Aufklärung in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009, 69 f. So auch Jacques Domenech: Art. »Anti-Lumières«. In: Dictionnaire européen des Lumières. Hrsg. v. Michel Delon. Paris 2007, 96–102, hier: 101. Zu Saint-Martin und die deutsche Gegenaufklärung s. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin. De Maistre. Kleuker. Baader. Berlin 2004. Vgl. hierzu etwa Wehr (Anm. 3), 115–123. Vgl. Domenech (Anm. 9), 101.

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befürwortete Saint-Martin zudem die Theokratie und zeigte einen Traditionalismus, der auf die Theorien de Maistres’ und Bonalds vorauswies.13 Später wandte sich Saint-Martin aber auch offen gegen den Katholizismus Chateaubriands;14 sein Ministère de l’homme esprit (1802) enthält eine martinistische Kritik des Génie du Christianisme.15 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung Böhme für die heterodoxe Gegenaufklärung in Frankreich hatte. Da gerade in den letzten Jahren wichtige Forschungsarbeiten zu Saint-Martin entstanden sind und etwa Nicole Jacques-Lefèvre in ihrer 2003 erschienen Monographie zu SaintMartin präzise herausgearbeitet hat, dass Saint-Martin in Böhme eine Autorität sah, die seine eigenen religionsphilosophischen Ansichten bestätigt und ergänzt,16 möchte ich mich jedoch hierbei auf einen bescheidenen, aber wie mir scheint, für die Geschichte und das Verständnis bzw. das Selbstverständnis der religiös nonkonformen Gegenaufklärung doch wichtigen Aspekt beschränken: Gezeigt werden soll anhand von Saint-Martins Spätwerk Le Ministère de l’Homme Esprit (1802), dass dieser die Spekulationen des Philosophus teutonicus auch als eine Option gegenüber den aus seiner Perspektive defizitären Ansätzen des rationalistischen Szientismus begriffen hat. In einem ersten Schritt werde ich hierzu SaintMartins Leben und Lehren sowie seine Begegnung mit Böhme allgemein in den Blick nehmen, um mich dann vor diesem Hintergrund speziell dem Ministère de l’Homme Esprit und der in dieser Schrift enthaltenen Wissenschaftskritik zuzuwenden.

II Saint-Martin begegnete 1768 in Bordeaux Martinès de Pasqually, der 1754 den Ordre des Chevaliers Maçons ›Élus Coëns‹ entworfen hatte, eine masonische Loge, die sich auf die Vorstellung eines mythisch-salomonischen Priestertums berief und magische Praktiken ausübte. Saint-Martin trat der Vereinigung bei, wurde Pasquallys Sekretär und überredete diesen, seine Lehren niederzuschreiben. So entstand Pasquallys Traité de la réintégration (1770–1772), der in den martinistischen Logen handschriftlich zirkulierte, aber erstmals 1899 gedruckt wurde.17 Der Text stellt, wie es Wilhelm Schmidt-Biggemann formuliert, eine eigenwillige »christologische Allegorese« der Bücher Genesis und Exodus dar, »die 13 14

15 16 17

Vgl. ebd. und Schmidt-Biggemann (Anm. 10). Zu Saint-Martins Stellungnahme gegen die religiöse Orthodoxie s. Nicole Jacques-Lefèvre: Louis-Claude de Saint-Martin, le philosophe inconnu (1743–1803). Un illuministe au Siècle des Lumières. Paris 2003, 33–38. Vgl. Domenech (Anm. 9), 101. Jacques-Lefèvre (Anm. 14). Es existieren auch neue Ausgaben des Textes, wie z. B. Martinès de Pasqually: Traité de réintégration des êtres crées dans leur primitives propriétés, vertu et puissance spirituelle divine. Première édition authentique d’après le manuscrit de Louis-Claude de Saint-Martin. Hrsg. v. Robert Amadou. Le Tremblay 1995.

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christlich-kabbalistische und neupythagoräische Interpretationsmuster der Renaissance benutzt und sie als geheime uralte Offenbarungen und Prophetien darstellt.«18 Im Zentrum steht die Geschichte des Sündenfalls der Engel und Menschen sowie der Weg zur Wiederherstellung: Luzifer wollte Gott nachahmen und wie dieser durch Emanation Geschöpfe hervorbringen. Gott hielt ihn von seinem Handeln ab und erschuf zum Schutz des spirituellen Universums die materielle Welt, die den bösen Geistern als Gefängnis dient. Als Wächter über den materiellen Teil des Kosmos wurde der gottesebenbildliche und über die übrigen spirituellen Geschöpfe erhabene Adam eingesetzt; dieser ließ sich allerdings vom Bösen verführen und musste daher in die Materialität absinken. Ziel und Aufgabe des Menschen ist es nun, seinen Urzustand zurückzuerlangen. Hierbei stehen ihm die guten Geister und Christus bei; besonders Auserwählte werden zu Propheten des göttlichen Erlösungsplans bestellt, dessen Vollzug zur Rückführung der Schöpfung in das göttliche Pleroma führen soll.19 Die konservative Freimaurerei hat bis ins 19. Jahrhundert ihre politisch-religiösen Vorstellungen an Pasquallys phantastischem Neuentwurf der biblischen Urgeschichts- und Sündenfallmythen orientiert.20 Er war auch für Saint-Martin wegweisend, der die Ideen seines Lehrers in seine religionsphilosophischen Spekulationen integrierte und so zur Entfaltung ihrer Wirkmacht beitrug. Saint-Martin trennte sich 1771 von Pasqually. Sein erstes Werk, Des erreurs et de la vérité ou les hommes rappelés au principe universel de la science, hat er 1773 im Haus von Jean Baptiste Willermoz (1730–1824) niedergeschrieben, der ebenfalls ein Vertreter der mystischen Freimaurerei in Frankreich war.21 Es erschien 1775 mit dem Pseudonym »Philosophe inconnu« und der falschen Druckortangabe »A Edimbourg« versehen in Paris. Saint-Martin ist nicht der erste Autor, der diesen Decknamen verwendet hat. Mit ihm signierte bereits der Verfasser des erstmals 1672 in Frankfurt und dann in den Folgejahren mehrfach in Frankreich veröffentlichen Tombeau de la pauvreté,22 einem kuriosen alchemischen Traktat, der durch Lenglet-Dufresnoy einem gewissen d’Atremont, »Gentilhomme François qui a voyagé en divers pays«, zugeschrieben wurde.23 Diderot weist bereits auf eine Verbindung zwischen Theosophie und Alchemie hin, die bekannterma18 19 20 21 22

23

Schmidt-Biggemann (Anm. 10), 25. Eine Zusammenfassung der Lehren Pasquallys findet sich ebd., 24–35, und in JacquesChaquin (Anm. 3), 658 f. Vgl. Schmidt-Biggemann (Anm. 10), 25 f. Vgl. ebd., 35. 1673 u. 1681 in Paris und 1684 in Lyon; s. Nicolas Lenglet-Dufresnoy: Histoire de la philosophie hermétique. Accompagnée d’un Catalogue raisonné des Ecrivains de cette science. Avec le véritable Philalethe, revû sur les Originaux. Bd. III. Paris 1742, 311 f. Mir liegt die Ausgabe von 1681 vor: Anonym: Le tombeau de la pauvreté. Dans lequel il est traité clairement de la transmutation des Metaux, & du moyen qu’on doit tenir pour y parvenir. Par un Philosophe inconnu. Seconde edition, Reveüe & augmentée de la Clef, ou Explication des mots obscurs. Avec un Songe Philosophique sur le sujet de l’Art. A Paris, Chez L. D’Houry, sur le Quay des Augustins, à l’Image de saint Jean. M. DC. LXXXXI. Vgl. Lenglet-Dufresnoy (Anm. 22), 311. Über diese Gestalt ist sonst nichts bekannt; »d’Atremont« könnte ein alchemisches Kryptonym sein, das auf den Athanor anspielt (von »âtre« = Feuerstelle, Feuerherd und »mont« = Berg).

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ßen (u. a.) durch Böhme eine spirituelle Deutung erfahren hat:24 »Les théosophes ont tous été chimistes; ils s’appelloient les philosophes par le feu.«25 Saint-Martin wollte sich offenbar mit seiner Benennung selbst einer esoterisch-hermetischen Tradition zuordnen, die dem aus der Sicht der Illuminés falschen Rationalismus der aufklärerischen Philosophes als wahre Philosophie gegenübersteht. Wie er in seiner Autobiographie schreibt, habe er sein Werk auch »par colère contre les philosophes«, verfasst; vor allem Nicolas Antoine Boulanger (1722–1759), der in seiner Antiquité dévoilée par ses usages (Amsterdam 1766) die Genese der Religion mit urgeschichtlichen Naturkatastrophen korrelierte,26 hatte ihn nach eigener Aussage indigniert.27 Auf Des erreurs et de la vérité folgten die Hauptwerke Le tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l’homme et l’univers (1782), L’homme de désir (1790), Le nouvel homme (1792), Ecce homo (1792), De l’esprit des choses (1800) und Le ministère de l’homme esprit (1802). Die Auseinandersetzung mit Böhme kam erst spät in der Biographie SaintMartins. Bereits in den späten 1780er Jahren soll er während seines mehrjährigen Aufenthalts in Straßburg bei Friedrich Rudolf Salzmann (1749–1821) Deutsch gelernt haben, um Böhme, den er durch Charlotte von Boecklin entdeckt hatte,28 im Original zu studieren.29 Salzmann war ebenfalls Freimaurer; er hatte sich in Lyon in die Lehren Pasquallys einweihen lassen und gemeinsam mit Johann von Türkheim und Willermoz das System der strikten Observanz reformiert.30 In einem auf den Februar 1792 datierten Brief erklärt Saint-Martin jedoch dem Berner Theosophen Nikolaus Anton Kirchberger (1739–1799),31 dass er seinen im Erscheinen begriffenen Nouvel homme gar nicht oder in gänzlich anderer Form verfasst hätte, wenn er schon zwei Jahre zuvor, zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes, Kenntnis der Werke Böhmes gehabt hätte, die er, wie er zugibt, seit einigen Monaten in englischer Übersetzung lese; die englische Sprache sei ihm nämlich vertrauter als die deutsche: Ce Nouvel homme est écrit il y a bientôt deux ans. Je ne l’aurais pas écrit, ou je l’aurais écrit autrement, si alors j’avais eu la connaissance que j’ai faite depuis des ouvrages de Jacob

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Vgl. hierzu etwa Friedrich Häußermann: Theologia Emblematica: Kabbalistische und alchemistische Symbolik bei Fr. Chr. Oetinger und deren Analogien bei Jakob Boehme. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 68/69 (1968/69), 207–346, u. 72 (1972), 71–112. Diderot (Anm. 4), 254. Zu Boulanger s. etwa Paul Sadrin: Introduction. In: Nicolas Antoine Boulanger: L’Antiquité dévoilée par ses usages. Hrsg. v. Paul Sadrin. Bd. II: Notes. Paris 1978, 9–49. Vgl. Robert Amadou (Hrsg.): Les leçons de Lyon aux Élus Coëns: Un cours de martinisme au XVIIIe siècle par Louis Claude de Saint-Martin, Jean Jacques du Roy d’Hauterive, JeanBaptiste Willermoz. Paris 1999, 102. Vgl. hierzu Jacques-Lefèvre (Anm. 14), 23. Vgl. hierzu etwa Schmidt-Biggemann (Anm. 10), 36. Zu Salzmann s. etwa Karl R. H. Frick: Die Erleuchteten. Gnostisch-theosophische und alchemisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Graz 1973, 562. Zu Kirchberger s. Antoine Faivre: Kirchberger et l’illuminisme du XVIIIe siècle. Den Haag 1966.

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Böhme […]. […] Depuis quelques mois, je me suis procuré une traduction anglaise d’une grande partie de ses ouvrages, l’anglais m’étant un peu plus familier.32

In der Folgezeit übertrug Saint-Martin Böhmes Aurora, De tribus principiis und De triplici vita hominis ins Französische.33

III Saint-Martins Ideen knüpfen an die Theorien Pasquallys an. Anders als dieser beschreibt er aber nicht das Drama des Sündenfalls; seine Lehre stellt weniger eine Mythographie als vielmehr eine spiritualistische Anthropologie dar, die auf die Regeneration (»régénération«) des Menschen, die Wiedergutmachung der Folgen des adamitischen Verbrechens fokussiert ist und abzielt. Zentral ist für ihn hierbei die Frage nach der Wahrheitserkenntnis und der Selbsterkenntnis des Menschen, seiner aktuellen Misere und seiner ursprünglichen Vorrangstellung in der Schöpfungsordnung als spirituelles Wesen und Verwalter der materiellen Welt, die er bei seinem Fall mit sich gerissen hat. Seitdem sich der Mensch von Gott abgewandt hat, ist er an die Materie gebunden und verfügt über eine Doppelnatur als sinnlich-materielles und geistiges Wesen; er verliert sich daher in den äußeren Phänomenen und den Unvollkommenheiten des physischen Kosmos, in dem Gut und Böse gemischt auftreten.34 Das Elend des Menschen besteht folglich darin, das Wesen der Wahrheit zu verkennen: »le malheur actuel de l’homme n’est pas d’ignorer qu’il y a une vérité, mais de ce méprendre sur la nature de cette vérité.«35 In seiner Erstlingsschrift Des erreurs et de la vérité entwickelt SaintMartin bereits eine spiritualistische Weltanschauung, wonach die Wahrheit und das Gute nicht in der äußeren Natur, sondern vielmehr im Inneren des Menschen selbst zu finden seien: In seinem Inneren entdecke jeder Mensch sein eigenes Gesetz, in dessen Erfüllung das Gute bestehe, während die Abweichung von ihm die Ursache des Bösen darstelle: »le bien est«, schreibt Saint-Martin, »pour chaque être, l’accomplissement de sa propre loi, & le mal ce qui s’y oppose.«36 Dies zu begreifen sei essentiell für das Erlösungswerk. Saint-Martin tritt demgemäß im Tableau naturel als entschiedener Gegner des Materialismus sowie des natur-

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34 35 36

Louis Claude de Saint-Martin: La Correspondance inédite de L.-C. de Saint-Martin […]. Hrsg. v. L. Schauer u. Alp. Chuquet. Paris u. a. 1862, 9. Jakob Böhme: L’aurore naissante, par Jacob Boehme, traduction de Louis-Claude de SaintMartin. Paris 1800; ders.: Des trois principes de l’essence divine, par Jacob Boehme, traduction de Louis-Claude de Saint-Martin. Paris 1802; ders.: De la triple vie de l’homme, par Jacob Boehme, traduction de Louis-Claude de Saint-Martin. Paris 1809. Zur Anthropologie Saint-Martins s. vor allem Jacques-Lefèvre (Anm. 14), 257 ff. Vgl. Des erreurs et de la vérité ou les hommes rappellés au principe universel de la science. Par un ph[ilosophe] inc[onnu]. A Edimbourg [= Paris] 1782, 4. Ebd., 10.

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wissenschaftlichen Rationalismus auf und unternimmt den Versuch, die Existenz einer höheren göttlichen Macht zu beweisen, aus der alle Naturdinge hervorgehen. Diese Gedanken sind auch grundlegend für Saint-Martins Spätwerk Le Ministère de l’Homme Esprit (1802), in dem besonders deutlich der Einfluss seiner nach der Erstellung des Nouvel homme erfolgten Böhme-Lektüren zum Tragen kommt. Wie er auf den ersten Seiten des Textes darlegt, erblindet der Mensch gegenüber dem ewigen göttlichen Quell, von dem er abstammt, wenn er seinen Blick vom »vrai caractère de son essence divine« abwendet.37 Der Mensch ist nämlich, wenn er auf seine »éléments primitifs« zurückgeführt wird, der »témoin par excellence« und das Zeichen, über das dieser höchste und universelle Quell erkannt werden kann.38 Hätte die Welt als Zeuge für die Gottheit ausgereicht, so wäre die Hervorbringung des Menschen überflüssig gewesen.39 Daher sind aus der Sicht Saint-Martins auch die Anstrengungen der Physikotheologen nur wenig fruchtbringend, »ces beaux génies qui ont fait la glorieuse entreprise de défendre la Divinité par les simples loix de la nature«.40 Im Visier hatte der »Philosophe inconnu« vermutlich Autoren wie den Abbé Pluche (1688–1761), der in seinem ab 1732 erschienenen und sehr erfolgreichen Spectacle de la nature über eine vulgärwissenschaftlich-enzyklopädische Darstellung der Naturgeschichte auch das kirchliche Weltbild verteidigen wollte.41 Trotz aller Wunder, die sie ihrem Betrachter bereithält, bietet für Saint-Martin die Welt lediglich »l’idée d’une chose dont la perfection est incomplète et mêlée d’incohérences et d’oppositions trèsrépugnantes«;42 der Kategorienfehler sei, dass wir zur Bezeugung eines Wesens, das »l’intelligence même« und nur Liebe und Leben ist, nicht-intelligente, liebesunfähige und sterbliche Substanzen heranziehen würden.43 Die Eigenschaften Gottes spiegelt der Mensch oder genauer die spirituelle Dimension des Menschen wieder, der »Homme-Esprit«, dessen wahre Heimat die himmlische Welt darstellt und der in den materiellen Elementen gefangen ist.44 In seinem Kerker verspürt der Mensch nicht immer die »douce influence« der jenseitigen Welt; häufig unterliegt er nur den Einflüssen und Impulsen des »monde mixte et ténébreux«, der gleichsam eine Wunde im spirituellen Kosmos vorstellt, woher, so Saint-Martin, der Unglauben in der Welt herrühre.45 Der Mensch müsste aber nicht sein trauriges Dasein führen; wäre er sich seiner wahren Kraft bewusst, würde er seine spirituellen Rechte (»droits spirituels«) 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Louis Claude de Saint-Martin: Le Ministère de l’Homme Esprit. Par le Philosophe inconnu. Paris An XI – 1802, 1. Ebd. Ebd., 2. Ebd., 3. Zu Pluche s. etwa Benoît De Baere: Trois introductions à l’Abbé Pluche: sa vie, son monde, ses livres. Genève 2001. Saint-Martin, Le Ministère de l’Homme Esprit (Anm. 37), 5. Ebd., 7. Ebd., 9. Ebd., 10.

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ergreifen, so könnte er als Herrscher und Werkmeister, als »ouvrier et manipuliateur«, nicht nur der irdischen, sondern auch der himmlischen Schöpfungen (»productions«) auftreten.46 Saint-Martin macht auch auf die Gefahren und die Verantwortung aufmerksam, die mit der Notwendigkeit einer Rückeroberung der Würde und erhabenen Position des Menschen als Gottes Ebenbild verbunden sind: Dem Menschen droht die »mortalité spirituelle«, die ihm im leiblichen Schmerz und der körperlichen Vergänglichkeit angezeigt ist.47 Zudem ist durch das menschliche Fehlverhalten das Leiden der Natur verschuldet, die für SaintMartin nicht nur der Kerker des Menschen, »la prison de l’homme«,48 sondern auch das der Materie inhärente und trauernde Leben ist: »elle est la vie de la matière; aussi a-t-elle un autre instinct et une autre sensibilité que la matière; elle s’apperçoit de sa propre altération, et elle gémit de son esclavage.«49 Der Mensch hat daher auch für die Versöhnung der Natur mit Gott Sorge zu tragen. Saint-Martin sieht sich mit seinen Lehren in der direkten Nachfolge Jakob Böhmes, dessen Werke die Mängel seiner eigenen Bücher ergänzen könnten und der zu seiner Zeit als »prince des philosophes divins« betrachtet worden sei:50 Böhme hätte, so Saint-Martin, außergewöhnliche und erstaunliche Gedankengänge über die ursprüngliche Natur des Menschen, den Ursprung des Bösen, das Wesen und die Gesetze des Universums, die Kräfte der Natur, die Wiederherstellung des Menschen und andere Gegenstände entwickelt.51 Der »Philosophe inconnu« empfiehlt daher die Lektüre der Schriften Böhmes und liefert einen extensiven Abriss seines Denkens, der auch Anklänge an Pasquallys masonische Interpretation des Sündenfalls enthält: Nach Saint-Martin habe auch Böhme die »nature actuelle« als »résidu« und »altération« einer anderen Natur (»l’éternelle nature«) betrachtet, die ihrerseits vormals den Thron und das Reich des Engelsfürsten Luzifer dargestellt habe. Dieser habe durch das Feuer und die Wut walten und die Herrschaft der Liebe und des göttlichen Lichts beseitigen wollen; seinem Feuer habe die göttliche Weisheit jedoch eine temperierende und kühlende Kraft entgegengesetzt, woraus die Vermischung von Gut und Böse resultiert wäre, die man heute in der Natur beobachten könne.52 Der Mensch, der zugleich aus dem Prinzip des Feuers, des Lichts und dem »principe quintessentiel de la nature physique« geformt sei, sei als Wächter über den Entmachteten in diese Welt gesetzt worden. Der Mensch habe sich allerdings durch die Materialität überwältigen lassen; er habe seinen jetzigen Leib erhalten und sei zum Untertan des Bösen geworden. Die göttliche Liebe, die sich im Spiegel ihrer Weisheit, die Böhme »la vierge Sophie« nenne, betrachte, erblicke das »modèle« und die spirituelle Form des Menschen; sie habe dann – so erklärt Saint-Martin Böhmes Deutung der Menschwerdung Christi – die spirituelle und die elementare Form angenommen, 46 47 48 49 50 51 52

Ebd., 11. Ebd., 20. Ebd., 21. Ebd., 23. Ebd., 28. Ebd. und 28 f. Ebd., 29.

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um dem Menschen vorzuführen, was er geworden sei und was er sein solle.53 Die Aufgabe des Menschen laute daher »de recouvrer au physique et au moral sa ressemblance avec son modèle primitif«; hinderlich seien ihm dabei die astralen und elementaren Kräfte, die diese Welt konstituieren und die der Vereinigung der feurigen und aquatischen Tinkturen in der Weisheit (»Sophie«) entgegenstünden.54 Auch habe Böhme laut Saint-Martin gelehrt, dass der Mensch die Freiheit besitze, seinem spirituellen Wesen die ursprüngliche »image divine« zurückzugeben oder ihm aber niedere und chaotische »images« zu verleihen.55 Schließlich wendet sich Saint-Martin enthusiastisch an den Leser: Dieser würde seine Werke nicht benötigen, wenn er sich dazu entschließen wollte, aus denen Böhmes zu schöpfen, der von den weltlichen Gelehrten als »Epileptiker« verurteilt worden sei: »Lecteur, si tu te détermines à puiser courageusement dans les ouvrages de cet auteur, qui n’est jugé par les savans dans l’ordre humain, que comme un épileptique, tu n’auras sûrement pas besoin des miens.«56 Saint-Martin erblickt also in Böhme eine Autorität, die seine eigenen, der mystischen Freimaurerei Pasqualliys verpflichteten Ansichten zum Fall des Menschen bestätigt und ergänzt. Zudem liefert aus seiner Perspektive Böhmes Denken die Grundlagen für eine universale Naturerkenntnis. Wie schon erwähnt wurde, hat nach Saint-Martin der Mensch auch das Leid und das Siechtum des Universums verursacht, das er durch seine Sünde ebenfalls mit Materialität und Sterblichkeit kontaminierte: Das Universum, so spricht Saint-Martin, liegt auf seinem »Schmerzensbett« (»lit de douleurs«), weil seit dem Fall in seine Venen eine »fremde Substanz« (»une substance étrangère«) eingetreten ist, die sein Lebensprinzip stört und peinigt.57 Das ursprüngliche Amt des Menschen war es, der »Verbesserer der Natur« (»l’améliorateur de la nature«) zu sein.58 Seine jetzige Pflicht lautet, der Natur Trost und Linderung zu spenden, sie zu purgieren und mit ihrem Ursprung auszusöhnen: L’univers est sur son lit de douleurs, et c’est à nous, hommes à le consoler. […] Homme, le mal est encore plus grand. Ne dis plus que l’univers est sur son lit de douleurs; dis: l’univers est sur son lit de mort; […] et c’est à toi à le réconcilier avec cette source pure dont il descend […]; c’est à toi, dis-je, de le réconcilier avec elle, en le purgeant de toutes les substances de mensonge dont il ne cesse de s’imprégner depuis la chûte, et à le laver d’avoir passé tous les jours de sa vie dans la vanité.59 Das Universum liegt auf seinem Schmerzensbett und es ist an uns Menschen, es zu trösten. […] Mensch, das Übel ist noch viel größer. Sag’ nicht mehr, dass das Universum auf seinem Schmerzensbett darniederliegt; sag’ vielmehr: das Universum liegt auf seinem Sterbebett […] und es ist an dir, es mit diesem reinen Quell zu versöhnen, von dem es abstammt […]; es ist an dir, sage ich, es mit ihm zu versöhnen, indem du es reinigst von allen Substanzen

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Ebd., 30. Ebd. Ebd., 31. Ebd. Ebd., 55. Ebd., 47. Ebd., 55 f.

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der Lüge, mit denen es nicht aufhört, sich seit dem Fall zu tränken, und es davon rein zu waschen, dass es seine ganze Lebenszeit in der Eitelkeit verbracht hat.

Das Regenerationswerk der Natur kann der Mensch aber nur unter der Bedingung vollbringen, dass er weiß, was das Universum konstituiert, welche internen Beziehungen seine Teile zueinander aufweisen: […] s’il étoit vrai que l’univers fût sur son lit de mort, comment pourrions-nous apporter du soulagement à l’univers, si nous ignorons non-seulement ce qui constitue l’univers, mais même les rapports que doivent avoir entr’elles toutes les différentes parties qui le composent, et les différens rouages qui forment l’ensemble de cette grande machine et en facilitent les mouvemens?60 […] wenn es wahr ist, dass das Universum auf seinem Sterbebett liegt, wie könnten wir dann dem Universum Erleichterung verschaffen, wenn wir nicht nur das ignorieren, was das Universum begründet, sondern auch die Bezüge, die all die verschiedenen Teile, aus denen es zusammengesetzt ist, untereinander besitzen müssen, und die verschiedenen Räderwerke, die das Ganze dieser großen Maschine bilden und deren Bewegungen erleichtern?

Die Erkenntnis der Natur ist also letztlich heilsnotwendig; nur über sie kann der Mensch seine Errettung und die Erlösung der Natur durch Vergeistigung erreichen. Diesen Verwandlungsprozess, bei dem die »Substanzen der Lüge, der Korruption und der Befleckung«, die den Körper bestimmen, durch »substances diaphanes« ausgetauscht werden, setzt Saint-Martin im Anschluss an die im 17. Jahrhundert (u. a. durch Böhme) erfolgte spirituelle Interpretation der Alchemie analog zum alchemischen Werk und bezeichnet ihn auch als »grand œuvre« oder »transmutation«;61 über diesen Kontext ist offenbar auch seine Wahl des hermetischen Kryptonyms »Philosophe inconnu« zu erklären. Die Grundlagen und Ansätze, die die Philosophie und Wissenschaft bislang zur Naturerklärung bereitgestellt hat, seien jedoch für die Heilszwecke unzulänglich und zu oberflächlich; Saint-Martin holt daher zu einer umfassenden Kritik aus. Aus seiner Sicht hätten die Philosophen der Antike nur wenig Erkenntnisfortschritt erzielt: […] ce n’est nous apprendre peu de chose que de venir nous dire, les uns comme Thalès, que l’univers devoit son origine à l’eau; les autres comme Anaximène, qu’il la devoit à l’air; d’autres comme Empédocle, qu’il étoit composé de quatre élémens […].62

Ähnliches gilt auch für die Zeitgenossen wie Benoît de Maillet (1656–1738), der in seinem (religionskritischen) Telliamed (1748) die Entstehung der Landtiere durch die Mutation analoger aquatischer Spezies erklärt,63 und Leibniz, dessen Monaden lediglich die Atome Epikurs, Leukipps und Demokrits unter neuem Na-

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Ebd., 85. Ebd., 69. Ebd., 86. Zu Maillet s. etwa Miguel Benítez: La Face cachée des Lumières. Recherches sur les manuscrits philosophiques clandestins de l’âge classique. Paris, Oxford 1996, 215–304.

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men vorstellten.64 Scharf angegriffen werden durch Saint-Martin überdies Kepler, Descartes, Newton, Buffon und Laplace:65 Newton etwa hätte »malgré la beauté de sa découverte sur la pesanteur et l’attraction«, die sich auf so glückliche Weise auf alle Teile seines »systême théorique de l’univers« applizieren ließe, lediglich eine »loi secondaire« dargeboten, die ihrerseits aber eine »loi primaire« in den kleinsten Teilchen der Naturkörper voraussetze, aus der die Schwerkraft abgeleitet sei.66 Die rezenten wissenschaftlichen Entdeckungen seien zwar, so lautet das allgemeine Urteil Saint-Martins, insgesamt bewundernswert; da sie uns aber nur die »loix externes de l’univers« erläuterten, schienen sie uns nur insoweit zu erfüllen, als wir das »désir secret« nach einer »substantielleren Nahrung« in uns »ersticken und lähmen« würden.67 Besonders abträglich ist der Naturerkenntnis nach SaintMartin die Tendenz, den Naturphänomenen einfache Ursachen zugrunde legen zu wollen: […] je dirai qu’en général, ce qui nuit à la justesse et à la vérité des hypothèses enfantées par l’esprit humain, c’est le penchant secret qui l’entraîne à chercher aux phénomènes de la nature un mécanisme uniforme et un élément unique, comme lui paroissant ce qu’il y a de plus régulier et de plus parfait.68 […] ich würde sagen, dass im Allgemeinen das, was der Richtigkeit und der Wahrheit der durch den menschlichen Geist erzeugten Hypothesen schadet, der geheime Drang ist, der diesen dazu verleitet, bei den Naturphänomenen einen einförmigen Mechanismus und ein einziges Element zu suchen, die ihm als das regelmäßigste und vollkommenste erscheinen.

Den kosmologischen und naturwissenschaftlichen Theorien seiner Zeit stellt Saint-Martin die Ideen Böhmes gegenüber, die er als adäquates Erklärungsmodell für die Entstehung der Himmelskörper und die Formung planetarer Massen deutet und als naturphilosophische Ansätze systematisiert darzubieten versucht.69 Böhme wäre, so Saint-Martin, von der Annahme ausgegangen, dass die ursprüngliche Natur (»la nature primitive« oder »la nature éternelle«), auf sieben Formen oder »puissances« beruhe, die auch in der »nature actuelle et désordonnée que nous habitons« existierten,70 nämlich »l’astringence«, »le fiel ou l’amertume«, »l’angoisse«, »le feu«, »la lumière«, »le son« und »das Sein«, »l’être«.71 Diese sieben Formen hätte Böhme nicht nur auf die »puissance suprême«, auf die denkende Natur des Menschen, die ursprüngliche Natur, die jetzige Natur, die Elemente, die Tiere sowie die Pflanzen, sondern auch auf die Planeten und deren

64 65 66 67 68 69 70 71

Saint-Martin, Le Ministère de l’Homme Esprit (Anm. 37), 87. Ebd., 88–93. Ebd., 88 f. Ebd., 87 f. Ebd., 93. Ebd., 97. Ebd., 98. Ebd., 98–100.

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Siebenzahl angewandt.72 Letztere drückten jeweils eine dieser sieben Formen, aus denen sich ihre Charakteristika ableiteten.73 Dass zu seiner Zeit mehr als sieben Planeten im Sonnensystem gezählt wurden, spricht für Saint-Martin keineswegs gegen die Annahmen Böhmes; die Vorherrschaft einer der »sieben Formen der Natur« sei zweifellos stets bei den Himmelskörpern festzustellen: »Quand même actuellement le catalogue des planètes dépasseroit le nombre de sept, la prédominance de l’une ou de l’autre des sept formes de la nature, ne cesseroit pas pour cela d’avoir lieu dans chacun de ces corps célestes; seulement plusieurs de ces planètes pourroient être constituées de manière à offrir à nos yeux l’empreinte et la prédominance de la même forme ou propriété.«74

Um dies zu belegen, fasst Saint-Martin die Planeten bei der Erde beginnend einzeln ins Auge und beschreibt ihre Eigenschaften und ihre Genese nach den Begriffen Böhmes;75 dabei unternimmt er den Versuch, durch diese auch die Herkunft der neu entdeckten Planeten zu erklären und mit ihnen rezentere astronomische Beobachtungen abzugleichen: So ist etwa nach Saint-Martin, gemäß der Lehren Böhmes, Saturn nicht aus der Sonne entstanden; sein Ursprung ist vielmehr »l’angoisse sévère, astringente et âpre du corps entier de ce monde«, denn die Sonne hatte nicht die Kraft, jenseits des Jupiter die »raue und rigide Qualität des Raums« (»la qualité âpre et rigide de l’espace«) auszugleichen.76 Die mutmaßlich rissige und zerklüftete Beschaffenheit der Saturnringe bestätigt für Saint-Martin diese Hypothese: […] les anneaux de Saturne, détachés du corps de la planète, et offrant, dans leur épaisseur, comme des lézardes et des brisures, sembleroient seconder cette explication de son origine dans l’âpreté et la rigidité. Le froid isole les puissances génératrices, au lieu de les harmoniser […] et même sur les corps qu’il peut produire, il engendre des morcellemens et comme des gerçures, par une suite de la division et de la violence où sont ses puissances productrices.77 […] die vom Planetenkörper abgetrennten Ringe des Saturns, die in ihrer Stärke so etwas wie Risse und Bruchstellen aufweisen, scheinen die Erklärung von dessen Entstehung in der Rigidität und Rauheit zu unterstützen. Die Kälte isoliert die erzeugenden Kräfte, anstatt sie zu harmonisieren […] und selbst auf den Körpern, die sie hervorbringen kann, bewirkt sie Zerstückelungen und gleichsam Risse aufgrund der Zerteilung und der Gewalt, in der sich ihre produktiven Kräfte befinden.

Der 1781 durch Wilhelm Herschel (1738–1822) jenseits des Saturns aufgespürte Uranus könnte nach Saint-Martin denselben Ursprung wie dieser haben, denn noch tiefer als Saturn befände er sich im »Raum der Rigidität und der Kälte«: 72 73 74 75 76 77

Ebd., 100. Ebd., 101. Ebd. Ebd., 104–113. Ebd., 107 f. Ebd., 108.

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Uranus ou Herschell, qui n’étoit pas connu du temps de l’auteur [= Böhme], et qui est encore plus enfoncé dans l’espace de la rigidité et du froid que Saturne, aura pu avoir, suivant la doctrine qu’on vient de voir, la même origine que cette planète.78 Uranus oder Herschell, der zur Zeit des Autors [= Böhme] nicht bekannt war und der noch tiefer in den Raum der Rigidität und der Kälte versunken ist, als Saturn, konnte gemäß der Lehre, die wir soeben in den Blick genommen haben, denselben Ursprung haben, wie dieser Planet [= Saturn].

Ebenso könnten die zwei »neuen Planeten« »Céres et Pallas« – Saint-Martin meint die durch Giuseppe Piazzi (1746–1826) und Heinrich Wilhelm Olbers (1758–1840) in den Jahren 1801 und 1802 entdeckten Asteroiden – von der Ursprungsursache ihrer Nachbarn Mars und Jupiter herrühren, dem Licht und dem Feuer;79 Mars und Jupiter gehen nämlich nach Saint-Martins Böhme-Deutung auf eine »terrible éruption ignée« zurück, durch die aus der Sonne eine Art feuriger Blitz hervorgeschleudert wurde.80 Ferner könnte Böhmes »systême« dazu verhelfen, die Herkunft und das Flugziel der Kometen festzustellen; diese könnten als »organes de correspondance« zwischen der solaren und der stellaren Region des Kosmos fungieren.81 Saint-Martin begreift demnach Böhmes Weltsicht als eine echte Alternative zu den szientifischen Naturerklärungsmodellen und Kosmologien, die zu seiner Zeit maßgeblich waren; durch sie lassen sich aus seiner Perspektive sämtliche Naturphänomene interpretieren und einordnen, wie er insbesondere am Beispiel der Astronomie zeigt. Anders als die Naturwissenschaft, die lediglich zur Erkenntnis sekundärer Gesetzmäßigkeiten führen kann, offenbart Böhme die universalen Prinzipien der Natur, die ihr Innenleben bestimmen. Selbstsicher fordert Saint-Martin demgemäß die Anerkennung der »hypothèse« Böhmes durch die Wissenschaft; mag diese auch in mancher Hinsicht defizitär sein, so gilt dies vielleicht umso mehr für jene: Telle est l’hypothèse que j’ai cru pouvoir exposer à côté de celles des […] auteurs célèbres dont nous avons parlé ci-dessus. […] je pourrois dire aux savans en question, que si elle avoit des défectuosités, les leurs en ont peut-être encore davantage, en ne nous offrant aucune des bases vives qui semblent servir à la fois de principe et de pivot à la nature […]. Il y a plusieurs branches dans l’arbre de l’intelligence humaine; toutes ces branches, quoique distinctes, ne servent, au lieu de se nuire, qu’à étendre nos connoissances.82 So lautet die Hypothese, die ich meinte neben denjenigen der berühmten Autoren, von denen wir oben gesprochen haben, erläutern zu dürfen. […] ich könnte den besagten Wissenschaftlern sagen, dass wenn sie Mängel hätte, die ihren vielleicht noch mehr davon haben und uns dabei keine der lebendigen Grundlagen darbieten, die der Natur zugleich als Prinzip und Angelpunkt zu dienen scheinen […]. Es sind am Baum der menschlichen Einsicht viele Zweige vorhanden; all diese Zweige, obschon sie unterschiedlich sind, dienen eher dazu, unsere Kenntnisse zu erweitern, als sich gegenseitig abträglich zu sein. 78 79 80 81 82

Ebd., 109. Ebd. Ebd., 105 f. Ebd., 113. Ebd., 114.

Gegenaufklärung und Böhme-Rezeption in Frankreich

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Diese Bewertung der Mystik Böhmes mag dem Leser heute befremdlich erscheinen; man darf jedoch nicht vergessen, dass Saint-Martins Ministère de l’Homme Esprit nur wenige Jahre nach dem Ende der Französischen Revolution (1799) entstanden ist, die einen Säkularisierungsschub mit ausgedehnten Konsequenzen bedeutete, nachdem schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durch den Rationalismus der Aufklärer eine traditionelle Position nach der anderen in Frage gestellt wurde. Die Naturwissenschaften erzielten dabei im Laufe des Siècle des Lumières wegweisende Errungenschaften und erlangten zugleich eine ungeheuere Attraktionskraft auf eine breite Öffentlichkeit; Claudine Cohen spricht in diesem Zusammenhang von einem »véritable engouement public.«83 Von zentraler Bedeutung waren ab der Mitte des 18. Jahrhunderts die Astronomie und die Kosmologie, die bezeichnenderweise auch Saint-Martin beschäftigten: Die 1732 durch Maupertuis in Frankreich eingeführte Physik Newtons etwa wurde viel diskutiert und in populärwissenschaftlichen Werken zugänglich gemacht; ferner bewiesen die durch die Mathematiker vorausberechneten Kometenerscheinungen dem Publikum »les pouvoirs de la science« und die »maîtrise de l’esprit humain sur la nature.«84 Saints-Martins systematisch-naturphilosophische Auslegung Böhmes ist damit offensichtlich als Reaktion auf diese spezifischen Entwicklungen zu deuten.

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Claudine Cohen: Art. Sciences (Diffusion et vulgarisation des). In: Dictionnaire européen des Lumières. Hrsg. v. Michel Delon. Paris 2007, 1124–1127, hier: 1124. Ebd, 1125.

Abendvortrag

Wilhelm Kühlmann

Vernunftdiktatur und Sprachdiktatur Jakob Böhme bei Gottsched und Adelung

1. Voraussetzungen: Alte Konflikte und »tanzende« Vernunft Vor einigen Monaten war in den Zeitungen zu lesen, dass renommierte Wissenschaftler am Genfer Kernforschungszentrum die Sektkorken knallen ließen. Man habe den »Urknall« künstlich nachgeahmt, stehe damit experimentell am Beginn des Universums. »Urknall«? Vor welchen Ohren? Und wieso hat die Entstehung des Universums mit einer bestimmten Art von Geräuschentwicklung (in welchem Medium?) zu tun? Und um im Bereich der modernen Astrophysik zu bleiben: Wie steht es denn in dem expandierenden oder in sich zurück gebogenen Kosmos, mit den »weißen Riesen«, den »schwarzen Zwergen« und »Löchern« oder mit den Sternenhaufen, die sich gegenseitig »fressen«? Ist diese metaphorische Begrifflichkeit, die sich sogar des Vokabulars von Kindermärchen bedient (»Riesen« und »Zwerge«), nur Reflex einer kommunikativen Resignation, die daran zweifelt, mathematisch-physikalische Theoreme anders als im Appell an sinnliche Vorstellungen und in einer Art von poetischer Idiomatik begreifbar zu machen? Oder stoßen wir auf Grenzen und Aporien unserer Sprache überhaupt in dem Versuch, Unsagbares zu artikulieren? Auch Jakob Böhmes Sprachnot, komplexe Bildlichkeit und oft sogar notorische Unverständlichkeit, die er übrigens aus der Sicht vieler Zeitgenossen mit Paracelsus gemeinsam hatte,1 waren 1

Dazu Wilhelm Kühlmann: Rätsel der Wörter. Zur Diskussion von »Fachsprache« und »Lexikographie« im Umkreis der Paracelsisten des 16. Jahrhunderts. In: Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Vilmos Ágel u. a. Tübingen 2002, 245–262; zum Paracelsismus des deutschen Kulturraums sind heranzuziehen die durch Register erschlossenen Einleitungen und kommentierten Texteditionen in: Der Frühparacelsismus. Erster – Dritter Tl. Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Hrsg. und erl. v. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Bd. 1. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 59); Bd. 2, Ebd. 2004 (Frühe Neuzeit 89); Bd. 3, Ebd. (im Druck); die Bände werden im Folgenden zitiert als »CP I – III.«; zu Paracelsus und seiner Wirkung zusammenfassend der Paracelsus-Artikel von W. Kühlmann in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011, Bd. 9 (2010), 83–90. – Zu den Konnexionen vgl. (teilweise noch sehr vorläufig, da die Literatur des Frühparacelsismus kaum beachtet wird) Arlene Miller-Ginsburg: Von Paracelsus zu Böhme. Auf dem Wege zu neuen Bestandsaufnahmen in der Beeinflussung Böhmes durch Paracelsus. In: Paracelsus in der Tradition. Wien 1980 (Salzburger Beiträge zur Paracelsus-Forschung, Folge 21), 96–118, sowie Christa Habrich: Alchemie und

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Wilhelm Kühlmann

ja Resultat einer synkretistischen Anstrengung, »Theosophie« im Gestus einer laikalen Prophetie, immediären Erleuchtung und quasi-mystischen Erfahrung als Verbund von spekulativer Theologie und Theogonie, biblischer Exegese sowie spiritueller Kosmologie, Naturkunde, Anthropologie und Eschatologie neu zu begründen und dabei die Sprachwelt der Lutherbibel mit Leitbegriffen der älteren Mystik2 und mit der paracelsistischen, in Sachsen und Schlesien zentrierten Theoalchemie zu harmonisieren.3 Spätere Gegner wie der Greifswalder Theologe Ehregott Daniel Colberg (1659–1698)4, vor ihm und nach ihm andere orthodoxe

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Chemie in der pietistischen Tradition. In: Goethe und der Pietismus. Hrsg. v. Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider. Tübingen 2001, 45–78; zu Böhme und den Böhmisten (Gichtel, Dippel, Arnold) 52–63. Diesbezügliche Diskurslinien erörtert Maximilian Bergengruen: »ALSO SIND WIR IN CHRISTO NUR EINER«. Menschheit als theologisches Fundament in soziozentrierter Mystik (Eckhart, Tauler, Böhme). In: Poetica 38 (2006), 61–90. Vgl. dazu die Erörterungen von Alois M. Haas: Erfahrung und Sprache in Böhmes Aurora. In: Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Hrsg. v. Jan Garewicz u. Alois Maria Haas. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 24), 1–22. Da die exegetische Erforschung von Schriften Böhmes im vorliegenden Beitrag gegenüber der traditions- und rezeptionshistorischen Optik ganz zurücktritt, verweise ich zum Forschungsstand einleitend nur auf Sibylle Rusterholz: Jakob Böhme und Anhänger. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Hrsg. v. Helmut Holzhey u. Wilhelm Schmidt-Biggemann unter Mitarb. v. Vilem Mudroch. Basel 2001 (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Ueberweg: 17. Jahrhundert 4/1), 61–102, sowie auf die ergiebige Studie von Friedrich Vollhardt: Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. v. Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, 89–123; informativ, auch zur Forschungsgeschichte (mit einem Begriffsregister!) Günther Bonheim: Zeichendeutung und Natursprache. Ein Versuch über Jacob Böhme. Würzburg 1992 (Epistemata 87). Zu Colberg s. Hans Schneider: Das »Platonisch-hermetische Christenthum«. Ehre Gott [Ehregott] Daniel Colbergs Bild des frühneuzeitlichen Spiritualismus. In: Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace. Hrsg. v. Nicola Kaminski u. a. Tübingen 2002, 21–42; Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004, 112–186; 223–236; Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, hier: 217– 242: Wilhelm Kühlmann: Das häretische Potential des Paracelsismus – gesehen im Licht seiner Gegner, spez. 224–226 sowie 267–289; Christine Maillard: Eine Wissensform unter Heterodoxieverdacht: Die spekulative Alchemie nach 1600, bes. 277–284; Joachim Telle: Art. »Colberg, Ehre Gott«. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2. vollst. überarb. Aufl. Hrsg. v. Wilhelm Kühlmann u. a. 12 Bde. Berlin/New York 2008–2011 [im Weiteren zit. als Killy/Kühlmann], spez. Bd. 2 (2008), 461. – Meines Wissens so gut wie unbeachtet blieben bisher die Gegenschrift des Nürnberger Publizisten Erasmus Francisci: Gegen-Stral der Morgenröte, Christlicher und Schrifftmässiger Warheit, Wider das Stern-gleissende Irrlicht der Absondrung von den Kirche und den Sacramenten […]. Nürnberg: Endter 1685, auch die zahlreichen, u. a. anti-böhmistischen Traktate des als Poetologen bekannten Leipziger Schulmannes und Predigers Albrecht Christian Rotth (1651–1701). – Dass es von Seiten der Orthodoxie wider die Böhmisten nicht bei publizistischen Maßnahmen blieb, belegt die auf Betreiben des bekannten Theologen Ernst Salomon Cyprian (1673–1675) ins Werk gesetzte Ausweisung (1704) des Sporenmachergesellen, Böhme-Lesers und radikalen Pietisten Georg Rosenbach aus Coburg; dazu in vielen Details des Verfahrens höchst instruktiv Horst Weigelt: Cyprians Auseinandersetzung mit separatis-

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Theologen, aber auch Sympathisanten wie Gottfried Arnold (1666–1714)5 sahen mit gutem Recht in Paracelsus, oder besser: in dem Paracelsus und seinen Anhängern zugewiesenen Schriftenmassiv,6 das Fundament jenes nicht nur Böhme, sondern auch Valentin Weigel (1533–1588)7 umgreifenden, mit dem seit Luther attackierten »Schwärmern« des 16. Jahrhunderts8 zusammenhängenden heterodoxen Syndroms,9 das als spirituelle Gegenmacht bis weit ins 18. Jahrhundert

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tischen Pietisten in Coburg während seines Direktorates am Collegium Casimirianum. In: Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Hrsg. v. Ernst Koch u. Johannes Wallmann. Gotha 1996, 96–110. Arnold äußerte in dem Paracelsus-Abschnitt seiner Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700), hier nach der dritten Ausgabe (Schaffhausen 1740–1742, bes. Bd. 1, 899–904) die Ansicht, Paracelsus habe zu denen gezählt, die »den Verderb in der gemeinen Theologie« (902) erkannt und davon »freymüthig« gezeugt haben. Dies habe dazu geführt, dass er »Stifter einer neuen Theologie« geworden sei, »daraus »Böhme/Weigel und andere jhre Sachen sollen genommen haben« (903); vgl. Rudolf Schlögl: Hermetismus als Sprache der »unsichtbaren Kirche«: Luther, Paracelsus und die Neutralisten in der Kirchen- und Ketzerhistorie Gottfried Arnolds. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Anne-Charlott-Trepp u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2001 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), 165–188. Gerade die hermetistisch oder genuin alchemisch orientierten Schriften des Paracelsus-Korpus gehören nicht zu den echten Werken des Hohenheimers (betr. vor allem: Aurora Philosophorum, Philosophia ad Athenienses, De Tinctura Physicorum); vgl. zum Problem Joachim Telle: Paracelsus als Alchemiker. In: Paracelsus und Salzburg. Hrsg. v. Heinz Dopsch u. Peter F. Kramml. Salzburg 1994 (Mitteilungen der Gesellschaft für die Salzburger Landeskunde, Erg.-Bd. 14), 157–172, sowie Philipp Redl: Aurora Philosophorum. Zur Überlieferung eines pseudo-paracelsischen Textes aus dem 16. Jahrhundert. In: Daphnis 37 (2008), 689–712 (auch zur Überlieferung im 18. Jahrhundert). Zu ihm maßgeblich die Artikel des Weigel-Editors Horst Pfefferl Valentin Weigel und Paracelsus in Paracelsus und sein dämonengläubiges Jahrhundert. Hrsg. v. Sepp Domandl. Wien 1988 (Salzburger Beiträge zur Paracelsus-Forschung, Folge 26), 77–95; Die Rezeption des paracelsischen Schrifttums bei Valentin Weigel. Probleme ihrer Erforschung am Beispiel der kompilatorischen Schrift ›Viererley Auslegung von der Schöpfung‹. In: Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung. Hrsg. v. Peter Dilg u. Hartmut Rudolph. Stuttgart 1995 (Hohenheimer Protokolle 47), 151–168, zum Konnex zwischen Weigel und schlesischen Paracelsisten s. CP III, Nr. 125. Nie zu vergessen ist, dass Luther Sebastian Franck als »Arschhummel« bezeichnete und ihm den Tod wünschte… Zum Thema umfassend (es ging aber nicht nur um »Wahrnehmung«!) mit üppigen Literaturnachweisen Thomas Kaufmann: Nahe Fremde. Aspekte der Wahrnehmung der »Schwärmer« im frühneuzeitlichen Luthertum. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hrsg. v. Kaspar von Greyerz, Manfred Jakubowski-Tiessen, Thomas Kaufmann u. Hartmut Lehmann. Gütersloh 2003 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 201), 179–241. So der Leipziger Pastor primarius Hieronymus Kromayer in: Scrutinium Religionum tum falsarum tum unicè verae. Editio II. Leipzig 1673, hier: 132–160: Disputatio VI: De Weigelianismo, Rosae-Crucianismo et Paracelsismo, oder der Wittenberger Theologieprofessor und Dogmatiker Nicolaus Hunnius (Respondent Valentinus Legdaeus): Principia Theologiae Fanaticae, quam Theophrastus Paracelsus genuit, VVeigelius interpolavit. Wittenberg 1609; ders. (hier nun auch gegen die rosenkreuzerische Programmschrift Fama Fraternitatis): Christliche Betrachtung der Newen Paracelsischen und Weigelianischen Theology: Darinnen. Durch Viertzehen Ursachen angezeiget wird/ warumb sich ein jeder Christ für derselben/ als vor einem schädlichen Seelengift mit höchstem fleiß hüten und vorsehen soll. Wittenberg 1622.

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Wilhelm Kühlmann

sowohl die konfessionelle Orthodoxie wie auch den Wolff’schen Rationalismus unterhöhlte und nur notdürftig, allerdings von manchen Paracelsisten so verstanden, unter dem Titel eines hermetischen Platonismus10 auf einen kohärenten historischen Begriff gebracht und dergestalt mit einer illustren Genealogie versehen wurde. Mit äußerstem Scharfsinn und schriftgemäßer Beweisführung musterte Colberg die zentralen ketzerischen Vorstellungen der »Schwärmer«, und paradoxerweise ist ihm durchaus zuzustimmen, wenn er warnend die Folgen des um sich greifenden neuen Spiritualismus ausmalt. Im Licht der Spiritualisten stellt sich tatsächlich eine retrospektive radikale Sinnfrage, die nach der Umwertung sakrosankter Traditionen, Praktiken und Geschichtsbilder:11 Ist die Lehre von Christo nur geistlich zu verstehen/ so haben die Evangelisten und Apostel übel gethan/ daß sie diese Lehr schrift= und mündlich in der ganzen Welt ausgebreitet haben: So sind die Märtyrer/ die umb der Bekäntniß Christi willen Verfolgung/ Schmach und den Todt erduldet haben/ die elendesten Menschen: So haben sich so viel gottselige Lehrer umbsonst bemühet/ den Christlichen Glauben fort zupflanzen/ und die Heydnischen Greuel auszurotten. O wie elend wäre es mit uns Christen bewand/ wenn alles von Christo geistlich und inwendig zu verstehen wäre: Es wäre nichts nüze/ den wahren reinen Glauben fortpflanzen/ und wider die Kätzer und Verkehrer verthädigen. Es wäre vergeblich/ sich an gewisse nach der Richtschnur des Göttlichen Worts eingerichtete Glaubens-Bekäntnissen verbinden. Es wäre thöricht/ sich von den falschen Lehrern/ von Juden/ Türcken und Heyden absondern/ sintemahl bey ihnen die inwendige Erkäntniß Christi auch gefunden würde. Das ists eben/ was die Platonischen Christen intendiren/ den gantzen Christlichen Glauben übern Hauffen zu werffen/ und eine solche Religion einzuführen/ die bey allen Völkern und Religionen bestehen kan.

Wir werden uns bei dieser Tagung genauer mit den so entstehenden Bruchzonen frühneuzeitlicher Vergewisserung des Ichs in seiner Welt befassen, einer Vergewisserung, die bei Böhme immer zugleich auf Figuren der immanenten Trans-

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Die Filiation des Paracelsica-Korpus mit dem europäischen Renaissance-Platonismus ist maßgeblich der großen apologetischen Schrift (Idea medicinae philosophicae) Basel [1571) des Dänen Petrus Severinus (Sørensen, 1540/42–1602) zu verdanken; von ihm stammt auch ein als Einzeldruck (ebd. 1570 oder 1571) erschienener fiktiver Brief an [sic!] Paracelsus (Abdruck mit Kommentar in CP III, Nr. 109), in dem Paracelsus in eine Reihe gestellt wird mit Hermes, Orpheus, Pythagoras, Platon, Synesios, Iamblichus, Plotin, Proklos, Porphyrius und anderen Platonikern. Wider diesen Platonismus wandte sich dann scharf und ausführlich besonders der anti-paracelsistische lutherische Chemiker und Schulmann Andreas Libavius (1560–1616); dazu Kühlmann 2006 (Anm. 4), 235–242, sowie ders.: Der vermaledeite Prometheus – Die antiparacelsistische Lyrik des Andreas Libavius. In: Scientia Poetica 4 (2000), 30–61; abgedruckt auch in ders: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hrsg. v. Joachim Telle, Friedrich Vollhardt u. Hermann Wiegand. Tübingen 2006, 376–405; zusammenfassend zu Libavius Wolf-Dieter Müller-Jahncke (sub verbo) in Killy/Kühlmann (Anm. 4), Bd. 7 (2010), 394–396. Das Platonisch-Hermetisches [sic!] Christenthum/ Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer/ Rosencreutzer/ Quäcker/ Böhmisten /Wiedertäuffer/ Bourignisten/ Labbadisten/ und Quietisten/ ausgefertiget von M. Ehre Gott Daniel Colberg/ Professore Publico auff der Königl. Universität Greiffswald. Frankfurt a. M./Leipzig 1690, 314 f.

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zendenz, auch auf das Paradox einer Erniedrigung und zugleich Erhöhung dieses Ichs hinauslief. Was das Erbe des Paracelsismus bei Böhme und den Böhme-Lesern angeht – bis hin etwa zu Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782) »Heiliger Philosophie«12 und anderen ›Schwabenvätern‹ wie dem Tüftler und gefragten Seelsorger Philipp Matthäus Hahn (1739–1790),13 gibt es noch keine hinreichend genaue Studie, die Formen, Bestände, auch die äußeren wie inneren Kontroversen dieser auffälligen theosophischen Aneignung, Assimilation und gnostischen bzw. hermetistischen Re-Interpretation und werkspezifischen Integration mit genügendem Weitblick untersucht, einen Vorgang, der mit der Spiritualisierung der Paracelsischen Naturkunde bei Theoalchemikern vom Schlage des bei C. G. Jung weiterwirkenden Gerhard Dorn (ca. 1530–ca. 1584)14 und dem von dem Böhmisten und genialen Dichter Quirinus Kuhlmann (1651–1689) prominent zitierten sächsischen Mediziner Heinrich Khunrath (1560–1605)15 begann. Khunraths 12

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Vgl. Robert Terence Llewellyn: Friedrich Christoph Oetinger and the Paracelsan Tradition. A Disciple of Boehme in the Age of Rationalism. In: From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. Studies in Literature in Honour of Leonard Forster. Ed. by D. H. Green, L. P. Johnson and Dieter Wuttke. Baden-Baden 1982 (Saecula Spiritalia, Vol. 5), 539–548. Zu Oetinger nun zusammenfassend Reinhard Breymayer (sub verbo) in Killy/Kühlmann (Anm. 4), Bd. 8 (2010), 686 f. Zu Hahn vgl. Wilhelm Kühlmann (sub verbo) in Killy/Kühlmann (Anm. 4), Bd. 4 (2009), 600 f.; die mittlerweile hrsg. Tagebücher Hahns bieten mancherlei Anhaltspunkte für Böhme-Lektüre, auch zu dem Plan, Böhme-Texte herauszugeben; anhand der Register sind auszuwerten Philipp Matthäus Hahn: Die Kornwestheimer Tagebücher 1772–1777. Hrsg. v. Martin Brecht u. Rudolf F. Paulus. Berlin/New York 1979 (Texte zur Geschichte des Pietismus VIII, I); ders.: Die Echterdinger Tagebücher 1780–1790. Hrsg. v. dens. Ebd. 1983 (Texte zur Geschichte des Pietismus VIII, II). Zu Hahns Ketzereien (darunter Einflüssen von Oetinger und Böhme, auch mit dem Hinweis, 119, dass die Lektüre der Bücher Böhmes den Pfarrern verboten war) Walter Stäbler: Pietistische Theologie im Verhör. Das System des Philipp Matthäus Hahn und seine Beanstandung durch das württembergische Konsistorium. Stuttgart 2002 (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte 11). Das aufschlussreiche Werk ist, da ohne Register, für manche Recherchen leider unbrauchbar; ferner Martin Brecht: Philipp Matthäus Hahn und der Pietismus im mittleren Neckarraum. In: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte 77 (1977), 101–131, hier zu Böhmisten unter Hahns Besuchern (126). Zu Dorn umfassend mit wichtigen Quellentexten s. CP II (Anm. 1), Nr. 83–93, 823–963; zusammenfassend Wilhelm Kühlmann (sub verbo) in Killy/Kühlmann (Anm. 4), Bd. 3 (2008), 86 f. Vgl. Quirinus Kuhlmann: Der Neubegeisterte Böhme [zuerst 1674]. Hrsg. und erläut. von Jonathan Clark. 2 Tle./Bde. Stuttgart 1995 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 317/318), hier Tl./Bd. 1, 111 f.: »Der erste sei der verwundernswerte Mann/ Henrich Khunrath/ eine hochansehnliche Zirath seines Leipzigs/ und ein Mensch fürwahr seltener und höherer Verständnis/ als man von ihm glaubet. Er ward üm di allertifsten sach durchzuforschen/ mit grosser begirde von Göttlichem Feuer entflammet/ durchlaß der urältesten und alten als neuen Weltweisen Bücher; auf vilen Reisen hatte er mit allen überwigung gehalten/ ja vermerket endlich/ wi Gott selbst in der H. Schrift Natur und ihm selbst redete und antwortete. Als nun jhm derjenige/ der es alleine kann /Jesus Christus/ di Vatersweißheit das allgemeine Buch in der Dreizahl aufgethan/ so erbaute er den Schauplatz der ewigen allleinwahren Weißheit/ nach Christlichcabalistischer /Gottlichmagischer/ wi auch Physischchymischer dreieinigallgemeiner Lehrart /ein rechtes Wunderbuch. Was redete aber darinnen von den heutigen Wissenschaften? ›Die weltliche Weißheit /‹ spricht er/ ›die da heuchelhaftig/ aufgeblasen/ hoffärtig/ zankhaftig/ prahlend/ mit Leerer Worte schwatzhaftigkeit einen

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physikotheologische Umwidmung der alchemischen Begriffswelt und Bildsymbolik (Christus als »Stein der Weisen« usw.), bis in die moderne Esoterik ausstrahlend, entsprach in vielen Einzelzügen der von und um Böhme ausgebildeten Idiomatik, ebenfalls Khunraths klare Demarkationslinien ziehende Apologie der Theosophie und des »Enthusiasmus« in seinem Traktat Vom Hylealischen, Das ist Pri-materialischen Catholischen Oder Allgemeinen Natürlichen Chaos (Magdeburg 1597):16 XI. Von den Wörtlein Theosophus, Theosophia, Theosophicé’, ein Gottweiser, Göttliche Weißheit/ GOttweißlich/ hab ich […] kürtzlich mich genugsam erkläret. Will ein ander lieber dafür sagen/ Philotheosophus/ Philotheosophia, Philotheosophicé, das lasse ich auch geschehen. Ich will über den Worten mit niemand zancken/ man lasse nur den Verstand gut bleiben. Wortzänckerey bauet nicht. XXII. Höre/ du Lästermaul/ sprichstu spöttlich/ ich sey ein Enthusiast/ dieweil ich in gegenwärtigen meinem Buch von Visionibus oder Gesichten und sonderlichen (jedoch Gut=Geistlichen) Offenbahrungen sage; so spreche Ich mit Wahrheit/ du seyest ein Närrischer Phantast; der noch nicht wisse/ oder aus Unbesonnenheit je nicht bedencke/ was das Wörtlein Enthusiast eygentlich heisse; will geschweigen was Enthusiast recht sey. Ist Enthusiasmus, h[ic] e[st] Afflatio Numinis, das Göttliche Anhauchen (sine quo afflatu, teste etiam Cicerone, nemo unquam vir magnus, ohne welches niehmals eine fürtreffliche hochbegabte geschickte Person sey worden) Schwermerey/ so müssen auch Bezaleel/ Achaliab/ und allerley Weisen/ denen GOtt die Weißheit ins Hertz gegeben/ etc. der König David (so niemals auf deine Weise studiret/ und aus einem Hirten ein Prophet und Mann GOttes ward; Salomon welcher im Schlaff oder Traum einer Nacht mit aller obern und untern Dinge Weißheit erfüllet; Esaias/ Ezechiel/ Daniel/ Esdras/ auch andere Propheten und Apostel/ so plötzlich und unversehens unterwiesen und gelehrt worden/ Schwermer gewesen seyn; dieweil sie Sophia Enthusiastica, Sapientia, quae Numinis afflatu concipitur, durch die Weißheit/ so von Gott eingegeistert wird/ unterwiesen und gelehrt waren.

Die Erforschung der auf Böhme direkt einwirkenden Phase des regionalen schlesischen und sächsischen Paracelsismus, vertreten auch von dem Görlitzer Bürgermeister Bartholomäus Scultetus (1540–1614)17 und dem schlesischen Para-

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verstandlosen Schall plaudert/ mit dialectischem Zauberwerk durch sophismatische ümschweife/ Verführungsgsnetze aufgespannet/ dise ist jenes reitzerisches/ schmeichelhaftes und verführerisches Weib/ so närrisch und schreiend/ welche sich mit lügenhaften Tittel vor die wahre Weißheit teuflisch den Narren verkaufet; da doch noch Paulus sprucht [sic!] bei Gott keine grössere Narrheit ist/ als die Erdenweißheit; demselben nothwendig wegzuwerfen/ welcher klug zu werden begehret.›« Zu Khunrath bietet umfassende Informationen der Artikel von Joachim Telle (sub verbo) in Killy/Kühlmann (Anm. 4), Bd. 6 (2009), 398–400. Die internationale Forschung hat sich bisher vor allem mit Khunraths berühmtem Text-BildWerk Amphitheatrum Sapientiae Aeternae (Hanau 1609) beschäftigt. Ob sich von Khunrath, besonders aber von dessen Bruder Konrad (zu ihm CP III, Anm. 1, Nr. 152) Verbindungen zu dem berühmten Theologen Johann Arndt (s. CP III, Anm. 1, Nr. 126) und dessen Anhängerkreis, auch zu dem Leipziger Medizinprofessor Joachim(us) Tancke (ius; 1557–1609), einem engagierten Alchemoparacelsisten, ergeben (zu ihm demnächst ausführlich in CP III, Anm. 1, Nr. 155–160), wäre weiter zu erhellen. Hier ohne die Marginalien zit. n. der späteren Ausgabe Frankfurt a. M. 1708: Ndr., eingeleitet von Elmar R. Gruber. Graz 1990 (Fontes Artis Chymicae 6), Vorrede, unpag. Abs. XI-XII. Zu ihm s. CP II (Anm. 1), Nr. 79, 705–728; mit trefflichem Ansatz Ernst-Heinz Lemper: Voraussetzungen zur Beurteilung des Erfahrungs- und Schaffensumfelds Jacob Böhmes. In: Gott, Natur und Mensch (Anm. 3), 41–69; ebenfalls daran anschließend, jedoch energisch weiterführend mit wichtigen neuen Erkenntnissen besonders zum Böhmes Gewährsmann

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celsisten Johannes Scultetus Montanus (1531–ca. 1604),18 ›Lehrer‹ des zuletzt in Schlesien lebenden Paracelsus-Editors Johannes Huser (ca. 1545–1600/01),19 hat in mancher Hinsicht kaum erst begonnen. Vom kopernikanischen Schock getroffen und in ›Melancholie‹ versetzt,20 hat Böhme zwar keinen ›Urknall‹ gehört, sich aber in den paradoxen ›Ungrund‹ des dreifaltigen, sich und die Welt dialektisch evolvierenden Gottes versenkt, jedenfalls die bald in der akademischen ›Weltweisheit‹ verpönte Frage umkreist, warum denn nicht nichts ist – und dies auf der Basis und im Rahmen einer aufblühenden, auf die biblische Genesis bezogenen, wissenschaftlich bislang kaum erforschten ›Physica sacra‹ bzw. ›Physica mosaica‹.21 Es ist kein Zufall, dass Böhmes Genesis-Kommentar Mysterium Magnum betitelt ist,22 damit jenes von (Ps.-)Paracelsus (in: Philosophia ad Athensienses) berufene Stichwort der »materia aller ding« aufgreift, das von den Gegnern des Paracelsismus, namentlich von dem Heidelberger Medizinprofessor Thomas Erastus (1524–1583), zum Ausgangspunkt erbitterter, ja vernichtender Angriffe gegen den Hohenheimer und seine Anhänger genommen wurde.23 Auch hier gilt die Regel, dass man sehr genau auf die Argumente der konservativen Gegner der attackierten Häretiker achten sollte, denn sie sind es, die genauer und

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und Freund Balthasar Walther (1558– vor 1631), einem »wandernden Paracelsisten«, aber auch zum Görlitzer Scultetus-Kreis, nun Leigh T. I. Penmann: »Ein Liebhaber des Mysterii, und großer Verwandter desselben.« Toward the life of Balthasar Walther: Kabbalist, Alchemist and Wandering Paracelsian Physician. In: Sudhoffs Archiv 94 (2010), 73–99; zusammenfassend ders. (sub verbo) in Killy/Kühlmann (Anm. 4), Bd. 12 (2011), 129–131. Zu ihm s. CP II (Anm. 1), 239–241, und CP III, Nr. 113 u. 114. Zu ihm s. CP II (Anm. 1), passim, bes. 412–414, CP III, Nr. 144 u. 145, sowie Joachim Telle: Johann Huser in seinen Briefen. Zum schlesischen Paracelsismus. In: ders. (Hrsg.): Parerga Paracelsica. Paracelsus in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart 1992 (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit 3), 159–248. Dazu erhellend Günther Bonheim: ward Ich dero wegen Gantz Melancolisch. Jacob Böhmes Heidnische gedancken bei Betrachtung des Himmels und die Astronomie seiner Zeit. In: Euphorion 91 (1997), 99–131, sowie im weiteren Kontext Ferdinand van Ingen: Die himmlische Welt in Jakob Böhmes Morgenröthe. In: »Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig«. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff von Freunden, Schülern und Kollegen. 2 Bde. Hrsg. v. James Hardin u. Jörg Jungmayr. Bern u. a. 1992, Bd. I, 709–738; Vollhardt (Anm. 3), 104–114. Schon der Frühparacelsist Adam von Bodenstein (1528–1577) rückte den Schöpfergott in das Licht eines alchemischen Scheidekünstlers. Zur ›Physica mosaica‹, zu der auch der Paracelsist Gerhard Dorn mit seinem Liber de naturae luce physica, ex Genesi desumpta (Frankfurt a. M. 1583) beitrug (greifbar außer bei Dorn und Böhme in Werken von Alsted, Fludd, Weigel, Comenius, Aslacus u. a.), s. CP I-III (Anm. 1), passim (Register), bes. CP II, 944; Stockinger (Anm. 50), bes. 833–838; wegweisend auch Stephan Meier-Oeser: In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts (Anm. 3), 12–17. Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden. Neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1961 (im Weiteren mit der Sigle »SS«), hier: Bd. 7 u. 8 (1958). Zu Erastus’ Angriffen auf die Vorstellung des »mysterium magnum« als ›erster Materie‹ vgl. die Einleitung zu CP I (Anm.1), 12 f.; zu Erastus und der älteren Literatur vgl. CP I-III, passim (Anm. 1) sowie Joachim Telle (sub verbo »Erastus«) in Killy/Kühlmann (Anm. 4), Bd. 3 (2008), 302–304; ferner Ralf Bröer: Antiparacelsismus und Dreieinigkeit. Medizinischer Antitrinitarismus von Thomas Erastus (1524–1583) bis Ernst Soner (1572–1605). In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 29 (2006), 137–154.

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sensibler als wir Nachgeborenen auch in den unscheinbarsten Formulierungen die aktuellen Konfliktlinien erwitterten und nachzeichneten. In den Angriffen auf die Dunkelheit von Böhmes Sprache, die ihren hermeneutischen Schlüssel verrätselte und in der Antriebe und Axiome der implizierten Wissenslogik, der »Episteme«, gern als geistliche Privatoffenbarung, als vorbewusstes ›Geist-Diktat›24 von Böhme selbst wie auch von seinen Anhängern (wie zum Beispiel Abraham von Franckenberg)25 mystifiziert wurden, verbargen und symbolisierten sich tief gestaffelt die weiteren neuralgischen Frontbildungen. Sie hatten sich zu Anfang des 18. Jahrhunderts bereits in der topischen Diskursivität einer erregten Polemik verfestigt: im Blick auf die theologische und philosophische Dogmatik, deren Relevanzbereiche, Ziele und deren Methodik, im Blick auf eklatante kirchen- und sozialgeschichtliche bzw. sozialpsychologische Dissoziationen und ihre andauernde Dynamik, aber auch in der Frage nach den Praktiken und Leitbildern der alltagsweltlichen Lebensführung sowie der dabei zugrundeliegenden Anthropologie. Paracelsistische Theosophen und Böhmisten, unter ihnen Quirinus Kuhlmann, auch Böhme selbst haben wiederholt darauf bestanden, dass ihre Texte und Theoreme nur im Geist und im Wissen ihrer aus und in Gott sprechenden Urheber zu verstehen seien. Diese zirkuläre Beschränkung bedeutete einen Durchbruch durch die Tabugrenzen des etablierten Wissens, seiner konsensuellen Idiomatik und erlaubten Problemkonfigurationen, mithin die Absage an deren autoritative Instanzen in Kirche und Staat, verzichtete aber oft genug auf jede diskursive und sprachliche Vermittlung. Entschlüsselungsreize und hermetisch anmutende Verschlossenheiten der Sprache verstärkten sich gegenseitig. In diesem Zusammenhang hat Böhme die Zuständigkeiten der »Vernunft«, sofern sie nicht zum »Tanzen« gebracht wird, als das »Contrarium«26 in die Schranken gewiesen, so etwa im fünften Sendbrief (an Carl von Ender 1619):27 Ich schreibe mir keine Klugheit zu, verlasse mich auch auf keinen Fürsatz der Vernunft, dann 24 25

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So z. B. im zweiten Sendbrief, an Carl von Ender; s. Jakob Böhme: Theosophische SendBriefe. In: SS, Bd. IX, Nr. XXI, 5–9, hier: 8, §10. Maßgeblich zu Franckenberg (1593–1652), auch zu den Treffen mit Böhme (1623/24) und Gifftheil (1626) sowie zu Franckenbergs Böhme-Biographie (1631) und seiner BöhmeRezeption, ist mittlerweile die kommentierte Ausgabe des Briefwechsels, darin auch das Protokoll von Franckenbergs Gesprächen mit Georg Lorenz Seidenbecher in Danzig (1649): Abraham von Franckenberg, Briefwechsel. Eingeleitet und hrsg. v. Joachim Telle. StuttgartBad-Cannstatt 1995; vgl. auch Carlos Gilly: Die Geschichte der Böhme-Biographien des Abraham von Franckenberg. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hrsg.von Theodor Harmsen. Amsterdam 2007 (Pimander 16), 329–364. Wie Anm. 14, Nr. 12: An Herrn Caspar Lindnern, Zoll-Einnehmer zu Beuthen. Am Tage Mariä Himmelfahrt. 1621, 41–59, hier: 46, § 17: »[…] wiewol mir der Geist Gottes in der Verborgenheit in meinem geist solches genugsam zeigete, zu was Ende es wäre, noch war die äussere Vernunft immer das Contrarium; als nur zu Zeiten, wann der Morgenstern aufging, da ward die Vernunft mit entzündet, und tanzte mit, als hätte sie es ergriffen, aber es ist weit davon.« Ebd., 18–21, hier: 19, § 6 u. 7; ähnlich auch im neunten Sendbrief an Christian Bernhard und im zehnten Sendbrief an Abraham von Sommerfeld. Die Sendbriefe liegen in leicht

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ich sehe und befinde gar hell und klar, daß GOtt gar viele andere Bahn gehet. Darum so wir kindisch fahren und nicht in unserer Vernunft, sondern hangen Ihm nur mit Begierde und rechtem Ernste an, und setzen all unser Vertrauen in Ihn, so erlangen wir eher die edle Jungfrau seiner Weisheit als in unserm scharfen Tichten, dann die bringet mit, wenn Sie kommt, rechte Weisheit und himmlischen Verstand, und ohne dieselbe weiß ich nichts.

Solche Haltungen stießen in der säkularen »Weltweisheit« des 18. Jahrhunderts, dem ich mich nun anhand exemplarischer Texte zuwenden möchte, auf eine harte epistemologische Antithese: »A ratione nullus proficiscitur error.«28 ›Von der Vernunft geht kein Irrtum aus.‹ Dieser Satz, formuliert ausgerechnet in einem Lehrbuch über »empirische Psychologie«, bezeichnete ein Axiom des von Christian Wolff (1679–1754) scheinbar unangreifbar ausgebauten Rationalismus und damit den Ausgangspunkt, ja den Anstoß einer den Pietismus und Böhmismus aggressiv abstoßenden Denkbewegung des 18. Jahrhunderts, die sich auch von Christian Thomasius (1655–1728) absetzte, der in sich in seiner Frühphase für Gedankengut der religiösen Dissidenten durchaus empfänglich gezeigt hatte.29 Vernünftig waren mittlerweile nur Erkenntnisse und moralische Handlungsmaximen, die definitorisch, logisch, syllogistisch und mit ›zureichendem Grunde‹ widerspruchsfrei abzuleiten und zu vermitteln waren. Viele Fragen blieben offen: Ist wirklich nur als ›Irrtum‹ zu betrachten, was die angeblich ›niederen‹ Erkenntniskräfte des Menschen, seine Sinnlichkeit, Phantasie und Emotionalität, zur ›Weltweisheit‹ beitragen? Kann Erfahrung nur als ›unbezweifelbare‹, d. h. quasi naturwissenschaftlich überprüfbare Gewissheit Vertrauen beanspruchen? Wird die so erhobene und im gleichen Zug so bedingte ›Vernunft‹ nicht selbst zum Hindernis der Wahrheitserkenntnis, damit aber notwendiger Gegenstand ihrer eigenen Kritik? In der Philosophie Kants,30 in dessen Zusammenprall mit Hamann, in neuen Dimensionen der Anthropologie und Erfahrungspsychologie, schließlich im Geschichtsdenken Herders und in den Diskussionen der Spätaufklärung,

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modernisierter Sprache mit einigen Erläuterungen auch vor in der Edition von Gerhard Wehr (2 Bde. Freiburg i. Br. 1990). Christian Wolff: Psychologica Empirica. Edidit et curavit Ioannes Ecole. Hildesheim 1968 (Gesammelte Werke II, 5), 380, § 500. Zu Wolff vgl. die Darstellungen in: Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur. Hrsg. v. Werner Schneider. Hamburg 1983 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 4); Hans-Martin Gerlach (Hrsg.): Christian Wolff. Seine Schule und seine Gegner. Hamburg 1997 (Aufklärung 12, 2); Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen. Hrsg. v. Oliver-Pierre Rudolph u. Jean François Goubet. Tübingen 2004; Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses Halle (Saale), 4.–8. April 2004. Hildesheim u. a. 2010. Dazu – mit mancherlei Hinweisen auch auf Böhme – Wilhelm Kühlmann: Frühaufklärung und chiliastischer Spiritualismus – Friedrich Brecklings Briefe an Christian Thomasius. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hrsg. v. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37). 179–234. Dass im Zuge des sog. Offenbarungsrationalismus des späteren 18. Jahrhunderts sogar Brückenschläge zwischen den Böhmisten und Kant versucht wurden, zeigt der Göttinger Theologieprofessor Christoph Friedrich Ammon mit seinem Werk: Ueber die Aehnlichkeit des inneren Wortes einiger neueren Mystiker mit dem moralischen Worte der Kantischen Schriftauslegung. Göttingen 1796; dazu Friedemann Stengel: Kant – »Zwillingsbruder«

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die den Konnex von Glück, Moral, Vernunft und Fortschritt problematisierten, wurde Wolffs letzthin ontologische Vernunftkonzeption, damit verkoppelt ihre auf Glück und Perfektionierung getrimmten Postulate, nur sehr allmählich aufgelöst. Große Bereiche der deutschen Popularphilosophie blieben noch lange von Prinzipien des Wolffianismus geprägt. Dies galt vorher schon für den größten Reformator der deutschen Literatur seit Opitz, für den von Goethe ganz zu Unrecht karikierten Leipziger Professor Johann Christoph Gottsched (1700–1766), und für den größten deutschen Sprachgelehrten des 18. Jahrhunderts, für Johann Christoph Adelung (1732–1806).

2. Gottsched: Böhme im Fadenkreuz des Wolffianismus Die bei Gottsched und in seinem Umkreis sichtbare Auseinandersetzung mit Böhme und den Böhmisten gehörte zu einem breit angelegten, Wissenschaftskonzepte, moralische Leitbilder, Literatur, Dichtung und sprachliches Verhalten insgesamt betreffenden Feldzug. Davon betroffen waren die galante Komplimentierkultur, der spätbarocke Stilschwulst und Bildgebrauch, ›unvernünftige‹ Gattungen wie die Oper, aber auch Berufungen auf das religiös oder poetisch ›Wunderbare‹. Theologisches Denken, biblische Exegese und die Formen des erbaulichen Schrifttums genossen keinen privilegierten Status mehr, sondern hatten sich, wenn nicht ignoriert, den universalen Prinzipien der vernunftgeleiteten Kritik zu unterwerfen.31 Zwar hatte Gottsched 1725 in einer leidenschaftlichen Rede gegen den »verderblichen Religionseifer« für interkonfessionelle Toleranz

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Swedenborgs? In: Kant und Swedenborg. Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis. Hrsg. v. dems. Tübingen 2008, 35–98, hier: 95 f. Dazu im weiteren Umblick Wilhelm Kühlmann: Frühaufklärung und Barock. Traditionsbruch – Rückgriff – Kontinuität. In: Europäische Barockrezeption. In Verbindung mit Ferdinand van Ingen, Wilhelm Kühlmann u. Wolfgang Weiß hrsg. v. Klaus Garber. 2 Tle./Bde. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 20), Tl./Bd. 1, 194–214; einige Materialien und Teile dieser Studie sind hier von mir benutzt. – Gottscheds Orientierung an Wolff, über den er eine Historische Lobschrift (1755) publizierte, ist in der älteren Forschung (Birke, Gaede) wie auch von Gunter Grimm im Einzelnen nachgewiesen; vgl. Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus zur Frühaufklärung. Tübingen 1983 (Studien zur deutschen Literatur 75), bes. 620–743; ders.: Christian Wolff und die deutsche Literatur der Frühaufklärung. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung (Anm. 28), Tl. 1, 221–245; für die Position Gottscheds in den theologischen und philosophischen Auseinandersetzungen sehr erhellend Detlef Döring: Der Wolffianismus in Leipzig. Anhänger und Gegner. In: Gerlach (Anm. 28), 51–76; wichtig für Gottsched nun auch Johannes Bronisch: Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus. Berlin/New York 2010 (Frühe Neuzeit 147).

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plädiert,32 doch gegen den spiritualistischen Pietismus – damit gemeint waren gewiss auch Hallenser Theologen – zog er wenige Jahre später in seiner akademischen Rede Zum Lobe der Weltweisheit (1728) eine scharfe Grenze. Hier wandte er sich gegen die, welche die »Lehren der menschlichen Weltweisheit mit Schimpfworten angreifen«, »schwärmende Köpfe«:33 die sich fälschlich göttlicher Eingebung rühmen, und überall von einer himmlischen Weisheit pralen. O! daß dieses diejenigen hören möchten, die sichs für einen Schimpf achten, etwas gelernt zu haben; die einen gescheiden Kopf für einen Höllenbrand ausgeben, und von einem sogenannten innern Lichte trunken, die von ihnen so betitelte Weisheit dieser Welt, mit stolzen Blicken verachten. O daß sie, sage ich, dieses anhören, und voller Schamröthe daraus erkennen möchten, wie wenig man nach ihren Rasereyen frage! […] Wir freuen uns vielmehr […] mit allem Rechte, dass dieser berühmte Sitz der Musen mit einer so weisheithassenden Pest bisher nicht angesteckt worden.

Den Tempel der neuen Weltweisheit galt es energisch zu säubern, weil es nicht nur um Wahrheiten und epistemologische Verirrungen, sondern auch um fragwürdiges, um abweichendes Verhalten innerhalb der moralisch disziplinierten Zivilgesellschaft bürgerlicher Untertanen ging. Das Stichwort des »Schwärmertums« paart sich schon hier mit dem Verdikt des »Aberglaubens«,34 ohne Bemühungen um diesbezügliche Trennschärfe,35 wie wir sie etwa im Werk Shaftesburys und David Humes studieren können:36 Weg derohalben aus dem Inbegriffe der Weltweisheit mit allem müssigen und unverständlichen Geschwätze, dessen Erlernung weder den Kopf aufräumet, noch zur Verbesserung des Wandels das geringste beyträgt. Weg auch mit der so berufenen Feuerphilosophie [d. i. Alchemie], der Tochter des Aberglaubens, die die Natur mit Maulwurfsaugen ansieht, und […] ganz recht eine rasende Weisheit zu nennen ist. Die wahre Weltweisheit, von der wir reden, besteht wahrlich nicht in der schmutzigen Kunst von Verwandlung der Metalle; oder in einer übelverbundenen Reihe künstlich verwirrter Träume. Diejenige Philosophie, die wir anpreisen, und die wir unseres Fleißes nicht unwürdig erachten sollen, die muß uns eifrig machen, nach der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechtes zu streben, dieselbe zu befördern, ja wirklich zuwege zu bringen.

In solchen Äußerungen, deren polemische Technik genauer zu studieren wäre, klingt zwar Böhmistisches mehrfach an, doch wird klar, was die Vorträge dieser Tagung weiter differenzieren werden. Den Spuren der Böhme-Rezeption nachzugehen, hat katalysatorische Zwecke und Effekte. Denn damit wird, oft im Licht 32

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Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. P. M. Mitchell. Neunter Bd. Erster und zweiter Tl. [2 Bde.] Gesammelte Reden bearb. v. Rosemary Scholl. Berlin/New York 1976, hier Tl./Bd. IX/2, 456–464. Johann Christoph Gottsched, ebd., 398–413, hier: 401. Dazu umfassend Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992 (Studien zur Deutschen Literatur 119). Dazu Norbert Hinske (Hrsg.): Die Aufklärung und die Schwärmer. Hamburg 1988 (Aufklärung 3, 1), hier (7–28) Lothar Kreimendahl: Humes Kritik an den Schwärmern und das Problem der »wahren Religion« in seiner Philosophie, sowie (29–48) Karl Tilmann Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung. ›Enthusiasm‹ im englischen Sprachgebrauch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Rede zum Lobe der Weltweisheit (Anm. 33), 400.

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der Gegner, eine sehr weitläufige geistig-literarische, vornehmlich separatistischpietistische Formation mit mancherlei spirituellen Allianzen freigelegt. Für diese Adressaten nahm das alchemo-hermetistische und theosophische Schrifttum auf dem Buchmarkt des 18. Jahrhunderts noch immer einen durchaus prominenten Platz ein.37 Manche Alchemica des späten 16. und des 17. Jahrhunderts wurden jetzt erst übersetzt, neubearbeitet oder nachgedruckt und auch in Reihen oder Zeitschriften einem breiten Publikum offeriert, ja manche der als Aufklärer geführten Autoren, wie etwa der ›Neologe‹ Johann Salomo Semler (1725–1791), zeigen bei näherem Hinsehen durchaus auch eine dem älteren Hermetismus zugewandte Seite.38 Indem Gottsched um die Monopolstellung seiner »Weltweisheit«39 kämpft, fällt vorwärtsweisendes Licht nicht nur auf die Hartnäckigkeit der, im weiteren Sinne, theosophischen und hermetischen Spekulation, sondern auch auf weit ausstrahlende Kontroversen und komplizierte geistige Lagerungen: auf die Sphären der Gold- und Rosenkreuzer,40 auf die von den Berliner Aufklärern aufgeheizte Diskussion um Cagliostro,41 auf das Weltbild des jungen Goethe42 und auf Kontinuitäten, die über Louis Claude de Saint Martin (1743–1803), den zur Theosophie bekehrten Straßburger Girondisten Friedrich-Rudolph Salzmann (1749–1821)43 und andere bis weit ins Schrifttum der Romantik, bis hin zu Franz Baader (1765–184144 und Schelling, zu verfolgen sind. Jakob Böhme wird, dann 37

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Zugänge bietet der Sammelband: Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Hrsg. v. Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarb. v. Andre Rudolph. Tübingen 2008 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 37). Einige Hinweise darauf bei Wilhelm Kühlmann: Der ›Hermetismus‹ als literarische Formation. Grundzüge seiner Rezeption in Deutschland. In: Scientia Poetica 3 (1999), 145–157, bes. 150 f.; exemplarische Studien bieten Christian Soboth: Die Alchimie auf dem Abtritt – Johann Salomo Semler und die hermetische Kehrseite der Neologie. In: Hermetik (2002, Anm. 4), 67–100; Peter Hanns Reill: Religion, Theology, and the Hermetic Imagination in the Late German Enlightenment: The Case of Johann Salomo Semler. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis (Anm. 5), 219–234, sowie ebd., 337–396: Martin Mulsow: Pythagoreer und Wolffianer. Zu den Formationsbedingungen vernünftiger Hermetik und gelehrter ›Esoterik‹ im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Im Nachdruck vorliegend J. C. Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit. Darinn alle Philosophischen Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden […]. Leipzig 1733. ND Frankfurt a. M. 1965. Dazu Horst Möller: Die Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer antiaufklärerischen Geheimgesellschaft. In: Geheime Gesellschaften. Hrsg. v. Peter Christian Ludz. Heidelberg 1979 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung V/1), 153–202. Dazu der Sammelband: Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus. Hrsg. v. Klaus H. Kiefer. München 1991, sowie Wilhelm Kühlmann: Cagliostro in Mitau, Elisa von der Recke und Friedrich Nicolai – Motive und Kontexte einer rationalistischen Selbstaufklärung (1779–1787). In: Aufklärer im Baltikum. Europäischer Kontext und regionale Besonderheiten. Hrsg. v. Ulrich Kronauer. Heidelberg 2011 (Akademiekonferenzen 12), 115–132. Maßgeblich und unerreicht weiterhin Rolf Christian Zimmermann. Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Erster Band. Elemente und Fundamente. München 1969. Zweiter Band. Interpretation und Dokumentation. Ebd. 1979, hier zu Böhme jeweils passim (s. Register!). Dazu Jules Keller: Le théosoph alsacien Frédéric-Rodolphe Saltzmann et les milieux spirituels de son temps. Bern 1985. Baaders Weg zu Böhme führte über Saint-Martin. Er wollte einzelne Schriften Böhmes, darunter das Mysterium Magnum mit Kommentaren herausgeben und besaß fast alle älte-

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auch bei Dichtern wie Novalis und Tieck,45 in diesen Strömungen präsent bleiben. Das vorgebliche Jahrhundert der Aufklärung präsentiert sich dergestalt als ein sehr zerklüftetes literarisches Terrain, dessen Pluralisierungsdynamik schlichten Periodisierungsversuchen erheblichen Widerstand bietet. Gerade im Blick auf Böhme offenbarte Gottscheds Wohlfahrtsdiktatur der Vernunft schon bald ihre epistemologische und sprachkritische Seite. Bereits in der weitgehend von ihm geschriebenen frühen Moralischen Wochenschrift, den Vernünftigen Tadlerinnen von 1725/26, gerieten Böhmes Aurora und die ›Dunkelheit‹ ihrer bildlichen Chiffren in der Frage nach Art und Grenzen des ›sinnreichen‹ Metapherngebrauches ins kritische Visier: Böhmes Formulierung »die Hitze zündet in der Erde die süsse Qualität des Wassers […]« fällt dem Gelächter, der paraphrastischen Ironie und der Verständnissperre moderner Weltweisheit anheim: »Wer hat das sein Lebtag gesehen? […] Wie geht das zu?«46 Es ist bald so, als wenn ich sagte, dass die blaue, rothe und gelbe Farbe eine Discantstimme bekämen. Nun können die Qualitäten sehen, und in dem Sehen steiget eine durch die andre. Ohne Zweifel mußten sie das Gesicht haben, damit sie in dem vielen Steigen nicht den Hals brechen, oder sich verirren möchten. Endlich approbiren sie einander, und kosten in dem Sehen der andern Schärfe. Ohne Zweifel müssen sie die Zungen in den Augen haben. Wer das versteht, der sey so gut und sage mirs. Und daraus entsteht der Geschmack. Es ist ein großes Wunder, dass nicht bereits alle Naturforscher diese wunderwürdige Erklärung des Geschmacks angenommen haben. […]. Es ist wahr, dergleichen unbegreifliche Worte, als diese aus Jacob Böhmen gewesen, finde ich so leicht nirgends in einem Poeten oder Redner: allein zuweilen kommen sie denselben doch ziemlich nahe.

So erscheint der Text des theologisch dilettierenden Schuhmachers als das Modell einer verpönten synästhetischen Poesie und als groteske Entartung jener »Nachdenken verursachenden« Schreibart, die Gottsched im selben Kapitel bei Autoren wie Canitz durchaus zu würdigen weiß. Indem Gottsched den Bildgebrauch for-

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ren Drucke Böhmes und die vieler Böhmisten; dazu erhellend, auch zum Forschungsstand, Friedhelm Kemp: Verzeichnis des nachweisbaren Restbestandes der Bibliothek Franz von Baaders (libri cum notis manuscriptis). In: VARIA ANTIQVARIA. Festschrift für Karl Hartung zum 80. Geburtstag. München 1994, 63–78. Wichtig nach wie vor: Hans Grassl: Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte. München 1968; zum weiteren Umkreis s. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin – De Maistre – Kleuker – Baader. Berlin 2004 (zu Böhme s. Register). Vgl. exemplarisch Wolfgang Feilchenfeld: Der Einfluß Jakob Böhmes auf Novalis. Berlin 1922, sowie Edwin Lüer: Aurum und Aurora. Ludwig Tiecks »Runenberg« und Jakob Böhme. Heidelberg 1997 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3./151). »Die Vernünfftigen Tadlerinnen«. Halle/Leipzig 1725/26; hier XXXVII. Stück, den 12. Sept. 1725, hier zit. n. der 3. Auflage. Hamburg 1748, 324 f.; vgl. Ekkehard Gühne: Gottscheds Literaturkritik in den »Vernünfftigen Tadlerinnen« (1725/26). Stuttgart 1978 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 48), 89, 245; instruktiv zu Gottscheds analoger Kritik der alchemo-hermetischen Bildersprache ist seine Besprechung eines alchemomedizinischen Werkes (Unterweisung zur wahren Universalmedizin, 1725), herausgegeben von Friedrich RothScholz, dem Herausgeber des Deutschen Theatrum Chemicum und produktiven alchemohermetischen Publizisten des frühen 18. Jahrhunderts, in Gottscheds Zeitschrift Der Biedermann (Leipzig 1727–1729). ND. hrsg. v. Wolfgang Martens. Stuttgart 1975, hier Nr. 70 (6. September 1728), 77–80.

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mal der logischen Urteilskraft und materiell der empirisch überprüfbaren Wahrheit unterstellt, verwandelt sich das hermetische Idiom der christlichen Naturspekulation in eine fremde ›obscuritas‹, deren Attraktivität nur noch fassungslos konstatiert werden kann. So auch im XV. Hauptstück (»Von der Schreibart, ihren Fehlern und Tugenden«) von Gottscheds weitverbreiteter Ausführlichen Redekunst (5. Auflage 1759). Hier wird aus Böhmes Signaturentraktat mit sicherer Hand eine in der Tat besonders krause Stelle angeführt, in der sich astromythische und alchemische Bildlichkeit, immer wieder unterfüttert mit der Paracelsischen Tria-Prima-Lehre (Sal, Sulphur, Mercurius) und der nur Böhme zuzuschreibenden Nomenklatur (»Quall« und »Schrack«) auf intrikate Manier verschränkt:47 Andere Arten der Undeutlichkeit entstehen aus fremden Wörtern, die man auf eine seltsame Art durch einander menget; oder auch aus bekannten, die in einer fremden Bedeutung genommen werden. Hierinn sind sonderlich die mystischen Scribenten, und ihre Brüder, die Goldmacher, große Meister: die oft so schreiben, daß es keine menschliche Vernunft erreichen kann, was sie haben wollen. Das seltsamste ist, daß diese Meister der Dunkelheit, noch von ihren Anhängern für hocherleuchtete Männer gehalten worden sind. Z. E. Jacob Böhme, der weil[and] begeisterte Schuster in Görlitz, schreibt auf der 2255 S. im Buche DE SIGNATURA RERUM c. 8. §. 22. um das Wachsthum der Pflanzen zu erklären, also: Also dringet die äußere Sonne in die Sonne ins Kraut, und die innere Sonne dringet in die äußere, und ist ein eitel Geschmack und Liebhaben, eine Essenz die andre: Saturnus macht sauer, Jupiter macht lieblichen Geschmack, Mars macht bitter von seiner peinlichen Art, Venus macht süsse, Mercurius unterscheidet den Geschmack; Luna fassets in ihren Sack und brütets; denn sie ist irdischer und himmlischer Eigenschaft, und giebt ihnen das MENSTRUUM, darinn die Tinctur liegt. Also ists ein Treiben im Geschmacke, jede Gestalt eilet dem süssen Wasser und der Sonne nach: Jupiter ist freundlich, und geht mit der Liebebegierde oben aus, im süssen Quallwasser; darinnen wütet Mars, und denket, er sey Herr im Hause, weil er den Feuergeist im Sulphur führet. Dessen erschrickt Mercurius, dass ihm Mars Unruh machet, und Saturnus machet den Schrack nach seiner strengen Impreßion leidlich, das sind die Knoten am Halme: und ist der Schrack salnitrisch nach der dritten Gestalt, in der ersten Impression zum Geistleben, als in der Angstgestalt, davon der Sulphur urständet; und im Schrack gehet Mercurius im Salniter auf die Seite, und nimmt in sich mit die Venus, als die Liebebegierde, davon wachsen Zweige und Aeste am Halme, Stengel oder Bäume, und was dann ist; Kräuter, Bäume oder Halmen, und ist jeder Ast alsdann gleich dem ganzen Gewächse.

Nicht erst Lessing wechselte in seinen Kontroversen vom Journalismus auf die Bühne, sondern bereits Gottsched, genauer: seine literarisch höchst produktive Ehefrau Luise Adelgunde Victorie, geb. Kulmus (1713–1762). Sie besaß die große zweibändige Hamburger Böhme-Ausgabe von 1715 und übergab sie 1735 der Bibliothek der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig.48 Genau zu dieser 47

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Johann Christoph Gottsched: Akademische Redekunst. Ausgewählte Werke. Hrsg. v. P. M. Mitchell. Siebenter Bd. Erster Tl. Berlin/New York 1975, 365 f. Böhmes Text ist mit den nötigen Erläuterungen nachzulesen in: Jacob Böhme: Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 6), 507–791 mit dem Kommentar 1016–1144; die von Gottsched zitierte Stelle hier: 608. Bibliotheca Societatis Teutonicae Saeculi XVI-XVIII. Katalog der Büchersammlung der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. […]. Mit einem Vorwort von Dietmar Debes. 2 Bde. Leipzig 1971, hier Bd. 1, 74–76 mit Verweis auf einen handschriftlichen Eintrag. Zu diesen und anderen (auch theologisch einschlägigen) Schenkungen der Gottschedin s. Detlef

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Zeit wählte sie sich eine französische, gegen den augustinischen Jansenismus gerichtete Komödie aus, um in deren Bearbeitung unter dem Titel Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736) das »fanatische Geschmeiss« in Deutschland (darunter besonders die Königsberger und Hallenser Pietisten) dem satirischen Verlachen preiszugeben.49 Die Vorrede des fiktiven Herausgebers, hinter der sich wohl Gottsched verbirgt, rekapituliert, mit welcher Erfolglosigkeit die akademische Theologie seit langem gegen die »mystischen Fantasien« zu Felde gezogen sei. Die Bühnensatire setzt offenbar diesen Kampf mit anderen Waffen fort, und hier wie auch sonst im verwandten Schrifttum des Jahrhunderts spielt es keine Rolle mehr, dass sich gegen die »Fanatiker«, hier vor allem weiblicher Façon, die religiöse Orthodoxie, die ja ihrerseits religiöse Erfahrung längst katechetisch rationalisiert hatte, mit der Wolff’schen Weltweisheit in einer Front berufen ließ (aus der Vorrede, 7): Ist es etwa eine Sünde, lächerliche Leute auszulachen? Warum haben sie in unzehlichen Schrifften sich selbst der klugen Welt zum Gelächter gemacht? Man hat lange genug ernsthafft mit diesen Leuten gestritten. Aber was hats geholffen? Sie sind selber dadurch in ihrem Wahne bestärkt worden, als ob ihre Neuerungen und Mystische Fantasien was recht wichtiges seyn müssten: Indem sich auch die grössten GOttes-Gelehrten, ja wohl gantze Theologische Facultäten die Mühe gegeben, wider sie zu Felde zu ziehen. In diesem Krieg aber ist es gegangen, wie dort bey dem Drachen in der Fabel, dem an statt eines abgehauenen Kopffs allemal drey andere wieder wuchsen.

Theologische und anthropologische Provokationen, die auch durch einen geistigen »Krieg« nicht auszumerzen sind, äußern sich in verschieden Maximen des Denkens und Sprechens, damit auch in ganz verschiedenen literarischen Horizonten. Mit genialem Griff führt die Gottschedin in einer episodischen Szene (IV, 6) einen Bücherkrämer vor, der die Gruppe ›schwärmerisch‹ bewegter Frauen mit sprechendem Namen (Frau Glaubeleichthin, Frau Zankenheimin, Frau Seuffzerin) bedient. So entsteht eine parodistisch instrumentalisierte lange Liste frommer Literatur, deren korrekt wiedergegebene Titel allerdings sehr genau dem zeitgenössischen Buchmarkt entlehnt sind. Dem Francke’schen Pietismus in Halle gilt bleibender Widerwille, doch ist auch genuin Böhmistisches vertreten: mit Jane Leade und Johann Konrad Dippel, um dessen alchemische »arcana« sich zeitweise übrigens der später als Atheist verschriene Johann Christian Edelmann

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Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 70), bes. 182. Zit. im Folgenden nach Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im FischbeinRocke. Komödie. Hrsg. v. Wolfgang Martens. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1996. Kurz darauf (1739) nahm die Gottschedin anonym in einer satirischen »Horaz-Predigt« eindeutig Stellung im Streit zwischen den Wolffianern und Orthodoxen; dazu erhellend, auch zum weiteren Kontext, Andres Strassberger: »Auf-Klärung« durch Satire? Beobachtungen zu Form und Gegenstand einer satirischen Predigt der Luise Adelgunde Victoria Gottsched. In: Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen »Umformung des Christlichen«. Hrsg. v. Albrecht Beutel u. Volker Leppin. Leipzig 2004, 59–80.

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(1698–1767) bemühte,50 aber auch mit Gottfried Arnold und heute eher unbekannten Autoren der »philadelphischen« Bewegung (102–109). Den Gegenpart der ›Schwärmer‹ repräsentiert in der Komödie der »redliche« und »verständige Herr[ ] Wackermann, der nur klug und vernünfftig redet« (S.18). Die frommen Damen erweisen sich in seinen Augen als unfähige Störenfriede der bürgerlicher Ordnung: »Das Gesinde kriegt keinen Lohn; die Töchter werden nicht versorgt; ihr Haus ist der allgemeine Sammelplatz von den närrischsten Schmieralien und Leuten die nur in der Stadt sind« (27). Unüberhörbar werden auf der Bühne nach wie vor auch jene auf die Kämpfe der Reformationszeit zurückweisenden Diagnosen formuliert, die geistliche Absonderung zugleich mit moralischem Tiefstand und einem gefährlichen bürgerlichen Ungehorsam identifizierten – ein Befund, der sich literarisch sehr wohl auf die von Böhme über Kuhlmann bis Arnold reichenden harten Attacken wider das sündige »Babel« der unchristlichen Welt berufen konnte, oft auch auf chiliastische Erwartungen, mit denen später der Züricher Professor für Sittenlehre und Naturrecht Hans Heinrich Corrodi (1752–1793) in seiner Kritischen Geschichte des Chiliasmus (Drei Teile. Frankfurt a. M./Leipzig 1781–1783) abrechnete.51 Wackermanns Komödienempörung wirft darauf ein bedenkenswertes Schlaglicht (139 f.): Mein Gott! der Betrug, die Gleißnerey, die Lust zur Sectirerey, die Bosheit, die Wiederspenstigkeit gegen das geistliche und weltliche Regiment, ist bey den Leuten so sichtbar, daß man mit Fleiß muß blind seyn wollen; wenn man es nicht siehet. Wie viel elende Schmieralien, wie viel Heuchler, wie viel verborgene Bösewichter, wie viel liederliche Kerl, die weder Sitten noch Religion haben, wie viel leichtfertige und liederliche Weiber giebt es nicht unter ihnen! Das begreiffe ich aber nicht, wie sich auch diejenigen Leute von ihnen können fangen lassen, welche eine gute redliche Absicht, ein aufrichtiges Gemüthe, eine Liebe zum Vaterlande haben, welche Gott und ihrem Könige treu sind?

Wurde im engsten Umkreis von Fräulein Kulmus, bald Frau Gottsched, Böhme gelesen? Darauf scheint der erwähnte Besitz der Böhme-Ausgabe von 1715 (dazu s. o.) sowie ein Brief an Gottsched vom 21. Oktober 1734 hinzudeuten, in dem der Wechsel von Lektürepräferenzen angedeutet wird: von Jakob Böhme zur neueren französischen Philosophie und zu den Liebesverhältnissen Augusts des Starken:52

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Vgl. das Kapitel »Edelmann will nach Herrnhut gehen, und wie Dippel ein Chymist werden, zerfällt aber mit dem Hrn. Grafen von Zinzendorf und schreibet Christus und Belial.« In: Johann Christian Edelmann: Selbstbiographie. Faksimile-Neudruck der von C. R. W. Klose veranstalteten Ausgabe Berlin 1849. Neu hrsg., komm. und mit einem Nachw. versehen von Bernd Neumann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 (Deutsche Autobiographien 1), 201–212; s. dazu den Beitrag von Kristine Hannak in diesem Band sowie im weiteren Kontext: Hermann E. Stockinger: Die hermetisch-esoterische Tradition unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse auf das Denken Johann Christian Edelmanns (1698–1767). Hildesheim u. a. 2004 (Philosophische Texte und Studien 73). Zu Corrodi s. Schings (Anm. 55), 406. Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Bd. 3: 1734–1735. Hrsg. u. bearb. v. Detlef Döring,

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Für die beyden Bücher danke ich Ihnen vorzüglich. Fontenelle ist mir sehr lieb, es ist ein schönes Werk. Das galante Sachsen hat so viel Reitz für meinen Bruder, und für eine meiner Bekannten, daß sie Tag und Nacht darinnen lesen. Jeder Zeile geben sie lauten Beyfall, und ich habe das Vergnügen, Ihnen Händel darüber zu machen Es ist auch wirklich keine geringe Veränderung, wenn ein Mädchen mit eben dem Eifer, als sie bisher Jacob Böhmen gelesen, nunmehro das galante Sachsen liest.

Trotz solcher Wendungen sah sich Gottsched in der vierten Auflage seiner Critischen Dichtkunst (1751) offenbar dazu bewogen, in seiner Auseinandersetzung mit den Schweizern Bodmer und Breitinger über die poetischen Lizenzen des ›Wunderbaren‹ (vornehmlich anhand von Miltons Paradise Lost) die Positionen seiner Widersacher immer noch mit einem warnendem Hinweis auf Jakob Böhme und dessen englischen Sympathisanten John Pordage (1608–1681)53 zu illustrieren:54 Was soll man also von denen denken, oder sagen, die uns auf gut miltonisch, mit der Geisterwelt, den Cherubim und Seraphim, den Teufeln aller Arten, oder den Feyen und Hexen plagen? die uns in allen diesen Dingen Geheimnisse der Religion vortragen, die über alle Vernunft, und folglich über alle Wahrscheinlichkeit sind? Dieses, daß sie uns die Sphäre der Dichtkunst über den menschlichen Begriff hinaus erstrecken, und sich alle Augenblick in die Gefahr begeben, wider die Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zu verstoßen. Denn nicht zu gedenken, daß es gottlos ist, die geoffenbarte Religion mit ihren abgeschmackten Erdichtungen zu erweitern, d. i. die Wahrheit mit Lügen zu verbrämen, und sie solchergestalt der heidnischen Mythologie gleich zu machen, die jeder Poet drehete und wendete wie er wollte: so sündigen solche Dichter auch wider die vernünftige Poesie selbst, die nicht für Schwärmer, sondern für gescheide Leser arbeitet. Jakob Böhme und Pordätsch mögen ihre Träume und Hirngeburten in die Religion mengen: kluge Dichter bleiben bey wahrscheinlichen, das ist, bey menschlichen und solchen Dingen, deren Wahrscheinlichkeit zu beurtheilen, nicht über die Gränzen unsrer Einsicht geht.

3. Adelung: Böhme in der historischen Galerie gemeingefährlicher Narren Ebenfalls im ›galanten‹ Leipzig, doch im Wesentlichen als rastlos produzierender Schreibtischgelehrter und Hagestolz wirkte der überragende Lexikograph und Sprachwissenschaftler Johann Christoph Adelung.55 Ohne Verfassernamen

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Rüdiger Otto u. Michael Schlott unter Mitarb. v. Franziska Menzel. Berlin/New York 2009, Nr. 95, 229–231, hier S.230. Zu ihm und seinem Umkreis s. Serge Hutin: Les Disciples Anglais de Jacob Boehme. Paris 1960. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 1751. ND Darmstadt 1982, 224. Zu Adelung s. die sprachwissenschaftlich orientierten Gesamtdarstellung von Margit Strohbach: Johann Christoph Adelung. Ein Beitrag zu seinem germanistischen Schaffen mit einer Bibliographie seines Gesamtwerkes. Berlin/New York 1984, sowie den Artikel im Bio-Bibliographisches Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts […]. Hrsg. v. Herbert E. Brekle u. a. Bd. 1. Tübingen 1992, 16–42. Zu Leben, Werk und der fast nur von sprachwissenschaftlicher Seite vorangetriebenen Forschung auch Kurt Gassen: Johann Christoph

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publizierte er in den Jahren 1785 bis 1789 ein bisher wenig beachtetes biographisches Sammelwerk in fünf Bänden zu sieben Teilen, das die Pathologie der religiös-›fanatischen‹ Gegenaufklärung bis weit zurück in die Frühe Neuzeit verfolgte. Dies nicht wie bei Colberg oder in der aufgeklärten Philosophie- und Literärgeschichte im Wesentlichen doxographisch bzw. bibliographisch,56 sondern in zwar historisch-kritisch angelegten, doch in vernichtender Parteilichkeit geschriebenen psychographischen Personenporträts. Das monumentale Opus präsentiert sich in äußerster Antithese zu pietistischen Biographien und biographischen Sammlungen,57 vor allem aber im Widerspruch zu Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie. Adelung wundert sich, in der Vorrede zum ›Siebenten Theil‹, darüber, dass die frommen Gottesfreunde »immer noch in einem besserem Lichte, als sie verdienen [erscheinen], welches zum Theil daher rühret, weil die meisten litterarischen Schriftsteller immer noch zu viel auf den Gottfried Arnold, den bekannten Busenfreund und Schutzherren aller Schwärmer und Fantasten, bauen.« Vorbei waren die Zeiten, in denen ein Thomasius seinen Studenten empfohlen hatte, Arnolds Werk zu erwerben, »und wenn sie das Geld dafür ihrem Munde absparen oder erbetteln sollten.«58 Bereits der Titel verströmt

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Adelung (1732–1806). In: Pommersche Lebensbilder. Dritter Band. Hrsg. v. Adolf Hofmeister u. Wilhelm Braun. Stettin 1939, 114–128; Hans Joachim Kussling: Art. »Adelung«. In: NDB 1 (1953), 63–65; dazu der Sammelband von Werner Bahner (Hrsg.): Sprache und Kulturentwicklung im Blickfeld der deutschen Spätaufklärung. Der Beitrag Johann Christoph Adelungs. Berlin 1984 (Abhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Kl. 70, 4); besonders zu Adelungs »Culturgeschichte« Herbert Kolb: Johann Christoph Adelung, Philologe und Schriftsteller in Leipzig. In: Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit. Hrsg. v. Wolfgang Martens. Heidelberg 1990 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 17), 247–265. Eine knappe Darstellung der Geschichte der menschlichen Narrheit bietet Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, 213–217; beiläufige Bemerkungen finden sich bei Wolfgang Promies: Die Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie. […] München 1966, 78 f., 100 f. u. ö. Zusammenfassend Bernd Naumann/Walter Dengler: Adelung, Johann Christoph. In: Killy/Kühlmann (Anm. 4), Bd. 1 (2008), 29–33. Ich verwende im Folgenden Formulierungen und Erkenntnisse meiner Studie: Biographische Methode und aufgeklärte Revision der Geschichte. Johann Christoph Adelungs Paracelsusbiographie. In: Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrast von Hohenheims im deutschen Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Hrsg. v. Joachim Telle. Stuttgart 1994 (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit 4), 541–556. Unter den Zeitgenossen durch 134, oft historisch weiter ausholende Rezensionen zu einschlägigen Publikationen besonders ergiebig und bisher kaum ausgeschöpft (immer wieder auch zu den Quäkern/»Quackern«, auch zu Böhme und den Böhmisten) Michael Lilienthal: Fortgesetzte Theologische Bibliothek. Königsberg: Hartung 1744, hier 15. Abschnitt, 189–421 [sic!]: Die Streitigkeiten mit den Enthusiasten, Fanatiquen [sic!], Separatisten und falschen Mysticis; vorher schon Jacob Friedrich Reimann (unter anderem): Catalogus Bibliothecae theologicae. Hildesheim 1731; ferner Johann Georg Walch(ius): Bibliotheca Theologica Selecta. Bde. 1–4. Jena 1757–65, hier: Bd. 2, Kapitel V, Sectio XII, bes. zu Böhme, den Böhmisten und ihren orthodoxen Gegnern § XXV-XXVII, 80–96. Man denke an Johan Heinrich Reitz (1655–1720): Historie der Wiedergebohrnen […]. Bd. 1–3. Offenbach 1698–1701, Bd. 4 u. 5. Idstein 1716–1717. Hrsg. v. Hans-Jürgen Schrader. 4 Bde. Tübingen 1982; zu Reitz s. den Artikel von Rudolf Mohr und der Redaktion in Killy/Kühlmann (Anm. 4), Bd. 9 (2010), 548 f. Nach Hermann Dörries: Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold. Göttingen 1963, 205.

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geradezu Empörung und Abscheu: Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen= und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden. Die Vorrede zu Bd./Tl. 1 deutet an, dass Adelung im historischen Rückblick auf ein vielgestaltiges Narrenspital den Typus eines Denkens interniert, vor dem sein Publikum gerade deshalb wissenschaftlich »verwahrt werden soll«, weil es offensichtlich seinen gleichsam epidemischen Reiz noch nicht verloren hat: Ich liefere dem Publicum hier eine Sammlung von Lebensbeschreibungen solcher Menschen, welche ihr ganzes Leben ein Geschäft daraus machten wider Philosophie und gesunde Vernunft zu handeln, und sich doch dabey große Philosophen zu seyn dünken, oder vielmehr, welche die Philosophie gerade in diesen Unsinn setzten. Ich nenne sie Unholden, weil ich kein schicklicheres Wort kenne, welches das allgemeine der mannigfaltigen Thoren dieser Art besser ausdrückte, als eben dieses. Ich entlehne sie vorzüglich aus der gelehrten Classe, weil der Contrast hier am auffallendsten ist und die Wissenschaften jeden, der nicht ganz verrückt ist, vor solchen Ausschweifungen verwahren solten.

»Unhold«, das war nach älterem Sprachgebrauch die Bezeichnung für die Hexe oder den Hexenmeister. Adelungs Kompendium erfüllte so präventiv jenen Zweck, dem einstmals der Scheiterhaufen diente. Der Terror der »gesunden Vernunft« offenbart sich als Mittel intellektueller Hygiene und sozialer Therapie. Feuer und Schwert der Denk- und Sittenwächter von einst haben sich freilich in den Federkiel verwandelt. In der Nachfolge der älteren, von Thomasius inspirierten Vorurteils- und Gelehrtenkritik wirkte keinesfalls befremdlich, was Adelungs Biographien ein spezifisches Schreibkolorit verleiht: die Konzentration auf den psychischen wie sozialen Habitus von Personen. Adelungs Biographien sind kritisch, insofern sie zugleich moralisch werten, denn Irrtümer sind für ihn charakterologisch und pathologisch, ja geradezu psychosomatisch begründet und nach Maßgabe von Tugendhaltungen zu verurteilen, deren Missachtung Wahrheitserkenntnisse vereitelt. Das Wahre ist in der Kritik vergangener »Irrtümer« zu bestätigen und damit in seiner aktuellen Wirklichkeit und Wirksamkeit zu erhalten. Die darauf abzielende Geschichtsschreibung bleibt an individuelle Kritik gebunden, kann nicht anders als personalistisch vorgehen. Insofern ließen sich einige methodologische Verbindungen von Adelung sowohl zu Pierre Bayles Enzyklopädie wie auch zum Korpus jener ›Rettungen‹ ziehen, wie sie Lessing veröffentlichte. Das hyperorthodoxe und das der modernen ›Weltweisheit‹ verpflichtete, den Kritikanspruch der aufgeklärten Vernunft instrumentalisierende Böhme-Bild kamen dabei in methodologischen Teilbereichen zur Deckung, benutzten einen gemeinsamen Fundus von Verdikten und trafen sich in der Verurteilung von Außenseitern, die sich nicht an systematisierbare Regeln des Denkens und des Sprechens hielten. Das wilde Denken und Sprechen der religiösen ›Schwärmer‹ wurde so zum Syndrom und Symptom einer Gefahr, die in provozierender Willkür Kontrollen des Verhaltens missachtete. Im Namen einer wohlmeinenden Erziehungsdiktatur präsentiert Adelung eine quer durch die Epochen reichende Narrengalerie, die in das historiographische Dämmerlicht eines immer neuen Fanatismus getaucht ist. Offensichtlich wird

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gern in Kauf genommen, dass historische Konturen zu einem Pandämonium gleichförmiger Verirrungen eingeebnet werden. Dass Jakob Böhme (2, 220 ff.) als »Patriarch des Schwärmertums« fungiert, kann nicht verwundern. Adelungs Schärfe wird nicht dadurch gemildert, dass manche seiner »Narren« ihre Überzeugung bitter büßen mussten. Es verschlägt wenig, dass ein Quirinus Kuhlmann (5, 3 ff.) in Moskau verbrannt wurde, dass Giordano Bruno (1, 241 ff.) auf dem Scheiterhaufen endete, dass Sebastian Franck (2, 11 ff.) und Jan Amos Comenius (1, S. 196 ff.) Vertreibung und Not erduldeten oder die Gebeine des »Propheten« David Joris (3, S. 336 ff.) aus dem Grab gezerrt wurden. Während der ›vernünftige‹ Anti-Klerikalismus des 19. Jahrhunderts Giordano Bruno ein Denkmal setzte, macht Adelung klar, dass für sein Verständnis von Aufklärung das Postulat individueller Denkfreiheit kein Interesse verdient, ja argumentativ nicht einmal am Rande in den Blick gerät. ›Philosophen‹ und ›Goldmacher‹, ›Chiliasten‹, ›Charlatane‹, ›Sterndeuter‹ und religiöse Nonkonformisten aller Art bilden eine gemeinsame Fraktion des Unheils mit Sektierern wie Johann Conrad Dippel (1, 314 ff.) und Johann Georg Gichtel (7, 164 ff.), erst recht mit der quietistischen Frömmigkeit der Antoinette Bourignon (5, 245 ff.) und Jeanne Marie de Guyon (5, 122 ff.), deren sinnverwirrende Ausstrahlung Karl Philipp Moritz in seinem Roman Anton Reiser (1785–1790) zu schildern wusste, ja in das Syndrom seines eigenen Leidens verflocht.59 Und wie die konfessionelle Orthodoxie entdeckte auch Adelung in der religiösen ›Schwärmerei‹ den Keim des ›Atheismus‹ und der Unzucht: Hadrian Beverland (1, 20 ff.) tritt als »Wollüstling« auf und gehört so zur Verwandtschaft der »Freigeister«, »Religionsspötter« und »Querköpfe« vom Schlage eines Johann Christian Edelmann (1, 46 ff.), Matthias Knutzen (6, 207 ff.) oder gar Pietro Aretino (3, 168 ff.). Pathologisch gestörte Phantasie und eine verderbliche Melancholie, die in falscher Lektüre hypochondrische Anlagen krankhaft verstärkt, weisen ursächlich auf ein somatisch grundiertes Sündenregister, das im Grunde nur eine Beurteilungskategorie variiert und strapaziert: die Kongruenz ›gesunden‹ Denkens und moralischer Konformität im Dienste eines wohl kalkulierten und lebenstüchtigen Alltagsverhaltens. Ausdrücklich macht Adelung seine Leser darauf aufmerksam, dass im Rückblick auf die Reihe seiner Narren keineswegs eine abschließende historische Bilanz gezogen werden soll. Das Werk kann »noch lange fortgesetzt werden«, ja die Sammlung verspricht in »der Folge noch merkwürdiger« zu werden, »da ich Hoffnung habe, von manchen neuern Thoren dieser Art bisher ganz unbekannte Nachrichten zu erhalten« (Vorrede, 1. Bd.). Der Aufklärungsjournalismus zielte auch in der historischen Rekapitulation auf seine Widersacher in der Gegenwart und beantwortete so auf seine Weise die Frage, die Moses Mendelssohn 1785 in der Berlinischen Monatsschrift aufwarf: »Soll man der einreißenden Schwärmerei durch Satyre oder durch äußerliche Verbindung entgegenarbeiten?«60 59 60

Böhme wird im Anton Reiser nicht erwähnt; dies nach dem Register in der historisch-kritischen Ausgabe, hrsg. v. Christof Wingertszahn. 2 Tle./Bde. Tübingen 2006. Nr. 175, Zweites Stück, 133–137; abgedruckt in Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Nach den Originaldrucken und Handschriften hrsg. v. G. B. Mendelssohn. Bd. III. Leipzig 1863. ND Hildesheim 1972, 413–415.

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Adelung investierte erstaunlich viel Zeit und Mühe in sein Werk. Denn treffsicher stellte er in der Vorrede zum ›Siebenten Theil‹ fest, »wie armselig und dürftig die Nachrichten von den allermeisten derjenigen Menschen sind, welche den Gegenstand dieses Werkes ausmachen«. In der Tat, die polyhistorische Arbeitsleistung Adelungs verdient Respekt, und, bedenkt man Umfang und Weite seines Œuvres, wird der Hinweis auf die abgesparten »Nebenstunden« sehr plausibel. Der Predigersohn aus einem Dorf bei Anklam (Vorpommern) ließ seit Ende der 1750er Jahre ohne gesicherte berufliche Position zahlreiche Publikationen und Übersetzungen zu historischen und geographischen Themen erscheinen, zu denen sich seit der Deutschen Sprachlehre (Berlin 1781) die mit Recht gerühmte Folge seiner sprachhistorischen, sprachkritischen und lexikographischen Werke gesellte. Unter dem Einfluss von Isaak Iselin und Johann Gottfried Herder wandte sich Adelung nicht der politischen, sondern ausdrücklich der »Culturgeschichte« zu.61 »Staats- und Kriegsbegebenheiten« erschienen ihm nur als Folgen und Epiphänomene von Veränderungen, die »aus der Cultur und ihrem Gange hergeleitet« werden müssen, somit nur als Teilaspekte einer »Universalgeschichte« gelten dürfen. Diese Kulturgeschichte ist für Adelung die Geschichte eines in Griechenland, in der Renaissance und in der modernen Aufklärung erreichbaren und erreichten Fortschritts, deren Gang aber unterbrochen werden kann: nicht nur im Mittelalter, nicht nur im religiösen Fanatismus, sondern auch im Anti-Rationalismus der Genie-Epoche, deren Exzesse sich auch in der neuen Verwilderung der Sprache niederschlagen. In seiner Böhme-Biographie (Zweyter Theil. Leipzig 1786, 220–255), die durch ein Verzeichnis von Böhmes Werken abgeschlossen wird, mustert Adelung zunächst sehr genau die verfügbaren älteren Informationen aus Lebensbeschreibungen und akademischen Dissertationen, kennt die Kette der Urteile und Nachrichten und setzt sich kritisch mit der fraglichen Echtheit dieses oder jenes Dokuments auseinander. Wie Böhme einzuordnen ist, erscheint dem Verfasser wie hundert Jahre vorher schon dem Theologen Colberg klar, nun auch in direkter Berufung (252) auf den Hamburger Theologen und Calov-Schüler Abraham Hinckelmann (1652–1695),62 in die Genealogie der auf Paracelsus zurückweisenden »Theosophie«, diese wiederum verstanden als ein letzthin pantheistisches (229), platonisch-kabbalistisches »Emanationssystem«, das auch von Weigel63 und dem 61

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Johann Christoph Adelung: Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts. Leipzig 1782; dazu neben Strohbach (Anm. 55), 97–100, und Kolb (Anm. 55), v. a. Karl-Ernst Sickel: Johann Christoph Adelung. Seine Persönlichkeit und seine Geschichtsauffassung. Leipzig 1933. Von ihm: Detectio fundamenti Böhmiani. Untersuchung und Widerlegung der Grund-Lehre, die in Jacob Böhmens Schrifften verhanden: worinnen unter andern der recht-gläubige Sinn der alten jüdischen Cabalae, wie auch der Ursprung alles Fanaticismi und Abgötterey der Welt entdecket wird. Hamburg 1693. Dazu im Zusammenhang der ›Gnosis-Angst in Wittenberg‹ und des gegen Thomasius und die Hallenser Pietisten gerichteten Schrifttums Martin Mulsow: Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg. In: 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft. Hrsg. v. Johann Anselm Steiger. Berlin/New York 2005 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 95), 81–111, bes. 83–92. Zu Weigel s. o. Anm. 7.

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rosenkreuzerisch bewegten Paracelsisten Robert Fludd (1574–1636)64 propagiert wurde, im Fall Böhmes von Esaias Stiefel (1561–1627)65 und Paul Nagel (gest. Ende November 1624)66 inspiriert erscheint und von Böhmes Medizinerfreunden und Mentoren, den Paracelsisten Balthasar Walther,67 Cornelius Weißner68 und Tobias Kober (1570–1625)69 geistig dominiert, dazu von einem Konventikel gestützt wurde, zu dem Franckenberg, der auch als Epigrammdichter bekannte Johann Theodor von Tschesch (1595–1649)70 sowie der Görlitzer Advokat und »Goldmacher« Johannes Rothe gehörten, der mit Franckenberg über die BöhmeSchriften aus dem Besitz M. von Enders korrespondierte (230 f.).71 Der Mythos des inspirierten Laien und Autodidakten wird von Adelung nicht ganz zu unrecht destruiert, einige diesbezügliche Böhme-Anekdoten nach den Gesetzen tatsächlicher Wahrscheinlichkeit als »Lügen« entweder Böhmes oder Franckenbergs herausgestellt. Dabei kann Adelung das Zugeständnis nicht unterdrücken, dass Böhme einen »tugendhaften Wandel« führte, sieht darin jedoch nur die Folge einer vom »inneren Licht« diktierten »Kasteyung« des Fleisches zugunsten einer vom »Christus in uns« träumenden Phantasie (»Einbildungskraft«), die »Vernunft und Verstand« verleugnet (221 f.): Das innere Licht, oder wie der Quaker und Mystiker es nennt, der Christus in uns, ist denn nichts anders als die Einbildungskraft, welche dem Schwärmer dieser Art die wahre göttliche Seele ist, dagegen Vernunft und Verstand Fähigkeiten der irdischen Seele sind, welche hier verläugnet werden müssen. Man siehet […], wie fruchtbar ein solches System für alle Arten des Aberglaubens seyn muß, und ich wüsste in der That keine Art der Schwärmerey, welche nicht daraus ihren Ursprung genommen hätte. Ich bemerke noch vorläufig, daß da nach diesem Lehrbegriffe das innere Licht nicht wirksam werden kann, wenn nicht das Fleisch kasteyet, und die irdische Seele mit allen ihren Begierden unterdrückt wird, die Schwärmer dieser Art gemeiniglich einen sehr tugendhaften und eingezogenen Wandel führen, welches denn viele für sie einnimmt, welche sonst ihren Träumen keinen Beyfall geben.

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Zu Fludd vgl. Stockinger (Anm. 50), 830–837, sowie zusammenfassend Antonio Clericuzio (sub verbo) in Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hrsg. v. Claus Priesner u. Karin Figala. München 1998, 139 f. Zu Stiefel s. Penman (2010, Anm. 17), 85–87 u. ö. Zu dem von Theologen vielbefehdeten Astrologen und Apokalyptiker im weiteren Umkreis des hermetistisch bewegten Fürsten August von Anhalt-Plötzkau s. den Artikel von Joachim Telle in Killy/Kühlmann (Anm. 4), Bd. 8 (2010), 493–495. Zu Walther s. o. Anm. 17. Zu Hinweisen auf seine Rolle im Zusammenhang der frühen Böhme-Überlieferung s. Jacob Böhmes Weg in die Welt (Anm. 25), passim (Register!). Böhmes Briefpartner Tobias Kober ist nicht identisch (wohl aber verwandt?) mit dem gleichnamigen Görlitzer Dichterarzt und Dramatiker (1570–1625, zu ihm Reimund B. Sdzuj in Killy/Kühlmann [Anm. 4], Bd. 6 [2009], 532 f.). Zu Böhmes Partner s. Jacob Böhmes Weg in die Welt (Anm. 25), passim (Register!) Von bzw. über ihn erschienen postum: Auffmunternde Gründe zur Lesung der Schrifften Jacob Boehmens […] nebst Johann Theodor von Tscheschs Leben. Frankfurt a. M./Leipzig 1731; zu Tschesch zusammenfassend Ewa Pietrzak (sub verbo) in Killy/Kühlmann (Anm. 4), Bd. 11 (2011), 623a-624a; zu seiner Korrespondenz mit Franckenberg s. Telle, Franckenberg, Briefe (Anm. 25), passim (Register!). Vgl. Telle, Franckenberg, Briefe (Anm. 25), 337, zu ihm auch: Jacob Böhmes Weg in die Welt (Anm. 25), passim (Register!).

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Nur wenige topologische Diskurse möchte ich aus Adelungs Böhme-Biographie herausheben: 1. Die Frage nach der psychischen und literarischen Aitiologie im Sinn der kausalen Bedingungen eines schwärmerischen Bewusstseins, das in Tagträumen gerade dem Vor- und Unbewussten Freiräume gestattet: Demnach war Böhme (226) »von Natur zur Schwermuth und Melancholie geneigt«, zudem durch ungesunde Lebensweise körperlich und geistig zerrüttet, »und da das mit seiner [beruflichen] Bestimmung verbundene Sitzen das Übel vermehrte, so that es auch seine gewöhnliche Wirkung« (226). Adelung stützt sich hier stillschweigend auf verbreitete Vorstellungen und Schriften zur gelehrten Lebensdiätetik72 und konstruiert ein sich verstärkendes Syndrom aus Selbstisolation, krankhafter psychosomatischer Veranlagung, falscher, das »Nerven-System« schwächender Lebensweise und der verderblichen, ohne Vorkenntnisse unternommenen Lektüre »dunkler« Bücher (227 f.): Da diese insgesammt in einem dunkelen bildlichen Style geschrieben sind, so strengte er sich außerordentlich an sie zu verstehen, und zerrüttete daher seinen ohnehin schwachen Kopf noch mehr, so wie das damit verbundene Sitzen die Hypochondrie vermehrte, und seine Gesundheit schwächte. Er besaß, wie alle Leute dieser Art, eine lebhafte Einbildungskraft, und diese nahm in dem Grade zu, in welchem sein Nerven-System geschwächt wurde. Die bildliche Schreibart der Bücher, welche er las, ohne die nöthigen Vorerkenntnisse zu haben, erhitzte und zerrüttete sie noch mehr; daher es ein halbes Wunder gewesen seyn würde, wenn er nicht Erscheinungen hätte haben sollen.

2. Indem Böhme mit dem englischen Non-Konformisten und Begründer der Quäker, dem Schuhmacher George Fox (1624–1691), verglichen wird (229 f.), lässt sich nach Adelung quasi naturgesetzlich schließen, dass »ähnliche Umstände immer ähnliche Wirkungen haben«. Unterschiede ergeben sich nur als Wirkung verschiedener politischer, nationaler und persönlicher Verhältnisse, wobei sich Böhme, gesteht Adelung zu, damit »begnügte, seine Träume durch Schriften und mündliche Unterredungen auf glimpfliche Art auszubreiten, ohne sich an der äußeren Verfassung der Kirche und des Staates zu vergreifen« (229 f.). Die doxographische Bilanz in der Synopse zwischen Böhme und Fox lautet (230): Böhm ergriff das ganze Emanations-System nach seinem ganzen Umfange; Fox hatte nur ein Stückchen davon erwischt, und war folglich in der Schwärmerey gegen jenen nur ein Stümper, ob er gleich das wenige, mit wahrer fanatischer Wuth anzuwenden und zu verbreiten suchte.

3. Böhmes Werke werden als Produkte einer Kollektivarbeit im Kreis der Paracelsusanhänger angesehen, letzthin als Ergebnis einer strategischen und religionspolitischen Manipulation, die aus Böhme den Strohmann und das Sprachrohr jener macht, die in dem Schuster den gesuchten und erwünschten göttlich inspirierten ›Theosophen‹ gefunden haben (232):

72

Vgl. Kapitel VI (»Der Arzt als Aufklärer«) im Werk von Martin Pott (Anm. 34), 337–412.

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Wilhelm Kühlmann

Böhms niedriger und ungelehrter Stand, war vorzüglich geschickt, den Werth ihrer vorgegebenen Weisheit zu erhöhen, und sie bey ihm von einer unmittelbaren göttlichen Erleuchtung herzuleiten, daher sie sich auch keine Mühe verdrießen ließen, ihm ihre Träume unterzuschieben, und einen vollständigen Narren aus ihm zu bilden. Man weiß, daß besonders Kober, Walther und Roth die meisten seiner Schriften vor dem Abdrucke in Händen hatten, und daran änderten was sie wollten. Auch die ungleiche Schreibart, die ganz verschiedenen Grundsätze die nicht selten vorkommenden Widersprüche beweisen, daß mehrer daran gearbeitet haben, so wie aus den vielen chymischen, alchymischen, medicinischen und kabbalistischen Kunstwörtern und Ideen hinlänglich erhellet, daß sie nicht aus dem Gehirne eines Schuhmachers hergeflossen seyn können.

4. Der Rolle des Görlitzer Hauptpastors Gregor Richter wird ausführlich gedacht, sogar mit Erwähnung privater Anekdoten und Auszügen aus Richters lateinischen Versinvektiven gegen Böhme aus dem Jahre 1623, »ein Denkmahl von der unbändigen Wuth dieses Mannes« (239–241). Von den drei Gedichten Richters wird ein spektakuläres, von Schimpf und Drohungen strotzendes parodistisches »Propempticon« wider den ›blasphemischen und verbrecherischen‹ Böhme abgedruckt (240 f.), das sich auf Böhmes »Entfernung von Görlitz bezieht«. »Da es«, so Adelung, »noch das glimpflichste [ist], und eben nicht lang, will ich es ganz hierher setzen« – ich zitiere die ersten sechs Verse: Gorlicium tandem te, sutor, pellit ab urbe, Et jubet ire illac, qua tua scripta valent. I propere, I procul hinc blasphemum os, atque scelestum: Qualia te manent experiere miser, Oedipus es, veluti quem terrae absumsit hiatus: Ne similis maneat te quoque poena, cave. […] Endlich vertreibt dich, Schuster, Görlitz aus der Stadt und lässt dich dorthin gehen, wo deine Schriften geschätzt werden. Geh schleunigst fort, verschwinde, blasphemisches und verbrecherisches Mundwerk! Du Elender wirst erfahren, was dich erwartet. Du bist ein Oedipus wie der, den der Schlund der Erde verschluckte, gib acht, dass auch dich nicht eine ähnliche Strafe erwartet!

Richters Diagnose wird nicht grundsätzlich beanstandet, wohl aber sein Verfahren, das aus dem friedlichen Schuster einen Märtyrer macht, denn der Pastor erscheint mit »dem Unfug, welchen er auf der Kanzel trieb« als »ein stolzer intoleranter und ungestümer Orthodox, der Böhme auf das Heftigste verfolgte, aber durch seinen Unverstand viel dazu beitrug, daß Böhm den Nahmen erlangte, welchen er wirklich bekommen hat.« Mit akribischer Heranziehung der Quellen untersucht Adelung anschließend (241–248) die Nachrichten von Böhmes Besuch in Dresden. Der Bericht über ein geistliches »Examen« wird als »erdichtet« angesehen (247), allenfalls diese oder jene, von dem »churfürstlichen Laboranten« Walther und dem Inspector Hinckelmann73 vermittelte Gespräche am Hofe für möglich gehalten. 73

Gemeint ist der am kurfürstlich-sächsischen Hof tätige Arztalchemiker Benedikt Hinckelmann, der von Böhme 1624 aufgesucht wurde.

Vernunftdiktatur und Sprachdiktatur

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Schon 1977 hat Hans-Jürgen Schings darauf hingewiesen,74 dass Adelungs Kompendium, das quasi seriellen Charakter annahm, ein zu seiner Zeit verbreitetes Schrifttum der Schwärmerkritik repräsentiert, dies allerdings mit einem umfassenden historiographischen und kritischen Anspruch, geschrieben in polemischer Distanz, doch angelegt als Summe einer nicht nur vergangenen, sondern durchaus weiterwirkenden intellektuellen und sozialpsychologischen Konfrontation. An der zeitlichen Schwelle der Romantik, in welcher Böhmes Name neuen Glanz gewinnen wird, schweifte Adelungs Blick im Versuch einer genauen Filiation der Anhänger und Gegner Böhmes über ein weites literarisches, oft noch recht dunkles Terrain. Nach Adelung »schleichen« Böhmes Schriften nach wie vor »in den mittlern und untern Classen häufig im finstern herum« (253),75 eine Behauptung, die zeitlich und regional zu differenzieren ist. Kurz vorher hatte er fassungslos, doch nüchtern konstatieren müssen (250): Alles, was zur Schwärmerey eingeweihet war, oder nur einen Hang dazu hatte, es sey gelehrt oder ungelehrt, bewunderte den Gottesmann und hielt ihn für einen göttlichen Propheten und den größten unter allen Philosophen der ältern und neuern Zeit. Daher ihn manche auch nur den deutschen Philosophen schlechthin nannten, welchen Nahmen ihm der Goldkoch Walther noch bey seinem Leben beylegte.

74 75

Schings (Anm. 55). Das gegenseitige Entleihen von kostspieligen Werken wie den Drucken Böhmes oder der Berleburger Bibel spielte gerade auf dem Land eine beträchtliche Rolle, dazu exemplarisch Karl J. R. Arndt: George Rapp’s Separatists 1700–1803. A Documentary History. Worcester/ Ma. 1989, 106, hier zit. n. Eberhard Fritz: Radikaler Pietismus in Württemberg. Religiöse Ideale im Konflikt mit gesellschaftlichen Autoritäten. Epfendorf a. N. 2003 (Quellen und Forschungen zur Württembergischen Kirchengeschichte 18), 269; in diesem Band passim zu Böhme (Register).

Register Nachfolgendes Register verzeichnet historische Personen (außer Jakob Böhme), einschließlich mythologischer, Pseudonyme sowie anonym erschienene oder nicht mehr zuschreibbare Werke. Rezente Personen sind nur aufgeführt, sofern sie im Haupttext Erwähnung oder Erörterung finden. Das Register wurde erstellt von Jost Eickmeyer in Zusammenarbeit mit Matthias Slunitschek. Abraham 13, 17, 483 Achaliab 584 Ackermann, Christian Gottlieb 390 Adelung, Johann Christoph 12, 371 f., 392 f., 579, 588, 595–603 Adler, Hans 552 f. Agricola, Georg 350 Albinus s. Weiß Albrecht, Wolfgang 561 Aletophilus s. Mayer, Johann Friedrich Alsted, Johann Heinrich 585 Am(m)ersbach, Heinrich 30, 287, 290 Ambrosius, Aurelius 342 Ammon, Christoph Friedrich 588 Amos 290 Anaximenes 571 Andreae, Jakob 70 Andreae, Johann Valentin 71, 184, 189, 194 Andreae, Michael 201, 202 Angela v. Foligno, Sl. 212, 488 Angelus Silesius s. Scheffler Anietzo, J.P.M.D. 480 Antognossi, Gerardus (Pseud.) 9 f., 30, 287 Anton Ulrich, Hzg. v. BraunschweigWolfenbüttel 418 Antonia, Przn. v. Württemberg 528 Antonius, Hl. 445 Apel, Karl Otto 553 Arcerius, Johannes 347 Aretino, Pietro 598 Aristobulos 342 Aristoteles (Ps.-) 338 Aristoteles v. Stagira 72, 85, 87, 226, 288, 486, 532 Arnald(us) v. Villanova 160, 173

Arndt, Johann 17, 24, 69, 70, 73, 80, 81, 82, 85, 90, 127, 169 f., 171, 173, 184, 191, 194, 201, 260, 263, 265, 269, 281, 283, 289, 525, 584 Arnold, Gottfried 7, 32, 68, 184, 196, 211, 225, 234, 241, 243–246, 247, 249, 250, 251, 252 f., 254 f., 256, 290, 300, 313 f., 315, 317, 325, 368, 388, 395, 396, 406, 407, 413, 419, 421, 424, 432, 435–449, 467, 580, 581, 594, 596 Arnoldi, Philipp 65 Artus 287 Ashkenazi, Joseph 302 Ashley-Cooper, Anthony, Dritter Earl of Shaftesbury 346 f., 470, 557, 589 Ashmole, Elias 222 Aslacus, Conrad 585 Asseburg, Rosamunde Juliane v. 225, 232, 233 Aufrichtige Anmerkungen uber die bißher erregte Strittigkeiten 438, 445 August I., Hzg. v. BraunschweigLüneburg 71 August, Fürst v. Anhalt-Plötzkau 58, 62, 600 Augustinus, Aurelius 246, 360, 363, 396, 413, 445, 469, 554 Auriga chemicus sive theosophiae palmarium 166 Ayn, Georg Heinrich 454 f.

Baader, Benedict Franz Xaver v. 21, 563, 590 f. Bachsmeier v. Regensbrun, Ulrich 198 Bacon, Francis, Baron v. Verulam, Vsct. v. Saint Albans 227, 382, 465, 467, 469 Baglivi, Giorgio 352, 514

606 Baier, Johann Wilhelm 414 Barton, Edward 53 Basedow, Johann Bernhard 556, 558 Bathurst, Ann 224 Baumann, Johann Friedrich 497 Baumgarten, Alexander Gottlieb 532 Baumgarten, Siegmund Jacob 496 Bayle, Pierre 209, 217, 467, 597 Becher, Johann Joachim 161 Becman, Christian 8, 11, 22, 24, 28 Bengel, Johann Albrecht 432 f., 514, 517, 518, 519, 525, 535, 536, 545 f. Benzenhöfer, Udo 69 Bergier, Nicolas-Sylvester (Abbé) 561 Bernardus Trevisanus 174 Bernhard v. Clairvaux 363, 367 Bernhard, Christian 58, 457, 458, 586 Bernhard, Johann Adam 470 f., 475 Bernier, François 491 Besold, Christoph 86 Bethel, Henrich 285 Betke, Heinrich 175, 176, 195, 196 f., 197, 202, 203, 456 Betke, Joachim 283, 290, 293 Beurhusius, Johann Christoph 426 Beverland, Hadrian 598 Beverly, Thomas 225 Bezaleel 584 Bezold, Raimund 549 f. Biedermann, Benedikt 187–189, 190, 201, 206 Bielefeld 308 Bilfinger, Georg Bernhard 494, 497, 508, 515, 521, 524 Blake, William 351 f. Blunden, Humphrey 220 Bock, Claus Victor 143 Bodenstein, Adam v. 585 Bodin, Jean 76, 86, 87 Bodmer, Johann Jakob 595 Boecklin, Charlotte v. 566 Boecler, Johann Heinrich 305 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de 564 Bonaventura, s. Klingemann Bonaventura, d. i. Giovanni Di Fidanza 367 Bonnet, Charles 530, 532 Boot, Matthias 428 Boreel, Adam 133 Boulanger, Nicolas Antoine 566 Bourignon, Antoinette 210 , 211, 215, 216, 217, 234, 244 f., 267, 316, 322,

Register 369, 373, 431, 598 Boyer, Jean Baptiste de, Marquis d’Argens 378–381, 382 Boyle, Robert 226 , 227, 343 Brasch, Martin 89 Breckling, Friedrich 8, 30, 67, 129, 173, 206, 283–294, 424, 446, 447 Breitinger, Johann Jakob 595 Breler, Melchior 71, 169 Brentano, Clemens 435 Brewster, David 350 Brockes, Barthold Hinrich 391 Bromley, Thomas 211, 223 f., 236 Bröske, Conrad 225, 389 Browne, Robert 413 Brucker, Johann Jacob 374, 375, 471– 478, 563 Brückner, Georg Heinrich 234 Bruno, Giordano 598 Buch der hl. Dreifaltigkeit 156 Bücher, Friedrich Christian 236 f., 394 f., 405 Buchius, Paul 135 Budde, Johann Franz 312, 322 f., 345, 506, 522, 540 Buddecke, Werner 455, 457, 458, 459, 460 f. Buffon s. Leclerc Bugenhagen. Johann 182 Bürger, Adam Sigismund 425, 444, 445 f. Burnet(t), Thomas 209, 319, 356 Bush, George W. 46 Bussius, Theodor 74 Butler, Joseph 482, 493, 500 Buttlar, Eva Margaretha v. 250 Cagliostro, Alessandro 560 Calixt, Georg 283, 414 Calo, Johann Adam 423–425, 427, 443 f. Calov(ius), Abraham 8, 29, 165, 283, 286– 291, 296, 316, 415 f., 423, 426, 444, 599 Calvert, Giles 221 Calvin, Johannes 262 Canitz, Friedrich Rudolf Ludwig v. 591 Canz, Israel Gottlieb 479, 484 f., 490, 494–501, 502, 503, 504, 505, 510, 515 Carbonarius, L. (Pseud.) 200 Carlstadt, Johannes 418 Carpzov, Benedict 86 Carpzov, Johann Benedict (II.) 308, 311 Caselius, Johannes 68, 89 Castillon, Jean de 561

Register Celsus 342 Charias, I. C. 30, 287 Charles I., Kg. v. England 183 Chateaubriand, François-René de 561, 564 Chemnitz, Martin 412 Cheyne, George 349 Chilobertus Jonas Westphalus s. Werdenhagen Christian August, Hzg. v. Pfalz-Sulzbach 125, 127, 129, 176, 432 Christian IV., Kg. v. Dänemark 71 Christian Wilhelm, Hzg. v. Brandenburg (Administrator d. Erzstifts Magdeburg) 71 Christian, Hzg. v. Liegnitz-Brieg 101 Christianus Democritus s. Dippel Christianus Theophilus (Ps.-Weigel) 191 f. Christina, Kgn. v. Schweden 183 Christophorus, Hl. 47, 48, 63 Chrysostomus, Polycarpus 196 Cicero, Marcus Tullius 72, 340, 532 Clarke, Samuel 353, 481, 482, 484, 493 f., 495, 496, 497 f., 499, 500, 501, 502, 526, 531 Clemens v. Alexandria 342 Clemm, Heinrich Wilhelm 363, 364, 375–381 Clinge, Franz Michael 179, 452, 453 f. Cluever, Detlev 352, 354, 514 Cohen, Claudine 575 Colberg, Ehregott Daniel 7, 30, 127, 130– 132, 133, 135, 136, 165, 178, 236, 311, 312, 321 f., 345, 363–375, 378, 393 f., 423, 473, 474, 580, 582, 596, 599 Comenius, Jan Amos 154, 155, 176, 226, 414, 471, 585, 598 Condeesyanus, Hermann s. Grasshoff Conring, Hermann 73, 283 Conway, Anne 127, 130, 220, 221, 232, 235, 237–239, 326, 327, 329 f., 351, 356 f. Copenhaver, Brian B. 125 Corrodi, Hans Heinrich 594 Cotelier, Jean-Baptiste 445 Coudert, Allison P. 127, 137 Cramer, Andreas 70 Creiling, Johann Conrad 516 Croll(ius), Oswald 69, 167, 177 Crollius redivius 166 Crouse, Elisabeth 285 Crusius, Christian August 543

607 Cudworth, Ralph 209, 236, 343, 489 Culverwell, Nathaniel 341 Cusanus s. Nikolaus v. Kues Cyprian, Ernst Salomon 174, 363, 437, 441 f., 447, 448, 580 f. Czepko, Daniel 93 f., 99–111, 118 f., 120, 121, 122, 123 Czigan v. Slupska, Barbara 99 d’Argens s. Boyer d’Atremont 565 d’Holbach, Paul Thiry 561, 563 Dahlmann, Peter 64, 467, 468, 475 Daniel 146, 152, 227, 403, 584 Dannhauer, Johann Konrad 284 David 584 David ben Yehudah he-Hasid 302 De Bry, Johann Theodor 183 De Maistre, Joseph Marie 564 de Raadt, Alhart 452 Della Porta, Giambattista 134 Delon, Michel 561 Democritus, Christianus s. Dippel Demokrit v. Abdera 392, 571 Denck, Hans 223 Des Maizeaux, Pierre 495, 496 Descartes, René 209, 226, 227, 313, 331 f., 343, 353, 388, 389, 391, 482, 484, 486, 489, 572 Diderot 562 f., 565 f. Dietze, Walter 143 Dionysios Areopagita (Ps.-) 223, 322, 367, 465 Dippel, Johann Konrad 179 f., 387–409, 518, 529, 537, 593, 594, 598 Dittmar, Johann 225 Diviš, Prokop 529 Dodo II., Frhr. v. Inn- u. Knyphausen 244 f. Dodwell, Henry 232 Domenech, Jacques 563 Donum Dei 158–161 Doppelmeyer, Johann Sigmund 129 Dorn, Gerhard 583, 585 Dornemann, Heinrich 307 Drabitz, Nicolaus 155 Draconites s. Carlstadt Du Hamel, Jean-Baptiste 486 E. I. H. 172, 301 E. I. H. M. D. 9, 12, 25, 31 Eberhard III., Hzg. v. Württemberg 430

608 Eberhard Ludwig, Hzg. v. Württemberg 427, 519 Eckermann, Johann Peter 391 Eckhart v. Hochheim (›Meister‹) 155, 265, 272 Eckoff, William J. 542 Edel, Susanne 357, 360 Edelmann, Johann Christian 391, 593 f., 598 Ehrenhart, Reger v. 198 Elisabeth v. d. Pfalz, Fürstäbtn. v. Herford 285 Elkana ben Jerucham (Rabbi) 17, 302 f. Elliston(e), John 220, 317 Elrichs, Magdalena 252 Elver, Leonhard 59, 61, 62 Empedokles 571 Ender v. Sercha, Karl 56, 457, 586 Ender v. Sercha, Michael 456–458, 460, 600 Engelbrecht, Hans 488 Engelhard, Nicolaus 496 Ennius, Quintus 545, 546 Epikur 571 Erastus, Thomas 585 Erdmute Juliane, Gfn. v. Gleichen 59 Erich, Peter 264 Ernesti, Johann August 521 Ernst August I., Hzg. v. Sachsen-Weimar 177, 203 Euler, Leonhard 377, 502–504, 514, 518, 519, 535 Euripides 339 Everard, John 221–223 Eybisch, Hugo 550 f. Ezechiel 332, 342, 514, 584 Ezra 584 Fabre, Jean 563 Fabre, Pierre Jean 171, 173 Fabri, Felix 153 Fabricius, Johann Jacob 129 Fardella, Michelangelo 357 Faust, August 461 Fecht, Johannes 416, 427 Feilchenfeld, Wolfgang 356 Felgenhauer, Paul 29, 56, 191, 195, 225, 419 Fende, Christian 268 Fénelon, François de Salignac de la Mothe 212, 215, 316 Feuerborn, Justus 283

Register Feustking, Johann Heinrich 233, 236 Feyerabend, Ludwig 47, 63 Ficino, Marsilio 214, 222, 237 Fictuld, Hermann 172, 173 Fischer, Loth 129, 233, 244, 268, 480 Flacius Illyricus, Matthias 71 Fleischbein, Johann Friedrich v. 551, 552, 559 Fludd, Robert 12, 195, 301, 306, 375, 414, 471, 563, 585, 600 Foix Candale, François de 214 Fontenelle, Bernard le Bovier de 528, 595 Formey, Johann Heinrich Samuel 504 Förster, Johann Christian 521 Fouqué, Friedrich de la Motte 436 f. Fox, George 446, 601 Foxcroft, Elizabeth 330 Francisci, Erasmus 8, 12, 23–25, 29 f., 287, 292, 316, 369, 419, 580 Franck, Sebastian 223, 269, 581, 598 Francke, Anna Magdalena 249 Francke, August Hermann 249, 252, 260, 267, 428 Franckenberg, Abraham v. 7, 19, 22 f., 28, 45, 52, 54, 57, 62, 63, 74, 93–95, 99, 112–118, 121–123, 166, 174, 176, 181, 182, 184, 189, 195, 202, 203, 206, 214, 290, 370, 414, 421–424, 435–449, 467, 473, 586, 600 Freher, Dionysius Andreas 190, 201 Freudenhammer, Gottfried 115 Fricker, Johann Ludwig 352, 514 Fridericus, Jeremias 425, 444–446 Friedrich August I., Kfst. v. Sachsen, Kg. v. Polen 594 Friedrich II., Kg. V. Preußen 381 f. Friedrich III., Kfst. v. Brandenburg 428 Friedrich III., Kg. v. Dänemark 285 Friedrich V., Kfst. v. d. Pfalz, Kg. v. Böhmen 151 Friedrich Ulrich, Hzg. v. BraunschweigWolfenbüttel 70 Friedrich Wilhelm II., Kg. v. Preußen 186 Friese, Detlev Marcus 305–307, 309 Frik, Johann 11, 18, 21, 32, 172 Fulda, Daniel 476 Fürstenau, Kaspar v. 56 Gadamer, Hans-Georg 547 Gantzland, Andreas 309 Gassendi, Pierre 312, 491 Gauchat, Gabriel (Abbé) 561 Geber 174

Register Geffarth, Renko 200 Geheime Figuren der Rosenkreuzer 183–206 Genette, Gérard 113 Georg Rudolf, Hzg. v. Breslau 62 George, David s. Joris Gerhard, Johann Ernst 283 Gichtel, Johann Georg 129, 201, 225, 232, 234, 243, 249, 253, 255, 286, 295, 297, 363, 364, 367, 371, 423, 451, 452, 480, 550–552, 580, 598 Gierl, Martin 295, 477 Gifftheil, Ludwig Friedrich 74, 284, 290, 293, 586 Gilbert, David 8, 10, 19, 25, 28, 29 Gilly, Carlos 56, 62, 73, 75, 184, 305, 309 Glanvill, Joseph 343 Glauber, Johann Rudolf 175, 176 Glüsing, Johann Otto 452, 453 Gmelin, Georg Ludwig 315, 316, 430 Gmelin, Johann Friedrich 200 Goclenius, Rudolf 84 Goethe, Johann Wolfgang 27, 352, 383, 391, 546, 552, 560 Goeze, Johann Melchior 395 Goldammer, Kurt 51 Golski, Stanislas 53 Gottsched, Johann Christoph 497, 560 f., 579, 588–595 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 592–595 Götze, Georg Heinrich 442, 445 f., 447 Grasse, Johann 171 Grasshoff, Johann 200 f. Grave, Theoderich 73 Gregor v. Nazianz 305 Greimas, Algirdas Julien 37 Großgebauer, Theophil 287 Grotius, Hugo 430 Grua, Gaston 357 Gualdi, Federico 200 Guilbertus, David s. Gilbert, David Güldenfalk, Siegmund Heinrich 180 Gumbrecht, Hans Ulrich 121 Gundling, Nicolaus Hieronymus 470 Gustav II. Adolf, Kg. v. Schweden 183 Gut(h)mann, Aegidius 181, 184, 471 Guyon, Jeanne-Marie 210–212, 215, 598 Hackspan, Theodor 303 Hagen, Johann Martin 480

609 Hahn, Johann Michael 529 Hahn, Philipp Matthäus 583 Halatophilus Irenaeus, s. Oetinger, Friedrich Christoph Halophilus Irenaeus s. Oetinger,Theophil Friedrich Hamann, Johann Georg 21, 522, 560, 587 Hannemann, Johann Ludwig 173 Hansen, Peter 389 Harleß, Adolf v. 178 Harphius, Henricus s. Herp Harsdörffer, Georg Philipp 105 Hartlib, Samuel 176, 226 Hartprecht, Johann 175 f. Haslmayr, Adam 195 Häublin, Nikolaus 196, 197, 201, 202 Hecht, Koppel 516 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 27, 547 Hegenicht, Ehrenfried 447, 456, 457 Heidanus, Abraham 301 f. Heidegger 387 Heine, Heinrich 352 Heinrich Julius, Hzg. v. BraunschweigWolfenbüttel 70 Helias Christo Romano (Pseud.) 189, 190 Helvétius, Claude Adrien 561 Henke, Ernst Ludwig Theodor 68 Herder, Johann Gottfried 217, 383, 546, 553, 587, 599 Hermes Trismegistos 50, 159, 214, 227, 246, 322, 370, 397, 408, 527, 582 Hermippos 342 Herp, Hendrik 212 Herschel, Wilhelm 573 Herwech, Gustav 322 f., 470 Herwich, Christoph 89 Hess, Tobias 184 Heumann, Christoph August 469 f., 472, 474, 475 Hinckelmann, Abraham 9–13, 15–18, 24, 31, 32, 64, 126, 130, 132, 135, 295–312, 320, 321, 324, 331, 345, 355, 468 f., 474–476, 483, 599 Hinckelmann, Benedikt 306 f., 309, 602 Hinckelmann, Martin 305, 306, 309 Hinckelmann, Ursula Victoria 306 f., 309 Hinske, Norbert 542 f. Hiob 521 Hirsch, Emanuel 259, 260 Hirsch, Julian 463 Hirte des Hermas 214 Historia Jacob Böhmens 441 f.

610 Hobbes, Thomas 87, 381, 389, 391, 499 Hoburg, Christian 127, 283, 424 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 435 Hoffmann, Sebastian 55 Hofmann, Daniel 68, 81 Hofmannsthal, Hugo v. 165 Hölcker, Johann Melchior 411 Holtzbecker, Hans Simon 285 Holtzhausen, Johann Christoph 9, 13, 14 f., 20 f., 25, 30, 31, 318, 416 Hooker, Edward 208 Hoornbee(c)k, Johannes 316, 412 f., 416, 418, 420, 427, 429 f. Horb, Johann Heinrich 296, 308, 310 Horch, He(i)nrich 225, 239, 487 Hotham, Charles 329 Hotham, Durand 220, 228, 329, 437 Hoyers, Anna Owena 91 Hugo v. St. Victor 363 Hülsemann, Johannes 283 Hume, David 589 Hunnius, Nicolaus 17, 581 Huser, Johannes 585 Huth, Caspar Jacob 495 Iamblichos 342, 582 Idea chemiae Böhmianae adeptae 171, 172, 200 Isaak 402 Iselin, Isaak 599 Ismael 402 Ittig, Thomas 311 J. J. M. E. D. 10–12, 24, 27, 31 Jacobi, Johann Heinrich 391 Jacques-Lefèvre, Nicole 564 Jäger, Johann Wolfgang 315–318, 323– 325, 335, 430–433 James, William 1 Jennis, Lucas 189, 195, 198 Jeremia 290 Jesaja 584 Jesus Christus 23, 39 f., 43, 44, 56, 82, 88, 130, 133, 136, 143, 145, 147, 152, 156, 167, 173, 177, 189, 229, 236, 239, 241, 245, 254, 264, 269, 270, 273 f., 278 –280, 291, 293, 298, 321, 323, 344, 370, 401, 403, 404, 406, 407, 426, 448, 454, 480, 517, 518 f., 521, 523, 524, 525, 528, 530, 533 535, 536 f., 539, 545, 552, 558, 565, 569 f., 582, 583, 600 Joachim Ernst, Fürst. v. Anhalt 49

Register Jöcher, Christian Gottlieb 302, 466 Johann Georg I., Kfst. v. Sachsen 58 Johann Ludwig, Gf. v. Gleichen 59 Johannes (Evangelist) 216 Johannes der Täufer 523 Johannes Scotus Eriugena 214, 322 Johannes v. Kreuz, Hl. 212 Joris, David 328, 330, 339, 598 Josephus, Titus Flavius 342 Jugel, Johann Gottfried 177 Julianus de Campis 195 Jung, Carl Gustav 547, 583 Jungius, Hermann 287 Jungius, Joachim 59 Justel, Henri 355 Justi, Eduard 518 Justinian, Baron v. Welz 286 Kaiphas 523 Kalau s. Calov(ius) Kant, Immanuel 514, 515, 531, 532 f., 536 , 537, 538, 540–544, 587 Kantorowicz, Ernst H. 87 Kanz, Johann Conrad 91 Karl Eugen, Hz. v. Württemberg 519 Katharina v. Genua, Hl. 212 f. Kaym, Paul 184, 190, 191, 195, 196, 197, 203, 206, 455 Keith, George 221 Kepler, Johannes 572 Kerinthos 522, 523 Kerner, Arnold 59, 60, 62 Khunrath, Heinrich 167, 174, 181, 182, 194, 195, 203, 583 f. Khunrath, Konrad 584 Kindervater, Johann Heinrich 451 Kirchberger, Nikolaus Anton 566 Kleanthes 505 Kleuker, Johann Friedrich 563 Klingemann, August 435 f., 445, 449 Klischnig, Karl Friedrich 550 f. Klotz, Stephan 284, 285, 290 Knorr v. Rosenroth, Christian 125–138, 320, 331, 340, 355, 376, 432, 482, 488 Knuber, Johann 188 Knutzen, Matthias 598 Kober, Tobias 12, 306, 600, 602 Köckritz, J. P. 189 Köhler, Heinrich 487, 495 König, Georg 300 König, Samuel 495, 497 Korff, Hermann August 463

Register Koschwitz, Johann Daniel 173, 180 Kotter, Christoph 155, 163 Koyré, Alexandre 275, 444 Kra(c)kevitz, Albert Joachim v. 389 Krause, Friedrich 58 Kromayer, Hieronymus 581 Kuhlmann, Quirinus 8, 11, 67, 119, 121, 143–163, 181, 322, 369, 414, 422 f., 434, 469, 583, 586, 594, 598 Kühlmann, Wilhelm 69, 126 Kulmus s. Gottsched, Luise Adelgunde Kurtze, Michael 423 La Barre, François-Jean Lefebvre, Chevalier de 561 La Coste, Bertrand 216 Labadie, Jean de 248, 315, 363, 373 Lacy, J. 232 Lange, Joachim 241, 389 Laplace, Pierre-Simon de 572 Launoy, Bonaventura de 396 Lautensack, Paul 51, 179, 188–191, 198, 201, 206 Lavater, Johann Kaspar 535, 546 Law, William 232, 346–352, 528 Le Blon, Christophe (Christoffel) 127, 128, 156, 195, 198 Le Blon, Michael 183, 184, 195, 198 Le Cat, Claude-Nicolas 534 Le Clerc, Jean 215 Le Fèvre de la Boderie, Guy 214 Lead(e), Jane 206 f., 212, 215, 219, 222, 224–239, 243 f., 267, 315, 347, 359, 480, 593 Leclerc, George Louis Marie, Comte de Buffon 572 Lee, Francis 232 Legdaeus, Valentinus 581 Leibniz, Gottfried Wilhelm 127, 216, 221 f., 226, 233, 239, 305, 313, 345, 352–361, 388, 481, 482, 484, 486, 487, 489, 493–502, 507–510, 515, 516, 518, 520–526, 530–533, 535, 541, 571 f. Leinkauf, Thomas 2 Lenglet Du Fresnoy, Nicolas 172, 565 Lenz, Johann Christoph 192, 194, 199 Leopold I., röm.-dt. Kaiser, Kg. v. Ungarn 128 Lessing, Gotthold Ephraim 26, 391, 395, 592, 597 Leukipp 571 Libavius, Andreas 582

611 Liebhaber der Wahrheit (Pseud.) 10 f., 22, 24, 31, 32 Liefmann, Gottlieb 370, 422 f., 424 Lincoln, Bruce 37, 46 Lindner, Caspar 586 Lobenstein, Johann Simon 551, 552 Locher, Johann Heinrich 259–282 Locke, John 215 f., 353, 408, 425 Löscher, Valentin Ernst 365, 405, 432 Luise (Tochter d. Hzg.s v. Liegnitz-Brieg) 101 Lullus, Raimundus 169, 173 Luria, Isaak 523, 528 Luther, Martin 17, 35 f, 40 f., 43, 81, 82, 86, 89, 90, 129, 167 f., 169, 182, 206, 289, 290, 367, 368, 379, 396, 399, 403, 527, 581 Lutz, Christoph 271 Madathanus, Henricus s. Mynsicht Maffred s. Meffert Maier, Michael 195 Maillet, Benoît de 571 Maimonides 304, 505 Makarios 363 Malebranche, Nicolas 226, 352, 389, 391, 508, 514, 515, 517, 520, 536, 541, 542–545 Marcucci, Kaspar 420 Martínez de Pasqually, Jacques de Livron Joachim de la Tour de la Casa 562, 563, 564, 565, 566, 567, 569, 570 Martini, Cornelius 68, 70 Masseau, Didier 561 Matkowsky, Adalbert 47 Matthaeus, Johannes s. Zimmermann, Johann Jacob Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 497, 575 May, Heinrich 411 Mayer, Johann Friedrich 10–13, 21 f., 24, 32, 308, 310, 389, 407, 426 Mayer, Paola 435 Meffert, Abraham 51 Mehmet III., Sultan d. osman. Reiches 53 Mel, Conrad 428–430 Melanchthon, Philipp 39, 182, 532 Mendelssohn, Moses 598 Merian, Matthäus 72, 183 f., 194 , 195 Metallurgia Böhmiana 171, 172 Meth, Ezechiel 56, 59 Michai Viteazul, Voivode v. Walachien 53

612 Michelspacher, Stefan 194f. Milton, John 595 Minder, Robert 551 Moehring, Anton Gunther 423, 444 Mögling, Daniel 194 f., 202 Mohl, Wilhelm Ludwig 433 Molinos, Miguel de 316, 373 Moller, Daniel 414 Moller, Johann 68 Möller, Johannes 8, 29 More, Henry 126, 127, 130, 133, 135– 138, 220, 221, 226, 235, 313–345, 347, 350 f., 355 f., 361, 376 f., 430–432, 482, 489, 517, 528 Morell, Andreas 356, 357, 358, 359 f. Morgenweg, Joachim 307 Morgner, Ulrike 549 f. Morhof, Daniel Georg 324, 414, 425, 465–469, 471, 475 Moritz, Karl Philipp 549–560, 598 Moritz, Lgrf. v. Hessen-Kassel 84 Morsius, Joachim 60–62, 71, 84, 184, 195 Moser, Martin 43, 44 Moses 63, 127, 270, 299, 321, 335, 336, 344 Moses Botril (Rabbi) 483 Moses Germanus s. Spaeth Moshe ben Maimon s. Maimonides Mosheim, Johann Lorenz 435–443, 448 Müller, Heinrich 8 Müller, Jacob Friedrich 508 Müller, Johannes 470 Müntzer, Thomas 35 f., 39, 40, 41 Musäus, Johannes 283 Mynsicht, Adrian v. 200 Nagel, Paul 56–60, 65, 184, 195, 600 Naudé, Gabriel 128 Neumeister, Erdmann 389 Neuß, Heinrich Georg 389 Newton, Humphrey 349, 350 Newton, Isaac 226, 227, 313, 345–361, 482, 484, 493 f., 496–498, 509–511, 514, 516 f., 520, 521, 523, 526, 528, 531, 534, 541, 543, 572, 575 Niclaes, Hendrik 220–222, 328, 330, 339, 341 Nicolai, Friedrich 553 Nikolaus v. Kues 223 Nollius, Henricus 83–85, 90 Novalis 591

Register Obenberger, Johann Kasper 508 Ocellus Lucanus (Ps.-) 378–381 Oedipus 602 Oemler, Christian Wilhelm 180 Oertel, Johann Gottfried 454 Oetinger, Friedrich Christoph 14, 21, 27, 169, 175, 352–354, 360, 363, 364, 381–383, 508–511, 513–547, 583 Oetinger, Theophil Friedrich 546 Olbers, Heinrich Wilhelm 574 Opitz, Martin 144, 588 Origenes 230, 238, 239, 322, 342, 359, 363 Orpheus 304, 582 Osama bin Laden 46 Osiander, Andreas 363 Osiander, Lukas 70, 71 Oxenstierna, Axel Gustafsson 183 Pältz, Eberhard H. 281 Paracelsus, d.i. Theophrastus v. Hohenheim 9, 12, 50, 51, 61, 69, 157 f., 168, 173, 174, 179, 181, 184, 198, 214, 227, 289, 299, 301, 322, 325, 341, 351, 375, 389, 391, 398, 400 f., 428, 465, 549, 553, 563, 579, 581, 582, 585, 599 Parny, Évariste Désiré des Forges, Chevalier de 561 Parresiastes, Philophilus s. More Patrizi da Cherso, Francesco 212, 214 Paullini, Christian Franz 305 Paulus 294, 534, 537, 538, 584 Petersen, Johann Wilhelm 67, 220, 225, 232, 233–239, 244, 267, 310, 315, 388, 424 Petersen, Johanna Eleonora 67, 220, 233–237, 244 f., 250–252, 267, 388 Petit, Pierre 342 Petrucci, Piermatteo 316 Petrus 151 Petrus d’Abano 50 Peuckert, Will-Erich 188 f., 436 Pfeiffer, August 423 Philipp Wilhelm, Hzg. v. Pfalz-Neuburg 129 Philipps, Jenkin Thomas 482 Philo v. Alexandria 342 Philoponus, Johannes 342 Photios 300 Piazzi, Giuseppe 574

Register Pico della Mirandola, Giovanni 13, 342, 518 f. Pietsch, Th. H. 286 Piscator, Johannes 363 Placcius, Vincent 299, 305, 307 f., 467, 468 Platon 21, 72, 226, 288, 312, 322, 331, 370, 394, 395, 470, 474, 522, 543, 582 Plotin 223, 237, 331, 335, 431, 470, 582 Ploucquet, Gottfried 352, 479, 484, 485, 489, 490, 494 , 495, 497, 498, 499, 502–504, 505, 506, 507, 510, 514, 520, 522, 525 f., 527, 544 Pluche, Noël-Antoine (Abbé) 568 Poiret, Pierre 207–217, 232, 234, 310, 315–319, 323, 335, 345, 358, 413, 421, 431, 433, 492, 563 Polemann, Joachim 176 Pomarius, Samuel 287 Pomponazzi, Pietro 381 Poniatovia, Christina 155 Popkin, Richard H. 138, 377 Popp, Karl Robert 350 f. Pordage, John 166, 207–209, 212, 215, 220–225, 236, 243, 244, 316, 347, 357, 359 f., 479–494, 495, 497, 498, 499, 500, 501, 502, 503, 504, 505, 506, 507, 510, 595 Pordage, Samuel 224 Porphyrios 223, 342, 470, 582 Postel, Guillaume 214 Potthoff, Johann Heinrich 453 Prätorius, Stephan 289 Proklos 237, 582 Pronner, Johann Gottfried 454 Prunius, Heinrich 456, 458, 460 Pufendorf, Samuel v. 305, 430 Pythagoras 322, 331, 365, 370, 378, 582 Quenstedt, Johann Andreas 283 Raphson, Joseph 376 Räther, Johann Friedrich 418 Ratke, Wolfgang 59 Rechenberg, Adam 365 Reger, Georg Ernst Aurelius 176 Rehboom, Johann Heinrich 427 Rehefeldt, Johann 56, 59, 62 Reichard, Elias Caspar 496 Reill, Peter Hanns 513 Reimarus, Samuel 390

613 Reimmann, Jacob Friedrich 466 f., 470, 472, 473, 475 Reitz, Johann Heinrich 91, 225, 286, 388 Renatus, Sincerus s. Richter, Samuel Retzel, Georg Friedrich 179 Reuchlin, Johannes 13, 64, 98, 342, 528 Rhenanus, Johannes s. Grasshoff Rhumelius, Johannes Pharamundus 174 Richardson, Samuel 349 Richter, Gregor 7, 28, 33 f., 36–46, 63 f., 141, 178, 444, 602 Richter, Samuel 179–181, 193 f., 196 Ringmacher, Christian Ulrich 200 Ripley, George 171, 174 Rittangel, Johann Stephan 13–16, 303, 482, 488 Ritter, Friedrich Christian 199 Rittershausen, Konrad 69 Roach, Richard 226–228, 232, 233 Rochefort, Guillaume de 561 Römer, Heinrich 263, 265 Rosenbach, Georg 580 Rost, Johannes 322, 369 Rotermund, Hans-Martin 260 f. Rothe, Johannes 153, 600, 602 Roth-Scholz, Friedrich 172 Rotteller, Friedrich Sigismund 453 Rotth, Albrecht Christian 580 Rüdiger, Andreas 499 f., 505, 533 Rudolf August, Hzg. v. BraunschweigLüneburg 418 Ruland, Martin (d. J.) 69 Rumpaeus, Justus Wesse l 425–427 Rusterholz, Sibylle 118, 121 Ruysbroeck, Jan van 212, 433 Sabbatai Zwi 302 Sachs, Hans 435, 445, 449 Sagittarius, Caspar 59 Saine, Thomas P. 549 Saint-Martin, Louis-Claude de 211, 561, 564–575, 590 Salecker, Kurt 125 Salomon 584 Salzmann, Friedrich Rudolf 566, 590 Sayler, Jacob Gottfried 203 Schaar, Georg 414 Scharschmied, Anna Catharina 252 Schauberdt, Johann 168 Schede, Paul, gen. Melissus 89 Scheffler, Johannes 93 f., 105, 119, 121, 122

614 Scheid(t), Daniel Dietrich 414 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 20, 27, 352, 435, 479, 484 , 485, 494, 505– 510, 537, 547, 590 Scheuchzer, Johann Jakob 486 f. Schickhard, Wilhelm 195 Schiller, Friedrich 383 Schilling, Wencel 70 Schings, Hans-Jürgen 603 Schlegel, Caroline 435 Schlegel, Friedrich 435 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 564 Schneider, Hans 265 f., 268 Schola Sapientum 186 f. Scholem, Gershom 14, 18, 27 Schönau, Johann Heinrich v. 266 Schopenhauer, Arthur 27, 456 Schrader, Johannes 70 Schrimpf, Hans Joachim 552 f. Schuchard, Anna Maria 233 Schürmann, Anna Maria s. van Schurman Schutten, Anna 285 Schütz, Christoph 193, 194 Schütz, Johann Jakob 129, 235, 268 Schwartz, Wilhelm 119, 195, 201–203 Schweighardt, Theophilus s. Mögling Schweinichen, Hans Sigismund v. 206 Schwenckfeld, Caspar 17, 269, 299, 370, 418, 422 Schwimmer, Johann Michael 487 Scultetus, Bartholomäus 49–51, 54, 584 Scultetus Montanus, Johannes 585 Seckendorff, Veit Ludwig v. 323 f., 426 Seidenbecher, Georg Lorenz 74, 195, 203, 206, 287, 290, 586 Selden, John 342, 343, 347 Semler, Johann Salomo 169, 180 f., 184 f., 524, 535, 539, 590 Sendivogius, Michael 171, 173, 201 Seneca, Lucius Annaeus 555 Seuse, Heinrich 153, 212, 265 Severinus, Petrus 582 Shaftesbury s. Ashley-Cooper Siber, Adam 89 Siebmacher s. Bachsmeier Sillig, Johann Friedrich 437 Simon Magus 312 Snow, A. J. 350 Sohn, Georg 412 Sommerfeld, Abraham v. 115, 456, 457, 458, 460, 586 Sonntag, Christoph 414

Register Spaeth, Johann Peter 319, 321 Spalding, Johann Joachim 524 Sparrow, John 220, 227, 228, 317, 351 Spener, Philipp Jakob 9, 15, 24, 129, 171, 225, 234 f., 237, 244, 259, 260, 267 f., 284, 285, 295, 296, 297, 308, 312, 394 f., 424, 426, 427, 525 Sperber, Julius 173, 195 Spinoza, Baruch de 209, 318–320, 331, 333, 343–345, 376, 381, 388, 389, 391, 408, 470, 484, 490, 499, 506, 510, 522, 553 Sprögel, Anna Maria (verh. Arnold) 252, 256 Sprögel, Johann Heinrich 225, 252 Sprögel, Suanna Margaretha 252–256 Starcke, Johann Gottfried 307 Staricius, Johannes 75 Stein, Andreas 445 Steinberg, Christian 166, 170 Steiner, Rudolf 547, 563 Stenzel, Jürgen 34, 37 Steudner, Johann 483 Stiefel, Esaias 54, 56, 57, 58, 59, 62, 128, 140, 141, 600 Stoeffler, F. Ernest 268, 282 Stolle, Gottlieb 414, 470, 471, 475 f. Struve, Burkhard Gotthelf 466, 475 Sudhoff, Karl 51 Swedenborg, Emanuel 177 f., 181, 352, 488, 509, 511, 513–515, 517–519, 521, 523, 524, 527, 530, 531, 533 f., 535, 536, 537, 539–541, 543, 544, 546 Synesios 582 Taddel, Elias 284 Tancke, Joachim 69, 73, 168, 584 Tany, Thomas 223 Tauler, Johannes 17, 129, 201 f., 206, 212, 223, 263, 265, 272, 283, 363, 367, 398, 413 Taylor, Edward 228 Telle, Joachim 69, 194, 365 Teller, Wilhelm Abraham 524, 535 Tentzel, Wilhelm Ernst 299, 309 Tersteegen, Gerhard 249 Tertullianus, Quintus Septimius Florens 246 Thales v. Millet 571 Theodoret v. Kyros 312, 342, 445 Theologia chymica 166 Theologia Deutsch 17, 82 f., 201, 210,

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Register 223, 263, 272, 367 f., 398, 413 Theophilus (Pseud.) 186 Theophrastus v. Eresos 72 Theosophia physico-chymica 166 Theosophia Sternbucta 166 Theresa v. Avila, Hl. 212, 488 Thomas a Kempis 17, 201 f., 263, 265, 272 Thomas v. Aquin (Ps.-) 160 Thomasius, Christian 234, 312, 317, 357, 372–374, 397 f., 408, 414, 425, 476, 500, 587, 596, 597, 599 Thomasius, Jakob 311 f., 365 Tieck, Ludwig 591 Tilcke, Balthasar 7, 25, 26, 141 Timaios v. Lokroi 378 Toland, John 381 Tolmann, Simon 69 Trapnel, Anna 224 Trapp, Joseph 346 f. Trinius, Johann Anton 390 Trithemius, Johannes 50 Tröger, Johann Caspar 452–454 Tschesch, Johann Theodor v. 8, 10, 19, 25, 29, 206, 600 Tümmig, Ludwig Philipp 495, 502 Turba philosophorum 160 Türkheim, Johann v. 566 Überfeld, Johann Wilhelm 202, 363, 451, 453–455, 460 V. C. 325 f., 328, 333 Vagede, Heinrich 429 Valentinus, Basilius 167, 174, 179, 201 van Beyerland, Abraham Willemsz(oon) 73, 183, 195, 203, 453, 456 van Beyerland, Willem Abrahamsz(oon) 183 van Helmont, Franciscus Mercurius 126– 131, 135–138, 214, 221, 233, 235, 237, 239, 326, 356, 357, 376 f. van Helmont, Johann Baptist 127, 131, 134, 176, 214, 375, 376 f., 389, 391, 487, 563 van Ingen, Ferdinand 111 van Lamoen, Frank 202 van Schu(u)rman, Anna Maria 234, 248 van Vreeswyck, Goosen 176 Vanini, Lucilio 470 Vaughan, Thomas 327, 351 Vergil(ius), Publius ... Maro 358

Vickers, Brian 2 Voetius, Gisbert 316 Vollhardt, Friedrich 476 Voltaire, d.i. François Marie Arouet 352 f., 380, 463, 526, 561 von der Hardt, Hermann 309 von Stein, Heinrich 365 Wachter, Johann Georg 319–321, 323, 345, 355, 506, 522 Wagner, Friedrich 389, 390 f. Wagner, Susanna Margaretha s. Sprögel Wagner, Tobias 29, 30, 416, 417–421, 427 Walch, Johann Georg 324 Wallenstein, Albrecht Wenzel Eusebius v. 71 Wallich, Dorothea Juliane 454 Wallmann, Johannes 71 Walther, Balthasar 47–65, 67, 74, 184, 297, 305–307, 309, 468 f., 585, 600, 602, 603 Walton, Christopher 349 f. Warberg, Gottlob-Werner v. 70 Warberg, Wolf-Gebhard v. 70 Ward, Richard 325–327 Wasserstein der Weisen 156, 166, 171, 198 Weigel, Valentin (Ps.-) 168 f., 187, 190, 193, 195, 198, 201 Weigel, Valentin 13, 17, 56, 69, 101, 156, 168, 169, 173, 179, 181, 184, 187, 189, 195, 199, 214, 233, 236, 295, 299, 316, 322, 370, 373, 387, 392, 398, 400, 413, 422, 428, 563, 581, 585, 599 f. Weigelt, Horst 52 Weimar, Klaus 464 Weischedel, Wilhelm 542 f. Weiß, Bernhard 389 Weiß, Christoph 561 Weißmüller, Sigmund Ferdinand 508, 520 Weißner, Cornelius 447, 600 Welling, Georg v. 172–174, 181, 193, 194 Werdenhagen, Johann Angelius 8, 52, 54, 62, 63, 67–91 Wernsdorf, Gottlieb 370, 422 Wetstein, Heinrich (Henri) 210, 234 Weyer, Martin 129 White, Jeremiah 232 Widemann, Carl 195 Widmann, Peter 7, 11, 17 f., 28 Wiedner, Regina 552

616 Wild, Adam 414–416 Wilhelm IV., Hzg. v. SachsenWeimar 109 Willermoz, Jean Baptiste 565, 566 Winckler, Georg Sigmund 453 Winckler, Johann 31, 296, 300, 308 Wingertszahn, Christoph 551 f., 559 Wolf, Johann Christoph 307, 310 Wolff, Christian 352, 354, 388, 397, 481 f., 486, 487, 489, 493, 495, 496, 497 f., 501, 507, 508, 509, 510, 514, 516, 518, 520, 522 f., 524, 527, 532, 541, 543, 544, 587 f. Wöllner, Johann Christoph 186 Wolther, Christian Theodor 266 Woodward, John 203 Wormhoudt, Arthur 348 Worthington, John 326, 329 Wyker, Jonas 285

Register Yates, Frances A. 2 Zapf, Nikolaus 264 Zedler, Johann Heinrich 324 f., 419, 425, 466 Zeller, Johann Christian 497 Ziegler, Georg 266 Zima, Peter V. 35 Zimmermann, Johann Jakob 9, 10 f., 12, 13, 15–17, 19 f., 22–24, 26, 27, 30, 268, 299 f., 318, 447, 483 Zimmermann, Paul 68 Zimmermann, Rolf Christian 383 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig v. 247, 390, 514, 518, 594 Zoroaster 304, 312 Zosimos v. Panopolis 161

Autorinnen und Autoren

Achermann, Eric, Prof. Dr.; Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germanistisches Institut, Abteilung Neuere deutsche Literatur, Hindenburgplatz 34, 48143 Münster; E-Mail: [email protected] Andersson, Bo, Prof. Dr.; Uppsala universitet, Institutionen för moderna språk, Box 636, 751 26 Uppsala, Schweden; E-Mail: [email protected] Bonheim, Günther, Dr.; Im Burgfrieden 11, 71543 Wüstenrot Maienfels; E-Mail: [email protected] Bütikofer, Kaspar, Dr.; Hirschgartnerweg 21, 8057 Zürich, Schweiz; E-Mail: Kaspar. [email protected] Dohm, Burkhard, Prof. Dr.; Philipps-Universität Marburg, Institut für Neuere deutsche Literatur, Wilhelm-Röpke-Str. 6, 35032 Marburg; E-Mail: burkhard.dohm@ staff.uni-marburg.de Eickmeyer, Jost, Dr.; Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Hauptstr. 207– 209, 69117 Heidelberg; E-Mail: [email protected] Häfner, Ralph, Prof. Dr.; Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsches Seminar – Neuere Deutsche Literatur, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg; E-Mail: ralph. [email protected] Haferland, Harald, Prof. Dr.; Universität Osnabrück, Institut für Germanistik, Neuer Graben 40, 49074 Osnabrück; E-Mail: [email protected] Hannak, Kristine, Dr.; Gottlob-Bräuning-Str. 8, 72072 Tübingen; E-Mail: hannak. [email protected] Harmsen, Theodor, Dr.; Gulden Hoeve 26, 3451 TG Vleuten (Utrecht), Niederlande; E-Mail: [email protected]; [email protected] Kühlmann, Wilhelm, Prof. Dr.; Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Hauptstr. 207–209, 69117 Heidelberg; E-Mail: [email protected] Marti, Hanspeter, Dr.; Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Alte Post, 8765 Engi, Schweiz; E-Mail: [email protected] Martin, Lucinda, Dr.; Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Exzellenznetzwerk Aufklärung-Religion-Wissen, Franckeplatz 1, Haus 24, 06099 Halle/Saale; E-Mail: [email protected] Meier, Albert, Prof. Dr.; Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Neuere deutsche Literatur und Medien, Leibnizstr. 8, 24118 Kiel; E-Mail: [email protected] Mohr, Jan, Dr.; Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München; E-Mail: [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Mulsow, Martin, Prof. Dr.; Universität Erfurt, Forschungszentrum Gotha für kulturund sozialwissenschaftliche Studien, Postfach 100561, 99855 Gotha; E-Mail: [email protected] Muratori, Cecilia, Dr.; Ludwig-Maximilians-Universität München, Seminar für Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance, Ludwigstraße 31, 80539 München; E-Mail: [email protected] Neumann, Hanns-Peter, Dr.; Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Franckeplatz 1, 06110 Halle; E-Mail: [email protected] Penman, Leigh T. I., Dr.; Goldsmiths, University of London, History Faculty/University of Oxford c/o Cultures of Knowledge, History Faculty, George Street, Oxford OX1 2RL, England; E-Mail: [email protected] Rusterholz, Sibylle, Dr.; Hohliebiweg 5, 3067 Boll/BE, Schweiz; E-Mail: peter. [email protected] Schmeisser, Martin, Dr.; Ludwig-Maximilians-Universität, Sonderforschungsbereich 573: Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit, Geschwister-SchollPlatz 1, 80539 München; E-Mail: [email protected] Steiger, Johann Anselm, Prof. Dr.; Universität Hamburg, Fachbereich Evangelische Theologie, Sedanstr. 19, 20146 Hamburg; E-Mail: anselm.steiger@uni-hamburg. de Stengel, Friedemann, PD Dr.; Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Franckeplatz 1, 06110 Halle; E-Mail: [email protected] Telle, Joachim, Prof. Dr.; Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsches Seminar – Neuere Deutsche Literatur, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg; E-Mail: [email protected] Vollhardt, Friedrich, Prof. Dr.; Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstr. 3, 80799 München; E-Mail: friedrich. [email protected] Werle, Dirk, Dr.; Universität Leipzig, Institut für Germanistik, Beethovenstr. 15, 04107 Leipzig; E-Mail: [email protected] Zeller, Rosmarie, Prof. Dr.; Universität Basel, Deutsches Seminar, Nadelberg 4, 4051 Basel, Schweiz; E-Mail: [email protected]