Arbeiteremanzipation zwischen Karl Marx und Lujo Brentano: Studien zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der Bürgerlichen Sozialreform in Deutschland [1 ed.] 9783428491551, 9783428091553

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Arbeiteremanzipation zwischen Karl Marx und Lujo Brentano: Studien zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der Bürgerlichen Sozialreform in Deutschland [1 ed.]
 9783428491551, 9783428091553

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S ozialp olitis che S chriften Heft 73

Arbeiteremanzipation zwischen Karl Marx und Lujo Brentano Studien zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der Bürgerlichen Sozialreform in Deutschland

Von

Ursula Ratz

Duncker & Humblot · Berlin

URSULA RATZ

Arbeiteremanzipation zwischen Karl Marx und Lujo Brentano

Sozialpolitische Schriften Heft 73

Arbeiteremanzipation zwischen Karl Marx und Lujo Brentano Studien zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der Bürgerlichen Sozialreform in Deutschland

Von

Ursula Ratz

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek -'- CIP,Einheitsaufnahme Ratz, Ursula: Arbeiteremanzipation zwischen Karl Marx und Lujo Brentano : Studien zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der Bürgerlichen Sozialreform in Deutschland I von Ursula Ratz. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Sozialpolitische Schriften; H. 73) ISBN 3,428,09155,8

Alle Rechte vorbehalten 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus,Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gerrnany

©

ISSN 0584,5998 ISBN 3A28,09155,8 Gedruckt auf alterungspeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorwort Die Publikation, in deren Vordergrund die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik stehen, geht auf Anregungen namhafter Historiker, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler zurück. Die über Jahre hinweg verstreut in Zeitschriften, Sammelwerken, Jubiläumsschriften etc. erschienenen, zum Teil schwer greifbaren Forschungsberichte, Rezensionsaufsätze und zentrale Probleme des heranreifenden modemen Sozialstaats thematisierenden Abhandlungen haben in der wissenschaftlichen Fachwelt große Beachtung gefunden. Seit langem werden die hier neu veröffentlichten Beiträge nicht zuletzt wegen ihres exemplarischen Charakters und der Tatsache, daß sie auf weitgehend erstmals erschlossenem Archivmaterial basieren, im akademischen Seminarbetrieb und zu Unterrichtszwecken an Fachhochschulen und Gymnasien herangezogen. Als Zeichen der Wertschätzung der Arbeiten und der breiten Resonanz auch auf internationaler Ebene kann der Umstand gelten, daß mehrere Aufsätze ins Chinesische, Japanische und Englische übersetzt wurden. Für die unverminderte Aktualität quellenfundierter Forschung spricht, daß sich die kürzlich in den USA erschienene, von John H. Kautsky bearbeitete englische Übersetzung von Karl Kautskys "Weg zur Macht"l auf eine vor 30 Jahren veröffentlichte - in den vorliegenden Band allerdings nicht aufgenommene - Dokumentation der Verfasserin 2 stützt. Wegen der politisch-ideologischen Teilung Deutschlands blieb die Benutzung der Abhandlungen im akademischen Betrieb bis 1989 weitgehend auf Westdeutschland beschränkt. Nur sporadisch konnten einige Informationen über das literarische Werk der Autorin über DDR-Wissenschaftler, die ebenso wie die Verfasserin alljährlich an den Forschern aus Ost und West offenstehenden Internationalen Tagungen der Historiker der Arbeiterbewegung (ITH) in Linz an der Donau teilnahmen, "nach drüben" vennittelt werden. In den neuen Bundesländern besteht jedoch ein großes Interesse an der Verwendung der Abhandlungen im Hochschulbetrieb, wie Historiker, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler im anderen Teil Deutschlands bestätigen. 1 John H. Kautsky (Ed.), The Road to Power, Political Reflections on Growing into the Revolution, Atlantic Highlands, New Jersey 1996. 2 Ursula Ratz, Briefe zum Erscheinen von Kar! Kautskys "Weg zur Macht", in: International Review of Social History, Vol. XII (1967), S. 432 - 477.

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Vorwort

Die Aufnahme der Einleitung der dokumentierten Studie über die Wohlfahrtspflege in Frankfurt am Main während des Ersten Weltkrieges in den Band geht auf Anregungen aus dem schulischen Bereich zurück. Die mit der Erprobung der Arbeit im Unterricht befaßten Gymnasial- und Fachhochschullehrer veranschlagen deren schulische Einsetzbarkeit sehr hoch. Die Behandlung einer in vielen Publikationen vernachlässigten Thematik, das verwendete exemplarische Verfahren, das hohe Maß an Konkretheit und Authentizität, so lautet das fast einhellige Urteil, machten die Studie zu einer äußerst gelungenen und sehr nützlichen Lektüre im Kontext des sozialkundlich ausgerichteten modemen Geschichtsunterrichts. Die Beiträge erscheinen in ihrer ursprünglichen Fassung. Den Mitarbeitern des Verlages danke ich für die freundliche Betreuung während der Drucklegung. Der Leitung des Verlages Duncker & Humblot schulde ich besonderen Dank für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Sozialpolitische Schriften". Ursula Ratz

Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................

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A. Zur Ideen-, Organisations- und Sozialgeschichte der Arbeiterbewegung .............................................................. 21 I. Zum Entwicklungsprozeß der Arbeiterbewegung ...................

21

1. Von der Opposition zur staatlichen Mitverantwortung. . . . . . . . . . . .. 21 2. Zwischen Anpassung und Systemkritik ......................... 36 3. Vom sozialen Protest zur kollektiven Interessenvertretung ......... 48

11. Die Arbeiterbewegung an der Basis und in der Tagespraxis .......... 70 1. Zur Sozialgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung - Lokal- und

Regionalstudien .............................................. 70 2. Zur Ideologie- und Organisations geschichte der Sozialdemokratie .. 85 3. Arbeiterbewegung zwischen Protest und Reform ................. 97 B. Das Richtungsspektrum innerhalb der Arbeiterbewegung ............. 119 1. Zum Profil der Marx-Orthodoxie ................................. 119 1. Karl Kautskys Einschätzung von Krieg und Frieden im Zeitalter des Imperialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 119 2. Perspektiven über Karl Kautsky - Neuerscheinungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung anläßlich des 50. Todestages des "Chefideologen" ...................................................... 135 11. Reformistische, revisionistische und unabhängige Strömungen ....... 161 1. Die Nachlaßverwalter des Marxschen Erbes ..................... 2. Arbeiterbewegung und Sozialpolitik ............................ 3. "Unser politischer Einfluß wächst mit unserer wirtschaftlichen Macht" - Aus einer Korrespondenz zwischen Adolph von Elm und Joseph Bloch ................................................ 4. Die Zimmerwalder Bewegung, Protokolle und Korrespondenz .... . 5. Der Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik (19. Dezember 1918 bis 8. April 1919) .......................................

c.

161 168

189 230 237

Berührungsfelder zwischen Arbeiterbewegung und Bürgerlicher Sozialreform ............................................................ 241 1. Die Zeit vor 1914 .............................................. 241 1. Aus Franz Mehrings marxistischer Frühzeit - Ein Briefwechsel Franz Mehrings mit Lujo Brentano (1891 - 93) .................. 241

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Inhaltsverzeichnis 2. Vom sozialkritischen Meinungsforum zum Richtungsorgan bürgerlicher Sozialreform - Der Redaktionswechsel bei der Sozialen Praxis 1897 im Urteil der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung . 280 3. Sozialreform contra patriarchalische Wohlfahrtspflege - Aus einem Briefwechsel zwischen Wilhelm Merton und Alfred Hugenberg . . . . 304 H. Sozialreform und Arbeiterschaft im Ersten Weltkrieg und in den Anfängen der Weimarer Republik ................................ 1. Die Wohlfahrtspflege in Frankfurt am Main während des Ersten Weltkrieges am Beispiel Wilhelm Mertons ...................... 2. "Der Krieg ist keine Gelegenheit zum Geldverdienen" - Richard Mertons Denkschriften aus dem Ersten Weltkrieg ................ 3. Sozialdemokratische Arbeiterbewegung, bürgerliche Sozialreformer und Militärbehörden im Ersten Weltkrieg ....................... 4. Zur Sozialpolitik in den Anfangsjahren der Weimarer Republik ... .

310 310 331 337 371

Verzeichnis der Druckorte ............................................. 386

Abkürzungsverzeichnis ADAV ADGB BB BfS CfpF DDP

Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Berichte des Bureaus für Sozialpolitik Bureau für Sozialpolitik Centrale für private Fürsorge

GfSR GO

Deutsche Demokratische Partei Gesellschaft für Soziale Reform Gewerbeordnung

IfG

Institut für Gemeinwohl

KAfKI

Kriegsausschuß für Konsumenteninteressen

KEA

Kriegsemährungsamt Kommunistische Partei Deutschlands Monats-Berichte des Bureaus für Sozialpolitik

KPD

MB MG MGM NFD OHL RAA RAM SAP

Metallgesellschaft AG Militärgeschichtliche Mitteilungen Nationaler Frauendienst Oberste Heeresleitung Reichsarbeitsamt Reichsarbeitsministerium Sozialistische Arbeiterpartei

SDAP SM

Sozialdemokratische Arbeiterpartei Sozialistische Monatshefte

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

USPD VDAV VfFV

Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Verband Deutscher Arbeitervereine Volksbund für Freiheit und Vaterland

VfS ZAG

Verein für Sozialpolitik Zentralarbeitsgemeinschaft

ZdK

Zentralverband deutscher Konsumvereine

Einleitung Die Geschichte der Arbeiterbewegung hat sich in Deutschland wie international seit den 1960er Jahren zu einem bedeutenden, kaum noch weiße Flecken aufweisenden Forschungszweig entwickelt. Der lange Zeit vorherrschenden Konzentrierung auf Organisationen, Ideologien, Führungsschichten, Richtungsstreitigkeiten, Wähler- und Parlamentsentwicklungen folgte die Hinwendung zur konkreten Lage, den Lebensformen und Mentalitäten der Arbeiter selbst. Vor allem die intensive Beschäftigung mit der "Mikrogeschichte" , mithin die historiographischen Bemühungen um das Alltagsleben und -handeln der Arbeiter sowie ihrer Organisationen auf lokaler und regionaler Ebene trugen dazu bei, daß sich die Geschichte der Arbeiterbewegung zur Sozialgeschichte der Arbeiterschaft erweiterte. Hier wurden bahnbrechende, auch auf andere Forschungszweige ausstrahlende Ansätze erprobt. Dabei kam es zwangsläufig zur Verknüpfung mit der Geschichte der sozialen Ideen, die auch den Bereich der Sozialreform einschließt. In der vorliegenden Beitragssammlung gilt der "Bürgerlichen Sozialreform" das vorrangige Interesse, da der vom Bürgertum getragenen freien Sozialreform vor allem seit der Reichsgründungszeit besondere Bedeutung zukam. Dabei wird durchaus nicht außer acht gelassen, daß es daneben eine konservative, ferner eine von den Kirchen, vornehmlich der katholischen, getragene sowie eine mit dem Namen Raiffeisen verbundene bäuerliche Sozialreform gegeben hat. Die Bestrebungen der gesellschaftlichen Vereinsbildungen - auch der 1844 gegründete Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen wäre hier zu nennen - liefen im wesentlichen darauf hinaus, auf die Politik der Parlamente und Regierungen, die Behörden und die öffentliche Meinung mehr oder weniger konkreten Einfluß zu nehmen. Zu den bedeutendsten Reformströmungen gehörte der 1872 gegründete Verein für Sozialpolitik (VfS) sowie die mit stärker praktischer Orientierung 1901 konstituierte Gesellschaft für Soziale Reform (GfSR). Mit beiden Vereinigungen eng verflochten waren der von konfessioneller Seite 1890 begründete Volksverein für das katholische Deutschland als organisatorisches Zentrum der katholischen Sozialreform und der zur gleichen Zeit etablierte, im protestantischen Sozialmilieu verankerte Evangelisch-Soziale Kongreß. ' In den wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Formationen, dem VfS und der GfSR, standen sich grundsätzlich zwei unterschiedliche Richtungen

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gegenüber. Der konservativen Gruppierung ging es vorrangig darum, die Emanzipation der unteren Klassen durch ein schrittweises Vorgehen mit Hilfe von Schiedsgerichten, Tarifverträgen und einer gesetzlichen Regelung der Rechtsstellung der Berufsvereine zu erreichen. Hier stieß die ungehinderte Freisetzung der gewerkschaftlichen Organisationsmacht auf große Skepsis. Dem als Instrument ausgleichender Gerechtigkeit verstandenen Staat billigte man eine entscheidende Rolle bei der Erziehung der Arbeiterkoalitionen zur "Vernünftigkeit" zu, um das bestehende konstitutionell-monarchische System vor sozialen Erschütterungen zu bewahren. Der bedeutendste Repräsentant dieser Auffassung war kein geringerer als Gustav Schmoller. Dagegen plädierte die sozialliberale Gruppe, die an ein Auspendeln der Klassenantagonismen ohne Revolution glaubte, für die gleichberechtigte Stellung der Arbeiterklasse im Staats- und Gesellschaftsleben. Die Protagonisten dieser Position setzten sich für starke, mit vollem Koalitionsrecht ausgestattete Selbsthilfeorganisationen sowie für den kollektiven Arbeitsvertrag als wesentliche Mittel der Konfliktregulierung ein. Zu den Exponenten dieser Richtung gehörte der Mitbegründer des VfS und das Haupt der liberalen Kathedersozialisten, Lujo Brentano. Brentanos Befürwortung einer liberalen Handelspolitik, sein Eintreten für Koalitionsfreiheit und die gesetzliche Gleichberechtigung der Arbeiter mit den Arbeitgebern bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen und produktionsorientierter Löhne waren geeignet, ihn bei den Arbeitern vor allem aus dem gewerkschaftlichen Umfeld als pro tempore-Verbündeten im Kampf gegen staatliche Restriktionen und den "Herr im Hause"-Standpunkt der Unternehmer zu empfehlen. Diese als "antikapitalistische Allüren" stigmatisierten Überzeugungen Brentanos riefen die führenden Theoretiker der Sozialdemokratie auf den Plan. Seit dem Erscheinen von Brentanos auf englischen Erfahrungen basierendem Werk über die "Arbeitergilden" (1871/ 72) ließen die Hüter der Marx-Orthodoxie, vor allem Karl Kautsky, keine Gelegenheit ungenutzt, um die Gefährlichkeit des Kathedersozialisten an den Pranger zu stellen. Der Vorwurf, Brentano wolle analog dem englischen Vorbild aus der deutschen Arbeiterklasse eine Arbeiteraristokratie herausspalten und auf diese Weise die revolutionäre Sozialdemokratie in ihrer Entwicklung hemmen, wurde ein fester Bestandteil des sozialistischen Credos. Die Polemik gegen Brentano gewann durch die aus den 1870er Jahren datierende, 1890/91 erneut auflebende literarische Fehde mit Karl Marx an zusätzlicher Schärfe.

In diese Zeit fällt die in dem vorliegenden Band analysierte und dokumentierte Korrespondenz zwischen Lujo Brentano und Franz Mehring. Letzterer hatte damals allerdings den Schritt zur proletarischen Klassenpartei noch nicht vollzogen. Er distanzierte sich daher weitgehend von der von seiten der sozialdemokratischen Partei führung gegen den liberalen Kathe-

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dersozialisten geschürten Gefährlichkeitspropaganda. Im Gegenteil gewinnt man aufgrund des von Respekt und Anerkennung zeugenden Dialogs den Eindruck, daß Mehring die zeitgenössische Einschätzung teilte, daß Brentano der "begehrteste deutsche Nationalökonom" (Schmoller) und zugleich einer der bedeutendsten Sozialpolitiker und Sozialreformer sei. Die parteioffizielle sozialdemokratische Gegnerschaft hat Brentano weder zu einer Änderung seines Arbeiterkonzepts bewogen noch in der Folgezeit die von Freundschaft und Sympathie geprägte Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten und Freigewerkschaftlern vor allem in München, wo der Nationalökonom seit 1891 lehrte, beeinträchtigt. Allerdings blieben die in der polemischen Auseinandersetzung mit den Hütern des marxistischen Erbes hervorgetretenen grundsätzlichen Differenzen im wesentlichen für das Verhältnis zwischen sozialdemokratischer Arbeiterbewegung und bürgerlicher Sozialreform bestimmend. Verständlich, daß die in ein vielgestaltiges System obrigkeitsstaatlicher Repression, Diskriminierung und Isolation gedrängte sozialdemokratische Arbeiterbewegung den auf soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Versöhnung und evolutionäre Entwicklung zielenden Leitvorstellungen der bürgerlichen Sozialreformer wenig Aufgeschlossenheit entgegenbrachte. Daher stieß auch die Sozialversicherungspolitik des Kaiserreichs, die ihre Nebenbedeutung als Politik der Ergänzung zur Strategie der Unterdrückung niemals ganz abstreifen konnte, in den Reihen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im wesentlichen auf Ablehnung. Erst über den Umweg der Mitarbeit von Sozialdemokraten und Freien Gewerkschaftlern in den Einrichtungen der Sozialversicherung, in den Gewerbegerichten, Einigungsämtern und kommunalen Arbeitsnachweisen hat sich ein allmählicher Bewertungswandel vollzogen. Dieser vor allem von der reformistisch ausgerichteten Gewerkschaftsbewegung geförderte Prozeß der "positiven" Integration hat bis zu einem gewissen Grad zur Verminderung der Klassenspannungen beigetragen. Gleichwohl hielt die Regierung an ihrem Emanzipation und Gleichberechtigung der Arbeiterorganisationen verweigernden Gesamtkurs fest. Sie stand daher dem von den Sozialreformern propagierten Konzept der Vorrangigkeit und Dringlichkeit der Politik des Arbeiterschutzes und der kollektiven Ordnung des Arbeitsverhältnisses vor dem Ausbau der staatlichen Arbeiterfürsorge ablehnend gegenüber. Ohne Zweifel hat das ambivalente politische System in Deutschland, das einerseits mit der Sozialpolitik die Integration der Arbeiterschaft in Staat und Gesellschaft anstrebte, andererseits durch einen Kurs der Repression, Diskriminierung und Ausgrenzung die Domestizierung der Arbeiterbewegung betrieb, den Dualismus von revolutionärer Theorie und reformistischer Praxis in der Sozialdemokratie gefördert. Dabei entsprach das von Karl Kautsky, dem Chefideologen der deutschen und internationalen Sozialdemo-

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kratie, vermittelte, popularisierte und definierte marxistische Konzept eher den strukturellen Gegebenheiten des von wirtschaftlicher Modernität einerseits und politisch-obrigkeitsstaatlicher Beharrung andererseits geprägten Kaiserreichs als die politischen Einschätzungen der sozialdemokratischen Rechten. Nicht die Revisionisten und die verschiedenen, um die von Joseph Bloch herausgegebenen "Sozialistischen Monatshefte" gescharten Gruppierungen bestimmten die Marschroute der deutschen Vorkriegssozialdemokratie, sondern die von Karl Kautsky, dem "Theorielieferanten" für den die politische Praxis verwaltenden August Bebei, formulierte Programmatik. Insbesondere Kautskys Imperialismuskonzept, das auch für die sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale wegweisend wurde, verdeutlicht diesen Sachverhalt. Unter den Bedingungen der gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnisse des Kaiserreichs war der Handlungsspielraum der bürgerlichen Sozialreformer von Anfang an begrenzt. Dies zeigt sich schon in der Gründungsphase der GfSR. Im Jahr 1897 übernahmen namhafte Repräsentanten des "Neuen Kurses" mit dem ehemaligen preußischen Handelsminister Freiherrn von Berlepsch an der Spitze gemeinsam mit sozialpolitisch aufgeschlossenen Unternehmern und führenden Gelehrten die Zeitschrift "Soziale Praxis", die als Fachblatt der Sozialpolitik bereits über ein hohes Ansehen und einen breiten Leserkreis verfügte. In einer Zeit verstärkter innenpolitischer Reaktion versuchten die "Exminister" des Reformkurses und die unter staatlichen Druck geratenen Vertreter des Bildungsbürgertums, mit Hilfe eines in ihrem Sinne umgestalteten sozialpolitischen Publikationsorgans den reformfeindlichen Bestrebungen der Industriellen unter Führung des der Ära den Stempel aufprägenden Freiherrn von Stumm und der mit diesen verbündeten, von der preußischen Reformbeamtenschaft weitgehend entblößten Regierung Paroli zu bieten. Die Sammlung der BerlepschGruppe um die "Soziale Praxis" als Vorstufe zur Gründung einer organisatorischen Plattform für alle Anhänger einer energischen Sozialreform stieß in weiten Kreisen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften auf Zurückhaltung oder schroffe Ablehnung. Allerdings blieben die Freien Gewerkschaften nicht ganz unbeeindruckt von dem Eintreten der um die "Soziale Praxis" gescharten, später in der GfSR zusammengeschlossenen Sozialreformer für ein uneingeschränktes Koalitionsrecht, für einen umfassenden Arbeiterschutz und ein kollektives Arbeitsrecht. Aufs ganze gesehen kennzeichneten in der Zeit vor 1914 betonte Distanz und partielle Annäherung zwischen Freien Gewerkschaften und GfSR das Verhältnis zwischen bürgerlichen Sozialreformern und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung. Von daher konnte die GfSR ihre Rolle als Sammelzentrum aller Anhänger von Emanzipations- und Reformbestrebungen nur im Rahmen der ihr korporativ angeschlossenen bürgerlichen Arbeitnehmer-

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schaft, vor allem der Christlichen Gewerkschaften, Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine und Angestelltenverbände, erfüllen. Die Beteiligung der Sozialreformer an den Flottenkampagnen der späten 90er Jahre und ihr Engagement für eine weltpolitische Stärkung des Deutschen Reiches unter Reichskanzler Bülow bildeten ein weiteres, den Abstand zum sozialdemokratisch-freigewerkschaftlichen Lager vergrößerndes Moment; mochte auch der Brentano-Schüler Ernst Francke immer wieder das Junktim zwischen arbeiterfreundlicher Innenpolitik und forcierter Weltpolitik betonen. Für die Beziehungen zwischen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und den Sozialreformern waren einerseits personelle und strukturelle Gegensätze, andererseits bestimmte, einander ausschließende Rollenvorstellungen und unterschiedliche Erwartungshaltungen von entscheidender Bedeutung. Ein wesentliches Belastungselement bildete die von den Sozialreformern aller Couleur geteilte Erwartung, daß die auf "praktische Gegenwartsarbeit" ausgerichteten Freien Gewerkschaften als. Motor einer Umwandlung der "utopistischen Zukunftszielen" verhafteten Sozialdemokratie in eine konsequente Reformpartei fungieren und sich von der Vormundschaft der Partei emanzipieren würden. Mit Rücksicht auf die gesamtpolitische Situation und im Hinblick auf das gewerkschaftliche Selbstverständnis einer einheitlichen sozialdemokratischen Bewegung konnten sich die Freien Gewerkschaften trotz der zahlreichen Berührungspunkte auf pragmatischer Ebene nicht für eine feste Liaison mit den bürgerlichen Sozialreformern entschließen. Allerdings kam es in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch auf dem Gebiet des Heimarbeiterschutzes und in der Frage der Abwehr von Angriffen auf das Koalitionsrecht zu einer punktuellen Zusammenarbeit zwischen Sozialreformern und freien Gewerkschaften. I Erst die durch den Ersten Weltkrieg veränderte innenpolitische Konstellation schuf einen grundlegenden Wandel im Verhältnis zwischen Freien Gewerkschaften und GfSR. Die in der Vorkriegszeit zwischen den Sektionen des freigewerkschaftlichen Lagers und der "Gesellschaft" respektive den bürgerlichen Arbeitnehmerorganisationen konstituierten "temporären Aktionsgemeinschaften" wurden nunmehr zu regelrechten bürgerlich-sozialdemokratischen "Arbeitsgemeinschaften" ausgebaut. Der gemeinsame Kampf der Sozialreformer, der ihnen zugehörigen bürgerlichen Arbeitnehmerklientel und der Freien Gewerkschaften für die Durchführung der von der Regierung nach wie vor verschleppten und verweigerten sozialen Reformen förderte in den Reihen der letzteren die Überzeugung, daß sich in der GfSR ein Auffassungswandel vollzogen habe. Daher beschloß die von der Vorständekonferenz in ihrer Bündnisstrategie bestätigte Generalkommission 1 Ursula Ratz, Sozialreform und Arbeiterschaft. Die "Gesellschaft für Soziale Reform" und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Berlin 1980.

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der Freien Gewerkschaften, das seit Kriegsbeginn praktisch bestehende Partnerschaftsverhältnis durch den Anschluß an die GfSR auch organisatorisch zu besiegeln. 2 Im Kräfteparallelogramm Regierung, Sozialdemokratie und Unternehmerschaft standen die bürgerlichen Sozialreformer aufgrund ihrer Zielsetzungen, Tätigkeit und Mitgliederstruktur von Anfang an unter einem scharfen, von der Großindustrie ausgehenden Spannungsdruck. Durch ihr Eintreten für einen ausgedehnten Arbeiterschutz, für Koalitionsfreiheit, für einen Ausbau des Tarifvertrags- und Einigungswesens zur Verhinderung beziehungsweise Eindämmung von Arbeitskämpfen sowie durch ihre konsequente Ablehnung der von den Arbeitgebern abhängigen "gelben" Arbeiterverbände rangierte die als "einseitige Interessenvertretung der Arbeitnehmer" stigmatisierte GfSR auf der Feindskala des großindustriellen Unternehmertums an oberster Stelle. Entgegen den Vorstellungen der Sozialreformer bemühte sich die "Herr im Hause"-Partei der Großindustrie, mit einem gut ausgebauten System von Maßregelungen, Schwarzen Listen, Arbeitgeber-Arbeitsnachweisen und betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen ihre Autorität im Betrieb und ihre unternehmerische Selbständigkeit aufrechtzuerhalten und die Belegschaft gegen die "Fremdeinflüsse" der Gewerkschaften abzuschirmen. Anders als seine Standes genossen betrachtete der Frankfurter Wirtschaftsführer und Sozialreformer Wilhelm Merton die Arbeiterfrage und die Stellung der Arbeiter im Betrieb. Für ihn waren Aufwendungen zum Schutz, zur Hebung und Entfaltung der Arbeiter selbstverständliche Maßnahmen unternehmerischen Wirkens. Daher setzte er sich für einen umfassenden Arbeiterschutz, "konstitutionelle Garantien" wie Tarifverträge und Schlichtungsinstanzen ein. Seinem wirtschaftlichen Unternehmen stellte er einen auf planmäßiger, rationeller und wissenschaftlicher Grundlage organisierten "sozialen Konzern" an die Seite vom Institut für Gemeinwohl bis zum Institut für Gewerbehygiene. 3 Für dieses Konzept konnte sich Alfred Hugenberg, früheres Aufsichtsratsmitglied der von Wilhelm Merton gegründeten Metallgesellschaft, später Vorsitzender des Direktoriums der Firma Krupp, nicht erwärmen. Zweifellos war das System betrieblicher Wohlfahrtseinrichtungen der Firma Krupp im zeitgenössischen Kontext herausragend. 4 Selbst im Urteil 2 Vgl. Ursula Ratz, Zwischen Arbeitsgemeinschaft und Koalition. Bürgerliche Sozialreformer und Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg, München - New Providence London - Paris 1994. 3 Vgl. Ursula Ratz, Wilhelm Merton, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 17 (1994), S. 184ff. 4 Vgl. Klaus Tenfelde (Hrsg.), Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994.

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der Christlichen Gewerkschaften galten diese als "vorbildlich". Gleichwohl erkannten auch die Christlichen den Nebenzweck der Einrichtungen. Diese sollten eine feste Bindung der Belegschaft an das patriarchalische Betriebssystem über das Arbeitsverhältnis hinaus garantieren und die Gewerkschaften als Verhandlungspartner überflüssig machen. 5 Für die Überzeugung Hugenbergs von der Notwendigkeit eines organisch fortzuentwickelnden betrieblichen Patriarchalismus und der "tief wurzelnden Arbeitsgemeinschaft" zwischen der Familie der Werkbesitzer und der Gesamtheit der in ihren Unternehmungen Beschäftigten sowie für seine strikte Ablehnung aller Mächte, die "horizontal" teilen wollen, bietet der in dem Band abgedruckte Briefwechsel aus dem Jahre 1912 einen eindrucksvollen Beleg. Die Reformvorstellungen Wilhelm Mertons erhielten während des Ersten Weltkrieges erheblichen Auftrieb. Seinem Einfluß ist es zuzuschreiben, daß sich in der Wohlfahrtspflege ein tiefgreifender Wandel von der punktuellen Fürsorge für spezifische Armutsgruppen zur umfassenden kommunalen Sozialpolitik vollzog. Unter Mertons Leitung entwickelten sich in Frankfurt am Main spezifische Organisationsformen der Kriegsfürsorge, die beispielhaft für andere Städte wurden. Wegweisend war einerseits die Verschweißung der öffentlichen und privaten Fürsorge zu einem einheitlichen, arbeitsteiligen Komplex. Zum anderen verdeutlicht die intensive Mitarbeit der sozialdemokratischen Stadtverordneten in den Leitungsgremien der Organisation, daß die Kriegsfürsorge den Prozeß der Integration der in der Vorkriegszeit der kommunalen Wohlfahrtspflege überwiegend distanziert gegenüberstehenden Sozialdemokratie vorangetrieben hat. Alles in allem zeigt das Frankfurter Beispiel, daß sich das Konzept bürgerlicher Sozialreform zu einer in der Wohlfahrtspflege der Weimarer Republik voll ausgebildeten wohlfahrtsstaatlichen Sicherungsstrategie erweiterte. Der Erste Weltkrieg bedeutete nicht nur eine Zäsur im Verhältnis zwischen sozialdemokratischer Arbeiterbewegung und bürgerlicher Sozialreform, sondern auch in den Beziehungen der GfSR zu den Zivil- und Militärbehörden des Reiches. Die Tätigkeit der GfSR-Protagonisten als Vermittler, Berater, Gutachter und Berichterstatter gewann vor allem im Hinblick auf die militärischen Stellen an Relevanz. Speziell die von der Geschäftsstelle der GfSR, dem Bureau für Sozialpolitik, verfaßten Berichte über die Stimmung im sozialdemokratischen Lager bildeten ein hervorragendes Instrument informeller sozialreformerischer Einflußnahme auf die amtliche Politik. Sie trugen nicht zuletzt zu einer begrenzten Verbesserung des Klimas zwischen Militär und Gewerkschaften bei, wenngleich letztlich die in den Darlegungen vermittelten Zielvorstellungen und Handlungserwartungen der Sozialreformer unerfüllt blieben. 5

Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften, 12. Jg. (1912), S. 285.

2 Ratz

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Die gutachtlichen Bemühungen der Sozialreformer wurden durch die im Weltkrieg von Richard Merton, dem Sohn Wilhelm Mertons, verfaßten Denkschriften wesentlich unterstützt. Der dem Stab General Groeners zugeteilte Richard Merton hat als Sachverständiger für Industrie- und Arbeiterfragen die reformfreundlichen, auf Zusammenarbeit und Anerkennung der Gewerkschaften gerichtete Linie Groeners mitgetragen. Die Denkschriften "Über die kritische Ernährungslage", "Regierung und Gewerkschaften" und "Über die Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffs zur Regelung der Unternehmergewinne und Arbeiterlöhne" zeugen von Mertons Verständnis der im Krieg vollzogenen sozialen und politischen Veränderungen sowie seiner Erkenntnis des Zusammenhangs von kriegswirtschaftlich geförderter Überspannung des Gewinnstrebens und Verschärfung der durch staatliche Regulierung auszugleichenden inneren Gegensätze. 6 Das KriegsgewinnMemorandum hat wesentlich zum Sturz Groeners und damit auch zur Beendigung des Kurses begrenzter Reformen, Interventionen und Integrationsleistungen gegenüber der Arbeitnehmerschaft beigetragen. Die enge Verbindung zwischen bürgerlichen Sozialreformern und Freien Gewerkschaften überdauerte das Ende des Weltkrieges und die Revolutionszeit. Die zwischen 1914 und 1918 entstandenen Arbeitsgemeinschaften wurden zu Wegbereitern der am Anfang der Weimarer Republik gebildeten bürgerlich-sozialdemokratischen Koalitionen. Diese stellten im wesentlichen eine Fortsetzung des seit dem Hilfsdienstgesetz etablierten Reformkartells der Mitte-Links-Parteien, der Gewerkschaften aller Richtungen sowie der Sozialreformer dar. Letztere haben auch durch ihre programmatische Vorarbeit für ein paritätisches Zusammenwirken zwischen Kapital und Arbeit und für eine kollektivrechtliche Arbeitsvertragsgestaltung den Weg für das Stinnes-Legien Abkommen geebnet, das Ludwig Heyde, engster Mitarbeiter Franckes in der GfSR-Zentrale, als einen "Triumph sozialreformerischer Gedanken" wertete. Nach 1918 setzte das reformerische Bündnis von Sozialreformern, bürgerlicher Arbeitnehmerschaft und Freien Gewerkschaften 'seine Bemühungen um eine Ausgestaltung der Sozialpolitik fort. Ob es um die Schaffung eines einheitlichen Arbeitsrechts, um die Ausarbeitung eines Tarifvertragsgesetzes, den Ausbau des internationalen Arbeitsrechts, um die Verabschiedung des von der Regierung über Jahrzehnte hinweg verschleppten Heimarbeitergesetzes, die Frage der Reform des Arbeitsnachweiswesens oder um die Neugestaltung einer gesetzlich verankerten Schlichtungsordnung ging, stets handelte es sich um eine Anknüpfung an die während des Weltkrieges und über die Revolution von 1918/19 hinaus entwickelten Reforminitiati6 Vgl. Ursula Ratz, Richard Merton, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 17 (1994), S. 187f.

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ven. Wenn nur ein Teil des sozialpolitischen Programms verwirklicht werden konnte, ging dies nicht in erster Linie auf das Schuldkonto der Bündnispartner, sondern resultierte aus den veränderten Bedingungen der politischen Landschaft von Weimar. Der Abbau des Achtstundentages und der allmähliche Zerfall der Zentralarbeitsgemeinschaft waren unverkennbare Signale für den gesunkenen Pegelstand gewerkschaftlicher Durchsetzungskraft und für die Einengung des zur Verwirklichung sozialer Reformen erforderlichen Handlungsspielraums. Die bürgerlichen Sozialreformer wiederum, deren seit Jahrzehnten vertretenen sozialpolitischen Forderungen, vor allem die nach einer kollektivrechtlichen Arbeitsvertragsgestaltung, die Weimarer Verfassung kodifiziert und damit auch die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Arbeiter festgeschrieben hatte, konnten sich in den Anfangsjahren von Weimar nicht zu einer grundsätzlichen Neuorientierung der sozialpolitischen Konzeption durchringen. Dies hing einmal damit zusammen, daß sich die Führungsspitze der GfSR von ihrem partikularen, auf das Teilgebiet der Sozialpolitik beschränkten Politikverständnis nicht zu lösen vermochte. Dieses Selbstverständnis hatte die Vereinigung im Kaiserreich zwar zur Mittlerorganisation unterschiedlicher Positionen und Richtungen werden lassen, erwies sich jedoch in dem zu politischen Stellungnahmen herausfordernden Weimarer Parteienstaat als Handicap. Zum anderen förderten die Einbeziehung anderer außerhalb der Arbeitnehmerschaft stehender Zielgruppen und der Rückgriff auf "Gemeinwohl"-Konzeptionen den in der GfSR in Gang gekommenen Erosionsprozeß auf der personellen, programmatischen und auf der allgemeinen Ebene. 7 Aufgrund ihres Festhaltens an dem Standpunkt der Nichteinmischung in die Politik zeigten sich die Sozialreformer von Veränderungen der Staatsform und vom Wechsel der Regierungen, sofern der sozialpolitische Sektor davon unberührt blieb, weitgehend unbeeindruckt. Wie 1918 von der Revolution, wurden die Sozialreformer 1933 von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler überrascht, ohne darin momentan mehr als einen der vielen Regierungswechsel der vorhergegangenen Jahre zu erblicken. Nach der Ausschaltung der unabhängigen Arbeitnehmerorganisationen, der autoritativen Umgestaltung der sozialen Selbstverwaltung und der Errichtung der "Deutschen Arbeitsfront" durch das nationalsozialistische Regime trat der Bruch der Nationalsozialisten mit den gesellschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Sozialreform deutlich zutage. Der nationalsozialistische Anspruch, den "Marxismus" endgültig besiegt und die Klassengesellschaft 7 Dazu Ratz, Zwischen Arbeitsgemeinschaft und Koalition (wie A. 2); hierzu und zum folgenden vgl. die Beiträge in: Rüdiger vom Bruch (Hrsg.), "Weder Kommunismus noch Kapitalismus". Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985.

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durch die Bildung einer nationalen Volksgemeinschaft überwunden zu haben, mußte auch die Existenz der sozialreformerischen Organisationen selbst in Frage stellen. So gerieten nach der Zerschlagung der Gewerkschaften und ihrer Einrichtungen die großen sozialreformerischen Vereinigungen ebenfalls in den Sog des innenpolitischen Gleichschaltungsprozesses. Angesichts der engen personellen, organisatorischen und ideellen Verbindung der GfSR mit den Gewerkschaften bestand kein Zweifel, wie sich das Regime gegenüber dem stärksten sozialreformerischen Verband verhalten würde. Durch den Terror gegen führende Repräsentanten aus dem Lager der Gewerkschaften, die Gleichschaltung der Christlichen Verbände, den auf den Druck des Reichsarbeitsministeriums hin erfolgten Rückzug der Ministerialbeamten aus der Vereinigung sowie die Aufkündigung der finanziellen Unterstützung war die zu einem organisatorischen Torso herabgesunkene GfSR 1936 zur Selbstauflösung gezwungen. Ähnlich früh geriet auch der Volksverein für das katholische Deutschland unter den nationalsozialistischen Auflösungsdruck. Der zunächst noch über eine gewisse Bewegungsfreiheit verfügende VfS mußte zur selben Zeit wie die GfSR der Selbstliquidation zustimmen. Die Zerschlagung der autonomen Organisationen der Arbeiterbewegung, die Auflösung der sozialreformerischen Vereinigungen und die Verdrängung der Bereitschaft zur Anerkennung sozialer Interessenkonflikte durch die totalitäre Volksgemeinschaftsideologie offenbaren den Bruch mit den Ziel vorgaben der sozialreformerischen Bewegung. Die auf der Hauptversammlung der GfSR vom Januar 1933 von der Generalsekretärin Frieda Wunderlich formulierte optimistische Voraussage, daß die deutsche Sozialpolitik in ihrem gewordenen Bestand ein Eigenleben gewonnen habe, das jeder prinzipiellen Revision entgegenstehe8 , erwies sich auf dem Prüfstein der Wirklichkeit als eine Illusion.

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Vgl. Soziale Praxis, 42. Jg. (1933), Sp. 137.

A. Zur Ideen-, Organisations- und Sozialgeschichte der Arbeiterbewegung I. Zum Entwicklungsprozeß der Arbeiterbewegung 1. Von der Opposition zur staatlichen Mitverantwortung

Am 20. Juni 1873 schrieb Engels an Bebei: "Natürlich will jede Parteileitung Erfolge sehen, das ist auch ganz gut. Aber es gibt Umstände, wo man den Mut haben muß, den augenblicklichen Erfolg wichtigeren Dingen zu opfern. Namentlich bei einer Partei wie die unsrige, deren schließlieher Erfolg so absolut gewiß ist, und die zu unseren Lebzeiten und unter unseren Augen sich so kolossal entwickelt hat, braucht man den augenblicklichen Erfolg keineswegs immer und unbedingt" 1. Wer die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie kritisch überprüft, wird feststellen, daß diese Engelssehe Mahnung nicht ohne historische Wirkung geblieben ist. Der unerschütterliche Glaube an den sicheren Sieg und die trotz aller reformistischen Anpassung bewahrte Prinzipienfestigkeit waren entscheidende Triebfedern für die Sozialdemokratie bei ihrem beispiellosen Aufstieg wie bei ihrem lang geübten Verzicht auf Machtausübung und dem schließlich nur unzureichenden Einsatz ihrer Kräfte. In Bebel fanden diese absolute Gewißheit des Endsiegs und das tief verwurzelte Vertrauen in den Wert der Grundsätze ihre lebende Verkörperung. Auch die Generation nach ihm ankerte noch weitgehend in diesen Vorstellungen, so daß sich die Partei selbst in den Entscheidungssituationen nach 1918 nicht zu einem den veränderten Verhältnissen entsprechenden Handeln durchdringen konnte. Es ist oft hervorgehoben worden, wie sehr das Festhalten an dem auf einen status quo eingefrorenen Dogma Energien der Arbeiterbewegung gebunden und eine Anpassung an die sich rasch wandelnde Wirklichkeit erschwert hat. Trotzdem wäre es zu einfach, Versäumnisse und Halbheiten im Agieren der Sozialdemokratie, ihre machtpolitische Abstinenz oder ihren späten, nur halbherzigen Zugriff nach der Macht allein auf das Konto der Ideologie zu buchen. Erst das Zusammentreffen der ideologischen Komponente der Arbeiterbewegung mit bestimmten politisch-gesellschaftlichJ August Bebeis Briefwechsel mit Friedrich Engels, Hrsg. von Werner Blumenberg, London - The Hague - Paris 1965, S. 21.

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A. Zur Ideen-, Organisations- und Sozialgeschichte der Arbeiterbewegung

psychologischen Faktoren hat dazu geführt, den bestehenden Dualismus von Theorie und Praxis wirksam zu steigern und in voller Schärfe zur Entfaltung zu bringen. Als solche Faktoren wären für die Zeit des Kaiserreiches etwa die auf gesellschaftliche und politische Unterprivilegierung hin konstruierte Staats- und Gesellschaftsordnung und die für eine Oppositionspartei verfassungsmäßig gesetzten Schranken anzuführen. Ferner wird man sich zu vergegenwärtigen haben, daß die Arbeiterschaft durch ihr andersartiges Betriebserlebnis, ihre andersgeartete Lebenshaltung, ihre verschiedene Denk- und Ausdrucksweise 2 im Grunde genommen von der bürgerlichen Welt getrennt blieb, obwohl sich die sozialdemokratische "Subkultur" in vieler Hinsicht bürgerlichen Verhaltensmustern angepaßt hatte. Das von einem besonderen Leitbild und Ethos geprägte Bewußtsein des Arbeiters stieß zudem auf eine Umwelt, in der man sich gegen die Angehörigen des vierten Standes sorgfältig abschirmte oder ihnen mit unverhohlener Feindschaft begegnete. Die Atmosphäre der Ächtung, die ihre größte Dichte in der Zeit des Sozialistengesetzes erreicht hatte, umgab die Arbeiterbewegung selbst noch im Weltkrieg, als die Welle der nationalen Begeisterung die alten Gegensätze hinweggeschwemmt zu haben schien. So existierte zwischen Arbeiterbewegung und Gesellschaft ein eigenartiges Spannungsverhältnis, dessen Belastungen sich für beide Seiten in gleichem Maße verhängnisvoll auswirkten: Während Staat, Behörden und öffentliche Meinung in Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten die Arbeiter als "Staatsbürger zweiter Klasse" diffamierten und den überkommenen Haß gegen die "rote Gefahr" tradierten, baute sich die Sozialdemokratie das ihr zudiktierte Ghetto zum "Parteivaterland" aus und sorgte durch ihre revolutionäre Attitüde und ihre Weigerung, die weitgehend erfolgte Integration theoretisch anzuerkennen, dafür, daß die Gegenseite in ihrer der Realität der Arbeiterbewegung unangemessenen Vorstellung verharrte. Solche Aspekte muß berücksichtigen, wer sich um ein vertieftes Verständnis der deutschen Arbeitergeschichte bemüht, der die hier vorzustellenden Gesamtübersichten und Teiluntersuchungen in verschiedener Weise nachzugehen versuchen. Friedrich Engels "Außer Marx hat niemand die internationale Sozialdemokratie mehr beeinflußt als Friedrich Engels,,3. Diese Behauptung Kautskys in der Einlei-

2 Einen guten Einblick in das Milieu des Arbeiters gibt das auf Arbeiterbefragungen beruhende Buch von Adolf Levenstein, Die Arbeiterfrage, mit besonderer Berücksichtigung der so?ialpsychologischen Seite des modemen Großbetriebes und der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter, München 1912.

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tung zu seiner kurzen Engels-Vita entsprang nicht nur einem Huldigungsbedürfnis des Schülers seinem ehemaligen Lehrmeister gegenüber, sondern war zugleich Ausdruck einer ehrlichen, weithin von den Zeitgenossen - Freunden wie Gegnern - geteilten Überzeugung. Im Gegensatz dazu hat man in der Forschung lange Zeit Engels auf ein Nebengleis geschoben, sein Werk abgewertet oder gar unterschlagen. Erst neuere Veröffentlichungen seines umfangreichen Briefwechsels und Neuauflagen vor allem seiner politischen und historischen Arbeiten haben Engels aus dem Dunkel und der Halbvergessenheit hervorgeholt und seine Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Arbeiterbewegung, insonderheit der deutschen Sozialdemokratie, wieder ins Bewußtsein gehoben. Die Mittlerfunktion, die Engels bei der Emanation der Marxschen Lehre in den Bereich der europäischen Arbeiterparteien ausübte, unterstreicht die kleine Engels-Monographie von Helmut Hirsch 4 . Verständlicherweise lag es nicht in der Absicht des Verfassers, mit einer auf 149 Seiten bemessenen Lebensskizze die klassische Engels-Biographie Gustav Mayers (1934) zu ersetzen. Dieses noch immer unerreichte biographische Meisterwerk bleibt auch weiterhin trotz Korrekturbedürftigkeit im Detail Basis und unentbehrliche Voraussetzung jeder fundierten Marx-Engels-Forschung. Man sollte daher Mayer kennen oder ihn zumindest parallel zum vorliegenden Essay - der ihm als Quelle und Interpretationsvorbild stark verpflichtet ist lesen, vor allem, da Hirschs metaphernreicher, aphoristischer Stil und seine eigenwillige, auf Originalität und Effekt zielende Art der Gedankenführung - oder besser der Gedankenkomprimierung - das Verständnis mancher Zusammenhänge erschweren. Das Interesse des Verfassers konzentriert sich auf Engels als Interpret Marxens und als Persönlichkeit. Fast alle Biographen stimmen darin überein, daß Engels - ausgeglichen, heiter, lebensfroh, daseinsbejahend geradezu den Gegenpol zu Marxens charakterlicher Schwere, psychischer Zerrissenheit und menschlicher Unleidlichkeit darstellte. Diesem vollblutigen, trinkfesten, auf Frauen leicht ansprechbaren Engels hat Hirsch ausgiebig nachgespürt, wie schon ein Kapitel mit dem Motto "Wein, Weib und Dialektik" (in dem sich allerdings die Dialektik zwischen Wein und Weib verflüchtigt zu haben scheint) vermuten läßt. Wer an dem "Cotton-Lord", "General" oder "mustergültigen Auslandsdeutschen" keinen Gefallen findet, der kann gemeinsam mit dem Autor den Hedonisten Engels goutieren. Mit

3 Karl Kautsky, Friedrich Engels, Sein Leben, sein Wirken, seine Schriften, Zweite Auflage, Berlin 1908, S. S. 4 Helmut Hirsch, Friedrich Engels in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten = rowohlts monographien, Nr. 142. 194 S., Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1968.

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einem umfangreichen Aufgebot an aussagekräftigen, mitunter recht brisanten - von ängstlichen sozialdemokratischen Briefeditoren einst geflissentlich totgeschwiegenen - Briefstellen 5 sorgt der Verfasser für die quellenmäßige Abrundung seines publikumswirksamen Engelsporträts. Was Engels' Verhältnis zu Marx anlangt, so kommt Hirsch zu einem ähnlichen Ergebnis wie der Marx-Psychograph Künzli: Engels erscheint eindeutig als der Gebende - als Freund, der den allzu bedächtigen Marx zu rascheren, schöpferischen Äußerungen antreibt, stets mit schonungsvoller, sachgemäßer Kritik bereitsteht, unter Preisgabe seiner Identität für Marx zur Feder greift und bis zum Lebensende uneigennützig die Funktion eines materiellen Schutzpatrons der Familie Marx wahrnimmt (vgl. S. 42, 44, 71, 72). Daß Engels die Rolle des Mäzens und Freundes fast bis zur Selbstverleugnung zu leben verstand, darin sieht Hirsch "von manchem Guten an Engels' Charakter das Beste" (S. 76). Ebenso wie Engels dem Freund existentiell "die Welt und die Wirklichkeit" lieferte (Künzli), hat er ihm im denkerischen Bereich, vor allem auf dem Gebiet der Nationalökonomie, entscheidende Anregungen vermittelt. Engels "Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie" (1844) haben, wie Hirsch hervorhebt, Marx vermutlich dazu getrieben, "den Großteil seines Forscherlebens mit dem Ausfüllen der Umrisse einer sozialistischen und kommunistischen Wirtschaftstheorie zu verbringen" (S. 33). Wie sehr Engels als politischer Schriftsteller und Historiker Marx ebenbürtig war, unterstreichen Arbeiten wie die vom Verfasser erwähnten Abhandlungen "Der deutsche Bauernkrieg" (1850) und "Po und Rhein" (1859), deren Zahl sich allerdings noch weiter vervollständigen ließe. Hier wäre hinzuweisen auf historisch-politische Beiträge wie "Der Status quo in Deutschland" (1847), "Gewalt und Ökonomie bei der Herstellung des neuen Deutschen Reiches" (1887/88) oder "Kann Europa abrüsten?" (1893). Auch an die philosophiehistorische Leistung der Engelsschen Feuerbachschrift (1888) sollte erinnert werden. Zu den bestkomponierten und eigenständigsten Partien der Studie von Hirsch gehören die Kapitel "Der erste Marxist" und "Die Slawen". Anhand verschiedener - an Liebknecht, Bernstein, Bebei, Kautsky und bekannte russische Marxisten - gerichteter "marxistischer" Briefabhandlungen werden einige charakteristische Merkmale des Engelsschen "Marxismus" vorgeführt: sein Evolutionismus, sein im Gegensatz zu Marxens "Nichtausmalen des ihm Unbekannten" erkennbares Bestreben, marxistische 5 Bezeichnenderweise sind die von Hirsch auf S. 68, 73 f. und 117 zitierten Briefe bzw. Briefauszüge - eine Kostprobe von Engels' "Geschäftsgebaren", über sein Zusammenleben mit Mary Bums, ferner eine Anspielung auf Homosexualität - in der von Bebel und Bernstein besorgten Briefausgabe der Zensur zum Opfer gefallen; vgl. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Kar! Marx 1844 bis 1883, Hrsg. von A. Bebel und E. Bernstein, 4 Bde, Stuttgart 1913.

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Zukunfts gemälde zu entwerfen, seine Überzeugung von der mathematischen Berechenbarkeit des Endsieges, seine stärkere Betonung des Gleichgewichts der Sozialkräfte gegenüber der absoluten Stärke der Produktivkräfte. Die Andeutung des Verfassers, der von Engels hergestellte Nexus von industrieller Verspätung und sozialer Revolution lasse auf ein Abgehen von Marx' Grundauffassung schließen, bedarf allerdings des ergänzenden Hinweises, daß schon der frühe Marx dem Zusammenhang von Rückständigkeit und Revolution nachgegangen ist und die Möglichkeit einer Abkürzung des revolutionären Prozesses in industriell rückständigen Ländern in Erwägung gezogen hat6 . Es ist daher nicht ganz einsichtig, warum man bei der Betrachtung der - gerade in industriell rückständigen Ländern durchgeführten - Revolutionen des 20. Jahrhunderts von "Engelsismus" statt von Marxismus (S. 95) sprechen sollte. Engels' Anteilnahme an Entwicklung und Aufstieg der deutschen Sozialdemokratie ist durch mannigfache Äußerungen in seinem Briefwechsel belegt. Auf den Stimmenzuwachs der SPD bei den Reichstagswahlen von 1884 reagierte er emphatisch: "Zum ersten Mal in der Geschichte steht eine solid geschlossene Arbeiterpartei als wirkliche politische Macht da, entwikkelt und großgewachsen unter den härtesten Verfolgungen, unaufhaltsam einen Posten nach dem andern erobernd, frei von allem Philistertum im philiströsesten, frei von allem Chauvinismus im siegestrunkensten Land Europas - eine Macht ... die aber ebenso sicher und unaufhaltsam sich emporarbeitet ... , daß die Gleichung ihrer wachsenden Geschwindigkeit und damit der Zeitpunkt ihres schließlichen Siegs sich schon jetzt mathematisch berechnen läßt" (zit. S. 91 f.). Der damals erkennbare Trend zum Wachstum der deutschen Partei bestärkte Engels' optimistische Zukunftsauffassung und seine sich immer mehr verfestigende Überzeugung, daß die parlamentarische Demokratie die optimale politische Voraussetzung für den friedlichen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus sei. Mit der Herausstellung des legal-parlamentarischen Weges, was sicher nicht die Preisgabe seiner revolutionären Grundhaltung implizierte, hatte Engels einen für die SPD bedeutsamen Wechsel auf die Zukunft gezogen. Rosa Luxemburg hat dies später mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Auf dem Gründungsparteitag der KPD nannte sie Engels' bekannte Einleitung zu Marxens "Klassenkämpfen" eine literarische Manifestation der von der SPD bis über den 4. August 1914 hinaus betriebenen offiziellen Politik, ein "klassisch zusammengefaßtes Dokument" für eine Auffassung, die die Partei getötet habe. Damit war Engels, wenngleich er von einer persönlichen Mitschuld 6 Vgl. Hans-Christoph Schröder, Aspekte historischer Rückständigkeit im ursprünglichen Marxismus, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung, Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Festschrift für Theodor Schieder, München - Wien 1968, S. 199ff.

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an der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung freigestellt wurde7 , doch eine indirekte Mitverantwortung aufgebürdet worden. Die Geschichte der Arbeiterbewegung als Erlebnis- und als Ideengeschichte Die Jahre 1848 und 1919 markieren zwei wichtige Stationen in dem langen, mühevollen Entwicklungsprozeß der deutschen Arbeiterbewegung auf ihrem Weg von einem oppositionellen, von staatlicher Mitarbeit ausgeschlossenen Faktor zu einer ausschlaggebenden, staatliche Verantwortung tragenden Kraft. Diesen Zeitraum vom ersten offenen Auftreten einer deutschen Arbeiterbewegung bis zur Übernahme des Reichspräsidentenamtes durch einen Sozialdemokraten umspannt eine Dokumentation von Ursula Schull. Daß diese Geschichte in "Augenzeugenberichten" schon in der ausgehenden Vormärzperiode einsetzt, ist im Interesse eines verfeinerten Verständnisses der sozialgeschichtlichen Voraussetzungen für den Sozialismus und die beginnende Arbeiterbewegung in Deutschland zu begrüßen. Der Leser wird Zeuge des Aufkeimens neuer Begriffe wie "vierter Stand", "Pauperismus", "Proletariat" und gewinnt eine Vorstellung von Zeitkolorit und sozialer Lage der "arbeitenden Klassen". Wie unterschiedlich die Zeitgenossen auf die neuen Erscheinungen am Gesellschaftskörper reagierten, läßt sich an den Äußerungen bürgerlicher Philanthropen, Liberaler, Konservativer und Sozialisten ablesen, die sowohl erschreckende Verständnislosigkeit und Unkenntnis als auch bemerkenswerte Hellsichtigkeit und Sinn für praktikable Heilmethoden offenbaren. Die Schaffung einer "Organisation der Arbeiter", der "Arbeiterverbrüderung" (unter der tatkräftigen Führung Stephan Borns) ist das für die deutsche Arbeiterbewegung entscheidende und zugleich in die Zukunft weisende Ergebnis der 48er Revolution. Im Selbstverständnis dieser auf praktische Ziele eingestellten, um eine "soziale Volkscharta Deutschlands" (S. 71) ringenden ersten bedeutenden Arbeiterorganisation erschienen die Arbeiter als die natürlichen "Stützen der Ruhe und der Ordnung" (S. 72). Ihre auf friedliche Eingliederung in Staat und Gesellschaft gerichteten Zielvorstellungen standen nicht nur im Widerspruch zu den Auffassungen der meisten sozialistischen Theoretiker, sondern auch in krassem Gegensatz etwa zur Ideologie der "Kreuzzeitung", die unermüdlich das Gespenst des "Kommunismus" beschwor und die Zweiteilung der Menschheit in "Arbeiter" und 7 Vgl. Der Gründungsparteitag der KPD, Protokoll und Materialien, Hrsg. und eingel. von Herrnann Weber, Frankfurt a.M. 1969, S. 175ff. 8 Die Deutsche Arbeiterbewegung 1848 - 1919 in Augenzeugenberichten, Hrsg. von Ursula Schulz, Mit einer Einleitung von Willy Dehnkamp. 439 S., Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 1968.

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"Besitzende" als ein unwandelbares Grundgesetz herausstrich (S. 71, 73). Die Jahre der "politischen Windstille" vom Scheitern der Revolution bis zur Neukonstituierung von Arbeitervereinen zu Beginn der 60er Jahre benutzte die Arbeiterklasse nach den Worten Lassalles an Marx vom 24. Juni 1852 dazu, "sich in ihr Inwendiges einzuleben, sich ihren inneren Begriff zum Bewußtsein zu bringen und sich dadurch zu festigen" (S. 103). Bekanntlich konnte Lassalle bei der Organisation der wiedererwachten Arbeiterschaft an ältere, noch vorhandene Traditionen anknüpfen. Auf dieses Faktum hätte angesichts der unbestreitbar vorhandenen Kontinuität zwischen 1848/49 und der Bewegung der 60er Jahre in dem Kapitel "Der Komet Lassalle" hingewiesen werden sollen. Drei Männer haben nach Ansicht der Herausgeberin in der Periode nach Lassalles Tod der Arbeiterbewegung entscheidende Züge aufgeprägt: der mit kluger Taktik agierende Johann Baptist von Schweitzer, der "durch sein treues Beharren an den Grundsätzen" wirkende Wilhelm Liebknecht und der Prinzipien und Taktik in einem arbeiternahen Pragmatismus vereinigende August Bebel (S. 138f.). Durch diesen personalistischen Zugriff wird zwar der Vielfalt von Positionen und Entscheidungen der beiden Richtungen der Arbeiterbewegung keineswegs Genüge getan, doch läßt sich durch dieses Ordnungsprinzip die für die Zeit von 1864 bis zur Reichsgründung reichlich verfügbare Stoffrnasse leichter bändigen. Anhand der vorgeführten Quellen (meist Auszüge aus Reichstagsreden) wird deutlich, daß bei allen Differenzen die Stellung zur nationalen Frage die beiden Arbeiterflügel am tiefsten entzweite. Man sollte sich freilich davor hüten, Liebknechts Kampf gegen Bismarcks kleindeutsche Lösung als eine "grundsätzliche Entscheidung im Sinne eines dogmatischen Marxismus" (S. 138) zu apostrophieren. Mit einer solchen Leerformel stiftet man nicht nur Verwirrung, sondern wird auch dem historischen Sachverhalt nicht gerecht. Wer die Aussagen der Londoner mit denen Liebknechts in dieser Frage vergleicht, wird leicht die Unterschiede in den Standpunkten und Motivationen beider Seiten feststellen können. Nachdem sich durch die Reichsgründung die Hoffnung der Arbeiterschaft, den bestehenden Staat durch eine demokratische Revolution in einen echten Volksstaat umwandeln zu können, verflüchtigt hatte, begann sich das als "reichsnational" fühlende Bürgertum zunehmend von der als "vaterlandslos" stigmatisierten Sozialdemokratie abzusetzen. Bismarck stieß daher bei seinen gegen die Sozialdemokratie gerichteten Verfolgungsmaßnahmen auf ein breites Echo in der öffentlichen Meinung, deren antisozialistische Tendenz etwa in Treitschkes gehässigen Invektiven spürbar wird (S. 184f., 195ff.). In einer solchen Atmosphäre mußte ein Ereignis wie der Kommuneaufstand, vor allem die Identifikation von Marx und der Sozialdemokratie mit der Pariser. Kommune (S. 182f., 221f.), notwendigerweise zu einer Konservierung der Legende vom "kommunistischen Gespenst" beitragen,

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was umgekehrt bei der in die Isolierung gedrängten Arbeiterschaft das Bedürfnis nach wir-Identifikation steigerte. Leichenbegängnisse wurden in dieser Situation für die Sozialdemokraten zu Demonstrationen des kollektiven Selbstbewußtseins, die nach Ansicht der sozialdemokratischen Gegner etwas "Fürchterliches, etwas Erschreckendes" an sich hatten (S. 211). Unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes verschärfte sich jener für die Sozialdemokratie charakteristische, in neueren Arbeiten zur Geschichte der Arbeiterbewegung oft beschriebene Zwiespalt von Theorie und Praxis. Der Gegensatz zwischen der sich radikalisierenden Theorie und der praktischen, hauptsächlich auf den parlamentarischen Bereich beschränkten Tätigkeit der sozialdemokratischen Abgeordneten schuf nicht nur ein für die Zukunft wichtiges Verhaltensmodell, sondern beschleunigte auch den innerparteilichen Klärungsprozeß in der SPD der 80er Jahre. Wenn auf die Darstellung der im Zuge der Durchsetzung des Marxismus in der SPD entstandenen Auseinandersetzungen und auf eine Skizzierung bestimmter Grundlinien in der vorliegenden Dokumentation verzichtet wurde, so kann dies mit dem Hinweis auf die für einen Quellengrundriß eng gesteckten Grenzen entschuldigt werden. Allerdings bleiben dadurch wesentliche Aspekte unberücksichtigt, die auch für die spätere Parteigeschichte bestimmend sein sollten. Hier seien nur genannt: die vornehmlich quietistische Zusammenbruchserwartung der radikalen Parteiführer9 , das Zusammentreffen von Skepsis bezüglich des "Kladderadatsch" und reformistischer Praxis 10, die vor allem von Bebel getragene Überzeugung von der Priorität des Stimmenzuwachses gegenüber dem Mandatsgewinn 11 und der von einigen führenden Persönlichkeiten artikulierte Gedanke einer Spaltung der Partei bzw. der Fraktion 12. Der damalige Konflikt zwischen den "Gemäßigten" und "Radikalen" in der Partei nahm in gewisser Weise spätere Entwicklungen vorweg, wenngleich sich unter veränderten Verhältnissen manche Positionen verschoben und bestimmte Haltungen sich als austauschbar erwiesen, wie etwa an der Wandlung des unter dem Sozialistengesetz hyperradikalen Vollmar zum Reformisten deutlich wird. Ohne Zweifel hat das Sozialistengesetz die Schwelle der Anstößigkeit sozialistenfeindlicher Politik noch mehr gesenkt. Es entsprach durchaus dem Zeitgeist, die Arbeiter "als Bürger zweiter Klasse bzw. als Unmün9 Vgl. dazu Horst Lademacher, ,,zu den Anfängen der deutschen Sozialdemokratie 1863 - 1878", in: International Review of Social History, 4 (1959), S. 385f.; siehe auch H.-eh. Schröder, Sozialismus und Imperialismus (Anm. 17), S. 119ff. 10 Vgl. Paul Kampffmeyer, Georg von Vollmar, München 1930, S. 43ff. II August Bebeis Briefwechsel, S. 282f. 12 Vgl. Friedrich Engels' Briefwechsel rpit Karl Kautsky, Hrsg. und bearb. von Benedikt Kautsky, Wien 1955, S. 85.

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dige" (S. 244) zu betrachten. Das trieb den Haß der Arbeiter hoch, und sogar die gemäßigten, mit der lassalleschen Tradition verwachsenen und den sozialpolitischen Regierungsvorlagen Bismarcks gegenüber aufgeschlossenen sozialdemokratischen Abgeordneten sahen sich veranlaßt, schließlich das Bismarcksche Reformwerk in toto abzulehnen. Für den sozialpolitischen Mitarbeiter Bismarcks, Theodor Lohmann, der in diesem Zusammenhang unbedingt hätte erwähnt werden müssen, stand daher fest, daß nur wirkliche "Rechtsgleichheit und Teilnahme an den Errungenschaften der modemen Kultur" zu einer wahren Befriedigung der unzufriedenen Arbeiter führen konnten 13. Insgesamt hat sich die Prognose des "Sozialistentöters