Familie zwischen Tradition und Moderne: Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert 9783666357060, 3525357060, 9783525357064

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Familie zwischen Tradition und Moderne: Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert
 9783666357060, 3525357060, 9783525357064

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 48

KRITISCHE STUDIEN Z U R GESCHICHTSWISSENSCHAFT

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler

Band 48 Neithard Bulst / Joseph Goy / Jochen Hoock (Hg.) Familie zwischen Tradition und Moderne

G Ö T T I N G E N • V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T • 1981

Familie zwischen Tradition und Moderne Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Neithard Bulst, Joseph Goy und Jochen Hoock

GÖTTINGEN • VANDENHOECK & RUPRECHT • 1981

CIP-Kurtitelaußiahme

der Deutschen

Bibliothek

Familie zwischen Tradition und Moderne: Studien zur Geschichte d. Familien in Deutschland u. Frankreich vom 16. bis zum 20. Jh. / hrsg. von Neithard Bulst - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1981. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft: Bd. 48) ISBN 3-525-35706-0 NE: Bulst, Neidhard [Hrsg.]; GT

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1981. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Schrift: 10/11 p Bembo, gesetzt auf Linotron 202 System 3 (Linotype) Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

Inhalt

Vorbemerkung Einleitung.

9 11

1. TEIL

Sozialstruktur und familiales Verhalten im 16. Jahrhundert HEINRICH RÜTHING

Die Familie in einer deutschen Kleinstadt am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Materialien und Beobachtungen Résumé: La famille dans une ville allemande entre le moyen âge et les temps modernes. Matériaux et observations

19 37

DENIS RICHET

Familiales Verhalten der Eliten in Paris in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Quellen und Probleme. Résumé: Le comportement familial des élites à Paris dans la seconde moitié du XVI e siècle.

39 49

PIERRE JEANNIN

Korreferat.

50

2 . TEIL

Familie, Statistik und staatliche Planung NEITHARD BULST/JOCHEN HOOCK

Volkszählungen in der Grafschaft Lippe. Zur Statistik und Demographie in Deutschland im 18. Jahrhundert Résumé: Recensements dans le Comté de Lippe. Statistique et démographie en Allemagne au XVIII e siècle

57 86

M A R I E - N O E L L E BOURGUET

Topographie des häuslichen Raums und soziales Ritual. Das Bild der Familie in der Departementsstatistik Frankreichs während der napoleonischen Zeit

88 5

Résumé: Topographie domestique et rituel social. L'image de la famille dans la statistique napoléonienne.

101

JACQUES REVEL

Korreferat.

103

3 . TEIL

Familie, Gewohnheitsrecht und Gesetzgebung REINHART KOSELLECK

Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit. Anmerkungen zum Rechtswandel von Haus, Familie und Gesinde in Preußen zwischen der Französischen Revolution und 1848 Résumé: Maison, famille et domestiques et leur situation juridique en Prusse depuis la Révolution Française jusqu'en 1848

109 124

JOSEPH G O Y

Heiratsstrategien und Erbfolge angesichts der revolutionären Gesetzgebung des Code Civil in der bäuerlichen Gesellschaft Südfrankreichs (1789-1804) Résumé: Stratégies matrimoniales et transmission du patrimoine face à la législation révolutionnaire et au Code Civil dans la société paysanne méridionale (1789-1804)

125

137

4. TEIL

Familie, ländliches Gewerbe und bäuerliche Gesellschaft WOLFGANG M A G E R

Haushalt und Familie in protoindustrieller Gesellschaft: Spenge (Ravensberg) während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine Fallstudie. Résumé: Ménage et famille dans une société protoindustrielle: Spenge (Ravensberg) dans la première moitié du XIX e siècle. Une étude de cas

141

180

JOSEF M O O S E R

Soziale Mobilität und familiale Plazierung bei Bauern und Unterschichten. Aspekte der Sozialstruktur der ländlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert am Beispiel des Kirchspiels Quernheim im östlichen Westfalen 6

182

Résumé: Mobilité sociale et placement familial chez les paysans et dans les couches sociales inférieures. Aspects de la structure sociale de la société rurale au XIX e siècle: l'exemple de la paroisse de Q u e r n heim en Westphalie orientale

200

ELISABETH CLAVERIE/PIERRE LAMAISON

Der Ousta als Produktions- und Wohneinheit im Haut-Gévaudan im 17., 18. u n d 19. Jahrhundert Résumé: L'ousta c o m m e unité de production et unité de résidence dans le Haut-Gévaudan des XVII e , XVIII e et XIX e siècles

202 213

MAURICE AYMARD

Korreferat.

214

5. TEIL

Familie, U n t e r n e h m e n und Industrie JÜRGEN K O C K A

Familie, U n t e r n e h m e r und Kapitalismus an Beispielen aus der frühen deutschen Industrialisierung. Zusammenfassende Thesen. Résumé: Famille, entrepreneurs et capitalisme. Quelques exemples de la première phase de l'industrialisation en Allemangne .

221 223

L o u i s BERGERON

Familienstruktur u n d Industrieunternehmen in Frankreich (18. bis 20. Jahrhundert) Résumé: Structure familiale et entreprise industrielle en France (XVIII e -XX e siècle).

225 238

PIERRE D E Y O N

Die Rolle familialer Strukturen in der Entwicklung Roubaix' im 19. Jahrhundert. Résumé: Le rôle des structures familiales dans le développement de Roubaix au XIX e siècle.

239 244

SERGE CHASSAGNE

Familie und Industrialisierung i m Spiegel der Standesamtregister Résumé: Famille et industrialisation vues à travers les registres d'état civil.

246 263

MARICE GARDEN

Korreferat

265

7

6 . TEIL

Zur Sozial- und Kulturgeschichte der adligen Familie H E I N Z REIF

»Erhaltung adligen Stamms und Namens« Adelsfamilie und Statussicherung im Münsterland 1770 bis 1914. Résumé: De la conservation de la lignée et du nom nobles. Famille noble et sauvegarde du statut social dans le Münsterland, 1770-1914

275 308

G U Y CHAUSSINAND-NOGARET

Väterliche Tyrannei und revolutionäres Verhalten Résumé: Despotisme paternel et sensibilité des enfants dans la famille noble au XVIIIe siècle.

310 317

J E A N - L O U I S FLANDRIN

Korreferat.

318

PIERRE J E A N N I N

Schlußbericht

322

Die Autoren

326

8

Vorbemerkung Das Arbeitstreffen zwischen dem Centre de Recherches Historiques der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (Paris) und der Fakultät fîir Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld, auf dem die in diesem Band vereinigten Beiträge vorgelegt wurden, fand im Rahmen des zwischen den beiden Institutionen bestehenden Kooperationsvertrages vom 1. bis 3. Oktober 1979 in Paris statt. Die ebenfalls mit abgedruckten Korreferate bildeten die Grundlage für die hier nicht wiedergegebene Diskussion. Teilnehmer an diesem Arbeitstreffen waren: Maurice Aymard (Paris), Louis Bergeron (Paris), Marie-Noëlle Bourguet (Reims), Neithard Bulst (Bielefeld), Serge Chassagne (Rennes), Guy Chaussinand-Nogaret (Paris), Elisabeth Claverie (Paris), Pierre Deyon (Lille), Jacques Dupâquier (Paris), Jean-Louis Flandrin (Paris), Maurice Garden (Lyon), Joseph Goy (Paris), Jochen Hoock (Bielefeld), Pierre Jeannin (Paris), Jürgen Kocka (Bielefeld), Reinhard Koselleck (Bielefeld), Pierre Lamaison (Paris), Emmanuel Le Roy Ladurie (Paris), Wolfgang Mager (Bielefeld), Josef Mooser (Bielefeld), Horst Müller-Link (Bielefeld), Heinz Reif (Bielefeld), Jacques Revel (Paris), Denis Richet (Paris), Heinrich Rüthing (Bielefeld), Klaus Wenger (Paris). Die Übersetzungen der französischen Beiträge wurden von Herrn Jochen Burwick (Mainz) angefertigt und von den Herausgebern überarbeitet. Der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft (Bielefeld) sind wir für die Übernahme der Übersetzungskosten zu großem Dank verpflichtet. Die Herausgeber

9

Einleitung

Die historische Familienforschung nimmt seit anderthalb Jahrzehnten in der Geschichtswissenschaft eine strategische Position ein. Demographen, Anthropologen, Ethnographen, Wirtschafts- und Sozialhistoriker bringen der Familie großes Interesse entgegen. Familie und Haushalt scheinen in den Brennpunkt der neueren sozialhistorischen Forschung überhaupt geraten zu sein. Jean-Louis Flandrin hat als erster auf die Probleme hingewiesen, die diese Entwicklung mit sich bringt. Der Versuchung einer zusammenfassenden Darstellung der vielseitigen Untersuchungen zur Entwicklung »familialer Strukturen« und ihrer Rolle im Prozeß des gesellschaftlichen Wandels steht eine anhaltende Unsicherheit in der begrifflichen Fassung des »familialen Faktums« entgegen1. Diese Schwierigkeit zeigt sich nicht nur in dem unterschiedlichen definitorischen Zugang der einzelnen Disziplinen zum Problem der Familie, sie findet sich auch auf der Ebene der Quellen wieder, deren sich die Familienforscher bedienen. Die Gemeinsamkeiten und Divergenzen der französischen und englischen Forschung sind dafür ein Beispiel. In beiden Ländern ging der entscheidende Anstoß für die Forschung von einer historischen Teildisziplin aus: der historischen Demographie, deren methodischer Anspruch sich hier und dort schnell auf den Bereich der Sozialgeschichte insgesamt ausdehnte. Die großen Arbeiten Pierre Gouberts2, Peter Lasletts3 oder Lawrence Stones4 umschrieben schon in der Mitte der sechziger Jahre ein breites Forschungsfeld, in dem der »Familie« eine Schlüsselstellung zuwuchs. - Schon damals allerdings zeigte sich in der Fassung des familialen Sachverhalts auf den beiden Seiten ein deutlicher konzeptueller und methodischer Unterschied, der sich im Gang der Forschung zunächst eher verschärfen sollte. Während die französische Forschung durchgängig an das von Henry und Fleury perfektionierte Verfahren der Familienrekonstitution anknüpfte5, blieb die englische Forschung lange dem ihr durch die Quellenlage vorgegebenen aggregativen Verfahren treu, dessen Vorverständnis familialer Gegebenheiten den Haushalt (houseful) in den Vordergrund rückte und sich damit entschieden dem herkömmlichen Begriff der häuslichen Gemeinschaft annäherte. »I lived in Axe Yard having my wife, and servant Jane, and no more in family than us three.« Diese Formulierung, mit der Samuel Pepys 1660 sein berühmtes Tagebuch einleitete6, entspricht dieser Konzeption der auf den Haushalt erweiterten Familie, aus der sich ganz natürlich jene sozialge11

schichtliche Konzeption der Familie ergab, die Peter Laslett sich zu eigen machte, während in der französischen Forschung je länger umso mehr der verwandtschaftliche Familienverband in seinen wechselnden A u s f o r m u n gen und anthropologischen Dimensionen in der Vordergrund trat. Pierre Chaunus Wort von einer histoire de l'amour et de la mort7, Philippe Ariès' Kulturgeschichte der Familie 8 stehen ebenso in dieser Linie wie die großen Untersuchungen zur französischen bäuerlichen Familie, in denen früh der Einfluß der Ethnographie spürbar wurde, wie zum Beispiel in Emmanuel Le Roy Laduries »Bauern des Languedoc« 9 . Beide Zugriffe führten auf j e andere Seiten der »Familie«, obschon ihre Ergänzungsbedürftigkeit und Ergänzungsfähigkeit, wie die wechselseitigen Referenzen zeigen, nie im Ernst umstritten waren. Der Weg dahin blieb in den Augen der Beteiligten deshalb allerdings nicht weniger problematisch. Ein Sonderheft der Annales E. S. C. hat das zu Anfang der siebziger Jahre mit der Gegenüberstellung einzelner Forschungsbeiträge gezeigt10. René Pillorgets Versuch einer Synthese veranschaulichte ein knappes Jahrzehnt später die anhaltenden Schwierigkeiten des französisch-englischen Dialogs zur Geschichte der Familie, die Pillorget diesmal historisch abzuleiten versuchte". Dabei drohte allerdings die pointierte Betonung der Andersartigkeit der vorherrschenden Verwandtschaftssysteme (lineage vs. house bzw. kin) die für den vergleichenden Ansatz wesentliche analytische Dimension zu verschütten und die historische Familienforschung wider die Absicht des Autors in das Fahrwasser einer historischen Aspektwissenschaft zurückzusteuern. Die in dem vorliegenden Band vereinigten Einzeluntersuchungen zum familialen Verhalten, zur Familienstruktur und zur Rolle der Familie in Wirtschaft und Gesellschaft beziehen sich entweder auf Deutschland oder Frankreich. Selbst sind sie nicht von vergleichender Art. Doch werden Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede wie deren funktionale Bedeutung in den untersuchten Gesellschaften in den Korreferaten, die als Einfuhrungen in die Diskussion dienten, behandelt. Einzelne Vergleichsmomente ergaben sich dabei vornehmlich in der zeitlichen Dimension, die Phasenverschiebungen und schroffe Ungleichzeitigkeiten in den einzelnen Perioden deutlich werden ließ. Trotzdem wäre es falsch, die zeitliche Gliederung des Bandes im Sinne eines Entwicklungsmodells zu lesen. Im Gegenteil: gleichsam quer zur chronologischen Abfolge fragen die einzelnen Beiträge nach den sozialen und kulturellen Verhaltensmustern, der strukturellen Z u o r d n u n g familialer Systeme oder nach deren zeitgenössischer Wahrnehmung, die in unterschiedlicher Weise den Wandel der Rolle der Familie zwischen Tradition und Moderne bestimmten. Dabei treten einige systematische Schwerpunkte hervor. Dazu gehört die Frage nach der Bildung und Kontinuität familialer Eliten, einzelner Familien und Familienverbände ebenso wie die Frage nach der Rolle von 12

Haushalt und Familie als »Kernzelle der demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Reproduktion« 12 in agrarisch-gewerblichen Landschaften. Nirgendwo wie gerade hier treten die Unterschiede im Zugriff der beteiligten deutschen und französischen Historiker schärfer hervor, die teilweise auf die jeweilige Quellenlage, teilweise aber auch auf sehr unterschiedliche Forschungsstrategien zurückzufuhren sind. Am deutlichsten wird das ohne Zweifel an den Berichten, die sich mit der Situation der städtischen Eliten im 16. Jahrhundert und der Sozial- und Kulturgeschichte der adeligen Familie beschäftigen. Im ersteren Falle stehen sich zwei Analysen zu großstädtischen und kleinstädtischen Führungsschichten gegenüber, die strukturell und typologisch äußerst unterschiedliche Probleme aufwerfen. Daneben wird flir das methodische Vorgehen die von Fall zu Fall gänzlich andersartige Quellenlage bestimmend. Während es in Deutschland an einem Instrument wie den Notariatsregistern fehlt, mangelt es in Frankreich an vergleichbar ausführlichen Steuerlisten; während es in dem einen Fall gelingt, die Zirkulation der kleinstädtischen Eliten in den vielseitigen Verzweigungen und Abhängigkeiten des gesamten städtischen Milieus bis in die topographische Dimension hinein abzubilden, treten im anderen Falle die verhaltenssteuernden Strategien, und zwar potentiell als das Stratagem einer etablierten politischen Klasse, in den Vordergrund. Hinter Ähnlichkeiten im Bereich der Heiratsstrategien oder der Mittel und Wege der Besitzstandswahrung zeigen sich die unübersehbaren Unterschiede zwischen einer deutschen Ackerbürgerstadt und der französischen Metropole. In der zweiten Gruppe werden im Kontext zweier andersartiger gesellschaftlicher Wandlungsprozesse - der industriellen und der politischen Revolution - zwei entgegengesetzte Verhaltensmuster thematisiert. Der über mehrere Generationen ausgreifenden Kollektivbiographie eines Standes tritt der Generationenkonflikt in einer Familie gegenüber. Im einen Fall wird die Frage nach den Strategien der »Erhaltung adeligen Stamms und Namens« erkenntnisleitend, im anderen konzentriert sich der Beitrag auf die dabei auftretenten Konflikte und die daraus resultierende Gefährdung der Familie und des Stamms. Ein ähnlicher Gegensatz zeichnet sich in der Gruppe von Beiträgen ab, die sich mit der Rolle der Familie in agrarisch-gewerblichen Landschaften beschäftigen. Obschon hier alle Berichte die ganze Gesellschaft ins Auge fassen, weichen auch sie im Zugriff erheblich voneinander ab. Die deutschen Beiträge thematisieren weitaus nachdrücklicher die Diskontinuitäten in der Entwicklung der ländlich-bäuerlichen Familie, deren langfristige Stabilität auf der anderen Seite hervorgehoben wird. Die Hausgemeinschaften des Gevaudan erscheinen als Momente eines Ökosystems, dessen überregionale ökonomische Anbindung die kulturelle Muster und Regelmechanismen des bäuerlichen Isolats unterstreicht. Die Analyse des gesellschaftlich-familialen Wandels führt hier zu einem Bild der Auflösung der 13

bestehenden gesellschaftlichen Formation, das im Tenor in mancherlei Hinsicht an Le Play erinnert. Den soziologischen und ökonomischen Kategorien, die das analytische Raster der deutschen Beiträge bestimmen, steht ein vorwiegend ethnographischer Zugriff gegenüber, der sich besonders für die widerständigen Dauerfaktoren - etwa das Ritual und die Gewohnheit - interessiert. Ebenso deutlich wird dieser Gegensatz am Fall der großangelegten Untersuchung zur Durchsetzung des bürgerlichen Rechts in Frankreich, die sich diesen spezifischen Zugang zum Problem des Wandels familialer Strukturen explizit als Arbeitshypothese zu eigen macht. Die französische Revolution erscheint in dieser Sicht eher als ein tektonischer Bruch, in dessen Folge Tradition und Moderne sich wie zwei geologische Formationen übereinanderschieben, während in der deutschen Sicht die prozessuale Dynamik des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Wandels die Transformation des sozialen Aggregats in seiner potentiellen Totalität ins Auge faßt. U m so beachtlicher mag es scheinen, daß sich gerade in diesem Themenkomplex Konvergenzen zeigen, die zu einer Differenzierung der bisherigen Modelle »agrarischgewerblicher Verflechtung« (W. Mager) herausfordern13. Wie tief dieser perspektivische und methodologische Gegensatz trotzdem reicht, wird auch da deutlich, wo Frage und Zugriff weitgehend konvergieren, etwa bei der Erörterung des Wandels der Wahrnehmung von Familie und Haushalt in der zeitgenössischen Statistik oder bei der Untersuchung der Rolle der Familie in der Entstehung und Entwicklung des modernen industriellen Unternehmens. Schroffer als in allen anderen Fällen treten hier die Ungleichzeitigkeiten und äußerst unterschiedlichen Rahmenbedingungen hervor, die diese Prozesse bestimmen. Der Schritt von den statistischen und planerischen Versuchen eines kleinen deutschen Territoriums zu den Erhebungen der Präfekten des ersten französischen Kaiserreichs könnte dafür als ein Symbol stehen, wenn der Unterschied in diesen räumlich-institutionellen Rahmenbedingungen aufginge. Tatsächlich verweist er aber ganz offen sichtlich darüberhinaus auf einen unterschiedlichen Status des statistischen Wissens in Frankreich und Deutschland zu Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts und eine andere Art, dem politischen und sozialen Wandel zu begegnen. Von hier einen Bogen zu den gegenwärtigen, unterschiedlichen Zugriffen zu schlagen, wäre allerdings abwegig - auch dann, wenn man davon ausgehen darf, daß die Struktur der Quellen die Frageraster des Historikers vorprägt. Die langfristige, in Frankreich über die Notariatsregister gegebene Perspektive des Übergangs vom Handels- zum Industriekapitalismus scheint in der Tat der wichtigste Grund dafür zu sein, daß auch in der Unternehmensgeschichte - bei aller Einmütigkeit über die »Multifunktionalität und Ganzheitlichkeit familialer Funktionen« (J. Kocka) - die Analyse der Rolle familialer Strukturen auf der französischen Seite eher auf die Fähigkeit der Familie abhebt, »neue Organisationsformen zu überdauern 14

und ihnen ihre spezifischen Tugenden und ihren >Geist< mitzuteilen« (L. Bergeron)14. Welche Schwierigkeiten dem Vergleich und der Synthese der jeweiligen Ergebnissse der Familienforschung von Land zu Land konzeptuell und realhistorisch entgegenstehen, wird nicht zuletzt an den unterschiedlichen Zielsetzungen und andersartigen Bedingungen staatlicher Eingriffe in die Strukturen von Familie und Haushalt erkennbar. Die preußischen Reformen stehen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Spannung zur überlieferten ständischen Ordnung. Da es nicht gelingt, die alte Ordnung auf einen Schlag aufzuheben, müssen sie paradoxerweise bemüht werden, um den beabsichtigten Systemwandel zu ermöglichen15. Damit scheint die ganze Komplexität der Frage nach dem Übergang von der Tradition zur Moderne auf, für die die folgenden Beiträge zur Geschichte der Familie einstehen. Jenseits der nützlichen Konfrontation der methodischen Vorgehensweisen der deutschen und der französischen historischen Familienforschung geben sie einen Einblick in die vielfältige Rolle der Familie zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Gesellschaften. Sie dürften deutlich machen, daß der gesellschaftliche Wandel unabhängig von der jeweiligen Blickrichtung nicht ohne die Ressourcen der herkömmlichen familialen Lebensformen begriffen werden kann. N. B u l s t - J . Hoock

Anmerkungen 1 J. L. Flandrin, Familles - parenté, maison, sexualité dans l'ancienne société, Paris 1976, S. lOff. 2 Beauvais et le Beauvaisis de 1600 à 1730. Contribution à l'histoire sociale de la France du XVIIe siècle, Paris 1960. 3 The World we have lost, London 1965. 4 The Crisis of the Aristocracy, 1558-1641, Oxford 1965. 5 Vgl. M. Fleury und L. Henry, Nouveau Manuel de dépouillement et d'exploitation de l'état civil ancien, Paris 1965 und L. Henry und E. Gautier, La population de Crulai, paroisse normande. Etude historique, Paris 1958. 6 The diary of Samuel Pepys, from 1659 to 1669 with memoir, hg. v. Lord Braybroke, London und N e w York 1879. 7 P. Chaunu, Histoire science sociale. La durée, l'espace et l'homme à l'époque moderne, Paris 1974, S. 293 ff. 8 Vgl. insbesondere: Ph. Ariès, L'enfant et la vie familiale sous l'Ancien Régime, Paris 1973. 9 E. Le Roy Ladurie, Les paysans du Languedoc, Paris 1966. 10 Famille et Société, Sondernummer der Annales E. S. C., Bd. 27, Nr. 4-5, Juli-Oktober 1972. H R . Pillorget, La tige et le rameau. Familles anglaise et française, 16e - 18e siècles, Paris 1979. 12 S. u. S. 215. 13 S. u. S. 141. 14 S. u. S. 221 u. 238. 15 S. u. S. 122.

15

1.

TEIL

Sozialstruktur und familiales Verhalten im 16. Jahrhundert

HEINRICH RÜTHING

Die Familie in einer deutschen Kleinstadt am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit Materialien und Beobachtungen*

Erich Maschke hat kürzlich zusammenfassend über »Die Familie in der deutschen Stadt des späten Mittelalters« gehandelt1 und dabei auf zahlreiche Schwierigkeiten hingewiesen, die sich bei der Bearbeitung dieses Themas auftürmen: »Die Quellenlage [setzt] der Einsicht in die städtische Familie dieser Zeit recht enge Grenzen.« 2 Dieses von Maschke und anderen beklagte Dilemma läßt es gerechtfertigt erscheinen, auch vereinzelte Beobachtungen zum Thema >Familie< aus einer spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Stadt zu präsentieren. Vielleicht fällt dabei der eine oder andere Lichtstrahl in die vielen von Maschke georteten »Dunkelzonen« 3 . Es handelt sich im folgenden nicht um abschließende, statistisch abgesicherte Ergebnisse, sondern um Materialien aus der Stadt Höxter um 1500, die vielleicht einige Ergebnisse und Vermutungen der bisherigen Forschung bestätigen, ergänzen und konkretisieren können. Die Rolle der Familie in der Stadt wird sich je nach Stadttyp verschieden darstellen. Maschke hat vornehmlich auf Material aus süddeutschen Städten und einigen Hansestädten zurückgegriffen. Eine norddeutsche Stadt von der Größe und Wirtschaftsstruktur Höxters ist nicht berücksichtigt. Auch das kann die folgenden Darlegungen rechtfertigen. Wollte man Höxter um 1500 einem der von Horst Jecht entwickelten Stadttypen zuordnen, müßte man sie unter die Kategorie »der allseitig entwickelten Gewerbestadt lokalen Gepräges« fassen4. Die Stadt Höxter an der Weser5, auf dem Territorium der Abtei Corvey gelegen, aber in ihrer politischen Entfaltung weitgehend unabhängig 6 , hat um 1500 etwa 2500 Einwohner. Die Zahl der Haushalte schwankt von 1482 bis 1517 zwischen 450 und 5007; 20% bis 25% davon dürften Einpersonenhaushalte gewesen sein8. In der Stadt sind alle wichtigen Handwerke vertreten. Die politisch führende und ökonomisch überlegene Kaufmannschaft neigt zum Rentnerdasein. Dennoch bleiben die weiter ausgreifenden Handelsbeziehungen, etwa nach Bremen, wichtig. Landbesitz ist für alle Gruppen der städtischen Bevölkerung von erheblicher Bedeutung. 19

Drei Gesichtspunkte sollen bei Betrachtung der Familie in Höxter um 1500 im Vordergrund stehen. 1. Aspekte des Heiratsverhaltens der Bürger. Hier sollen vier Familien mit sehr unterschiedlicher sozialer Position untersucht werden. 2. Die Bedeutung der Familie beim Transfer von Möglichkeiten des einzelnen, politisch tätig zu werden; also der Bereich, den Maschke »Ämtervererbung« nennt 9 3. Der Transfer wirtschaftlicher Chancen, etwa durch »Berufsvererbung«. Für alles, was in den wichtigen Bereich >Familienstruktur< gehört, liegen kaum Daten vor, so daß nicht einmal repräsentative Einzelbeispiele beigebracht werden können. 1. Das Heiratsverhalten läßt sich fiir die einzelnen sozialen Gruppierungen der Stadt nicht immer mit der gewünschten Vollständigkeit erfassen. Für die zwischen 1480 und 1520 amtierenden Bürgermeister jedoch kann man das Netz der Verschwägerungen mit einiger Klarheit nachzeichnen. Trägt man dieses Netz verwandtschaftlicher Beziehungen in eine Karte des spätmittelalterlichen Höxter ein, so zeichnet sich deutlich ein lokal bestimmtes connubium ab. Der Markt ist zugleich Heiratsmarkt; man heiratet >um die Ecke i-i u -O

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Familie< in den R a h m e n der Erkenntnisse v o n der G e s a m t s t r u k t u r der B e v ö l k e r u n g H ö x t e r s einzuordnen, bleibt u n v o l l k o m m e n . 2. Viele Aussagen k ö n n e n , da sie eine U n m e n g e v o n Einzeldaten zusammenfassen, nicht belegt w e r d e n . Belege sind n u r d o r t a n g e f ü h r t , w o Einzelnachweise möglich w a r e n oder w o evtl. ein allgemeineres Interesse an einer Einzelfrage erwartet w e r d e n kann. - Für Mitarbeit bei der Z e i c h n u n g der Karten u n d Schemata habe ich B r u n o H . Lienen zu danken. 1 Sitzungsber. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., J g . 1980, 4. A b h d l . , Heidelberg 1980. 2 Maschke, S. 9. 3 Ebd. 4 H . Jecht, Studien zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte, in: V S W G 19, 1926, S. 48-85, jetzt auch in: Die Stadt des Mittelalters, Bd. 3, hrsg. v. Carl Haase, D a r m s t a d t 1973, S. 217-55, hier S. 232. 5 Eine b r a u c h b a r e M o n o g r a p h i e fehlt. Die wichtige Literatur ist zusammengestellt v o n W . Leesch, Inventar des Archivs der Stadt H ö x t e r , M ü n s t e r 1961, S. 3-27. 6 Vgl. dazu Leesch, S. 15f. 7 Vgl. das Schoßregister der Stadt, in d e m f ü r die J a h r e 1482-1517 die Vermögenssteuerleis t u n g e n aller Haushalte verzeichnet sind. Die D a t e n des überaus exakt g e f ü h r t e n Schoßregisters (Stadtarchiv H ö x t e r , A. X X . 2 ) sind die G r u n d l a g e für alle folgenden A n g a b e n zur Z a h l der Haushalte, z u m V e r m ö g e n , zur horizontalen Mobilität, teilweise auch zu den V e r w a n d t schaftsverhältnissen u. ä. 8 Genauer läßt sich n u r die Z a h l der Einpersonenhaushalte ermitteln, die aus einer unverheirateten Frau o d e r einer W i t w e bestehen. Sie beträgt zwischen 15% u n d 2 0 % . Die Z a h l aller Einzelhaushalte ist also geschätzt. 9 Maschke, S. 66. 10 D i e Belege f ü r diese u n d die folgende Karte k ö n n e n hier nicht beigebracht w e r d e n . D e r u m f a s s e n d e r e Versuch einer Sozialtopographie der Stadt H ö x t e r f u ß t v o r n e h m l i c h auf der A u s w e r t u n g des Schoßregisters sowie einiger h u n d e r t Rentenbriefe aus der Zeit zwischen 1480 u n d 1520. - Für H ö x t e r u m 1500 ist ein ausgeprägtes statusspezifisches W o h n e n kennzeichnend. 11 Es handelt sich u m die reiche F u h r m a n n s - u n d Schifferfamilie Wulffes, deren Mitglieder bis dahin nicht zünftisch waren. M i t der A u f n a h m e eines in der zweiten Generation reichen Mitglieds der Familie in die K a u f m a n n s z u n f t beginnen auch die verwandtschaftlichen B i n d u n g e n an diese G r u p p e . Das Ratsherrenamt folgt. 12 Z u r V e r w a n d t s c h a f t der K u n n e Sifferdes vgl. die Stammtafel u. S. 22. U b e r K u n n e Sifferdes u n d ihre Lebensgeschichte berichtet u m 1592/5 Heinrich Ziegenhirt in seinem

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Kopialbuch (Fürstl. Archiv Corvey, ohne Signatur, Teil II, f. 54v/55r). Leider war nicht herauszufinden, ob die Entfuhrung der Kunne vor oder nach der Einfuhrung der Reformation in Höxter (seit 1533) erfolgte. 13 Bis 1537 gehören alle Bürgermeister, für die sich die Zunftzugehörigkeit nachweisen läßt, der »großen Gilde«, d.h. der Kaufmannszunft an. 14 Die Stammtafel fußt teilweise auf Stammbäumen, die Heinrich Ziegenhirt in sein Kopialbuch aufgenommen hat: Grovende und Derndal (II S. 85f.), Sifferdes (II, f. 54v/55r). Die Angaben von Ziegenhirt konnten durch Urkunden und Angaben des Schoßregisters überprüft werden, so daß sich gegenüber Ziegenhirt zahlreiche Korrekturen und Ergänzungen ergeben. 15 Von den 11 in der Stammtafel aufgeführten Männern, die zwischen 1482 und 1517 im Schoßregister erscheinen, haben immerhin vier einmal auf dem ersten Platz der Vermögenshierarchie gestanden. 16 Vgl. dazu u. a. StA Münster, Corvey Urk. 742 und StA Münster, Corvey Lehen Nr. 611. 16a L. Grüe, Geschichtliche Nachrichten über Stadt und Pfarre Borgholz, in: Zeitschr. f. vaterländische Gesch. und Altertumskunde, Bd. 44, 1886, S. 119-170, hier S. 146, 152. 17 Vgl. u.a. StA Münster, Corvey Urk. 652, 719, 742 und Leesch, S. 516. 18 Die Bemühungen der Derndals, sich das Prädikat >von< zu sichern, haben erst sehr spät Erfolg (17. Jh.). 19 Z u Jost Riken: Urkundenbuch des Stiftes und der Stadt Hamrfn, Bd. 2, hrsg. v. E. Fink, Hannover 1903, S. 796. Auch Cort Voss könnte aus Hameln stammen, w o um diese Zeit eine Ratsherren- und Bürgermeisterfamilie Voss bezeugt ist; Fink, S. 7Ö9. 20 Über das Geschlecht von Hunne war bisher nichts auszumachen. Bei den Heiraten der höxterschen Bürger sind Burgmannen, Amtleute, >Schlüter< u. ä. häufig vertreten. Der Grad ihrer Nobilität ist nicht immer genau faßbar. 21 Im Jahre 1512 z.B. steht A m t auf Platz 19, Hans auf Platz 18 der höxterschen Vermögenshierarchie. 22 Stammbaum Ziegenhirt II, f. 53r; durch Urkunden und Angaben des Schoßregisters ergänzt und korrigiert. 23 Hinrik Honackens N a m e bleibt in Höxter durch eine größere Armenspende lebendig; vgl. Leesch, S. 507. 24 Stammbäume Ziegenhirt II, f. 51r-52v; ergänzt und korrigiert. 25 Stammbaum Ziegenhirt II, f. 56r-57r; ergänzt und korrigiert. 26 Stammbaum Ziegenhirt II, f. 48r/v; ergänzt und korrigiert. 27 1496 steht er an Platz der 10 der Reichtumshierarchie. 28 Die Latinisierung des Vornamens deutet in Höxter um diese Zeit auf eine zumindest rudimentäre gelehrte Bildung hin. 29 Der Abt gesteht seine Vaterschaft in einer Urkunde offen ein: StA Münster, Mscr. 1136, S. 87f. In anderen Abschriften (z.B. Fürstl. Archiv Corvey I, 1, nicht foliiert) ist später versucht worden, die Hinweise auf die Vaterschaft des Abtes zu tilgen. 30 Im Jahre 1513 k o m m t es wegen des Finanzgebarens des Rates zu Unruhen. A m 20. Januar 1514 wird ein zwölfköpfiges Kontrollgremium, die >Neuen Mahnen, geschaffen, das die Finanzgeschäfte der Stadt zu beaufsichtigen hat. Bernd Segers d.J. und Hans Lüdemann werden in dieses Gremium gewählt. Hans Logeren wird 1517 Mahner. Z u den Unruhen Leesch, S. 334-37. 31 Vgl. dazu Maschke, S. 69, dessen Beispiele hier ergänzt und dessen Thesen konkretisiert werden können. 32 Ratslisten liegen für die Jahre 1482-1517 im Schoßregister fast vollständig vor. Für die Jahrzehnte davor und danach müssen sie aus Urkunden rekonstruiert werden. Für diese Zeiträume bleiben Lücken offen. 33 Maschke, S. 66. 34 Diese Ratswahlordnung wurde im Jahre 1314 fixiert und war in ihren Grundzügen um

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1500 noch gültig. Die Ordnung bei P. Wigand, Denkwürdige Beiträge für Geschichte und Rechtsalterthümer, Leipzig 1858, S. 161 f. 35 Die letztgenannte Beschränkung datiert erst von 1481: »eff dar wie gekoren were de nicht were bequeme dar hefft de raidt mede intosegende.« Schoßregister f. 25r. 36 Das sind die Zünfte, denen 1314 die Beteiligung an der Ratswahl zugestanden wird: Kaufleute, Kürschner, Wollenweber, Gerber/Schuhmacher, Bäcker, Schmiede und Knochenhauer. 37 Für die gut dokumentierten Jahrzehnte vor und nach 1500 ist kein Ratsherr auszumachen, der nachweislich aus einer politisch nichtberechtigten Zunft (Schneider, Leineweber, Fischer, Ackerleute) kommt oder gar nichtzünftisch ist. 38 Vgl. die entsprechenden Rahmenmarkiefungen in der Stammtafel o. S. 22. 39 1514, nach den Unruhen des vorausgegangenen Jahres (s.o. Anm. 30), wird ausdrücklich verboten, daß Vater und Sohn oder Brüder zusammen im Rat sitzen. Das Bemühen, eine solche Konzentration des Einflusses einzelner Familien zu verhindern, ist auch schon vorher zu erkennen. Doch gibt es bis 1514 immer wieder Ausnahmen. 40 In dem unten abgedruckten Schema 1 zur Besetzung von Ratsherrenplätzen durch die Familien Grovende / Sifferdes / Derndal wird das Anciennitätsprinzip wie auch seine Durchbrechung deutlich. 41 In der Regel wird ein Ratsherr, der einmal gewählt worden ist, bis an sein Lebensende wiedergewählt. Es gibt Ausnahmen, deren Gründe verschieden sein können und nicht immer erkennbar sind. Bürgermeister, die ihr Amt aufgeben, amtieren meistens als einfache Ratsherren weiter. Einige wenige ziehen sich ganz aus der Politik zurück. 42 Vgl. im Schema 1 den Sprung 1503/4. 43 Was hier für die Besetzung des Rates durch die Familien Grovende / Sifferdes / Derndal gezeigt worden ist, läßt sich auch für andere Gremien der städtischen Selbstverwaltung aufweisen. - Ein besonderes Thema, das hier nur gestreift werden kann, ist die Besetzung kirchlicher Ämter in Höxter und Umgebung durch Mitglieder dieser Familien (vgl. die Stammtafel o. S. 22). Auch hier gibt es Erbhöfe, z. B . Benefizien, die sogar rechtlich Familienmitgliedern vorbehalten sind. Vgl. die Stiftung eines Benefiziums am Petristift in Höxter für ein Mitglied der Familie Derndal (Dechaneiarchiv Höxter, Urk. 54). 44 A m t von Haversforde ist der letzte Namensträger der von Haversforde, deren Stammsitz und Besitzzentrum südlich von Holzminden lag. Zu seinen Erben vgl. StA Detmold, D 71 Nr. 4 f. l l v ) . 45 Mehr als >adliges Milieu< läßt sich für Johann von Addessen nicht nachweisen. Ziegenhirt (II, S. 169) nennt Amt von Haversforde den letzten adligen Bürgermeister. Er rechnet Johann von Addessen also nicht zum Adel. Mitglieder der Familie von Addessen sind mehrfach als Lehnsmannen des Corveyer Abtes bezeugt. Vgl. u. a. P. Wigand, Der Corveyische Güterbesitz, Lemgo 1831, S. 79. Johanns Vater lebt auf dem Land. Seine Schwester heiratet einen Adligen. Vgl. dazu den Brief von Johanns Vater, dessen Original im Schoßregister, nach f. 210v, liegt. 46 O b neben den Ansprüchen auf ein Amt auch die Pflicht besteht, das Amt auszuüben, ist für Höxter um 1500 nicht zu entscheiden. 47 Hans Henninges, Vit Stalemann und Cort Sifferdes, dessen Identität wegen der Häufigkeit des Namens nicht mit absoluter Gewißheit zu sichern ist. 48 Der methodischen Korrektheit wegen muß gesagt werden, daß Verwandtschaftsbeziehungen unter den Mitgliedern der Kaufmannszunft eher festzustellen sind als bei Handwerkern. Das gilt vor allem für Verschwägerungen. Das Vater-Sohn-Verhältnis kann in Höxter für die Zeit um 1500 für Kaufleute und Handwerker mit annähernd gleicher Sicherheit ausgemacht werden. Die Zahl der Plazierungen von homines novi (weiße Felder = 4 3 , 9 % ) dürfte also insgesamt um einiges geringer sein als das Schema ausweist. 49 1510 zahlen die homines novi im Durchschnitt 71 ß Steuern, die Ratsherren aus den etablierten Familien 374 ß. Für das Jahr 1517 lauten die Zahlen 143 ß und 430 ß. 50 Vgl. dazu Maschke, S. 50-66.

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51 Vgl. dazu die bei Wigand, D e n k w ü r d i g e Beiträge, S. 135-45 g e d r u c k t e n Z u n f t o r d nungen. 52 D i e s e R e g e l u n g gilt allerdings n u r d a n n , w e n n der Vater bei der G e b u r t d e r S ö h n e s c h o n Z u n f t m i t g l i e d w a r ; vgl. d a z u die Z u n f t o r d n u n g der L e i n e w e b e r v o n 1370 bei Wigand, D e n k w ü r d i g e Beiträge, S. 143. 53 Leesch, S. 323. - Bei d e r j ü n g e r e n , n o c h e x p a n d i e r e n d e n Z u n f t der Fischer liegt der A u f n a h m e s a t z fiir S ö h n e v o n N i c h t m i t g l i e d e r n n u r f ü n f m a l so h o c h ; Stadtarchiv H ö x t e r , A . I X . 1 6 f. 3 5 r - 4 0 v . 54 D i e j ä h r l i c h n e u fixierten L ö h n e finden sich i m Schoßregister der Stadt, hier f. 84r. 55 Es gibt zahlreiche H i n w e i s e d a f ü r , d a ß die f ü r die S ö h n e g e l t e n d e n R e g e l u n g e n auch a u f Stiefsöhne u n d Schwiegersöhne angewandt wurden. 56 D i e B e o b a c h t u n g e n stützen sich v o r allem auf das Schoßregister, das deutlich die A b f o l g e v o n Familien u n d P e r s o n e n in e i n e m H a u s e r k e n n e n läßt. 57 1514 erhält Lulleff f ü r M a t e r i a l l i e f e r u n g e n u n d Leistungen einen B e t r a g in H ö h e v o n e t w a 2 0 0 0 T a g e l ö h n e n (vgl. zu A n m . 54). 58 In H ö x t e r gibt es eine Reihe g r ö ß e r e r M i e t s h ä u s e r , in d e n e n a r m e Z u z ü g l e r , B a u a r b e i ter, Spielleute, u n v e r h e i r a t e t e Frauen u s w . ihr U n t e r k o m m e n finden. 59 Vgl. Wigand, D e n k w ü r d i g e Beiträge, S. 137f. 60 R e n t e n e r b r i n g e n bei niedriger Inflationsrate d u r c h w e g eine R e n d i t e v o n 8'/J%. Investit i o n e n i m agrarischen Bereich sind l o h n e n d . D i e Preise f ü r Getreide steigen. D a s gilt z w a r a u c h f ü r die L ö h n e d e r Landarbeiter; d o c h d ü r f t e n M e i e r h ö f e erhebliche G e w i n n e e r b r a c h t haben. 61 Maschke, S. 97.

La famille dans une petite ville allemande entre le moyen-âge et les temps modernes. Matériaux et observations Résumé Notre analyse sur la famille à Höxter, ville de quelque 2500 habitants vers 1500 et qui passait pour une ville d'industrie de caractère local au développement polyvalent, porte sur trois points essentiels: - aspects du comportement de mariage, - transfert de la puissance politique par la famille (transmission des charges), - transfert des chances économiques par la famille (transmission des professions). 1. Dans trois des quatres familles étudiées (marchands, artisans, paysans, travailleurs agricoles) on constate une très forte endogamie sociale qui se manifeste dans quelques cas sous forme d'endogamie locale. Seuls quelques membres de la famille de marchands font preuve de véritables stratégies de mariage, là où le départ volontaire de la ville et le retour à la campagne est préparé par des liens de mariage avec des membres de la petite noblesse. La quatrième famille, descendance aisée d'un ecclésiastique, est en quête de son identité sociale. Le choix des époux tombe en général sur des »margi37

naux«, qui peuvent appartenir aux groupes sociaux les plus divers: marchands de chevaux, étrangers, fille d'un abbé. 2. Le problème du transfert du pouvoir politique par la famille est illustré par l'exemple de la transmission héréditaire des sièges au conseil de la ville. Ce conseil de 12 membres est désigné par un mode de cooptation modifié. De ce fait les intérêts des familles peuvent fortement faire pression sur la composition du conseil. Une charge de conseiller est bien plus souvent transmise à un fils ou à un beau-fils dans les familles des marchands que dans celles des artisans. Des dix-neufs marchands qui ont été en charge comme conseillers de la ville entre 1506 et 1518, quinze sont sans conteste fils ou beau-fils de conseillers. Des dix-neuf artisans siégeant au conseil, seuls sept ont un père ou beau-père conseiller. De l'analyse des »homines novi« du conseil (on désigne sous ce terme les conseillers dont les pères ou beaux-pères n'ont pas siégé au conseil) il résulte que leurs chances de transmettre la charge au sein de la famille, est bien plus réduite que celle de leurs collègues siégeant au conseil depuis deux ou trois générations. C'est bien la preuve qu'à Höxter en 1500 les charges étaient essentiellement transmises par la famille. 3. Quant à la transmission des chances économiques, surtout sous la forme de »transmission de professions«, à Höxter comme dans bien d'autres villes d'Allemagne, les voies sont tracées d'avance du fait même que dans les corporations les fils des membres de la corporation se trouvent largement privilégiés par rapport aux autres. Les droits d'entrée sont très inférieurs. L'appartenance à une famille n'assure cependant pas encore à tout membre de cette famille un statut économique égal. Les positions sociales de deux frères issus de familles d'artisans sont parfois extrêmement différentes. Dans les familles de marchands l'homogénéité est plus grande. C o m m e hypothèse de conclusion on pourrait résumer en disant que plus le statut d'une famille est élevé, plus l'individu isolé se trouve marqué par ses origines.

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DENIS RICHET

Familiales Verhalten der Eliten in Paris während der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts Quellen und Probleme

Dieser Beitrag erhebt nicht den Anspruch, eine Darstellung gesicherter Ergebnisse zu sein. Während langer Untersuchungen, die sich auf verschiedene Aspekte (ökonomische, politische, religiöse) der Pariser Gesellschaft erstreckten, wurde alles, was sich auf familiales Leben bezog, erhoben. Aber in den meisten Fällen handelt es sich nur u m ein Bündel von Teildaten, die sich nicht für eine serielle Wiederherstellung eignen und die nur vorläufige Hypothesen erlauben. Warum werden nur »Eliten« und welche Eliten werden behandelt? Zweifellos würden einige Quellenserien einen globalen Z u g r i f f auf die Pariser Gesellschaft erlauben. So habe ich annähernd 4000 Heiratsverträge, die im Minutier Central der Archives Nationales aus den Jahren 1571 und 1572 aufbewahrt werden, ausgewertet. Mit diesem Material lassen sich einige Aspekte des familialen Lebens wie sozio-professionelle Endogamie, materielle Bedingungen für die Einrichtung von Haushalten oder die Rolle der Verwandtschaft einigermaßen zuverlässig erfassen. Was aber an Q u a n tität gewonnen wird, geht an Qualität verloren: nur ein kleiner Ausschnitt aus dem familialen Leben wird eingefangen; die Trockenheit des notariellen Heiratsvertrags läßt unsere drängendsten Fragen ohne Antwort. Deshalb möchte ich mich auf die Milieus an der Spitze der Gesellschaft beschränken. Im wesentlichen sind es zwei Milieus, deren Grenzen untereinander bisweilen fließend sind, deren Verhalten aber bestimmten spezifischen Z w ä n g e n gehorcht: A u f Amtsadel und Großkaufmannschaft. Einerseits sind dies die Amtsträger der souveränen Obergerichte (>Cours souverainesc Parlament, >Chambre des ComptesCour des AidesFactumMinutier Centrah, der die vor Notaren abgeschlossenen Rechtsgeschäfte enthält 9 . Die andere, die ich mit den Mitgliedern meines Seminars auszuwerten beginne, betrifft das Leben in den Pfarreien, den Kirchen und den Kirchenverwaltungen 10 . Diese Quellen seien hier kurz vorgestellt. Über den Reichtum der Notariatsakten ist schon alles gesagt worden: Heiratsverträge, Nachlaßverzeichnisse und - allerdings seltener - Erbteilungen, für die im 16. Jahrhundert die >commissaires-examinateurs< im >Chätelet< zuständig waren, deren Unterlagen fast vollständig verschwunden sind. Ich begnüge mich, daran zu erinnern, daß das notarielle 16. Jahrhundert in Paris eine gewisse Besonderheit gegenüber den folgenden Jahrhunderten (1650-1789) darstellt. 1. Man ging häufiger zum Notar, sowohl wegen Beurkundungen, die später in den Zuständigkeitsbereich anderer Institutionen fielen als auch wegen privater Verträge. So konnte ich z.B. für das Kaufmannsmilieu zahlreiche Gesellschaftsverträge wiederfinden, in denen die Kapitaleinlage, die Gewinn- und Kostenverteilung sowie die Verfahren für die Finanzierung und die Rechnungsführung festgelegt wurden". Wenn Kinder Ammen übergeben wurden, wenn Prozesse wegen Krankheiten, die sich solche Kinder zugezogen hatten, gefuhrt wurden, wenn Ersatzansprüche in Eheangelegenheiten — z. B. bei Impotenz des Ehemannes - oder unter Verwandten geltend gemacht wurden, bot dies Anlaß, zum Notar zu gehen. Der Historiker stößt hier auf dieselben Schwierigkeiten wie bei den gerichtlichen Quellen. Wie ist eine solche Datenfülle zu bewältigen? 2. Die Quellen für die Geschichte einzelner Pfarreien sind bis heute unausgewertet geblieben. Abgesehen von brillanten Ausnahmen 12 haben 41

sich die Historiker bisher nur für die Spiritualität oder die Architektur- und Kunstgeschichte der Pariser Kirchen interessiert. Vor zwei Jahren habe ich eine systematische Untersuchung der sozio-familialen Grundlagen des Lebens in den Pfarrgemeinden begonnen. Ihre Auswertung hat meinen Mitarbeitern und mir erlaubt, den außerordentlichen Reichtum dieser Quellen, von denen ich hier nur kurz die wesentlichen skizzieren kann, zu erkennen. Die Epitaphe 13 : Sie werfen ein Licht auf das Selbstverständnis und die Selbstmythifizierung der Familien, von denen uns andere Quellen die wahrheitsgemäßeren und düstereren Seiten zeigen. Die Seelgerätstiftungen: Entweder in Form von Martyrologien 14 oder in Form von verstreuten Akten. Die Errichtung und Übertragung von Kapellen: Sie erlauben, vom Beginn des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die räumliche Monopolisierung des geweihten Raumes durch kleine Familiengruppen zu rekonstruieren. Die Beratungsprotokolle der Kirchenverwaltungen: Darin die Wahlen der Kirchenvorsteher und der Armenbeauftragten, die Beratungen über alle materiellen und geistlichen Probleme der Pfarrei, usw. 15 .

II. Probleme und Hypothesen Das Konzept des »familialen Verhaltens« eines bestimmten sozialen Milieus wirft gleich zu Beginn theoretische Schwierigkeiten auf. In einer Hinsicht ist zwar das gesamte Leben der Haushalte betroffen. U m jedoch langweilige Wiederholungen zu vermeiden, muß man die schon gründlich erforschten Sektoren beiseite lassen. Wir werden uns hier darauf beschränken, einige Probleme aufzuwerfen und Hypothesen vorzubringen, die Aufmerksamkeit zu verdienen scheinen. 1. Der Geburtenrhythmus ist offenbar nicht derselbe wie in den von den Demographen vorrangig untersuchten bäuerlichen Gesellschaften. Der Auszug aus den Registern von St. André des Arts16 macht dies deutlich. In der Familie von Augustin de Thou werden 1525 eine Tochter, 1526 eine Tochter, 1527 ein Sohn, 1528 eine Tochter und 1529 noch eine Tochter geboren. François de Montholon und Marie Boudet haben sieben Kinder in zehn Jahren, Richard d'Elbène hat acht Kinder in elfJahren. Man begreift, daß die oft zitierten kinderreichen Familien (20 Kinder in der Familie von Antoine Arnauld) weit davon entfernt sind, eine Ausnahme zu bilden, sondern in den Kreisen des Amtsadels den Regelfall darstellen. Leider erlaubt es die Ungenauigkeit der Sterberegister nicht, die Kindersterblichkeit festzustellen. Wegen der wiederholten Geburten wurden die Kinder zur A m m e gegeben. Die verstreuten Notariatsverträge unterrichten uns 42

nur über die Fälle, w o die Kinder bei der A m m e krank wurden, und diese dafür den Eltern eine finanzielle Entschädigung leisten mußte. 2. Die Erziehungsstrategien sind besser bekannt für die Söhne als fur die Töchter u n d besser für den Amtsadel als für die Großkaufleute. Indirekte Indizien lassen darauf schließen, daß die weibliche Ausbildung vor den R e f o r m e n des 17. Jahrhunderts nur sehr gering entwickelt war. So unterzeichnete in den Jahren 1570-1580 die Frau des 1. Präsidenten des Parlaments von Paris die Notariatsakten mit einem Kreuz. Die Söhne der Kaufleute, die im Handel bleiben sollten, wurden sehr früh als Teilhaber in das Familienunternehmen a u f g e n o m m e n . Die klassische Ausbildung der Söhne von Juristen sah zuerst den Besuch der höheren Schule, dann den der Universität vor. Die zeitgenössischen M e m o i r e n enthalten hierfür genaue Beispiele. Genannt sei Henri de M e s mes (1531-1596), der >maître des requêtes de l'Hôtel< wird, dann Kanzler des Königreichs von Navarra und schließlich »conseiller d'étatcommis< in der Kanzlei und Enkel eines >procureur< k a m mit acht Jahren aufs Collège von Navarra und m u ß t e es drei Jahre später mangels finanzieller Mittel für seinen Unterhalt wieder verlassen. Er machte dann seine Lehre bei einem »procureur des comptes< und w u r d e dann >commis< des Schatzmeisters des Dauphin 1 7 Arnauld d'Ardilly w u r d e von seinem Vater jegliche schulische Ausbildung vorenthalten. Er lernte »vor O r t « bei seinem Onkel, einen »intendant des financesc Mit 30Jahren wird er Staatsrat sein. In diesem Fall war es nicht die finanzielle Z w a n g s lage, die für die Lehre anstelle der Ausbildung in Schule und Universität den Ausschlag gab, sondern die berufliche Qualifikation der V e r w a n d t schaft 18 . 3. Die Heiratsstrategie kann auf der Grundlage von Verträgen, aber auch der >Factum< der Memoiren leichter verfolgt werden. Z w e i H y p o t h e sen können aufgestellt werden. - In den Kreisen der Großkaufmannschaft, w o die Gesellschafterverträge eng mit d e m familialen Leben verbunden sind, wird die Wahl der Ehepartnerin u n d des Ehepartners eng v o m Geschäftsinteresse bestimmt. Zitieren wir als Beispiel eine Kurzwarenhändlergesellschaft mit Sitz in Paris und Lyon. Z w e i Jahre nach d e m T o d des Gründers Nicolas Decordes heiratete seine W i t w e Claude Danès ihren serviteur - tatsächlich ihren aus Lyon g e k o m m e n e n Kommissionär - Claude de Vize (1550), der Teilhaber des Geschäftes wird. Nach d e m T o d von Claude Danès (1552) heiratete

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Vize erneut, und seine beiden Töchter heirateten zwei neue Teilhaber, Michel de Vaissiere (Pezenas) und Pierre Saintot. Nach dem Tod von Vize (1574) verheiratete sich seine Witwe mit einem Teilhaber Jehan Galland, der ebenfalls aus Pezenas stammte und die Geschäftsführung übernahm. Diese Beispiele ließen sich vervielfältigen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß bestimmte berufliche Spezialisierungen häufig zu Heiraten zwischen verschiedenen Berufen führten: So zwischen Tuchmachern und Färbern19 - In den Kreisen des Amtsadels ist die Heiratsstrategie unterschiedlich, je nachdem, ob es darum geht, seine Söhne zu verheiraten oder seine Töchter unterzubringen. Von den elf überlebenden Kindern des Präsidenten Pierre Seguier und Louise Boudet kamen zwei Töchter ins Kloster. Für die fünf Söhne galt es im wesentlichen, Ehefrauen auszusuchen, die schon ein ansehnliches Kapital hatten und darüber verfügen konnten. Reiche Witwen wurden bevorzugt gesucht. Für die Töchter galt es vor allem, »den Rang zu halten«. Eine heiratete einen >maitre des requetesnotaire et secretaire< des Königs. Eine von ihnen wollte sich als Witwe mit einem gewissen Louis Guibert wiederverheiraten: Kein Zeuge wohnte der Unterzeichnung des Heiratsvertrages bei, und ein 40 Jahre später veröffentlichtes >Faktum< nennt uns hierfür die Gründe. Die Familie Guibert galt als nicht gesellschaftlich ebenbürtig mit dem Haus Seguier. Der Zwist dauerte vier Jahre, bis Guibert 10000 Taler bezahlte, um eine sehr günstige Heirat einer Tochter aus der ersten Ehe seiner Frau zu fördern20. Diese doppelte Sorge, nämlich sowohl das Vermögen zu konsolidieren als auch den gesellschaftlichen Rang zu bewahren, findet sich in sehr vielen anderen Familien21. Man wird sich allerdings hüten, zu verallgemeinern. 4. Die familiale Monopolisierung von Ehrenämtern und Ämtern findet sich auf allen Ebenen wieder. Auf der Ebene der Amtsträger der souveränen Obergerichte ist der Sachverhalt zu bekannt 22 , als daß man hier darauf eingehen müßte. Aber man findet ihn auch auf der Ebene der Ämter im Rathaus - bei den Stadträten, den Schöffen usw. - und in den 16 Vierteln der Hauptstadt - bei den Viertelsmeistern, den Polizeioffizieren und den Offizieren der Miliz - wieder. Mit diesbezüglichen Forschungen 23 ließen sich die Intensität und die Dauer solcher familialer Zugriffe auf Ämter rekonstruieren. Diese Rekonstruktion ist nicht immer leicht, da meistens die Übertragung durch Frauen - Mütter, Gattinnen, Tanten erfolgt. So kann sich unter unterschiedlichen Patronymen eine tatsächliche Kontinuität verbergen 24 . Es wäre wünschenswert, eine Methode zur Erstellung matrilinearer Genealogien zu entwickeln, die es erlauben würde, das von den Kompilatoren des 18. Jahrhunderts angehäufte Material anders zu sortieren. Diese Monopolisierung findet sich auch bei den Institutionen der Pfarrei - insbesondere bei den Ämtern der Kirchenverwaltung - und vor allem des 44

Kirchenraumes. Die Quellen über die Kapellen St. André des Arts und St. Séverin zeigen, wie etwa 10 Familien in jeder der beiden Pfarreien Fuß fassen konnten, und wie sie an ihre Nachkommen - über die Töchter ebenso wie über die Söhne - die privilegierten Stätten übertragen konnten, wo sie Bilder, Waffen oder Grabstätten plazieren konnten25. 5. Die Stellung der Frau im Leben des Ehepaares bleibt eine meist nicht befriedigend zu beantwortende Frage. In den Kreisen der Großkaufmannschaft scheint sie sehr bedeutend gewesen zu sein. Im Paris der Religionskriege fehlt es nicht an dynamischen Witwen, die das Unternehmen weiterfuhren und seinen Fortbestand sichern. Anderswo - und besonders in der Welt der Amtsträger - bleibt die Rolle der Frau durch die Art der Quellen selbst verborgen. Erst nach der Liga sieht man in der breiten Bewegung, die viele Witwen und Töchter dieses Milieus den neuen Klöstern zutreibt; Zeichen einer gewissen Autonomie des Verhaltens.

Anhang 1. Die Übertragung von Ämtern in der Familie Séguier A m t des comptes
maître

des

Nicolas Séguier G. de Bâillon (Schwiegersohn) Jean Séguier (Schwager)

Amt des >conseiller-lai< am Parlament

1563: 1567:

1572:

François Séguier Pierre II. Séguier (Brader)

Amt des >lieutenant-civil< der >Prévôté< von Paris

1567:

1572:

1572:

1580: 1586:

1570:

Pierre II. Séguier Antoine Séguier (Bruder) Jean Séguier (Brader)

François Séguier Pierre Séguier de St.-Cyr (Vetter) Pierre Lescaloppier (Schwager)

Pierre Séguier de St.-Cyr (Vetter)

A m t des >maître des requêtes
conseiller-clerc< und des président aux enquêtes
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genaue Vorschriften gemacht und Kontrollen der in erster Linie durch die Gezählten gemachten Angaben zum eigenen Haushalt von seiten der jeweiligen Nachbarn vorgesehen. Die Altersangaben für die Söhne (über oder unter 14 Jahre) sollen in Zweifelsfällen von den Pfarrern mit Hilfe der Kirchenbücher unentgeltlich kontrolliert werden. Der neuentworfene Erhebungsbogen wurde von 18 auf 30 bzw. 37 Positionen erweitert. Den unterschiedlichen personellen und wirtschaftlichen Verhältnissen in den Städten, in den Ämtern mit ihren Bauernschaften und in den adeligen und schriftsässigen Gütern wurde mit drei unterschiedlichen Formularen Rechnung getragen64. Schon Ende Februar 1776 lag das fertige Ergebnis vor65 Eine erste Auswertung der eingegangenen Daten erfolgte über Generaltabellen, in denen nach Städten und Ämtern getrennt nicht nur die in den einzelnen Rubriken angegebenen Zahlen zur Personenzahl addiert wurden, sondern auch die aus den Anmerkungen über »Handthierungen und Gewerbe« gewonnenen Informationen in Form von - im Ansatz alphabetisch geordneten — Tabellen aufgeschlüsselt wurden. Für die Städte wurden 84 Berufskategorien, für die Ämter und die schriftsässigen Güter pp. wurden 67 bzw. 31 Gruppen herausgezogen 66 . Mit der Kontrolle und weiteren Auswertung der Zählung wurde der Landrentmeister Drewes beauftragt, der am 6. Dezember einen detaillierten Bericht vorlegt 67 Drewes untersucht nicht nur die arithmetische Richtigkeit der bisherigen tabellarischen Auswertung. Er fragt nach der Vollständigkeit, wobei er vor allem die fehlende Aufnahme von Eximierten in einigen Gebieten von Lippe feststellt. Die Angaben zum Viehbestand und über die Gewerbestruktur werden auf ihre Konsistenz hin überprüft. Dabei treten verblüffende Fehlbestände auf - etwa zur Zahl des Viehs in den Städten68 - und geben Anlaß zur Kritik. Die Fehlerhaftigkeit der Aufnahme, besonders in den Städten, ist sicher nicht allein auf die Nachlässigkeit der aufnehmenden Beamten zurückzuführen, sondern ist wohl schon ein Anzeichen des zunehmenden Widerstandes gegen die staatliche Inquisition.

Die Volkszählung

des Jahres

1788

Trotzdem versucht die gräfliche Regierung das System der Erfassung immer mehr zu verfeinern. 1782 erscheint die »Regierungsverordnung wegen der Aufnahme des Korngewinns und der Konsumtion in Hochgräflich Lippischen Landen« vom 31. Dezember 178169 Dabei geht es sowohl um eine Volkszählung nach dem Schema von 1776 mit deren genauer Erfassung der Aktivitätsstruktur wie um die möglichst genaue Ermittlung der Erträge und des Bedarfs der gesamten Grafschaft für ein Jahr. »Ursachen solcher Erweiterung dieses Aufnahmegeschäfts« waren die 68

ökonomische und politische Unmöglichkeit »über die Balance des ein- und ausgehenden Handels« irgendwelche Gewißheit zu erlangen. In diesem Zusammenhang legt die Regierung am meisten darauf Wert, zu erfahren: ob auch das Korn, dies erste Lebensmittel, ganz zureichend im Lande selbst gewonnen werde, oder auch noch ein Theil dieses Bedürfnisses hereingebracht werden müsse,

um auf der Grundlage solcher Informationen die Versorgungslage des Landes zu sichern70. Noch am selben Tag wurde den Deputierten der Landstände, also den adligen Besitzern der landtagsfähigen Rittergüter der Grafschaft und den fünf Städten, Lemgo, Horn, Blomberg, Salzuflen und Detmold, der Text der Verordnung mitgeteilt, wobei erneut auf die gesetzliche Grundlage, den Landtagsbeschluß von 1773 und die staatspolitische Nützlichkeit der Aufnahme hingewiesen wurde, die in keiner Weise sich auf Freiheiten und Privilegien nachteilig auswirken würde 71 . Die Regierungsverordnung schrieb als Einsendeschluß der inzwischen verschickten Tabellen, die wieder nach Ämtern, Städten und schriftsässigen Gütern etc. unterschieden waren, Ende März 1782 vor72. Das Ergebnis sollte dann im April dem Landtag zur Beratung vorgelegt werden 73 . Ausgenommen von der Aufnahme des Korngewinns und Verbrauchs war die preußische Samtstadt Lippe (Lippstadt), wo lediglich die Volkszählung angeordnet wurde. Begründet wurde diese Ausnahme mit der Abgelegenheit von dem übrigen Territorium der Grafschaft und dem ohnehin bekannten Gleichgewicht von Korngewinn und Verbrauch 74 . In Wirklichkeit wollte man wohl eher Schwierigkeiten mit der preußischen Verwaltung vermeiden, wie sie in der Grafschaft nicht lange auf sich warten ließ. Noch während die Verordnung abschnittweise durch Publikation im lippischen Intelligenzblatt einer breiteren Öffentlichkeit mitgeteilt wurde ob mit der Erhebung schon, wie geplant, begonnen war, ist nicht bekannt - erreichten die Regierung mit Datum vom 22. und 25. Februar zwei Einsprüche von der Ritterschaft und den Städten75. In den wohl untereinander abgestimmten Schreiben erheben die Verfasser Bedenken gegen die Art der Aufnahme und besonders die Erweiterung auf den Kornertrag und die Konsumtion. Deshalb bitten sie, die Maßnahme auszusetzen und dem nächsten Landtag zur Beratung vorzulegen. Zwar wies die Regierung in ihren Antworten vom 26. Februar daraufhin, daß die Erhebung durchaus in Übereinstimmung mit der Verfassung geschehe, da sie »aus landesherrlicher Polizeioberaufsicht und wahrer Vorsorge für Landeswohlfahrt fließet« und deshalb »kein Gegenstand landtägiger Beratschlagung« 76 sei. Trotz dieser Rechtsauffassung 77 erklärte sie sich jedoch bereit, die Aufnahme auszusetzen und dem Wunsch nach ständischer Beratung auf dem Landtag im April stattzugeben. Daß zusammen mit dem Aussetzungsbeschluß den aufnehmenden Städten und Ämtern schon der kommende Michaelistag (29. 9.) als neuer Schlußtermin für das Einsenden der ausgefüllten Tabellen genannt wurde 78 , braucht nicht unbedingt als Ausdruck 69

des Vertrauens der Regierung in die Durchführbarkeit ihres Vorhabens interpretiert zu werden. Als nun der Landtag im April zusammentrat, wurde der Regierung im Namen der beiden Stände, der Ritterschaft und den Städten, ein Memorandum - vom 18. 4. - zugeleitet, das die Rücknahme der angekündigten Maßnahme forderte 79 Im wesentlichen werden der Regierung vier Argumente entgegengehalten. Grundsätzlich, so wird argumentiert, streitet [es] wider die natürliche Freiheit der Unterthanen, daß sie ohne N o t h und ohne daß das allgemeine Beßte solches unumgänglich erfordert, so genaue Rede und Antwort von ihrem Eigenthum und dessen Ertrag und dessen Verbrauch, geben sollen.

Im einzelnen wird auf die Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit der Maßnahme abgestellt. Der Ermittlung des Korngewinns und -Verbrauchs wird entgegengehalten, daß sie nichts bewirke und der wirtschaftliche Prozeß sich selbst regele. Die Volkszählung erübrige sich, weil die jährlichen Publikationen über die Zahl der Geborenen und Gestorbenen in den lippischen Intelligenzblättern sowieso eine Berechnung des Bevölkerungsstandes und seiner Entwicklung erlaube. Z u m vierten wird darauf abgehoben, daß »der gemeine Bürger und Bauer aus Furcht vor neuen Auflagen niemalen - sollte er auch mit dem Eide belegt werden - dahin zu bewegen [sey] den wahren Ertrag seiner Ländereien anzugeben«. Die entsprechenden Beratungen auf dem Landtag und in der Regierung dürften sehr kurz gewesen sein. Denn schon am 20. 4. beugte sie sich in ihrer Antwort völlig dem Druck der Stände, obwohl sie alle eingewandten Gründe als nicht stichhaltig zurückwies 80 . Sie gestand nicht nur der Ritterschaft und den Schriftsässigen zu, selbst die Aufnahme durchzuführen und sich nicht von den Beamten der Regierung erfassen zu lassen, sondern sie willigte auch ein, den Korngewinn auf Grund des Katasters zu berechnen und auch bei Menschen und Vieh auf eine Zählung zu verzichten und eine wenn auch unzuverlässige - Schätzung der Konsumtion zu versuchen. Zwar behielt man sich vor, auf die geplante genaue Zählung wieder zurückzugreifen, falls das Schätzverfahren sich als unzureichend erweisen sollte. Doch erst 1788 gelang es, de facto die Durchfuhrung der Verordnung von 1781 zu verwirklichen. 1783 ging die Verordnung zum neuen Kataster81 und im selben Jahr publizierte der Archivar Clostermeier, Hauslehrer im Hause des lippischen Kanzlers, seinen Bericht über das Ansteigen der Bevölkerung in den vergangenen neun Jahren zwischen 1774 und 1782 nach den »Regeln der politischen Arithmetik berechnet«82. Die vorgetragenen Überlegungen zeugen von einer Sensibilisierung gegenüber einem neuen Bevölkerungsproblem, wobei der Verfasser, wie spätere Aufzeichnungen zeigen83, mit Schätzungen auf Grund der Geborenen- und Gestorbenenlisten den Bevölkerungsstand sehr genau berechnen zu können glaubte. Daß mit Kataster und den Geborenen- und Gestorbenenlisten das Ziel der Verordnung nicht 70

verwirklicht werden konnte, zeigt auch ein Mitte 1784 neu ausgearbeiteter Zählungsentwurf auf der Grundlage der Tabellen von 1776 und 1782. Bei der Prüfung in der Regierung wurde mit Hinweis auf den zu erwartenden Widerstand gegen die Zählung in den Städten die Maßnahme jedoch nicht befürwortet. Im Rahmen einer Reform des Zunftwesens hoffte man wohl gegen die Erneuerung alter Privilegien die Städte zum Einlenken bewegen zu können 84 . Ein wichtiger Grund für diese defensive Haltung der Regierung war zweifellos der Tod des Grafen Simon August im Spätjahr 1782. Der Termin der Durchführung der Zählung schließlich 1788 dürfte in engem Zusammenhang mit dem Regierungsantritt des Erbgrafen Leopold I. am 4. September 1789 zu sehen sein. U m den Erbgrafen auf die Regierungsübernahme vorzubereiten, verfaßte der Kanzler Hoffmann im Winter 1785/86 als Fürstenspiegel eine Landesbeschreibung der Grafschaft Lippe85, die ihm Kenntnis von der »statistischen und politischen Verfaßung« 86 seines Landes vermitteln sollte. Die Behandlung der Bevölkerung der Grafschaft hatte er Clostermeier übertragen. Da, wie Hoffmann schreibt, »eine vollständige Zählung wegen Uneinigkeit in der erbherrlichen Verfassung« 87 noch nicht durchgeführt werden konnte, konnte Clostermeier für diesen Zweck nur die Ergebnisse von 1776 tabellarisch zusammenfassen und blieb im übrigen auf Schätzungen angewiesen 88 Gleichsam als weitere Aufgabe seiner Regierung schilderte Hoffmann dem Erbgrafen die Notwendigkeit, sich Gewißheit über den Korngewinn und die Konsumtion zu verschaffen, da dies bisher auf dem Landtag nicht hatte durchgeführt werden können 89 Im Jahre vor der Regierungsübernahme des Erbgrafen ergab sich für die vormundschaftliche Regierung ein äußerer Anlaß, die lange geplante Erhebung, zumindest was die reine Volkszählung anbelangte, durchzuführen. U m nicht das verpfändete lippische Amt Sternberg endgültig an das Bistum Paderborn zu verlieren90, mußte die Regierung eine hohe Summe aufbringen, wozu sie aus eigenen Mitteln nicht in der Lage war. Zur Beschaffung des Geldes wurde mit Zustimmung des Landtages eine Personensteuer ausgeschrieben. Am 3. März 1788 erging die Regierungsverordnung91, in der festgelegt wurde, daß mit wenigen Ausnahmen jeder über 14 Jahre alte Bewohner der Grafschaft - oder wer dort seinen Lebensunterhalt verdiente - bis hin zum Regenten entsprechend seinem Vermögen und seinem Einkommen zu dieser Steuer veranlagt werden sollte. Zu diesem Zweck wurde ein Klassensystem gebildet, wonach in der ersten Klasse jährlich 8 Reichstaler und in der zehnten und letzten Klasse 12 Mariengroschen, also der 24. Teil, gezahlt werden mußten. Voraussetzung für die Klassenzuteilung war aber eine vollständige Zählung der Landesbewohner, die ebenfalls in der Verordnung befohlen wurde. Als Zählschemata wurden mit Modifizierungen die Tabellen von 1776 zugrunde gelegt. Diese Modifizierungen betrafen einerseits die Altersangaben. So wurde jetzt auch bei allen Personen weiblichen Geschlechts die Spezifizierung »über oder 71

unter 14 Jahren« eingeführt. Andererseits fielen die Rubriken über agrarische Produktivität und Besitzstand bis auf die Erfassung der reinen Viehhaltung weg. Die Angaben über die Leinenproduktion wurde durch eine Zählung der Webstühle ersetzt92. Die Vorschriften zur Genauigkeit wurden erheblich verfeinert und bei falschen Angaben Strafe angedroht. Im Hinblick auf eine spätere Heranziehung zur Steuerzahlung sollten auch auswärtige Söhne und Töchter miterfaßt werden. Obwohl es sich gerade für eine gerechte Verteilung der Steuerlasten angeboten hätte, auf die Entwürfe zur Zählung von Korngewinn und Konsumtion zurückzugreifen, unterblieb jede Erfassung, die konkrete Rückschlüsse auf die Vermögenslage erlaubt hätte. Zwar wurde die Besteuerung auf Grund des Katasters ausdrücklich als ungerecht und unsozial verworfen 93 , doch trat an ihre Stelle ein kaum objektivierbares Einschätzungsverfahren durch die verschiedenen Amtsoder Vertrauenspersonen, die Dorfvorsteher, Vögte etc. Eine Kommission aus zwei Regierungsbeamten, darunter der Kammerrat Stein, der 1768 die erste Volkszählung vorbereitet hatte, zwei Landtagsdeputierten, von denen der eine, der Landrat Freiherr von Blomberg, Mitinitiator des ersten Protestes des Adels gegen die Aufnahme von 1783 gewesen war94, und einem Schriftführer wurde mit der Durchfuhrung und Kontrolle beauftragt. Die Ergebnisse des Steueraufkommens mußten dem Landtag jährlich vorgelegt werden. Solange die Erhebung der Personensteuer nötig sei, so wurde festgelegt, sollte die »zuverläßige Aufnahme der Menschenzahl vorsichtige feste Einrichtung« werden 95 . Die von der Kommission am 30. 1. 1789 erlassene »Instruction für die Erheber der Personensteuer« 96 schrieb statt der ursprünglich vorgesehenen vierteljärhlichen eine halbjährliche Steuererhebung vor. Entsprechend diesem Turnus waren von dem zuständigen Personenkreis die entsprechenden Angaben zum Personen- und Besitzstand der Betroffenen zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren97 Diesbezügliche Veränderungen konnten auch die Einstufung in eine andere Klasse zur Folge haben. Jede Familie erhielt ein Quittungsbuch - eine gewisse Parallele zu den Salzbüchern der Zählung von 1769 - in das alle erhobenen Angaben einzutragen waren. Diese institutionalisierte permanente Überprüfungs- und Korrekturpraxis, die sich zunächst entsprechend den Berechnungen zur Aufbringungsmöglichkeit der benötigten Summe auf 16 Jahre erstrecken sollte - die Vordrucke der Tabellen in den Quittungsbüchern waren auf 14 Jahre angelegt-, versprach zum ersten Mal, eine auch nach heutigen Gesichtspunkten genaue Bevölkerungsaufnahme zu ermöglichen. U m trotz der großen Mobilität der Landbevölkerung, vor allem der Einlieger, keine Zählverluste und infolgedessen keine finanziellen Einbußen zu erleiden, wurde eine Meldepflicht eingeführt. Bei Nichtbeachtung dieser Regeln sollte der Hausbesitzer den entstandenen finanziellen Schaden selbst tragen. Außerdem wurde die Ausgabe von Passierscheinen vorgesehen. In den Quittungsbüchern war zudem das 72

genaue Alter der Kinder festgehalten, um sie im Alter von 14 Jahren zur Personensteuer heranziehen zu können. Fragt man nun nach dem Ergebnis der Zählung zur Erhebung der Personensteuer von 1788, so trifft man auf das überraschende Faktum, daß abgesehen von den Gesamtzahlen, die auch veröffentlicht wurden 98 , keine Unterlagen der Erhebungen in den verschiedenen Zählbereichen, den Bauernschaften, Flecken, Meiereien etc., mehr zu finden sind. Die auf der Ebene der Städte und Ämter aggregierten Daten bleiben jedoch in ihrer Auswertbarkeit begrenzt. Man kann nur Vermutungen darüber anstellen, ob diese Unterlagen auf sozusagen >natürlichem< Wege verloren gingen oder ob sie nach Abschluß der Personensteuererhebung in Wiederaufnahme des alten Widerstandes gegen die staatliche Erfassung offiziell auf Druck der Stände hin vernichtet wurden. Die Ergebnisse der Zählung wurden ähnlich wie 1776 vor allem in Hinblick auf die Gewerbestruktur der Grafschaft ausgewertet. Die daraus 1789 zusammengestellte »Generaltabelle zur Übersicht des Nahrungsstandes« wurde noch im selben Jahr den einzelnen Ämtern und Städten zur Berichtigung und Ergänzung übersandt. Die Generaltabelle enthielt dieses Mal 88 Berufsbezeichnungen, denen die einzelnen Gewerbe zugeordnet wurden" Ein Charakteristikum der Zusammenstellungen sowohl zur Bevölkerung als auch zum Gewerbe bleibt ihre Ungenauigkeit. So wichen die Ergebnisse der verschiedenen Versuche, zu einem Gesamtresultat zu kommen, wenn auch nur geringfügig, voneinander ab100. Dasselbe gilt auch für die Geborenen- und Gestorbenenlisten, wo zu denselben Jahren stark voneinander abweichende Zahlen zu finden sind. Obwohl durch die Personensteuer ständig Zahlenmaterial zum Bevölkerungsstand verfügbar war, wurde aus heute nicht mehr erkennbaren Gründen nach 1788 keine neue Auswertung mehr durchgeführt. Erst 1807 erfolgte eine neue Volkszählung 101 . Bis dahin begnügte man sich mit der fiskalischen Fortschreibung der Zahlen von 1788.

IV

Struktur und Konjunktur

Was Leopold Krug mit seinem Plädoyer für eine sorgfältige Sichtung aller Bestandsdaten in den späten neunziger Jahren für Preußen ins Auge faßte, blieb damit in der Grafschaft Lippe einstweilen aus. Die regelmäßige Zählpraxis beschränkte sich hier erneut auf die Beobachtung der kurzfristigen Fluktuationen (Geburten, Sterbefälle, Heiraten bzw. die Preise der hauptsächlichen Konsumgüter) - was dem Vorverständnis eines auf die >Regulierung< des gesellschaftlichen Lebens bedachten Kameralismus entsprach102. Die Zählung antwortete nurmehr auf die drängenden Bedürfnisse 73

des jährlichen Voranschlags; die reformerische Perspektive der siebziger u n d der f r ü h e n achtziger Jahre w a r verloren gegangen. Diese N i e d e r l a g e der R e f o r m p a r t e i , in der der Kanzler H o f f m a n n o f f e n sichtlich eine wichtige Rolle spielte, hat eine weitreichende symbolische B e d e u t u n g , da sie unter den engen, überschaubaren Verhältnissen eines wirtschaftlich abhängigen T e r r i t o r i u m s eine auf d e m K o n t i n e n t ganz allgem e i n zu b e o b a c h t e n d e A p o r i e fiskalischer u n d wirtschaftlicher R e f o r m p o litik spiegelt' 03 . Die Grafschaft Lippe g e h ö r t in einem inzwischen geläufigen Sinne zu den >protoindustriellen< Regionen des deutschen Reiches 104 . Strukturell gesehen f u g t e n sich die innerregionalen Gegensätze dieser politisch festgef u g t e n P r o d u k t i o n s l a n d s c h a f t in einen weiteren W i r t s c h a f t s r a u m u n d die ihn ü b e r g r e i f e n d e D i s t r i b u t i o n s s t r u k t u r ein105 In der Getreide i m p o r t i e r e n den u n d Leinen u n d G a r n exportierenden Grafschaft kreuzten sich die Einflüsse des W e l t m a r k t s mit ausgesprochen partikulären B e d i n g u n g e n , die Lippe langfristig gesehen in eine Abseitsstellung brachten, an der - ganz i m U n t e r s c h i e d zu d e m benachbarten Ravensbergischen - die industrielle R e v o l u t i o n v o r b e i z u g e h e n schien 106 . Die seit der zweiten H ä l f t e des 18. J a h r h u n d e r t s e r k e n n b a r e E n t k o p p e l u n g zwischen einem an der K o n s u m sphäre ausgerichteten städtischen H a n d e l u n d einem überregionalen Lein e n m a r k t , auf d e m die lippischen Kapitalträger keine aktive Rolle spielten, w u r d e schon v o n den Zeitgenossen als ein wichtiger Faktor in dieser E n t w i c k l u n g erkannt' 0 7 A n d e r e M e c h a n i s m e n , wie etwa die Selbstregulier u n g eines ausgeprägt saisonalen Arbeits m a r k tes d u r c h die Wanderarbeit' 0 8 , traten schon damals hinzu, u n d zeichneten n o c h i m Prozeß der d y n a m i schen B e v ö l k e r u n g s e n t w i c k l u n g des endenden 18. J a h r h u n d e r t s die G r u n d s t r u k t u r e n des späteren wirtschaftlichen Stillstandes vor. D i e Lippischen Intelligenzblätter hatten diese S t r u k t u r p r o b l e m e seit i h r e m Erscheinen i m J a h r e 1767 z u m T h e m a gemacht. 1770 liefern sie eine in m e h r e r e n Stücken a b g e d r u c k t e B e t r a c h t u n g über die » V e r m e h r u n g der Einwohner«' 0 9 Dieser populationistische Beitrag geht lange u n d a u s f u h r lich auf die Fragen des N a h r u n g s s t a n d e s u n d die »Zertheilung der P a c h t u n gen« ein, f ü r die bei den D o m ä n e n ein A n f a n g g e m a c h t w e r d e n soll110. Die gleiche B e t r a c h t u n g f o r d e r t die A b l ö s u n g des Z e h n t e n u n d die Beseitigung der N a t u r a l l e i s t u n g e n " ' . Drei J a h r e später erschien der lange Artikel v o n D o h m " 2 . 1781 folgte schließlich ein längerer, a n o n y m e r Beitrag »Von verhältnismäßiger V o l k s m e n g e eines Landes«, der die grundsätzlichen Fragen aufrollte, mit denen sich das T e r r i t o r i u m k o n f r o n t i e r t sah113 D e r Beitrag legte sich schon eingangs die Frage vor, »ob die heutiges T a g s so beliebte B e v ö l k e r u n g den gepriesenen N u z e n bringe«" 4 . Die in einzelnen P a r a g r a p h e n entwickelte A n t w o r t ging auf die A g r a r w i r t s c h a f t , die Handelsbilanz u n d deren m o n e t ä r e Seite, die Preisstruktur u n d das »Verhältnis der Professionisten eines Landes zu den Landesproducten«" 5 ein, w o b e i i m Ansatz eine producer-consumer-balance f ü r das T e r r i t o r i u m 74

insgesamt aufgemacht wurde, die sich im wesentlichen auf die Ergebnisse der Zählung von 1776 zu stützen scheint. Die Absicht des Verfassers wird in der Abwägung des Verhältnisses der städtischen gegen die ländliche Bevölkerung deutlich116. Die geringe Investitionsneigung der städtischen Kapitalträger ist hier das eigentliche Monitum des Berichts. Sein Reiz liegt in der anschaulichen und vermutlich genauen Schilderung des Marktverhaltens der städtischen Bevölkerung 117 Als verhaltensändernder Anreiz wird eine - gesteuerte - Veränderung der Preisbildungsmechanismen ins Auge gefaßt. Den Hebel dazu bildet die Akzise"*. Als Vorbilder werden Großbritannien und die Vereinigten Niederlande eingeführt. Daß gerade Holland, »wo es volkreiche Städte und große Ackergüter gibt«119, die lippischen Wanderarbeiter anzieht, ist der Kern der volkswirtschaftlichen Argumentation des Verfassers. »Wo Industrie und Handel blühen«, notiert er, »da verhält sich die Zahl der Bauren d. i. derjenigen, welche die Naturalien gewinnen, zu der Zahl der Bürger, oder derjenigen welche die Naturalien verarbeiten, wie 1 zu 2.«120 Ein erstes Ziel einer staatlichen Bevölkerungspolitik in Lippe, wo sich das Verhältnis städtischer und ländlicher Bevölkerung wie 2 zu 7 verhält, wäre es also, »alle Mittel zur Bevölkerung der Städte zu ergreifen«121. N u r eine starke und wirtschaftlich aktive städtische Bevölkerung könne die Zunahme des Volks auf dem Lande volkswirtschaftlich nützlich machen. Das augenblickliche starke Arbeitseinkommen der ländlichen gewerbetreibenden Bevölkerung trüge solange nicht zum Reichtum des Landes bei, wie Garn ausgeführt und nachher bei den auswärtigen Bleichereien wiederum eingekauft werden müsse122, oder billige Korneinfuhren aus dem Paderbornischen jeden Anreiz zu einem intensiveren Anbau im eigenen Lande verhinderten 123 . Allein eine Veränderung der agrarischen Preisstruktur mittels einer Kornakzise wäre in der Lage, die Investitionsneigung städtischen Kapitals im Agrarsektor zu fordern und ihn von den kurzfristigen Fluktuationen in den Mangelkrisen unabhängig zu machen. Alle Versuche, praktische Maßnahmen in dieser Richtung durchzusetzen, wie sie gräfliche Regierung seit der Mangelkrise zu Anfang der siebziger Jahre in immer wiederholten Landtagsvorlagen den Ständen abzuringen versuchte, scheiterten an deren Befürchtungen 124 ; die Stände sahen nur die möglichen fiskalischen Konsequenzen und waren nicht von den gesamtwirtschaftlichen Zielen zu überzeugen. - In unsystematischer Form kehren die einzelnen Argumente zur Landesverbesserung, zur Markenteilung und der Anhebung des städtischen Gewerbes und des städtischen Handels in Hoffmanns »Landesbeschreibung« aus dem Jahre 1786 wieder125. Aber die Hoffnungen auf eine gleichmäßige Entwicklung des gesamten Territoriums scheinen jetzt aufgegeben. Die Volkszählungen des späten 18. Jahrhunderts erlauben es, die strukturellen und konjunkturellen Hintergründe dieser Auseinandersetzung näher aufzuschlüsseln. Von besonderem Wert sind hier die Zählungen der Jahre 75

1769 und 1776. Ihre vergleichende Untersuchung erlaubt für die einzelnen Gebietseinheiten eine globale Abwägung der jährlichen Zuwachsraten der Bevölkerung, der Entwicklung der Sterbe- und Geburtenraten und eine grobe Abschätzung der Wanderungsbewegungen. Beide Zählungen lieferten den Ansatzpunkt fiir eine Typologie des Durchschnittshaushalts und der Durchschnittsfamilie unter Berücksichtigung ihrer Stellung in der allgemeinen Aktivitätsstruktur und dem sozialen Gefüge der Grafschaft. Hinzu tritt für die ländliche Bevölkerung ein grobes, wohlgemerkt normatives - aber auf Grund der präzisen Angaben zur Brache durchaus hinterfragbares Maß der ökonomischen Relevanz der wirtschaftlichen Nebentätigkeiten für die einzelnen bzw. die typischen Haushalte und das wirtschaftliche Gefüge der Grafschaft insgesamt. Diejährlich erstellten Geborenen-, Gestorbenen- und Heiratslisten erhalten vor diesem Hintergrund trotz des aleatorischen Charakters, der solchen Jahresschnitten angesichts unserer Unkenntnis der Familien- und Bevölkerungsstruktur grundsätzlich anhaftet - einen neuen Quellenwert; denn, auch wenn mit einer solchen Abwägung noch kein prozeßrelevantes Ergebnis gewonnen ist, so sind immerhin mit ihr die Zielbereiche einer selektiven Untersuchung der strukturellen Voraussetzungen dieses Prozesses enger umschrieben als bisher126. Die ganze Tragweite einer solchen Untersuchung zur Demographie, Wirtschaft und Gesellschaft der Grafschaft Lippe erschiene freilich erst dann, wenn es gelänge, mit der Analyse der Rahmenbedingungen ihrer Entwicklung die pragmatische, d. h. ökonomische Sinnhaftigkeit des Zählens und des Widerstands dagegen sinnfällig zu machen.

V Zusammenfassung und Schluß Die Phase der Verallgemeinerung einer entwickelten Bevölkerungsstatistik deckt sich in Deutschland mit der Periode des Siebenjährigen Kriegs. Von den 25 Territorien, die zwischen 1720 und 1790 die Zahl der Untertanen zu erfassen suchen, tun dies 14 zwischen 1750 und 1770 zum ersten Mal. Die Grafschaft Lippe gehört zu dem starken Mittelfeld kleinerer Staaten, die in den sechziger Jahren zu zählen beginnen. Die erste Volkszählung in der Grafschaft im Jahre 1769 trägt alle Kennzeichen einer fiskalischen Maßnahme, die sich freilich in den weiteren Zusammenhang einer durch eine jahrzehntelange Mißwirtschaft notwendig gewordenen Entschuldung des Territoriums einschreibt. Der unmittelbare Anlaß, der Ankauf des Gradierwerkes in Salzuflen, ist insofern nur ein Teilstück eines größeren Reformprogramms. Simon-August, der die Grundzüge des Entschuldungsplans in den späten vierziger Jahren zusammen mit seinem französischen Erzieher de la Potherie entworfen hat, 76

scheint sich dafür im wesentlichen an Grundsätze gehalten zu haben, wie sie Véron de Forbonnais an der Schwelle der zweiten Jahrhunderthälfte formuliert hat127 Die finanz- und steuerpolitische Seite ist auf jeden Fall das beherrschende Moment bei dem Versuch, die hohen Investitionen in Salzuflen durch eine exakte Erfassung der Bevölkerung und des Viehbestandes zu rentabilisieren. Die Bedeutung, die dem Bevölkerungsproblem in den finanz- und wirtschaftspolitischen Überlegungen dieser Zeit beigemessen wird, illustriert im übrigen die mit dem Jahr 1770 einsetzende Veröffentlichung von Geborenen- und Gestorbenenlisten in dem von der lippischen Staatsregierung herausgegebenen »Intelligenzblatt«. Der wachsende Einfluß des Kanzlers Hoffmann hat zu Beginn der siebziger Jahre dazu beigetragen, die enge finanzpolitische Perspektive der bisherigen Entschuldungspolitik auf den gewerblichen und insbesondere den agrarischen Sektor zu erweitern. Hoffmann scheint zumindestens mit den großen Themen der Physiokratie vertraut gewesen zu sein. Seine programmatische Rede vor den Ständen im Jahre 1773 räumte dem Kornund Flachsanbau als den »Hauptnahrungsquellen« des Landes die wirtschaftspolitische Priorität ein128. Die Maßnahmen im gewerblichen Bereich werden der Verbesserung der seit der Krise der beginnenden siebziger Jahre rückläufigen Agrarproduktion untergeordnet. Die zur gleichen Zeit energisch vorangetriebene Steuerreform, die eine bisher ebenso ungleiche wie ungerechte Verteilung der Steuerlast beseitigen sollte, entsprach ebenfalls voll und ganz den Prinzipien des Dr. Quesnay. Die drei Erhebungsbögen, die bei der Zählung im Jahre 1776 verwandt wurden, tragen dieser Orientierung der gräflichen Politik Rechnung. Die Erweiterung des Tabellenkopfes räumt den Gewerben und dem Ackerbau den Vorrang ein. Von den insgesamt 37 Spalten des für das platte Land bestimmten Erhebungsbogens (Formular B) entfallen 19, also eine gute Hälfte, auf diesen Bereich - ein Anteil, der noch weiter gewinnt, wenn man die ausschließlich der Identifikation der Einzelinformation dienenden Rubriken in Abzug bringt. 36% aller gewünschten Informationen, d. h. insgesamt 13 Spalten, betreffen die Agrarwirtschaft im engeren Sinne. Der Sache nach wird dabei nicht allein der Ist-Zustand ins Auge gefaßt, sondern mit der Frage nach der denkbaren Viehhaltung und dem Anteil des brachliegenden Landes werden auch solche Fragen mit in die Erhebung einbezogen, die direkt auf das Programm der Landesverbesserung Bezug nehmen. Im gewerblichen Bereich wird die Produktion für den Markt der Erzeugung für den Eigenbedarf gegenübergestellt. Hoffmanns Programm war von Anfang an nicht unwidersprochen hingenommen worden. Die Vorschläge der Regierung zu einer Teilung der Gemeinheiten, die Ansätze zu einer Regulierung der gutsherrlichbäuerlichen Verhältnisse, die Bemühungen um eine Ausdehnung des Grünfutter- und Kartoffelanbaues - alle diese Versuche zu einer Agrarreform - scheiterten im Gegenteil, von einigen gelungenen Experimenten auf 77

den D o m a n i a l g ü t e r n abgesehen, a m zähen Widerstand der Stände. D e r Versuch, die E r h e b u n g v o n 1776 über eine bloße B e s t a n d s a u f n a h m e h i n a u s z u f ü h r e n u n d ein Bild v o n d e m möglichen E r t r a g des Landes zu g e w i n n e n , scheint aus ähnlichen G r ü n d e n Schiffbruch erlitten zu haben. D i e späteren A u s w e r t u n g s g ä n g e k l a m m e r n diesen Aspekt, wahrscheinlich mangels ausreichender A n t w o r t e n , aus. Die z u n f t f r e u n d l i c h e n F o l g e r u n gen, die die gräfliche Regierung nach 1776 aus der E r h e b u n g i m Bereich der G e w e r b e p o l i t i k zog, fanden 1779 in d e m A m t m a n n Schreiter einen heftigen Widersacher, der sich in seiner P o l e m i k gegen H o f f m a n n auf A d a m S m i t h ' s k n a p p drei J a h r e zuvor erschienenes W e r k bezog 129 D a ß sich die gräfliche R e g i e r u n g t r o t z d e m nicht e n t m u t i g e n ließ, w i r d m a n zu e i n e m g u t e n Teil der K o n j u n k t u r zuschreiben müssen, die der R e g i e r u n g keine A t e m p a u s e einräumte. Die anhaltende R e f o r m f r e u d i g k e i t entsprach einem p e r m a n e n t e n Z u g z w a n g . Die Bereitschaft, sich dabei an den Arbeiten v o n T h e o r e t i k e r n zu orientieren, m a g in diesem Z u s a m m e n h a n g als eine der A r g u m e n t a t i o n s f i g u r e n absolutistischer R e f o r m p o l i t i k erscheinen, deren einziger Rückhalt die allgemeine W o h l f a h r t w a r . D e r Plan des Kanzlers H o f f m a n n , den N e t t o e r t r a g der gesamten Grafschaft zu messen, wie er sich in der 1782 geplanten E r h e b u n g über die M e n s c h e n zahl, den K o r n g e w i n n u n d die K o r n k o n s u m t i o n ausdrückt, mangelt i m m e r h i n nicht an Folgerichtigkeit. Die widerspenstige H a l t u n g der Stände bezeichnet hier die Grenze, an der die meisten Innovationsversuche des e n d e n d e n 18. J a h r h u n d e r t s zerbrachen. W ä h r e n d es in einer Reihe deutscher Territorien nach der H u n g e r k r i s e der f r ü h e n siebziger J a h r e zu einer t u r n u s m ä ß i g e n Zählpraxis k a m , blieben die V o l k s z ä h l u n g e n in der Grafschaft Lippe eher sporadisch. W e d e r H o f f m a n n n o c h der O r g a n i s a t o r Stein scheinen sich freilich über den e p h e m e ren C h a r a k t e r der Ergebnisse v o n Volkszählungen getäuscht zu haben. Die ausgesprochene Kontinuität der lippischen Politik w ü r d e W i e d e r h o l u n g s e r h e b u n g e n wahrscheinlich begünstigt haben, hätte sie nicht unter einem R e c h t f e r t i g u n g s z w a n g gestanden, der einer p r i n z i p i e n b e w u ß t e n Politik den Stempel eines schnellen V o r g e h e n s aufdrückte; die F o r m der sukzessiven E r h e b u n g e n respektierte t r o t z d e m die m i n i m a l e n Erfordernisse statistischer Vergleichbarkeit. Die E r h e b u n g e n sind untereinander nicht völlig irreduzibel - was nicht i m m e r v o n den vergleichsweise sehr viel ambitiöseren historischen Tabellen des benachbarten P r e u ß e n gilt. D i e relative K o n t i n u i t ä t in Anlaß, F o r m u n d V o r g e h e n m a c h t den Quellen w e r t der Volkszählungen in der Grafschaft Lippe aus. Einige der statistischen S c h w ä c h e n dieser E r h e b u n g e n , etwa die ausgeprägte N e i g u n g zur I n n o v a t i o n i m agrarischen Bereich, erweisen sich a posteriori als ausges p r o c h e n wichtig. D a ß der räumliche Deckungskoeffizient i m Lauf der Zeit mit den dynastischen Streitigkeiten u n d der zeitweiligen V e r p f ä n d u n g eines Teils des T e r r i t o r i u m s variierte, erweist sich bei näherer B e t r a c h t u n g als w e n i g e r gravierend als m a n zunächst a n n e h m e n m ö c h t e . D e r n o r d w e s t 78

liehe Teil der Grafschaft, der seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts in den Sog der Leinenindustrie geraten war, ist durch alle Erhebungen gedeckt. Mit seinen 1200 qkm ist Lippe der Prototyp des kleinen deutschen Territoriums, um das sich - ganz zu unrecht - eine Art Dornröschenlegende rankt. Allein das rasche Wachstum der Bevölkerung der Grafschaft im Verlauf des 18. Jahrhunderts reicht hin, um dieses Klischee aus dem Weg zu räumen. Die Verflechtung der wirtschaftlichen Aktivitäten des Territoriums in das großräumige regionale Gefuge trägt sich durch das ganze Jahrhundert hindurch. Schon die Zeitgenossen haben in diesem Zusammenhang auf die heftigen Gegensätze hingewiesen, die die Bevölkerungsstruktur der Grafschaft kennzeichneten. Demographie, Haushaltsgefuge, agrarische und gewerbliche Aktivitätsstruktur tragen ausgeprägt différentielle Züge, in denen sich unterschiedliche geomorphologische Bedingungen, die das Territorium in eine Fülle kleinerer Landschaften aufgliedern, in einem Netz distanzieller Verknüpfungen brechen, das durch eine hohe saisonale Mobilität der ländlichen Bevölkerung und das fur einen überregionalen Markt produzierende ländliche Gewerbe aufrecht erhalten wurde. Die statistische Auswertung der Volkszählungen zu Ende des 18. Jahrhunderts ging über diese Fragen hinweg. Die von dem Kanzler Hoffmann 1786 mit der Unterstützung seines Schwiegersohnes Clostermeier verfaßte Landesbeschreibung, die den jungen Fürsten mit seinem Land vertraut machen sollte, nimmt mit den Traditionen des Fürstenspiegels die des Kameralismus auf. So offen sich diese Beschreibung dabei gegenüber den Errungenschaften der Geographie und Staatenbeschreibung zeigte, wie sie etwa Büsching vertrat, so weit entfernt blieb die Darstellung von der subtilen Tabellentechnik Süßmilchs. Ein Teil des tabellarischen Materials ist in den letzten Jahren aufgearbeitet worden. Diese Arbeiten haben sich bisher auf eine kritische Präsentation der Daten beschränkt. Eine weitergehende Analyse des Urmaterials der Volkszählungen von 1769 und 1776 könnte den Ausgangspunkt für eine regressive Untersuchung bilden, die neben den schweren Rhythmen der Bevölkerungsbewegung auch die Mikrostrukturen des Bevölkerungswandels miteinbezieht.

Anmerkungen 1 Dieser Gegensatz wurde schon von V John, Geschichte der Statistik, Stuttgart 1884 hervorgehoben; neuerdings vgl. auch M. Rassem und J. Stagl (Hg.), Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit vornehmlich im 16. und 18. Jahrhundert, Paderborn 1980. 2 Vgl. H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, Neuwied 1966 (Politica Bd. 13); E. Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten, Darmstadt 1974 (Erträge der Forschung, Bd. 23); R. Horvâth, Aux sources de la statistique allemande, in: Annales de Démographie Historique, 1979, S. 157fF.; J. Hoock, Sciences camérales et

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statistique d é m o g r a p h i q u e en Allemagne aux X V I I e et XVIIIe siècles, in: Annales de D é m o g r a p h i e Historique, 1979, S. 145 ff. 3 H . Maier, S. 159; J. Hecht, L'idée de d é n o m b r e m e n t j u s q u ' à la Révolution, in: P o u r u n e histoire de la statistique, hg. v. I . N . S . E . E . , Paris 1978, S. 21 ff. 4 A. Tautscher, Geschichte der deutschen Finanzwissenschaft, in: H d b . der Finanzwissenschaft, B d . 1, T ü b i n g e n 1952, S. 405; A. W . Small, T h e Cameralists, C h i c a g o 1909, S. 43ff.; H . Maier, S. 150 ff. 5 H . Maier, S. 158 u n d 159; E. Frohneberg, Bevölkerungslehre u n d Bevölkerungspolitik des Merkantilismus, Diss. F r a n k f u r t / M . 1930, S. 29ff. 6 Kennzeichnend ist d a f ü r das Projekt des k u r b r a n d e n b u r g i s c h e n Rates B e r t r a m v o n Phul, das O . Behre, Geschichte der Statistik in B r a n d e n b u r g - P r e u ß e n , Berlin 1905, S. 421 ff. in extenso w i e d e r g e g e b e n hat. 7 Phuls P r o j e k t sollte z. B. gerade auf G r u n d dieser V e r b i n d u n g a m Widerstand der Stände scheitern, vgl. O . Behre, S. 432ff. 8 E. Dittrich, S. 68 ff; V L. v. Seckendorff, Deutscher Fürstenstaat, hg. v. A. S. v. Biechling, Jena 1737 ( N a c h d r u c k Aalen 1972), S. 214ff. (Additiones). 9 P. L. Heubner, Bevölkerungspolitik Seckendorfs, in: Archiv f ü r B e v ö l k e r u n g s w i s s e n schaft u. Bevölkerungspolitik, Bd. 13, 1943; E. Dittrich, S. 71, A n m . 225; E. Vilquin, V a u b a n inventeur des recensements, in: Annales de D é m o g r a p h i e Historique, 1975, S. 207 ff. 10 Z u Becher E. Dittrich, S. 59 ff. u n d Autorenkollektiv, Grundlinien des ö k o n o m i s c h e n D e n k e n s in Deutschland - v o n den A n f ä n g e n bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1977, S. 172ff.; zu Seckendorff: W Roscher, Geschichte der N a t i o n a l ö k o n o m i k in Deutschland, M ü n c h e n 1874 (Berlin 1924 2 ), S. 252. 11 Z u W . Petty u n d G. K i n g vgl. W Letwin, T h e Origins of Scientific E c o n o m i e s , L o n d o n 1963, S. 99ff. u n d D . V Glass, T w o Papers o n G r e g o r y King, in: Population in H i s t o r y . Essays in Historical D e m o g r a p h y , hg. v. D . V Glass u. D . E. C . Eversley, L o n d o n 1965, S. 159ff.; zu C o n r i n g O p e r a Conringii, hg. v. Goebel, B r a u n s c h w e i g 1730, Bd. 5, S. 5 8 f f ; R. Zehrfeld, H e r m a n n C o n r i n g s Staatenkunde unter besonderer Berücksichtigung der C o n r i n g schen Bevölkerungslehre, Berlin 1926, S. 84ff.; F. Feising, Die Statistik als M e t h o d e der politischen Ö k o n o m i e i m 17. u n d 18. J a h r h u n d e r t , Borna-Leipzig 1930, S. 4 f f . 12 H . Dreitzel, Die E n t w i c k l u n g der Historie zur Wissenschaft (Antrittsvorlesung Bielefeld, 1981), erscheint demnächst. 13 Z u Leibniz vgl. die Analyse v o n J. Elster, Leibniz ou la f o r m a t i o n de l'esprit capitaliste, Paris 1975; z u m Einfluß Leibniz' u n d des Breslauer Pastors N e u m a n n auf die preußische Bevölkerungsstatistik, V John, S. 210ff. u. O . Behre, S. 1 4 0 f f 14 J . Hoock, D ' Aristote à A d a m Smith: quelques étapes de la statistique allemande entre le X V I I e et XVIIIe siècle, in: P o u r une histoire de la statistique, hg. v. I.N.S.E.E., Paris 1978, S. 4 7 7 f f ; J . Hecht, J o h a n n Peter Süßmilch, in: Annales de D é m o g r a p h i e Historique (1979), S. 101 ff; zu Achenwall, vgl. F. Felsing, S. 42 ff. 15 J. P. Süßmilch, Die göttliche O r d n u n g in den V e r ä n d e r u n g e n des menschlichen Geschlechts, Berlin 1761 (Vorrede) S. VII; »L'ordre divin« - aux origines de la d é m o g r a p h i e . T r a d u c t i o n originale avec des études et commentaires, rassemblées par J. Hecht, Paris 1979, 2 Bde. 16 E . Pleu/e, D . A n t o n Friedrich Büsching. Das Leben eines deutschen G e o g r a p h e n in der 2. Hälfte des 18. J a h r h u n d e r t s , in: Stuttgarter G e o g r . Studien. Bd. 69, 1957, S. 107 ff. G. Lutz, G e o g r a p h i e u n d Statistik im 18. J a h r h u n d e r t . Z u r N e u g l i e d e r u n g v o n »Fächern« i m Bereich der historischen Wissenschaften, in: M . Rassem u. J. Stagl (Hg.), S. 249ff. Büsching u n d Süßmilch sind die zentralen Referenzen des Berliner K o r r e s p o n d e n t e n Dohm in seiner A b h a n d l u n g »Von der B e v ö l k e r u n g eines Staates«, in: Lippische Intelligenzblätter, 1773, S. 763, S. 766 u n d S. 777. 17 Vgl. dessen »Staatsanzeigen«; zu Schlözer: A. Windbauer, A. L. S c h l ö z e r - e i n deutscher Publizist des 18. J a h r h u n d e r t s , s.l. 1938. - A u f Schlözer w i r d auch v o n D o h m Bezug g e n o m m e n (vgl. A n m . 16); solche wiederholten H i n w e i s e auf Schlözer in den Intelligenzblät-

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tern sprechen fur dessen starke Wirkung im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, vgl. Lippische Intelligenzblätter, 1781, S. 13. 18 H. G. Mirabeau, De la monarchie prussienne, Paris 1786, 4 Bde. F. Furet (Hg.), Discours de Mirabeau, Paris 1973, (Einleitung). 19 Dazu ausführlich, O . Behre, S. 182ff. 20 A. Meitzen, Geschichte, Theorie und Technik der Statistik, Berlin 1880, S. 8 ff. und 24 ff. 21 Für Preußen vgl. Behre, S. 381 ff. die Lippischen Intelligenzblätter knüpften ihre Existenz an diese Art des Zwangsabonnements, vgl. ebd., 1767, S. 2ff. und B . Schiefer, Die lippische Wirtschaft unter der Regierung Graf Simon Augusts (1734-1782), in: Lippische Mitteilungen, Bd. 33, 1964, S. 132 (allerdings mit dem unzutreffenden Hinweis, daß die Intelligenzblätter 1779 ihr Erscheinen eingestellt hätten). 22 Autorenkollektiv, S. 285ff. zur umstrittenen Rolle des deutschen Physiokraten J . A. Schlettwein: E. Dittrich, S. 102 u. J . A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd. 1, Göttingen 1965, S. 290ff. 23 Unter den Kameralisten ging allein J . H. Zincke ausfuhrlich auf das Werk J . P. Süßmilchs ein, vgl. E. Dittrich, S. 92; wiederentdeckt wurde Süßmilch erst durch G. F. Knapp, Theorie des Bevölkerungswechsels, Braunschweig 1874. 24 Beispielhaft dafür sind die Lippischen Intelligenzblätter, die seit 1770 jährliche Listen veröffentlichen. 25 Zu dieser Krise vgl. W. Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, Hamburg 1978 3 , S. 196 ff. Für die Diskussion in Lippe, vgl. die Landtagsvorlage des Grafen vom 9. Dezember 1771, Stadtarchiv Blomberg III B VII a 2 VI. 26 Lippische Intelligenzblätter, 1773, Sp. 763ff. 27 E. Dittrich, S. 8 9 f f ; M . Rassem u. J . Stagl (Hg.), S. 371 ff. 28 Schlettweins Arbeiten und Experimente in Baden sind dafür ein gutes Beispiel. - In Lippe beruft sich der Amtmann Schreiter auf die Arbeiten Arthur Youngs im Verlauf der Diskussionen um die Landverbesserung; derselbe Schreiter beruft sich schon 1779 zur Stützung seiner gewerbepolitischen Ansichten auf Adam Smith, vgl. B. Schiefer, S. 125 u. 90. 29 Zu W. Playfair vgl. die Notiz in: Palgrave's Dictionary o f Political Economy, hg. v. H. Higgs, Neudruck 1963, Bd. 3, S. 116-117; A. F. W. Crome, Europens Produkte, Hamburg 1784; V John, S. 1 3 0 f f ; A. F. W. Crome, Über die Größe und Bevölkerung der sämtlichen europäischen Staaten. Ein Beytrag zur Kenntniß der Staatenverhältnisse und zur Erklärung der neuen Größen-Karte von Europa, mit einer dazugehörenden illuminierten Karte, Leipzig 1785; zur Rezeptionsgeschichte der tabellarischen Staitstik vgl. J . Cl. Perrot, L'âge d'or de la statistique régionale française (An IV-1804), Paris 1977, S. 7ff. 30 L. Krug, Betrachtungen über den National-Reichthum des preußischen Staats und über den Wohlstand seiner Bewohner, Bd. 1, Berlin 1805, S. VI (Vorrede). 31 Ebd., S. VII u. X V I I . 32 Die Zählschemata Vaubans zielen schon auf die Erfassung der volkswirtschaftlich relevanten Daten, die eine ausgeglichene Planung ermöglichen sollen. Die lippischen Formulare weisen große Ähnlichkeiten mit diesen Schemata auf. Vgl. Vauban, Projet d'une dîme royale, in: E. Daire (Hg.), Economistes financiers du 18e siècle, Paris 1851 (Nachdruck Genf 1971), S. 1 3 7 f f ; B. Gille, Les sources statistiques de l'histoire de France, Paris 1964, S. 48ff. 33 C . F. Gerstlacher, Sammlung aller Baden-Durlachischen Anstalten und Verordnungen, Bd. 1, Carlsruhe 1773, S. 357ff. 34 Gerstlacher nach S. 358; H. Schorer, Die Vornahme der kurbayerischen Volkszählung von 1771/81, in: Archivalische Zeitschrift, NF Bd. 11, 1904, S. 162; A. L. Reyscher (Hg.), Vollständige historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze, Bd. 14, Tübingen 1843, S. 528f. In Württemberg wurden von 1757 bis 1780 nach einem vorgedruckten Formular in den Zählbereichen handschriftliche Tabellen angefertigt, s. M . Schaab, Die Anfänge einer Landesstatistik im Herzogtum Württemberg, in den Badischen

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M a r k g r a f s c h a f t e n u n d in der Kurpfalz, in: Zeitschrift f ü r W ü r t t e m b e r g i s c h e Landesgeschichte, Bd. 26, 1967, S. 95. 35 Schorer, S. 158; vgl. G. C . Oeder, Aufsätze betreffend die im J a h r e 1769 in den königlichen dänischen Staaten in E u r o p a v o r g e n o m m e n e Volkszählung, in: V A. Heinze (Hg.), S a m m l u n g e n zur Geschichte u n d Staatswissenschaft, Bd. 1, 1789, S. 3 f f . ; vgl. u n t e n S. 68. 36 W o nicht anders v e r m e r k t , beruhen die A n g a b e n auf A. Meitzen, Geschichte, T h e o r i e u n d Technik der Statistik, Berlin 1903 2 , S. 21, der allerdings keine Einzelbelege liefert. (I) Behre, S. 171 ff. (3) A. Günther, Geschichte der deutschen Statistik, in: Die Statistik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand. G. v o n M a y r z u m 70. Geb., hg. v o n F. Zahn, Bd. 1, M ü n c h e n 1911, S. 18. (4) M . Lasch, Die Kasseler Einwohnerverzeichnisse der Jahre 1731 u n d 1751. Ein Beitrag zur B e v ö l k e r u n g s - u n d Wirtschaftsgeschichte der Stadt Kassel u m die M i t t e des 18. J h d t s . , in: Zeitschrift des Vereins f ü r Hessische Geschichte u n d Landeskunde, Bd. 75/76, 1964/65, S. 350 ff. (6) B. Bolognese-Leuchtenmüller, B e v ö l k e r u n g s e n t w i c k l u n g u n d Berufsstruktur. Gesundheitsu n d F ü r s o r g e w e s e n in Österreich 1750-1918, (Materialien zur Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte Bd. 1), M ü n c h e n 1978, S. 27ff. u n d A. Gürtler, Die Volkszählungen Maria Theresias u n d Josefs II. 1753-1790, Innsbruck 1909. (7) K. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte v o n Sachsen bis zur industriellen Revolution, W e i m a r 1967, S. 29fT. (8) W . Schellenberg, Die B e v ö l k e r u n g der Stadt Z ü r i c h u m 1780. Z u s a m m e n s e t z u n g u n d regionale Verteilung, Diss. Z ü r i c h 1951, S. 12f. (9) D . Saalfeld, Kriterien f ü r eine quantifizierende Darstellung der sozialen Differenzierung einer historischen Gesellschaft. Das Beispiel Göttingen 1760 bis 1860, in: H . Best u. R. Mann (Hg.), Q u a n t i t a t i v e M e t h o d e n in der historisch sozialwissenschaftlichen Forschung, H i s t o risch sozialwiss. F o r s c h u n g e n 3, Stuttgart 1977, S. 67 u n d 84ff.; H . Mauersberg, Wirtschaftsu n d Sozialgeschichte zentraleuropäischer Städte in neuerer Zeit, Göttingen 1960, S. 62f.; B. Sachse, Soziale Differenzierung u n d regionale Verteilung der B e v ö l k e r u n g G ö t t i n g e n s i m 18. J a h r h u n d e r t , Hildesheim 1978. ( I I ) Schaab, S. 95 ff. (12) Schaab, S. l O O f f ; K. Roller, Die E i n w o h n e r s c h a f t der Stadt Durlach im 18. J h d t . , Karlsruhe 1907, S. 126ff. (13) Schaab, S. 101 f. (14) Schaab, S. 105 ff. (15) S. u n t e n S. 64ff. (16) I. E. Momsen, Die allgemeinen Volkszählungen in Schleswig-Holstein in dänischer Zeit 1769-1860, Q u e l l e n u. Forschungen zur Gesch. Schleswig-Holsteins 66, N e u m ü n s t e r 1974, S. 20 ff. (17) W . Franke, D i e Volkszahl deutscher Städte E n d e des 18. u n d A n f a n g des 19. J a h r h u n derts, in: Zeitschrift des preußischen statistischen Landesamtes, 1922, S. 103. (18) F. Geschwind, B e v ö l k e r u n g s e n t w i c k l u n g u n d Wirtschaftsstruktur der Landschaft Basel i m 18. J a h r h u n d e r t , Liestal 1977, S. 54ff.; vgl. Mauersberg, S. 29. (19) Schorer, S. 157 ff. (20) Günther, S. 17. (21) Günther, S. 18. (22) Mauersberg, S. 17. (24) Schaab, S. 109. (25) Günther, S. 17. 37 Vgl. Schorer, S. 181. 38 Das einschlägige Material f ü r die Grafschaft Lippe, Heberegister, Viehschatzregister, Landsteuerverzeichnisse von Adel u n d Ritterschaft, Verzeichnisse der H ö f e u n d Einlieger, K n e c h t - u n d Gesindeschatzregister, Soldatenschatzregister, Kopfschatzregister, Landschatz-

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register, Mannschaftsregister, Einwohnerverzeichnisse u. ä. reicht in relativer Dichte bis ins 15. Jahrhundert zurück, vgl. StA Detmold L 92 Z IV 1-28, L 92 Z II e; M. Kuhlmann, Bevölkerungsgeographie im Lande Lippe (Forschungen zur deutschen Landeskunde 76), Remagen 1954; H. Stöwer, Die Bedeutung der Schatzungsregister für die Landesgeschichtliche Forschung, in: Lippische Mitteilungen, Bd. 41, 1972, S. 94ff. Eine Sonderstellung nimmt eine Volkszählung in der Grafschaft (»Verzeichnis aller in dem A m t . . . befundenen Menschen von mans und frauns personen, gros und klein, alt und junk, reich und ahrm niemand ausbeschieden«) im Jahre 1609 ein. Wohl aus fiskalischen Gründen, wie die Bemerkungen zur Vermögenslage jedes Haushaltes zeigen, wurden in allen Bauernschaften Listen angelegt, in denen jede Haushaltung nach ihrer Zusammensetzung zahlenmäßig aufgeschlüsselt wurde, d. h. also nach den Mitgliedern der Kernfamilie, den zusätzlich beschäftigten Arbeitskräften, den Leibzüchtern usw. In einigen Fällen wurden sogar die Söhne und Töchter - zwar auch ohne Namen - aber mit Altersangaben eingetragen; StA Detmold L 92 Z IV 29, zu nr. 29, 29 a. 39 Vgl. z.B. Schaab, S. 94; G. Mehring, Württembergische Volkszählungen im 17. Jhdt. in: Württembergische Jahrbücher, 1919/20, S. 317. 40 Für Preußen vgl. Behre, S. 132ff.; Schaab, S. 91 u. 108f. 41 Vgl. für Westfalen P. F. Weddigen (Hg.), Westphälisches Magazin zur Geographie, Historie und Statistik, Bde. 1-3, 1784-87 (darin z.B. Bd. 1, S. 164fT., Bd. 3, S. 432ff.) u. Neues Westphälisches Magazin . . . , Bde. 1-3, 1789-92. Journal von und für Deutschland, Bd. 3, 1786, S. 395ff. u. 487ff. 42 Vgl. Behre, S. 405; Schaab, S. 110; Th. Traiteur, Über die Gröse und Bevölkerung der Rheinischen Pfalz, Mannheim 1789, S. 5; Günther, S. 12 u. 16; Franke, S. 202f.; Mauersberg, S. 17. 43 St. Reekers, Beiträge zur statistischen Darstellung der gewerblichen Wirtschaft Westfalens um 1800. Teil 9: Lippe und Stadt Lippstadt, in: Westfälische Forschungen, Bd. 29, 1978/ 79, S. 26 u. 91; Kuhlmann, Tab. 4. 44 Kuhlmann, S. 51 ff.; H. Stöwer (Hg.), Lippische Landesbeschreibung von 1786 (Lippische Geschichtsquellen 5), Detmold 1973, S. 145 ff. u. 71 ff. 45 Reekers, S. 27. 46 Reekers, S. 27 u. 97. 47 Stöwer, S. 71; Schiefer, Die lippische Wirtschaft, S. 99fT. 48 B. Schiefer, Die Steuerverfassung und die Finanzen des Landes Lippe unter der Regierung Graf Simon Augusts 1734-1782, in: Lippische Mitteilungen, Bd. 32, 1963, S. 88 ff 49 Schiefer, Die Steuerverfassung, S. 93, 101 f. u. 105. 50 Stöwer, S. 107 u. Schiefer, Die lippische Wirtschaft, S. 95f. 51 Allerdings gab es in Lippe keinen Salzabnahmezwang wie in anderen Ländern, vgl. Stöwer, S. 152. Z u Salzeinfuhrverboten vgl. Landesverordnungen der Grafschaft Lippe, Bd. 2, 1781, S. 188 (für 1764), S. 349 (für 1769), S. 492 (für 1774) usw.; vgl. Schiefer, Die lippische Wirtschaft, S. 96. 52 StA Detmold L 92 D I 6. 53 StA Detmold L 92 D I 6. Die Ergebnisse der Zählung vgl. StA Detmold L 92 Z IV 33. 54 Der erste Hinweis auf die jährliche Erstellung solcher Geborenen-, Gestorbenen- und Eheschließungslisten findet sich in den Regierungsakten vom Ende des Jahres 1768, StA Detmold L 14 Bd. 15, S. 381 und L 77 A Fach 144, 4640. Die erste Zusammenstellung dieser Daten für die damals 39 Kirchspiele Lippes stammt aus dem Jahre 1769, ebenda L 77 A Fach 144, Nr. 4640. Gedruckt erschienen für dieses Jahr lediglich die Daten für Detmold, Lippische Intelligenzblätter, 1770, Sp. 117ff. 1771 wurden dann die Tabellen für 1770 publiziert - ein Verfahren, das ununterbrochen bis ins 19. Jahrhundert beibehalten wurde. Vgl. Lippische Intelligenzblätter, 1773, Sp. 763-768, 777-782 u. 793-796, bes. 767. 55 Schorer, S. 157ff. 56 Die Artikelserie von D o h m s. oben Anm. 54; zu D o h m s. Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 5, 1877, S. 297ff. Der erste Beitrag, in dem ausgeführt wird, daß »ein

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vernünftiger und weiser Kameralist auf die Bevölkerung eines Staates sein Augenmerk zu richten« habe, da »Vermehrung der Unterthanen« »Vermehrung der Einkünfte« bedeute, ist mit S., der Paraphe von Stein gezeichnet, Lippische Intelligenzblätter, 1773, Sp. 489-96, bes. 489. Eine Antwort auf Dohm verbunden mit einigen methodischen Überlegungen zur Publikation der Geborenen- und Gestorbenenlisten sowie eine monatlich aufgeschlüsselte Tabelle von Geborenen und Gestorbenen für die Jahre 1733 bis 1773 erschien im folgenden Jahr, Lippische Intelligenzblätter, 1774, Sp. 255-258, 261-272 und 279-298. 57 Lippische Intelligenzblätter, 1773, Sp. 780. 58 StA Detmold L 14 Bd. 17, S. 82f. 59 StA Detmold Landtagsprotokoll L 9 Bd. 50 fol. 78 ss. bes. fol. 80r-80v. 60 StA Detmold L 92 D I 6. 61 StA Detmold Landtagsakten L 10 Tit. 1 n. 98 (2:6. 12. 1773). 62 StA Detmold L 77 A Nr. 4631 fol. 8 r = Lippische Intelligenzblätter, 1782, S. 25ff. 63 Lippische Intelligenzblätter, 1776, Sp. 1-8. 64 Die gedruckten und ausgefüllten Formulare für die Städte in StA Detmold 92 Z IV 30, für die Ämter und die adligen und schriftsässigen Güter in StA Detmold 92 Z IV 31. Die Entwürfe in StA Detmold L 77 A Nr. 4634. 65 StA Detmold 92 Z IV 30-32; vgl. F. Verdenhalven, Barntrups Einwohner im Jahre 1776 und ihre genealogischen Verbindungen, Göttingen 1976. 66 StA Detmold 92 Z IV 32, S. 542-43; L 77 A Nr. 4634; vgl. Stöwer, Beilage 3; Reekers, S. 91 f. 67 StA Detmold L 77 A Nr. 4634 fol. 13r-17v. 68 nicht glaublich ist, daß in den Städten Horn und Salzuflen, in jer nur 2 Schweine gewesen sein sollen ebd. fol. 14 v. 69 Lippische Intelligenzblätter, 1782, S. 25f. S. 29-31, S. 49f. u. S. 53-55. 70 Ebd. S. 26. 71 StA Detmold L 77 A Nr. 4631 fol. 20r-21r. 72 Lippische Intelligenzblätter, 1782, S. 55. Der ursprünglich geplante Einsendetermin war möglicherweise wie 1776 Ende Februar, s. StA Detmold L 77 A Nr. 4631 fol. 14. 73 Ebd. fol. 34r. 74 Ebd. fol. 22r-v. 75 Ebd. fol. 27r-v u. 29r. Der Einspruch der Ritterschaft ist von zwei Adligen unterzeichnet, ohne daß gesagt würde, wie wohl anzunehmen ist, daß er im Namen der gesamten Ritterschaft geschieht. 76 Ebd. fol. 30v-31r, vgl. 32r-v. 77 Vgl. die Interpretation der Verfassung durch den Kanzler Hoffmann 1785/86, Stöwer, S. 42. 78 StA Detmold L 77 A Nr. 4631 fol. 34r-v. 79 Ebd. fol. 41r-51r, bes. fol. 43r-v u. 49v-50r. 80 Ebd. fol. 53r-54v. 81 Landesverordnungen der Grafschaft Lippe, Bd. 3, 1789, S. 58ff.; vgl. Schiefer, Die Steuerverfassung, S. 110. 82 Lippische Intelligenzblätter, 1783, S. 121-131; 1784, S. 363f.; 1785, S. 300. 83 Stöwer, S. 137f.; StA Detmold D 72 Clostermeier Nr. 31. 84 StA Detmold L 77 A Nr. 4631 fol. 57r-v. Zur lippischen Zunftverfassung vgl. Stöwer, S. 27f.; Schiefer, Die lippische Wirtschaft, S. 86ff.; E. Kittel, Heimatchronik des Kreises Lippe, Köln 1978 2 , S. 180; Reekers, S. 31. 85 Stöwer, S. X I V u. 3 ff. vgl. E. Kittel, Die Lippischen Landesbeschreibungen, in: Mitteilungen aus der lippischen Geschichte und Landeskunde, Bd. 18, 1949, S. 62ff. 86 Hoffinann 1798/99, s. Stöwer, S. X I V 87 Ebd. S. 7. 88 Ebd. S. 136ff. 89 Ebd. S. 22 u. 26; vgl. Kittel, S. 182f.

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90 E b d . S. 148, vgl. Schiefer, Die Steuerverfassung, S. 90, Stöwer, S. 148. 91 L a n d e s v e r o r d n u n g e n der Grafschaft Lippe, Bd. 3, 1789, S. 274-299. 92 Die F o r m u l a r e f ü r die Personensteuer in StA D e t m o l d L 10 Tit. 2 N r . 27 u n d L 77 A N r . 4637; vgl. StA D e t m o l d D 72 Clostermeier N r . 31. Die A n g a b e n über die Kinder u n d deren Alter soll m i t Hilfe der Pfarrer ü b e r p r ü f t w e r d e n (LandesVerordnungen, Bd. 3, 1789, S. 288). Die Pfarrer sind z u d e m gehalten, halbjährlich den Erhebern der Personensteuer Verzeichnisse der Getauften, Getrauten u n d Gestorbenen nach einem vorgeschriebenen Schema einzusenden (L 10 Tit. 2 N r . 27). 93 Schreiben H o f f m a n n s v o m 4. 8. 1788, StA D e t m o l d L 10 Tit. 2 N r . 27. 94 L a n d e s v e r o r d n u n g e n , Bd. 3, 1789, S. 290, vgl. oben A n m . 75. Z u B l o m b e r g s. Stöwer, S. 114 u. 117 f. 95 L a n d e s v e r o r d n u n g e n , Bd. 3, 1789, S. 276. 96 Die gedruckte Instruktion findet sich in StA D e t m o l d L 10 Tit. 2 N r . 27. 97 Einen Vorschlag zur ständigen Ü b e r p r ü f u n g der Zählergebnisse enthielt auch ein nicht datiertes M e m o r a n d u m Steins, das sich in den A k t e n zur gescheiterten Volkszählung v o n 1782 findet: »Beamte etc. m ü ß e n auch außer der Zeit der A u f n a h m e dann u n d w a n n nachforschen, ob die Z a h l der Personen u n d des Viehes, ingleichen das Alter der ersteren richtig angegeben sey . . . « , StA D e t m o l d L 77 A N r . 4631 fol. 69r-v. 98 Vgl. Lippische Intelligenzblätter, 1788, S. 153f. 1789, S. 93f.; 1790, S. 123 u. 1791, S. 228. Q u i t t u n g s b ü c h e r u n d V e r o r d n u n g e n in StA D e t m o l d L 10 Tit. 2 N r . 27. W . G. L. v o n Donop, Historisch-geographische Beschreibung der Fürstlichen Lippischen Lande in W e s t phalen, L e m g o 1790 2 , S. 143ff.; vgl. StA D e t m o l d D 72 Clostermeier N r . 31 u. D 72 Clausing N r . 14. 99 Reekers, S. 28; Stöwer, Beilage 5 u. S. XII. 100 Vgl. die Zahlen bei Stöwer, Beilage 4 ( = abgedruckt in Reekers, S. 93); Donop (wie A n m . 98), Clausing (wie A n m . 98) u n d Clostermeier (wie A n m . 98). Dies ist v o r w i e g e n d d u r c h die Einbeziehung b z w . Nichteinbeziehung v o n lippischen Territorien, die im A u g e n blick nicht u n t e r Hppischer V e r w a l t u n g stehen, bedingt. Z u den G e b o r e n e n - u n d Gestorbenenlisten vgl. etwa die voneinander abweichenden Zahlen f ü r die Jahre 1779-82 bei Donop (wie A n m . 98) S. 152 u n d in den Lippischen Intelligenzblättern (1783) Tabellen zu S. 121, vgl. auch die Zahlen zu 1781 u. 1782 von Clostermeier in StA D e t m o l d D 72 Clostermeier N r . 31. D e r H a u p t g r u n d fur die Differenzen d ü r f t e auch hier in den unterschiedlichen nicht i m m e r genau angegebenen Zählbereichen liegen. 101 Reekers, S. 94f. 102 Vgl. zu diesen T e n d e n z e n innerhalb des Kameralismus, E. Dittrich, passim. 103 C h . Morrison u. R. Gojfin, Questions financières aux XVIIIe et X I X e siècles, Paris 1967, S. 35 ff. 104 P. Kriedte, H. Medick u. J. Schlumbohm, Industrialisierung v o r der Industrialisierung, G ö t t i n g e n 1978; dazu: P Jeannin, La protoindustrialisation: d é v e l o p p e m e n t ou impasse?, in: Annales E . S . C . , Bd. 35, 1980, S. 52 ff. 105 Vgl. N . Bulst u. J. Hoock, B e v ö l k e r u n g s e n t w i c k l u n g u n d Aktivitätsstruktur in der Stadt u n d auf d e m Lande in der Grafschaft Lippe, 1776-1788 (Vorlage auf der Z I F - T a g u n g » S t a d t - U m l a n d « , Bielefeld N o v e m b e r 1980), erscheint demnächst. 106 Vgl. H . Hunke, Lippe u n d seine gesamtwirtschaftliche E i n b i n d u n g . 2 0 0 J a h r e lippische Landesentwicklung u n t e r d e m Industriesystem, in: H e i m a t l a n d Lippe, 1971, S. 184-196; K. Horstmann, B e v ö l k e r u n g s - u n d Wirtschaftsentwicklung in M i n d e n - R a v e n s b e r g , Lippe u n d O s n a b r ü c k i m ersten u n d zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, in: R a u m o r d n u n g im 19. J a h r h u n d e r t (1. Teil), (Forschungs- u n d Sitzungsberichte der Akademie für R a u m f o r s c h u n g und Landesplanung, Bd. 30), H a n n o v e r 1965, S. 97 ff. vgl. i m übrigen den Artikel in den Lippischen Intelligenzblättern, 1781, S. 2 9 f f . : »Was will aus unserem G a r n - u n d Linnenhandel werden?«. 107 Vgl. S. Reekers, S. 98ff. u. passim. 108 F. Fleege-Althoff, Die lippischen Wanderarbeiter, D e t m o l d 1928, S. 31 ff.

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109 Lippische Intelligenzblätter, 1770, S. 26-31, 42-48, 55-62. 110 E b d . S. 44. 111 E b d . S. 60. 112 Vgl. oben A n m . 54. 113 Lippische Intelligenzblätter, 1781, S. 1 - 4 , 13-23, 69-78. 114 E b d . S. 1. 115 E b d . S. 69. 116 E b d . S. 13 u. 70ff. 117 E b d . S. 74 ff. 118 E b d . S. 19 ff. 119 E b d . S. 71 ff. 120 E b d . S. 72ff. 121 E b d . S. 71 ff. 122 E b d . S. 69. 123 E b d . S. 16. Vgl. auch Landtagsakten (11. D e z e m b e r 1773), Stadtarchiv B l o m b e r g III B VII a 2 VI. 124 Vgl. Landtagsakten (10. D e z e m b e r 1770, 9. D e z e m b e r 1771, 6. D e z e m b e r 1773, 12. D e z e m b e r 1774, 15. April 1776, 2. J u n i 1777), Stadtarchiv B l o m b e r g III B VII a 2 Bd. V I - V I I . 125 Stöwer, S. 2 4 f f , 136ff. u. passim. 126 Anstelle der a u f w e n d i g e n Familienrekonstitution f ü r einen längeren Z e i t r a u m läßt sich anhand der Volkszählungen, unter der Voraussetzung der E r m i t t l u n g des Heiratsalters des weiblichen Ehepartners, ein ausreichender Einblick in die Familienstruktur gewinnen. 127 C h . Morrisson u. R. Goffin, S. 31 ff. 128 B. Schiefer, S. 85. 129 S. oben A n m . 28.

Recensements dans le C o m t é de Lippe. Statistique et démographie en Allemagne au XVIII e siècle Résumé La deuxième moitié du 18e siècle marque une rupture dans le développem e n t de la statistique démographique d'outre-Rhin. N o t r e travail esquisse très brièvement cette évolution, relève la chronologie des recensements dans l'empire avant d'aborder avec plus de détail trois recensements dans u n petit territoire, le comté de Lippe - fort de quelque 1200 km 2 et d'environ 70000 habitants en 1788, profondement inséré dans l'économie régionale. A quoi répondent ces recensements? Quelle f o r m e prennent-ils? C o m m e n t sont ils exploités? Quelles questions posent-ils, enfin, à l'historien? L'analyse s'attache surtout aux trois premières questions. Le premier recensement en 1769 a un caractère fiscal; lié à l'acquisition de la saunerie de Salzuflen, l'approche ressemble grosso modo à celle de Vauban. L'exploitation reste assez sommaire et - quant à la couverture du territoire - partielle. Sept années plus tard le deuxième recensement se veut plus ambitieux.

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Motivé par la disette des années précédentes, il s'étend à l'industrie et à l'agriculture. Pour la conception, l'influence de la physiocratie est déterminante. Des 37 rubriques employées dans le formulaire destiné au plat pays, 19 se rapportent à la structure d'activité. 36% de l'ensemble des informations recueillies concernent l'agriculture. Or, elles n'envisagent pas seulement l'état présent, mais les questions que soulève le programme agraire du gouvernement: terres délaissées, cheptel potentiel etc. Dans le domaine des activités industrielles la production pour le marché est opposée à l'a,utoconsommation. - Dès 1782 l'administration se propose d'étendre l'expérience à un relevé complet de la consommation et de la production des blés, en dépit des protestations qui, dès 1779, font état de l'oeuvre d'Adam Smith afin de réfuter l'utilité du contrôle économique. L'opposition des Landstànde aura finalment raison de cette tentative. Du recensement de 1788, plus complet que celui de 1776, ne subsistent, étrangement, que les tableaux analytiques. La continuité, il est vrai toute relative, dans le comté de Lippe fait de la documentation de base qui subsiste et que précède une série de sources fiscales remontant jusqu'à la fin du 15e siècle un fonds intéressant et jusqu'ici inexploité. Les tentatives d'innovation — en particulier dans le domaine agraire et industriel - n'enlèvent rien à la possibilité de comparer les résultats. Bien au contraire, l'analyse des matériaux de base du recensement de 1776 permet de révéler les structures sousjacentes à la résistance que rencontre en 1782 la tentative de mésurer le produit net du territoire.

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MARIE-NOELLE BOURGUET

Topographie des häuslichen Raums und soziales Ritual Das Bild der Familie in der Departementsstatistik Frankreichs während der napoleonischen Zeit

Als sich im Jahre 1782 Legrand d'Aussy an seine »Histoire de la vie privée des Français« setzt, in der er sich vornimmt, »den Bürger inmitten seiner städtischen Umgebung, den Bauern in seiner Strohhütte, den Franzosen bei seiner Arbeit und seinen Vergnügungen, im Schöße seiner Familie und unter seinen Kindern« zu zeichnen, betont er, daß dies ein Feld sei, daß die Historie üblicherweise ignoriere. Denn alles, was das häusliche und private Leben der Menschen berühre, entgleite der Zuständigkeit des Staates. Was bedeute es für den Staat, wenn er weiß, was sich im Innern der Hütten abspielt, wenn er die Zahl, den Stand und das Vermögen ihrer Bewohner kennt? Eine genaue Zählung der Bevölkerung genügt den wirtschaftlichen und fiskalischen Bedürfnissen, die die französische Monarchie zu Ende des Ancien Régime zur Erhebung drängen. Die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in dieser Richtung unternommenen Versuche - etwa die Volkszählung des Jahres 1694 - und die - auf Grund der praktischen Unmöglichkeit einer Bestandsaufnahme nach Köpfen - im folgenden Jahrhundert von den Demographen angestellten Überlegungen, die Gesamtbevölkerung des Königreichs ausgehend von Multiplikatoren der Zahl der Feuerstellen oder der jährlichen Geburten-, Heirats- oder Sterbequoten zu errechnen, sind bekannt. Ebenso bekannt sind die Bemühungen unter der Revolution und später unter der napoleonischen Herrschaft, eine Erfassung der gesamten Bevölkerung in dem uns geläufigen Sinne durchzufuhren 1 . Bis dahin ging es nur darum, die Menschen zu zählen. Als »Wissenschaft von den wirklichen Kräften und Machtmitteln eines Staates« suchte die Statistik eher den »sozialen Körper zu sezieren«, um die Zahl seiner unteilbaren Größen zu bestimmen, als die Gesellschaft zu beschreiben und die Gesetze ihrer Bewegung zu analysieren2. Das soziale Leben entglitt dem Blick des Staates. Seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts unterdessen erscheint diese Grenze des öffentlichen Interesses keineswegs mehr so selbstverständlich und nicht 88

einmal mehr gerechtfertigt._ Die D e m o g r a p h e n und Moralisten beunruhigen sich über den sich auf das flache Land ausdehnenden Sittenverfall, der das Wachstum der Bevölkerung auf Grund der Verbreitung der »tödlichen Geheimnisse« bis an den bäuerlichen Herd bedroht. Die Ärzte versuchen den U r s p r ü n g e n der Krankheiten und Epidemien nachzugehen, indem sie vor O r t Klima, U m w e l t und Lebensweise z u m Gegenstand ihrer Beobachtung machen. Die Revolution schließlich zerbricht die Schranke zwischen Staat und Gesellschaft, indem sie neue Gesetze proklamiert und M a ß n a h m e n ergreift, die unmittelbar das häusliche und private Leben jedes B ü r gers berühren - angefangen bei der Erklärung der Menschenrechte über die Gesetzgebung zur Familie, zur Scheidung, dem Erbrecht bis hin zur Schaffung des Zivilstands, der Massenaushebung, dem »Maximum«, usw. N a c h d e m sie zur Nation geworden ist, fällt die Gesellschaft in den Verfugungsbereich des Staates. Rückte damit das Privatleben des Bürgers und seiner Familie ebenfalls in das Feld des öffentlichen Interesses? Das behauptet 1811 P. Laboulinière in seiner Idée d'un tableau de la France sous le règne de Napoléon le Grand. »Die Statistik u m f a ß t . . . , notiert er, alles, was die Individuen, die Familien und die Gesellschaft i m allgemeinen betrifft.« 3 In welchem U m f a n g e und in welcher Weise die Familie u m 1800 in der Tat zum Gegenstand von Erhebungen wird, das ist die Frage, die ich hier behandeln möchte.

Die Familie - ein blinder Fleck auf d e m statistischen Fragebogen Das Material für diese Studie liefert die unter dem Titel »Statistique des préfets« oder »Statistique générale de la France« bekannte Erhebung 4 . Aufgabe dieses Unternehmens, das zu Ende des Direktoriums von François de Neufchateau begonnen und v o m Konsulat bis in die Kaiserzeit von Chaptal fortgeführt wurde, war es zunächst, ein Bild Frankreichs zu Ende der Revolution mittels eines detaillierten Inventars seines Territoriums, seiner Bevölkerung, seiner Ressourcen in der Art einer allgemeinen Besitzstandsaufnahme zu zeichnen und damit gleichzeitig über die Beschreibung »der Veränderungen, die im Leben der Bürger eingetreten sind«, die Bilanz von 10 Jahren politischer Revolution zu ziehen und so den Abstand zwischen d e m Frankreich des Jahres 1789 und dem des Jahres IX auszumessen. »Die Lebensumstände der Nation haben sich ganz allgemein verbessert und die Bräuche und Sitten haben sich gewandelt«, schreibt der Innenminister i m Germinal des Jahres IX. »Es wäre wichtig, ein genaues Bild der Lebensgewohnheiten von 1789 zu haben, das deutlich zwischen den Gewohnheiten in den verschiedenen Klassen der Gesellschaft, in den Städten und in den Dörfern, usw. unterschiede. «5 O b s c h o n nun keine Rubrik der in Paris für diese allgemeine Beschrei-

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bung Frankreichs ausgearbeiteten Fragebögen - insbesondere der von Chaptal im Germinal und Fructidor des Jahres IX erarbeiteten Bogen - das Thema der Familie direkt angeht 6 , kann man doch sagen, daß es den Hintergrund der gesamten Erhebung bildete. So erscheint im Abschnitt »Bevölkerung«, der spezifisch demographische Fragen (Einwohnerzahl; Verteilung der Bevölkerung nach Alter, Stand, sozialer Klasse und Wohnort; jährliche Bewegung der Geburten, Heiraten und Sterbefälle) aufnimmt, die Familie nur als impliziter Bezugspunkt für einige Fragen über die Zahl der alleinstehenden Frauen und Männer, zum Verhältnis zwischen der Zahl der Familien und der Zahl der Feuerstellen und über die Zahl der unehelichen Kinder, bei der - wie es in einer Anmerkung heißt - die Gründe für ihr eventuelles Anwachsen angegeben werden sollen. Der folgende Abschnitt über den »Personenstand der Bürger« räumt der Familie auf den ersten Blick noch weniger Raum ein, da er vom Individuum »in seiner Beziehung zu den gesellschaftlichen Institutionen« 7 handelt, mit anderen Worten von allen jenen Bereichen, in denen seine bürgerliche Existenz sich von dem engen Kreis der Familie löst: der Schule, dem Gefängnis, dem Hospiz, dem Gericht und dem Markt. Trotzdem ist jedoch gerade auch hier die Familie die implizite Bezugsgröße der Erhebung. In seiner Aufforderung, die Tabellen über die Zahl der Verbrechen und der Prozesse sowie die zu den Lebenshaltungskosten zu kommentieren, erweitert der Minister in der Tat das Feld der statistischen Beobachtungen auf die Familie: »Man kann in diesem Zusammenhang nicht genug ins Detail gehen, was die bürgerlichen Gewohnheiten, die privaten Sitten usw. betrifft . . . « Es sieht also ganz so aus, als sei die Familie die eigentliche Bezugsgröße, auf die jede soziale Beobachtung hinführt, und der eigentliche Schlüssel für jede Frage nach der Gesellschaft. Freilich, wieviele »Einzelheiten zum häuslichen Leben« Chaptal auch verlangt, so wenig Hinweise gibt er zur Natur der Antworten oder der Methode, sie zu sammeln. »Ich weiß, räumt er ein, daß es Grenzen der Beobachtung gibt: Aber die Strecke, die sie durchlaufen kann, ist beachtlich.« Zur Orientierung werden nur einige Wegmarken abgesteckt: Man sollte u.a. den Veränderungen, die im Familienleben eingetreten sind, nachgehen, sich nach den Lockerungen der Bindungen zwischen Eheleuten erkundigen und die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern beobachten 8 . Die Rundschreiben aus Paris fuhren den Erhebenden an die Schwelle des Hauses, um ihn dort mehr oder weniger sich selbst zu überlassen. Vor Ort wird die Statistik den lokalen Regierungsvertretern, im wesentlichen den seit dem Jahre VIII in den Hauptstädten der Departements eingesetzten Präfekten, anvertraut. Ihrer Vorbildung nach gehörte die Mehrzahl dieser zwischen 1750 und 1770 geborenen Männer zur Generation der Aufklärung. Was ihr politisches Engagement betrifft, so hatten mehr als drei Viertel von ihnen an den revolutionären Versammlungen teilgenommen und zum Wandel der Gesellschaft aktiv beigetragen. Ihrer 90

Funktion nach, die darin bestand, die Einrichtung und das Funktionieren der neuen Institutionen zu überwachen, waren die Präfekten schließlich besonders geeignet, wie Chaptal sich ausdrückt, »richtig zu sehen und alles zu sehen«9. Alles machte sie, wenn man so will, zu den geborenen Beobachtern des gesellschaftlichen Wandels. Was für ein Bild von der Familie haben sie in ihren statistischen Denkschriften entworfen? Wir wollen versuchen, im folgenden zugleich einige typische Formen des Zugriffs, der diese Beobachtungen bestimmt, und das analytische Raster, das diesen Beschreibungen zugrunde liegt, freizulegen. Denn auf den ersten Blick scheint so gut wie alles, was diese Denkschriften enthalten, diffus, disparat und unvergleichbar. Der eine verzichtet ganz und gar darauf, den Schritt zu tun, um über die Schwelle des Hauses zu treten, da ihm das häusliche Leben in seiner nahen Alltäglichkeit zu undifferenziert erscheint, um eine Beschreibung zu verdienen. »Es wäre allzu schwierig, den Einzelheiten des Privatlebens nachzugehen, schreibt der Präfekt der Moselle. Zunächst dürfte man hier kaum etwas bemerken, was man nicht auch anderswo anträfe; im übrigen, dürften die Unterschiede zwischen den einzelnen Ständen kaum ernsthaft zu fassen sein. [Es gibt] wenig über Sitten und Bräuche zu sagen: Sie bieten nichts, was angeführt zu werden verdiente, selbst nicht auf dem flachen Lande.«10 Die Kurzsichtigkeit des Beobachters trübt hier den Blick. Anderswo, im Gegenteil, stimuliert eine ausgesprochene Wißbegierde, wie etwa im Falle de Cambrys im Finistère, die Beobachtung. Hier entschließt sich der Berichterstatter, die breite Landstraße zugunsten der Hohlwege zu verlassen und sich auf die Entdeckung jener Häuser zu begeben, »die hinter den Wallhecken, im Gestrüpp der Bäume und Büsche nur den Jägern ins Auge fallen [und wo] die schmutzigsten, gröbsten und wildesten Individuen leben«" U m den Weg nachzuzeichnen, der vom Gemeinplatz über die Familie zu deren konkreter Beobachtung fuhrt, unterscheide ich im folgenden drei große Themen: Die Beschreibung des häuslichen Raumes, die Sammlung familialer Rituale und das Modell der Familie. Sie umschreiben, wie ich zu zeigen versuche, drei Stufen eines ersten, ethnographischen Zugriffs auf die Familie.

Der häusliche Raum In den Augen der Präfekten ist die Familie zunächst ein Raum, eine Umwelt und eine Lebenswelt. Dem Beispiel der medizinischen Topographen des 18. Jahrhunderts folgend, versuchen sie, das Studium der klimatischen Ursachen der Krankheit um das ihrer sozialen Gründe (städtische Umwelt, Berufstätigkeit, Hygiene, usw.) zu erweitern. »Den physischen 91

und atmosphärischen Ursachen der Krankheiten muß man andere zur Seite stellen, die aus den Gewohnheiten, den Sitten und Bräuchen, der Art der Lebensführung der Einwohner und den Ausschweifungen, denen sie sich hingeben, herrühren.« 12 Die familiale Umwelt scheint ihnen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit zu verdienen, weil in ihr die Auswirkungen bedauernswert schlechter materieller Bedingungen (insbesondere der Wohnverhältnisse) und anderer sog. »verderblicher Praktiken« (im ehelichen Verhalten, der Kindererziehung usw.) einander verstärken. Die Familie ist in dieser Perspektive zugleich ein spezifisches »Milieu« und der Inbegriff spezifischer Lebensformen. In allen statistischen Memoranden, von der Bretagne bis ins Lozère, von den Alpen bis zur Vendée, kehrt leitmotivartig die Beschreibung des Bauernhauses wieder. »Auf dem Lande sind fast alle Häuser ausgesprochen klein und um mehr als einen Fuß in den Boden versenkt, häufig ohnejedes Fenster, derart, daß das Licht nur durch die niedrige, fast stets verriegelte Tür einfällt. Die Möbel stapeln sich zusammen mit vier oder fünf Betten in der gemeinschaftlichen Kammer. Tröge, in denen das Futter für das Geflügel und die Schweine liegt und die niemals ausgewaschen werden, tragen dazu bei, die Luft zu verschlechtern; die vor der Tür ausgehobene Mistgrube macht den Aufenthalt vollends unerträglich.« 14 Neben die Schilderung des Hauses tritt die Beschreibung der Gewohnheiten und Vorurteile, die tagaus tagein dem Leben der Bewohner bedrohlich werden. Dazu gehören in der Haute-Vienne die Kinder, die man ungehindert im Mist spielen läßt und deren »gefräßige Unersättlichkeit« Gegenstand anhaltender Ermutigungen ist, da man annimmt, »daß sie wie das Vieh nur im Verhältnis zu dem ihnen vorgesetzten Futter groß und stark werden«. In den Hautes-Alpes ist es die »verabscheuenswürdige Gewohnheit«, Kinder und Frauen in ein Korsett zu schnüren, was nach dem Zeugnis der Beobachter »zu allerlei Mißbildungen und Brustkrankheiten führt [und] besonders bei den Schwangeren die übelsten Folgen hat«. Im Bugey und im Revermond gehört hierhin der Brauch, Säuglinge aus der Charité in Lyon aufzunehmen, »die im Austausch für die Pflege, die ihnen zuteil wird, die Krankheiten einschleppen, mit denen sie auf die Welt gekommen sind« und damit zur Verbreitung des »venerischen Übels« beitragen. In allen Departements klagen die Präfekten über die Kinderarbeit in allzu jugendlichem Alter und die frühzeitigen Heiraten der jungen Mädchen. Alle denunzieren sie das unerschütterliche Vertrauen der Frauen in die zweifelhaften Praktiken der Matronen und »anderer weiblicher Scharlatane« und ihre zähe Weigerung, ihre Kinder impfen zu lassen14. Stets, sobald von den ungesunden Lebensbedingungen der Familien oder den mörderischen Folgen zahlreicher häuslicher Gebräuche die Rede ist, nimmt man dabei die Beschreibung der armen Bauernfamilie zur Zielscheibe. Nicht, daß die städtische Familie gesünder leben würde: auch in der Stadt, besonders im Norden, haben die Frauen der Unterschichten die 92

Gewohnheit, »Branntwein zu trinken und zumindest einmal, wenn nicht zweimal am Tag, Kaffee zu sich zu nehmen. Daher das empörende Schauspiel sich selbst überlassener Kinder, die - oft in Banden zu dritt oder zu viert - der öffentlichen Wohlfahrt ausgeliefert sind«. Der Präfekt des Gers beklagt, daß die Häuser in den kleinen Städten und den Marktflecken seines Departements »fast gänzlich aus Erde gebaut« sind und vor Ruß und Schmutz starren. Aber, so bedrückend die Verhältnisse auch sind, der häusliche Raum scheint in der Stadt dem administrativen Eingriff zugänglicher: der gleiche Präfekt fordert die städtischen Behörden auf, die Häuser zu tünchen, unter der Versicherung, daß sich damit der Lebenswandel ihrer Bewohner ändern würde. Denn da, wo die Behausungen weiß und sauber sind, »achten die Hausväter und Mütter auf ihre Kleidung; man bemerkt [dann] bei den Knaben und den Mädchen inmitten aller Armut sogar eine gewisse Gefälligkeit«. Die bäuerlichen Familien scheinen demgegenüber außerhalb jeder Reichweite: wenn der Präfekt des Finistère sich 1806 einige Erfolge in der Verbesserung der Hygiene der Städter zugute halten kann, so muß er sich gleichzeitig seine Ohnmacht gegenüber der bäuerlichen >Unsitteab intestat«) erfolgten, zu verdammen. Trotz des Widerstands der Abgeordneten aus den Provinzen mit geschriebenem Recht bestimmte die Verordnung vom 8. April 1791, daß alle Erben gleichen Grades im gesetzlichen Erbgang zu gleichen Teilen erben sollten. b) Nach der Beseitigung des Feudalsystems setzte man alles daran, das römisch-rechtliche Erbsystem, dessen Fehler Mirabeau in einem hinterlassenen Text anprangerte, zu beseitigen. Dieser Schritt erfolgte nach sehr langen Debatten über die Grundlagen der Testierfreiheit, die Frankreich in zwei Lager spalteten. Am 7. März 1793 machte der Konvent das gesamte römische Recht durch die Streichung des Rechts, in direkter Linie zu testieren und die Bestätigung des Grundsatzes, daß »alle Verwandten in absteigender Linie ein gleiches Recht auf die Güter ihrer Verwandten in aufsteigender Linie haben«, zunichte. U m das neue System zu festigen und dem Ziel, d. h. der Zerstückelung und Parzellierung des Erbgutes, näherzukommen, nahm man in das Gesetz Bestimmungen auf, die Schenkungen unwiderrufbar machten und es Verwandten in aufsteigender Linie und aus Nebenlinien erleichterten, zum Schaden der überlebenden Ehefrau zu erben. Den Schlußpunkt bildete, obschon im Widerspruch mit der Menschenrechtserklärung, die rückwirkende Kraft, die allen diesen Gesetzen beigelegt wurde. Durch die Gesetze vom 5. Brumaire des Jahres II (26. 10. 1793) und vom 17. Nivose des Jahres II (6. 1. 1794) erklärte der Konvent alle Gesetze, Gewohnheiten und Bräuche, die diesen Prinzipien entgegenstanden, ab dem 14. Juli 1789 für erloschen: Alle Erbgänge, die seither entgegen den egalitären Prinzipien erfolgten, waren damit null und nichtig und konnten erneut aufgenommen und korrigiert werden. Damit hatten die Revolutionäre in weniger als sechs Jahren das Eigentumsrecht durch die Beseitigung des alten feudalen und korporativen Bodenrechts ausgebaut; sie haben dieses Eigentumsrecht frei und absolut gemacht, gaben ihm aber zugleich einen ausgesprochen anspruchsbelasteten Charakter: Der Familienvater, der zu Lebzeiten sein Eigentum »ge- und mißbrauchen« konnte, mußte sich in der Folge den im Interesse der Gesamtheit der Familie und der Gesellschaft erarbeiteten Übertragungsregeln beugen. Aber dieses schöne egalitäre Gebäude war außerordentlich schwach und wurde schnell zum Ziel der wiederholten Angriffe aller Opfer des neuen 129

Systems: Unter dem Druck der öffentlichen Meinung und vor allem nach dem 9. Thermidor und dem Sturz Robespierres setzte die Reaktion sich innerhalb des Konvents durch, der am 26. April 1795 (9. Fructidor des Jahres III) zugestehen mußte, die rückwirkende Kraft dieser Gesetze aufzuheben und die Rückkehr zu den alten Rechtsverhältnissen zu gestatten. Man kann sich die Verwirrung vorstellen, die ein solches Gesetz mit sich bringen mußte. Kein Wunder also, daß, nachdem die egalitäre Phase der Revolution abgeschlossen war, das herkömmliche juristische Denken erneut rasch die Oberhand gewann und zwei wesentliche Korrekturen am allgemeinen Erbrecht durchsetzte: a) Die Erlaubnis, erneut eines der Kinder zu bevorzugen und ihm neben dem Pflichtteil einen Anteil am Erbgut zuzuteilen, der allerdings bei vier Kindern ein Viertel, bei fünf Kindern ein Fünftel usw. nicht überschreiten durfte (Gesetz vom 4. Germinal des Jahres VIII - 26. 3. 1801). b) Die Wiederherstellung des Rechts der Erbübertragung im Vorausvermächtnis - was einer Wiederherstellung der väterlichen Autorität in einem ihrer wesentlichsten Punkte gleichkam (23. Floréal des Jahres XI - 13. 5. 1803). Die Redakteure des Schlußentwurfs des Code Civil (des künftigen Code Napoléon) schöpften alle Kompromißmöglichkeiten zwischen dem römischen Recht und dem Gewohnheitsrecht, zwischen dem alten Recht und dem revolutionären Recht (auch Zwischenrecht genannt) aus, um zu vollkommen widersprüchlichen Regelungen und Empfehlungen zu gelangen: - Gleichheit der Rechtsansprüche auf das Erbe - Möglichkeit, einem Teilungsverbot zu entgehen und ein Erbteil in Gütern zu fordern (bewegliche und unbewegliche Güter) - Größtmögliche Vermeidung der Zersplitterung der Erbmasse und Betriebe - Möglichkeit, ein Kind zu bevorzugen (zu einem Drittel bei zwei Kindern, zu einem Viertel bei drei Kindern usw.)

2. Die Antwort

der bäuerlichen

Gesellschaft

Angesichts dieser großen Umwälzung der Erbgewohnheiten kann man sich leicht vorstellen, welche Reaktionen sie hervorrief. Sie waren vornehmlich von zweierlei Art. Auf der einen Seite kam es noch während der Beratungen und auch nach der Abstimmung über einzelne Gesetzestexte zu Protesten. Z u m anderen griff man auf »Ersatzpraktiken« zurück, die geeignet waren, den Gesetzgeber zu täuschen und die verwirrenden Folgen seiner Entscheidungen zu umgehen. a) Ich gehe sehr schnell über die Proteste, Petitionen und kleineren Texte hinweg, die über den >Moniteur< oder die Sammlung der »Livres verts< von 130

Camus 6 leicht zugänglich sind. Diese Quelle ist noch nie systematisch ausgewertet worden, obschon zu einzelnen Ereignissen die Historiker ihr zahlreiche Texte entnommen haben. Alles deutet darauf hin, daß sie nur einen sehr begrenzten Wert hat. Diese Texte werfen im Grunde das gleiche Problem auf, dem wir bei den >Cahiers de Doléances< begegnen: Wer sind die eigentlichen Verfasser? In einer großen Zahl von Fällen wissen wir, daß sie von Abgeordneten von Paris aus angeregt und gesteuert wurden, um ihre Interventionen zu stützen. Inhaltlich liefern sie in der Regel einen Katalog der geläufigsten Argumente der Verteidiger des römischen Rechts und der alten Privilegien. Was man hinter den Protesten der Familienväter oder Erstgeborenen oder den Beifallskundgebungen der jüngsten Söhne und Töchter wiederfindet, entspricht entweder den Prinzipien des örtlichen und regionalen Gewohnheitsrechts oder den revolutionären Idealen; nichts in diesen Dokumenten erlaubt es, auf die wirklichen Verhältnisse zu schließen, mit Ausnahme der Probleme, die die rückwirkende Kraft der Gesetzgebung aufwarf. Tatsächlich führte die Wiederaufnahme der seit dem 14. Juli 1789 erfolgten Erbgänge, ganz unabhängig von der politischen Meinung der Betroffenen, von einigen einfachen Fällen abgesehen, zu unauflösbaren und nicht enden wollenden Rechtsstreitigkeiten in einem Bereich, der erfahrungsgemäß den familialen Zusammenhang in Frage stellt. b) Weitaus interessanter ist es, an Hand einiger ausgewählter regionaler Beispiele in so gut untersuchten Landschaften, wie der Lozère oder den Hautes-Pyrénées7, zu untersuchen, wie die bäuerlichen Familien auf das neue Recht reagierten. In diesen Gegenden, in denen traditionellerweise das geschriebene Recht vorherrschte, übertrug der Familienvater vor 1789 im Vorausvermächtnis oder über ein Testament das gesamte Erbgut, d. h. in der Regel zwei Drittel oder drei Viertel des Werts der gesamten Erbmasse, an einen Erben, während er die jüngeren Kinder mehr oder weniger gut aussteuerte, mit dem Ziel, sie von der endgültigen Übertragung des Erbes auszuschließen. Die Wahl des Erben hatte die Aufstellung einer äußerst komplexen Heiratsstrategie zur Folge, die zugleich darauf zielte, die Übertragung des Erbes zu sichern und dem Ausschluß der ausgesteuerten oder unverheiratet im Hause verbleibenden Kinder eine annehmbare Form zu geben. In den ärmsten Familien wurden die von der Erbschaft ausgeschlossenen Kinder im Regelfall nicht einmal ausgesteuert. In den wohlhabenderen oder sichtlich wohlhabenden Häusern verließen die Kinder, die eine Aussteuer erhielten, das Haus im Augenblick der Heirat, um in ein anderes Haus einzuziehen. In sehr seltenen Fällen sahen sie sich in der Lage, einen neuen Hausstand zu begründen oder blieben eine Zeitlang als unbezahlte Hilfskräfte im elterlichen Haus. War die Wahl einmal getroffen, so sah der Erbe in der Regel damit zugleich seine Stellung als Hausherr, seinen beruflichen Status und seine politische Rolle innerhalb der Dorfversammlung bestätigt. Was ihm zu tun übrig blieb, war eine gute Heirat mit einem 131

nichterbenden Mädchen auszuhandeln, das eine genügend große Mitgift mitbrachte, u m Brüder und Schwestern zu entschädigen. Das hatte ein kompliziertes System der Gattenwahl zur Folge, das ein hohes Niveau gegenseitiger Kenntnis und die Einhaltung eines Minimums von Spielregeln durch die gesamte bäuerliche Gemeinschaft vermuten läßt. Dieses Schema ist vielleicht zu allgemein gefaßt und kann hier und da erweitert und nuanciert werden, aber es paßt sich nichtsdestoweniger recht gut den Verhältnissen der beiden in Frage stehenden Regionen an. In einer zur Zeit noch laufenden Untersuchung versuchen wir, auf der lokalen Ebene möglichst genau herauszufinden, wie die zutiefst inegalitären ländlichen Gesellschaften des Südens den Schock der revolutionären Gesetzgebung verarbeitet und sich ihr angepaßt haben, nachdem sie sich schon - Zumindestens in den Pyrenäen - seit dem Anfang des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts einem starken demographischen Wachstum gegenüber sahen 8 . D a wir es mit Landschaften zu tun haben, in denen die testamentarische Übertragung des Erbes die Regel war, riefen hier die ersten Entscheidungen des April 1791 keine Erregung, sondern eher eine gewisse Unruhe gegenüber der Zukunft hervor. Man fuhr fort, zu »testieren« wie in der Vergangenheit. Dabei übertrug man dem Erben entweder die Gesamtheit der Güter unter dem Vorbehalt des Nießbrauchs, die Hälfte der Güter unter dem Vorbehalt des Nießbrauchs mit Anspruch auf die andere Hälfte oder die Hälfte bzw. die Gesamtheit der Güter ohne jederlei Vorbehalt. Das änderte sich seit dem März des Jahres 1793 mit der Verpflichtung der Teilung zu gleichen Teilen und dem Verbot zu testieren. Über die schriftlichen oder mündlichen Proteste hinaus, die von ihren Vertretern dem Konvent übermittelt wurden, lassen sich auf der Ebene der Praxis der ländlichen Bevölkerung eine Reihe interessanter Phänomene feststellen. Zunächst bemerkt man eine äußerst deutliche Verringerung der Zahl der Heiratsverträge und in bestimmten Fällen der Heiraten überhaupt. Zugleich verschwinden die Schenkungen unter Lebenden und die testamentarischen Erbübertragungen: In Laborde (Hautes-Pyrénées) 9 läßt sich zum Beispiel, trotz der Zerstreuung der Notariatskanzleien, beobachten, daß seither praktisch keine Heiratsverträge und keine Testamente mehr aufgesetzt wurden. Wenn überhaupt, findet man das testamentarische Verfahren in der Form von Vermächtnissen und nach dem Jahre I X wieder, d. h. nach Inkrafttreten des Gesetzes v o m 4. Germinal des Jahres VIII. Nach diesem Zeitpunkt werden gleichfalls Heiratsverträge für Heiraten aufgesetzt, die schon geschlossen waren, um die Verhältnisse zu ordnen. Warum dieser Wandel der üblichen Verhaltensweisen? Ganz einfach, weil man erwartete, daß die Leidenschaften sich abkühlen, die Augen sich öffnen und das Gesetz sich ändern würde. D a man aber trotzdem überleben mußte, fand man mit Hilfe der Notare einige Winkelzüge, die es erlaubten, das Erbsystem nach alter Art funktionieren zu lassen. Einige Wochen, bisweilen 132

sogar nur eine Woche nach der Veröffentlichung des Dekrets, begannen die Notare Volljährigkeitserklärungen entgegenzunehmen, die davon abgelöste Schenkungsurkunden begleiteten und denen sehr schnell Schenkungen unter Lebenden folgten. Nichts zeigt deutlicher, wie schnell die Betroffenen reagierten. Nach den Dekreten des Brumaire und Nivose des Jahres II allerdings, die die Testierfreiheit und das Recht zur Erbeinsetzung mit Rückwirkung zum 14. Juli 1789 gänzlich beseitigten, wurde die Verteidigungsstrategie verwickelter. 1. Wohl auf Grund des starken gemeinschaftlichen Zusammenhalts registrierte man nur sehr wenige Prozesse, die von den jüngeren Kindern angestrengt wurden, um schon durchgeführte ungleiche Teilungen zu brechen. Im Gegenteil, manche Familien, darunter die ärmsten, beugten sich dem Gesetz und akzeptierten die Gleichheit unter den Erben: Sie entschlossen sich dazu, zu teilen und auf diese Art und Weise nicht lebensfähige Betriebe in die Welt zu setzen, die in den nächsten Jahren verschwanden und verkauft wurden10. 2. Ansonsten wurde mehrere Monate lang praktisch keine Urkunde mehr aufgesetzt, die sich auf die Übertragung von Gütern bezog, wie man im übrigen die Heirat designierter Erben aussetzte und statt dessen die Heiraten der Kinder begünstigte, die man vom Erbgang auszuschließen beabsichtigte. 3. Gleichzeitig begegnet man immer häufiger Rechtsgeschäften eines neuen Typs, deren Ziel es ist, im Einklang mit dem Gesetz der Teilung des Erbes zu entgehen: Absprachen zum Erbgut, gütliche Vereinbarungen zwischen Erben, Vergleiche, vertragliche Überlassungen und schuldrechtliche Ansprüche auf das Erbe, Teilungsverträge zu Gunsten des Haupterben. Alle diese Geschäfte, die ohne die Eltern abgeschlossen wurden, waren in der Tat Absprachen zwischen den Erben, um die Teilung zu vermeiden - wobei die jüngeren Kinder die Gelegenheit nur selten dazu ausnutzten, ihren ihnen herkömmlicherweise zukommenden Anteil zu erhöhen. In anderen Fällen griffen - was eine gewisse taktische Unsicherheit deutlich macht - die um die Wahrung ihrer Autorität besorgten Eltern ein: - sei es, daß sie einen ihrer Söhne dazu aufforderten, Schulden und Hypotheken zu übernehmen, die ihm später aus dem Erbgut ersetzt wurden; - sei es, daß sie gegenüber demjenigen der Kinder, das zu Hause geblieben war und sich deshalb nicht wie seine Brüder und Schwestern »draußen bereichern« konnte, ein Schuldanerkenntnis abgaben. Der Vater schätzte in diesem Falle seine Schuld und erklärte, daß er unfähig, die Schuld zu begleichen, gezwungen sei, die Hälfte oder zwei Drittel seines Besitzes an seinen Schuldner abzutreten (folgend dem Grundsatz, wonach ein 133

Gläubiger berechtigt ist, sich am Besitz des Schuldners schadlos zu halten); - sei es, daß sie klar zum Ausdruck brachten, daß sie im Falle, wo das Gesetz es erlauben würde, ihren Sohn zum Erben einsetzen würden: »Sollte es die Nationalversammlung für gut befinden, die Erbeinsetzung zu gestatten, so wollen sie, daß der genannte Thibault, ihr Verlobter Sohn, bei ihrem Tode als ihr Universalerbe eintrete«; oder auch »Antoine Ouvrier« erklärt, daß er sein bisheriges Testament für null und nichtig erklärt, und daß er, »wollte das Gesetz es ihm gestatten, Jean Ouvrier, seinen jüngsten Sohn, als seinen Allein- und Universalerben einsetzen würde und jeder seiner Töchter die Summe von 500 Pfund geben würde« 11 ; - sei es schließlich, daß sie im Wege einer regelrechten Justizposse zwischen Brüdern und Schwestern den ältesten nach einem Verzicht der jüngeren Kinder über ein Testament begünstigten - ein illegales Verfahren, das häufig gerichtlich verfolgt, bisweilen allerdings geduldet wurde. Alle dieser Untersuchung zugrundeliegenden Quellen (Verträge, Vereinbarungen, Übereinkommen, Teilungsurkunden) lassen zwei wesentliche Punkte erkennen. Zunächst enthüllen sie mit aller Deutlichkeit, und zwar in einer Art Negativbild, das überkommene Erbfolgesystem, das in den meisten vom geschriebenen Recht beherrschten Landschaften galt und das die bäuerliche Gesellschaft gegenüber der revolutionären Gesetzgebung aufrecht zu erhalten sich bemühte. Darüber hinaus verraten sie über das traurige Schauspiel des Einverständnisses der jüngeren Geschwister das ganze Gewicht der väterlichen Autorität und darüber hinaus die Mittel, die eingesetzt wurden, um sie in ihrer wichtigsten Funktion zu bewahren: der ungleichen Übertragung des Erbes. Selbst wenn nicht alle betroffenen Bauern so ausgeklügelte und raffinierte Taktiken einschlugen, so besteht kein Zweifel daran, daß die Gesamtheit der dörflichen Gemeinschaften des Südens während der revolutionären Periode Zeit zu gewinnen suchte, um die häuslichen Bauformen der Familie und das System ihrer Reproduktion aufrechtzuerhalten. Dank der geschilderten Verfahren und ihrer zahlreichen Varianten gelang es den Familien, sich in der überkommenen Form zu reproduzieren, bis die Gesetze vom Germinal des Jahres VIII und vom Floréal des Jahres X I teilweise die herkömmliche Übung der testamentarischen Besitzübertragung und das prälegatische Erbe wieder herstellten, was in der Folge die Herausbildung der neuen Praxis der Teilung zum Viertel des Besitzes begünstigen sollte. Das Kind, das das Erbgut übernimmt, erhält danach über das Pflichtteil hinaus ein weiteres Viertel - ein Verfahren, das in Verbindung mit einer Unterbewertung des gesamten Erbgutes zur Übertragung der Hälfte oder von zwei Dritteln des gesamten Gutes führen kann. Kommen wir in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Schnelligkeit der Reaktion der Bauern zurück. Das Gesetz über die Teilung zu 134

einem Viertel stammt vom 4. Germinal des Jahres VIII; seit dem 29. des selben Monats findet man in der Lozère Testamente, die von diesem Recht Gebrauch machen. Einen Monat später trifft man auf andere Urkunden, die einem der Erben ein Viertel neben dem Pflichtteil zusprechen, zugleich aber festhalten, daß, »falls neue Gesetze es erlauben sollten«, man diesem Erben die Hälfte oder zwei Drittel des Besitzes übertragen würde. In den Hautes-Pyrénées tauchen seit dem Vendémiaire des Jahres IX erneut testamentarische Besitzübertragungen auf. Da diese Testamente sich aber genau an die gesetzlichen Vorschriften halten, wird man vermutlich in anderen Quellen die dieser Praxis zugrundeliegenden betrügerischen Manöver suchen müssen. Dieselben Bauern verstehen es in der Folge außerordentlich geschickt, mit den gewollten Widersprüchen des Code Civil umzugehen, der die revolutionäre Gesetzgebung mit den Überresten des alten Rechts vermischt: Seit 1804 häufen sich die prälegatischen Schenkungen ebenso wie die Übereinkommen zwischen Erben und die Abtretung von Erbansprüchen zugunsten des Erstgeborenen. Man kann sagen, daß es um 1830-1840 den bäuerlichen Gesellschaften des Südens gelungen war, den vor der Revolution bestehenden Rechtszustand wiederherzustellen. Gewiß, wegen der komplizierteren Gesetzgebung gab es jetzt häufig Anlaß zu Prozessen, aber abgesehen von einigen jüngeren Söhnen, die unabhängig genug waren, um für sich das Recht auf Teilung geltend zu machen, hielten viele Familien daran fest, ihr Erbe so weiterzugeben wie »seit eh und je«.

Schluß Dieser knappe Überblick über ein von den Historikern bisher vernachlässigtes Gebiet beabsichtigte, in Erwartung der Ergebnisse unserer Untersuchung, die sich als lang und schwierig erweist, die Aufmerksamkeit auf das schwierige Problem der Beziehungen zwischen Bauernschaft und revolutionärem Staat zu lenken. Zuviele Historiker halten an einer Lesart der revolutionären Ereignisse fest, die glauben läßt, daß die von der Revolution getroffenen Entscheidungen beinahe automatisch auf die Zustimmung der bis dahin der feudalen Willkür, dem kirchlichen Abgabensystem und der königlichen Steuer unterworfenen Landbevölkerung stießen. Die Wirklichkeit ist zugleich undurchschaubarer und verwickelter. Wenn die französischen Bauern in ihrer Gesamtheit tatsächlich äußerst positiv auf die Abschaffung des Feudalregimes oder des Zehnten und die Teilung der Nationalgüter (auch wenn sie ihnen zum Teil entgingen) reagierten, so leisteten sie im Gegenteil einen hartnäckigen Widerstand gegen die Aufhebung der Privilegien ihrer Dorfgemeinschaften und die Zerstörung ihrer gewohnheitsrechtlichen Praktiken. Das Beispiel der Erb135

folgepraxis und der auf sie bezogenen Heiratsstrategien, werfen ein Licht auf die Widersprüche dieser bäuerlichen Gesellschaft. Wenn die Dekrete, die die Gleichstellung zwischen den Erben herbeiführten, im Westen Frankreichs gut aufgenommen wurden, dann weil sie die dort seit langem praktizierten Grundsätze bestätigten. Anderswo stießen sie auf eine scharfe Feindschaft und führten zu ganz ähnlichen Umgehungsmanövern, wie wir sie geschildert haben. Selbst wenn viele Abgeordnete aus dem Süden Revolutionäre waren, so vergaßen sie doch nicht, daß sie Bevölkerungsgruppen vertraten, die an den alten Grundsätzen der Erbfolge hingen. Daher die Widersprüche in ihren Reden, die freilich nur ein schwacher Abglanz der nicht nur passiven, sondern auch aktiven und breiten Widerstandsbewegung des flachen Landes sind, das sie vertreten. In der Frage der Erbfolge verlief die Front nicht zwischen den »Roten« und »Weißen«: sie trug im Gegenteil einen ausgesprochen geographischen Charakter und stellte, grob gesprochen, zwei Teile Frankreichs einander gegenüber, das des Gewohnheitsrechts und das des römischen Rechts. Aus eben diesem Grunde haben wir bei unserem Versuch, im Wege einer regressiven Analyse die Karte der gewohnheitsrechtlichen Praxis im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen, unsere Aufmerksamkeit sehr nachdrücklich auf den Zeitraum zwischen 1789 und 1830 gelenkt. Dieser Zeitraum ist in der Tat besonders geeignet, um ein System tatsächlicher Praktiken aufzudecken, das in dieser Periode um so deutlicher wird, als es gleichzeitig zum Gegenstand sorgfältiger, die verschiedenen Entwürfe des Code Civil vorbereitender Untersuchungen wurde und in dem Wunsch der bäuerlichen Gemeinschaften, es zu seiner Gänze, oder doch in seinen wesentlichen Teilen zu erhalten, so etwas wie eine Sublimierung fand. Nachdem der Sturm vorüber gegangen war, lebte die überkommene Praxis im Schutz des ambivalenten Code Civil wieder auf, gestärkt durch die interpretatorischen Spitzfindigkeiten der Rechtsprechung und getragen von einem Brauchtum, wie es allen bäuerlichen Gesellschaften eignet.

Anmerkungen 1 G. Leßbvre, Les paysans du N o r d pendant la Révolution Française, Lille 1924 (Nachdruck Paris 1972). 2 Ph. Sagnac, La législation civile de la Révolution Française (1789-1804). Essai d'histoire sociale, Paris 1898. 3 Wie fur Südfrankreich geben diese regionalen Grenzen Anlaß zur Diskussion und Überprüfung. Einige genaue regionale Untersuchungen haben gezeigt, daß die Grenzen der Brauchtumszonen nicht unbedingt mit denen der Karte des großartigen Werkes von J. Yver, Essai de géographie coutumière, Paris 1966, übereinstimmen. 4 Diese Analyse wurde zusammen mit P. Brancolini während eines Seminars 1978/79 durchgeführt. 5 Montesquieu zeigte sich in der Tat einer Einheitlichkeit wenig gewogen, einer Idee, die,

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wie er sagte, »manchmal die großen Geister befällt, die aber unausweichlich die kleinen beeindruckt«. Er bevorzugte das, was mit der verschiedenartigen Natur der Dinge, dem Klima, den Sitten und der Geschichte übereinstimmt. 6 Archives Nationales, A . D . , XVIII, 523 Bde. 7 P Lamaison, Parenté, patrimoine et stratégies matrimoniales sur ordinateur: une paroisse du Haut-Gévaudan du XVII e au début du XIX e siècle, thèse de 3E cycle, Paris 1977, maschschr. Ich habe aus seiner Arbeit einiges übernommen. Im Rahmen einer multidisziplinären Untersuchung über die Baronien im Vorpyrenäenland unter der Leitung von I. Chiva und J. Goy werden Forschungen über die Entwicklung der Familienstrukturen, der Heiratsstrategien und der Auswirkungen der Revolution und des Code Civil durchgeführt (R. Bonnain, A. FauveChamoux, J. Goy). 8 Die Forschungsarbeiten im Rahmen meines Seminars erstrecken sich auf das HautGévaudan, wobei P. Lamaison zugestimmt hat, seine Arbeit darüber zu vervollständigen, auf das Queyras (M. Espagnet), das Capcir in den Ostpyrenäen (L. Assier), die Charteuse und das Morbihan (Y. Perrault). Andere ähnliche Arbeiten haben sich in letzter Zeit mit dem Beauvaisis (eine Zone mit Berührung von Brauchtum) (P. Lamaison und E. Claverie), der Creuse (N. Bertrand), der Grande Brière (D. Le Roux), dem Perche Ornais (D. Joulia), dem Pays de Caux (N. Corvet), dem Ouessant (J. Piel) und mit Burgund (F. Fortunet und J. P. Desaive) beschäftigt. 9 Diese Information verdanke ich R. Bonnain, die z. Z. diese Frage untersucht. S. auch die genannte Arbeit von P. Lamaison, S. 141 ff. 10 S. hierzu die unveröffentlichten Arbeiten von A. Fauve-Chamoux über Esparros (Hautes-Pyrénées). 11 Diese beiden Texte wurden von P. Ä*amaison während eines Seminars zitiert und stammen aus: Archives Communales de Villefort (Lozère), 3. Nivose, Jahr III und 28. Thermidor, Jahr III.

Stratégies matrimoniales et transmission du patrimoine face à la législation révolutionnaire et au Code Civil dans la société paysanne méridionale (1789-1804) Résumé L'étude de la transmission du patrimoine sous forme de biens et de moyens de production constitue un élément fondamental d'analyse de la reproduction sociale: elle suppose connue la nature de l'institution familiale, les mécanismes de choix caractéristiques des conduites mentales collectives: stratégies d'alliances matrimoniales, exclusion de certains enfants, adaptation de la législation étatique aux pratiques coutumières etc. La saisie de ce problème pendant la Révolution Française et jusqu'à la mise en oeuvre du Code Civil, si on veut dépasser le point de vue des juristes, suppose l'étude, à la fois, de la législation révolutionnaire, des débats publics qui l'ont entourée, et, surtout, des réactions des populations paysannes aux modifications de la loi. Face à l'agression des décrets révolutionnaires et du Code, les paysans ont usé de divers moyens pour tourner la loi qui heurtait de front leurs 137

pratiques: ralentissement des mariages, disparition provisoire des contrats et testaments, mise au point d'astuces juridiques utilisant les contradictions du droit et toutes les possibilités offertes, reprise, après 1804, des pratiques anciennes à l'exception de quelques cas isolés. L'enquête révèle une France coutumière beaucoup plus nuancée et disparate que prévu et une opposition assez résolue de la France du Sud à la législation révolutionnaire, les Blancs, dans ce cas, tendant à se confondre avec les utilisateurs des pratiques coutumières issues du droit romain.

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4.

TEIL

Familie, ländliches Gewerbe und bäuerliche Gesellschaft

WOLFGANG MAGER

Haushalt und Familie in protoindustrieller Gesellschaft: Spenge (Ravensberg) während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Eine Fallstudie

Die Studie' über den im westlichen Teil des Kreises Herford gelegenen Spinner- und Bauernort Spenge dient dem Ziel, die Wechselbeziehungen zwischen den Haushalts- und Familienverhältnissen dieser im Vormärz durch intensiven Ackerbau und außerordentlich umfängliche heimindustrielle Flachsverspinnung gekennzeichneten Ravensberger Kleinregion und ihren Produktions- wie Aneignungsverhältnissen zu ergründen. Wenn die ökonomischen, sozialen und auch rechtlichen Rahmenbedingungen der Haushalts- und Familienbildung so stark herausgearbeitet und die politischen wie kulturellen in den Schlußbemerkungen in ihrer Bedeutung zumindest angezeigt werden, so im Sinne der eindringlichen Warnung P Gouberts, daß die Befassung mit Haushalt und Familie ohne die gebührende Beachtung des »sozialen, ökonomischen, rechtlichen, politischen und kulturellen Kontextes« nur allzu leicht in nichtssagende intellektuelle Spielereien ausarte2. Da Spenge bis zur Krise der Ravensberger heimindustriellen Leinenfertigung um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein bedeutendes Zentrum der Flachsverspinnung bildete, stellt die Untersuchung zugleich einen Beitrag zu der vor einem Jahrzehnt eröffneten und seitdem lebhaft geführten Debatte um Erscheinungsweisen und Charakter der agrarisch-heimgewerblichen Produktionsverflechtung und protoindustriellen Gesellschaftsstruktur dar3. Der Aufsatz ist in zwei Teile gegliedert. In der Einführung werden die wichtigsten Merkmale der Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung Ravensbergs in der protoindustriellen Epoche dieser Region umrissen und einige auf Ravensberg bezogene, insofern begrenzte Reichweite beanspruchende theoretische Überlegungen zur Haushalts- und Familienbildung angeschlossen. Der Hauptteil, die Fallstudie über Spenge, behandelt in einem ersten Abschnitt die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Ortes im Vormärz, danach Umfang und Gefüge der Haushalte einer der fünf Spenger Gemeinden, Hücker-Aschens, zum Stichjahr 18433'. 141

In Ravensberg wie in der ostwestfälischen leinenproduzierenden Großregion überhaupt bildete sich das protoindustrielle Produktions- und Gesellschafts gefiige im Zuge der Leinenkonjunktur aus, die im 2. Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzte und ungeachtet aller Schwankungen und Krisen im wesentlichen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts anhielt4. Seit Jahrhunderten wurde in Ravensberg, Minden, Lippe, Osnabrück und den angrenzenden Landstrichen, wo boden- und klimabedingt Flachs und Hanf gut gedeihen, aus den beiden >HandelsgewächsenWelthandelsrevolution< des 18. Jahrhunderts ein, als die Massennachfrage nach Leinentextilien, die insbesondere von atlantischen Märkten (Süd- und Mittelamerika) ausging, eine lang andauernde Mengen- und Preiskonjunktur hervorrief. Seit den 1820er Jahren hatte das handversponnene Leingarn die Substitutionskonkurrenz des mechanisch und deshalb billig hergestellten Baumwollgarns zu bestehen, was auf abgesenktem Preisniveau gelang. Der jähe Zusammenbruch der heimgewerblichen Leingarnerzeugung in den 1840er Jahren wurde durch die Mechanisierung der Flachs verspinnung in England und Irland hervorgerufen. Als sich seit der Mitte des Jahrhunderts der mechanische Leinenwebstuhl durchsetzte, war es um die Konkurrenzfähigkeit auch der handgefertigten Leinwand bald geschehen. In Ravensberg läßt sich parallel zur Leinenkonjunktur eine Agrarkonjunktur beobachten, die sich bis 1816, erneut von den 1830er Jahren ab als Preiskonjunktur darstellt6 und während des gesamten Zeitraumes den Charakter einer Mengenkonjunktur hatte7 Die im ganzen gesehen kontinuierliche Zunahme der Agrarproduktion hatte zwei Ursachen: Die zur Acker- und Wiesenwirtschaft genutzten Felder wurden durch Zuschläge im Markenland und durch Urbarmachung der Marken ausgeweitet, nachdem diese seit den 1770er Jahren aufgeteilt und privatisiert worden waren; zugleich wurden schrittweise die Stallflitterung des Großviehs eingeführt und die Fruchtwechselwirtschaft generalisiert. Hinzu kam der Durchbruch zum Kartoffelanbau im großen Stil. Die Extensivierung und Intensivierung der Ravensberger Landwirtschaft entsprachen der west- und mitteleuropäischen Gesamtentwicklung der Zeit. Spezifisch für Ravensberg waren das Ausmaß und der frühe Zeitpunkt des Übergangs zur modernen rationellen Landwirtschaft (A. Thaer), was auf die Entstehung eines inneren Marktes für Agrarprodukte und die dadurch ausgelösten Produktionsimpulse zurückzuführen ist. Agrar- und Leinenkonjunktur hatten nur eine geringe Rückwirkung auf die Ravensberger Städte, unter denen Bielefeld als Drehscheibe des Leinwandhandels, Herford als bedeutendster Garnmarkt hervorzuheben sind. Ungeachtet der Dominanz des städtischen Kaufmannskapitals über die 142

ländlichen Kleinproduzenten behielten die Städte ihre altüberkommene begrenzte Funktion bescheidener regionaler Zentren von Handwerk, Dienstleistungen und Verwaltung bei; ihr Aufschwung datiert mit der Durchsetzung der städtischen Fabrikindustrialisierung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auf dem platten Lande waren die Ausweitung des Ackerbaus und die Leinenkonjunktur von einem starken Bevölkerungszuwachs8 begleitet, der - so scheint es - in erster Linie auf vermehrte Haushaltsbildung, z. T. auch auf Einwanderung, weniger oder gar nicht auf Wandlungen in Geburtlichkeit und Sterblichkeit zurückzufuhren ist. Diese Annahme wird durch die vielfach bezeugte Ansiedlung von Kleinbauern auf den geteilten Markengründen gestützt, ferner durch die gleichfalls im Zuge der Markenteilungen, jedoch auch nach deren Abschluß zu beobachtende starke Vermehrung landarmer oder landloser sog. Heuerlinge (von >heuern< = mieten, pachten)9 Für die Sozialstruktur des ländlichen Ravensberg im Vormärz war die extreme Ungleichheit in der Verfugung über Grund und Boden bestimmend, wobei zu beachten ist, daß die Eigentums- und Betriebsverhältnisse in der Landwirtschaft weitgehend deckungsgleich waren: die Höfe befanden sich überwiegend in der Hand ihrer Eigentümer; An- und Verpachtung kamen kaum vor; eine Ausnahme bildeten die nicht sehr zahlreichen Rittergüter, deren Ländereien überwiegend in Parzellenpacht ausgetan waren. Eine vergleichsweise geringe Anzahl spannfahiger Vollerwerbsbetriebe (30 Morgen und mehr), unter denen die Großbetriebe (100 Morgen und mehr) hervorstachen, verfugte über den überwiegenden Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche, wohingegen sich mit dem verbleibenden Rest die weitaus umfänglichere Zahl der Kleinbauern (unterschieden in nichtspannfähige Vollerwerbsbetriebe, 10-29 Morgen; Teilerwerbsbetriebe, 5-9 Morgen; Nebenerwerbsbetriebe, weniger als 5 Morgen; Teilund Nebenerwerbsbetriebe vielfach im geminderten Eigentumsrecht der Erbpacht) zu begnügen hatten10. Neben den Groß- und Kleineigentümern bestand die im 18. Jahrhundert mindestens ebenso umfängliche, im Vormärz dann rasch angewachsene soziale Gruppe der bereits erwähnten Heuerlinge, auf die etwas ausfuhrlicher einzugehen ist". Diese waren teils gänzlich landlos, wenn man von einem kleinen Gartenstück zum Kartoffelanbau absieht, und wohnten zur Miete oder auch Untermiete in den Behausungen der Kleinbauern mit diesen zusammen oder in sog. Heuerlingskotten. Teilweise waren Heuerlinge mit etwas Pachtland (selten mehr als 4 Morgen) ausgestattet; für das Land sowie für die Behausung in einem Heuerlingskotten gingen sie die vertragliche Verpflichtung zu ungemessenen männlichen wie weiblichen Tagelöhnerdiensten bei ihrem Herrn ein. Die Heuerlinge des ersten Typs sollen hinfort als Mieter-Heuerlinge oder Mieter bezeichnet werden, die anderen als Pächter-Heuerlinge. Letztere beanspruchten das Pferdegespann des Verpächters zur Feldbestellung und Plaggenfuhr (Plaggen = abgehobene Marken- und Weidestücke, die zur 143

Düngung verwendet wurden) und hatten oftmals einen Anteil an dem in Sechs- bis Zwölfjahresrotation wechselnden Flachsacker des Verpächters. Dies setzte sie instand, den Rohstoff für ihre Leingarnproduktion zu erzeugen - ihr Pachtland war im allgemeinen für die beim Flachsanbau erforderliche aufwendige Fruchtfolge zu klein bemessen. Den Großbetrieben gab das Heuerlingsinstitut die Möglichkeit, ihren Besatz an ständigen Arbeitskräften nach dem Ganzjahresbedarf auszurichten und den während der Aussaat- und Erntemonate des Land Wirtschaftsjahres steil ansteigenden Zusatzbedarf an Arbeitskräften auszulagern, ohne auf Wanderarbeiter zurückgreifen zu müssen, die bei witterungsbedingten Arbeitsunterbrechungen zu unterhalten waren und im übrigen nicht so bedarfsgerecht eingesetzt werden konnten wie Heuerlinge. Diese wurden vom Abend zum Morgen, »auf den Pfiff« oder »auf den Wink« des Herrn - wie die Zeitgenossen sagten - für ganze oder halbe Tage aufgeboten und nur für die getane Arbeit nach altüberkommenen Sätzen, die von den Schwankungen des Arbeitsmarktes unberührt blieben, entlöhnt. Herrenbetrieb und Heuerlingsstätte bildeten einander ergänzende >Teilbetriebe< in gemeinwirtschaftlichem Produktionsverbund, gleichsam große hierarchisch strukturierte Hofverbände. Die extreme Ungleichheit in der Verfügung über das Produktionsmittel Boden war in Ravensberg eine Konsequenz der bäuerlichen Erbfolge 12 , danach wurden die Höfe ungeteilt im sog. Anerbenrecht an den jüngsten Sohn oder, wenn kein männlicher Erbe vorhanden war, an die jüngste Tochter weitergegeben, wohingegen die vorgeborenen Söhne und Töchter eine unterproportionale Abfindung in Mobilien und Geld erhielten. N u r während der Epoche der Markenteilungen hatten weichende Erben - wie es scheint - vermehrt Kleinstellen, insbesondere Erbpachtstellen erlangen können, die sozusagen Sekundogenituren der großen Höfe darstellten. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit gelang weichenden Erben bisweilen die Einrichtung von Kleinstellen auf sog. Zuschlägen in den Marken. Ansonsten war ihnen Heirat und Haushaltsbildung nur als Heuerling möglich". Ihren Lebensunterhalt zog die ländliche Bevölkerung in dem Jahrhundert zwischen der Mitte des 18. und derjenigen des 19. Jahrhunderts im wesentlichen aus der Landwirtschaft (einschließlich der arbeitsintensiven Flachsverarbeitung bis zum spinnfähigen Zustand) und der Fertigung von Leinentextilien' 4 . Das ländliche Handwerk spielte keine größere Rolle, eine ländliche >Bourgeoisie< aus Kaufleuten, Freiberuflern, >Rentiers< blieb unbedeutend, weltliche und geistliche Amtsträger waren gering an Zahl. Ausschließlich von der Agrarproduktion subsistierten die spannfähigen Bauern, wenn man von Mieteinnahmen sowie vom Spinnen und Weben in Füllarbeit während des Winters, zu der insbesondere das Gesinde in Form von Deputatleistungen angehalten wurde, absieht. Ausschließlich von der heimindustriellen Leinenfertigung, bisweilen ergänzt durch Gelegenheits144

arbeit, nährten sich die Mieter, die insofern in erster Linie als Berufsspinner und -weber anzusehen sind. Die anderen sozialen Gruppen hatten ein Mischeinkommen. Die nichtspannfähigen Vollerwerbsbauern — seit der Einfuhrung des Rindergespanns im frühen 19. Jahrhundert oft als >Kuhbauern< bezeichnet - ergänzten ihre spärlichen landwirtschaftlichen Einkommen vielfach durch Heimgewerbe, bisweilen auch durch Landhandwerk, Landhandel, Gastwirtschaft u. ä. Die Teil- und Nebenerwerbsbauern wie auch die Pächter-Heuerlinge hatten einige Handwerker in ihren Reihen; ansonsten waren sie v o m Herbst bis zum Frühjahr ständig und während der Aussaat- und Erntezeit immer dann, wenn es die Feldarbeit gestattete, als Spinner und Weber tätig. Ihre landwirtschaftliche Eigenproduktion reichte bestenfalls für die Selbstversorgung, vielfach nicht einmal dazu aus, keinesfalls jedoch für die Bestreitung der unabweisbaren Ausgaben für Hausrat, Kleidung, Steuern etc., über die uns die Haushaltsbudgetrechnungen der Zeit detailliert informieren 15 Die Krise und der schnelle Zusammenbruch der protoindustriellen Leinenfertigung in Ravensberg um die Mitte des 19. Jahrhunderts haben die großen Agrarproduzenten wenig oder gar nicht berührt, da sie den Rückgang der regionalen Binnennachfrage durch einen vermehrten Absatz ihrer Produkte außerhalb der Region wettmachen konnten. Das Ende des protoindustriellen Systems brachte seit den 1840er Jahren den Berufsspinnern, in den Jahrzehnten danach auch den Berufswebern weitgehende oder gänzliche Nahrungslosigkeit und veranlaßte sie in erheblichem Ausmaß zur Abwanderung in die entstehenden fabrikindustriellen Zentren oder gar zur Auswanderung insbesondere nach Nordamerika. Für die Kleinbauern und Pächter-Heuerlinge bedeutete die Leinenkrise gleichfalls Elend und Not: sie vermochten sich freilich zu behaupten, wozu nicht zuletzt die Einführung von Nachfolgeheimgewerben wie Zigarrendrehen beitrug. Die Skizze der Ravensberger Wirtschafts- und Sozialentwicklung im Vormärz beruht auf einem lückenhaften Wissensstand' 6 und kann über weite Strecken bestenfalls hypothetische Geltung beanspruchen - dies sei betont. Insofern dient die Fallstudie über Spenge nicht zuletzt dem Zweck, die vorgestellten Thesen abzustützen. Wieweit die hierbei gewonnenen Befunde generalisiert werden können, muß offen bleiben. Zur Verwendung der Termini >Haushalt< und >Familie< sei folgendes bemerkt 17 : In einer auf Ravensberg bezogenen Definition mittlerer Reichweite soll >Haushalt< stehen für die der Botmäßigkeit eines Haushaltsvorstandes unterstellten Bewohner eines Hauses (bzw. eines Hausteiles, einer Wohnung), die gemeinsam, in >KoresidenzBetrieb< konnte, ohne die Gestalt einer Familienwirtschaft einzunehmen, bis zum Einpersonenhaushalt eines einzelnen Spinners oder Webers (Witwer, Witwe, unverheiratete Einzelperson) schrumpfen. Ein weiteres kam hinzu: da die Alten von ihren Nachkommen keine Alterssicherung zu erhoffen und die Kinder von ihren Eltern kein nennenswertes Erbe zu erwarten hatten, bestand weder für die großjährigen Kinder ein Interesse, im Haushalt der Eltern zu bleiben, noch für die Eltern, die Kinder an das Haus zu binden, es sei denn als Arbeitskraft. Man wird bei Berufsspinnern und -Webern frühe Heiraten der Kinder vermuten, dies auch durch die Tatsache begünstigt, daß zur Haushaltsbildung insbesondere der Spinner kaum Kapital erforderlich war - ein Spinnrad kostete nur 1 Reichstaler, die notdürftigsten Haushaltsgegenstände vielleicht 125 Taler, die zudem geborgt werden konnten20. Die Haushalte der Berufsspinner und -weber sind als wenig umfänglich und von schlichter Zusammensetzung anzunehmen, ihre Behausungen sowohl aus diesem Grunde wie wegen der Unfähigkeit, hohe Mieten zu zahlen, als ärmlich. Stammfamilien und eine über zwei Generationen hinausreichende Tiefe werden noch seltener gewesen sein als bei den-großen Bauern. Es soll darauf verzichtet werden, die Hypothesen zu den Vollbauernund den Heimgewerbehaushalten durch entsprechende Überlegungen zu den Haushalten der Kleinbauern und Pächter-Heuerlinge zu ergänzen. Es scheint plausibel, daß diese beiden Gruppen entsprechend ihrer sozialökonomischen Mittellage zwischen großen Bauern und Berufsspinnern wie -webern Haushaltformen vermittelter Ausprägung entwickelt haben. Daß die Zusammensetzung der Haushalte nicht nur durch sozialökonomische Faktoren, sondern möglicherweise auch durch die j e spezifische Bevölkerungsweise der einzelnen sozialen Gruppen bestimmt wurden, ist nicht auszuschließen, im Falle des vermuteten unterschiedlichen Heiratsalters von Bauern und Mietern sogar sehr wahrscheinlich. So lange die in Angriff genommene Familienrekonstitution des Kirchspiels Spenge aussteht, können freilich hierzu keine Aussagen gemacht werden. Das Beobachtungsfeld der Fallstudie, die Spenger Kleinregion, deckt sich im wesentlichen mit dem Gebiet der 1969 gebildeten Stadt Spenge (ca. 40 km2)21. Im 18. und 19. Jahrhundert bestanden fünf lokale Selbstverwaltungseinheiten, die Bauernschaften Hücker-Aschen, Lenzinghausen, Spenge, Bardüttingdorf und Wallenbrück, die bis 1805 der Vogtei Enger 147

des Ravensberger Amtes Sparrenberg zugehörten. Während der sog. napoleonischen Fremdherrschaft wurden sie dem Königreich Westfalen, 1810 dem Kaiserreich Frankreich zugeschlagen. Nach der preußischen Restauration gehörten sie zum Landkreis Bünde und nach dessen Auflösung (1832) zum Landkreis Herford (Regierungsbezirk Minden, Provinz Westfalen). 1843 wurde die westfälische Landgemeindeordnung von 1841 eingeführt, derzufolge die Bauernschaften in Gemeinden umgewandelt und zu einem A m t unter der Leitung eines Amtmannes zusammengefaßt wurden. Seitdem bestand neben der Gemeinde Spenge und dem Kirchspiel Spenge (Gemeinden Spenge, Lenzinghausen, Hücker-Aschen und das jenseits der Hannoverschen Grenze gelegene Groß-Aschen) das A m t Spenge. Wenn im folgenden von >Spenge< ohne nähere Kennzeichnung die Rede ist, soll stets die Gesamtheit der Bauernschaften bzw. Gemeinden oder das A m t gemeint sein. Bei der Erfassung und Auswertung der Massendaten zu den Haushaltsund Familienverhältnissen wurde nur die Gemeinde Hücker-Aschen berücksichtigt. Die vorläufige Beschränkung des Beobachtungsfeldes hat zur Folge, daß die zur statistischen Auswertung herangezogenen Datenmengen schmal bleiben, so daß die Berechnungen bisweilen mehr heuristischen als statistisch gesicherten Charakter beanspruchen können. Dies gilt insbesondere für die Gruppe der spannfähigen Bauern ( = 30 Morgen), die in Hücker-Aschen nicht mehr als 15 Haushalte umfaßte. Die Quellen, auf die sich die Untersuchung stützt, entstammen überwiegend der preußischen Verwaltungstätigkeit, für die Zeit der »Fremdherrschaft auch »westfälischem und »französischem Behörden. Als wichtigste sind hervorzuheben die Bevölkerungsaufnahmen der Gemeinde HückerAschen v o m 8./9. Januar 1844, der Gemeinde Spenge v o m 18.-21. Dezember 1843 (nominativ, gegliedert nach Häusern und Haushalten), die Flurkarten und Verzeichnisse des in Spenge 1825 in Angriff genommenen, 1830 vollendeten preußischen Urkatasters und dessen Fortschreibungen, Gewerbe- und sonstige Statistiken insbesondere der napoleonischen Ära und der 1840er Jahre, Hypothekenbücher, Steuerrollen, die Markenteilungsrezesse der Jahre 1775—1802, schließlich die Berichte der lokalen Verwaltungsbeamten 2 2 . Die Spenger Produktionsstruktur war während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch intensive Ackerwirtschaft (einschließlich Flachserzeugung), Massenfertigung von Leingarn und bescheidene Leinwanderzeugung charakterisiert. Die agrarischen Produkte wurden überwiegend von den lokalen Konsumenten verzehrt, wohingegen Leingarn und Leinwand größtenteils auf den städtischen Märkten Ravensbergs an dortige Kaufleute abgesetzt wurden. Garn wurde in Bünde, Werther, Herford und Neuenkirchen vermarktet, die feine Leinwand im Bielefelder Raum. Sogenannte Hausmacher Leinwand ging direkt an Interessenten in Spenge und in der unmittelbaren U m g e b u n g . Das Spenger Gebiet wurde in den 1830er und 148

1840er Jahren nahezu völlig von land- und forstwirtschaftlicher Nutzfläche eingenommen (Tab. 1). Hiervon entfielen etwa % auf Ackerland, das in Fruchtwechselwirtschaft überwiegend zur Getreide-, Kartoffel-, Hülsenfrüchte- und Flachsproduktion genutzt wurde (Tab. 2), ca. Vw a u f w i e s e n , ca. Vi auf Holzungen. Wie aus den sog. Körnererträgen 23 hervorgeht, war der Ackerbau intensiv. Das Produktionsvolumen ist als bedeutend anzusehen, gestattete es doch, die um die Wende v o m 18. zum 19. Jahrhundert bereits sehr hohe und seitdem stark angewachsene Bevölkerung mit Ausnahme des Katastrophenjahres 1845/46 stets gut zu versorgen und über die lokalen Bedürfnisse hinaus sogar einen Überschuß zu erwirtschaften (Tab. 3). Die Depekoration, auf die nicht im einzelnen eingegangen werden soll, entspricht dem von W. Abel gezeichneten Bild 24 . Der Flachsproduktion kam bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein hoher Rang zu. Über die Flachserzeugung während des Kulminationspunktes der Garnproduktion in den 1840er Jahren liegen keine Informationen vor. Da die Spenger Spinnleistung zwischen 1810 und 1844 um das 7fache angestiegen ist, darf man eine erhebliche Zunahme des lokalen Flachsanbaus auf das agrikulturtechnisch mögliche M a x i m u m von etwa Vt des Ackerlandes annehmen: bezeichnenderweise sind um die Mitte des Jahrhunderts Flachsankäufe von auswärts bezeugt. Als sich 1848 in Spenge ein >Verein zur Verbesserung der Lage der Spinner« bildete und dieser bedürftigen Spinnern kostenlos Flachs abgab, bezog er den Rohstoff zum Teil aus lokalen Spenden und Einkäufen, zu einem nicht unerheblichen Teil jedoch von Händlern des ravensbergischen Marktortes Halle25. Über Art, U m f a n g , Wert und Prokopf-Erlöse der Spenger Leingarnproduktion 1810 und 1844 sowie der ihr zugrunde liegenden Arbeitsleistung informiert Tabelle 4. Hinter der Steigerung in Stückzahl um das knapp 7fache, in Arbeitstagen um das knapp 6fache blieb der Zuwachs im Marktwert des Garnes u m das 4fache deutlich zurück. Neben der bedeutenden Garnerzeugung nimmt sich die Leinwandproduktion bescheiden aus26. Verglichen mit dem hohen Rang der Landwirtschaft und Textilproduktion blieb das ökonomische Gewicht der nicht allzu zahlreichen Dorfhandwerker und Wirte (1846 ca. 130 meist Einmannbetriebe) sowie der Kleinhändler und der wenigen größeren Kaufleute (1846 ca. 40) angesichts der 1846 insgesamt 1466 Spenger Haushalte gering 27 Der hohen materiellen Wertschöpfung im Spenger Raum entsprach bereits im späten 18. Jahrhundert eine erhebliche Einwohnerdichte, die im Verlaufe des Vormärz quasistädtische Ausmaße erreichte. Der nach 1843 einsetzende Bevölkerungseinbruch spiegelt den Niedergang der heimindustriellen Leinenproduktion (s. Tab. 5). Die Spenger Sozialstruktur wurde wesentlich durch die Ungleichheit in den agrarischen Besitzverhältnissen bestimmt. Aus einer Aufstellung zu 1846 (Tab. 5a)28 geht hervor, daß 181 Eigentümer auf Betrieben von mehr als 10 Morgen (ihre Haushalte umfaßten 1822 Personen) nicht weniger als fast % des Spenger Grund und 149

Bodens innehatten, wohingegen sich in den verbleibenden Rest weitere 193 Teil- und Nebenerwerbslandwirte (902 Personen) teilten und 1132 Haushalte (4707 Personen) gar völlig leer ausgingen, wenn man die minimalen Parzellen der Pächter-Heuerlinge unberücksichtigt läßt. Dies bedeutet: insgesamt 1325 Haushalte (5 609 Personen) waren teilweise oder ganz auf nichtagrarische Einkommen angewiesen. Wovon lebten sie? Sold und Honorar der wenigen Amtsträger und Freiberufler spielten keine Rolle29, Lohnarbeit findet sich im wesentlichen einzig bei Pächter-Heuerlingen, die ökonomische Potenz der Dorfhandwerker und ländlichen Händler blieb gering30. Die überwiegende Mehrzahl der genannten 1325 Haushalte, 5609 Personen, nährte sich von Spinnen und Weben, schätzungsweise 1225 Haushalte, 5159 Personen31. Sondert man die 110 Weber aus32, bleiben ca. 4200 spinnfähige Personen33. Drei Jahre zuvor, 1843, werden ca. 4300 spinnfähige Personen anzusetzen sein34. Etwa 2700 von ihnen sind als Berufsspinner anzusehen, die übrigen 1600 als Teilzeitspinner35. Was die materielle Lage der spannfähigen marktorientierten Bauern einerseits, der Berufs- und Teilzeitspinner andererseits anbetrifft, so haben die großen Bauern von der Preis- und Mengenkonjunktur des Vormärz profitiert, wenngleich >harte< Daten dazu nicht geliefert werden können. Die Indizien sind jedoch eindeutig: Wie aus den Hypothekenbüchern, die nicht im einzelnen ausgewertet wurden, hervorgeht, haben die großen Bauern seit den 1830er Jahren zum Teil erhebliche Ablösungssummen aufgebracht, ohne zu Landverkäufen schreiten zu müssen36. Die Berufsspinner standen in den 1840er Jahren vor dem Ruin, die Teilzeitspinner in großer Not37 Die vorstehende Übersicht über Spenges Wirtschafts- und Sozialstruktur ist durch Hinweise auf die speziellen Verhältnisse in Hücker-Aschen zu ergänzen und zu präzisieren, was auf der Grundlage insbesondere des Urkatasters und seiner Fortschreibung geschehen soll38. Danach existierten 1843 in Hücker-Aschen 66 selbständige agrarische Betriebseinheiten einschließlich des als Bewirtschaftungseinheit zu verstehenden Schullandes von 7 Morgen. Hiervon befanden sich 10 in der Hand von Zeitpächtern, das Schulland in der Verfugung des Lehrers. Mit Ausnahme eines einzigen 32 Morgen umfassenden Hofes waren nur Kleinbetriebe verpachtet (2 Betriebe < 4 Morgen, 2 Betriebe 5-9 Morgen, 5 Betriebe 10-29 Morgen). Die Annahme, daß das Ravensberger Erbrecht die Haushaltsstrukturen insbesondere der größeren Höfe mitbedingt, läßt sich in Hücker-Aschen also testen. Die Ländereien der Hücker-Ascher Betriebe lagen überwiegend in der Gemarkung der Gemeinde (2465 Morgen Eigentum, 24 Morgen angepachtetes Kirchenland)39, zum geringen Teil in den Gemarkungen angrenzender Gemeinden (58 Morgen). Zwischen den Betrieben fand keine Parzellenverpachtung statt. Die an Pächter-Heuerlinge ausgegebenen Ländereien blieben unbedeutend. 150

1828 waren 11 Betrieben, von denen der kleinste 93 Morgen, alle anderen mehr als 100 Morgen umfaßten, insgesamt 43 Pächter-Heuerlinge zugeordnet 40 . An diese gaben die 11 Kolonen von ihren insgesamt 1649 Morgen Eigentum nur 110 Morgen ab. 1843 werden die Dinge ähnlich gelegen haben. In Hücker-Aschen waren die Eigentums- und Betriebsverhältnisse also nahezu deckungsgleich. Anders in den Gemeinden Spenge und Wallenbrück, wo Rittergutsland ausgetan wurde41. Bei der Gruppierung der Hücker-Ascher Betriebe nach ihrer Landausstattung entsprechend Tabelle 6 ergeben sich nur minimale Verschiebungen, je nachdem, ob man das Pachtland einbezieht oder nicht. Die Ungleichheit in der Ausstattung der Betriebe mit Grund und Boden war außerordentlich hoch, wie aus Tabelle 7 hervorgeht. Die 33 Haus- und Grundbesitzer bis 10 Morgen (50% aller Besitzer) verfugten zusammen über lediglich 7,2% der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Gleichermaßen bedeutend waren die Unterschiede im Wert der Haupthäuser der einzelnen Betriebe sowie in der Ausstattung der Höfe mit Nebenhäusern (s. Tab. 8, 9). Wie zu erwarten, verfugten die spannfähigen Bauernbetriebe über die besseren Häuser: sie besaßen alle Häuser mit dem Wert 12 RT, 8 der 10 Häuser mit dem Wert 9 RT und nur je ein Haus mit den Werten 6 und 4 RT, hingegen bewohnten die nichtspannfahigen Vollbauern, von einer Ausnahme abgesehen, Häuser im Wert von 6 RT oder weniger, die Teil- und Nebenerwerbslandwirte bis auf einen nur Häuser im Wert von 4 R T oder weniger (bis hinab zu 1 RT). Welche Unterschiede in der Bausubstanz den Abstufungen der Katasterreinerträge entsprachen, wird in der Tabelle 10 illustriert. Zu den 66 Haus- und Grundbesitzern (Eigentümer oder Pächter ganzer Betriebe einschließlich des Lehrers als Inhabers des Schullandes) HückerAschens standen 1843 weitere 152 Haushalte in einem Heuerlings Verhältnis, die als >abhängige Haushalte< bezeichnet werden sollen. Deren Wohnungen befanden sich teils in 74 Heuerlingskotten der Hausbesitzer, teils wohnten sie mit diesen zusammen in deren Haupthaus. Sie verteilten sich entsprechend Tabelle 11 auf die 66 Hausbesitzer. Die Bausubstanz eines Heuerlingskottens wird in Tabelle 10 beschrieben. Es sei hervorgehoben, daß die Häuser der Bauern wie der Heuerlinge ungeachtet ihrer unterschiedlichen Größe allesamt dem gleichen norddeutschen Typ 42 entsprachen (vgl. die Beschreibung in Tab. 10), der gekennzeichnet ist durch die Zusammenfassung von Wohnräumen, Ställen, Vorratsräumen und dem großen, breiten, tennenartigen Zentralraum (Diele) unter einem Dach (bei größeren Höfen kamen Nebenräume hinzu). Diese Gebäude eigneten sich gleichermaßen zum Wohnen, zur Lagerung der Vorräte, für landwirtschaftliche Arbeiten, zur Viehhaltung und für die viel Raum beanspruchenden Arbeitsgänge in der Flachsverarbeitung und Garnerzeugung, waren somit nicht zuletzt für die Heimindustrie adäquat. Da 1828 kein Pächter-Heuerlinge bei einem Betrieb von weniger als 93 Morgen vorkam, darf davon ausgegangen werden, daß in jedem Fall alle 151

abhängigen Haushalte der Kleinbauern ( < 30 Morgen) ausschließlich aus Mietern bestanden, während die abhängigen Haushalte der spannfähigen Bauern ( = 30 Morgen) teils Pächter-Heuerlinge, teils Mieter gewesen sein werden, etwa im Verhältnis 1:1. Aus der Bevölkerungsliste läßt sich freilich im Einzelfall nicht feststellen, welche abhängigen Haushalte der großen Bauern als Pächter-Heuerlinge, welche als Mieter anzusehen sind. Die Spinnerpopulation ist vorwiegend bei den Bewohnern der abhängigen Haushalte und bei den Teil- wie Nebenerwerbslandwirten ( < 10 Morgen) zu suchen. Daß den Pächter-Heuerlingen Hücker-Aschens 1828 hinreichend Zeit zum Spinnen verblieb, ergibt sich aus dem Durchschnitt ihrer Tagelöhnerdienste (Mann/Frau = 51/40 Tage) und aus ihrer geringen Landausstattung 43 . Die Personenzahl in den Haushalten der Teil- und Nebenerwerbsbauern und der abhängigen Haushalte belief sich auf760 von den insgesamt 1037 Einwohnern Hücker-Aschens. Zieht man davon die 20 Personen der Handwerkerhaushalte ab, die auf Eigentum von < 10 Morgen saßen44, so bleiben 740 Personen, von denen 617 ( = % von 740) als spinnfähig anzusehen sind. Fast % der 864 ( = % von 1037) spinnfähigen Einwohner Hücker-Aschens war somit ganz oder teilweise auf das Spinngeschäft angewiesen. Über die Spenger Haushalts- und Familienverhältnisse lassen die Quellen vor Auswertung der Hücker-Ascher Bevölkerungsliste folgende Aussagen zu: Im gewerblichen wie im agrarischen Bereich war die Einheit der Produktion unzweifelhaft der Haushalt. Gewerbliche Manufakturen mit einer Arbeit und Arbeiter außerhalb von Haus und Hof zentralisierenden Betriebsstätte kamen nicht vor, wie für 1810 aus einer Erhebung der französischen Regierung über das Manufakturwesen hervorgeht und für die Jahrhundertmitte aus den preußischen Gewerbetabellen, die gleichfalls keine Auslagerung gewerblicher Arbeit aus dem Haushalt erkennen lassen, bestätigt wird45. Was die Handwerksbetriebe anbelangt, so waren sie laut Gewerbetabelle überwiegend Einmannbetriebe, deren Werkstätten nach Aussage der Katasteraufnahme von 1830 und ihrer Fortschreibung stets in oder am Wohnhaus des Betriebsinhabers lagen; also bestand auch hier Verflechtung von Betrieb und Haushalt. Gelegenheitsarbeit von Mietern Orts - Pächter-Heuerlinge waren >residenzpflichtig< und kommen deshalb hierfür nicht in Betracht - blieb die Ausnahme und wird insbesondere beim Bau der Köln-Mindener-Eisenbahn oder auch beim Chausseestraßenbau nachgewiesen, der im übrigen nicht zuletzt als staatliche Maßnahme zur Arbeitsbeschaffung für notleidende Spinner organisiert wurde. Die Spenger Bauernhöfe bildeten allesamt Familienwirtschaften; einzig die Verwalter der Rittergüter, deren Ländereien überwiegend an Arröder (Erbpächter mit umfänglichen Arbeitsverpflichtungen) oder in Parzellenpacht an Bauern und Heuerlinge ausgegeben waren, griffen dann und wann für bestimmte Arbeiten auf Tagelöhner zurück. Das bäuerliche Gesinde wohnte im Hause des Herrn. 152

Die Laufzeit der Verträge 46 zwischen Pächter-Heuerlingen und großen Bauern war vielfach so lang, daß enge, generationenüberspannende Vertrautheit und insofern paternalistische Beziehungen zwischen Herrn und Heuerling anzunehmen sind. Hierfür spricht auch die räumliche Nähe zwischen den meisten der an Pächter-Heuerlinge vergebenen Kotten und dem Herrenhof. Von den 1828 nachgewiesenen 24 Heuerlingskotten, in denen 43 Pächter-Heuerlinge wohnten, lagen nicht weniger als 15 auf dem Hofgelände des Herrn, 7 weitere in einer Entfernung von etwa 500 m Wegstrecke, nur 2 in der größeren Entfernung von etwa 800 m Wegstrecke. Z u m gleichen Zeitpunkt lagen von den 34 Mieter-Kotten 20 auf dem Hofgelände der Vermieter, 14 hingegen in größerer Entfernung, ja z. T. weit abseits. Die ungleiche Ausstattung der Groß- und Kleinbauern, sowie der Heuerlinge mit Wohnraum gibt Vorgaben für unterschiedliche Haushaltsumfänge. Hierbei ist freilich zu beachten, daß in Spenge zwischen 1825 und der Mitte des Jahrhunderts die Zahl der bewohnten Häuser von etwa 800 nur auf etwa 840 vermehrt wurde, wohingegen während ungefähr des gleichen Zeitraumes - von 1828-1843 - die Bevölkerungszahl von 6309 auf 7643 Personen anstieg47 Die durchschnittliche Behausungsziffer wuchs somit während eines Vierteljahrhunderts von 7,9 auf 9,1 an, die Wohnsituation hatte sich drastisch verschlechtert. Es sollen nun im einzelnen Umfang und Zusammensetzung der Haushalte von Hücker-Aschen untersucht werden. Vorab einige Bemerkungen zur Hauptquelle, der »Liste der sämmtlichen Civil-Einwohner zu Hücker et Aschen, aufgenommen Nr. 1-1037 vom 8.-9. Januar incl. 1844 vom Amtmann von Kettler, welcher die Richtigkeit verbürgt«. Es handelt sich um das Original einer Urliste der Zollvereinszählung von 184348. Die Einwohner wurden - wie in dem Erfassungsformular vorgesehen - mit »laufender Nummer« (jede N u m m e r entspricht einem Haushalt), »Bezeichnung des Hauses oder der Besitzung« (= Hausnummer), »Vorund Familiennamen«, »Stand und Gewerbe«, »Lebensjahr, worin jeder einzelne sich befindet« (= Alter), »Religion«, »Zahl der Bewohner eines jeden Hauses«, »Datum der Aufnahme. Bemerkungen« registriert. Laut Anweisung der Regierung Minden waren »die zu einer Haushaltung oder Familie gehörenden Personen hintereinander aufzuführen, zuerst der Hausherr, oder die Hausfrau«, also der männliche oder weibliche Haushaltsvorstand 49 Wohnten in ein und demselben Haus »mehrere Familien oder einzelne selbstständige Personen«, so war jede Partei für sich aufzunehmen, angefangen mit dem Eigentümer des Hauses, sofern er in ihm wohnte. Oberste Erfassungseinheit war das Haus (»die in diesem Jahre vorzunehmende Zählung soll in der Art erfolgen, daß für jede einzelne Gemeinde Verzeichnisse aufgestellt werden, welche nach den Häusern oder Besitzungen geordnet« sein sollen), nächstfolgende der Haushalt. »Es 153

findet hierbei die allgemeine Regel Statt, daß alle Personen, welche zur Zeit der Zählung ihren temporairen Aufenthalt im Orte genommen haben, als Einwohner des Orts betrachtet werden, mit Ausnahme der eigentlichen Reisenden und der im activen Militair-Dienste stehenden Personen und ihrer Familien«. »Es werden demnach auch von auswärts angezogenes, im Orte dienendes Gesinde, ferner in Arbeit bei den Meistern stehende Gesellen . . . , woher sie auch gebürtig sein mögen, zu den Einwohnern des Orts gezählt«. »Solche Landesangehörige jedoch, welche vom Hause bloß momentan abwesend sind, und sich auf Reisen im In- oder Auslande befinden, werden an ihren Wohnorten und resp. bei ihren Angehörigen mitgezählt«. Ausgenommen von der Volkszählung waren Militärpersonen mit ihren Familien; da in Hücker-Aschen kein Militär stand, blieb diese Bestimmung hier ohne Bedeutung. Unter der Spalte »Bemerkungen« war zu verzeichnen, »wenn ein Mitglied der Familie im stehenden Heere dient« - in Hücker-Aschen war dies in 5 Fällen der Fall; zusätzlich wurde in einem Fall das Einsitzen eines Neubauer-Sohnes im Zuchthause zu Herford notiert. Die Volkszählung sollte im Dezember erfolgen, da die Behörden davon ausgingen, daß in dieser >Epoche< »die Angehörigen der einzelnen Familien mehr, als dies in den übrigen Jahreszeiten der Fall ist, in der Heimat sich befinden«. Wenngleich in Hücker-Aschen die Zählung erst Anfang Januar stattfand, war der Intention der Regierung Rechnung getragen. Infolgedessen ist es durchaus möglich, daß im Einzelfalle Wanderarbeiter als ortsansässig erfaßt sind, die während längerer Perioden des Jahres abwesend waren. Da in Spenge, anders als beispielsweise in Lippe, keine eigentliche Fremdgängerei betrieben wurde, wird hierdurch die Aussagekraft der Liste nicht gravierend gemindert. Man wird davon ausgehen können, daß, im ganzen gesehen, die als Haushalte deklarierten Erfassungseinheiten in der Tat dauerhaft am Ort koresidierende Familien darstellen. Haushalte, die in ein und demselben Haus zusammenwohnten, wurden als solche deklariert, so daß eindeutig >Hausgemeinschaften< (Houseful in der Terminologie Lasletts)50 festgehalten sind. Die zahlreichen über keine eigenen Hausnummern verfügenden Nebenhäuser (Leibzuchtkotten, Heuerlingskotten, im Einzelfall auch bewohnte Backhäuser u. ä.) der bäuerlichen Hofstätten erscheinen in der Liste unmittelbar nach dem jeweiligen Haupthaus unter dessen Hausnummer. Erbpachtstätten (gegebenenfalls mit Nebenhäusern) führten Nebennummern des Verpächters (beispielsweise la, lb etc.) und wurden im Anschluß an dessen Haupt- und Nebenhäuser aufgenommen. Es ist somit auf einen Blick erkennbar, welche Heuerlinge und welche Erbpächter zu welchen Verpächtern gehörten und mit ihnen einen Hofverband bildeten. Unter der Rubrik »Stand und Gewerbe« wird der Haushaltsvorstand überwiegend mit Benennungen qualifiziert, die seinen Status im Hinblick auf Eigentum und Besitz umreißen und insofern als Standesbezeichnungen aufzufassen sind, nämlich 154

»Kolon« (Eigentümer eines altüberkommenen Bauernhofes, 34 Nennungen), »Neubauer« (Eigentümer eines Bauernhofes auf Zuschlägen oder Markenland, 7 Nennungen), »Erbpächter« (14 Nennungen), ein »Zeitpächter«, »Heuerling« (im Sinne von Pächter-Heuerlinge und Mieter, 129 Nennungen, im Sinne von Zeitpächter 9 Nennungen). Daneben gibt es in wenigen Fällen Doppelnennungen, in der jeweils auf die Standes- die Berufsbezeichnung folgt, und zwar: »Kolon und Schmied«, »Kolon und Schuhmacher«, »Erbpächter und Zimmermeister«, »Heuerling und Schuhmacher«, »Heuerling und Schmied« (die Nennungen Kolon, Erbpächter und Heuerling wurden oben mitgezählt). Als alleinstehende Berufsbezeichnungen tauchen einzig »Spinner«, »Spinnerin« (7mal) und »Lehrer« (einmal) auf. Jeweils einmal wird der Haushalts vorstand als »Leibzüchter«, »Schwager«, »Schwiegermutter«, 13mal als »Witwe« (jeweils in Nebenhäusern), es handelt sich vermutlich um Witwen von Heuerlingen, benannt. In der Registrierung der Haushaltsmitglieder folgen auf den Vorstand: »Ehefrau« (mit Mädchennamen), »Sohn«, »Tochter« (evtl. »Adoptivsohn«, »Adoptivtochter«), ggf. deren »Ehefrau«, »Ehemann« (= Schwiegertochter, Schwiegersohn des Haushaltsvorstandes), sodann weitere Verwandte mit Angabe ihrer Verwandtschaftsbeziehung zum Haushaltsvorstand, schließlich die nichtfamilialen Haushaltsmitglieder unter den Bezeichnungen »Knecht«, »Magd«, »Pferdejunge«, »Kuhjunge«, » Schweinej unge «. Die Standesbezeichnungen verdecken z. T. gewerbliche Nebentätigkeiten, wie aus einem Vergleich mit der >Gewerbe-Tabelle des Amtes Spenge für das Jahr 1843< hervorgeht. Dort erscheinen für Hücker-Aschen, wie in der Bevölkerungsliste, ein Zimmermann und zwei Schuhmacher, sodann zusätzlich zu den beiden Schmieden der Liste ein weiterer, außerdem zwei Bäcker, ein Tischler, ein Rad- und Stellmacher, ein Maurer, ein »Viktualienhändler und Höker«, ein »herumziehender Krämer«. Ferner werden eine Wassermühle und eine Ölmühle nachgewiesen, woraus sich die Existenz eines Müllers und einer an der Ölmühle beschäftigten Person ergibt. Die Gewerbetabelle von 1846, die ausfuhrlicher als diejenige von 1843 gehalten ist, fuhrt Müller und Ölmühlenarbeiter denn auch ausdrücklich auf, und weist in einer vom Amtmann hinzugefugten Spalte aus: »4 Personen, welche bloß mit Vieh im Hause handeln in geringstem Umfange«. Man wird davon ausgehen dürfen, daß die in der Bevölkerungsliste nicht berücksichtigten Positionen der Gewerbetabelle von 1843 (ergänzt durch diejenige von 1846) als unbedeutende Nebenbeschäftigungen zu werten sind. Unter der Rubrik »Lebensjahr« sind im allgemeinen ganze Jahre vermerkt, in einigen wenigen Fällen erscheinen Jahresteile. In der Spalte »Religion« findet sich ausschließlich die Eintragung »e« für evangelisch. Die Liste ist in Kanzleischrift verfaßt, weist also auf Urmaterial zurück, 155

bei dessen Anfertigung zweifelsohne mehrere Erhebungspersonen beteiligt waren. Sie wirkt desungeachtet nur in einem Punkt inkonsistent: die vorgeschriebene Kennzeichnung der einzelnen Parteien innerhalb von Hausgemeinschaften durch Kleinbuchstaben wurde teils vorgenommen, teils ausgelassen. Hieraus ergibt sich die Schwierigkeit, selbständige Haushalte von Inwohnern zu unterscheiden. Letztere wurden lediglich dann angenommen, wenn innerhalb eines Haushaltes Personen ohne ausdrücklichen Bezug zum Haushaltsvorstand bleiben. Es ist durchaus denkbar, daß in solchen Fällen, w o ein Nebenhaus von drei oder mehr Haushalten besetzt war, einzelne »Spinner«, »Witwen« oder »Heuerlinge« den Status von Inwohnern hatten, wurden doch normalerweise Heuerlingskotten höchstens an zwei Parteien vermietet. Was die Verläßlichkeit der Aussagen der Befragten anbetrifft, so bestehen in einem Punkt Zweifel. Die Auszählung der Altersangaben läßt erkennen, daß bestimmte Jahrgänge auffällig überbesetzt sind (s. Graphik 1, in der zusätzlich zur Hücker-Ascher Bevölkerung diejenige der Gemeinde Spenge eingearbeitet wurde, u m die Datenmenge zu erhöhen), was auf irrige oder bewußt falsch gewählte Altersangaben schließen läßt. Der Überbesetzung bestimmter Jahrgänge wird möglicherweise eine Unterbesetzung in den unmittelbar vorhergehenden oder anschließenden Jahrgängen entsprechen. Es kann angenommen werden, daß sich bei einer Anordnung der Altersangaben in Fünfjahresgruppen (s. Graphik 1) die Fehler weitgehend ausgleichen. Die Quelle läßt keine Aussagen über Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb von Hausgemeinschaften und Hofverbänden oder zwischen den Bewohnern benachbarter Häuser zu. Namensgleichheit läßt in vielen Fällen solche Verwandtschaftsbande vermuten. Die Häufigkeitsverteilung in der Personenzahl Hücker-Ascher Haushalte wird durch Tabelle 12 wiedergegeben. Das arithmetische Mittel von 4,8 Personen entspricht den bei mittel- und westeuropäischen Haushalten der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts allenthalben anzutreffenden Durchschnittswerten. Wesentlich aufschlußreicher als solche letztlich inhaltsleere Mittel (»Meaningles means«, Anderson) ganzer Populationen sind die Haushaltsdurchschnitte, wenn man sie nach den einzelnen sozialen Gruppen untergliedert. Z u m Zwecke der folgenden Untersuchung werden die Hücker-Ascher Haushalte in die Erfassungseinheiten der spannfähigen Bauern ( = 30 Morgen), der Kleinbauern ( < 30 Morgen), der Mieter (gleichgesetzt mit den abhängigen Haushalten der Kleinbauern) und eines Konglomerats von Mieter- und Pächter-Heuerlingen (gleichgesetzt mit den abhängigen Haushalten der spannfähigen Bauern) unterteilt. Es wird von der Hypothese ausgegangen, daß sich wegen der gewichtigen Präsenz der Pächter-Heuerlinge in dieser hybriden Erfassungseinheit (Verhältnis der Pächter-Heuerlinge zu den Mietern etwa wie 1:1) die Befunde von 156

denjenigen der reinen Mietergruppe unterscheiden werden, was tendenziell die Eigenheiten der Pächter-Heuerlingshaushalte hervortreten läßt. Tabelle 13 gibt die Haushaltsumfänge der 3 sozialen Gruppen und der Erfassungseinheit Pächter-/Mieter-Heuerlinge wieder. Die Befunde sind unmißverständlich: Es besteht eine klare Beziehung zwischen Haushaltsumfang und sozialökonomischer Gruppe. Die Mieter weisen mit durchschnittlich 3,6 Personen sehr kleine Haushalte auf; die spannfähigen Bauern mit 9,3 sehr große; die Kleinbauern mit durchschnittlich 5,5 Personen und das Konglomerat der Pächter-/Mieter-Heuerlinge mit durchschnittlich 4,3 Personen j e Haushalt nehmen einen mittleren Rang ein. D a sich in letzterem der Anteil der Pächter-Heuerlinge und der Mieter in etwa die Waage hielten, der durchschnittliche Haushaltsumfang der Heuerlinge bei Kleinbauern ( = Mieter; 3,6 Einheiten) aber um 0,7 Einheiten unter demjenigen des besagten Konglomerats (4,3 Einheiten) blieb, werden die Pächter-Heuerlingshaushalte in ihrem durchschnittlichen U m f a n g entsprechend höher gelegen haben. Ihre Haushalte werden also nur wenig geringeren U m f a n g s gewesen sein als diejenigen der Kleinbauern. Es ergibt sich hinsichtlich der durchschnittlichen Personenzahl der Haushalte somit ein klarer Dreischritt: Die Mieter heben sich deutlich von den Pächter-Heuerlingen/Kleinbauern ab, diese von den spannfähigen Bauern. Wie weit diese sozialdifferentiellen Unterschiede im Haushaltsumfang mit einer unterschiedlichen Verfügung über Wohnraum einhergingen, dies verdeutlicht Tabelle 9. D e m unterschiedlichen durchschnittlichen Haushaltsumfang der einzelnen sozialen Gruppen entsprach eine unterschiedlich starke Besetzung der einzelnen Altersgruppen, wie aus Tabelle 14 hervorgeht. Insbesondere fällt der Kontrast bei dem Besatz an Arbeitskräften zwischen 14 und 25 Jahren ins Auge. Während die spannfähigen Bauern durchschnittlich 4,9 Arbeitskräfte zwischen 14 und 25 Jahren auf ihren Höfen zählten, wiesen die Mieter in dieser Altersgruppe nur durchschnittlich eine halbe Arbeitskraft auf. Das Konglomerat der Pächter-/Mieter-Heuerlinge und die Kleinbauern lagen mit durchschnittlich 0,7 bzw. 1,2 Personen dazwischen. Der Besatz an Arbeitskräften zwischen 6 und 13 Jahren variierte analog, wenn auch nicht so deutlich, zwischen den genannten Erfassungseinheiten, wie aus Tabelle 14 hervorgeht. Im Vergleich zu diesen hervorstechenden Unterschieden blieben die Abweichungen bei den Kleinkindern gering. Der Eindruck drängt sich auf, daß die Mieter, Pächter-Heuerlinge und Kleinbauern ihre heranwachsenden Kinder, sobald sie arbeitsfähig wurden, an spannfähige Bauern (im Ort oder auch außerhalb) als Gesinde oder in Form von Adoptivkindern abgegeben haben. Daß Kleinkinder sowie spinnfähige Kinder und Jugendliche in protoindustriellen Haushalten besonders stark vertreten gewesen seien, diese Annahme läßt sich für das Spenge der Leingarnkrise der 1840er Jahre also nicht bestätigen.

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Die Erörterung der Haushaltszusammensetzung wird unter der eingangs entwickelten Hypothese gefuhrt, daß spannfähige Bauern komplexe, Mieter einfache Haushaltsgefuge ausbildeten und daß die Zusammensetzung der Kleinbauern- und Pächter-Heuerlingshaushalte zwischen jenen extremen Ausformungen liegt. Als einfach gefugte Haushalte werden - in aufsteigender Linie - diejenigen alleinstehender unverheirateter oder verwitweter Personen (Einpersonenhaushalte), unverheirateter Geschwister und auch die Haushalte von Kernfamilien verstanden, wobei letztere in den Varianten der unvollständigen Kernfamilie (Elternteil und Kind, Eheleute ohne Kinder) und der vollständigen Kernfamilie (Eltern und Kind) auftreten können. Zu den komplexen Haushalten sollen neben denjenigen der Stammfamilien auch die Haushalte alleinstehender Personen und Kernfamilien gezählt werden, sofern sie durch Gesinde oder Inwohner ergänzt oder durch Verwandte erweitert sind. Letzteres kann durch Koresidenz mit Geschwistern, Schwägern oder Schwägerinnen geschehen ( = horizontale Erweiterung), oder auch in der Form der Koresidenz mit Onkeln und Tanten ( = vertikal aufwärts verlaufende Erweiterung), Neffen und Nichten (vertikal abwärts verlaufende Erweiterung). Unter Stammfamilien-Haushalten sei das Zusammenleben des Haushaltsvorstandes (Eltern oder Elternteil) mit einem verheirateten Kind und gegebenenfalls Kindeskindern begriffen; in einem weniger technischen Sinne kann man unter Stammfamilie auch die Koresidenz eines Haushaltsvorstandes mit Eltern oder einem Elternteil und gegebenenfalls Kindern verstehen. Stammfamilien können erweitert und/ oder ergänzt sein. Prüft man gemäß dieser an P. Laslett51 angelehnten Klassifikation die Hücker-Ascher Haushalte von 1843, so ergibt sich das in Tabelle 15 dargestellte Bild. Die Befunde bestätigen voll die oben formulierten Hypothesen. Von den 15 spannfähigen Bauern ( = 30 Morgen) Hücker-Aschens lebten 13 in komplex gefugten Haushalten. Andererseits waren die 44 Mieterhaushalte - von zwei Ausnahmen abgesehen - alle einfach zusammengesetzt. Das Konglomerat der Pächter- und MieterHeuerlinge nahm hinsichtlich der Haushaltskomposition eine mittlere Stellung zwischen den Kleinbauern und Mietern ein, es kann also angenommen werden, daß bei einer Aufspaltung dieses Konglomerats in seine beiden Bestandteile die Pächter-Heuerlinge in die Nähe der Kleinbauern rücken würden. Im einzelnen ist festzuhalten: Stammfamilien finden sich in allen 4 Erfassungseinheiten, wenn auch von den spannfähigen Bauern bis hinab zu den Mietern in abnehmender Proportion. Im ganzen blieben sie in HückerAschen mit 17 Einheiten von 218 weit hinter den Kernfamilien (187 Einheiten) zurück. Eine Überprüfung des Zusammenhanges zwischen dem Familienzyklus und den Haushaltstypen ergab keine erwähnenswerten Befunde. Ein wesentlich gewichtigeres Moment als die Stammfamilien im Komplexi158

tätsüberhang der großen Bauern über die kleinen, erst recht über die Heuerlinge, ist der Gesindebesatz. Bei den abhängigen Haushalten kommt Gesinde überhaupt nicht vor, bei den 51 Kleinbauern nur lOmal, hingegen bei den 15 spannfähigen Bauern nicht weniger als 13mal. Es kommt hinzu, daß die spannfähigen Betriebe Hücker-Aschens allesamt von Ehepaaren geleitet wurden, von denen im übrigen nur eines kinderlos war, wohingegen bei Kleinbauern durchaus auch Elternteile den Haushaltsvorstand bildeten und bei den Heuerlingen gar 13mal eine alleinstehende Person (einmal mit Inwohnern), bei den Mietern auch einmal ein Geschwisterpaar vorkamen. Offenbar war also bei den spannfähigen Bauern die Wiederverheiratung verwitweter >Hausherren< und >Hausfrauen< aus den oben entwickelten Gründen die Regel und benötigten die Kleinbauern zur Betriebsfiihrung zumindest unvollständige Kernfamilien, wohingegen die abhängigen Haushalte durchaus von Einzelpersonen gebildet werden konnten. Abschließend sei bemerkt, daß die Erweiterung des Haushaltes durch Verwandte nur in drei Fällen (horizontale Erweiterung) vorkam. Inwohner werden freilich überwiegend aus Verwandten bestanden haben, Gesinde wie bereits ausgeführt - möglicherweise häufig. So unzweifelhaft die Komplexitätszunahme von den Haushalten der Mieter und Pächter-Heuerlinge über diejenigen der Kleinbauern bis hin zu der Gruppe der spannfähigen Bauern auch ist: bei letzteren wird nicht die Mannigfaltigkeit (einschließlich entsprechender Generationentiefe, vgl. Tab. 16)52 in der Haushaltszusammensetzung erreicht, die bei entsprechend großen Betrieben in anderen europäischen Landstrichen vielfach beobachtet worden ist53. Diese auffällige Anomalie kann nicht durch das Institut der Pächter-Heuerlinge allein erklärt werden. Offenbar wirkte sich hierin das Minorat aus. Es gibt den Schlüssel für die bei den großen Bauernfamilien zu beobachtende geringe Generationentiefe, welche einherging mit dem Vorkommen auch älterer Kinder des Hofinhabers im Haushalt, wenn der Erbgang näher rückte, bzw. älterer Geschwister des neuen Hofinhabers nach erfolgtem Erbgang (vgl. Tab. 14)54. Das offenbar als Ergänzung familialer Arbeitskraft angestellte Gesinde nahm bei den spannfähigen Bauern einen bedeutenden Rang ein, bei den Kleinbauern blieb es minimal. Zum Abschluß sei bemerkt, daß das eingangs entwickelte Modell der Haushalts- und Familienbildung nur teilweise auf seine Tragfähigkeit getestet werden konnte: dies gilt insbesondere für diejenigen Sachverhalte, zu deren Klärung der Abschluß der Familienrekonstitution des Kirchspiels Spenge vonnöten ist. Deshalb, wie auch wegen der bisweilen schmalen Datenbasis, kann die Studie teilweise nur eine explorative Geltung beanspruchen. Unter Beachtung dieser Vorbehalte lassen sich die folgenden Befunde festhalten: Zwischen Vollbauern und Mietern - in Spenge überwiegend Berufsspinnern - zeigt sich ein deutlicher Kontrast; die Kleinbauern und Pächter159

Heuerlinge, die einander in ihrer sozialen Lage und ihren Haushaltsausprägungen ähneln, nehmen eine mittlere Position ein. Die spannfähigen Vollbauern, deren Betriebe Zentren wahrer Hofverbände darstellten, entwickelten in ihren prächtigen Behausungen umfängliche und komplexe Haushalte, auf der Basis überwiegend von Kernfamilien in Zweigenerationentiefe, mit zahlreichen Kindern sowie mit Gesinde. Die Positionen von Hausherrn und Hausfrau waren stets besetzt, was auf Wiederverheiratung im Falle der Witwenschaft zurückzuführen ist. Das vergleichsweise geringe Auftreten von Stammfamilien und Dreigenerationentiefe in dieser Gruppe dürfte die Konsequenz des Minorates sein. Von den Vollbauern heben sich scharf die Mieter ab, die in ihren ärmlichen Behausungen kleine und einfach gefugte Haushalte entwickelten, auf der Basis oft unvollständiger Kernfamilien, mehrheitlich in Zweigenerationentiefe, mit sehr wenig unmündigen Kindern in ihren Haushalten, ohne Gesinde. Die tiefgreifenden Unterschiede in Umfang und Zusammensetzung der Haushalte, welche auf sozialökonomisch begründete unterschiedliche Funktionen, Ressourcen und Kompositionsspielräume, zugleich wohl auch auf demographische Ursachen und in gewissem Umfang auf die Krisensituation der 1840er Jahre zurückzuführen sind, lassen fundamentale strukturelle Disparitäten der gesellschaftlichen Organisation erkennen, die naturgemäß politisch-soziale Spannungen in sich bargen. Diese entluden sich Ende März 1848, als die Nachricht von den Berliner Vorgängen nach Spenge gedrungen war, und man Preußens Repressionsapparat als gelähmt ansah, in einem vorwiegend von Heuerlingen und Kleinbauern getragenen Aufruhr, der sich gegen die großen Bauern, die Rittergüter Mühlenburg und Werburg, gegen Kaufleute, einen Taxator und den Amtmann, also gegen die Exponenten der dominierenden sozialen Gruppen des Amtes richtete. Er war zugleich ein Protest der Analphabeten gegen die Alphabeten, der von der Teilhabe an der weltlichen und kirchlichen lokalen Selbstverwaltung Ausgeschlossenen gegen deren Träger. In diesem Aufruhr gingen nirgends Heuerlinge gegen ihre Herren vor - die strukturellen Antagonismen blieben weiterhin paternalistisch überformt. Bei dem Aufruhr zogen die Männer mit ihren Frauen und Kindern, die Kleinstelleninhaber mit ihren Mietern zusammen auf, um die Reichen und Mächtigen zu strafen. Träger der politischen Aktion waren Haushalte und Hausgemeinschaften, nicht etwa Einzelpersonen oder >ParteienWeiden< w u r d e n die M a r k e n eingesetzt: g e m ä ß den Markenteilungsrezessen v o n 1775 u n d 1788 f ü r Lenzinghausen (567 M o r g e n ) , 1783 für Spenge (957 M o r g e n ) , 1785 f ü r H ü c k e r Aschen (1090 M o r g e n ) , 1802 f ü r B a r d ü t t i n g d o r f u n d Wallenbrück (1482 M o r g e n ) , zuzüglich 7 M o r g e n privater Weiden u n d der nicht geteilten M a r k e n (34 M o r g e n ) . 2 1849 w i r d der W i e s e n g r u n d mit 1570 M o r g e n (10% der G e m a r k u n g ) angegeben. 3 V o r der A n l e g u n g des Urkatasters (1830) ist Unterregistrierung insbesondere bei Ackerland anzunehmen. Nachweise: 1721 nach Visitationsregister, Staatsarchiv M ü n s t e r , Kriegs- u n d D o m ä n e n k a m m e r M i n d e n , VI, N r . 484; 1786 nach Staatsarchiv M ü n s t e r , Kriegs- u n d D o m ä n e n k a m m e r M i n d e n , III, N r . 422; 1798 nach Staatsarchiv M ü n s t e r , Kriegs- u n d D o m ä n e n k a m m e r M i n d e n , III, N r . 425; 1815 nach Staatsarchiv M ü n s t e r , R e g i e r u n g s k o m m i s s i o n Bielefeld, N r . 252; 1830 nach Katasterakten; 1852 nach >GewerbetabellenWarenkorb O G C rt

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La proto-industrialisation: théorie et réalité< des 1982 in Budapest stattfindenden 8. Internationalen Kongresses für Wirtschaftsgeschichte, mit Résumé der Fragestellungen und Literatur zum Problem der Protoindustrialisierung. Grundlegender Theorieentwurf: P. Kriedte u.a., Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977. Vgl. die kritischen Einwürfe in den Rezensionen von H. Linde, Proto-Industrialisierung: Zur Justierung eines neuen Leitbegriffs der sozialgeschichtlichen Forschung, in: GG, Bd. 6, 1980, S. 105-124; E. Schremmer, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Anmerkungen zu einem Konzept der Proto-Industrialisierung, in: GG, Bd. 6, 1980, S. 420-448; P. Jeannin, La protoindustrialisation: Développement ou impasse, in: Annales, Bd. 35, 1980, S. 52-65. 3a Die Einwohnerliste Hücker-Aschens vom 6./9. Januar 1844 (Zollvereinszählung von 1843) wurde dem Stichjahr 1843 zugerechnet. 4 Z u r heimindustriellen Textilkonjunktur in Ravensberg und Ostwestfalen während des genannten Zeitraumes fehlt eine befriedigende Darstellung. Uberblick über die regionalgeschichtlichen Einzelarbeiten bei J. Schlumbohm, Der saisonale Rhythmus der Leinenproduktion im Osnabriicker Lande während des späten 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Erscheinungsbild, Zusammenhänge und interregionaler Vergleich, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 19, 1979, S. 263-298. Vgl. auch die entsprechenden Kapitel bei J. Mooser, Bäuerliche Gesellschaft im Zeitalter der Revolution 1789-1848. Zur Sozialgeschichte des politischen Verhaltens ländlicher Unterschichten im östlichen Westfalen, phil. Diss. (MS) Bielefeld 1978. Grundlegend die Aufarbeitung der statistischen Quellen durch S. Reekers, Beiträge zur statistischen Darstellung der gewerblichen Wirtschaft Westfalens um 1800 in: Westfälische Forschungen, bisher 9 Teile, Bd. 17, 1 9 6 4 - Bd. 21, 1968; Bd. 23, 1971; Bd. 25, 1973; Bd. 26, 1974; Bd. 29, 1978/1979. Minden-Ravensberg wird in Bd. 18, 1965, S. 75-130 behandelt. 5 Vgl. E. Geiger, Die soziale Elite der Hansestadt Lemgo und die Entstehung eines Exportgewerbes auf dem Lande in der Zeit von 1450 bis 1650, Detmold 1976, Kap. 2 u. 3. 6 Die Preisentwicklung bei H. v. Laer, Protoindustrialisierung und Industrialisierung in Ostwestfalen, Diplomarbeit Münster, Münster 1971, Anhang Tabelle X, und Mooser, Anhang, Tabellen 16 u. 17. 7 Dies ist mehr Hypothese als These, freilich von den Spenger Daten her voll gestützt. Z u m Trend der Mengenentwicklung in Westfalen vgl. die Schätzungen und Berechnungen

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bei H. W. Finck von Finckenstein, Die Getreidewirtschaft Preußens von 1800 bis 1930, in: Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 35, Berlin 1934; ders., Die Entwicklung der Landwirtschaft in Preußen und Deutschland 1800-1930, Würzburg 1960. 8 Neben Reekers, Beiträge, Teil 2: Minden-Ravensberg, S. 84ff., S. 122ff. vgl. S. Reekers u.J. Schulz, Die Bevölkerung in den Gemeinden Westfalens 1818-1950, Dortmund 1952; S. Reekers, Westfalens Bevölkerung 1818-1955. Die Bevölkerungsentwicklung der Gemeinden und Kreise im Zahlenbild, Münster 1956; Beiträge zur Statistik des Landes NordrheinWestfalen, hg. v. Statistischen Landesamt Nordrhein-Westfalen, Sonderreihe Volkszählung 1961, Heft 3d: Gemeindestatistik des Landes Nordrhein-Westfalen, Bevölkerungsentwicklung 1816-1871, Düsseldorf 1966. 9 Zu den Heuerlingen s. E. v. Laer, Materialien zu einer Zusammenstellung von Nachrichten über den Betrag des Tage- und Gesindelohns in Westphalen, in: Westphälische ProvinzialBlätter, Bd. 2,1, 1830, S. 53-71; W. v. Laer, Bericht über die Lage der arbeitenden Klassen des Kreises Herford an das Kgl. Preuß. Landes-Ökonomie-Kollegium 1851, in: C. Jantke u. D. Hilger (Hg.), Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, Freiburg u. München 1965, S. 93-100: (.. L. W Funke, Über die gegenwärtige Lage der Heuerleute im Fürstenthume Osnabrück, mit besonderer Beziehung auf die Ursachen ihres Verfalls und mit Hinblick auf die Mittel zu ihrer Erhebung, Bielefeld 1847; Über die Verhältnisse der Heuerleute im Osnabrückschen nebst Vorschlägen für deren Verbesserung, bearb. d. d. Vorstand des LocalGewerbe-Vereins im Amte Gronenberg, Osnabrück 1840. Vgl. Mooser, passim. 10 Die Gruppe der spannfähigen Vollerwerbsbauern - für den Raum Spenge - bestimmt nach Stadtarchiv Spenge, Fach 35, Nr. 20 >Acta specialia Parzellierung der Ackerhöfe betreffende Die Gruppe der nichtspannfähigen Vollerwerbsbauern nach Stadtarchiv Spenge, Fach 48, Nr. 2 >Acta specialia statistische und Gewerbetabellen betreffend«, Erhebung von 1852, Rubrik Landbau, Hauptgewerbe. Die Unterscheidung zwischen Teil- und Nebenerwerbslandwirten nach der Lit. v. Anm. 9. 11 Hierzu s. Anm. 9, für Spenge ergänzt durch eine Erhebung aller Pachtverhältnisse der späten 1820er Jahre einschließlich der Heuerlingspachten, die im Zuge der Katasteraufnahme (Staatsarchiv Detmold, M 5 C Nr. 50 u. Nr. 52) entstand. Sie enthält neben den Namen der Verpächter und Anpächter Angaben zum U m f a n g der Anpacht einschließlich des Werts und der Lage der Heuerlingskotten, zu den wechselseitigen Leistungen (Arbeitsleistungen des Heuerlings und seiner Frau, Spannleistungen des Herrn), zu den Kosten und Entlohnungen, zur Dauer des Pachtverhältnisses z. Zt. der Erhebung u. a. m. Vgl. auch die folgenden zeitgenössischen Schriften: P. F. Weddigen, Historisch-geographisch-statistische Beschreibung der Grafschaft Ravensberg in Westphalen, 2 Bde., Leipzig 1790; G. v. Gülich, Über die gegenwärtige Lage des Ackerbau's, der Gewerbe und des Handels im Regierungsbezirke Minden, mit besonderer Berücksichtigung des physischen und moralischen Zustandes der arbeitenden Classen, Rinteln 1843; J. M. Schwager, Über den Ravensberger Bauer, in: Westfälisches Magazin, Bd. 2, Heft 5, 1786, S. 49-74; J. N . v. Schwerz, Beschreibung der L a n d w i r t s c h a f t in Westfalen und Rheinpreußen, 1. Teil, Stuttgart 1836 (Faksimiledruck Münster o.J.); A. v. Lengerke, Beiträge zur Kenntniß der Landwirthschaft in den Kgl. Preußischen Staaten, Bd. 2. Beiträge zur landwirthschaftlichen Statistik des Preußischen Staates, Berlin 1847, 2. Abt., »Beiträge zu Kenntniß der Westfälischen Landwirthschaft«, Ravensberg abgehandelt S. 282ff. C. H. Bitter, Bericht über den Nothstand in der Senne zwischen Bielefeld und Paderborn, Regierungsbezirk Minden, und Vorschläge zur Beseitigung desselben, auf Grund örtlicher Untersuchungen aufgestellt, hg. v. G. Engel, in: 64. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg, Jg. 1964, 1965, S. 1-108; Jahresbericht der Handelskammer für die Kreise Bielefeld, Halle und Wiedenbrück und für den westlichen (Ravensbergischen) Theil des Kreises Herford, mit Ausnahme der Stadt Vlotho im Regierungsbezirke Minden, für 1849 und 1850, Bielefeld 1851. 12 P. Wigand, Die Provinzialrechte des Fürstenthums Minden, der Grafschaften Ravensberg und Rietberg, der Herrschaft Rheda und des Amtes Reckenberg in Westphalen, nebst

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ihrer rechtgeschichtlichen E n t w i c k l u n g u n d B e g r ü n d u n g , aus den Quellen dargestellt, 2 Bde., Leipzig 1834; s. insbes. in Bd. 1, 2. Buch, >Von d e m C o l o n a t - u n d Meier-RechtÜber die Verhältnisse der Heuerleute i m Osnabrückschen« v. 1840 (s. A n m . 9) stellte das »Inventarium einer geringen, aber w o h l h a b e n d e n H e u e r m a n n s - F a m i l i e v o n f ü n f Personen« einen G e g e n w e r t z u m N e u p r e i s v o n r u n d 250 Reichstalern dar, gebraucht also vielleicht die Hälfte. Als Geräte zur G a r n p r o d u k t i o n erscheinen neben 6 Spinnrädern (je 1 R T ) , 1 Flachs-Reepe (3 R T ) , 3 Racken (zusammen 1 R T , 18 Groschen), 1 Strepracke (1 R T ) , 1 Hechel m i t Stuhl (3 R T ) , 1 Ribbelappen mit Eisen (13 Groschen, 4 Pfennig). 21 Die Verwaltungsgeschichte Ravensbergs bei R. Meyer zum Gottesberge, D i e geschichtlichen G r u n d l a g e n der westfälischen L a n d g e m e i n d e o r d n u n g v o m Jahre 1841, in: Jahresbericht des Historischen Vereins f ü r die Grafschaft Ravensberg, J g . 47, 1933, S. 1-198; ansonsten s. Statistisch-topographische Übersicht des Regierungs-Bezirks M i n d e n , M i n d e n 1821; D e r Regierungs-Bezirk M i n d e n . Geographisch-statistisch-topographisches H a n d b u c h , M i n d e n 1832; Statistische N a c h r i c h t e n über den Regierungs-Bezirk M i n d e n , M i n d e n 1861. 22 Benutzt w u r d e n die Bestände des Stadtarchivs Spenge, des Archivs der Kirchengem e i n d e Spenge, des Kreisarchivs H e r f o r d , des Katasteramtes H e r f o r d , der Staatsarchive Münster, Detmold und Osnabrück. 23 Für Spenge nachgewiesen in: Staatsarchiv M ü n s t e r , R e g i e r u n g s k o m m i s s i o n Bielefeld, N r . 252, Bericht des Spenger Verwaltungschefs Seippel v. 1. Mai 1815. Danach w a r hier der durchschnittliche K ö r n e r e r t r a g bei Weizen 4-5, R o g g e n 7-8, Gerste 8 - 9 , Hafer 10-11, H ü l s e n f r ü c h t e 7 - 8 . Dies liegt, außer bei Weizen, deutlich über den gleichzeitigen K ö r n e r e r t r ä gen f ü r Westfalen u n d den anderen preußischen Provinzen, s. Finck von Finckenstein, Getreidewirtschaft, S. 47; s. a. die Körnererträge bei L. Krug, Betrachtungen über den N a t i o n a l R e i c h t h u m des preußischen Staats, u n d über den Wohlstand seiner B e w o h n e r , 1. Teil, Berlin 1805, S. 3 6 f f . , der für Ravensberg ( = S. 51) bei Weizen 5,5, R o g g e n 4,5, Gerste 5, Hafer 4,5, H ü l s e n f r ü c h t e n 5 ansetzt. 24 Pferderate/Rinderrate ( = Einheiten auf 1000 M o r g e n ) 1810 = 35/116, 1814 = 23/72, D u r c h s c h n i t t der Z ä h l u n g e n 1841-55 = 22/110; vgl. W . Abel, Agrarpolitik, 3. A. Göttingen 1967, S. 356 ff. 25 Stadtarchiv Spenge, Fach 46, N r . 16, >Acta specialia betr. die Verbesserung der Lage der Spinner u n d W e b e r u n d E r r i c h t u n g eines Unterstützungs-Vereins der ErsterenActa specialia über den Betrieb des Handels und GewerbesActa generalia Einführung der Gemeinde-Ordnung vom 11. März 1850Acta specialia Aufstellung der statistischen und Gewerbe-Tabellen sowie der Bevölkerungslisten betr.Acta specialia Parzellierung der Ackerhöfe betr. < 37 Die Berichte des Amtmanns (Stadtarchiv Spenge, Fach 46, Nr. 13) wie auch die Eingabe der Wahlmänner (s. Anm. 35) lassen die dramatische Lage der Spinner in den 1840er Jahren überdeutlich erkennen. Die für 1844 errechneten 334 Arbeitstage je Spinner (Tabelle 4) bedingten Arbeit an Sonn- und Feiertagen bzw. Verlängerung des Arbeitstages über die der Berechnung zugrunde gelegten 10 Stunden hinaus. Dies bedeutet ffir die Kleineigentümer und Pächter-Heuerlinge, die Teile ihrer Arbeitskraft in Landwirtschaft und Heuerlingsdienst einzubringen hatten, zusätzlich zu ihrer sonstigen Tätigkeit eine Berufsspinnerleistung. Für die Mieter-Heuerlinge bedeutete dies den Zwang, Tag und Nacht zu spinnen. Berechnet man

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die Flachskosten mit ein - ca. 1 Silbergroschen je Stück Moltgarn in den 1840er J a h r e n - , so mindert sich bei einem Verkaufserlös von 15 Stück Garn je Reichstaler der Gewinn um die Hälfte, bei 30 Stück Garn j e Reichstaler fällt er auf Null. Dies hieß für die Spinner, die ihren Flachs ankaufen mußten, gänzliche Nahrungslosigkeit, für die Pächter-Heuerlinge und Kleineigentümer, die ihren Flachs auf eigenem Grund oder auf dem Flachsland des Herrn anbauten, eine überaus bedrängte Lage. Die unabweisbaren Ausgaben eines Mieterhaushaltes lagen um die Jahrhundertmitte bei 80 Reichstalern jährlich, diejenigen eines Pächter-Heuerlingshaushaltes nicht viel darunter (vgl. die Budgetrechnungen der Schriften von Anm. 9). 38 Flurkarten und Akten im Katasteramt Herford und im Staatsarchiv Detmold (Bestand M 5 C). 39 Die Pachtverträge sind im Archiv der Kirchengemeinde Spenge (Depositum im Landeskirchenarchiv Bielefeld) überliefert. 40 Berechnet nach der Liste der Pachtverträge, s. Anm. 11. 41 Die Archive der Rittergüter Mühlenburg und Werburg befinden sich als Deposita im Staatsarchiv Münster (Bestände Crollage und Benkhausen), dasjenige der Wallenbrücker Rittergutslande, welche v o m Osnabrücker Gut Königsbrück aus bewirtschaftet wurden, als Depositum im Staatsarchiv Osnabrück (Bestand v. d. Bussche-Hünnefeld). 42 J. Schepers, Haus und Hof westfälischer Bauern, 4. A., Münster 1977. 43 1 x 1 Morgen, 23 x 2 Morgen, 15 x 3 Morgen, 1 x 4 Morgen, 3 x 5 Morgen. 44 Ein >Kolon und Schuhmacher«, 6 Personen; ein »Erbpächter und Zimmermeisterself made men< der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts begannen in der Regel nicht auf der Nullebene des Proletariats; auch sie hatten einen Bestand von Ersparnissen und praktischen Fertigkeiten hinter sich, den ihnen eine Familie von Handwerkern, Werkmeistern oder Technikern vermacht hatte. Als Begründer von Dynastien wurzelt der Industriekapitalismus selbst in familialem Boden: Aus den Vorstehern eines Hammers werden Besitzer von Hammerwerken oder Gründer anderer Industrien1; Händler-Produzentenfamilien finden sich auf der höchsten Ebene der mechanischen Spinnerei wieder2; aus dem ständischen Bürgertum gehen privilegierte Manufakturisten hervor, wie Jean-Abraham Pou226

part de Neuflize, einer der bedeutendsten Manufakturisten des endenden Ancien Régime, der mit Stolz an seine familiäre Herkunft erinnert: es gab im 16. Jahrhundert, in der kleinen Stadt Lizy-sur-Ourcq im Brie eine ihrer sozialen Stellung nach unabhängige Familie; sie hatte Grundbesitz und betrieb Handel; sie war ebenfalls unabhängig in ihren politischen und religiösen Überzeugungen, denn sie war zum reformierten Glauben übergetreten; schließlich und endlich, zeigen ihre zu allen Zeiten ehrenvollen Verbindungen mit anderen Familien, daß sie eine hervorgehobene Stellung innerhalb des Bürgertums einnahm. Das war die Familie Poupart 3 .

Viele der fuhrenden Männer des Industriekapitalismus besaßen so häufig schon zu Beginn ihrer neuen Laufbahn einen starken angeborenen Sinn für die Dauer der Familie als Hebel für geschäftliche Kontinuität. Diesem familiären Schoß galt ihr ganzer Respekt und ihre ganze Dankbarkeit, und sie sahen ihre erste Verpflichtung darin, auf keinen Fall das Glied zu sein, an dem diese Kette reißen könnte4. 2. Eine direktere Rolle spielte die Familie in der vermutlich weitaus häufigsten Zahl der Fälle als ein besonders begünstigtes Instrument der Bildung von Gesellschaften, handele es sich dabei um Offene Handelsgesellschaften, Kommanditgesellschaften oder Kommanditaktiengesellschaften. In diesem Bereich fehlen bisher alle auch nur annähernd genauen statistischen Informationen. Die Forscher, die sich für die Geschichte der Gesellschaftsbildungen interessieren5, sind bis heute noch nicht zu einer qualitativen oder quantitativen Analyse der Kategorien von Teilhabern oder Aktionären vorgedrungen, die am Abschluß der Gesellschaftsverträge teilhatten. Gewiß, man weiß inzwischen, daß die Personengesellschaften keineswegs allein den rechtlichen Rahmen des Industriekapitalismus abgaben. Das 18. Jahrhundert kannte den Erfolg der Reedereigesellschaften und staatlichen Kompanien. Sie verbanden Hunderte von Teilhabern und wirkten schrittmachend für den Kapitalismus der Aktiengesellschaften, die schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die großen Ausrüstungsprogramme und Versicherungsgeschäfte übernahmen. Zum anderen ist es sicher richtig, daß nicht alle Personalgesellschaften ausschließlich direkte Verwandte oder andere Familienmitglieder zusammenschlössen. Seit eh und je nahmen daran Freunde, Geschäftsfreunde und andere Einzelpersonen teil, deren Aufnahme sich allein deshalb aufdrängte, weil sie sich in der technischen oder kommerziellen Geschäftsführung ausgewiesen hatten. Zu den klassischen Gesellschaftstypen gehören solche Verbindungen, die Kapitaleinlage und Kerativität, Geld und Erfindung, bzw. Patent kombinieren. Trotzdem besteht kein Zweifel daran, daß Handel, Banken und Industrie Gesellschaften bevorzugten, die - zumindestens zur Hauptsache, wenn nicht in ihrer Gesamtheit - sich aus Mitgliedern ein und derselben Familie zusammensetzten, was nicht ausschloß, daß später der eine oder andere Fremde durch Einheirat in die Gesellschaft aufgenommen wurde. Es empfiehlt sich also, zu fragen, welche Vorteile die Partner von einem solchen Vorgehen erwarteten. 227

a) Das

Gesellschaftskapital

Zu Beginn der Industrialisierung befreite der Rückgriff auf eine verzweigte Verwandtschaft von dem Rekurs auf entwickeltere Formen des Kredits und den allgemeinen Kapitalmarkt. Er erlaubte bedeutende Summen zusammenzutragen, evtl. auf zwei Ebenen: der der geschäftsfuhrenden Gesellschaftsmitglieder und der der stillen Teilhaber, wobei diese zwei Ebenen natürlich durchaus verschiedenen Verwandtschaftsgraden entsprechen konnten. Hierfür ein Beispiel: In Mühlhausen verbindet 1754 die Gründung der dritten in Frankreich überhaupt gegründeten Kattundruckerei unter der Firma Anthès, Feer et Cie6 neben einem Anthès, dessen Schwager Jean-Georges Feer, dessen Vetter Jacques Risler und Groß vetter Jérémie Hofer, die alle drei als Gesellschafter eintreten. Die finanzielle Basis erweitert sich mit den Kapitaleinlagen der Witwe Jean Hofers und von Josué Hofer, der Mutter und dem Bruder Jérémies. Es folgen die Einlagen von Jean-Jacques Feer, Bruder des Jean-Georges, und von deren beider Groß vetter Nicolas Risler. Auf diese Weise wurde das beachtliche Kapital von 240000 Pfund zusammengetragen. Häufiger allerdings wurde das Ausgangskapital in einem noch viel engeren Kreise zusammengetragen, wenn nicht durch das Ehepaar. Diese Regel wurde auf allen Ebenen des Handwerks wie der Industrie befolgt. Das machen zwei Beispiele deutlich, die wir so unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen wie den Kleinunternehmen in Belleville und der großen Industrie in Rouen entlehnen. Für den ersten Beispielbereich bemerkt Gérard Jacquemet, daß hier der Eintritt in die handwerkliche oder industrielle Unternehmerschaft in der Regel die Heirat voraussetzte, und zwar auf Grund des von der zukünftigen Ehefrau eingebrachten Kapitals; das Jahr der Heirat war hier häufig zugleich das der Niederlassung und des Erwerbs eines Geschäfts7 Für die großen Baumwollunternehmer der Normandie hat Jean-Pierre Chaline gezeigt, wie häufig Heirat und die Bildung einer Handelsgesellschaft zusammenfielen und welche sehr präzise Rolle die Mitgift der Braut spielte8. Obwohl diese Mitgift nominell in der Regel unter dem Wert des Vermögens liegt, das der Bräutigam mit in die Ehe einbrachte und in das häufig eine Fülle mehr oder minder mobilisierbarer Außenstände einging, ist sie häufig weitaus solider: Die Renteneinkommen, das Bargeld oder der landwirtschaftliche Besitz, aus denen sie sich zusammensetzt, bildeten einen greifbaren Zuwachs an Rücklagen. Meinerseits möchte ich den Nachdruck auf ein Beispiel legen, das aus dem Norden Frankreichs stammt, wo das Familienunternehmen in der Branche der Zuckerindustrie eine besondere Vitalität an den Tag gelegt hat. Es betrifft die Entstehung dieser Industrie am Rande der Departements Aisne und Nord in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aimé Ternynck, der älteste Sohn eines Tuchfabrikanten aus Roubaix und selbst Fabrikant, heiratete im Jahre 1846 Juliette Jacquemin, die Tochter eines Leinenhändlers, der in der Nähe 228

von Chauny ein landwirtschaftliches Anwesen und eine Zuckerfabrik besaß. Schwiegervater und Schwager gingen eine Gesellschaft ein, um dieses Unternehmen auszubeuten; aber schon vor seinem Tod übergab der Schwiegervater dem Ehepaar Ternynck die Fabrik und das landwirtschaftliche Gut in Form einer Schenkung (1871). Im selben Jahr verheirateten die Ternyncks ihre Tochter Lucie an Adolphe Delemer, ebenfalls ein Zuckerfabrikant, der einige Höfe und Boden mit in das Familienunternehmen einbrachte. Als Aimé Ternynck 1882 mit seinen beiden Söhnen eine neue Gesellschaft gründete, stand er an der Spitze von drei Zuckerraffinerien, deren Wert 2 Millionen Francs überstieg. In einer Generation und mit zwei Heiraten wurde so ein bedeutendes Unternehmen aufgebaut, das im übrigen weitere Heiraten stützten: die Einheirat der beiden Schwestern von Madame Ternynck-Jacquemin in die Familie Dormeuil (Wollwebereien), die Heirat einer dritten Schwester mit dem Zuckerfabrikanten Millon und die eines Neffen mit der Tochter des örtlichen Bankiers Kléber Journel9

b) Die Aufgabenverteilung

im Unternehmen

Auf der Unternehmensstufe des frühen Industriekapitalismus genügte der Kinderreichtum wohlhabender Familien, um eine hinreichend große Auswahlmöglichkeit für die Aufteilung der Aufgaben in der Unternehmensleitung innerhalb der engen Verwandtschaft des Unternehmers selbst zu sichern. Die Tatsache, daß die Rolle des Betriebsleiters mit der des Familienoberhaupts in eins fiel, konnte die Ausübung einer natürlichen Autorität stärken. Die Ehefrau erscheint gegebenenfalls als seine engste Mitarbeiterin und die Witwe als sein von der Vorsehung bestimmter Nachfolger, falls die Kinder noch nicht volljährig sind. So unterstreicht etwa Gérard Jacquemet die unabdingbare Rolle der Ehefrau unter Hinweis auf die Arbeit, die sie insbesondere im Bereich der Buchhaltung und des Schriftverkehrs leisten kann, da viele kleine Unternehmer nicht die Zeit oder gar die notwendige Ausbildung haben, um sich dem zu widmen. Unter den Gründen für sehr viele Konkurse findet man sehr häufig die durch die Krankheit oder den Tod der Ehefrau verursachte Unordnung in den Buchungsvorgängen10.

Dem kann man die Formulierung Gérard Gayots von »der Heiratspolitik des Unternehmens, begriffen als ein Mittel der Einsparung von Verwaltungskosten«, aus seiner Untersuchung der Stellung von Madame Girardot-Poupart in der Manufaktur von Sedan11 zur Seite stellen. Wir erinnern hier nurmehr an die zahlreichen Beispiele von Unternehmen, deren Aufschwung und Ausdehnung ganz offensichtlich durch den Zusammenhalt der von Vätern und Söhnen, von Brüdern und Vettern, usw. getragenen Betriebsleitungen erleichtert wurden. Die Geschichte der Familie Saint erscheint in diesem Punkt besonders überzeugend. Ihre zahlreichen Fabriken und Handelsunternehmen entwickelten sich in der 2. 229

Hälfte des 19. Jahrhunderts in äußerst koordinierten Formen, indem sie sich auf ein derartiges Familiensystem stützten12.

c) Die

Familiensolidarität

Man kann sich allerdings fragen, ob das Wichtigste nicht gerade das ist, was in den Buchstaben der Verträge nicht zum Ausdruck kommt, nämlich der Familiensinn? Geschäftliche Zusammenschlüsse beruhten in der Vorstellungswelt derjenigen, die solche Unternehmen leiteten, seit jeher auf ungeschriebenen Konventionen, deren Einhaltung zumindest in den Augen der sanior pars des Berufs als wesentlich für den Erfolg galten. JeanMarie Schmitt hat für elsässische Geschäftsleute des 18. Jahrhunderts einige schriftliche Zeugnisse wiederaufgefunden, die diese Geisteshaltung belegen. Einer der Anthes schreibt 1753 anläßlich eines Streits mit untreuen Gesellschaftern in einer gerichtskundigen Denkschrift: Die Gesellschaft ist eine Art Bruderschaft; mit dieser Bestimmung will das Gesetz die enge Beziehung zum Ausdruck bringen, die zwischen den Gesellschaftern besteht, die nicht nur ein Herz und eine Seele, die gleiche gegenseitige Zuneigung, den gleichen Eifer der Sicherung des gemeinsamen Vorteils haben müssen, sondern auch ein gegenseitiges Vertrauen ineinander 13 .

In dem anläßlich der Gründung der ersten Kattundruckerei in Wesserling abgeschlossenen Gesellschaftsvertrag aus dem Jahre 1762 geloben sich die Gesellschafter gegenseitig: Treue, Freundschaft und Einigkeit, nichts von dem, was zwischen ihnen vorfällt, zu verbreiten, und mit allem ihrem Eifer und geschäftlichem Ansehen wie gute Familienväter zum Wohl der Manufaktur beizutragen' 4 .

Damit ist das Stichwort gefallen. Ein Unternehmen kann sich nur stärken, wenn es sich in das familiale Muster einpaßt und damit zu seinen Gunsten die affektiven Kräfte mobilisiert, die sich innerhalb der Familie mit besonderer Intensität entwickeln und den Familieninteressen die Qualität einer Art Staatsräson oder eines Staatsgeheimnisses vermitteln. Zu dieser Stärkung trägt auch die Verdoppelung der dem Unternehmen eigenen vertraglichen Strukturen durch die der institutionalisierten Familie (Unauflösbarkeit der Ehe, väterliche Macht) bei.

II. Die Anpassung der Familie an die Entwicklung des Unternehmens a) Rekrutierung

und Ausbildung

der Nachfolger

Die erste »Pflicht« der Familie gegenüber dem Unternehmen war es, ihre Fähigkeit, eine mehrere Generationen überdauernde Kontinuität zu sichern, unter Beweis zu stellen und sich damit selbst in eine Dynastie 230

industrieller Unternehmer zu verwandeln. Diese Fähigkeit ist im übrigen von allgemeinerer Tragweite, denn sie sicherte die soziale Verankerung und das anhaltende Wachstum des Industriekapitalismus, indem sie den Fortbestand archaisierender soziokultureller Modelle, insbesondere den Hang zur Flucht in den Adel und das Rentnertum blockierte. So gesehen konnte die Familie zur Modernisierung der Gesellschaft beitragen, auch wenn sie in anderer Hinsicht und zu anderen Zeitpunkten zu ihrer Verknöcherung beitrug. Anders als ein vorschnelles Urteil vermuten läßt, ist das Problem der Kontinuität nicht von vornherein dadurch gelöst, daß es Söhne gibt, die dazu bestimmt und dazu erzogen werden, einen Vater zu ersetzen. Die industriekapitalistische Familie läßt sich nicht vorbehaltlos auf das Risiko ein, das Geschäft in den Händen unfähiger Erben verkommen zu lassen. Entgegen einer geläufigen Vermutung bringt das Familienunternehmen nicht notwendig bloße »Vatersöhnchen« hervor. Das Familienband sanktioniert und legitimiert hier im Einzelfall eher eine im voraus erworbene und auf die Probe gestellte Fähigkeit zur Betriebsführung. Die Deklassierung eines Sohns zugunsten eines Schwagers, der sich für die Fortführung des Geschäfts als geeigneter erweist, bildet keineswegs die Ausnahme. Ein gutes Beispiel dafür liefert eine neuere Untersuchung über die Zuckerraffinerie von Vauciennes (Oise), die von ihrer Gründung im Jahre 1858 bis auf den heutigen Tag ein Familienunternehmen blieb15. Zu Anfang der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts suchte der eigentliche Begründer des Unternehmens César Niay, sich in seinem Alter von dem Unternehmen zu entlasten. »Seinem Freund Deviolaine" teilte er seinen Wunsch mit, einen jungen Mann zu finden, der ihm helfen sollte, und den er gegebenenfalls zu seinem Schwiegersohn machen wolle. Wenig später schlug Deviolaine den künftigen Schüler der Militärakademie von St.-Cyr Edouard de Cornois als Praktikanten vor. Dieser legte sich so ins Zeug, daß er seiner Rolle als Aspirant auf die Leitung des Unternehmens sehr schnell mit der des Bewerbers um die Hand der Tochter seines Chefs, César Niay vertauschte. « Letzerer hatte in der Tat seinen Sohn Georges nicht für geeignet gehalten, sein Nachfolger zu werden. Im Gegenzug ging Edouard de Cornois, der Enkel eines 1810 unter dem Kaiserreich geadelten Offiziers nicht nach St.-Cyr und verheiratete sich 1876 mit Mademoiselle Niay. Im Jahre 1880 ließ sein Schwiegervater in die Satzung der Gesellschaft eine »Nachfolgeurkunde« aufnehmen, die seinem Schwiegersohn die Geschäftsleitung sicherte. Bei der Überführung des Unternehmens in eine Kommanditgesellschaft im Jahre 1901 ließ Edouard de Cornois seinerseits eine entsprechende Klausel zugunsten seines Sohnes Louis, Ingenieur der >Ecole Centrale de ParisFabrik< (>factory