Altersdemenz und lokale Fürsorge: Ein deutsch-japanischer Vergleich 9783839432709

How do societies deal with the challenge of senile dementia? By means of a culturally comparative analysis, this volume

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German Pages 228 Year 2018

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Altersdemenz und lokale Fürsorge: Ein deutsch-japanischer Vergleich
 9783839432709

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Historische und soziokulturelle Hintergründe der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland und Japan
3. Neue Wissensformationen um Pflege und Fürsorge in der japanischen Gesellschaft
4. Der soziokulturelle Umgang mit dementen Personen im deutsch-japanischen Vergleich
5. Theoretische Reflexionen: Konzeptionen des Selbst und ihre Bedeutung für unser Verständnis von Selbstbestimmung bei Menschen mit Demenz
6. Schlusswort
Literatur
Autorinnen und Autoren

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Ludgera Lewerich, Shingo Shimada, Celia Spoden (Hg.) Altersdemenz und lokale Fürsorge

Alter(n)skulturen  | Band 7

Die Reihe wird herausgegeben von Peter Angerer, Ute Bayen, Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Christoph Kann, Ulrich Rosar, Christian Schwens, Shingo Shimada, Stefanie Ritz-Timme und Jörg Vögele.

Ludgera Lewerich, Shingo Shimada, Celia Spoden (Hg.)

Altersdemenz und lokale Fürsorge Ein deutsch-japanischer Vergleich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Shingo Shimada, Fukuoka, März 2013 Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3270-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3270-9 https://doi.org/10.14361/9783839432709 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort  | 7 1 Einleitung Shingo Shimada  | 9

2 Historische und soziokulturelle Hintergründe der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland und Japan Shingo Shimada | 17 2.1 Das Konzept der Wohlfahrt im Vergleich | 19 2.2 Fürsorge in der frühen Modernisierungsphase Japans (1868-1945) | 24 2.3 Wohlfahrt nach 1945 | 27

3 Neue Wissensformationen um Pflege und Fürsorge in der japanischen Gesellschaft Shingo Shimada | 37 3.1 Pflege | 38 3.2 Demenz | 46

4 Der soziokulturelle Umgang mit dementen Personen im deutsch-japanischen Vergleich Shingo Shimada | 57 4.1 Dichte Beschreibung der Pflegeeinrichtung Takurōsho Yoriai Jacqueline Yvette Spisa | 64 4.2 Altersdemenz und Formen der Fürsorge im lokalen Kontext Kuroki Kunihiro, Ludgera Lewerich und Shingo Shimada | 83

4.3 Die Grenzen der Pflege Fukuzaki Haru, Shingo Shimada | 100 4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger Ludgera Lewerich | 113 4.5 Die Perspektive der Pflegekräfte Jacqueline Yvette Spisa, Shingo Shimada | 142 4.6 Herausforderungen der Sterbebegleitung in Einrichtungen für Menschen mit Demenz  Celia Spoden, Matsuo Yayoi  | 157

5 Theoretische Reflexionen Konzeptionen des Selbst und ihre Bedeutung für unser Verständnis von Selbstbestimmung bei Menschen mit Demenz Celia Spoden, Shingo Shimada | 189 5.1 Konzepte des Selbst und die Bedeutung sozialer Rollen | 190 5.2 Selbstbestimmung und Identität in bioethischen Debatten zu Patientenverfügungen und Demenz | 195 5.3 Zum Spannungsverhältnis von Selbstbestimmung und Fürsorge | 202

6 Schlusswort Shingo Shimada | 205 6.1 Institutionalisierte Pflege und lokale Fürsorge | 205 6.2 Gemeinschaftsbildung durch geteilte Werte? | 207 6.3 Ausblick | 209

Literatur  | 213 Autorinnen und Autoren  | 225

Vorwort

Zwischen 2013 und 2015 wurde das Forschungsprojekt »Altersdemenz und lokale Fürsorge im deutsch-japanischen Vergleich« in Zusammenarbeit zwischen der Fakultät für Soziale Wohlfahrt der Kumamoto Gakuen Universität in Japan und dem Institut für Modernes Japan der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in Deutschland durchgeführt. Der vorliegende Band präsentiert die Ergebnisse dieses Projektes. Es wurde finanziell im Rahmen der »Programme des Projektbezogenen Personenaustauschs« des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS) gefördert, wofür wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken möchten. Das Forschungsteam auf der japanischen Seite bildeten Prof. Dr. Toyota Kenji, Prof. Dr. Kuroki Kunihiro, Dr. Matsuo Yayoi, Dr. Fukuzaki Haru sowie Takeuchi Kazuyo. Auf der deutschen Seite bestand das Team aus Prof. Dr. Shingo Shimada, Dr. Celia Spoden, Ludgera Lewerich, Jacqueline Yvette Spisa sowie Kōta Fujiwara. Das Projekt profitierte von der guten Zusammenarbeit zwischen dem deutschen und dem japanischen Forscherteam sowie mit Fachleuten aus der Praxis. Für die tatkräftige Unterstützung auf der deutschen Seite bedanken wir uns insbesondere bei Frau Dr. Barbara Höft vom LVR-Klinikum, Frau Petra Wienß, der Leiterin des zentrum plus Gerresheim und Herrn Peter Wienß, dem Leiter des Dorothee-Sölle-Hauses der Diakonie Oberkassel sowie den Mitarbeiter/innen aus der Pflege, die uns für Interviews zur Verfügung standen. Auf der japanischen Seite gilt unser Dank allen Mitarbeiter/innen der Einrichtung Yoriai, hier insbesondere Frau Sueyoshi Michiko und Frau Gotō Akemi. Ohne die große Unterstützung der Leiterin und des Leiters der Einrichtung Yoriai, Frau Shimomura Emiko und Herrn Murase Takao, wäre dieses Projekt gar nicht erst zustande gekommen. Auch auf der Ebene der Praxis fand ein intensiver Austausch zwischen der japanischen und der deutschen Seite

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statt. Frau Shimomura und Herr Murase besuchten die Stadt Düsseldorf und die Einrichtungen der Diakonie im Jahre 2009 und Frau Sueyoshi im Jahre 2010. Im Gegenzug waren Frau und Herr Wienß, Frau Dr. Höft sowie Prof. Dr. Shimada 2015 auf Einladung der japanischen Seite in Fukuoka und Kumamoto und konnten das Alltagsleben in der Einrichtung Yoriai direkt erleben. Für das Zustandekommen der vorliegenden Texte erhielten wir Unterstützung von Simon Essler, Christoph Winnefeld, Ezgi Bilke, Konstantin Plett und Maria Neumann. Auch bei ihnen bedanken wir uns herzlich. Im Text sind alle Personennamen, außer die der in diesem Vorwort genannten Unterstützer/innen des Projektes, anonymisiert. Japanische Namen werden in der in Japan üblichen Reihenfolge wiedergegeben: Familienname, dann Vorname (z.B. Toyota Kenji). Ausnahmen bilden japanische Autoren, die hauptsächlich im deutsch- oder englischsprachigen Raum veröffentlichen, bei denen die Schreibweise in Vorname gefolgt vom Nachnamen beibehalten wird (z.B. Shingo Shimada). Japanische Begriffe, die in der deutschen Sprache nicht bekannt sind, werden klein und kursiv in der Transkription nach der modifizierten Hepburn-Schreibweise in romanisierter Schrift (romaji) wiedergegeben. Davon ausgenommen sind Werktitel und Eigennamen, die in der Regel groß und kursiv geschrieben werden. Wir widmen dieses Buch allen demenziell erkrankten Menschen, denen wir im Laufe des Forschungsprojektes begegnet sind und bedanken uns recht herzlich bei ihnen für die Einblicke in ihre Lebenswirklichkeit und die Zeit, die wir mit ihnen verbringen durften. Auch ihren Angehörigen, die uns aus ihren persönlichen Erfahrungen im Umgang mit ihren an Demenz erkrankten Familienmitgliedern erzählt haben, gebührt unser außerordentlicher Dank.

1 Einleitung Shingo Shimada

Sowohl in Deutschland als auch in Japan stehen wir heute vor der großen Herausforderung des demografischen Wandels. Die zunehmende gesellschaftliche Alterung durch die hohe Lebenserwartung und die sinkende Geburtenrate verursachen sozialpolitische Probleme, mit denen beide Gesellschaften konfrontiert sind und auch weiterhin sein werden. Für beide Gesellschaften bedeutet dieser Wandel eine Verschiebung der Altersstruktur, in der der Anteil der Älteren (über 65 Jahre) wächst und der der Jüngeren (unter 20 Jahre) schrumpft. So schreibt das Statistische Bundesamt für Deutschland, dass im Vergleich zu 2013 der Anteil der unter 20-Jährigen bis 2060 von 18  % auf 16  % und der Anteil der 20bis 65-Jährigen von 61 % ca. 52 % sinken wird. Dagegen wird von einem wachsenden Anteil der über 65-Jährigen von 21 % auf etwa 33 % im Jahr 2060 ausgegangen (vgl. Statistisches Bundesamt 2015: 6). Eine vergleichbare Entwicklung im selben Zeitraum von 2013 bis 2060 wird vom Kabinettbüro der japanischen Regierung für Japan angenommen. Bis zum Jahr 2060 wird der Anteil der unter 14-Jährigen von 12,9 % auf 9,1 % und der Anteil der 15- bis 64-Jährigen von 62,1 % auf 50,9 % sinken. Dagegen soll der Anteil der über 65-Jährigen von 25,1 % im Jahr 2013 auf 39,9 % im Jahr 2060 anwachsen (vgl. Cabinet Office 2015). So weit ist die demografische Lage der beiden Gesellschaften vergleichbar. Allerdings ist in Japan die zeitliche Spanne, in der diese Entwicklung vonstattenging, um einiges kürzer und die Veränderungen sind somit drastischer. Japan gehörte noch in den 1970er-Jahren im internationalen Vergleich zu den jungen Gesellschaften. 20 Jahre später schloss es zu den anderen Industrienationen auf, überholte sie in der demografischen Entwicklung und nimmt heute unter den gealterten Gesellschaften eine Spitzenposition ein. Während sich in anderen Industriestaaten die Verdoppelung des Anteils der über 60-Jährigen an der Gesamtbevölke-

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rung von 7 % auf 14 % über viele Jahrzehnte vollzog – in Frankreich dauerte dieser Wandel beispielsweise 130 Jahre – verdoppelte sich in Japan der Anteil der älteren Bevölkerung in nur 24 Jahren zwischen 1970 und 1994 (vgl. Klingholz/Vogt 2013: 9). Als eine der großen Herausforderungen, die durch die Alterung der Gesellschaft entstehen, gilt das Problem der Pflege. Hierbei stellt sich die dringende Frage, wie wir mit der zunehmenden Zahl demenzerkrankter alter Menschen umgehen können. Da die Pflege demenziell erkrankter Menschen besonders aufwendig ist, sind verstärkte sozialpolitische Vorkehrungen notwendig. Der im Jahr 2015 in Deutschland viel diskutierte neue Pflegebegriff und das damit einhergehende zweite Pflegeverstärkungsgesetz drücken sehr deutlich aus, dass man sich heute dieser Problemlage bewusst ist. Insofern breitet sich in der deutschen Gesellschaft langsam die Erkenntnis aus, dass die Frage nach dem Umgang mit dementen Menschen kein rein sozial- oder wohlfahrtspolitisches Problem darstellt, sondern den Kernbereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens berührt. Denn das Phänomen Demenz wirft die Frage auf, was letztendlich unser Selbstsein ausmacht. Es geht dabei um das Konzept des Selbst, das Verständnis von Leben und Tod sowie die Frage, was das Menschsein ausmacht. Geht man von einem vernunftbegabten autonomen Menschenbild aus, bedeutet die Demenz eine persönliche Katastrophe. Es wird in diesem Zustand nicht mehr möglich, eine selbstbestimmte Entscheidung zum eigenen Lebensende zu treffen. Aber die Frage ist hierbei, ob daraus die Folgerung gezogen werden kann, dass dieses Leben nicht mehr lebenswert sei (dazu näher im Kap. 5). In diesem Sinn fordert das Phänomen Demenz ein tiefgreifendes Umdenken sowohl im Alltagshandeln als auch im wissenschaftlichen Denken heraus. Es steht daher außer Frage, dass eine umfassende, nicht nur medizinische, sondern interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Phänomen Demenz notwendig ist. An diesem Punkt setzt das vorliegende Buch an und stellt das Ergebnis eines interdisziplinären Forschungsprojektes vor, das zwischen 2013 und 2015 mit der finanziellen Unterstützung des DAAD und des JSPS durchgeführt wurde. Der Ausgangspunkt der empirischen Studien in Deutschland und Japan bestand in den konkreten Fragen: »Was passiert in einer lokalen Gemeinschaft, wenn eine ältere Person dement wird?« und »Welche Möglichkeiten gibt es auf der lokalen Ebene, diesen demenziell erkrankten Menschen und seine Angehörigen zu unterstützen?« Diese Fragen werden vorwiegend im vierten Kapitel

1 Einleitung

näher behandelt. Doch wurde es im Laufe der Studie immer deutlicher, dass wir als Forscherteam viel mehr Aspekte berücksichtigen mussten als zuvor gedacht, um verschiedene Facetten und Differenzen der beobachteten Phänomene verstehen zu können. So erweiterte sich die Fragestellung im nächsten Forschungsschritt auf die Frage: »Woher kommen die Unterschiede in der institutionalisierten Form der Pflege in Deutschland und Japan?« Hier haben wir versucht, mit dem Aspekt der Kultur vorsichtig umzugehen, um eine leichtfertige dichotomische Gegenüberstellung zwischen Deutschland und Japan zu vermeiden. So wurde eine historische Studie zur Entstehung der Wohlfahrtsstaatlichkeit durchgeführt, in der die unterschiedlichen ideellen und institutionellen Entwicklungspfade in Deutschland und Japan skizziert wurden (vgl. Kap. 2). Bei der Klärung dieser Frage wurde wiederum deutlich, dass die oben genannten konkreten Fragen eine weitaus theoretischere Tiefe hatten. Daraus entwickelten sich zwei weitere Fragestellungen. Zum einen warf die Beschäftigung mit dem Phänomen Demenz die Frage auf, wie man in beiden Gesellschaften damit sprachlich umgeht. Bereits hier war eine deutliche Differenz feststellbar, was zu einer weiteren begriffsgeschichtlichen Reflexion führte. Es wurde dem Forscherteam im Laufe der Forschung immer stärker bewusst, dass hinter den für das Projekt zentralen Begriffen wie »Pflege« und »Demenz« sehr unterschiedliche kulturhistorische Hintergründe standen, sodass man nicht mehr einfach von gleichen Bedeutungsgehalten der genannten Begriffe ausgehen konnte (vgl. Kap. 3). Zum anderen enthielt die Frage nach der Möglichkeit der gemeinschaftlichen Fürsorge ebenso das grundsätzliche Problem, wie man heute eine Gemeinschaft, in der sich radikal wandelnden modernen Gesellschaft konzipieren könne. Innerhalb des Forschungsverlaufs entstand die grundsätzliche Frage: »Wie ist Gemeinschaft möglich?« Um diese Frage beantworten zu können, war wiederum eine vertiefende Beschäftigung notwendig, wie menschliche Beziehungen zueinander konzipiert werden. So wurde das Konzept des Selbst ein wichtiges Thema, weil eine Gemeinschaft nur durch eine Verbindung von verschiedenen Individuen ermöglicht werden kann (vgl. Kap. 5). Auf diese Weise gewannen die Fragestellungen im Verlauf des Forschungsprojektes an Komplexität. Diese Zunahme an Komplexität der Fragestellung wird von mehreren Faktoren verursacht. Zum einen macht der Prozess der Globalisierung die Situation unübersichtlich. Die grenzüberschreitenden Bewegungen von Menschen, Waren und Finanzströmen erschüttern den national-

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staatlichen Rahmen, innerhalb dessen man bisher sozialpolitische Maßnahmen konzipiert hat. Nach wie vor bleibt aber die Wohlfahrt nur im Rahmen eines Nationalstaates konzipierbar. Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, wenn wir die dement gewordenen alten Menschen in Pflegeheime im Ausland verlegen oder Pflegekräfte aus dem Ausland rekrutieren? Und was passiert, wenn immer mehr Migrantinnen und Migranten älter und damit auch möglicherweise dement werden? Dies sind existenzielle Aspekte, auch für die Frage nach den Möglichkeiten einer neuen Gemeinschaftlichkeit. Auch wenn in diesem Buch diese Themen nicht direkt angesprochen werden, bleibt dieser Aspekt wichtig für das Verständnis des behandelten Problems. Zum anderen befinden wir uns mitten in einem tiefgreifenden Transformationsprozess des Wissens. Vor allem die Entwicklungen in den Lebenswissenschaften erschüttern die Grundannahmen unseres Alltagswissens und verlangen eine grundlegende Neuorientierung. Sie erfordern eine intensive Auseinandersetzung mit unseren Grundkonzepten von »Leben«, »Tod« oder auch »Menschsein«. Exemplarisch sei hier die Diskussion zu intensivmedizinischen Maßnahmen am Lebensende genannt, in der die Frage im Mittelpunkt steht, wie man vorgehen sollte, wenn jemand nicht mehr äußerungs- oder entscheidungsfähig ist und einer Behandlung weder zustimmen noch diese ablehnen kann. Hier werden Wege gesucht, wie man eine Entscheidung zwischen den verschiedenen medizintechnischen Optionen treffen kann, die auf den Präferenzen der/ des Betroffenen basiert. In dem Instrument der Patientenverfügung wird eine mögliche Lösung gesehen, die Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten für Situationen der Entscheidungsunfähigkeit zu erhalten, weshalb sie in Deutschland gesetzlich verankert wurde. Aber auch hier stellt sich die Frage, wie wir mit einer Patientenverfügung umzugehen haben, wenn die betroffene Person dement ist (vgl. dazu Kap. 5). Der Prozess der Globalisierung und die Transformation der Wissensformationen bewirken einen grundlegenden sozialen Wandel in allen Gesellschaften der Welt und erzeugen eine Unübersichtlichkeit. Es ist wohl verständlich, dass aus dieser Situation eine Stimmung der allgemeinen Verunsicherung aufkommt. Bettet man das Phänomen Demenz in diese Stimmungslage ein, könnte man es als Symbol der Zeit für die allgemeine Situation interpretieren. Die Frage »Was wird aus uns, wenn der Veränderungsprozess weitergeht und wir alt werden?« betrifft nicht nur älter werdende Menschen, sondern alle.

1 Einleitung

Wenn wir Lösungsmöglichkeiten gegen die Verunsicherung durch das Phänomen Demenz suchen, müssen die Probleme auf mehreren Ebenen angegangen werden. Auf der Praxisebene, der Ebene der Sozialpolitik sowie auf der Ebene des Alltagswissens und der Wissenschaft. Während in Deutschland und Japan auf mehreren Ebenen Differenzen bestehen (worauf in diesem Buch in den Kapiteln zwei bis vier ausführlich eingegangen wird), bietet die Gemeinsamkeit auf der praktischen Ebene der Sozialpolitik eine gute Basis für einen Vergleich. Denn in beiden Gesellschaften wird die lokale Fürsorge für die Lösung des Pflegeproblems zunehmend als zentral erachtet. Zwischen der häuslichen und institutionellen Pflege klaffen in beiden Gesellschaften Lücken, die nicht ohne weiteres sozialpolitisch gefüllt werden können. Die Lösung wird in beiden Fällen darin gesehen, demente Personen so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung zu pflegen. In Japan werden durch den sogenannten New Orange Plan des Ministeriums für Gesundheit und Arbeit (MHLW) seit 2015 konkrete Maßnahmen in den lokalen Gemeinden gefördert. Dieser Plan trägt den offiziellen Titel Ninchishō seisaku suishin sōgō senryaku – ninchishō kōreisha ni yasashii chiiki zukuri ni mukete (»Strategie zur Förderung politischer Maßnahmen für demente Personen – zur Bildung lokaler Gemeinschaften, die für demente alte Menschen geeignet sind«). Im Rahmen dieses Plans werden u.a. Aufklärungsarbeit zu Demenz gefördert sowie freiwillige Unterstützer/innen für demente Personen ausgebildet. Auffällig ist, wie sehr die Wichtigkeit der lokalen Gemeinschaft betont wird (näher dazu MHLW 2015). Auch in Deutschland werden unter dem Stichwort »Lokale Allianzen für Menschen mit Demenz« zahlreiche Projekte vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert (vgl. BMFSFJ und BMG 2014). In der Konsequenz dieser Perspektive kommt die Frage auf, wie eine lokale Gemeinschaft auszusehen hat, damit demente Personen in ihr angstfrei und zufrieden leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Aus dieser Frage leitet sich auch der Titel des vorliegenden Buches ab. Die Frage nach der Möglichkeit einer demenzfreundlichen Gemeinschaft enthält aber auch eine theoretische Tiefe, die weiter reicht, als man auf den ersten Blick erwartet. Die soziologische Perspektive, für die eine konzeptionelle Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft wichtig ist, verhindert möglicherweise eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine Gemeinschaft möglich ist. Denn im soziologischen Verständnis wird eine moderne Gesellschaft als etwas kon-

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zipiert, das sich grundlegend von einer traditionellen Gemeinschaft unterscheidet, wie Ferdinand Tönnies in seinem 1887 erschienenen Klassiker Gemeinschaft und Gesellschaft aufzeigte (vgl. Tönnies 1991). In der Folge lag der Fokus der Soziologie überwiegend auf der Frage nach der Möglichkeit einer modernen Gesellschaft und die Frage, wie Gemeinschaft innerhalb der modernen Gesellschaft möglich ist, ist im soziologischen Kontext nicht konsequent diskutiert worden. In dieser Perspektive waren Gemeinschaften etwas, das durch die Modernisierung überwunden wurde oder werden sollte. Daher gibt es auf die Frage »Wie ist eine lokale Gemeinschaft möglich?« bisher keine befriedigende Antwort. Doch mit dem demografischen Wandel wird diese Frage nicht nur virulent, sondern existenziell für das gesellschaftliche Überleben. Mit der vorliegenden Studie möchten wir zumindest die Frage aufwerfen, wie eine lokale Gemeinschaft möglich ist, in der demente Personen so lange wie möglich zufrieden leben können. Dafür nutzen wir eine kulturvergleichende Perspektive, aus der heraus die jeweilige soziale Wirklichkeit mit einem je nach dem Kontext verfremdeten Blick betrachtet werden kann, wozu auch die Zusammensetzung des Forschungsteams aus japanischen Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, deutschen Japanforscherinnen und -forschern und Fachpersonen aus der Praxis beitrug. Unter einem »verfremdeten Blick« wird dabei keineswegs eine dichotomische Gegenüberstellung im Sinne von »japanische Forscher/innen betrachten die deutsche vs. deutsche Forscher/innen die japanische Gesellschaft« verstanden, sondern ein multipel verfremdender Blick zwischen unterschiedlichsten Differenzen. Sicherlich bietet die vorliegende Studie keinen systematischen Gesellschaftsvergleich. Doch sind wir überzeugt, dass die Ansätze für eine kritische Reflexion sowohl auf der praktischen als auch auf der theoretischen Ebene die Diskussionen um die gesellschaftliche Zukunft in beiden Ländern vorantreiben können.

Aufbau des Buches In diesem Buch wird größeres Gewicht auf die Beschreibung der japanischen Situation gelegt, da sie für deutschsprachige Leser/innen weitestgehend unbekannt ist. Insofern dienen die Beschreibungen der Situation in Deutschland als eine Art Kulisse, vor der die Umstände in Japan besonders deutlich hervortreten können. Es ist umgekehrt durch diesen Vergleich auch möglich, dass Selbstverständlichkeiten in Deutschland

1 Einleitung

als historisch und kulturell gewachsene Eigenarten erkannt werden. Auf diese Weise werden bestimmte Erkenntnisse und Ergebnisse der Forschung unseres Erachtens besser nachvollziehbar. Die einzelnen Kapitel behandeln unterschiedliche Ebenen der sozialen Wirklichkeit und sind so konzipiert, dass sie auch getrennt voneinander gelesen werden können. Das zweite Kapitel thematisiert historische und soziostrukturelle Voraussetzungen der Wohlfahrt in beiden Gesellschaften und vermittelt einen Überblick, der das Verständnis der gegenwärtigen Situation in Japan und Deutschland erleichtert. Der weiterhin andauernde Prozess des gesellschaftlichen Wandels wird von einer tiefgreifenden Veränderung auf der Wissensebene begleitet. Dies ist im japanischen Kontext besonders auffällig, da sich dort explizit neue sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten manifestieren. Dies ist der Inhalt des dritten Kapitels, in dem die Konzepte der Pflege und der Demenz diskutiert werden. Im vierten Kapitel stellen wir in mehreren Unterkapiteln die konkreten Ergebnisse der empirischen Forschung vor. Im ersten Unterkapitel wird der Tagesablauf der Einrichtung Yoriai dem theoretischen Konzept der »Dichten Beschreibung« des US-amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz folgend aufgezeichnet (vgl. zum Konzept der Dichten Beschreibung: Geertz 1987; Shimada/Tagsold 2006: 31ff.). Danach werden verschiedene Aspekte der Pflege dementer Personen in Japan und Deutschland anhand von Fallbeispielen besprochen. Zunächst wird die Thematik des Übergangs in die institutionelle Pflege behandelt. Hier steht die Frage im Vordergrund, wie eine demente Person und ihre Angehörigen über den Verlauf der Erkrankung begleitet und die Nutzung von institutioneller Fürsorge schrittweise gestaltet werden kann (vgl. Unterkap. 4.2). Im Anschluss daran wird die Grenze der Pflege mittels zweier Beispiele aufgezeigt, bei denen relativ junge Personen an Alzheimer erkrankten und psychiatrisch behandelt werden mussten (vgl. Unterkap. 4.3). Im darauffolgenden Unterkapitel werden die Perspektiven der Angehörigen auf die Demenzerkrankung ihrer Familienmitglieder, ihre Pflegeerfahrungen sowie die Beziehung der Familien zu den Pflegeeinrichtungen thematisiert (vgl. Unterkap. 4.5). Im anschließenden Unterkapitel wird die Sicht der professionellen Pfleger/innen in den Mittelpunkt gestellt (vgl. Unterkap. 4.5). Zum Schluss des vierten Kapitels wird das Thema der Sterbebegleitung aufgegriffen und problematisiert, wie ein guter Umgang mit medizinischen Entscheidungssituationen unter Berücksichtigung des situativ geäußerten Willens der Menschen mit Demenz und

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ihrer Interessen möglich sein kann (vgl. Unterkap. 4.6). Schließlich werden im fünften Kapitel die Ergebnisse theoretisch reflektiert und daraus Folgerungen für den Umgang mit demenziell erkrankten Personen diskutiert. Dabei werden die für die Wohlfahrt zentralen Konzepte wie das Selbst, Selbstbestimmung und personale Identität diskutiert. Schließlich fassen wir im Schlusskapitel die Ergebnisse zusammen und enden mit einem Ausblick auf die theoretische Frage: »Wie ist eine demenzfreundliche lokale Gemeinschaft möglich?« (vgl. Kap. 6).

2 Historische und soziokulturelle Hintergründe der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland und Japan Shingo Shimada

Dass die deutsche und die japanische Gesellschaft angesichts des demografischen Wandels vor ähnlichen Problemen stehen, wurde bereits deutlich. Darüber hinaus bestehen zwischen der deutschen und japanischen Gesellschaft weitere Gemeinsamkeiten, die für eine kulturvergleichende Betrachtung Anhaltspunkte bieten. Dies gilt vor allem für ihre Entwicklung nach 1945: Beide Länder mussten erst die Niederlage des Zweiten Weltkriegs verkraften und ihre Wirtschaft wiederauf bauen. In beiden Gesellschaften gelang dies relativ rasch. Ab der Mitte der 1950er-Jahre wurde der wirtschaftliche Erfolg deutlich sichtbar. Beide Länder entwickelten sich in den 1950er-Jahren zu zwei mehr oder weniger homogenen, nationalstaatlich verfassten Gesellschaften1, die mit ihrer wirtschaftlichen Produktivität im internationalen Kontext eine immer wichtiger werdende Rolle spielten, bis sie Anfang der 1970er-Jahre zu den führenden Wirtschaftsnationen zählten. Auch im sozialpolitischen Systemvergleich weisen die beiden Gesellschaften analoge Tendenzen auf. Gøsta Esping-Andersen ordnet das deutsche Modell der Kategorie des »konservativ-korporatistischen« Typs zu, während er von Japan als einem hybriden Modell spricht, das die Elemente des »liberal-residualen« und »konservativ-korporatistischen« Mo1 | Für Deutschland müsste hier die Teilung in Ost und West mitberücksichtigt werden, ich beziehe mich jedoch nur auf die Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland.

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dells amalgamiert (Esping-Andersen 1997: 187).2 Dies ist auch nicht verwunderlich, weil die japanische Sozialpolitik in ihrer Entwicklung immer wieder für die jeweilige Situation passende Elemente aus westeuropäischen und nordamerikanischen Modellen übernahm. Diese Hybridität macht die Analyse der japanischen Wohlfahrtspolitik überaus komplex. Vor allem auch, da aus einer kulturalistischen Perspektive heraus bestimmte Aspekte wie die familiäre Fürsorge ideologisch zu einer genuin japanischen Tugend erhöht und dies zur Grundlage der Wohlfahrtspolitik gemacht wurde. Trotz solcher Unterschiede verweisen die Übernahmeprozesse darauf, dass das deutsche und das japanische Wohlfahrtssystem bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen, die einen Vergleich erleichtern. Diese Gemeinsamkeit liegt in der Verbindung zwischen dem System der Sozialversicherung mit der konservativen Idee der familiären Fürsorge. Hiroi Yoshinori weist ausdrücklich darauf hin, dass der Ausgangspunkt des japanischen Wohlfahrtssystems in der Übernahme des deutschen Modells gelegen hat, wodurch die Grundlagen für Sozialversicherungen wie Krankenversicherung und Altersrente eingeführt wurden. Von dieser Grundlage ausgehend wurden erst später nach und nach liberale Elemente der Wohlfahrt übernommen (vgl. Hiroi 2011: 36-97). In neuester Zeit ist auch hinsichtlich des demografischen Wandels eine analoge Entwicklung zu beobachten. Deutschland und Japan halten weltweit Spitzenpositionen im Hinblick auf die gesellschaftliche Überalterung. In der Folge steht man vor dem ähnlich gelagerten Problem, wie man mit der immer größer werdenden Gruppe alter Menschen und ihrer möglichen Pflegebedürftigkeit umzugehen hat. Es ist in beiden Gesellschaften absehbar, dass die bisherigen Systeme mit der weiteren demografischen Entwicklung nicht mithalten können, sodass neue Lösungswege gesucht werden. Hierbei besteht eine Gemeinsamkeit: Es wird nach einem stärkeren Engagement der Bürger/innen gefragt, welches die Lücken des Wohlfahrtssystems füllen soll. Damit wird die Wichtigkeit der Fürsorge im lokalen Kontext hervorgehoben, durch die solange wie mög2 | Mit dem »konservativ-korporatistischen Typ« meint Esping-Andersen das Wohlfahrtsstaatsmodell, das von der Institution der Sozialversicherung geprägt ist. Darin werden die Status- und Gruppenunterschiede innerhalb der Gesellschaft weitestgehend erhalten. Die traditionell-bürgerlichen Familienstrukturen sind ein fester Bestandteil dieses Typs. Mit dem »liberal-residualen Modell« betont er die Rolle des freien Marktes und der Familie.

2 Historische und soziokulturelle Hintergründe der Wohlfahr tsstaatlichkeit

lich ein selbstständiges Weiterleben pflegebedürftiger Menschen in ihrer vertrauten Umgebung ermöglicht werden soll. Doch die einzelnen sozialpolitischen Maßnahmen in Deutschland und in Japan sind teils ähnlich, teils sehr verschieden. Auch existieren handfeste sozialstrukturelle Unterschiede zwischen beiden Gesellschaften. Für ein tieferes Verständnis und eine angemessene Interpretation der später vorgestellten Fallbeispiele sind Kenntnisse der unterschiedlichen sozialpolitischen Entwicklungen in beiden Gesellschaften unerlässlich.

2.1 D as K onzep t der W ohlfahrt im V ergleich Bei einer historischen Betrachtung fällt zunächst auf, dass man bereits mit der Hauptkategorie des Untersuchungsgegenstandes in eine kritische Reflexion gerät. Die Frage »Was heißt Wohlfahrt auf Japanisch?« ist nicht so leicht zu beantworten. Das japanische Wort fukushi für Wohlfahrt ist relativ neu und verbreitete sich erst nach 1945 in der Gesellschaft als ein Übersetzungswort für welfare aus dem Englischen und Wohlfahrt aus dem Deutschen (vgl. Ishida 1989: 238-239).3 Was bedeutet dieser Umstand? Er verweist auf eine erhebliche Differenz darin, wie der Gedanke der Fürsorge für hilfsbedürftige Menschen konzeptualisiert wurde, was auch darin gesehen werden kann, dass sich eine japanische Entsprechung für das Wort Fürsorge schwer finden lässt (heute verwendet man allgemein die englische Entlehnung kea (care); dazu später mehr in Kap. 3). Um diese Differenz zu verstehen, ist es notwendig, kurz auf die historischen Entwicklungen des Konzeptes der Wohlfahrt einzugehen. Die Idee der Wohlfahrt kann im europäischen Kontext bis in die Antike zurückverfolgt werden, auch wenn der Begriff nach Mohammed Rassem zu den »Schlüsselwörter[n] der Neuzeit« gehört (Rassem 1997: 595). Auffällig ist bei dieser begriffsgeschichtlichen Betrachtung, dass die Idee der Wohlfahrt scheinbar schon immer als mit dem Konzept des Gemeinwesens verbunden gedacht wurde (salus publica). Im christlichen Kontext ist es eine Pflicht des Christen für das Wohlergehen seines Nächsten zu sorgen, wobei der Nächste unbestimmt bleiben kann. Der Nächste kann 3 | Ishida Takeshi weist darauf hin, dass das Wort fukushi durch den Artikel 25 in der neuen japanischen Verfassung von 1946 Verbreitung fand (vgl. Ishida 1989: 238).

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ein Nachbar, aber auch ein weit gereister Fremder sein. In diesem Punkt enthält das Konzept der christlichen Nächstenliebe die Tendenz zur Universalisierung der Fürsorge. Denn die Gruppe der möglichen Fürsorgeempfänger/innen ist nicht auf bestimmte Menschen beschränkt. Es ist dadurch möglich, die Idee der Fürsorge auf eine abstrakte Ebene zu heben, woraus die konzeptionelle Grundlage für soziale Werte wie Solidarität entstand (vgl. dazu Zoll 2000). Daraus entwickelte sich die Idee der Wohlfahrt, der entsprechend jeder Christ für das Wohlergehen seines Nächsten, gleich welcher Herkunft, zu sorgen hat. Dieser Gedanke ist für unsere Betrachtung insofern zentral, als hier weder die familiäre Zugehörigkeit noch die Herkunft des Fürsorgeempfängers eine Rolle spielt. Zwar werden die potenziellen Fürsorgeempfänger/innen pragmatisch und politisch im Laufe der Geschichte immer wieder eingeschränkt. Doch die Idee der Fürsorge ist immer verbunden mit öffentlichen Einrichtungen wie dem Staat in der Antike, der Kirche und den Klöstern im Mittelalter, der städtischen Gemeinde in der Neuzeit und schließlich dem modernen Nationalstaat. Hier ist der Gedanke durchgängig, dass den Menschen, die im familiären Kontext nicht versorgt werden können, von öffentlicher Seite geholfen werden muss. So sehen Sachße und Tennstedt die Anfänge der sozialen Fürsorge im Verlagerungsprozess der Fürsorge für Bettler/ innen von der Kirche zu den städtischen Kommunen. Im Zuge des 14. und 15. Jahrhunderts entstanden in vielen Städten Europas Spitäler und Krankenhäuser, in denen die Armen, Kranken und Alten aufgenommen wurden (vgl. Sachße und Tennstedt 1980: 30). Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum heute häufig die Wohlfahrt mit dem Gemeinwohl gleichgesetzt wird und warum die Kommunen in Deutschland eine aktive Rolle in der sozialpolitischen Umsetzung des Wohlfahrtsgedankens spielen. Es sollte in diesem Kontext jedoch nicht vergessen werden, dass es neben der öffentlichen Wohlfahrt im deutschsprachigen Kontext auch ein familienbasiertes Konzept der Fürsorge oder familiären Verantwortung gab, das »Ganze Haus« (vgl. dazu Brunner 1968). Hier ist die Idee zentral, dass in einem größer angelegten Mehrgenerationenhaushalt der Hausherr die Verantwortung für das Wohlergehen aller Haushaltsangehörigen samt Mägden und Knechten trug. Dieses Konzept ist für unsere vergleichende Betrachtung insofern wichtig, als wir hier durchaus eine Parallele zur japanischen Situation erkennen können. Der große Unterschied liegt jedoch darin, dass diese Form des familiären Zusammenlebens in

2 Historische und soziokulturelle Hintergründe der Wohlfahr tsstaatlichkeit

Deutschland im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts vom Konzept der bürgerlichen Familie abgelöst wurde, in Japan hingegen das sogenannte ie (»Haus«)-System gerade im modernen Kontext neu belebt, ideologisch überhöht und zu einer Standardform der Familie entwickelt wurde. Anders formuliert war die Idee der bürgerlichen Familie in Europa dadurch möglich, dass die Kommunen und zunehmend der Staat die Fürsorgeaufgaben übernahmen und dadurch die privaten Haushalte entlasteten. Das Konzept der modernen Familie beruht daher darauf, dass die kleinstmögliche Fürsorgefunktion auf den sehr kleinen Kreis der direkten Blutsverwandten und die Ehepartner beschränkt wird, während alle anderen Dienstleistungen der Fürsorge mehr und mehr von öffentlichen Institutionen übernommen werden. Das ist die Grundidee des modernen Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaates, wo dem Staat die Fürsorgepflicht für jeden Einzelnen zugesprochen und dadurch die Familie von der weiteren Fürsorgefunktion entlastet wird. Denn nur dadurch, dass die innerfamiliäre Unterhaltspflicht auf die Verwandtschaft des ersten Grades beschränkt wurde, konnte eine überhöhte emotionale Bindung der Familienmitglieder untereinander stattfinden. Dies ermöglichte eine Konzeptualisierung der Familie, in der die emotionalen Bindungen unter den Familienmitgliedern die Grundlage des Zusammenhalts bildeten. Das Konzept der bürgerlichen Familie als »Hort der Lieben« konnte daher nur unter den Bedingungen gedeihen, dass sie von vielen weiteren Fürsorgeverpflichtungen entlastet wurde. Daraus leitet sich bis heute die normative Vorstellung ab, dass innerhalb der Familie die gegenseitige Unterstützung aus Liebe und nicht aus einer Verpflichtung heraus geleistet werden soll. Wie weit man innerhalb der Familie der Notwendigkeit der Fürsorge nachgeht, regelt das Konzept der Subsidiarität. Denn im Konzept der Subsidiarität ist der Gedanke enthalten, dass Familien, soweit sie dazu in der Lage sind, die sozialpolitischen Fürsorgefunktionen selbst übernehmen sollen. Doch beziehen sich die deutschsprachigen Diskussionen um das Subsidiaritätsprinzip in der Regel auf die Reihenfolge der Fürsorgepflicht in einer hierarchischen institutionellen Ordnung, sodass die familiäre Fürsorge nicht im Mittelpunkt dieses Konzepts steht (vgl. Schneider/Toyka-Seid 2013). Ein weiterer wichtiger Punkt in der historischen Entwicklung der Wohlfahrt in Deutschland ist sicherlich die Entstehung von zivilgesellschaftlichen Initiativen zur Schaffung des Gemeinwohls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch das im Jahr 1848 kodifizierte Vereins-

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recht enthält das Konzept des Gemeinwohls und bekanntlich füllen die daraus entstandenen wohlfahrtsorientierten Vereine die Lücken, die Staat und Kommunen nicht abdecken können. Wichtig ist hierbei, dass die Wohlfahrtsfunktionen, d.h. die konkreten Dienstleistungen immer mehr von diesen Organisationen übernommen wurden. Auch hier zeigt sich, dass die bürgerlichen Familien durch die neu entstehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen von den Aufgaben der Fürsorge entlastet wurden. Insofern kann im deutschen Kontext ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer Institutionalisierung der Fürsorge, sowohl im zivilgesellschaftlichen, als auch im staatlichen Sinne gesprochen werden (vgl. Henning 1996; Kaufmann 2003: 248-303). Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich die japanische Gesellschaft von der deutschen grundlegend. Historisch gesehen ist es schwer, Konzepte wie Wohlfahrt oder Gemeinwohl überhaupt zu finden. Die heutigen japanischen Begriffe für diese Konzepte sind wie bereits oben erwähnt allesamt Übersetzungen aus den europäischen Sprachen, die sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verbreiten begannen. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, ist dieser Prozess keineswegs abgeschlossen. Was bedeutet dies aber? Von der Sachlage her ist es schwer vorstellbar, dass sich eine Gesellschaft kaum um die Notlagen ihrer Mitglieder gekümmert hätte. Hier wird im sogenannten Japandiskurs darauf hingewiesen, dass die Dörfer wegen des sehr aufwendigen Reisanbaus traditionell schon immer die gegenseitige Hilfe kultiviert hätten und dies die Grundlage des japanischen Kollektivismus sei (vgl. Watsuji 1992).4 Und tatsächlich gibt es im dörflichen Kontext die ersten Ansätze zur Entwicklung eines Versicherungswesens (kō), in das jedes Dorfmitglied einen Beitrag für den Notfall, aber auch für gemeinsame Reisen, einzahlte (vgl. dazu Najita 2009). Doch diese dörflichen Kooperationsformen beruhten in der Regel auf häuslichen Einheiten und beschränkten sich auf die lokalen naturgewachsenen Gegebenheiten. Eine Tendenz, diese Idee zu universalisieren oder auf eine abstraktere Ebene zu heben und zu institutionalisieren, ist nicht zu finden.

4 | Mit Japandiskurs ist die öffentliche Thematisierung der Frage nach dem Wesen der japanischen Kultur in Japan seit etwa den 1970er-Jahren gemeint. Hier genossen zahlreiche (populär-)wissenschaftliche als auch feuilletonistische Publikationen sehr große Popularität.

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In dem Ständesystem der Vormoderne (bis 1868) ist der Gedanke eines Gemeinwohls, der das Ständesystem übersteigt, nicht denkbar. Zwar gibt es das buddhistische Konzept jizen, das die Bedeutung einer allgemeinen gegenseitigen Unterstützung enthält (vgl. Yoshida 1995: 20ff.), doch wurde daraus kein für die Gesamtgesellschaft allgemeingültiges Prinzip abgeleitet. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen waren die buddhistischen Tempel stets Vertreter bestimmter buddhistischer Schulen und nicht wie die Kirche institutionell vereinheitlicht, sodass schwer von dem Buddhismus gesprochen werden kann. Es fehlte hier die institutionelle Grundlage des Universalismus, die in Europa gegeben war. Zum anderen waren die Angehörigen der einzelnen Tempel haushaltsweise organisiert, und die Tempel hatten unter dem Tokugawa-Shogunat bis 1868 die Funktion von Registrierungsämtern in den jeweiligen Fürstentümern inne. Da diese Registrierung der Haushalte direkt mit der Steuerabgabe für die Fürsten verbunden war, wurde die Einrichtung der Tempel allgemein negativ von der Bevölkerung angesehen. Daher konnte in diesem Zusammenhang kaum die Idee der gegenseitigen Hilfe durch den Tempel aufkommen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Fürsorgefunktion weitgehend von den Haushalten im Sinne des »Ganzen Hauses« übernommen wurde, vor allem von den privilegierten Haushalten des höheren Kriegerstandes sowie den größeren Handelshäusern und Großbauern, wobei die Formen der Haushalte und die der Fürsorge je nach dem gesellschaftlichen Stand und der Region sehr heterogen sein konnten. In den Dörfern waren diese größeren Häuser auch verantwortlich für das Wohlergehen der Dorf bewohner. Es ist daher nicht verwunderlich, dass »das große Haus« (ōyake) in der japanischen Sprache Öffentlichkeit bedeutet. In diesem Verständnis beinhaltet die Fürsorge stets eine ständebezogene-hierarchische Machtbeziehung. Die Hilfe wird von oben nach unten gewährt, sodass hier von einer Gegenseitigkeit im Sinne der Solidarität nicht die Rede sein kann. Schließlich ist noch auf eine Differenz zu verweisen, die für das Verständnis der unterschiedlichen Wohlfahrtslagen in beiden Gesellschaften wichtig ist. Dies ist das Verständnis der allgemeinen Menschenrechte als Grundlage der Wohlfahrt. Den allgemeinen Menschenrechten zufolge hat jedes Individuum das Recht auf Bedingungen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Daher werden die wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen in Deutschland in der Regel mit der Wahrung der Menschenwürde begründet. Dieses Verständnis der Menschenrechte als

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Individualrecht für ein menschenwürdiges Leben ist jedoch das Ergebnis einer langen kulturgeschichtlichen Entwicklung in Europa, in das die christliche Vorstellung der Nächstenliebe und die aufklärerischen Konzepte der sozialen Gerechtigkeit, Gleichheit und vor allem Solidarität einflossen. Für eine Gesellschaft wie der japanischen, die nicht über einen solchen historischen Hintergrund verfügt, scheint dieses Verhältnis von Menschenwürde, Menschenrechten und einem daraus folgenden Recht des Individuums auf staatliche Fürsorge schwer verständlich zu sein. So spielt das Konzept der Menschenwürde ningen no songen erst seit den 1990er-Jahren eine Rolle in der Pflegepolitik (vgl. dazu Shimada 2017). Auch wenn der Begriff »Wohlfahrt« übersetzt als fukushi seit 1946 durch die japanische Verfassung Einzug in die Sozialpolitik hielt, bedeutet dies keineswegs, dass der Kerngedanke dahinter gleich verstanden wurde. Ishida weist ausdrücklich darauf hin, dass die Idee der Wohlfahrt als Teil der Menschenrechte im Grunde bis heute in der japanischen Gesellschaft fremd geblieben ist (vgl. Ishida 1989: 297ff.).

2.2 F ürsorge in der frühen M odernisierungsphase J apans (1868-1945) Mit dem Beginn der Bildung eines modernen Nationalstaates ab 1868 kam aus Europa die moderne Vorstellung der Wohlfahrt in die japanische Gesellschaft. In diesem Prozess der Auseinandersetzung mit europäischen sozialpolitischen Ideen war die Stellung der Familie bzw. des Haushaltes ein Punkt, an dem die Meinungen der Führungskräfte auseinandergingen. Im Diskurs um die Kodifizierung des Bürgerlichen Gesetzbuches ab etwa 1890 kam ein heftiger Disput darüber auf, ob Japan mit der europäischen gesetzlichen Vorlage auch das Konzept der bürgerlichen Familie übernehmen sollte oder nicht. Die Vertreter der traditionellen Vorstellung sahen darin die Gefahr, dass »die Tugend der gegenseitigen Hilfe in den Haushalten«, die sie als eine historisch und kulturell gewachsene Tradition ansahen, durch eine Übernahme des bürgerlichen Familienkonzepts verloren gehen würde (Hozumi 1989, vgl. dazu Shimada 2007: 54ff.). Hinter dieser emotional vorgetragenen Position steckte aber auch die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt weder der junge Staat noch die neu entstandenen Kommunen als Verwaltungseinheiten finanziell in der Lage gewesen wären, die Fürsorgeaufgaben für Benachteiligte zu überneh-

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men. Insofern half der Einwurf der Traditionalisten bei der Durchsetzung der Idee, dass die einzelnen Haushalte gänzlich die Fürsorgefunktionen übernehmen sollten. Dies wurde auch gesetzlich fest verankert und in diesem Zuge das Konzept des Hauses ie zum zentralen Element gemacht, auf dem die junge japanische Nation sowohl auf der Ebene der Familie als auch gesamtgesellschaftlich mit dem Tennō (Kaiser) als Landesvater aufgebaut wurde. Dies konnte nur dadurch geschehen, dass in dieser frühen Modernisierungsphase die von außen hereinbrechende westliche Zivilisation als »fremd« empfunden wurde, worauf das Konzept des Hauses als Kern der eigenen Kultur und Tradition erfunden und stilisiert wurde. Damit konnten das familiäre und nationale Wohl gleichgesetzt und somit eine sehr starke emotionale Bindung geschaffen werden. In der Folge wurde als Bezeichnung für die Aufgaben des Gemeinwohls der japanische Ausdruck ie verwendet, sodass der Anschein erweckt wurde, als ob es sich hierbei um eine spezifisch japanische Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens handeln würde (vgl. Shimada 2007: 52-69). Dieser Umstand hat erhebliche Konsequenzen auf der theoretischen Ebene im Vergleich zur europäischen Situation. Denn es wurde eine »von Natur aus gegebene« familiäre Einheit (ie) zu einem Prinzip erhoben, das die gesamte Gesellschaft betrifft und hierarchisch gliedert. Während in Europa der Anfang der Moderne als ein Bruch mit dem als natürlich geltenden Prinzip der Vergemeinschaftung (Familie, Dorf, Stand) hin zu einer bürgerlichen Gesellschaft mit abstrakten sozialen Werten erfahren wurde, blieb in Japan das Prinzip der quasi natürlichen Vergemeinschaftung erhalten und wurde ideologisch zu einer kulturellen Eigenheit erklärt. Sozialpolitisch war hierbei wichtig, dass dem Hausvorstand gesetzlich die Verantwortung für das Wohlergehen der Familienmitglieder übertragen wurde, sodass er bis zum dritten Verwandtschaftsgrad die Unterhaltspflicht übernehmen musste. Dies ist sicherlich ein Grund dafür, dass die Idee des Sozialstaates für Japan als nicht notwendig erachtet wurde. Diese gesetzliche Regelung ist bis heute im Bürgerlichen Gesetzbuch festgehalten, sodass in Notsituationen größere private Kreise der Verwandtschaft aufkommen müssen. Die kostensparenden Konsequenzen für die staatliche Seite sind unübersehbar. Bereits in der Frühphase der Modernisierung entstand auf diese Weise ein System, in dem die Fürsorgefunktionen weitestgehend den privaten Haushalten zugeordnet wurden, sodass sich der Staat auf die dringende Aufgabe der Industrialisierung des Landes konzentrieren konnte. Der

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Industrialisierungsprozess brachte auch in Japan wie in allen anderen Industriegesellschaften Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen hervor. In Tokyo und Osaka entstanden ebenso Elendsviertel wie in London, Paris oder Berlin. Doch für die Fürsorge dieser Menschen waren weitestgehend die Hausvorstände der privaten Haushalte verpflichtet, sodass auch dieser Umstand nicht zur Entstehung eines einheitlichen Wohlfahrtssystems führte. Lediglich für das Militär wurde ein soziales Sicherungssystem für Offiziere bereitgestellt – angefangen mit Alters- und Invalidenpensionen für die Marine (1875) und für das Heer (1876). Im folgenden Kapitel wird deutlich werden, welche wichtigen begriffsgeschichtlichen Konsequenzen diese Einführung der Alters- und Invalidenpensionen für Soldaten hatte. Es erhebt sich hier die Frage, warum in der Zeit zwischen 1868 und 1945 die Idee der staatlichen Fürsorge für das japanische Volk nicht aufkam. Die moderne japanische Nation wurde als ein familienähnliches Gebilde mit dem Tennō als väterlichem Oberhaupt konzipiert. Hatte der Tennō nicht die Aufgabe, für das Wohlergehen seiner Untertanen Sorge zu tragen? Ist nicht in diesem ethnischen Konzept der Nation die Idee des Gemeinwohls enthalten? Tatsächlich wurden im Namen des Tennōs sozialpolitische Maßnahmen der Armenfürsorge ergriffen. So wurde im Jahre 1874 das erste Gesetz zur Armenfürsorge erlassen. Doch waren diese Maßnahmen zum einen nur symbolischer Natur und zum anderen waren sie eher Almosen als Zeichen der Gnade des Tennōs, als dass sie sozialpolitische Konsequenzen mit sich gebracht hätten. Ein Konzept wie das des Gemeinwohls in Europa ist hier schwer zu finden. Stattdessen wurde eine religiös-mystische Einheit zwischen dem Tennō, Volk und Staat mit dem Konzept kokutai (»Landeskörper«) propagiert, wodurch die sozialen Differenzen emotional nivelliert wurden (vgl. dazu Shimada 2007: 182ff.). Für Notfälle blieben die Haushaltsvorstände verantwortlich. Daher prägte sich stark die Vorstellung aus, dass man alles innerhalb des Haushaltes zu regeln habe. Nur im äußersten Fall sollte man sich an den Staat oder die Kommunen wenden. Dadurch, dass die staatliche oder kommunale Hilfe einen starken Almosencharakter hatte, wurde alles darangesetzt, nicht in eine solche Situation zu kommen.

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2.3 W ohlfahrt nach 1945 Wie eingangs erwähnt, bestand eine Parallele zwischen der Ausgangslage der deutschen und der japanischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch lag der generelle Unterschied bei dem Neuauf bau der beiden Gesellschaften darin, dass die Bundesrepublik mit dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft ein Sozialversicherungssystem auf baute, während Japan weitestgehend auf die freie Marktwirtschaft setzte. Die Idee der freien Marktwirtschaft wurde in Japan mit dem Konzept der familiären Fürsorge verbunden. Dafür war eine Amalgamierung von zwei Elementen notwendig. Zum einen bestand weiterhin die Vorstellung, dass Notfälle innerhalb des eigenen Haushaltes aufgefangen werden müssten. Zum anderen musste das Familienkonzept modernisiert werden, da die amerikanische Besatzungsmacht einen Grund zur Entwicklung der totalitären Tendenzen bis 1945 in der Familienstruktur gesehen hatte. Für die Konzipierung eines neuen Familienbildes brachte die neue japanische Verfassung 1946 zwei damals bahnbrechende Neuerungen, in denen sich auch die Perspektive der amerikanischen Besatzungsmacht widerspiegelt. Erstens wurde gesetzlich die geschlechtliche Gleichheit eingeführt, womit der bis dahin gültigen patriarchalischen Vorstellung des ie-Systems zumindest die gesetzliche Grundlage entzogen wurde. Zweitens wurde mit dem Artikel 25 das Recht der Staatsbürger/innen auf ein Mindestmaß an gesundem und kultiviertem Leben garantiert. Damit wurde die Idee der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt auf der Ebene des Gesetzestextes greif bar. Es ist aber natürlich nicht so, dass sich damit in den realen Familienverhältnissen sofort ein radikaler Wandel vollzogen hätte. Gerade im privaten Bereich, in dem die herkömmlichen Beziehungsformen weitergelebt wurden, war eine intentionale politische Beeinflussung wohl nur schrittweise möglich. Daher wurde das Konzept des ie einerseits als ein mögliches Hindernis für die Modernisierung kritisch betrachtet, zugleich blieben die konkret gelebten familiären Lebensformen zutiefst von dieser Idee geprägt. Nach und nach wandelten sich jedoch die Familienverhältnisse in der japanischen Gesellschaft der Nachkriegszeit vor allem in den Großstädten zum Teil radikal, weil dort mit dem aufkommenden Wirtschaftsaufschwung durch junge Familien eine neue Mittelschicht entstand. Doch obgleich sich das Konzept der Kernfamilie durchzusetzen begann, blieb den meisten Menschen die Idee fremd, dass bestimmte

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Fürsorgefunktionen vom Staat oder von den Kommunen übernommen werden könnten oder sollten. Auf der sozialwissenschaftlichen Ebene war die Idee des britischen Beveridge-Plans unter den sozialpolitisch orientierten Forschern durchaus bekannt und auch als attraktiv empfunden worden.5 Auch die Idee der Sozialversicherung war durch die Übernahme bestimmter sozialpolitischer Elemente aus Deutschland – wie der Rente für Soldaten – bereits vor dem Zweiten Weltkrieg bekannt. Insofern gab es direkt nach 1945 durchaus Anlässe, eine neue Wohlfahrtspolitik zu konzipieren. Doch bewegte sich die japanische Sozialpolitik in eine Richtung, in der die Frage der sozialen Sicherung hintenangestellt wurde. Die japanische Politik setzte ab 1952 statt auf sozialen Ausgleich der gesellschaftlichen Ungleichheiten gänzlich auf die reine Vermehrung des privaten Einkommens. Ministerpräsident Ikeda verkündete im Jahre 1960 die Verdoppelung der Löhne, was einige Jahre später im Jahre 1965 tatsächlich erreicht wurde. Die japanische Politik orientierte sich auf diese Weise wesentlich stärker am Konzept der freien Marktwirtschaft und überließ es den Einzelnen, ihre soziale Sicherheit mit den erhöhten Löhnen selbst zu organisieren. Soziale Absicherung sollte in der Regel im Rahmen der privaten Haushalte geschehen, womit unter der Oberfläche der Modernisierung der familiären Verhältnisse nach dem amerikanischen Vorbild das alte Konzept des Haushalts (ie) konzeptionell erhalten blieb. Insofern wurde der Familie im japanischen Kontext wesentlich stärker als in Deutschland die Fürsorge- und Vorsorgefunktion für ihre Mitglieder zugesprochen. Die Sozialpolitik wurde jedoch nicht gänzlich außer Acht gelassen. Im Jahr 1959 wurde eine umfassende Rentenreform durchgeführt, durch die nun alle Staatsbürger/innen in ein Rentensystem integriert wurden. Allerdings konnte man selbst nach dieser Reform von der Rente allein nicht leben. Daher war man entweder auf eine weitere Beschäftigung, auf die eigenen Ersparnisse oder auf die Hilfe der Familienmitglieder angewiesen. 5 | Mit dem Beveridge-Plan wird die Idee eines Sozialversicherungssystems bezeichnet, das einheitlich auf die Gesamtbevölkerung eines Nationalstaates angewandt wurde. Im Gegensatz zum Bismarck’schen Sozialversicherungsmodell beruht dieses System auf der Finanzierung durch den Staatshaushalt. Der Plan geht auf den Bericht zurück, der von Sir William Beveridge der britischen Regierung im Jahre 1942 vorgelegt wurde (vgl. Kaufmann 2003: 144ff.; Sandmann-Bremme 1961: 39-80).

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Dieser Umstand erklärt auch zum Teil die hohe Arbeits- und Sparquote der japanischen Bevölkerung über 60 Jahren. In den 1960er-Jahren war die Vorstellung selbstverständlich, im Ruhestand mit der Kinder- und Enkelgeneration zusammenzuwohnen und sich weitestgehend von ihnen versorgen zu lassen. Nach dieser Vorstellung war die Kindergeneration für das Wohlergehen der Eltern im Alter verantwortlich. Auch wenn sich im Laufe der Zeit die Familienstrukturen veränderten, blieb diese Idee erhalten, sodass in den Interviews mit Familienangehörigen von Pflegebedürftigen heute durchaus dieses Verpflichtungsgefühl zum Ausdruck kommt (vgl. Kap. 4.5).

2.3.1 Wandel der Familie Der einsetzende Wirtschaftsaufschwung ab Mitte der 1950er-Jahre verschärfte die geschlechtliche Arbeitsteilung in der Gesellschaft. Indem man das Ideal der bürgerlichen Familie und die Vorstellung des ie-Systems kombinierte, wurde den Männern die Rolle des Ernährers zugewiesen, der außerhalb des Hauses tätig war, und den Frauen die Rolle der Hausfrau, die den Haushalt selbstständig regelte. Die Rolle als Hausfrau und Mutter galt als erstrebenswert, da sie einen hohen gesellschaftlichen Status der Familie widerspiegelte. Diese geschlechtliche Arbeitsteilung ist für das Verständnis der japanischen Wohlfahrtssituation äußerst wichtig. Denn erst aufgrund der Durchsetzung dieser Vorstellung konnten alle Fürsorgefunktionen weitestgehend auf die Hausfrauen übertragen werden, sodass die staatliche Sozialleistungsquote äußerst niedrig gehalten werden konnte (vgl. Kaufmann 1997: 50). Überhaupt liegt ein Geheimnis des wirtschaftlichen Erfolges in diesem Punkt. Denn die langen Arbeitszeiten der Männer waren nur dadurch möglich, dass die Ehefrauen sämtliche Hausarbeiten, die Erziehung der Kinder und die Pflege der Schwiegereltern übernahmen. Die Eheschließung als Voraussetzung dieser geschlechtlichen Arbeitsteilung war lange Zeit auch deshalb so bedeutungsvoll für die Gestaltung der individuellen Biografie, weil sie eine der wichtigsten Grundlagen für die Gestaltung der japanischen Wirtschaft darstellte. Im Vergleich dazu spielte die Sozialpolitik in Deutschland eine wesentlich wichtigere Rolle. Denn der Auf bau des Sozialversicherungssystems war für die Bundesrepublik eine wichtige Grundlage für den erneuten Nationsbildungsprozess nach 1945. Nach der Erfahrung des Nationalso-

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zialismus war es nicht mehr möglich, die Nation mit Konzepten wie Volk oder Kultur aufzubauen. Daher wurde das neue System mithilfe von Begriffen wie Freiheit, Verteilungsgerechtigkeit und Solidarität begründet. Diese abstrakten Werte wurden durch das System der Sozialversicherung konkret erlebbar. Die Rentenreform 1957 war vor diesem Hintergrund in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung tiefgreifender als die in Japan 1959. Denn durch diese Reform in Deutschland wurde es für ältere Menschen möglich, auch nach der Verrentung ein selbstständiges Leben zu führen. Anders ausgedrückt wurden durch diese Reform die Familien von der Unterhaltsverpflichtung gegenüber der Elterngeneration befreit. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft war aber auch deshalb realisierbar, weil die bundesrepublikanische Gesellschaft auf bereits etablierte nicht-profitorientierte Organisationen im Wohlfahrtsbereich, wie die sechs bekannten Wohlfahrtsverbände, zurückgreifen konnte, die konkrete Dienstleistungen in allen Wohlfahrtsbereichen anboten. Dies ist ein entscheidender Unterschied zu Japan. Denn dort existieren bis heute keine großen Wohlfahrtsverbände wie in Deutschland. In Japan wurde, wie bereits dargelegt, der größte Anteil der Wohlfahrtsleistungen von Frauen im Rahmen ihrer Familie übernommen. Mit dem zunehmenden wirtschaftlichen Erfolg reifte aber unter den japanischen Politikern der Gedanke, dass Japan sich als inzwischen eine der reichsten Nationen der Welt auch wohlfahrtspolitisch profilieren sollte. So erklärte der damalige Ministerpräsident Tanaka Kakuei das Jahr 1973 zum »Wohlfahrtsgründungsjahr« ( fukushi gannen), in dem eine drastische Erhöhung der Sozialausgaben geplant wurde. Doch die erste Ölkrise im selben Jahr machte diese Auf bruchsstimmung wieder zunichte. In der darauffolgenden Diskussion wurde der groß angelegte Plan zum Auf bau einer Wohlfahrtsgesellschaft zurückgefahren und das Konzept der »Wohlfahrtsgesellschaft im japanischen Stil« (nihongata fukushi shakai) vorgeschlagen und auch politisch durchgesetzt. Dieses Konzept beruhte auf dem damals populären Diskurs um die japanische Kultur und grenzte die japanische Wohlfahrtssituation von der in den westlichen Industrieländern ab. Die Stoßrichtung lag in der Rückführung der Wohlfahrtsfunktionen in die Familien, was mit der kulturellen Eigenheit Japans begründet wurde. In diesem kulturalistischen Japandiskurs wurde immer wieder das Konzept des ie als Kern der japanischen Kultur herausgestellt. Dieses Konzept wurde auch von prominenten Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern wie Nakane Chie und Murakami Yasusuke auf die Beschrei-

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bung der japanischen Betriebskultur übertragen (Familienähnlichkeit der japanischen Betriebe), und genoss hohe Popularität sowohl in Japan als auch in anderen Ländern (vgl. Murakami u.a. 1979; Nakane 1985). Damit einhergehend übernahmen auch einzelne Unternehmen einige Wohlfahrtsfunktionen für ihre Festangestellten. Dies bedeutete aber, dass man, je nachdem in welchem Unternehmen man angestellt war, auch unterschiedliche Sozialleistungen erhielt. Und dieses System beruhte wiederum auf der geschlechtlichen Arbeitsteilung, sodass die Frauen im Prinzip nur über ihre Ehemänner an der betrieblichen Wohlfahrt teilnehmen konnten. Insofern war auch hier in der Konzeptionierung das Familienkonzept ausschlaggebend. Rückblickend betrachtet erweist sich diese Entwicklung als fatal. Diese politischen Entscheidungen waren zum damaligen Zeitpunkt nur deshalb akzeptabel, weil die japanische Gesellschaft insgesamt noch relativ jung war. Doch mit der raschen Zunahme des Anteils der über 65-Jährigen in den darauffolgenden Dekaden wurde die Situation der Familien immer schwieriger, zumal immer mehr Frauen berufstätig wurden. Die Notwendigkeit des Umdenkens wurde Mitte der 1980er-Jahre durchaus erkannt, doch eine politische Umsetzung erfolgte spät. Erst im Jahr 1989 wurde der sogenannte Goldplan 6 verabschiedet, mit dem ein auf die lokalen Bedürfnisse angepasstes Pflegesystem aufgebaut werden sollte (vgl. Yūki 2011: 46). Dieser Plan beinhaltete eine enorme Erhöhung der Plätze in den Pflegeeinrichtungen und die Einrichtung von lokalen Zentren für ambulante Pflege. Zumindest wurde damit zum ersten Mal die Notwendigkeit einer neuen Perspektive in der Wohlfahrtspolitik explizit formuliert, doch der Plan zeigte zugleich überdeutlich die bestehenden Defizite auf. Dies lag daran, dass die japanische Sozialpolitik zu lang darauf vertraut hatte, dass die Familien die Wohlfahrtsaufgaben bewältigen würden. Begründet wurde dieses Vertrauen mit der Ideologie des familiären Zusammenhaltes, in der überkommene traditionelle Vorstellungen und das moderne bürgerliche Familienideal ineinander verschmolzen. Letztendlich wurde in den 1990er-Jahren deutlich, dass die sozialpolitischen Maßnahmen des Goldplans angesichts des radikalen demografischen Wandels unzureichend waren. Es wurde darauf noch ein weiterer Plan 6 | Die offizielle Bezeichnung des Goldplans lautete »Zehnjährige Strategie zur Förderung der Altenwohlfahrt« (Kōreisha hoken fukushi suishin 10 ka’nen senryaku).

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(New Gold Plan, 1994) verabschiedet, dessen Reichweite jedoch begrenzt blieb. Die dringend zu lösende soziale Problemlage verlangte eine weit radikalere Idee als die genannten Pläne und brachte eine für die japanische Gesellschaft vollkommen neuartige Institution.

2.3.2 Die Pflegeversicherung Die Einführung der Pflegeversicherung in Deutschland (1997) als auch in Japan (2000) war eine sozialpolitische Maßnahme mit welcher dem Pflegeproblem begegnet werden sollte, das durch den demografischen Wandel entstanden war. Die bisherigen Darstellungen zeigen aber, dass die Wege, die zu ihrer Einführung führten, sehr unterschiedlich waren. Darin liegt auch der Grund dafür, warum sich die beiden Varianten der Pflegeversicherung in ihrer innergesellschaftlichen Bedeutung grundlegend unterscheiden, obwohl Japan das deutsche Beispiel als Modell übernahm (zum Vergleich der Pflegeversicherung in Deutschland und Japan (vgl. Shimada/Tagsold 2006). Im deutschen Fall führte vor allem die Überlastung der Kommunen zur Reform des Wohlfahrtssystems. Traditionell waren die Kommunen für die Armenfürsorge und somit auch für die Sozialhilfe verantwortlich gewesen. Mit der Zunahme der älteren Bevölkerung vermehrte sich die Zahl der Pflegebedürftigen, welche die Pflegekosten selbst nicht tragen konnten und deshalb Sozialhilfe beantragen mussten. Diese Fälle belasteten die Kommunen zunehmend, und sie verlangten eine Lösung, die schließlich in einer neuen Form der Sozialversicherung gefunden wurde. In diesem Sinne ist die Pflegeversicherung im deutschen Kontext als eine Entlastung der kommunalen Finanzen zu verstehen. Interessant ist auch, dass im politischen Diskurs in Deutschland die Notwendigkeit der Einführung mit sozialethischen Wertebegriffen wie sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenwürde begründet wurde (vgl. näher Shimada/ Tagsold 2006: 93-110). Dies ist im Kontext des vorliegenden Buches insofern bemerkenswert, als es darauf verweist, wie sehr die Pflege schon vor der Einführung der Pflegeversicherung als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen worden war. Dagegen bestand im japanischen Kontext lange Zeit die Erwartung, dass die Pflege der alten Menschen innerhalb der Familie erfolgen sollte. Mit der zunehmenden Alterung der Gesamtgesellschaft wurde aber die Belastung der pflegenden Angehörigen immer größer. Die Pflege wurde

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weitestgehend von Frauen übernommen, die dazu häufig berufstätig waren und auch die Haushaltsführung und Kindererziehung übernehmen mussten. Ende der 1980er-Jahre wurde in den Massenmedien für diese Situation der Doppel- oder Dreifachbelastung der Ausdruck kaigo jigoku (»Pflegehölle«) geprägt, und kaigo tsukare (»Erschöpfung durch Pflege«) wurde Anfang der 1990er-Jahre vom Gesundheitsministerium als eigene Krankheit anerkannt. Doch gab es keine konkreten Lösungen, sodass viele, oft mit der Pflege überforderte, Familien begannen, ihre pflegebedürftigen Angehörigen in private Kliniken einzuliefern, zumal zu dieser Zeit die kostenfreie medizinische Versorgung von Menschen über 65 Jahre eingeführt wurde. Es entwickelte sich eine neue Sparte privater, auf alte Pflegebedürftige spezialisierter Kliniken, die umgangssprachlich »Altenklinik« (rōjin byōin) genannt wurden (vgl. Yūki 2011: 55ff.; Okamoto 1996: 70ff.). Von den 6700 Krankenhäusern in Japan waren Anfang der 1980erJahre ca. 1000 Kliniken auf alte Menschen spezialisiert (vgl. Yūki 2011: 56). Anders als im gängigen Verständnis eines Krankenhauses zielten diese Einrichtungen nicht auf die Heilung einer Krankheit, sondern auf die »Verwahrung« der alten Menschen. Die Pflegesituation in diesen »Kliniken« war häufig mehr als unbefriedigend, sodass die Zahl der Bettlägerigen enorm zunahm, was im internationalen Vergleich als ein großes soziales Problem Japans diskutiert wurde. Es begann eine Suche nach Lösungsansätzen für diese problematische Situation, zumal auch die Krankenkassen finanziell stark belastet wurden. Dabei wurde bewusst der Blick auf das Ausland gerichtet und Modelle verschiedener Länder auf ihre Anwendbarkeit in Japan überprüft und diskutiert. Das deutsche Modell diente schließlich als Vorlage, nach dessen Vorbild die japanische Pflegeversicherung konzipiert wurde. Bei den Anpassungen an die japanische Situation beschäftigte man sich besonders intensiv mit der Frage, ob man Pflegeleistungen von Familienangehörigen entlohnen sollte oder nicht. Anders als in Deutschland entschied man sich dagegen. Dies bedeutet, dass Ehe- bzw. Lebenspartner/innen oder Kinder, die einen Angehörigen pflegen, keine finanzielle Entschädigung erhalten. Ihre Situation hat sich insofern nicht direkt verändert, solange sie selbst die Pflege übernehmen. Nur, wenn sie Pflegedienste von außen engagieren, können diese von der Pflegeversicherung bezahlt werden. Diese politische Entscheidung kam durch eine Koalition zweier sehr unterschiedlicher Positionen: Die eine Seite begründete dies normativ, dass eine Geldzahlung die traditionelle Übernahme der Pflege

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durch Frauen festschreiben würde und deshalb abzulehnen sei, während die andere Position die Tugend der innerfamiliären Pflege aufrechterhalten wollte. Doch letztendlich war das Ergebnis beider Positionen, dass die Kontinuität der (kostenfreien) Pflege durch Angehörige nicht in Frage gestellt wurde. Nicht umsonst heißt daher im japanischen Kontext die häusliche Pflege kazoku kaigo, also »Familienpflege«, womit suggeriert wird, dass die Pflege durch die Angehörigen übernommen wird. Trotz dieser Einschränkung stellt die Einführung der Pflegeversicherung in Japan im Vergleich zur deutschen Situation einen wesentlich stärkeren Einschnitt dar, weil sie einen tiefgreifenden gesamtgesellschaftlichen Wandel markierte. Sie symbolisierte den Übergang von der als selbstverständlich erachteten, kostenneutralen häuslichen Pflege zu einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortungsübernahme für die Pflegeproblematik. Es wird so auch ein Umdenken markiert, nachdem die Pflege der alten Menschen keineswegs mehr eine rein familiäre Angelegenheit ist. Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass sich erst mit der Pflegeversicherung die Idee der Wohlfahrt in der Bevölkerung zu verbreiten begann. In diesem Sinne ist die Pflegeversicherung revolutionär und wurde auch so verstanden. Doch war die Einführung der Pflegeversicherung mit unzähligen Problemen verbunden. Denn ohne die in Deutschland bestehenden Wohlfahrtsverbände bestand die Frage, wer die Organisation der Pflegekasse übernehmen und die Dienstleistungen anbieten sollte. Die erste Frage wurde dadurch gelöst, dass man die finanzielle Verantwortung den Kommunen als Pflegekassen auferlegte. Man hoffte, dass die Kommunen in der Wohlfahrtsfrage eine neue Selbstständigkeit entwickeln würden. Zugleich setzte man darauf, dass privatwirtschaftliche und nicht-profitorientierte Initiativen entstehen würden, welche die Dienstleistungen übernehmen sollten. Die privatwirtschaftlichen Unternehmen expandieren seitdem und bieten ein immer größer werdendes Netzwerk von Pflege und Fürsorge. Zahlreiche nicht-profitorientierte Organisationen entstanden seit dieser Zeit, die weitestgehend ortsbezogen und institutionell klein sind. Immerhin sind die finanziellen Grundlagen dieser Organisationen durch die Pflegeversicherung gesichert. Doch sind die Probleme der Pflege dadurch keineswegs gelöst. Für Privatunternehmen sind Pflegeangebote in entlegenen Gegenden, in denen die pflegebedürftige alte Bevölkerung verstärkt lebt, wirtschaftlich unattraktiv. Es ist auch nicht einfach, die Pflegequalität zu garantieren. Zudem sind die meisten

2 Historische und soziokulturelle Hintergründe der Wohlfahr tsstaatlichkeit

nicht-profitorientierten Organisationen wie erwähnt so klein und örtlich begrenzt tätig, dass sie beständig um ihre Existenz kämpfen müssen und keinen Einfluss auf den politischen Diskurs haben. Insgesamt zeichnet sich die gegenwärtige Pflegesituation in der japanischen Gesellschaft dadurch aus, dass zwischen den ergriffenen sozialpolitischen Maßnahmen von Seiten der Politik und einzelnen Haushalten sowie Individuen große Lücken vorliegen. Man versucht, diese Lücken durch zahlreiche informelle Netzwerke zu überbrücken. Die neu entstandenen und entstehenden nicht-profitorientierten Organisationen sind die ersten Ansätze, mit denen eine gewisse Formalisierung und Institutionalisierung dieser Beziehungen vonstattengehen. Doch der Eindruck im Forschungsfeld ist eher, dass diese entstehenden Organisationen letztendlich doch in die breitere informelle Form der Beziehungen eingebunden werden. Insofern bleiben auf der institutionellen Ebene weiterhin die Lücken bestehen, die positiv ausgedrückt Spielräume für Experimente bieten. Eins davon ist die Einrichtung Yoriai, von der in Kapitel 4 näher die Rede sein wird.

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3 Neue Wissensformationen um Pflege und Fürsorge in der japanischen Gesellschaft Shingo Shimada

Im vorangegangenen Kapitel wurde darauf hingewiesen, dass die Einführung der Pflegeversicherung im japanischen Kontext eine weit tiefer greifende gesellschaftliche Veränderung bedeutete als in Deutschland. Damit einhergehend hat man den Eindruck, dass dort sozialstrukturelle Veränderungen wesentlich stärker wahrgenommen werden als in Deutschland. Die gegenwärtige japanische Gesellschaft ist durch einen Krisendiskurs gekennzeichnet. Wie Nils Dahl aufzeigt, wird in der laufenden gesellschaftspolitischen Debatte »das heutige Japan […] als ›Gesellschaft ohne soziale Beziehungen‹ (muen shakai)« (Dahl 2016: 45) charakterisiert. Suggeriert wird damit ein Verfall des herkömmlichen gesellschaftlichen Zusammenhalts, wodurch ein tiefgreifendes Krisenbewusstsein verbreitet wird. Diese Sichtweise erfordert neue Wissensformationen, die u.a. in neuen gesellschaftlichen Diskursen mit neu eingeführten Begrifflichkeiten zum Ausdruck kommen. Gefordert wird ein neuer gesellschaftlicher Zusammenhalt, was in der oben erwähnten Debatte sichtbar wird. Das althergebrachte Wissen mit dem traditionellen Konzept en (»Beziehung«) verliert mit dem Fortschreiten des gesellschaftlichen Wandels zunehmend an Relevanz und mit Konzepten wie kaigo und kea für Pflege werden neue Perspektiven für die Interpretation der jeweiligen Sachverhalte eingeführt1. Eine Analogie zur heutigen Situation könnte man zur Situa1 | Mit dem Ausdruck en werden in der genannten Debatte drei Formen von Beziehungen unterschieden: »›die en des Blutes‹ (ketsuen), womit verwandtschaftliche Beziehungen gemeint sind, zweitens die ›en des Ortes‹ (chien), also nachbarschaftliche Beziehungen, sowie drittens die ›en der Firma‹ (shaen), was heutzutage auf die Beziehungen des Arbeitsplatzes bezogen wird« (Dahl 2016: 45).

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tion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ziehen, in der sowohl im deutschsprachigen als auch japanischsprachigen Raum eine neue Wissensformation entstand. Die gesellschaftliche Krise wurde explizit erlebt und man suchte Antworten auf dringende soziale Fragen. In Deutschland entstand das Konzept der Sozialpolitik, durch welches der moderne Diskurs um Wohlfahrt eingeleitet wurde. In Japan versuchte man, dem Aufkommen der sozialen Probleme dadurch entgegenzutreten, dass man einerseits Ideen, Theorien und Institutionen aus Europa übernahm (vgl. Shimada 2007)2, andererseits mit einem kulturalistischen Selbstbild dieser »Verwestlichung« entgegentrat, womit der nationalstaatliche Zusammenhalt herauf beschworen wurde. Insofern gehört die Übernahme der Ideen und Institutionen aus Europa zur bewährten Methode zur Schaffung und Aufrechterhaltung des japanischen Nationalstaates. Während die japanische Gesellschaft heute erneut, wie oben erwähnt, in eine Krisensituation gerät, bedient sie sich verstärkt wieder dieser Methode der Übernahme. Gerade im Bereich des auf die Wohlfahrtspolitik bezogenen Wissens findet man verstärkt neu Ausdrücke, die aus dem westlichen Diskurs stammen. In diesem Kapitel wird aufgezeigt, wie in der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft mit Konzepten wie »Pflege« und »Demenz« eine neue Wissensformation generiert wurde und wird.

3.1 P flege Es ist auffällig, dass sich das heute verwendete japanische Wort für Pflege – kaigo – erst in jüngster Zeit in der Alltagssprache verbreitet hat und seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahre 2000 in den Massenmedien geradezu inflationär verwendet wird. Zugleich ist ein anderer neuer Ausdruck für Pflege sehr gebräuchlich geworden: kea, eine Entlehnung des englischen Wortes care. Diese beiden neuen Ausdrücke überlagern das ältere Wort kango, das für die Krankenpflege steht. Dieses neue Ge-

2 | Diese Ideen verbreiteten sich später in allen modernen Gesellschaften und das Modell des Wohlfahrtsstaates war letztendlich so erfolgreich, dass von vielen Staaten im Zuge der Modernisierung zumindest Teilaspekte übernommen wurden (vgl. beispielsweise zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in Ostasien: Kwon 1995; Jones 2000; Tang 2000; Izuhara 2003).

3 Neue Wissensformationen um Pflege und Fürsorge

flecht der Wörter ermöglicht eine neue Perspektive auf das Konzept der Pflege und eröffnet neue Möglichkeiten der Kommunikation über Pflege, die zuvor so nicht möglich gewesen wären. In diesem Punkt besteht ein deutlicher Unterschied zur deutschen Situation der Wohlfahrt. Denn das deutsche Wort Pflege kann bis auf die althochdeutsche Form phlegan (8. Jahrhundert) zurückverfolgt werden und hat sehr umfangreiche Konnotationen, sodass es sowohl in der Alltags- als auch in der Fachsprache verwendet werden kann. Sein Gebrauch ist insofern konstant, als es in den etablierten Institutionen der Wohlfahrt verwendet wird, wenn auch seine Bedeutung durch die Entwicklung der Palliativversorgung und Sensibilisierung für das Phänomen Demenz gerade in neuester Zeit bereichert wird. Doch insgesamt ist die Verwendungsweise dieses Wortes im Vergleich zur japanischen Situation konstant. Die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung war auch im deutschen Kontext eine Erneuerung, doch es wurden nicht das gesamte Wohlfahrtssystem und seine Wissensgrundlage erschüttert. Auch wenn das deutsche Wort Pflege im Kontext der Pflegeversicherung als lexikalisch äquivalent zum japanischen kaigo betrachtet wird, bestehen gesamtgesellschaftlich gesehen eindeutige Bedeutungsunterschiede. Obwohl das Wort kaigo erst in jüngerer Zeit Verbreitung fand, existiert es bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit wurden im Zuge der Modernisierung viele westliche Institutionen, Ideen, Konzepte und Theorien übernommen. Es begann ein gewaltiger Übersetzungsprozess, in dem Texte unterschiedlichster Art – von der Gebrauchsanleitung bis zur metaphysischen Abhandlung – in die japanische Sprache übertragen wurden. Und dies geschah hauptsächlich dadurch, dass man neuen Ideen entweder schon vorhandene chinesische Schriftzeichen zuordnete oder neue Kombinationen der Schriftzeichen erfand (vgl. Shimada 2007). In diesem Prozess, in dem die Schlüsselbegriffe der Moderne, wie Gesellschaft, Individuum, Staat oder auch Religion, ins Japanische übersetzt wurden, entstand auch das Wort kaigo. Kaigo wurde 1892 in der amtlichen Mitteilung Nr. 96 des Heeresministeriums im Zusammenhang mit der Invalidenrente verwendet (vgl. Ōkurashō Insatsukyoku 1979: 329). In dieser Bekanntmachung wurde mitgeteilt, dass diejenigen Invalidenrentenbezieher, die eine alltägliche Pflege benötigten, eine höhere Rente erhalten sollten. Für Pflege wurde hier zum ersten Mal das Wort kaigo verwendet. Diese Invalidenrente ist eine der ersten wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen in Japan, und es ist be-

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merkenswert, dass in diesem Kontext gerade das Wort Pflege – kaigo – verwendet wurde. Hier wird sichtbar, dass der neu entstandene japanische Staat seine Fürsorgepflicht gegenüber seinen direkt untergebenen Soldaten anerkannte. Insofern wurde die Idee der Wohlfahrt in dieser Frühphase der Modernisierung Japans durchaus erfolgreich aus dem Westen übernommen und in die Praxis umgesetzt. Es ist an dieser Stelle auch zu vermuten, dass die Idee der Invalidenrente direkt nach deutschem Vorbild eingeführt wurde, da man ab dem Jahr 1885 mit der Berufung des preußischen Majors Klemens W.J. Meckel als Militärberater für das japanische Heer begann, das preußische Militärwesen zu übernehmen. Doch entwickelte sich – anders als in Deutschland – aus diesem ersten Ansatz kein wohlfahrtsstaatliches System, und die Fürsorgefunktionen wurden weitestgehend auf die privaten Haushalte (ie) übertragen, wie bereits im letzten Kapitel dargelegt wurde. Diesem Umstand entsprechend, verschwand der Ausdruck kaigo nach dieser Zeit beinahe vollkommen aus dem gesellschaftlichen Diskurs. Im Gegensatz dazu wurde der Begriff für Krankenpflege nursing care mit dem übersetzten Wort kango wesentlich breiter und intensiver verwendet und institutionalisiert. Dies geschah, als im Rahmen der Übernahme der westlichen Medizin ein neues medizinisches Versorgungssystem aufgebaut wurde. 1884 entstand im Jiei-Krankenhaus in Tokyo eine Institution zur Ausbildung von Krankenschwestern (Jiei Byōin Kangofu Kyōikusho), und 1886 wurde eine Schule für Krankenschwestern (Kangofu Gakkō) an der Dōshisha-Universität in Kyoto errichtet. Allgemein jedoch war das Ansehen der Personen, welche die Kranken pflegten, in den neu entstandenen Kliniken zunächst nicht besonders hoch. Erst die Einführung der professionellen Krankenpflege differenzierte mit dem Wort kango das Tätigkeitsfeld. In den 1880er-Jahren entstanden weitere Ausbildungsinstitutionen für Krankenschwestern und dadurch etablierte sich der Ausdruck kango (vgl. Takahashi 2004: 25)3. Vor allem die Bedeutung der professionellen Krankenpflege wurde durch die Etablierung des Berufsbildes kangofu (Krankenschwester) geläufig. Die Berufsbezeichnung kangofu für 3 | In einem englisch-japanischen Wörterbuch aus dem Jahre 1862 steht für das Wort nurse u.a. kanbyō nin. Offensichtlich ist zu diesem Zeitpunkt das Wort kango noch nicht verbreitet, während in der dritten Auflage aus dem Jahre 1886 des englisch-japanischen Wörterbuchs von J.C. Hepburn das Wort kango auftaucht (vgl. Shinmura 2012: 178f.).

3 Neue Wissensformationen um Pflege und Fürsorge

Krankenschwester verbreitete sich mit diesen Institutionen schnell. Die Krankenschwester repräsentierte die moderne Medizin und eine neue berufliche Rolle für Frauen (vgl. Tsuda 2001). Die Vorbilder für die neue berufliche Tätigkeit der Krankenschwester fanden sich in den englischen und amerikanischen Medizinsystemen. Vor allem taucht der Name Florence Nightingale als Begründerin des modernen Berufsbildes der Krankenschwester im japanischen Kontext bis heute immer wieder auf. Ihre Notes on Nursing; What it is and What it is Not (1859) wurden teilweise ins Japanische übersetzt, im Jahre 1895 als Futsū-kangogaku (»Einführung in die allgemeine Krankenpflege«) veröffentlicht und blieben für lange Zeit recht einflussreich. Denn Nightingale gehörte zu den westlichen Persönlichkeiten, durch deren Biografien in japanischen Schulbüchern den Schülerinnen und Schülern musterhaft der moderne Lebenslauf vermittelt wurde (vgl. Shimada 2007: 93ff.). Darüber hinaus übernahmen zu Beginn der Institutionalisierung dieses Berufes Lehrende aus dem englischsprachigen Raum wie M.E. Read und L. Richards die Ausbildung. Während die Medizinausbildung in der Folgezeit immer stärker vom deutschen Medizinsystem geprägt wurde, scheint der Bereich der Krankenpflege weiterhin der englischen und amerikanischen Tradition verpflichtet gewesen zu sein.  Wichtig in diesem Prozess ist, dass die Ausbildung zur Krankenschwester auch den Habitus der humanitären Hilfsbereitschaft einer selbstständigen Person beinhaltete, der ein gesellschaftliches Konfliktpotenzial in sich trug. Zum einen war dieses Verständnis sowohl historisch als auch institutionell von der christlichen Vorstellung der Nächstenliebe geprägt, was dem damaligen Verständnis des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Japan widersprach. Denn nach dem Selbstverständnis der damaligen Zeit war es vollkommen undenkbar, jeder Hilfsbedürftigen und jedem Hilfsbedürftigen unabhängig von ihrer/seiner sozialen Herkunft Fürsorge anzubieten. Die wenigen Fürsorgeinstitutionen waren ständisch organisiert. Und es war undenkbar, dass eine junge Frau des ehemaligen bushi (Krieger)-Standes – viele junge Frauen dieses Standes ergriffen diese Möglichkeit des Berufseinstiegs – eine kranke Person eines niedrigeren Standes der Bauern, Handwerker und Händler pflegte. Auch wich dieses Verständnis von dem damals verbreiteten Bild der Frau in der japanischen Gesellschaft ab. Denn es existierte bis dahin keine berufliche Vorstellung für Frauen in der Öffentlichkeit – außer dem Beruf der Prostituierten. Zwar war es im Bauern- und Händlerstand

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durchaus möglich, dass Frauen bestimmte Arbeiten übernahmen, jedoch weitestgehend im privaten Kontext. Daher war das Berufsbild der Krankenschwester revolutionär, was dazu führte, dass es die ersten voll ausgebildeten Krankenschwestern im Berufsalltag nicht leicht hatten. Doch letztendlich blieb dieses Berufsbild gesamtgesellschaftlich gesehen eine Ausnahme, und die geschlechtliche Arbeitsteilung wurde nicht in Frage gestellt. Stattdessen wurde die Norm des bushi-Standes, nach welcher der Mann für den öffentlichen und die Frau für den privaten Bereich zuständig war, zur allgemeinen Grundlage der neuen Gesellschaft erhoben, zumal sich dies mit dem modernen bürgerlichen Familienideal sehr gut kombinieren ließ. Trotzdem bleibt dieses Berufsbild für unser Thema wichtig, weil sich damit die Bezeichnung für Krankenpflege mit dem Wort kango etablieren konnte. Diese Entstehungsgeschichte des Wortes veranschaulicht den beruflichen Genderaspekt im Bereich der Pflege. Durch die Zuteilung dieses Berufes zum weiblichen Geschlecht wurde die genderbezogene hierarchische Machtbeziehung festgeschrieben und fortgeführt. Dagegen scheint das Wort kaigo für Pflege von der Oberfläche des gesellschaftlichen Bewusstseins verschwunden zu sein. Dieser Umstand änderte sich erst drastisch durch den demografischen Wandel und die Veränderung der Geschlechterrollen. Mitte der 1980er-Jahre begannen die politischen und wissenschaftlichen Diskussionen um die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Übernahme der Pflege in der japanischen Gesellschaft4. Wegen der veränderten Altersstrukturen wurde etwa ab dieser Zeit unter dem Wort kaigo vornehmlich die Altenpflege verstanden. 1987 trat das Gesetz zur Sozial- und Wohlfahrtsarbeit sowie zur Pflege- und Wohlfahrtsarbeit (Shakai Fukushishi oyobi Kaigo Fukushihō) in Kraft, womit die Professionalisierung von Sozialarbeit und Pflege begann. In diesem Prozess hatte Deutschland von Anfang an eine wichtige Vorbildfunktion, sodass die Entwicklung der Pflegeversicherung in Deutschland sowohl von Sozialwissenschaftlern als auch von Politikern sehr aufmerk4 | Shinmura Taku weist darauf hin, dass das Wort kaigo zum ersten Mal im Jahre 1962 im Rahmen der Kommission zur Errichtung eines Wohlfahrtsgesetzes für alte Menschen (rōjin fukushihō) im offiziellen Sprachgebrauch auftauchte. Doch sei auch hier keine ausreichende Diskussion zur Unterscheidung zwischen kango und kaigo erfolgt (vgl. Shinmura 2012: 167). Offensichtlich ist hier, dass dieses Wort zu diesem Zeitpunkt nur von Fachleuten verwendet wurde.

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sam verfolgt wurde. Den ersten expliziten Hinweis auf die deutsche Diskussion enthält der Aufsatz des Sozialwissenschaftlers Kose Tōru, aus dem Jahr 1985 (vgl. Kose 1985). Bereits zu dieser Zeit scheint sich das Wort kaigo in Fachkreisen als Übersetzung für den Begriff Pflege etabliert zu haben. Laut Ōkuma Yukiko trat das Wort jedoch erst eindeutig in Erscheinung, als von der japanischen Regierung die Kommission zu Pflegemaßnahmen (Kaigo Taisaku Kentōkai) im Jahre 1989 einberufen wurde (vgl. Ōkuma 2008: 10). Bereits hier ist ein Spezifikum des Übersetzungsprozesses sichtbar: Die Bedeutung des ursprünglichen Begriffs wird verengt. Während das deutsche Wort Pflege mit seiner kulturgeschichtlichen Verankerung in der Originalsprache eine sehr breite Bedeutung besitzt, bezeichnet der übersetzte Begriff kaigo den weit engeren sozialen Bereich der »Altenpflege« mit einer rechtlich-bürokratischen Konnotation. Dies wird mit der Einführung der Pflegeversicherung noch verstärkt, die in Japan im Gegensatz zum deutschen Modell eindeutig eine Altenpflegeversicherung darstellt (vgl. Shimada/Tagsold 2006: 106-110). Auch dadurch, dass sich dieses Wort im Zusammenhang mit der gesetzlichen Pflegeversicherung verbreitete und etablierte, ist es wesentlich stärker mit dem institutionalisierten Pflegebereich verbunden, wie auch die neue Berufsbezeichnung kaigoshi für Altenpfleger und -pflegerinnen oder die gesetzliche Definition der Pflegebedürftigkeit yōkaigo zeigen. Die Soziologin Ueno Chizuko weist mit Recht darauf hin, dass die Pflegebedürftigen erst mit dieser offiziellen Bezeichnung »erfunden« wurden (Ueno 2011: 35). Damit ist der Umstand gemeint, dass erst diese Bezeichnung eine eindeutige Grenzziehung zwischen Pflegebedürftigen und anderen ermöglichte. Auf diese Weise entstand eine neue Wissensformation, die angefangen mit der Auseinandersetzung mit dem deutschen Modell der Pflegeversicherung allmählich um politische, juristische und wissenschaftliche Diskurse erweitert und schließlich mit der Einführung der Pflegeversicherung institutionalisiert wurde. Dazu gehört auch die Etablierung des Ausbildungssystems für Altenpfleger/innen im Fach Soziale Wohlfahrt (Shakai Fukushi Gakka) an zahlreichen Universitäten, ebenfalls ab den 1980er-Jahren, als durch den demografischen Wandel sichtbar wurde, dass die japanische Gesellschaft neue Formen der Fürsorge braucht. Dieses Fach repräsentiert daher die neue Wissensformation im Bereich der Altenpflege und antwortet auf die neuen gesellschaftlichen Anforderungen. 

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Doch nach der Einführung der Pflegeversicherung im Jahre 2000 war die Bedeutung des Wortes kaigo allzu stark mit dieser Institution verbunden. Wenn man kaigo verwendete, konnte man nur einen sehr engen Bereich der institutionalisierten Form der Pflege zum Ausdruck bringen. Das Wort kaigo konnte – neben kango für Krankenpflege, kaijo für Behindertenbetreuung und ikuji für Kindererziehung – nur den Bereich der Altenpflege abdecken (vgl. Ueno 2011: 37). Zusammenhängend mit der oben genannten semantischen Begriffsverengung fehlte nun ein Ausdruck, der die Fürsorge für eine Person im Allgemeinen bezeichnete, alle Lebensabschnitte von der Geburt bis zum Tod umfasste und auch die emotionale Seite miteinschloss. Somit wurde ein Oberbegriff notwendig. Offensichtlich war in der japanischen Sprache diese Ausdruckmöglichkeit begrenzt, sodass man begann, den englischen Ausdruck care als das japanisierte Fremdwort kea zu verwenden. Nach Ueno ist dies ursprünglich auf die Übersetzung des Werkes des amerikanischen Philosophen Milton Mayeroff On Caring aus dem Jahr 1971 zurückzuführen, dessen Übersetzung im Jahr 1987 auf Japanisch als Kea no honshitsu. Ikirukoto no imi (»Das Wesen der Fürsorge. Die Bedeutung des Lebens«) veröffentlicht wurde und sich erst sehr allmählich in den 2000er-Jahren verbreitete. Bemerkenswert ist, dass in diesem Werk gerade die Altenpflege nicht thematisiert wird. Es geht hier um die allgemeinen Dispositionen des Lebens, dass niemand ohne Unterstützung der anderen leben kann, was im englischen Wort caring zum Ausdruck gebracht wird. Sicherlich ist es diese allgemeine Bedeutung, die das Wort für die japanische Situation so attraktiv machte.  Hier wird der hybride Charakter dieser Wissensformation um care/ Pflege sichtbar. Nicht nur, dass auf der Ebene der Praxis das deutsche Modell der Pflegeversicherung ins Japanische übersetzt wurde, sondern auch auf der wissenschaftlichen Ebene findet ständig eine Übernahme statt, die den Diskurs zutiefst prägt. Wir können hier einen Prozess nachvollziehen, in dem für ein Phänomen, für das es zuvor im Japanischen keine Bezeichnung gab, durch Entlehnung von Begriffen aus anderen Sprachen eine neue Betrachtungsweise entwickelt wird. Es ist natürlich nicht so, dass es das soziale Phänomen der care/Pflege zuvor nicht gegeben hätte. Doch wurde dieser Bereich bis dahin weitestgehend nicht explizit thematisiert. Waren es zuvor unzählige Frauen in privaten Haushalten, die im Rahmen ihrer Hausarbeit auch die Pflege der (Schwieger-)Eltern stillschweigend übernommen hatten, kam mit dem demografischen Wandel

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die Frage »Wer pflegt?« auf. Diese auf den ersten Blick alltägliche Frage erweist sich bei näherem Hinsehen als revolutionär. Denn sie fordert ein tiefgreifendes Umdenken in Bezug auf die familiären Verhältnisse, wofür neue Begriffe notwendig wurden. Die unterschiedliche Bedeutung der Ausdrücke kaigo und kea wird beispielsweise am Buch Kaigo Raifu Sutairu no Shakaigaku (»Soziologie des pflegerischen Lebensstils«) ersichtlich, in dem Perspektiven von Altenpflegerinnen und -pflegern (ob professionell oder privat) herausgearbeitet werden (vgl. Kasugai 2004). Die Bedeutung des Wortes kaigo ist hier relativ eng. Es werden ausschließlich Personen thematisiert, welche die Pflege von pflegebedürftigen alten Menschen übernehmen. Auf der anderen Seite sind die Inhalte der Bücher, die das Wort kea im Titel tragen, wesentlich breiter und allgemeiner. Es wird auch ersichtlich, dass sich Arbeiten, die sich mit ethischen Aspekten der Pflege befassen, eher des Ausdrucks kea bedienen. Hierbei wird in der Regel wiederum auf die amerikanische Diskussion der care ethics verwiesen und auf Carol Gilligans In a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development (1982). Ueno weist in ihren Ausführungen zur japanischen Verwendung des Wortes care auch darauf hin, dass für die Verbreitung des Begriffs die Vorstellung der Gilliganschen Perspektive durch den japanischen Philosophen Kawamoto Takashi ausschlaggebend war (vgl. Ueno 2011: 49; Kawamoto 1995).  Hier zeigt sich, dass parallel zur Problematisierung der Pflege in der japanischen Gesellschaft auch ethische Fragen offenkundig wurden, was ebenfalls als ein Ausdruck des Aufkommens einer neuen Wissensformation interpretiert werden kann. Während die Ethik im Kontext der japanischen Gesellschaft für lange Zeit nichts anderes als eine rein philosophische Teildisziplin an den Universitäten darstellte, scheint sie nun angesichts der neueren gesellschaftlichen, technologischen und wissenschaftlichen Entwicklungen auch für den allgemein gesellschaftlichen Kontext relevant zu werden. Dieses neu erwachte Interesse an der Biooder Wirtschaftsethik seit den 1990er-Jahren ist wiederum ohne äußere Einflüsse nicht denkbar, wenn es auch gesellschaftlichen Bedürfnissen entspringt, die durch den sozialen Wandel hervorgerufen wurden. Die Verunsicherungen, die beispielsweise durch neue medizin- und gentechnologische Entwicklungen entstehen, berühren grundlegende Vorstellungen von Leben und Tod und erfordern eine theoretische Reflexion. Ansätze zur Beantwortung dieser Fragen werden am ehesten im Bereich

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der angewandten Ethik gesucht und gefunden, sodass das Konzept der Ethik – wiederum aus dem westlichen Kontext in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts übersetzt – an Relevanz gewinnt (vgl. Koyasu 2000; sowie Kap. 5).  Die oben geschilderte Veränderung in der Wissensformation der gegenwärtigen Gesellschaft steht für den grundlegenden Wertewandel, den diese Gesellschaft zurzeit durchläuft. Die herkömmliche Vorstellung, dass alle Fürsorgefunktionen innerhalb der privaten Haushalte bewältigt werden sollten, ist vor dem Hintergrund des demografischen Wandels offensichtlich nicht mehr haltbar. Die Fürsorgefunktionen mussten mit der Zeit sozialisiert werden, wofür neue sprachliche Ausdrücke notwendig wurden.  Eine andere Bezeichnung, die ebenso gut den sozialen Wandel veranschaulichen kann, ist der Begriff »Demenz«. Hier ist der semantische Inhalt dieser Bezeichnung möglicherweise noch komplizierter. Denn hier geht es nicht nur um eine Veränderung von Bezeichnungen durch eine Zunahme an Fällen, sondern auch um eine qualitative Veränderung der Betrachtungsweise. Wurde zuvor eine Schwächung des körperlichen und geistigen Zustandes durch das zunehmende Alter als eine mögliche Begleiterscheinung des Alterns betrachtet, kam nun ein verstärkt medizinischer Blick auf diese Veränderung hinzu. Eine Medikalisierung, die zwar mehr oder weniger viele Bereiche des modernen Lebens betrifft, doch hier besonders auffällig auftritt. Dieser Prozess wird im Folgenden anhand von drei Romanen aus unterschiedlichen Zeitabschnitten nachgezeichnet.

3.2 D emenz Gleich ob in Japan oder in Deutschland, eine Schwierigkeit im Umgang mit dem Phänomen der Demenz liegt darin, dass seine Erscheinungsformen in einen Zwischenbereich von mehr oder weniger normalen Alterungserscheinungen und eindeutig definierbaren medizinischen Symptomen fallen. Die Bestimmung eines alternden Menschen als demenziell erkrankt ist oft zweischneidig. Der Verlust bestimmter kognitiver Fähigkeiten und Gedächtnisleistungen gehört zum normalen Alterungsprozess und es ist in der Regel schwer erkennbar, wann und wie genau dieser Prozess pathologisch wird. Dieser Umstand bewirkt – zusammen mit der

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gesellschaftlich zunehmend verbreiteten Erkenntnis, dass mit zunehmendem Alter die Gefahr steigt, dement zu werden –, dass die Vorstellung des eigenen Alterns mit Ängsten vor dem Verlust der Selbstständigkeit und Identität begleitet wird (vgl. dazu Kap. 5). Auf der anderen Seite kann aber auch die eindeutige Benennung der Symptome als Krankheit für einen Betroffenen erleichternd wirken, weil dadurch der Zustand der Ungewissheit beendet und konkrete therapeutische Maßnahmen ergriffen werden können. Insofern spielen die Bezeichnung und das damit verbundene Wissen eine entscheidende Rolle im Alltagsleben der Betroffenen.  Das schulmedizinische Wissenssystem bietet die dominierende Perspektive, die im Laufe der Zeit immer stärker die Ebene der Alltagssprache beeinflusst hat. Gesellschaftlich prägt heute die medizinische Definition der Altersdemenz als Krankheit die allgemeine Vorstellung von ihr. In Japan ist die Thematisierung des Phänomens Demenz etwa ab den 1970erJahren deutlich bemerkbar. Eine verstärkte Aufmerksamkeit für Altersdemenz ist in Deutschland im Vergleich zu Japan erst später, etwa ab den 1990er-Jahren, entstanden. Somit hat die Sensibilität für dieses Thema in Japan wesentlich früher als in Deutschland eingesetzt. Möglicherweise hängt dies mit der krisenhaften Situation vieler Familien zusammen, die verstärkt mit dem Problem der Pflege von dementen Personen konfrontiert waren (siehe unten). Hinter der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Demenz steht ein historischer Prozess, durch den eine neue Kategorisierung stattfand. Sicherlich ist die erste Beschreibung der Auguste D. durch Alois Alzheimer im Jahre 1901 eine wichtige Markierung in dieser Geschichte. Diese Beschreibung wurde daraufhin von dem prominenten Lehrer von Alzheimer, Emil Kraepelin, aufgenommen und als eine neu entdeckte Krankheit bekannt gemacht. Daniel Schäfer spricht davon, dass die »Einführung des Eponyms Alzheimer-Krankheit mit guten Argumenten als ›Erfindung‹ Emil Kraepelins angesehen werden« könne (Schäfer 2009: 106). Damit begann die medizinische Institutionalisierung der Altersdemenz als Krankheit und die Entstehung des Faches Gerontopsychiatrie. Doch blieb die Bezeichnung Demenz gesamtgesellschaftlich gesehen lange Zeit außerhalb der wichtigen medizinischen Diskursfelder. Erst mit dem demografischen Wandel wurde man mit gehäuften Fällen der Altersdemenz konfrontiert, was allmählich zu einer allgemeinen Problematisierung dieses Phänomens führte. Auch hier wandeln sich die Bezeichnungen der Fälle.

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Im Fall Japans lässt sich der Wandel der Wissensformation um dieses Phänomen besonders gut aufzeigen. Ähnlich wie der Ausdruck für Pflege und Krankenpflege stellen alle Krankheitsbezeichnungen für Demenz in der japanischen Sprache Übersetzungen aus europäischen Sprachen dar. Mit der Übernahme des medizinischen Systems aus Europa und den USA wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Psychiatrie und das psychiatrische Wissenssystem in Japan eingeführt. Der Wandel der Wissensformation zeigt sich in Japan besonders deutlich in den Bezeichnungen für Personen, die durch das Altern bestimmte Defizitmerkmale zu zeigen beginnen. Alltagssprachlich gebraucht man in der japanischen Sprache das Wort boke zur Beschreibung dieses Umstandes. Dieser seit langer Zeit verwendete Begriff aus der Alltagssprache bezeichnet einen mentalen Zustand, in dem man nicht die übliche Geistesgegenwart zeigt. Beispielsweise kann man den Zustand direkt nach dem Aufwachen, wenn man noch nicht ganz bei sich ist, als ne-boke (Schlaf-boke) bezeichnen. Oder wenn man nach einem interkontinentalen Flug mit der Zeitdifferenz in den ersten Tagen nicht zurechtkommt, spricht man von jisa-boke (Zeitdifferenz-boke). Diese Verwendungsbeispiele zeigen eher leichte und vorübergehende Erscheinungen, aber boke kann durchaus auch für schwere Demenzfälle verwendet werden. Denn insgesamt ist dieses traditionelle Wort von seinem semantischen Gehalt her sehr breit und kann in der Alltagssprache unterschiedlich verwendet werden. Daher ist es möglich, diesen Ausdruck auch positiv oder humoristisch zu benutzen. Aus diesem Grund verwendet die von uns besuchte Demenzpflegeeinrichtung Yoriai grundsätzlich und intentional dieses Wort im Gegensatz zur offiziellen Bezeichnung ninchishō (Demenz) – weil es dem alltäglich-mündlichen Sprachgefühl der Nutzer/innen der Einrichtung entspricht und sie nicht mit der negativen Konnotation der Krankheit stigmatisiert. Dadurch soll im Yoriai auch zum Ausdruck gebracht werden, dass jeder boke werden kann und darf 5. Die bewusste Verwendung von boke soll somit einer Pathologisierung durch den Demenzbegriff entgegenwirken. Sicherlich kann auch boke mit einer negativen Konnotation verwendet werden. John W. Traphagan verweist darauf, dass es in der Eigenverant5 | So trägt eine Veröffentlichung des Leiters der Einrichtung Yoriai, Murase Takao, den hierfür bezeichnenden Buchtitel Boketemo iiyo (Du darfst boke werden) (2006).

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wortung des Individuums liege, sozial integriert zu bleiben und sich geistig und körperlich zu betätigen, um einen Zustand von boke zu vermeiden. Das Individuum hat demnach eine gewisse Kontrolle darüber, boke zu werden oder nicht. Es kann auch als das eigene Verschulden gesehen werden, wenn man boke wird, weil man dieser Verpflichtung, die man auch der Familie und Gemeinschaft gegenüber hat, nicht nachgekommen ist (vgl. Traphagan 2002: 64ff.). Ein anderes traditionelles Wort für den Verlust von kognitiven Fähigkeiten durch das Alter ist mōroku. Es kann mit boke synonym benutzt werden, doch der Unterschied liegt in der speziellen Altersbezogenheit dieses Wortes. Denn mō bedeutet wörtlich übersetzt »neunzigjährig« – also der Zustand einer/s Neunzigjährigen –, während das Wort boke altersunabhängig benutzt werden kann. Festzuhalten ist hierbei, dass diese beiden Bezeichnungen vom historischen Zusammenhang her keine vordergründig medizinischen Konnotationen besitzen. Sie stehen für eine mehr oder weniger schicksalhafte Begleiterscheinung des Alter(n)s, und diese stellte lange Zeit kein Problem dar, weil sie von der demografischen Konstellation her eher die Ausnahme als die Regel darstellte. Erst der allmähliche demografische Wandel verschärfte dieses Phänomen, wodurch das medizinische Wissen Einzug in die öffentliche Diskussion erhielt. In den 1980er-Jahren setzte sich daher die medizinische Bezeichnung chihōshō (»Idiotie«) als direkte Übersetzung des Wortes Demenz/dementia durch, bis es 2004 durch die neuere Bezeichnung ninchishō (»Kognitionssymptom«) ersetzt wurde, um einer Stigmatisierung von demenziell erkrankten Menschen entgegenzuwirken. Dieser historische Verlauf lässt sich anhand dreier Romane veranschaulichen, die allesamt eine große gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zogen6. Sie zeigen die jeweils verbreitete und übliche Sprachregelung der Zeit auf und damit zugleich, welches Wissen als selbstverständlich vorausgesetzt wurde und was zu dem jeweiligen Zeitpunkt neu war.  Das erste Beispiel ist der 1972 veröffentlichte Roman Kōkotsu no hito (»Der Mann in Ekstase«) von der Schriftstellerin Ariyoshi Sawako. Der Roman ist auch deshalb für diese Untersuchung besonders geeignet, weil er gleich nach seinem Erscheinen zu einem Bestseller avancierte und heute mit 55 Auflagen zu den Klassikern der Literatur über das Alter in Japan gezählt wird. Anhand dieses Romans lässt sich eindeutig feststel6 | Alle drei Romane wurden gleich nach ihrem Erscheinen verfilmt.

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len, dass in der japanischen Gesellschaft in den 1970er-Jahren die Altersdemenz zu einem wichtigen Thema erhoben wurde 7.  Die Ausgangskonstellation des Romans ist eine für diese Zeit typische Mittelschichtsfamilie in Tokyo. Der Ehemann, ca. 50 Jahre alt, ist Angestellter eines größeren Unternehmens. Seine Frau ist ein paar Jahre jünger als er und arbeitet als Schreibkraft in einer Anwaltskanzlei, was für die damalige Familienvorstellung etwas ungewöhnlich ist. Der Sohn ist ca. 17 Jahre alt und bereitet sich auf die Universitätsaufnahmeprüfung vor. Während sie in einem zweistöckigen modernen Haus wohnen, gibt es auf demselben Grundstück ein zweites kleineres Haus, in dem die Eltern des Mannes leben. Gleich zu Beginn des Romans stirbt plötzlich die Großmutter, und die Familienmitglieder bemerken die geistigen Veränderungen des Großvaters. Das Wort boke wird zum ersten Mal verwendet, als die jüngere Schwester des Ehemannes zur Vorbereitung der Beerdigung eintrifft und ihr die Ereignisse der letzten Tage erzählt werden: »Bruder, seit wann ist denn Vater so?« »Das wissen wir nicht genau. Am Anfang dachten wir, es sei vorübergehend, wegen des Schocks durch den Tod von Mutter. Aber es ist offensichtlich nicht so.« »Ist er jetzt endgültig verwirrt (boke)?« »Offensichtlich.« (Ariyoshi 1972: 64)

Einige Seiten später verwendet die Autorin in der Beschreibung der Perspektive der pflegenden Schwiegertochter das oben genannte Wort mōroku. Sie macht sich in dieser Szene Gedanken darüber, wie das Leben nach dem Tod der Schwiegermutter weitergehen soll und kommt zu der Einsicht, dass man den Schwiegervater nicht weiter allein in dem kleinen Haus lassen könne, weil er nun endgültig verwirrt (mōroku) sei. Hier ist die Verwendung dieses Wortes schriftsprachlich und verstärkt den Eindruck des endgültigen Zustandes im Gegensatz zur alltagssprachlichen Bezeichnung boke (vgl. Ariyoshi 1972: 125). Auffällig ist in dieser Passage, dass die Frage, wer die Pflege übernehmen soll, überhaupt nicht gestellt wird. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Selbstverständlichkeit dieser Zeit, dass die Schwiegertochter diese Aufgabe übernimmt. 7 | Das Buch verkaufte sich innerhalb des Erscheinungsjahres fast 2 Millionen mal und wurde wie bereits erwähnt im folgenden Jahr verfilmt, was auch zu einem großen kommerziellen Erfolg führte.

3 Neue Wissensformationen um Pflege und Fürsorge

Schließlich geht der Ehemann zu einem Arzt, nachdem seine Frau ihm im Hinblick auf die nächtliche Pflege des Schwiegervaters vorgeworfen hatte, dass er nichts tue. Der Arzt verwendet die Bezeichnung rōjinsei chihō (altersbedingte Idiotie/Altersdemenz): »Das ist altersbedingte Idiotie (rōjinsei chihō). […] Das ist so etwas wie eine altersmäßige Depression, aber es ist wohl besser, sie nicht als Krankheit zu bezeichnen, wenn der Patient nicht gewalttätig ist. Das ist nichts anderes, als eine Zivilisationskrankheit wie Karies.« (Ariyoshi 1972: 257) Der Ehemann erläutert seiner Frau diese neuen medizinischen Erkenntnisse, die er von dem Arzt übernimmt. Durch die Erklärungen wird sichtbar, dass die medizinische Bezeichnung »Altersdemenz« zu diesem Zeitpunkt in der Alltagssprache kaum bekannt war (vgl. Ariyoshi 1972: 259f.). Daraufhin wendet sich die Ehefrau an Fachpersonal der Stadtverwaltung und bittet um Beratung zur Pflege ihres Schwiegervaters. Sie wird aufgeklärt, dass die Altersdemenz (rōjinsei chihō) zu den altersbedingten Geisteskrankheiten gehöre und daher ihr Schwiegervater letztendlich nur von einer Psychiatrie stationär aufgenommen werden könne (vgl. Ariyoshi 1972: 313). Dieser Hinweis ist insofern wichtig, als dass in der japanischen Gesellschaft bis heute die Tendenz vorherrscht, dement werdende alte Menschen in die Psychiatrie einzuweisen (vgl. Kap. 4.3). Aber ebenso typisch ist die Einstellung des Beraters zur häuslichen Pflege:

»Ich verstehe Ihre Situation schon, aber es ist aus der Perspektive der alten Menschen am besten, wenn sie ihren Lebensabend in der Familie zusammen mit jüngeren Menschen verbringen. Ich verstehe schon, dass Sie beruflich tätig sind, aber es geht nicht anders, es muss sich jemand opfern, wenn ein alter Mensch pflegebedürftig wird.« (Ariyoshi 1972: 307)

Wie bereits im letzten Kapitel dargelegt, hat sich die japanische Wohlfahrtspolitik stets auf diese Bereitschaft der pflegenden Frauen verlassen, und dieser Roman zeigte zukunftsweisend die Grenzen dieser Erwartung. So lässt die Autorin ihre Protagonistin die damalige gesellschaftliche Situation reflektieren: »Er war also geisteskrank […]. Zwar kam der Fachmann von der Wohlfahrtsabteilung sofort zur Beratung, aber er gab mir keinen einzigen hoffnungsvollen oder konstruktiven Rat. Was ich verstanden habe, war nur, dass die japanische Alters-

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wohlfahrt hinterherhinkt und dass noch keine Maßnahmen gegenüber der Alterung der Gesamtbevölkerung ergriffen wurden.« (Ariyoshi 1972: 314)

An dieser Stelle wird die Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Erwartung (dass sich jemand opfert) und der subjektiven Perspektive der Pflegenden sichtbar. Doch die Protagonistin des Romans pflegt trotz allerlei Widerständen ihren Schwiegervater weiter, bis er nach ca. einem halben Jahr auf natürliche Weise stirbt. Der Roman zeigt anschaulich zum einen das Selbstverständnis, dass eine Schweigertochter ihren Schwiegervater pflegt, zum anderen die Sprachregelungen, durch welche neue Konzepte gerade in dieser Zeit in die Gesellschaft eingeführt wurden. Die Verwendung der neuen Bezeichnungen für demente alte Personen sehen wir in dem 1995 erschienenen, preisgekrönten Roman Kōraku (»Goldene Blätter«) von Sae Shūichi. Hier ist die Ausgangslage etwas anders als im obigen Roman. Die beiden Protagonisten, ein 59-jähriger Schriftsteller und seine Ehefrau, leben in der Umgebung von Tokyo. In ihrer Nähe wohnen auch seine Eltern, der Vater 94 und die Mutter 88 Jahre alt. Nach einem Sturz wird die 88-jährige Mutter pflegebedürftig, sodass hauptsächlich die Ehefrau, teilweise mit der Hilfe des Schriftstellers selbst die Pflege übernimmt. Als die Mutter nach einer fünftägigen Kurzzeitpflege – diese institutionelle Möglichkeit der Pflege gab es zur Zeit des oben besprochenen Romans von 1972 noch nicht – abgeholt wird, hält sie ihren Sohn für ihren jüngeren Bruder. In der Unterhaltung am selben Abend mit seiner Frau über diese Abhol-Szene spricht der Protagonist in direkter Rede davon, dass seine Mutter nun verwirrt (boke) sei, weil sie ihn mit ihrem Bruder verwechsle (vgl. Sae 1995: 185). Doch zuvor beschreibt er die Haltung der Krankenschwester in derselben Szene wie folgt: »Ihr Blick besagte, dass ich sie (wegen der Verwechselung mit dem Onkel) weder korrigieren noch tadeln sollte. Sie weiß wohl genau, wie man sich verhalten muss, weil sie daran gewöhnt ist, mit dementen alten Menschen (chihōshō rōjin) umzugehen.« (Sae 1995: 184) Insgesamt wird in diesem Text mehrmals unter der Bezeichnung chihōshō von Demenz als objektiver Tatsache gesprochen, und es ist ersichtlich, dass diese Bezeichnung bereits als bekannt vorausgesetzt wird. Ebenso ist hier von der Pflege (kaigo) als selbstverständlichem Bestandteil des Alltagslebens die Rede, anders als 1972, als das Wort noch gar nicht verwendet wurde. Interessant ist auch, dass der Autor dieses Romans das oben genannte Wort mōroku (Schwäche durch das Altern) eindeutig von

3 Neue Wissensformationen um Pflege und Fürsorge

der Altersdemenz unterscheidet. In der Beschreibung der Situation nach dem Tod seiner Mutter schreibt der Autor, dass die häusliche Pflege seines altersschwachen Vaters ihn an seine Grenze bringen würde, auch wenn sie im Vergleich zu der Betreuung eines dementen oder bettlägerigen alten Menschen wesentlich leichter sei. In diesem Vergleich verwendet der Autor für Altersschwäche das Wort mōroku in dem Sinne, dass die Schwäche sich nur auf den Verlust physischer, nicht aber kognitiver Fähigkeiten bezieht (vgl. Sae 1995: 277).  Der Roman zeigt, wie sehr sich die neue Wissensformation rund um die Pflege in der japanischen Gesellschaft um 1995 bereits etabliert hat. Zum einen werden die verschiedenen neuen Einrichtungen für alte Menschen wie Kurzzeitpflege, Tagespflege usf. als selbstverständliche Bestandteile des Pflegealltags beschrieben. Bemerkenswerterweise sind diese neuen Bezeichnungen allesamt englische Lehnwörter: shōto-sutei (short stay) für Kurzzeitpflege und dei-sābisu (day service) für Tagespflege. Zum anderen ist auch die medizinische Bezeichnung chihō, die im zuerst behandelten Roman noch eine vollkommene Neuheit darstellte, ein fester Bestandteil des Alltagswissens. In diesem Roman ist die Pflege der Schwiegermutter durch die Schwiegertochter nicht mehr so selbstverständlich wie im Roman von 1972, in dem die Schwiegertochter zwar mit ihrer Pflicht hadert, diese aber nicht in Frage stellt. Dagegen ist die Übernahme der Pflege der Schwiegermutter durch die Schwiegertochter ein Thema, das zwischen den Eheleuten immer wieder besprochen wird. Auf ihren Vorwurf, dass er nie konkrete Pflegeaufgaben übernehmen würde, wechselt der Protagonist die Windel seiner Mutter. Zudem wird ein Konflikt zwischen den Eheleuten nach dem Tod der (Schwieger)Mutter beschrieben, der daraus resultiert, dass der Ehemann bei der Totenrede für seine Mutter nicht erwähnt, dass seine Frau sie gepflegt hat. Das empfindet seine Frau als ungerecht und verweigert darauf die Kommunikation mit ihm. Dies spiegelt den gesellschaftlichen Wandel wider. Während in den 1970er-Jahren die Übernahme der Pflege durch die Schwiegertochter eine Selbstverständlichkeit darstellte und daher keine verbale Erwähnung dieser Leistung bei der Totenrede verlangt hätte, konnte dies in den 1990er-Jahre zum Gegenstand eines ehelichen Konfliktes werden. Schließlich erschien 2004 der ebenfalls preisgekrönte Roman Ashita no kioku (»Erinnerung an morgen«) von Ogiwara Hiroshi, in dem der Prozess des Gedächtnis- und Orientierungsverlustes aus der Sicht eines betroffenen 50-jährigen Angestellten einer Werbefirma erzählt wird.

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Hier ist das Thema nicht wie in den oben besprochenen Romanen die Pflegebedürftigkeit eines betagten Menschen, sondern die Alzheimer-Erkrankung eines Mannes im mittleren Alter. In der ersten Szene, in der die Demenz zum ersten Mal explizit thematisiert wird, spricht ein relativ junger Psychiater in seiner Sprechstunde mit dem Protagonisten über die Erkrankung. Nach der fachlichen Überprüfung der kognitiven und memorativen Fähigkeiten des Protagonisten stellt der Arzt die Diagnose »Frühstadium Alzheimer« (Ogiwara 2004: 62). Der Protagonist und seine Frau sind davon tief betroffen, und es wird aus der Szene ersichtlich, dass ihnen (und den Leserinnen und Lesern) diese Krankheitsbezeichnung geläufig ist und dass sie sehr wohl wissen, was sie bedeutet. Der Roman schildert detailgenau die kognitiven Veränderungsprozesse des Protagonisten aus der Ich-Perspektive sowohl im privaten Alltagsleben als auch im Beruf. Es ist dem Protagonisten zudem bekannt, wie die Krankheit verläuft, weil auch sein Vater von der Krankheit betroffen war und schließlich daran gestorben ist. Diese Schilderung verweist darauf, dass zum Zeitpunkt der Romanverfassung Alzheimer und Demenz zu einem Thema des gesellschaftlichen Alltags geworden waren.  Nach der Diagnose kauft der Protagonist sieben Sachbücher über die Alzheimer-Erkrankung und versucht, Gegenmaßnahmen gegen das Fortschreiten der Krankheit im Alltagsleben zu ergreifen. In der Mitte des Romans gibt es eine Schlüsselszene, in welcher er mit seinen Mitarbeitern darüber spricht, dass er auf dem Weg zu einem Kunden die Orientierung verloren hat und nur durch das telefonische Navigieren einer jungen Mitarbeiterin verspätet dorthin gelangen konnte. In dieser Szene fragt ein Mitarbeiter scherzhaft: »… Ach, könnte es sein, dass die altersbedingte Orientierungslosigkeit (boke) begonnen hat? Umherirren (haikai) in Shibuya?« (Ogiwara 2004: 115) Darauf reagiert der Protagonist sehr emotional, er ist zutiefst verärgert, weshalb alle Mitarbeiter ihn erstaunt anschauen. Hier wird auch die Verwendungsweise der Bezeichnung boke sichtbar. In einer solchen, eher informellen Kommunikationssituation ist es üblich, dieses Wort zu verwenden. Doch dadurch, dass es mit dem Fachwort für das Phänomen des haikai (von der Wortsemantik her bedeutet dieses Wort »Herumirren«, doch in der deutschen Pflegefachsprache benutzt man mittlerweile das Wort »Hinlaufen«) kombiniert wird, erhält es die eindeutigere Bedeutung von Demenz, wodurch sich der Protagonist zutiefst getroffen fühlt.

3 Neue Wissensformationen um Pflege und Fürsorge

Der Protagonist beschäftigt sich privat intensiv mit dem Krankheitsbild, und der Roman thematisiert ausführlich auch den Unterschied zwischen Altersdemenz und Alzheimer, indem er den Inhalt der von dem Protagonisten gelesenen Sachbücher zusammenfasst (vgl. Ogiwara 2004: 125). An dieser Stelle wird zur Unterscheidung das Wort chihō für Altersdemenz im Gegensatz zu Alzheimer verwendet. Dies entspricht der üblichen Verwendung dieses Wortes zur Zeit der Verfassung des Romans – vermutlich zwischen 2002 und 2004. Schließlich verliert der Protagonist aufgrund seiner Erkrankung seinen Arbeitsplatz und wird auch offiziell als pflegebedürftig in die Pflegestufe 1 eingestuft (vgl. Ogiwara 2004: 224). An dieser Stelle wird anschaulich geschildert, welche Wichtigkeit das Wort Pflege (kaigo) für Menschen in dieser Situation annimmt. Denn von dieser Einstufung hängt sowohl die Höhe der Sachleistungen als auch die Chance auf einen Platz in einem Pflegeheim ab. Darüber hinaus erfahren die Leserinnen und Leser, wie die Pflegeversicherung konkret funktioniert, die zur Zeit der Erscheinung dieses Romans noch in ihren Einzelheiten nicht bekannt ist.  Im Vergleich zu den vorausgegangenen Romanen enthält dieser Roman eine wesentlich stärkere Aufklärungsintention. Zum einen wirbt der Autor um Verständnis für Erkrankte, die im Beruf und ebenso in der Familie stehen, indem er eindringlich in der Ich-Form die innere Perspektive des Protagonisten schildert. Zum anderen versucht der Autor, den Leserinnen und Lesern medizinische Kenntnisse über diese Krankheit zu vermitteln, indem er die Inhalte der Sachbücher über dieses Thema vom Protagonisten zusammenfassen lässt. Möglicherweise liegt ein Grund des Erfolges dieses Romans in diesem Punkt, dass er damit die gesellschaftlichen Bedürfnisse der Zeit genau trifft.  Was man aus diesen Romanen ablesen kann, sind zum einen der Wandel des Sprachgebrauchs gegenüber demenziell erkrankten Personen und zum anderen auch die erweiterte Wissensperspektive auf dieses Phänomen. Während im ersten Roman die pflegende Protagonistin über die Aussage des Arztes, dass ihr Schwiegervater an einer Geisteskrankheit leidet, vollkommen schockiert ist, stellt es für den pflegenden Sohn im zweiten Roman keine Überraschung dar, dass seine Mutter in ihrer Pflegebedürftigkeit ein Verhalten zeigt, das er nicht nachvollziehen kann. Schließlich wird im dritten Roman die Bekanntheit des Phänomens Alzheimer vorausgesetzt, zudem wird mit einer aufklärerischen Intention das Krankheitsbild medizinisch differenziert und verständlich gemacht.

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Man kann hier auch den Prozess der Medikalisierung des Wissens beobachten. Hierbei ist es wichtig anzumerken, dass die Bezeichnung boke, obwohl sie in der Alltagssprache die althergebrachte Bedeutung der altersbedingten Orientierungslosigkeit beibehält, von dem medizinischen Wissen überlagert wird, sodass der Ausdruck in bestimmten Situationen als Synonym zur Bezeichnung chihōshō verwendet wird. Eine ähnliche Überlagerung ist nach der Änderung der offiziellen Bezeichnung für Demenz im Jahr 2004 auch für ninchishō feststellbar. Anhand von Ausdrücken für Pflege und Demenz wurde in diesem Kapitel aufgezeigt, wie auf der sprachlichen Ebene ein Wandel stattfand. Es entstanden neue Bereiche des Wissens, zum einen der Bereich der Wohlfahrt und Pflege, was den Übergang von innerhäuslicher zu institutionalisierter Pflege markiert, zum anderen der Bereich des medizinischen Wissens, der immer stärker das Alltagsleben zu beeinflussen begann. Dieser Prozess lässt sich auch in der deutschen Gesellschaft vorfinden. Doch scheint er nicht so auffällig zu sein wie in der japanischen. Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass die japanische Sprache sich seit jeher für Einflüsse von außen, vor allem von europäischen Sprachen, empfänglich zeigt. So lassen sich die Veränderungen der Wissensformationen anhand schriftlicher Dokumente leichter nachzeichnen. Insgesamt spiegelt dieser Wandel der Wissensformationen den sozialen Wandel in der japanischen Gesellschaft wider. Wie die Beschreibungen in diesem Kapitel zeigen, haben sich die menschlichen Beziehungen innerhalb der Familie seit den 1970er-Jahren grundlegend verändert. Die Fallbeispiele, die im nachfolgenden Kapitel besprochen werden, sind in diesem Rahmen des gesellschaftlichen Wandels eingebettet zu betrachten. 

4 Der soziokulturelle Umgang mit dementen Personen im deutschjapanischen Vergleich Shingo Shimada

Nachdem in den vorausgehenden Kapiteln die historischen Entwicklungen und kulturellen Hintergründe als Grundlagen für eine vergleichende Betrachtung der deutschen und japanischen Gesellschaft diskutiert wurden, werden im vorliegenden Kapitel die Ergebnisse der empirischen Forschung vorgestellt. Hierbei werden verschiedene Aspekte der Pflege anhand mehrerer Fallbeispiele erörtert. Das Ziel dieser Darstellungen liegt darin, die konkreten Vorgänge – was passiert, wenn jemand dement wird – auf der Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeit plastisch nachvollziehbar zu machen. Dabei geht es um das Verhältnis zwischen Pflegebedürftigen, Pflegeeinrichtung, Angehörigen und lokalen Netzwerken. Die Feldstudien wurden zum größten Teil zwischen 2013 und 2015 in Japan in der Stadt Fukuoka und in Deutschland in der Stadt Düsseldorf durchgeführt. Es wurden sechs Experteninterviews sowie drei qualitative Interviews mit Personen aus der Pflege und sechs Interviews mit Angehörigen in Japan und in Deutschland ausgewertet, ergänzt durch die teilnehmende Beobachtung in der Einrichtung Yoriai in Fukuoka (vgl. Kap. 4.1).1 In Düsseldorf wurden zum einen im Dorothee-Sölle-Haus vorwiegend Experteninterviews durchgeführt und zum anderen im zentrum plus Gerresheim an einigen Veranstaltungen teilnehmend beobachtet. Die Intensität der teilnehmenden Beobachtung in Fukuoka und Düssel1 | 2013 hielten sich Jacqueline Yvette Spisa und Shingo Shimada im Februar und März in der Einrichtung Yoriai 2 auf und führten teilnehmende Beobachtungen durch. Ein zweiter Feldaufenthalt, bei dem neben Prof. Shimada und Frau Spisa auch Ludgera Lewerich teilnahm, erfolgte von Februar bis März 2014.

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dorf war unterschiedlich: Während in Fukuoka für mehrere Monate am Leben der Einrichtungen teilgenommen wurde, beschränkte sich die Teilnahme in Düsseldorf an einigen Veranstaltungen. Es bestand von Anfang an die Absicht, das Leben in der Einrichtung Yoriai wegen ihrer Einzigartigkeit genau zu erfassen, während die Einrichtungen in Düsseldorf Anregungen für das Verständnis des japanischen Falles bieten sollten. Die Asymmetrie in der vergleichenden Perspektive lag insofern in der Anlage dieses Kooperationsprojektes. Die Fallbeispiele im Kapitel 4.6 basieren auf 2009 von Celia Spoden geführten Interviews und der Dissertation von Matsuo Yayoi (2013).

Forschungsfelder Die empirische Studie beschäftigte sich mit der Situation von altersdementen Personen im großstädtischen Kontext in Deutschland und Japan. Die Stadt Fukuoka ist zwar mit ca. 1,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern weit größer als Düsseldorf (ca. 600.000 Einwohner/innen), doch in ihrer regionalen Bedeutung sind die beiden Städte durchaus vergleichbar. Beide Städte sind Hauptstädte einer jeweils größeren politischen Verwaltungseinheit (der Präfektur Fukuoka in Japan und des Landes Nordrhein-Westfalen in Deutschland) und entwickelten sich in der Phase des Wirtschaftsaufschwungs (1955-1973) in Verbindung mit den benachbarten Schwerindustriegebieten (Kitakyūshū in Japan und dem Ruhrgebiet in Deutschland) zu Wirtschaftszentren. Vor diesem Hintergrund verfügen sowohl Fukuoka als auch Düsseldorf über eine moderne Infrastruktur und eine funktionierende medizinische Versorgung. Im Folgenden werden zunächst die beiden Städte mit ihren für dieses Buch relevanten Daten vorgestellt, um anschließend auf die untersuchten Einrichtungen in Deutschland und Japan einzugehen.

Fukuoka Fukuoka ist die Hauptstadt der gleichnamigen Präfektur und ist die größte Stadt auf der Insel Kyūshū. Sie hat 1.468.418 Einwohner/innen (2015).2 Davon sind 300.498 (20,5 %) über 65 Jahre alt. 59.995 Personen aus die2 | In dieser Zahl sind nur Einwohner/innen mit japanischer Staatsangehörigkeit berücksichtigt.

4 Der soziokulturelle Umgang mit dementen Personen

ser Bevölkerungsgruppe (23,6 %) leben in Single-Haushalten. Es wird erwartet, dass dieser Prozentsatz auf 30,1 % im Jahr 2025 ansteigen wird. Von den über 65-Jährigen sind 56.229 Personen (20,4 %) pflegebedürftig und 30.682 Personen dement. Für diese Altersgruppe wird ein Anstieg des Bevölkerungsanteils dementer Personen auf 54.750 im Jahr 2025 erwartet (vgl. Fukuoka City 2015). Die Stadt Fukuoka verfügt über 59 lokale Fürsorgezentren (Chiiki Hōkatsu Shien Sentā), durch die von der Seite der Stadtverwaltung versucht wird, eine lokal verankerte Anlaufstelle anzubieten, wenn Problemfälle wie Demenz usw. im lokalen Kontext auftauchen. Doch blieb nach unserer Beobachtung insgesamt zweifelhaft, ob diese Zentren die erwarteten Funktionen erfüllen (vgl. dazu auch Dahl 2016). Während der Feldforschung in Fukuoka kamen wir nur am Rande mit einem Zentrum in Berührung, zu dem eine Zusammenarbeit von Seiten der Einrichtung Yoriai bestand. Dort wurde eine gemeinsame Gymnastik angeboten, in die die Nutzer/innen der Einrichtung einbezogen wurden. In vielen Zentren wird auch ein Café für ältere Einwohner/innen des Stadtbezirks angeboten.

Yoriai Die Pflegeeinrichtung Takurōsho Yoriai3 (im Folgenden Yoriai) wurde 1991 in Fukuoka von drei Personen gegründet, die zuvor in einem größeren Pflegeheim tätig gewesen waren und sich dort kennengelernt hatten. Mit dem Ziel, die Defizite anderer Altenpflegeheime auszugleichen und vor allem für demente Personen, die in der Gesellschaft als »sehr schwierige Fälle« deklariert wurden, einen Raum zu schaffen, ließen sie ein altes Wohnhaus mittels Spenden renovieren und zu einem Pflegeheim umfunktionieren (vgl. Shimomura 2001: 11-15, Shimada/Tagsold 2006: 138-145). 3 | Takurōsho Yoriai ist die eigene Bezeichnung der Einrichtung, mit der sie sich von der offiziellen Bezeichnung Shōkibo Takinō Kaigo Shisetsu (kleine multifunktionale Pflegeeinrichtung) abgrenzen wollen. Bei dieser Bezeichnung handelt es sich um eine Umwandlung des Wortes takujisho = Kinderkrippe. Mittlerweile hat sich diese Bezeichnung für die Pflege »in ›normalen‹ Wohnhäusern, in denen die alten Personen ihre Zeit frei verbringen« allgemein durchgesetzt (Yūki 2011: 179f.; eigene Übersetzung ShS).

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Daher war der Anlass zur Gründung persönlich motiviert und weitestgehend informell. Darüber hinaus lag eine offensichtliche Motivation zur Gründung darin, eine Alternative zu gängigen Großeinrichtungen anzubieten, in denen die Gründerinnen als Pflegekräfte zuvor schlechte Erfahrung gesammelt hatten. Mittlerweile gibt es mehrere Einrichtungen (Yoriai 1 bis 3), die – mit Hilfe der Unterstützung ehrenamtlicher Helfer/ innen und der Nachbarschaft – für demente Personen die Voraussetzungen schaffen, möglichst lange in der gewohnten Umgebung von Familie und Freunden zu verbleiben (vgl. Toyota/Kuroki 2009: 53-74). Wegen des innovativen Pflegekonzepts liegen mehrere Veröffentlichungen zum Yoriai vor (vgl. Toyota/Kuroki 2009), darunter auch von der Leiterin und dem Leiter der Einrichtung selbst (vgl. Shimomura 2001, 2011; Murase 2001, 2007, 2011). Für viele kleine Pflegeheime ist das Yoriai zum Modell geworden (vgl. Ueno 2011: 203; Yūki 2011: 180). Die Zahl der Nutzer/innen schwankt zwischen 18 und 23, was auf die sehr flexible Art der Betriebsführung der Einrichtung zurückgeführt werden kann (vgl. 4.1). Diese Seniorinnen und Senioren werden von sieben bis 13 Pflegekräften versorgt. Der größte Teil der Nutzer/innen ist in der Tagespflege. Damit wird der amtlichen Vorgabe von einer Pflegekraft für drei Pflegebedürftige entsprochen. Das Besondere der Einrichtung Yoriai besteht zum einen darin, dass die Zahl der Nutzer/innen von Tag zu Tag je nach dem Bedarf variiert und zum anderen, dass wiederum je nach Bedarf ein bis zwölf Nutzer/innen in der Einrichtung übernachten. Der Nachtdienst wird von einer Pflegekraft übernommen. Die Einrichtung finanziert sich überwiegend über die Pflegeversicherung, die aber 10  % Eigenbeteiligung der Nutzer/innen vorschreibt. Das Mittagsessen kostet 500 Yen (ca. 5 Euro). Die Nutzung der Tagespflege kostet 1500 bis 2000 Yen pro Person pro Tag. Die Übernachtung kostet einschließlich zwei Mahlzeiten 5000 Yen. Wenn jemand für einen Monat sowohl die Tagespflege als auch Übernachtung nutzen würde, würde es über 200.000 Yen kosten. Doch das Yoriai berücksichtigt die Zahlungsfähigkeit der Nutzer/innen, sodass es schon vorkam, dass nur 500 Yen für eine Übernachtung berechnet wurden. Generell nimmt das Yoriai nicht mehr als 100.000 Yen, selbst wenn jemand den ganzen Monat in der Einrichtung verbringt. Man versucht, die entstehenden finanziellen Defizite über den Verkauf von Lebensmitteln (Marmelade usw.), Stoffarbeiten (kleine Taschen, Halstücher usf.), Basare, sowie über Spenden zu überbrücken.

4 Der soziokulturelle Umgang mit dementen Personen

Düsseldorf Die Stadt Düsseldorf ist Hauptstadt des Landes Nordrhein-Westfalen und hat 628.437 Einwohner/innen (Stand 31.12.2015). Davon sind 121.591 Einwohner/innen zwischen 50 und 65 Jahre alt (19,3 %), 87.365 zwischen 65 und 80 Jahre (13,9 %), und 32.688 Einwohner/innen sind über 80 Jahre alt (5,2 %) (Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Düsseldorf 2015). Für das Jahr 2016 wurde prognostiziert, dass ca. 13.000 Personen an Demenz erkrankt sein werden, von denen etwa 8500 Personen weiblich und 4500 Personen männlich sein werden. Die Zahl der Pflegebedürftigen insgesamt wurde für 2016 mit 16.500 Personen beziffert. Im Jahr 2011 nahmen etwa 16.000 Personen insgesamt Pflegeleistungen in Anspruch. Davon nutzten etwa 4000 Personen einen ambulanten Pflegedienst, etwa 5000 Personen wurden vollstationär versorgt und etwa 7000 Personen bezogen Pflegegeld. Die Besonderheit der Stadt Düsseldorf besteht darin, dass seit der Verabschiedung des Landespflegegesetzes Nordrhein-Westfalen 2003 intensiv an dem Auf bau eines doppelten Versorgungsnetzwerkes gearbeitet wurde. Das Gesetz schrieb die Notwendigkeit der lokalen Fürsorge alter Menschen fest, worauf in Zusammenarbeit zwischen der Stadt Düsseldorf, den Wohlfahrtsverbänden und dem LVR-Klinikum eine Initiative zum Auf bau eines doppelten Netzwerkes gegründet wurde, indem sowohl die Perspektive der Wohlfahrt (zentrum plus) als auch die der Medizin (Demenznetz Düsseldorf) berücksichtigt wurden. Demenziell erkrankte Menschen sollten durch dieses Netzwerk in ihrem Zuhause unterstützt werden. Zunächst wurde in einem Stadtteil das medizinisch orientierte Demenznetz Düsseldorf als Projekt gestartet und später auf das gesamte Stadtgebiet ausgebreitet. Zugleich entstand die Idee, eine niedrigschwellige Anlaufstelle für Problemfälle im Bereich der wohlfahrtsbezogenen Versorgung aufzubauen. Das zentrum plus ist eine Anlaufstelle für ältere Menschen und ihre Angehörigen, wenn sie für Pflege und Fürsorge Beratung und Hilfe brauchen. Es bietet darüber hinaus »verschiedene Freizeit-, Kultur- und Bildungsangebote und fungier[t] darüber hinaus als Treffpunkt im Quartier.« (Verhülsdonk/Höft 2017: 153) Für jeden Stadtbezirk (Düsseldorf ist in zehn Bezirke unterteilt) gibt es mindestens ein zentrum plus, das von einem der beteiligten Wohlfahrtsverbände betrieben wird. Es bietet neben Beratung auch Mittagsessen und ein Café, das jede Einwohnerin und jeder Einwohner kostengünstig nutzen kann. Durch

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die regelmäßig stattfindenden Konferenzen der beteiligten Institutionen wird die Wohlfahrtspolitik für alte Menschen koordiniert (vgl. zum Demenznetz Düsseldorf und den zentren plus Verhülsdonk/Höft 2017).

Dorothee-Sölle-Haus in Oberkassel und das zentrum plus Gerresheim Das Dorothee-Sölle-Haus, das 2005 in Betrieb genommen wurde, ist eine Einrichtung der Diakonie Düsseldorf im Stadtteil Oberkassel und bietet insgesamt 66 Einzel- und sechs Doppelzimmer in der stationären Pflege. Darüber hinaus bietet es Tagespflege und Kurzzeitpflege (14 Plätze). Das zentrum plus befindet sich in demselben Gebäude und vermittelt bestimmte Fälle an das medizinische Demenznetz Düsseldorf. Wenn auch strukturell und organisatorisch große Unterschiede zwischen der Einrichtung Yoriai und dem Dorothee-Sölle-Haus vorliegen, besteht eine wichtige Gemeinsamkeit der beiden Einrichtungen darin, eine umfassende Pflege für Pflegebedürftige und eine längerfristige Betreuung der Angehörigen zu bieten. Das zentrum plus Gerresheim bietet neben der Beratung für Seniorinnen und Senioren, das Café Vergissmeinnicht für demenziell Erkrankte und ihre Angehörigen und verschiedene Programme für Seniorinnen und Senioren. Diese Pflegeeinrichtungen sind in ihrer Anlage, Organisation und Geschichte so verschieden, dass sie sich nicht systematisch vergleichen lassen. Während das Dorothee-Sölle-Haus zu einem der großen Wohlfahrtsverbände gehört und daher nicht nur die staatlichen, sondern auch die vom Träger eingeführten Standards und das zugrundeliegende Wertekonzept gelten, ist das Yoriai hingegen eine Einrichtung, die aus der persönlichen Initiative von Altenpflegerinnen und -pflegern entstand. Für einen Vergleich allein auf der institutionellen Ebene hätte man auch eine größere Einrichtung in Japan zum Forschungsgegenstand nehmen können. Doch damit wäre unsere Fragestellung allzu sehr auf den Vergleich der Institutionen gelenkt worden. Dies entsprach nicht unserer Absicht. Unsere Fragestellung lautet, wie eine qualitativ hochwertige Pflege mit Unterstützung der lokalen Akteurinnen und Akteure möglich ist. Für diese Frage bieten die beiden Einrichtungen wichtige Anregungen, und dies war für uns ausschlaggebend für den Vergleich. Nun werden in den folgenden Unterkapiteln verschiedene Aspekte der Pflege der dementen Personen mit konkreten Fallbeispielen diskutiert.

4 Der soziokulturelle Umgang mit dementen Personen

Im Unterkapitel 4.1 wird der Pflegealltag der Einrichtung Yoriai mit der Methode der »dichten Beschreibung« dargestellt, da für deutsche Leserinnen und Leser schwer vorstellbar sein dürfte, wie dort die Pflegearbeit errichtet wird. Darauf wird diskutiert (4.2), was genau passiert, wenn jemand dement wird. Darauf folgt die Diskussion darüber (4.3), wie man mit schwierigen Fällen umzugehen hat, die die Grenzen der Pflege aufzeigen. Wichtig für die Frage der Fürsorge ist sicherlich auch die Perspektive der Familienangehörigen. Dies ist das Thema des Unterkapitels 4.4. Ebenso ist die Sicht der professionellen Pflegekräfte ein wichtiges Thema mit ihren sehr unterschiedlichen Ausbildungsstrukturen (4.5). Zum Schluss wird die Sterbebegleitung in der letzten Pflegephase thematisiert. Die Ausführungen basieren überwiegend auf qualitativen Interviews, die mit Angehörigen, Pflegekräften und Leiterinnen und Leitern der Einrichtungen geführt wurden. Die Perspektiven der dementen Personen wurden in diesem Projekt nicht berücksichtigt, da es sich vor allem in der Einrichtung Yoriai überwiegend um fortgeschrittene Fälle handelte.

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4.1 D ichte B eschreibung der  P flegeeinrichtung Takurōsho Yoriai Jacqueline Yvette Spisa

Abbildung 1: Vorderer Wohnraum im Yoriai 2

(F oto: Jacqueline Y vet te S pisa)

Das Yoriai bietet ein Gruppenwohnheim für Personen, die dort länger wohnen, sowie verschiedene andere Angebote für Pflegebedürftige, die überwiegend aus der Nachbarschaft kommen: unter anderem eine Tages- und eine Kurzzeitpflege sowie Hausbesuche. Diese Dienstleistungen können je nach dem Bedarf der Nutzer/innen und ihrer Angehörigen flexibel kombiniert werden. Der Name Yoriai bedeutet »nahe zusammenkommen« und wird dieser Bedeutung entsprechend umgesetzt: In einem Wohnraum sitzen die pflegebedürftigen alten Personen mit den Pflegekräften die meiste Zeit des Tages beisammen, trinken Tee und singen Lieder (Abb. 1). Die Pflegekräfte tragen keine Berufskleidung und sind daher von ihrer Kleidung her nicht von den Seniorinnen und Senioren zu unterscheiden. Gelegentlich werden mit den Heimnutzerinnen und Heimnutzern mit leichter Demenz kurze Ausflüge zum Beispiel ans Meer unternommen. Dies geschieht aber nur dann, wenn nicht zu viele

4.1 Dichte Beschreibung der Pflegeeinrichtung Takurōsho Yoriai

Seniorinnen und Senioren da sind und die Zahl des anwesenden Pflegepersonals dies erlaubt.1 Des Weiteren werden die Nutzer/innen im Yoriai bis zu ihrem Tod begleitend gepflegt. Dies ist keine Selbstverständlichkeit in der japanischen Gesellschaft, denn die meisten Einrichtungen lassen ihre Bewohner/innen ins Krankenhaus einliefern, sobald sie vermuten, dass die Sterbephase begonnen hat. In der Regel sind die Pflegebedürftigen etwa zehn Jahre im Yoriai. Wenn eine Person im Sterben liegt, versammeln sich alle Angestellten und übernachten mehrere Tage gemeinsam im Yoriai, um in der letzten Phase des Lebens Beistand zu leisten (näheres zur Sterbebegleitung in Kap. 4.7). Was den allgemeinen Tagesablauf im Yoriai betrifft, so gibt es mit Ausnahme der Essenszeiten nahezu keinen festen Tagesablauf und alles wirkt sehr spontan (vgl. Shimomura 1996: 75). Die Stimmung ist von Tag zu Tag unterschiedlich, doch alles in allem ist es, abgesehen vom Tagesbeginn und Tagesende, meistens sehr ruhig im Yoriai. Die Abbildungen 1 und 2 lassen erkennen, dass das Yoriai nicht wie ein gewöhnliches Altenpflegeheim aussieht: Die Ähnlichkeit zu einem japanischen Wohnhaus ist auffällig. Der Tatamiboden, die großen Sessel und Sofas und die vielen Holzmöbel erwecken den Eindruck, man befinde sich in einem gemütlichen, etwas altmodisch eingerichteten Wohnzimmer. Die Zimmer sind bewusst so angefertigt worden, denn die dementen Personen sollen sich hier wie zu Hause fühlen.2 An den Wänden findet man Bilder und Kalligraphien, die teilweise von den Nutzerinnen und Nutzern selbst angefertigt worden sind. Darüber hinaus werden Fotos der Verstorbenen im Yoriai aufgestellt, da sie nicht vergessen werden sollen und weiter als zugehörige Mitglieder vom Yoriai angesehen werden. 1 | Die Zahlen variieren von Tag zu Tag zwischen acht und dreizehn Nutzerinnen und Nutzern. Je nachdem ist auch die Zahl der anwesenden Pflegekräfte verschieden. An einem Tag, an dem zum Beispiel mit Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Seniorinnen und Senioren, die zur Tagespflege kommen, zehn Nutzer/innen anwesend sind, arbeiten etwa fünf Pflegekräfte. Über Nacht ist allerdings immer nur eine Pflegefachkraft anwesend. 2 | Das Erzeugen einer häuslichen Atmosphäre in Altenheimen wie Gruppenheimen, die dem Yoriai vom Modell her sehr ähnlich sind, ist nicht unüblich. Dies liegt an der Annahme, dass Pflege in einer häuslichen Umgebung am wirksamsten sei (vgl. Imamura 1994: 19).

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Abbildung 2: Hinterer Wohnraum im Yoriai 2

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Die Privatzimmer der Bewohner/innen sind mit Gegenständen aus ihrem eigenen Besitz ausgestattet und ihre Wertgegenstände können sie jederzeit bei sich tragen. Obendrein sind die Räumlichkeiten so gestaltet, dass die Nutzer/innen sich jederzeit zurückziehen und zum Beispiel einen Mittagsschlaf halten können. Generell sind die Schlafenszeiten sehr individuell, denn niemand wird gezwungen, nachts zu schlafen. Daher werden auch keine Schlaftabletten verabreicht.3 Keine der Türen oder Ausgänge sind verschlossen. Es soll nicht das Gefühl entstehen, eingesperrt zu sein. Sollte eine demente Person das Bedürfnis haben, hinauszugehen und umherzuwandern, so lässt man dies zu und eine Pflegekraft geht hinterher.

3 | Andere Medikamente hingegen werden verabreicht. Hierfür testen die Pflegekräfte verschiedene Methoden aus, wie es für eine pflegebedürftige Person am einfachsten ist, das Medikament einzunehmen (verkleinern etc.).

4.1 Dichte Beschreibung der Pflegeeinrichtung Takurōsho Yoriai

Im Eingangsbereich des Hauses Yoriai 1 hängt ein eingerahmtes Dokument, das die Überschrift »Das Prinzip des Gruppenheims Yoriai: Dinge, die wir für wichtig erachten« trägt: Abbildung 3: Aushang im Eingangsbereich vom Yoriai 1

(F oto: Jacqueline Y vet te S pisa)

Laut dem ersten Punkt legt das Yoriai Wert darauf, dass die Nutzerinnen und Nutzer ein Leben führen können, das ihrer Persönlichkeit entspricht (sono hito rashii seikatsu). Dies ist eine Formulierung, die in der japanischen Gesellschaft gerade im Wohlfahrtsbereich sehr häufig verwendet wird, wenn es um die Qualität der Pflege geht.4 Die letzten beiden Punkte 4 | Wie weit diese Formulierung mit dem in Deutschland für wichtig erachteten Ausdruck »Selbstbestimmung« in Deckung gebracht werden kann, wird später im Kapitel 5 diskutiert.

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sprechen die Wichtigkeit von Familie und Nachbarschaft an: Das Yoriai schätzt den Bund mit der Familie (kazoku to no kizuna) und es ist von großer Bedeutung, Mitglied der lokalen Gemeinschaft zu sein (chiikishakai no ichiin).

Organisation Die Arbeitsschichten für die Mitarbeiter/innen im Yoriai sind zwar eingeteilt, von einer klaren Regelung kann hier jedoch keine Rede sein: Die Pflegekräfte machen viele Überstunden und es gibt keine deutlich geregelten Pausen. Wenn eine Pflegerin oder ein Pfleger aus der Nachtschicht kommt, ist sie/er am nächsten Tag noch lange anwesend um auszuhelfen. Die Pflegekräfte selbst sprechen darüber hinaus davon, dass es schwierig sei, Urlaub zu nehmen, wobei dies ein generelles Problem in der japanischen Gesellschaft darstellt. Des Weiteren gibt es keine eindeutige formale Arbeitsteilung, wer wessen Pflege übernimmt. Dies geschieht eher auf informelle Weise, indem zum Beispiel Pflegekräfte sich um diejenigen Seniorinnen und Senioren kümmern, von denen sie akzeptiert werden und die sich daher ohne Schwierigkeiten von ihnen pflegen lassen. Auf diese Weise werden die Wünsche der Nutzer/innen berücksichtigt. Die Verständigung darüber, wer wen pflegt oder wer welche Aufgabe übernimmt, geschieht oft nicht über direkte verbale Absprachen, sondern nur durch Blickkontakte. Die Pflegekräfte, die im Yoriai arbeiten, haben sehr verschiedene Hintergründe. Einige Pflegekräfte haben an einer Universität studiert und darüber hinaus Zusatzqualifikationen erlangt, andere wiederum haben an speziellen Fachhochschulen Unterricht genommen, und wieder andere haben ohne Studium Erfahrungen in der häuslichen Pflege gesammelt. In Gesprächen mit den Pflegekräften stellte sich zwar heraus, dass die meisten in der Vergangenheit Bezug zu einem Pflegeberuf hatten, doch konnten die wenigsten ihre offizielle Berufsbezeichnung nennen. Frau Sueyoshi und Frau Gotō, zwei langjährige Pflegekräfte vom Yoriai, irritierte die Frage nach ihrer Berufsbezeichnung. Grundsätzlich scheint in der Einrichtung Yoriai die Ausbildung an sich nicht als wichtig erachtet zu werden, um angestellt zu werden: es kommt viel mehr auf die gesammelten Erfahrungen an. Zusätzlich legt das Yoriai viel Wert darauf, Personen einzustellen, deren Wertvorstellungen mit denen des Yoriai übereinstimmen.

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Tagesablauf Das Yoriai öffnet für alle Nutzer/innen, die zur Tagespflege kommen, um 9 Uhr. Doch für die Mitarbeiter/innen beginnt der Arbeitstag früher. Um ungefähr 8:30 Uhr versammeln sich die Angestellten, putzen, hängen die Wäsche auf und einige holen die Seniorinnen und Senioren, die zur Tagespflege kommen, mit dem Auto ab. Zusätzlich gibt es um 8:45 Uhr ein morgendliches Meeting (chōrei), welches ungefähr 15 Minuten dauert. Bei diesem berichtet die Pflegekraft, die zum Nachtdienst anwesend war, von der Nachtsituation. Auch wird besprochen, was an diesem Tag anliegt (wer beispielsweise gebadet werden muss) und wie die allgemeine Situation der Pflegebedürftigen ist (Stuhlgang etc.). Die Seniorinnen und Senioren, die mit dem Auto zur Tagespflege abgeholt wurden, sitzen im vorderen Wohnbereich auf den Sesseln und Sofas. Die Pflegebedürftigen, die im Yoriai übernachtet haben, werden zuvor geweckt, angezogen und bekommen Frühstück. Darauf werden sie zu den anderen vorgeholt. Währenddessen wird in der offenen Küche, die vom Eingang gesehen linker Hand direkt an das Wohnzimmer anschließt (siehe Abb. 1), von einer Pflegekraft Tee zubereitet, anschließend auf einem Tablett zum Tisch gebracht und nach und nach den Pflegebedürftigen eingeschenkt. Den Pflegebedürftigen wird immer zuerst eingegossen, bevor die Pflegekräfte sich selbst etwas nehmen. Getrunken wird gemeinsam im vorderen Wohnzimmer. Die Pflegekraft, die zum Nachtdienst anwesend war, zieht sich in der Regel nach oben in den Büroraum zurück, um sich auszuruhen. Insgesamt herrscht bei diesem morgendlichen Abholen, Wecken der Bewohner/innen, Umherlaufen aller und den Vorbereitungen geschäftiges Treiben was sich aber nicht groß auf das Gemüt der Bewohner/innen auszuwirken scheint. Es ist auffällig, dass meist eine ganz bestimmte Sitzordnung in der Tagespflege unter den Nutzerinnen und Nutzern vorherrscht. Die Pfleger/innen hingegen wechseln ihren Platz spontan je nach der Notwendigkeit. Wenn sie sich gerade nicht in der Küche oder in einem der hinteren Räume befinden, sitzen sie entweder auf dem Tatamiboden oder neben einer pflegebedürftigen Person auf dem Sofa. Es ist zu beobachten, dass sie sich körperlich niemals über die Seniorinnen und Senioren stellen, und auch beim Sitzen darauf achten, niedriger als sie zu sitzen. Dies kann als respektvolle Haltung gegenüber den Nutzerinnen und Nutzern gewertet werden. Außerdem sitzen die Pflegekräfte sehr verteilt

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im Zimmer. Ihre Haltung ist aufmerksam und sie achten darauf, dass vor allem stark pflegebedürftige Personen, die sich nicht mehr alleine aufsetzen können, eine bequeme Sitzhaltung einnehmen und heben sie gegebenenfalls hoch. Ehepaare oder Personen, die sich gut verstehen, sitzen beieinander. Ein gewisses System ist also durchaus zu erkennen. Frau Takahashi, eine sehr vornehme, immer gut gekleidete Dame, hat zum Beispiel ihren festen Platz, von wo aus sie den Raum gut überblicken und das Alltagsgeschehen kontrollieren kann. Sie war früher Hotelbesitzerin und man erkennt an ihren Aussagen, dass sie sich als Managerin vom Yoriai sieht. Die Pflegekräfte sind sich des Selbstverständnisses von Frau Takahashi bewusst und die Rollenzuschreibung als Hotelbesitzerin wird nicht nur durch den zugewiesenen Sitzplatz, sondern auch dadurch bestärkt, dass die Pflegekräfte sie mit dem Titel kaichō (»Vorsitzende«) ansprechen. Man kann vermuten, dass dieses Rollenspiel, das sowohl von Frau Takahashi als auch von den Pflegerinnen und Pflegern gespielt wird, Frau Takahashi in ihrer Selbstwahrnehmung bestätigt (zur Bedeutung dieses Rollenspiels für den Umgang mit dementen Personen siehe Kap. 5.1). Um ca. 12 Uhr verlässt die Nachtschicht die Einrichtung. Es kommt allerdings vor, dass gerade Pflegekräfte, die wie Frau Sueyoshi eine führende Position einnehmen, länger anwesend sind und bürokratische Angelegenheiten regeln oder in der Pflege aushelfen. Dies erweckt gelegentlich den Eindruck, die Pflegekräfte würden im Yoriai wohnen. 12 Uhr ist darüber hinaus die Zeit für das Mittagessen. Das Kochen wird in der Regel von einer der Pflegekräfte übernommen.5 Zum Essen werden die Nutzer/innen, die sich zurückgezogen haben, ins Wohnzimmer geführt oder diejenigen, die im Wohnzimmer auf einer Couch schlafen, geweckt. Hier wird eine gewisse Fremdbestimmung sichtbar, die sich in einem Pflegeheim nicht ganz vermeiden lässt. Jedoch wird keiner dazu gezwungen zu essen. Manche Pflegebedürftige legen sich wieder auf die Seite und schlafen direkt weiter. Es ist auch ein Vorteil der Räumlichkeit, dass die Nutzer/innen nicht zu einem Esstisch geführt werden müssen. Der Sitzkreis im Wohnzimmer bleibt so wie zuvor und das Essen wird ihnen gebracht. Dabei werden die Schlafenden nicht immer geweckt. Sie essen dann später, wenn sie wach werden. 5 | An zwei Tagen im Monat kommt eine Gruppe Ehrenamtlicher, die das Kochen übernimmt.

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Nach und nach wird das Essen auf einem Brett von den Pflegekräften serviert. Es wird darauf geachtet, dass Pflegebedürftige, die noch selbstständig essen können, ihre Mahlzeit zuerst erhalten. Jeweils eine Pflegekraft setzt sich neben eine demenziell erkrankte Person, deren motorische Fähigkeiten sehr eingeschränkt ist und die nicht mehr alleine essen kann, um ihr das Essen anzureichen. Beim Reichen des Essens sieht man die Nähe zwischen Pfleger/in und Gepflegten. Die Pflegekraft zerkleinert das Essen für die demente Person, rückt ihr sehr nahe, sodass kaum Abstand zwischen den beiden ist, und reicht ihr das Essen mit einem Löffel. Vor allem bei Nutzerinnen und Nutzern, bei denen die Demenz sehr stark fortgeschritten ist, kommt es oft vor, dass das zerkleinerte Essen wieder aus dem Mund fällt. Dann wird es von der Pflegekraft mit der Hand aufgefangen oder mit einem Tuch abgewischt. Die Zeit für die Essenseinnahme wird nicht begrenzt. Die Teller werden abgeräumt, wenn die meisten Personen aufgegessen haben. Das Geschirr von denjenigen, die noch nicht fertig sind, wird erst einmal stehen gelassen. Es kommt vor, dass die Bewohner/innen beim Abräumen helfen. Auch wenn sie dabei Fehler machen, werden sie nicht davon abgehalten zu helfen, und auch nie für derartige Fehler zurechtgewiesen. Im Gegenteil, die Pflegekräfte bedanken sich für die Hilfe. Dadurch können sich die Pflegebedürftigen nützlich und vermutlich auch als Teil der Gemeinschaft fühlen. Kurz nach dem Essen veranlassen die Pflegekräfte die dementen Personen, die sich noch ohne Hilfe fortbewegen können, zum Toilettengang. Das Wort Toilette wird nie laut verwendet, sodass die anderen Nutzer/innen nicht wirklich mitbekommen, wo es hingeht. Dadurch soll wohl vermieden werden, dass die angesprochene Person sich schämen muss, was sich als ein Ausdruck von Respekt interpretieren lässt. Auch notwendige Körperpflegemaßnahmen werden niemals im Wohnzimmer vor den anderen Anwesenden durchgeführt. Die zu pflegende Person wird zur Versorgung in ein anderes Zimmer gebracht. Bei der Fortbewegung leistet die Pflegekraft nur die an individuelle Bedürfnisse angepasste, nötige Hilfestellung, um einen eigenständigen Bewegungsablauf zu fördern. Kann die Person noch selbstständig laufen, so wird sie häufig an die Hand genommen und geführt. Stark demente Personen, die sich nicht mehr selbstständig bewegen können, werden von einer Pflegekraft aus ihrem Stuhl gehoben und dabei in eine Art bequemen Rollstuhl umgesetzt. Hierbei sprechen die Pflegekräfte die dementen Personen immer

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direkt an. In diesem Zusammenhang war es sehr bemerkenswert zu sehen, dass sich eine Person, die nicht mehr selbstständig gehen konnte, im Liegen mit ihren Armen auf dem Boden fortbewegte. Die Pflegekräfte zeigten sich von dem Willen zur selbstständigen Fortbewegung beeindruckt und sprachen Anerkennung aus. Bei der betroffenen Person wiederum war Freude über diese Anerkennung zu sehen. Um ca. 15 Uhr kommt die Pflegekraft, die für den Nachtdienst eingeteilt ist. Oft geschieht dies unauffällig, da die Türen des Yoriai immer offenstehen, und die Pflegekraft gelegentlich auch durch die Hintertür reinkommt. Außerdem werden in der Regel zu dieser Zeit Kaffee und grüner Tee serviert. Die Pflegekräfte scheinen die Vorlieben der Nutzer/ innen zu kennen, dennoch fragen sie die Seniorinnen und Senioren, die sich noch verständigen können, ob sie Kaffee oder Tee möchten. Hierzu wird meist Kuchen serviert, den das Yoriai aus der Nachbarschaft oder von den Familien der Bewohner/innen erhalten hat.6 Die Tagespflege endet um 17:30 Uhr, doch schon um 17 Uhr wird das Yoriai geschlossen. Das heißt, alle Seniorinnen und Senioren, die zur Tagespflege anwesend waren, werden allmählich nach Hause gefahren und die, die im Yoriai übernachten, werden ins hintere Wohnzimmer gebracht, wo sie fernsehen können. Im Yoriai 2 gibt es ein ganz besonderes Ritual für die Schließung: Um Punkt 17 Uhr schauen die Pflegekräfte hinüber zu Frau Miyake. Frau Miyake, die noch sehr selbstständig ist, hat jeden Abend die gleiche Aufgabe. Sie verkündet laut, dass das Yoriai nun geschlossen werde und dass diejenigen, die nach Hause gebracht werden, bitte auf sich aufpassen sollen. Die Nutzer/innen, die im Yoriai übernachten, bittet sie, mit ins hintere Wohnzimmer zu gehen. Nach jedem Satz, den sie sagt, rufen alle Mitarbeiter/innen ein zustimmendes »Ja«. Zum Schluss zählen alle Mitarbeiter/innen gemeinsam mit Frau Miyake auf Englisch bis drei und heben bei jeder Zahl den Arm energisch in die Höhe. Durch die Zuweisung einer Aufgabe wird Frau Miyake nicht nur Verantwortung übertragen. Ein derartiges Ritual, an dem alle Mitarbeiter/ innen teilhaben und auch alle Pflegebedürftigen teilnehmen können, stärkt das Gefühl von Gemeinschaft und trägt zum geregelten Tagesablauf bei (vgl. Kuhn 2011: 144f.). 6 | Durch die enge Zusammenarbeit des Yoriai mit der Nachbarschaft und den Familien erhalten sie immer viele Geschenke.

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Um 18 Uhr gibt es Abendessen für diejenigen, die im Yoriai übernachten (in der Regel sind dies sechs bis neun Personen). Das Essen wird von der Pflegekraft zubereitet, die auch den Nachtdienst übernimmt. Meist ist am späten Nachmittag beziehungsweise am Abend auch die Zeit zu der die Bewohner/innen baden gehen. Es wird jedoch nicht jeden Tag gebadet. Die Pflegekräfte baden gemeinsam mit den Pflegebedürftigen in einer großen Badewanne, was das enge Verhältnis zwischen Pflegekräften und Pflegebedürftigen verdeutlicht und auch nur durch solches ermöglicht wird. In Japan wird das Baden häufig als Besonderheit der eigenen Kultur verstanden und dem gemeinsamen Baden eine wichtige Kommunikationsfunktion zugeschrieben. Um 18:30 Uhr gibt es zum Abschluss des Tages eine kleine Mitarbeiterkonferenz (shūrei). Die Pflegekraft, die den Nachtdienst übernimmt, befindet sich mit den Bewohnerinnen und Bewohnern im hinteren Wohnzimmer. Alle anderen Pfleger/innen, die am Tag anwesend waren, versammeln sich im vorderen Wohnzimmer und setzen sich gemeinsam an den Tisch. Sie besprechen und dokumentieren schriftlich die Befindlichkeit und Stimmung der Pflegebedürftigen und eventuell aufgetretene Auffälligkeiten am jeweiligen Tag. Sie reden auch über lustige Vorkommnisse und über Themen, die die Pflegekräfte selbst beschäftigen. Nach der Besprechung endet der Dienst der Tagesschicht. Jedoch bedeutet dies nicht, dass alle Mitarbeiter/innen direkt gehen. Es kann vorkommen, dass zusätzliche Aufgaben anfallen und die Pflegekraft, die für den Nachtdienst gekommen ist, noch etwas Unterstützung erhält. Es gab Tage, an denen Pfleger/innen, die um 10 Uhr gekommen waren, bis 23 Uhr anwesend waren.

Aktivitäten und alltägliche Ereignisse Wie bereits erwähnt herrscht im Yoriai meistens eine sehr gemütliche, nahezu familiäre Atmosphäre. Jeden Tag trinken die Pflegekräfte gemeinsam mit den Seniorinnen und Senioren über den Tag verteilt Tee und tauschen einige Worte aus, doch abgesehen davon gibt es nur wenige und vor allem kaum psychisch oder physisch anregende Aktivitäten. Die Gespräche zwischen Seniorinnen/Senioren und Pflegekräften beinhalten selten Thematiken, die zum Nachdenken animieren. Nur ab und zu fragen die Pflegekräfte die Pflegebedürftigen, wie es ihnen gehe und ob ihnen das Essen geschmeckt habe. Passiert allerdings einmal

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etwas Spannendes oder Ungewöhnliches, so versuchen die Pflegekräfte die Aufmerksamkeit der Pflegebedürftigen darauf zu lenken. So war es eine Sensation, als zwei Pfleger/innen ein Katzenhaus für die Katzen des Hauses bauten. Die Pfleger/innen bereiten ansonsten keine anregenden Themen oder Aktivitäten vor, sondern reagieren darauf, was in der Umgebung gerade passiert. Gelegentlich kommt es vor, dass ein Gespräch nicht von den Pflegekräften ausgeht, sondern die Seniorinnen und Senioren von sich aus das Gespräch suchen: An der Wand des Yoriai 2 hing eine große Kalligraphie-Zeichnung von Herrn Nakamura. Als die Pflegerin Frau Kuroda erzählte, dass Herr Nakamura Lehrer war und die Kalligraphie von ihm stammte, bekam er dies mit und verwies auf ein anderes Kalligraphie-Werk, das an einer anderen Wand hing. Dies sei seiner Meinung nach zu klein geschrieben. Sein Werk hingegen sei leserlich und sehr gut. Frau Kuroda lobte ihn darauf hin, wie toll sein Werk sei, und dass er recht habe. Es ist typisch für die Pflegekräfte, die Pflegebedürftigen auf diese Weise in ihren Aussagen zu stärken und ihnen nicht zu widersprechen. Daher stimmen sie ihnen in den meisten Fällen zu. Es gibt jedoch Tage, an denen gerade um die Mittagszeit beziehungsweise am Nachmittag eine Zeit lang kein Wort gewechselt wird und es sehr ruhig im Yoriai ist. Diese Stille wird manchmal spontan durch das Singen von ein oder zwei Liedern unterbrochen. Vor allem an Tagen, an denen die Pflegerin Frau Shiihara anwesend ist, die das traditionelle Seiteninstrument Shamisen spielen kann, werden am Nachmittag Hefte verteilt, die alte, bekannte Lieder aus verschiedenen Regionen enthalten und die dann nach und nach mit allen, die noch fähig sind zu sprechen, gemeinsam gesungen und von Frau Shiihara mit dem Shamisen instrumentell begleitet werden. Wenn ein Lied aus der Heimat eines Pflegebedürftigen gesungen wird, bitten die Pflegekräfte die jeweilige Person darum, dieses Lied anzustimmen. Hier ist eine gewisse Aufgabenzuteilung beziehungsweise Rollenzuweisung erkennbar, und auch wenn es kaum Aktivitäten im Yoriai gibt, so ist das Singen etwas, was auch sehr ruhige Nutzer/innen, die sich sonst kaum regen, aufleben lässt. Die Pflegekräfte freuen sich über solche Momente besonders. Gerade derartig erfreuliche Momente werden auch gerne mit der Kamera festgehalten und dokumentiert. Es kam darüber hinaus vor, dass die Pflegekräfte zu einem Lied getanzt haben: Frau Shiihara spielte mit ihrer Shamisen das Lied Tankō

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Bushi (»Volksweise eines Kohlebergwerks«) an, ein bekanntes Volkslied aus Fukuoka, das häufig im Yoriai gesungen wird und zu dem es einen berühmten Tanz gibt. Der Pfleger Herr Ogata stellte sich neben die Pflegebedürftige, Frau Suzuki, die zu dem Zeitpunkt auf einem Sessel saß. Als einige Seniorinnen und Senioren und Pflegekräfte begannen, Tankō Bushi zu singen, fing Herr Ogata an, den Tanz zu diesem Lied aufzuführen. Manchmal nahm er hierfür Frau Takahashi an die Hand, die sehr gerne zu diesem Lied tanzte. An diesem Tag wollte er den Tanz aber extra für Frau Suzuki aufführen, die schon den ganzen Tag sehr schlecht gelaunt war. Frau Suzuki schenkte Herrn Ogata jedoch keinerlei Beachtung. Herr Ogata tanzte bis zum Schluss. Als das Lied vorbei war, setzte er sich auf den Boden neben den Sessel, auf dem Frau Suzuki saß und schaute sie an. In einerseits trauriger Stimme, aber andererseits so, dass man es nicht ernst nehmen konnte, sagte er ihr, dass er den Tanz extra für sie aufgeführt habe und er es schade finde, dass sie nicht zugeguckt habe. Darauf hin musste Frau Suzuki herzlich lachen. Dieses Ereignis zeigt etwas, das im Yoriai sehr wichtig ist: gemeinsames Lachen. Einige Pflegekräfte, wie beispielsweise Herr Ogata, spielen dem Anschein nach eine Rolle als Unterhalter für die Seniorinnen und Senioren, um dafür zu sorgen, dass gute Stimmung vorherrscht. Häufig war ein scherzhafter Umgang mit den Pflegebedürftigen zu beobachten, zum Beispiel, wenn die Pflegekräfte auf etwas eingingen, was die Pflegebedürftigen sagten. Beispielsweise nahm Frau Katō eines Tages ihre Tasche in die Hand und lief im Wohnzimmer umher. Sie führte langsame, tanzartige Bewegungen aus und mit jedem Schritt, den sie tat, sprach sie die Worte binbō kaban (etwa »Armutstasche«). Die Pflegerin Frau Satō lief ihr hinterher und fing an, Frau Katōs Worte und Bewegungen nachzuahmen. Frau Katō schreckte dies nicht ab, im Gegenteil: Sie freute sich sehr darüber. Es wirkte, als ob die beiden gemeinsam einen Tanz aufführen würden. Die anderen Pflegekräfte lachten. Obgleich oder gerade weil nicht klar ist, was Frau Katō dazu bewegte, sich derartig zu äußern und manche dieses Verhalten sicher als unsinnig deuten würden, lachen die Pflegekräfte nie über die Pflegebedürftigen, sondern immer nur gemeinsam mit ihnen. Es wird sich nicht über eine Person lustig gemacht, um die Gefühle der Pflegebedürftigen nicht zu verletzen. Gemeinsames Lachen stellt eine Bindung untereinander her und die Pflegekräfte wissen genau, wem gegenüber sie sich neckend

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verhalten können.7 Aber es gibt natürlich auch Momente im Yoriai, in denen die Stimmung nicht so gut ist, in denen getrauert wird oder es zu Streitereien kommt oder andere schwierigen Situationen eintreten: Als Frau Hibino (ein sehr schwerer Pflegefall) weinte, trocknete die Pflegerin Frau Sezaki ihr mit einem Tuch die Tränen. Der Pfleger Herr Kameda wollte Frau Hibino in einen anderen Stuhl umsetzen und mit dem Stuhl in ein anderes Zimmer bringen, um sie dort zu pflegen, so wie es üblicherweise mit denjenigen gemacht wird, die sich nicht mehr selbstständig fortbewegen können. Bevor er sie umsetzte, umarmte er sie einen Moment lang und fragte: »Was ist denn los?«. In den meisten Fällen bemerken die Pflegekräfte, wenn etwas mit den Pflegebedürftigen nicht stimmt und sie fragen nach. Frau Katō beispielsweise ist ein sehr schwieriger Fall. Sie leidet oft unter Stimmungsschwankungen, weshalb man sie häufig weinen sieht. Auch in solchen Momenten zeigt sich der vertraute Umgang der Pflegerin Frau Gotō mit ihr, die sich oft erkundigt, was geschehen ist und versucht, sie zu trösten. Allerdings sind in einem Pflegeheim, in dem den ganzen Tag über gemeinsame Zeit verbracht wird, auch gelegentliche Streitereien nahezu unvermeidlich. So hatten sich an einem Nachmittag, als wir singen wollten, Herr Yamamoto und Frau Kawasaki aus irgendeinem Grund zerstritten. Die Pflegekräfte versuchten Herrn Yamamoto, der sonst gerne und mit kräftiger Stimme mitsingt, dadurch zum Singen zu animieren, dass sie ein Lied aus seiner Herkunftsregion anspielten. Doch Herr Yamamoto ließ sich weder auf heitern noch ablenken und wollte partout nicht mitsingen. Als die Pfleger/innen darauf hin nachfragten, was denn sei, regte Herr Yamamoto sich über Frau Kawasaki auf. Zu diesem Zeitpunkt saß Herr Yamamoto am Tisch in der Mitte des Wohnzimmers gegenüber von Frau Kawasaki, und sein Blick war auf sie fixiert. Da es schon 16:30 Uhr war, ereignete sich dieser Zwischenfall kurz vor der Schließung des Yoriai um 17 Uhr. Frau Gotō sagte den beiden, dass sie sich so kurz vor Schluss beruhigen sollten: »Lasst uns doch vertragen!«. Die Pflegekräfte Frau Kuroda und Herr Ogata setzten sich links und rechts neben Herrn Yamamoto. Sie wollten Herrn Yamamoto, der sich noch selbstständig bewegen kann, dazu bringen, sich neben seine Frau

7 | Auf die Wichtigkeit des gemeinsamen Lachens wird auch in der Forschung verwiesen, vgl. u.a. Åstedt-Kurki/Liukkonen 1994: 183f.; Beck 1994: 346f.

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zu setzen, die ebenfalls im Yoriai 2 gepflegt wird. Er weigerte sich jedoch und ließ sich lange Zeit nicht zur Ruhe bringen. Nicht immer können die Pflegekräfte erfolgreich eingreifen. In den meisten Fällen probieren sie jedoch verschiedene Methoden aus, einen Streit zu schlichten oder eine Person zu beruhigen. Dies gehört zu ihren Aufgaben und sie sehen ihre Rolle unter anderem als Streitschlichter. Frau Katō redete an einem Tag viel über Frau Yoshida und schaute sie dabei ängstlich an. Sie fürchtete sich offensichtlich vor ihr. Die Pflegerin Frau Sezaki bemerkte die Blicke von Frau Katō und sagte zu ihr: »Schau zu mir rüber! Schau mich an!«. Sie versuchte ganz offensichtlich, Frau Katōs Aufmerksamkeit zu gewinnen. Frau Katô beobachtete Frau Yoshida auch den Rest des Tages sehr konzentriert und immer, wenn Frau Sezaki dies bemerkte, versuchte sie wieder, Frau Katō abzulenken. Die Pflegekräfte achten aufmerksam darauf, was in ihrer Umgebung passiert und greifen in den meisten Fällen ein, wenn sie mitbekommen, dass sich jemand streitet. Die Angst von Frau Katō gegenüber Frau Yoshida ist nicht unberechtigt, denn Frau Yoshida ist ein sehr schwieriger Fall im Yoriai 2. Oft ist sie sehr unruhig, läuft viel umher und zwingt die Pflegekräfte, sie an die Hand zu nehmen, hat Wutanfälle und lässt diese an den Pflegekräften aus; vor allem an Pflegekräften, die schon länger im Yoriai sind und an die sie sich gewöhnt hat. So hat Frau Yoshida beispielsweise eines Tages, an dem die Pflegerin Frau Gōto neben ihr auf dem Sofa saß, Frau Gōto vermehrt fest in den Arm gedrückt. Frau Gōto versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen und neckte Frau Yoshida ab und zu nur ein wenig. Als Frau Gōto sich etwas später umsetzte, folgte Frau Yoshida ihr und setzte sich auf ihren Schoß. Frau Gōto sagte: »Du hast aber einen schönen Rücken«, und schrieb mit ihrem Finger Zeichen auf diesen. Frau Yoshida lachte zunächst, doch plötzlich verdüsterte sich ihre Mine und sie beschwerte sich, dass die Berührungen kitzeln würden. Auch wenn man annehmen könnte, dass eine Nutzerin wie Frau Yoshida auf Grund ihrer Aggressionen mit großer Vorsicht behandelt wird, lässt Frau Gōto sich nicht davon abhalten, sie zu necken. Doch im Großen und Ganzen nehmen die meisten Pflegekräfte sehr viel Rücksicht auf Frau Yoshida, indem sie beispielsweise fast immer mitgehen, wenn Frau Yoshida sie umherführen möchte. Ein Fall wie der von Frau Yoshida, in dem die demente Person zu aggressiven Verhaltensweisen neigt, verdeutlicht die Schwierigkeiten im Alltag der Pflege und wirft

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die Frage nach Grenzen auf und wie viel die Pflegekräfte erdulden können und müssen. Denn Gespräche mit den Pflegekräften haben durchaus gezeigt, dass sie Frau Yoshidas Verhalten sehr mitnimmt. In einem Interview mit der Pflegerin Frau Kubo beispielsweise wurde Frau Yoshida sehr oft erwähnt, und sie betonte, dass sie wegen Frau Yoshida oft kurz davor war zu weinen. Doch sie betonte auch, sie sei davon überzeugt, dass Frau Yoshida es durch die Demenz selbst am schlimmsten habe. Frau Yoshida ist allerdings nicht der einzige Problemfall; es kam beispielsweise vor, dass andere Pflegebedürftige die Pflegekräfte geschlagen haben. Die Pflegekräfte selbst wurden jedoch nie ausfällig und blieben ruhig. Ein empathischer und rücksichtsvoller Umgang mit den Pflegebedürftigen ist nicht nur bei derartig aggressivem Verhalten erforderlich. So ist es nicht unüblich, dass Menschen mit Demenz Verunsicherung zeigen und plötzlich Äußerungen wie »ich möchte nach Hause« machen. Aus ihrer Perspektive gibt es dafür dringende Anlässe. Frau Katō beispielsweise sprach eines Tages wiederholt und vehement davon, dass sie »nach Hause fahren« möchte, und erfand hierfür alle möglichen Gründe. Mal waren es die Kinder, mal war es die Wäsche. Frau Katō übernachtete jedoch nahezu jeden Abend im Yoriai 2 und wurde bzw. konnte daher nicht nach Hause gefahren werden. Dennoch ging die Pflegerin Frau Kuroda auf Frau Katō ein und sagte: »Frau Katō, warten Sie bitte noch einen Moment, es geht gleich nach Hause.« Gegen 17 Uhr stieg Frau Katō mit in eines der Autos, mit dem einer der Pflegebedürftigen, der zur Tagespflege anwesend war, nach Hause gebracht wurde. Nachdem die Pflegekraft die pflegebedürftige Person bei ihren Angehörigen abgeliefert hatte und wieder im Yoriai 2 angekommen war, war Frau Katō ebenfalls dabei und stieg mit aus. Nun sprach sie nicht mehr davon, dass sie »nach Hause« wolle. Durch den demenzbedingten Verlust kognitiver Funktionen fällt es Menschen mit Demenz oft schwer, Erinnerungen oder Konzepte abzurufen. Sie versuchen, den dadurch entstehenden Unsicherheiten und Verwirrungen einen subjektiv gemeinten Sinn zu verleihen. Dieser Versuch der Sinngebung ist für einen Außenstehenden oft unerklärlich (vgl. Powell 2013: 24). Die Pfleger/innen des Yoriai reagieren hierauf jedoch, indem sie versuchen, auf die Welt, in der die demente Person sich gerade befindet, einzugehen. So, wie sie beispielsweise Frau Katō in dem Glauben lassen, dass es für sie nach Hause zu ihrer Familie geht, indem sie

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sie mit ins Auto steigen lassen und sie nicht davon abhalten. Nach einer gewissen Zeit beruhigt sich die Person und scheint den Anlass dafür, nach Hause fahren zu müssen, zu vergessen. Dass die Pflegekräfte verschiedene Methoden ausprobieren, mit dementen Personen, die nach Hause wollen, umzugehen, zeigte sich bei einem Ausflug mit den Pflegebedürftigen. An einem warmen Frühlingstag haben die Pflegerinnen Frau Shiihara und Frau Sezaki gegen 14 Uhr einen Ausflug mit Frau Katō, Frau Miyake und Frau Tahara, die zu diesem Zeitpunkt einmal in der Woche zur Tagespflege im Yoriai war, zum Meer gemacht. Jedoch sprach Frau Tahara im Auto permanent davon, dass sie nicht mit ans Meer, sondern stattdessen nach Hause wolle. Frau Sezaki und ich baten Frau Tahara darauf hin, mit zum Meer zu kommen, doch sie lehnte strikt ab und meinte plötzlich: »Ich habe schon etwas Anderes vor.« Frau Sezaki sagte nun mit lauter Stimme, dass sie ihr Portemonnaie vergessen hätte, dies aber total wichtig sei, da es Geld, Führerschein und andere wichtige Unterlagen enthielte. Sie fragte: »Frau Tahara, können wir bei mir zu Hause vorbeifahren, bevor wir zu Ihnen fahren, um mein Portemonnaie zu holen?« Frau Tahara willigte ein und sagte, dass das in Ordnung sei. Frau Sezaki entschuldigte sich vielmals und bedankte sich. Anschließend fuhren wir zum Meer. Frau Tahara äußerte nicht mehr, dass sie nach Hause wollte, nachdem Frau Sezaki sich noch einige Male entschuldigt hatte. Während der Fahrt erwähnte Frau Sezaki mehrfach, dass es nicht mehr lange bis zu ihrem Haus sei. Am Meer angekommen setzten wir uns in das Café eines Hotels und aßen ein Eis. Beim Eisessen schreckte Frau Sezaki plötzlich auf und sagt »Oh, ich habe mein Portemonnaie gefunden! Ich hatte es doch in der Tasche. Ich entschuldige mich für die Umstände.« Alle verziehen ihr darauf hin. Demnach erfand Frau Sezaki eine Lüge, um Frau Tahara abzulenken und dazu umzustimmen, den Ausflug gemeinsam zu unternehmen, nachdem alle Versuche zuvor gescheitert waren, Frau Tahara zu einem Ausflug ans Meer zu animieren. Frau Sezakis Einwurf ließ die Situation nicht eskalieren und führte zum gewünschten Ziel. Die Pflegewissenschaftlerin Deguchi Yasunobu schreibt in ihrem Aufsatz zur Pflege von dementen Personen von einer »empathischen« Lüge, die aus Rücksicht auf den anderen vorgebracht wird und im strengen Sinne keine Lüge sei, sondern vielmehr als »Aufführung« oder »Inszenierung« zu sehen sei, mit der Absicht, die demente Person zu beruhigen (vgl. Deguchi 2008:

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201). Durch die »Inszenierung« Frau Sezakis wurde demnach verhindert, Frau Tahara zu verunsichern und zu verwirren.

Ausflüge Ausflüge, wie der beschriebene sind, wie oben erwähnt, zwar kein alltägliches Geschehnis im Yoriai, jedoch für das Gesamtbild des Yoriai wichtig. So werden im Frühling, Sommer und Herbst vor allem mit noch mobilen Pflegebedürftigen gerne Ausflüge mit dem Auto unternommen. Jedes Wochenende fahren sie zum Café beim Yoriai 3, das samstags von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Ehrenamtlichen angeboten wird. Darüber hinaus werden bei schönem Wetter gerne spontane Ausflüge zum Beispiel ans Meer unternommen. Eines Tages entschieden die Pflegerinnen Frau Kuroda und Frau Kubo, gemeinsam mit den Pflegebedürftigen Frau Takahashi, Frau Miyake und Herrn Yamamoto gegen 14 Uhr mit dem Auto zum Hafen von Fukuoka zu fahren. Dort angekommen wurde darauf geachtet, dass alle Pflegebedürftigen ihre Jacke trugen. Frau Miyake saß an diesem Tag im Rollstuhl und Herrn Yamamoto wurde die Aufgabe gegeben, diesen zu schieben. Anschließend ging es in ein Café. Die Pflegerinnen wussten, dass ein Kaffee für Frau Miyake zu viel gewesen wäre. Also fragte Frau Kubo Frau Miyake, ob sie sich einen Kaffee teilen wollten. Frau Miyake willigte ein. Die Pflegerin Frau Kubo hatte keinerlei Hemmungen, sich den Kaffee mit Frau Miyake zu teilen. Sie verhielt sich ihr gegenüber wie eine enge Freundin oder gar ein Familienmitglied. Nachdem alle ausgetrunken hatten, ging es zur Toilette. Frau Kuroda begleitete Frau Takahashi und ging mit ihr gemeinsam auf ein öffentliches WC. Frau Miyake, die ohne Hilfe auf Toilette gehen konnte, ging zunächst alleine hinein. Als sie fertig war, ging Frau Kuroda zu ihr hinein, um Frau Miyake beim Ankleiden behilflich zu sein. Die Unterstützung beim Toilettengang wird zwar offiziell als Aufgabe von Pflegekräften angesehen, doch auch in diesem Fall zeigte die Pflegerin Frau Kuroda keine Scheu, in der Öffentlichkeit gemeinsam mit Frau Miyake die Toilette aufzusuchen.

4.1 Dichte Beschreibung der Pflegeeinrichtung Takurōsho Yoriai

Aufgaben außerhalb der regulären Arbeitszeit Neben den oben beschriebenen Abläufen und Ereignissen wird von den Pflegekräften viel Engagement für weitere Aufgaben außerhalb ihrer regulären Arbeitszeit verlangt. Sie erzählten, dass sie in ihrer Freizeit versuchen, Gelder für das Yoriai zu sammeln, indem sie beispielsweise Marmelade herstellen und verkaufen und zu Spendenaktionen aufrufen. Darüber hinaus stehen sie mit den Mitgliedern der lokalen Gemeinschaft in engem Kontakt, was verdeutlicht, dass das Yoriai sich als Mitglied der lokalen Gemeinschaft sieht. Obwohl sie teilweise sehr lange Arbeitszeiten und viele Überstunden haben, sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr engagiert. Umgekehrt scheint es allerdings auch sehr schwierig für die Pflegekräfte zu sein, ihre Arbeit in der Arbeitszeit als »reine« Arbeit wahrzunehmen, da der Tagesablauf über die Körperpflege hinaus vor allem beinhaltet, gemeinsam mit den Seniorinnen und Senioren Zeit zu verbringen. Dies zeigt wie die Grenzen von Arbeit und Freizeit verschwimmen. Es wird viel Engagement für die Arbeit in der eigentlichen Freizeit der Pflegekräfte verlangt. Es war jedoch immer wieder beobachtbar, dass die Pfleger/innen sich mit der Institution stark identifizieren und in ihrer Arbeit »aufgehen«. Auf der anderen Seite klagen sie über zeitliche und psychische Belastungen. Nicht wenige hören daher nach einigen Jahren wieder auf (näheres zu den Pflegekräften siehe Kap. 4.6).

Schlussbetrachtungen Diese »dichte Beschreibung« des Pflegeheims Yoriai gibt einen Überblick zur Organisation und zum Tagesablauf der Einrichtung, und zeigt einige wichtige Grundzüge der Pflege dort auf. Es werden Themen angesprochen, die im späteren Verlauf dieses Werkes noch intensiver diskutiert werden. Besonders gab die »dichte Beschreibung« Hinweise auf den Umgang der Pflegekräfte mit den Pflegebedürftigen. Die Mitarbeiter/innen des Yoriai bemühen sich darum, die Emotionen und Handlungen der dementen Personen zu respektieren. Es ist häufig zu beobachten, dass sie selbst mit schwer dementen, sprachunfähigen Personen über Berührungen und Augenkontakte nonverbal kommunizieren. Des Weiteren erkennen die Pflegekräfte die Pflegebedürftigen als Kommunikationspartner/innen in ihrer Realität an, indem sie die Welt

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der dementen Person validieren. Sie schaffen so ein Vertrauensverhältnis und vermitteln den Pflegebedürftigen ein Gefühl der Sicherheit in ihrem alltäglichen Handeln. Das enge Vertrauensverhältnis ermöglicht auch eine körperliche Nähe, die immer wieder beim Essen zu beobachten gewesen ist, und die die Pflege vereinfacht. Durch diese körperliche Nähe wiederum verstärkt sich die Bindung zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen und ihre Beziehung nimmt quasi familiäre Formen an. Dies zeigt sich auch in den familiären Anredeformen wie obāchan (»Großmutter«) und ojiichan (»Großvater«), die benutzt werden, was grundsätzlich in der japanischen Gesellschaft häufiger geschieht als in der deutschen Gesellschaft (vgl. dazu Kap. 5). Die obige Beschreibung zeigt darüber hinaus, dass die Pflege der dementen Personen auch ein Problem des Fremdverstehens ist. Dieses Problem ist aufgrund der Tatsache sehr gravierend, dass sich demente Personen im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr verbal äußern können. Es können letztendlich nur Vermutungen über den Willen dieser Pflegebedürftigen gestellt werden. Doch zeigte die dichte Beschreibung, wie sehr die Pflegekräfte um ein Verstehen der dementen Personen in ihrer ganzen Persönlichkeit bemüht sind. An der augenscheinlichen Zufriedenheit der Nutzer/innen zeigt sich, dass es den Pflegekräften weitestgehend gelingt, die Wünsche und Absichten der dementen Personen abzulesen. Dazu gehört allerdings auch, dass die Pflegekräfte die individuellen Lebensgeschichten der Pflegebedürftigen kennen. Dies ermöglicht den Pflegerinnen und Pflegern, die Rolle zu verstehen, die die demente Person in der jeweiligen Kommunikationssituation spielt, und wiederum eine passende Gegenrolle dazu einzunehmen. Die dadurch entwickelten Rollenspiele beruhigten die Pflegebedürftigen und ermöglichten weitere Kommunikationen. Dass eine solche Pflege, wie sie im Yoriai praktiziert wird, viel Zeit fordert, ist ebenfalls in der »dichten Beschreibung« angesprochen worden. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen, denn die Pflegekräfte wissen offensichtlich nicht mehr, was als Teil ihrer Arbeit wahrzunehmen ist und was nicht. Sicherlich tragen hier die Rahmenbedingungen des Pflegeheims Yoriai dazu bei, da hier keine strengen Regeln und straffe Zeitpläne den Tag bestimmen, dafür aber viel Engagement auch außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit gefordert wird.

4.2 A ltersdemenz und F ormen der  F ürsorge   im lok alen K onte x t Kuroki Kunihiro, Ludgera Lewerich und Shingo Shimada

Wie in der Einleitung bereits beschrieben, wird sowohl in Deutschland als auch in Japan immer mehr davon ausgegangen, dass eine zufriedenstellende Pflege dement werdender alter Menschen nur im vertrauten Lebensraum mit der Unterstützung der lokalen Gemeinschaft möglich sei. Diese Ansicht vertreten auch die japanische und die deutsche Regierung. Im New Orange Plan (nyū orenji puran) formuliert die japanische Regierung das Ziel, eine für Menschen mit Demenz freundliche Umgebung zu schaffen (yasashii chiiki zukuri). Weiter heißt es dazu: »Es muss eine Gesellschaft verwirklicht werden, in der der Wille demenziell erkrankter Menschen respektiert wird und in der sie so weit als möglich in der ihnen gewohnten, guten Umgebung, ihrer Persönlichkeit entsprechend, weiterleben können […].« (MHLW 2015: 1; Übersetzung LL) (vgl. zum New Orange Plan Kap. 1). Auf ähnliche Punkte verweist auch die Initiative der deutschen Bundesregierung »Allianz für Menschen mit Demenz«1 in ihrer Agenda: »Menschen mit Demenz sind vor allem auf […] ein demenzfreundliches Umfeld angewiesen. Nur so können sie am Leben in der Gesellschaft selbstbestimmt teilhaben. […] Unterstützung durch nachbarschaftliche Hilfe kann manches auffangen.« (BMFSFF und BMG 2014: 11). In beiden Schreiben tauchen als wichtige Stichwörter immer wieder die gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung bzw. jibunrashisa der an Demenz erkrankten Personen und eine demenzfreundliche Umgebung auf (zur Diskussion des jibunrashisa Begriffes im Unterschied zu Selbstbestimmung siehe Kap. 5). Durch die Einbindung der lokalen Gemeinschaften und den Auf bau demenzfreundlicher Quartiere sollen

1 | »Allianz für Menschen mit Demenz« ist eine 2012 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem Bundesgesundeinheitsministerium gestartete Initiative. In ihr arbeiten Vertreter/innen aus Bund, Ländern und Kommunen, Verbänden und Organisationen zusammen. Ziele sind unter anderem die Hilfe und Unterstützung für demenziell Erkrankte zu verbessern und die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Krankheit.

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Familien entlastet, ein Weiterleben in gewohnter Umgebung möglich werden und gesellschaftliche Teilhabe erhalten bleiben. Lokale Umgebungen sind nicht nur aufgerufen, Menschen mit Demenz zu unterstützen, wichtige Ziele sind auch die Aufklärung der Bürger/innen über Demenz. Sobald jemand wegen einer demenziellen Erkrankung die Neigung entwickelt, den häuslichen Lebensraum zu verlassen und umherzustreifen, sind die Nachbarschaften konkret von dieser Problematik betroffen. Da demente Personen oft auch lokale Geschäfte und Cafés betreten, kann sich deren Personal dann mit Situationen konfrontiert sehen, für die sie nicht vorbereitet sind. Das kann zum Beispiel geschehen, wenn demente Personen vergessen zu zahlen und verwirrt oder teilweise auch aggressiv reagieren, wenn sie vom Personal damit konfrontiert werden. Generell müssen also für den Auf bau einer demenzfreundlichen Umgebung Vorurteile und Unwissen abgebaut und die Mitbürger/innen über die Erkrankung, ihre Auswirkungen und den richtigen Umgang mit Betroffenen aufgeklärt werden. Wie kann eine solche demenzfreundliche lokale Umgebung in der Alltagswirklichkeit realisiert werden? Und was geschieht konkret im lokalen Kontext, wenn jemand dement wird? Sowohl die deutschen Kooperationspartner/innen als auch die japanische Einrichtung dieser Untersuchung bieten vorbildhafte Ansätze zur Aufnahme von dementen Personen, die ihnen ein Weiterleben in der lokalen Gemeinschaft ermöglichen. Während der New Orange Plan der japanischen Regierung und die Agenda der deutschen Ministerien auf das Jahr 2012 zurückgehen, sind sowohl das Yoriai in Fukuoka als auch die Diakonie in Düsseldorf schon wesentlich länger bemüht, das lokale Umfeld in die Unterstützung von Menschen mit Demenz einzubeziehen und Demenz so als Aufgabe nicht nur der Betroffenen, deren Familien und der beruflich damit Befassten, sondern als gesellschaftliche Aufgabe wahrzunehmen. In der Alltagswirklichkeit stellt sich mit fortschreitender Krankheit und bei der Suche nach Fürsorgemöglichkeiten häufig früher oder später die Frage, ob die betreffende Person in der gewohnten häuslichen Umgebung ambulant oder doch in einer Einrichtung stationär gepflegt werden soll. Zwar besteht zwischen der häuslichen und der stationären Pflege auch die Möglichkeit der Tagespflege, doch die Entscheidung für eine vollstationäre Pflege ist in der Regel schwer zu treffen, weil dies für die Betroffenen eine grundlegende Veränderung der jeweiligen Lebensumstände bedeutet und für die An-

4.2 Altersdemenz und Formen der Fürsorge im lokalen Kontext

gehörigen aufgrund ihrer Familienvorstellung nicht selten ein schlechtes Gewissen hervorruft (zur Perspektive der Angehörigen vgl. Kap. 4.5). In diesem Unterkapitel wird zum einen der Prozess thematisiert, wie eine dement gewordene Person in eine Pflegeeinrichtung aufgenommen und integriert wird und zum anderen wird aufgezeigt, wie die lokale Unterstützung von dementen Personen bzw. der Auf bau einer demenzfreundlichen Umgebung funktionieren kann. An den Fallbeispielen wird zudem deutlich, wie schnell sich durch die Demenzerkrankung der Grad an Betreuungs- und Pflegebedürftigkeit ändern kann. So müssen die vorhandenen Pflegeangebote immer wieder der aktuellen Situation relativ kurzfristig und flexibel angepasst werden. Die diskutierten Fälle zeigen, dass sowohl das Yoriai als auch das Dorothee-Sölle-Haus und die zentren plus als »best practice Beispiele« gelten können, sich beide Seiten jedoch in ihren Vorgehensweisen deutlich voneinander unterscheiden.

Formen der lokalen Fürsorge im Yoriai

Der Aufbau eines lokalen Unterstützernetzwerkes für Frau Hayashi Interview mit Frau Matsumoto, der Tochter von Frau Hayashi Frau Hayashi wirkte etwa zehn Jahre lang aktiv als Wohlfahrtsvorsteherin (minsei iin) 2 in ihrer Nachbarschaft und war daher in der lokalen Gemeinde bekannt. Als sie Mitte 70 war, bemerkte ihre Tochter, die im Nachbarhaus 2 | Minsei iin ist eine Person, die im Auftrag des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt eine beratende und unterstützende Funktion in der lokalen Gemeinde für Wohlfahrtsfragen übernimmt. Diese Tätigkeit ist grundsätzlich freiwillig und ehrenamtlich (mit geringen Aufwandentschädigungen). Die Anfänge dieser Institution sind auf die Jahre 1917 und 1918 zurückzuführen, als durch die Industrialisierung das Armutsproblem in Großstädten aufkam. Es sollten Problemfälle in der Nachbarschaft aufgespürt und an die örtlichen Behörden übermittelt werden. Im Jahr 1948 wurde diese Institution gesetzlich verankert und es wurde für alle lokalen Gemeinden verbindlich, dass minsei iin als Vermittlungsinstitution zwischen Behörden und Bedürftigen agierten. Heute werden zunehmend Probleme diskutiert, die mit dieser Institution in Zusammenhang stehen. Zum einen sinkt die Bereitschaft in der Bevölkerung, diese Aufgabe zu übernehmen. Zum anderen wird ihre Rolle für die Nachbarschaftsbeziehungen immer kritischer gesehen, weil

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wohnte, Veränderungen an der geistigen Verfassung ihrer Mutter. Auch Frau Hayashi selbst war sich dieser bewusst und ging mit ihrer Tochter zum örtlichen Gesundheitsamt (hokensho), wo ihr der Besuch eines neurologischen Facharztes empfohlen wurde. Die Tochter, Frau Matsumoto, begleitete ihre Mutter zu einem medizinischen Test und es wurde Alzheimer in einem frühen Stadium festgestellt. Im Gespräch mit dem Facharzt wurde vereinbart, Frau Hayashi medikamentös zu behandeln und sie in eine Tagespflege zu bringen, in der auch Rehabilitationsübungen angeboten wurden. Eine Zeit lang ging sie gern in diese Einrichtung, doch schließlich schritt ihre Erkrankung so weit fort, dass sie die Rehabilitationsübungen nicht mehr mitmachen konnte. Um diese Zeit begann sie auch, zunehmend ruhelos in der Nachbarschaft umherzulaufen. Durch einen Zufall erfuhr ihre Tochter von der Einrichtung Yoriai, die sich auch in ihrer Nähe befand. Frau Hayashi wurde vom Yoriai aufgenommen und besuchte zunächst einmal wöchentlich die Tagespflege der Einrichtung. Sukzessiv wurde ihr Aufenthalt auf fünf Tage in der Woche ausgedehnt. Anfangs konnte Frau Hayashi selbstständig zu Fuß dorthin gehen, zumal sie die Umgebung sehr gut kannte. Doch mit der Zeit ging ihre räumliche Orientierungsfähigkeit immer mehr zurück. Sie verschwand auch zunehmend in unbemerkten Momenten aus dem Haus und wanderte in der Gegend umher. Trotz der immer schwieriger werdenden Lage zögerte die Tochter lange, dies im Yoriai anzusprechen. Sie dachte, dass das Umherlaufen ihrer Mutter für die Einrichtung eine wesentlich größere Arbeitsbelastung mit sich bringen würde. Als sie jedoch schließlich mit der damaligen Leiterin der Einrichtung, Frau Shimomura, darüber sprach, wurde ihr vorgeschlagen, die Zeit, die Frau Hayashi in der Einrichtung verbrachte, weiter auszudehnen. Während die Tochter davon ausgegangen war, durch das Umherlaufen ihrer Mutter könnte die Belastung für die Einrichtung zu hoch werden, da ihre Mutter in jungen Jahren Leichtathletin gewesen war und unter Umständen sehr weit weg laufen konnte, argumentierte Frau Shimomura, dass es um die Sicherheit und das Wohlergehen von Frau Hayashi ginge. Bei ihrem oft orientierungslosen Umherwandern bestand die Gefahr, dass sie etwa in einen Unfall verwickelt werden könnte. Frau Shimomura schlug vor, Frau Hayashi längere Zeit in der Einrichtung zu lassen, um die Belastung der

sie sich u.U. mit sehr privaten Bereichen des Haushalts befassen, um die Bedürftigkeit einer Person oder Familie zu ermitteln (vgl. Takahashi/Hashimoto 1997).

4.2 Altersdemenz und Formen der Fürsorge im lokalen Kontext

Tochter zu verringern und zusätzlich ein Unterstützungsnetzwerk in der Nachbarschaft aufzubauen. Die Etablierung eines Unterstützungsnetzwerkes mit Einbezug der lokalen Gemeinschaft war aus zwei Gründen notwendig: Zwar verfolgt das Yoriai das Prinzip, dass Nutzer/innen, die aus der Einrichtung fortlaufen und umherlaufen, von einer Pflegerin oder einem Pfleger begleitet werden, bis sie freiwillig wieder zurückgehen wollen. Doch ist diese Möglichkeit angesichts der Zahl der Pflegekräfte begrenzt und es ist nicht immer möglich, rechtzeitig zu bemerken, dass eine demente Person die Einrichtung verlässt. Zum anderen ging Frau Hayashi immer wieder auch von ihrem eigenen Haus aus unbemerkt weg, wodurch ihre Tochter oft alleine mit dem Problem konfrontiert war. Als Lösung wurde angeregt, diese Tatsache in der Nachbarschaft bekannt zu machen, sodass entweder die Tochter oder die Einrichtung benachrichtigt werden konnten, wenn jemand Frau Hayashi allein herumlaufen sah. Daher druckte die Einrichtung Yoriai einen Suchzettel mit dem Profil von Frau Hayashi. Frau Hayashi selbst, ihre Tochter und ein Pfleger der Einrichtung verteilten gemeinsam Ausdrucke dieses Suchzettels (siehe Abb. unten) an örtliche Geschäfte und Tankstellen. Auf diese Weise entstand auf Initiative von Frau Shimomura die informelle Unterstützergruppe Hayashi san wo kakomu kai (Gruppe um Frau Hayashi) zu der anfänglich das Fachpersonal aus dem Wohlfahrts- und Pflegebereich und örtliche Wohlfahrtsbeauftragte (minsei iin), sowie Pfleger/innen der Einrichtung Yoriai und Angehörige gehörten. Die Fachleute erkannten durchaus die Notwendigkeit eines solchen Netzwerkes an, wollten jedoch nach einiger Zeit wegen Zeitmangel nicht mehr daran teilnehmen. So bestand das Netzwerk später lediglich aus den Pflegerinnen und Pflegern der Einrichtung Yoriai, den Angehörigen, Freundinnen/Freunden und Bekannten sowie Interessierten aus der Nachbarschaft. Mit der Zeit wurde es zu einer beständigen Institution, die ihre Unterstützung nicht nur auf Frau Hayashi beschränkte, sondern immer wieder bei ähnlichen Fällen einberufen wird. Dieses Netzwerk erleichterte auch die Arbeit der Pfleger/innen der Einrichtung. Letztendlich wurden die Aufenthalte von Frau Hayashi im Yoriai auch auf die Nächte ausgedehnt und die Dauer ihrer Aufenthalte wurde sukzessiv verlängert.

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Dieses Fallbeispiel zeigt, auf welche flexible Weise die Einrichtung Yoriai die Form der Pflege, sowohl dem Krankheitsverlauf der Nutzerin, als auch dem Bedürfnis der pflegenden Angehörigen anpasst. Diese Flexibilität wird zum einen durch den Einsatz der Pflegekräfte ermöglicht – sie müssen bereit sein, unter Umständen kurzfristig über Nacht eine zusätzliche Person aufzunehmen. Zum anderen beinhaltet diese Flexibilität auch das Vertrauensverhältnis zwischen der Leiterin, Frau Shimomura und der Tochter, Frau Matsumoto. Die enge emotionale Beziehung war im Interview deutlich spürbar. Vor diesem Hintergrund engagierte sich Frau Matsumoto sehr stark bei der freiwilligen Mitarbeit in der Einrichtung, um für diese Form der psychischen und pflegerischen Unterstützung mit ihrem freiwilligen Einsatz etwas »zurückzuzahlen«. Auf diese Weise werden zwischen Angehörigen und der Einrichtung enge emotionale Verflechtungen geknüpft. So ist es nicht selten, dass die Leiterin bzw. leitende Pflegekräfte pflegenden Angehörigen Angebote machen, betreffende demente Person spontan länger und auch über Nacht in der Einrichtung zu behalten, wenn sie den Eindruck haben, dass die Angehörigen von der Pflege überfordert sind. Ebenso zeigt dieses Fallbeispiel, dass auch die Pflegeeinrichtung bei der Betreuung unruhiger und herumlaufender Nutzer/innen überfordert sein kann. Besonders eine Einrichtung wie das Yoriai ist auf die Unterstützung der Umgebung angewiesen. Dadurch, dass die Türen vom Yoriai grundsätzlich nicht abgeschlossen werden und dadurch, dass die traditionelle japanische Bauweise ohnehin offen gestaltet ist, haben die Benutzer/ innen der Einrichtung immer die Möglichkeit »auszubrechen« (vgl. Kap. 4.1). Dass der Bewegungsdrang nicht eingeschränkt wird und eine Pflegerin oder ein Pfleger diese Person, wenn möglich begleitet, illustriert das Prinzip des Yoriai, den Willen der Nutzer/innen (so weit wie möglich) zu respektieren. Doch diese Möglichkeit ist aufgrund der Anzahl der Pfleger/innen oft begrenzt, und es kommt hin und wieder vor, dass eine demente Person unbemerkt weggeht. In diesem Fall ist die Einrichtung, um die Sicherheit ihrer Nutzer/innen zu gewährleisten, auf die Hilfe der Nachbarschaft angewiesen. Vor diesem Hintergrund versuchten die Pfleger/innen ein Unterstützungsnetzwerk für Frau Hayashi aufzubauen. Die Kooperation zwischen der Einrichtung, der Nachbarschaft und den Angehörigen ist nach unserer Beobachtung von einer eher informellen und persönlichen Natur, sodass von einer dauerhaften Institutionalisierung der Unterstützung nicht gesprochen werden kann.

4.2 Altersdemenz und Formen der Fürsorge im lokalen Kontext

Übergänge zwischen verschiedenen Formen der Fürsorge bei der Diakonie Düsseldorf In der Einrichtung Yoriai findet der Einbezug der lokalen Gemeinschaft auf Initiative und Engagement des Pflegepersonals neben der eigentlichen Arbeit ehrenamtlich und informell statt. Das folgende Beispiel zeigt, wie im institutionellen Rahmen der Diakonie in Düsseldorf ein kontinuierlicher Übergang von einer in die nächste angemessene Betreuungsform möglich sein kann.

Individuell angepasste Pflegeangebote im institutionellen Rahmen Interview mit Peter Wienß, Leiter des Dorothee-Sölle-Hauses Diakonie Oberkassel Seit ihr Ehemann im Jahr 2000 verstorben war, lebte Frau Hartmann in ihrer Heimatstadt Düsseldorf alleine. Im Jahr 2001 traf sie ihren heutigen Lebenspartner, Herrn Dürnberg, auf einem Klassentreffen. Herr Dürnberg war ein guter Freund ihres verstorbenen Mannes, und sie kannten sich seit der Schulzeit. Nach dem Wiedersehen kamen sie einander schnell näher und lebten ab 2003 zusammen in Grenoble. Im Sommerurlaub 2006 bemerkten die Kinder von Frau Hartmann Unstimmigkeiten bei ihr. Schnell wurde bei einem Neurologen eine Röntgentomographie ihres Gehirns durchgeführt, bei der jedoch keine Auffälligkeiten festgestellt wurden. Erst im darauffolgenden Jahr wurde in der Düsseldorfer Universitätsklinik ein Alzheimer-Test durchgeführt und die Alzheimererkrankung diagnostiziert. Herrn Dürnberg und den Kindern von Frau Hartmann wurde das Krankheitsbild erklärt, und es begann eine medikamentöse Behandlung der Krankheit. Zu diesem Zeitpunkt lebte das Paar noch in Grenoble und konnte das Alltagsleben allein bewältigen. Mit der Zeit wurde dies jedoch immer schwieriger und sie beschlossen, nach Düsseldorf zu ziehen und mieteten eine betreute Wohnung in der Diakonie Oberkassel. Diese Einrichtung erschien ihnen für ihre Situation günstig, weil sie Pflege in Anspruch nehmen konnten, wenn sie notwendig werden sollte. Darüber hinaus war direkt neben dieser Einrichtung das Alters- und Pflegeheim der Diakonie (Dorothee-Sölle-Haus), sodass sie wegen der weiteren Planung beruhigt sein konnten. Sie zogen 2009 in die betreute Wohnung ein und verbrachten eine ruhige Zeit ohne Pflegedienste in Anspruch zu neh-

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men. Doch nach und nach konnte Frau Hartmann immer weniger selbst für sich sorgen, und Herr Dürnberg kümmerte sich um sie. Im Jahr 2010 verschlechterte sich der Zustand von Frau Hartmann und aufgrund depressiver Symptome empfahl die Fachärztin ihr einen Aufenthalt in der gerontopsychiatrischen Klinik. So wurde sie zwölf Tage lang in der Klinik behandelt. Herr Dürnberg kam jeden Tag dort vorbei, um sie zu besuchen. Frau Hartmanns Zustand besserte sich, und das Paar fuhr für zwei Wochen in den Urlaub nach Österreich. Doch war diese Fahrt für Frau Hartmann offensichtlich verwirrend, sodass sie nach neun Tagen zurückkamen. Während der Reise waren sie noch einmal in ihrem Haus in Grenoble, doch Herr Dürnberg musste feststellen, dass sie dort nicht mehr zusammenleben konnten. Im Oktober desselben Jahres verschlechterte sich Frau Hartmanns Zustand weiter und sie musste erneut für sechs Wochen in die Klinik. Herr Dürnberg war zuvor von der Pflege sehr in Anspruch genommen worden und konnte sich nun etwas erholen. Während dieses Klinikaufenthaltes wurde deutlich, dass Frau Hartmann nicht mehr alleine zu Hause zurechtkam. Herr Dürnberg besprach dies mit der Sozialarbeiterin der Diakonie, und es wurde beschlossen, dass Herr Dürnberg die alltägliche Pflege übernehmen werde, während Frau Hartmann in seiner Abwesenheit die Einrichtung der Kurzzeitpflege in Anspruch nehmen sollte. Da sich Frau Hartmanns Zustand jedoch weiterhin zunehmend verschlechterte, wuchs die Belastung für Herrn Dürnberg kontinuierlich. Deshalb wurde zunächst die Aufenthaltsdauer in der Kurzzeitpflege verlängert, bis Frau Hartmann 2011 offiziell im Pflegeheim aufgenommen wurde. Da sich das Pflegeheim nur etwa 100 Meter von der betreuten Wohnung entfernt im selben Gebäude wie die Einrichtung der Kurzzeitpflege befand, bereitete dieser Umzug Frau Hartmann kaum Schwierigkeiten, zumal Herr Dürnberg jeden Tag zu Besuch kam und sie zum Spaziergang ausführte. Außerdem kannte sie bereits viele Menschen dort. Als die Krankheit immer weiter fortschritt, hatte Frau Hartmann ununterbrochen das Bedürfnis sich zu bewegen, sodass die Pflegerin ihr im Laufen Essen anreichen musste. Dennoch verlor Frau Hartmann Körpergewicht und wurde allgemein schwächer.

An diesem Fallbeispiel wird deutlich, wie die institutionellen Übergänge zwischen unterschiedlichen Wohnformen gestaltet werden können. Es handelt sich hier um einen gelungenen Fall. Je nach dem individuellen

4.2 Altersdemenz und Formen der Fürsorge im lokalen Kontext

Pflegebedarf konnte das Paar seinen Lebensmittelpunkt zunächst vom rein privaten Wohnraum in eine Einrichtung des betreuten Wohnens verlegen, worauf es im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung eine Klinik, die Einrichtung der Kurzzeitpflege und schließlich das Pflegeheim in Anspruch nehmen konnte. Wichtig ist hierbei, dass die institutionellen Pflegeangebote von einer Hand durch die Diakonie angeboten wurden, sodass die betreffende Person, bevor sie die Pflegedienste in Anspruch nehmen musste, sowohl das Pflegepersonal und die Sozialarbeiterin als auch die Räumlichkeiten gut kennenlernen konnte. Hinzu kam, dass zum notwendigen Zeitpunkt auch jeweils eine Wohnung im betreuten Wohnen bzw. ein Platz in der Kurzzeitpflege und dann im Pflegeheim frei waren bzw. schnell frei wurden. Darüber hinaus ist es für das Verständnis dieses Falles wichtig, dass Herr Dürnberg sich sehr aktiv um eine gute Versorgung seiner Lebensgefährtin kümmerte und ihm vielfältige Beratungsmöglichkeiten des institutionalisierten Unterstützungsnetzwerkes »Demenznetz« zur Verfügung standen, die er in Anspruch nahm. Hier konnte er auf die Beratung durch Fachleute wie die Sozialarbeiterin, den Heimleiter und die Fachärztin zurückgreifen, ohne deren Unterstützung er mit der Pflege seiner Lebenspartnerin wohl überfordert gewesen wäre.

Zwischenfazit Durch den Vergleich dieser beiden Fälle können einige generelle Punkte herausgearbeitet werden. Auffällig ist die Tatsache, dass im Fall von Frau Hartmann die institutionellen Übergänge reibungslos vonstattengingen. Dies war nur aufgrund der bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen möglich und zeigt die Stärke der institutionellen Seite des deutschen Fürsorgesystems und der vielfältigen Angebote der Diakonie Düsseldorf. Dazu trug bei, dass Herr Dürnberg frühzeitig mit der Planung der gemeinsamen Zukunft begonnen und sich bei der Diakonie informiert hatte. Ausschlaggebend für seine Entscheidung für die Diakonie war offensichtlich, dass sie systematische Übergänge vom betreuten Wohnen, über die Kurzzeit- und Tagespflege und das Pflegheim bis hin zur Sterbebegleitung bot. Dies war nur möglich, weil bereits vor der Inanspruchnahme der Einrichtung institutionelle Angebote vorlagen. Dagegen ist der Verlauf im Fall von Frau Hayashi aufgrund des Organisationsprinzips der Einrichtung Yoriai wesentlich informeller und flexibler. Zudem war sie nicht von Anfang an im Yoriai, sondern zuerst

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in einer anderen Einrichtung, die nur auf Menschen mit Demenz im Anfangsstadium eingerichtet war und über keine weiterführenden Versorgungs- bzw. Betreuungsangebote verfügte. Damit wurde ein Wechsel des Anbieters notwendig. Das Yoriai dagegen bietet eine Form der Betreuung an, die stufenweise intensiviert werden kann. Frau Hayashi besuchte so die Einrichtung in der Anfangsphase nur ein oder zwei Mal in der Woche zur Tagespflege. Die Zahl der Tage wurde dann mit dem Fortschreiten der Erkrankung sukzessiv erhöht und zugleich fing Frau Hayashi an, hin und wieder je nach Bedarf in der Einrichtung im Sinne der Kurzzeitpflege zu übernachten, bis sie schließlich längere Zeiten in der Einrichtung zu verbringen begann. Dies geschah alles fließend und ohne die Grunddispositionen des Alltagslebens von Frau Hayashi radikal zu verändern.

Der Aufbau eines lokalen Unterstützungsnetzwerkes in Düsseldorf Ein anderer Aspekt, der im Fallbeispiel von Frau Hayashi deutlich wird, ist die Bedeutung des lokalen Unterstützungsnetzwerks. Das folgende Beispiel zeigt, wie auch in Düsseldorf ein lokales Unterstützernetzwerk aufgebaut werden konnte.

Der Aufbau eines lokalen Unterstützungsnetzwerkes in Düsseldorf Interview mit Petra Wienß, Leiterin des zentrum plus Gerresheim Die alleinstehende Frau Stein verbrachte nach ihrer Verrentung jedes Jahr den Sommer auf einem Campingplatz am Rhein und wohnte nur im Winter in Düsseldorf Gerresheim. Seit dem Jahr 2000 besuchte sie, wenn sie in ihrer Wohnung in Gerresheim war, auch das dortige zentrum plus und aß dort zu Mittag, da sie viele Besucher/innen des Zentrums von früher her gut kannte. Auch die Leiterin dieser Einrichtung, Frau Wienß kannte sie daher gut. Zunächst bemerkte niemand die Veränderungen von Frau Stein, bis ihr Verhalten in Veranstaltungen des zentrums plus langsam auffällig wurde, da sie beispielsweise während dem Besuch eines Vortrags plötzlich laut zu sprechen begann und herumlief. Eines Tages im Jahr 2004 kam sie dann mit sehr vielen ungeöffneten Briefen zum zentrum plus. Darunter waren einige unbezahlte Rechnungen. Durch dieses Ereignis wurde schnell

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deutlich, dass Frau Stein in ihrem Alltagsleben Unterstützung brauchte, zumal sie weder Kinder noch Verwandte hatte. Zunächst wurde im zentrum plus die Sachlage geklärt und die Rechnungen beglichen. Doch es war zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass man im zentrum plus allein die anstehenden Aufgaben nicht bewältigen konnte und dass Frau Stein eine Betreuerin bzw. einen Betreuer brauchen würde. Damit ein/e Betreuer/in engagiert werden kann, ist zunächst eine medizinische Diagnose notwendig. Daher wurde der Hausarzt von Frau Stein von der Sozialarbeiterin, Frau Wienß kontaktiert und es entstand eine direkte Verbindung zwischen dem Hausarzt und dem zentrum plus. Der Hausarzt überwies Frau Stein in Absprache mit der Sozialarbeiterin an die gerontopsychiatrische Klinik, womit sie zugleich in das Düsseldorfer Demenznetz eingegliedert wurde. Hier wurde eine altersbedingte Demenz diagnostiziert. Es war sowohl für die Nachbarschaft als auch für ihren Freundeskreis wichtig, dass die Demenz medizinisch diagnostiziert wurde. Erst dadurch konnte ihr soziales Umfeld anscheinend verstehen, warum Frau Stein zunehmend ein für sie unverständliches Verhalten gezeigt hatte. Dies erleichterte wesentlich den Aufbau des Unterstützungsnetzwerkes. Nach dieser Diagnose wurde ein Betreuer für Frau Stein bestellt, und sie konnte nun auch Pflege- und Betreuungsangebote des zentrums plus für Demenzerkrankte nutzen. Darüber hinaus wurde ein weiterer ehrenamtlicher Helfer gesucht, der Frau Stein zum Café und auf Spaziergängen begleitete. Durch die Diagnose wurde es ihr auch möglich, Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch zu nehmen, sodass eine Haushaltshilfe engagiert werden konnte. Der Betreuer von Frau Stein gehörte zum Kreis der ehrenamtlichen Betreuer/innen der Diakonie Gerresheim. Er begann damit, ihre Post zu sortieren und das Alltagsleben von Frau Stein zu ordnen. Damit konnten auch einige drohende gerichtliche Klagen verhindert werden. Doch um diese Zeit kam Frau Stein nicht mehr wie früher regelmäßig zum Mittagsessen ins zentrum plus und es wurden einige Beschwerden von nahliegenden Cafés und Imbissen an das zentrum plus herangetragen, dass Frau Stein nach dem Verzehr ohne zu zahlen die Lokale verlassen hätte. Es bestand daher die Notwendigkeit zur Klärung dieser Situation, und die Sozialarbeiterin des zentrums plus suchte zusammen mit dem Betreuer nach Lösungen, damit Frau Stein möglichst lang in ihrer Wohnung in der gewohnten Umgebung weiterleben konnte. In diesem Rahmen wurde beschlossen, ein Unterstützungsnetzwerk für Frau Stein aufzubauen. Es war der erste Fall

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für das zentrum plus, in dem ein solches Netzwerk notwendig wurde. So wurden Cafés, Imbisse und Restaurants kontaktiert, in denen Frau Stein regelmäßig einkehrte. Die dortigen Mitarbeiter/innen wurden gebeten, eine monatliche Rechnung an das zentrum plus zu schicken. Zudem wurden die Nachbarinnen und Nachbarn von Frau Stein angesprochen und es wurde vereinbart, dass sie ab und zu nach ihr schauten. Dadurch, dass Frau Stein ihr Leben lang einen Einzelhandel in Gerresheim betrieben hatte, hatte sie viele Bekannte und Freundinnen und Freunde vor Ort, die alle ihre Hilfsbereitschaft signalisierten. Einige Zeit später brach Frau Stein sich das Schlüsselbein und wurde deswegen in die Pflegestufe 1 eingestuft. Ab diesem Zeitpunkt kam ein Pfleger zu ihr in die Wohnung. So konnte Frau Stein durch die Unterstützung eines ehrenamtlichen Betreuers, eines ehrenamtlichen Helfers und eines professionellen Pflegers für drei bis vier Jahre ihr Alltagsleben in der gewohnten Umgebung fortsetzen. Der Antrag für die Leistungen der Pflegeversicherung wurde von dem ehrenamtlichen Betreuer und der Sozialarbeiterin zusammen angefertigt. Generell trafen beide zusammen in Absprache alle anstehenden Entscheidungen. Darüber hinaus spielte auch ihr privater Freundeskreis eine wichtige Rolle, da dieser ihr in mehrfacher Hinsicht Unterstützung, wie das gemeinsame Spazieren, Einkaufen und Kaffeetrinken, anbieten konnte. Doch wären diese Freundinnen und Freunde wohl nicht derartig aktiv geworden, wenn ihnen die Sozialarbeiterin nicht den gesundheitlichen Zustand von Frau Stein erklärt und sie um ihre Unterstützung gebeten hätte, da ihnen die Problematik der Demenzerkrankung vor dem Gespräch mit der Sozialarbeiterin nicht bewusst gewesen war. Auf diese Weise wurde ein Unterstützungssystem aufgebaut, dass für eine gewisse Zeit sehr gut funktionierte. Doch nachdem Frau Stein erneut einige Male hingefallen war, verlor sie zunehmend die räumliche Orientierung. An einem Wochenende fuhr sie mit der Straßenbahn eine Station zu weit und war nicht in der Lage, sich mit den fremden Menschen auf der Straße zu verständigen und sie um Hilfe bei der Orientierung zu bitten. Zu ihrem Glück wurde sie von jemandem erkannt und diese Person brachte sie nach Hause. Durch dieses Ereignis wurde deutlich, dass weitere Schritte vorbereitet werden mussten. Bei einem weiteren Sturz brach sie sich erneut das Schlüsselbein. Da sie diesen Sturz jedoch vergaß und daher nicht ansprach, wurde der Knochenbruch erst viel später bemerkt. Es entstand ein dringender Hand-

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lungsbedarf und darum wurde zunächst die Häufigkeit der häuslichen Pflege erhöht. Doch es wurde schnell deutlich, dass dies nicht ausreichte, sodass sie zunächst in eine Einrichtung der Kurzzeitpflege kam. Obwohl Frau Stein zuvor behauptet hatte, dass sie alleine zurechtkommen würde, wurde nun ihre Erleichterung über die Versorgung bemerkbar. Daher beschlossen die Sozialarbeiterin und der ehrenamtliche Betreuer gemeinsam, den Aufenthalt in der Kurzzeitpflege zu verlängern, bis ein Platz in einem Pflegeheim frei wurde. Auch nachdem Frau Stein in einem Pflegeheim aufgenommen worden war, kam sie regelmäßig einmal in der Woche zu einem Treffen ins zentrum plus, wofür vom Heim ein Shuttlebus zur Verfügung gestellt wurde. Diesen Dienst nahm sie etwa für ein Jahr in Anspruch bis sie das Interesse an den Besuchen verlor.

An diesem Fallbeispiel wird vor allem die Funktionsweise der Institution zentrum plus sichtbar, die in Zusammenarbeit mit der Stadt Düsseldorf und den Wohlfahrtsverbänden betrieben wird und niedrigschwellige Angebote für ältere Menschen im jeweiligen lokalen Kontext bietet (vgl. Kap. 1). Es gelang hier der Sozialarbeiterin, ein unterstützendes Netzwerk für Frau Stein aufzubauen, sodass sie noch lange, nachdem sie an Demenz erkrankt war, in ihrer gewohnten Umgebung leben konnte. Wichtig ist hierbei, dass das zentrum plus prinzipiell eine sehr offene Institution darstellt, an die sich jeder wenden kann. Bei den Angeboten wird bewusst betont, dass sich jeder – auch nicht an Demenz Erkrankte – davon angesprochen fühlen kann. Da Frau Stein diese Institution schon vor ihrer Erkrankung bekannt gewesen war, hatte sie demnach eine vertraute Anlaufstelle, an die sie sich mit ihren ungeöffneten Briefen wenden konnte. Die Sozialarbeiterin wusste, dass Frau Stein alleinstehend war und organisierte schnell ein Unterstützungsnetzwerk. Dies war dadurch möglich, dass das zentrum plus im Rahmen des Wohlfahrtsverbandes Diakonie betrieben wird, denn dort waren sowohl ehrenamtliche Betreuer/innen als auch ehrenamtliche Helfer/innen organisiert. Darüber hinaus vermittelte die Sozialarbeiterin des zentrums plus Frau Stein an das Demenznetz Düsseldorf und brachte Frau Stein zu einer Fachärztin, wodurch sehr schnell ihre Demenzerkrankung diagnostiziert werden konnte.

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Vergleichende Betrachtung Betrachtet man die Fallbespiele, können aus den Gemeinsamkeiten und Unterschieden einige wichtige Schlussfolgerungen gezogen werden. Sicherlich ist dabei zu beachten, dass Frau Stein völlig alleinstehend war, während Frau Hayashi von ihrer Tochter gepflegt wurde. Doch abgesehen von diesem Ausgangspunkt gibt es zunächst sehr viele Gemeinsamkeiten. Der erste Punkt ist, dass beide in ihrem Leben vor der Erkrankung bereits einen sehr starken Bezug zur lokalen Gemeinschaft hatten. Frau Stein war im Einzelhandel tätig und kannte dadurch sehr viele Menschen vor Ort, und Frau Hayashi war als Wohlfahrtsbeauftragte der Kommune tätig, wodurch viele Menschen in ihrer Nachbarschaft sie nicht nur kannten, sondern ihr für ihre unterstützende Tätigkeit dankbar waren. Diese Umstände trugen sicher maßgeblich zum Zustandekommen der Unterstützungskreise bei. Doch die institutionellen Unterschiede sind auffällig. Frau Stein war schon lange vor ihrer Erkrankung mit dem zentrum plus vertraut, da sie wochentags dort ihr Mittagsessen einnahm. Sie hatte also einen öffentlichen Ort, den sie gut kannte und an den sie sich wenden konnte, wenn Probleme auftraten. Auf diese Weise funktioniert das zentrum plus als eine leicht zugängliche Beratungsstelle auch für Familienangehörige. Dagegen war im japanischen Fall die Tochter zunächst ratlos, wohin sie sich wenden sollte, als bei ihrer Mutter Veränderungen auffällig wurden. Sie wandte sich an das städtische Gesundheitsamt, das sie an eine ärztliche Praxis weiterleitete. Doch von dem Arzt bekam sie nur die Diagnose und keine Hinweise, wohin sie sich wenden sollte. Auch ist der Gang zum Gesundheitsamt mit der Hürde verbunden, dass die Betroffenen sofort von einer medizinischen Institution registriert und verwaltet werden. Auch in Deutschland ist die ärztliche Diagnose der entscheidende Schritt, mit dem Verfahren wie die Beantragung einer Pflegestufe und Leistungen aus der Pflegeversicherung usw. eingeleitet werden können. Es wird deutlich, wie die verschiedenen Institutionen ihr Angebot aufeinander abstimmen und zusammenarbeiten, sodass demente Menschen reibungslos von einer Anlaufstelle zur nächsten verwiesen werden können. Im Fallbeispiel wurde Frau Stein der Wohlfahrtseinrichtung zentrum plus an die medizinische Organisation Demenznetz Düsseldorf weitergeleitet.

4.2 Altersdemenz und Formen der Fürsorge im lokalen Kontext

Im Fallbeispiel von Frau Hayashi musste nach der Diagnose der Demenz die Tochter selbst eine Unterbringungsmöglichkeit suchen und fand eine Tagespflegeeinrichtung mit Rehabilitationsmaßnahmen, aber nur solange sich ihre Mutter im Anfangsstadium der Demenz befand und selbst handlungsfähig war. Die pflegende Tochter war durch den Fortschritt der Erkrankung wiederum gezwungen, eine neue Einrichtung zu suchen und war hierbei wieder auf sich gestellt. Nur durch einen Zufall kam sie mit der Einrichtung Yoriai in Kontakt. Im deutschen Fall blieb die Sozialarbeiterin durchweg als Ansprechpartnerin bestehen und begleitete Frau Stein durch den ganzen Prozess hindurch, bis sie in einem Pflegeheim aufgenommen wurde. Dabei zeigt dieses Beispiel gut, wie auch eine alleinstehende demenziell erkrankte Person versorgt werden kann. Hier übernahm statt eines Angehörigen, wie etwa Herr Dürnberg aus dem anderen deutschen Fallbeispiel, die Sozialarbeiterin die Aufgabe, die Unterstützung und später Pflege von Frau Stein zu organisieren. Die vorhandenen institutionellen Strukturen und die Tatsache, dass Frau Stein bereits früh mit dem zentrum plus in Berührung gekommen war, waren dabei wichtige Faktoren. Sichtbar wird hier auch die institutionelle Arbeitsteilung. Die Sozialarbeiterin übernahm vorwiegend die Koordinationsaufgaben, während für rechtliche und alltägliche Probleme der Betreuer, für medizinische Frage die Fachärztin und für die Pflege ein Pfleger zur Verfügung standen. In Japan hätte ein/e Care-Manager/in diese Aufgabe im Rahmen der Pflegeversicherung. Doch ist dort eine solche dauerhafte Begleitung selten möglich, weil ein/e Care-Manager/in zum einen bis zu 35 Personen betreuen muss und zum anderen häufig zu einer Pflegeeinrichtung oder einem Pflegedienst gehört, sodass seine/ihre Betreuung über diese Institution hinaus nicht fortgesetzt wird. In beiden Fallbeispielen wurde ein Unterstützungsnetzwerk für eine demente Person aufgebaut. Doch die Art und Weise, wie diese zustande kamen, war völlig verschieden. Erst als das Umherlaufen von Frau Hayashi immer problematischer wurde und ersichtlich war, dass die Tochter und die Mitarbeiter/innen der Einrichtung Yoriai allein dieses Problem nicht bewältigen konnten, kam die Idee auf, ein nachbarschaftliches Unterstützungsnetzwerk für Frau Hayashi einzurichten. Daher war der Ausgangspunkt informell und man begann abgesehen von der Einrichtung Yoriai ohne weitere institutionelle Voraussetzungen. Die Tochter und ein Mitarbeiter gingen von Haus zu Haus, machten den Fall bekannt

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und baten zugleich um Unterstützung. Dadurch kam das Netzwerk zustande und sorgte für eine Entlastung der Mitarbeiter/innen vom Yoriai und der Tochter. Dieses Netzwerk wurde insofern ein wenig institutionalisiert, wie die Beteiligten seit Jahren etwa einmal im Monat abends zusammenkommen, um die Formen der Kooperation zu besprechen. In diesem Sinne hat sich dieses Netzwerk inzwischen von der Person Frau Hayashi gelöst. Doch beruht diese Zusammenkunft prinzipiell auf einer sehr informellen Basis, sodass der Fortgang dieses Netzwerkes allein auf dem Willen der Beteiligten beruht. Die Einrichtung Yoriai spielt in diesem Zusammenhang auch weiter eine zentrale Rolle, da immer ein Mitarbeiter diese Zusammenkunft organisiert. Insgesamt bleibt dieses Netzwerk daher von dem Engagement der Einrichtung Yoriai abhängig. Für die Stabilität dieses Netzwerkes fehlt eine übergeordnete Struktur, wie das zentrum plus und das Demenznetz Düsseldorf auf einer übergeordneten Ebene. Zwischen Wohlfahrtsverbänden, der Stadt und dem LVR-Klinikum wird das Demenznetz organisiert und geführt. Es besteht auf dieser Ebene eine intensive Form der Zusammenarbeit, die in dieser Form auf der japanischen Seite nicht entdeckt werden konnte. Im Vergleich dazu versteht sich die Pflegeeinrichtung Yoriai als eine Institution, die nicht nur Dienstleistungen der Altenpflege anbietet, sondern auch als eine Schnittstelle zwischen Nachbarschaft, Familien und Nutzerinnen und Nutzern fungiert und versucht, eine neue Form der lokalen Fürsorge aufzubauen. Es ist ein bemerkenswerter Versuch, die gesellschaftlichen Fürsorgemaßnahmen von der unteren Ebene aus neu aufzurollen. Diese Bestrebung steht offensichtlich quer zu den sozialpolitischen Maßnahmen der Regierung, die in Form immer wieder neu formulierter großer »Pläne« in die Tat umgesetzt werden. Die Versuche des Ministeriums für Gesundheit und Arbeit zielen durchaus in dieselbe Richtung wie das Yoriai, indem sie lokale Zentren für Fürsorge (Chiiki Hōkatsu Shien Sentā) einrichten. Doch fehlt vielerorts gerade die Einbindung dieser Zentren an die informellen Netzwerke, wie sie das Yoriai aufweist. Daher liegt eine Lösungsmöglichkeit dieses Problems darin, die beiden Bemühungen stärker aufeinander abzustimmen, woraus eine neue Institutionalisierung der Netzwerke auf einer höheren Ebene erfolgen könnte. Zugleich zeigt das Beispiel Yoriai, welche Freiräume für wohlfahrtsorientiertes Handeln in der japanischen Gesellschaft existieren. Gerade dadurch, dass keine so durchstrukturierten Institutionen wie in Deutsch-

4.2 Altersdemenz und Formen der Fürsorge im lokalen Kontext

land existieren, sind Einrichtungen wie das Yoriai möglich, die in vielfacher Hinsicht als experimentell bezeichnet werden können. Sie zeigen Möglichkeiten auf, wie Unterstützungsnetzwerke in lokalen Kontexten aufgebaut werden könnten, wenn die bisherigen institutionalisierten Wohlfahrtsangebote an ihre Grenze stoßen.

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4.3 D ie G renzen der P flege Fukuzaki Haru, Shingo Shimada

Bei der Pflege von Menschen mit demenziellen Erkrankungen kommen sowohl in gut geführten Einrichtungen als auch in privaten Haushalten immer wieder schwierige Fälle vor, durch welche die Grenzen der Pflege sichtbar werden. Häufig handelt es sich bei diesen Fällen um relativ junge Menschen (ab einem Alter von 40 Jahren), die an Alzheimer erkranken, wie etwa der Protagonist des Romans Ashita no kioku (»Erinnerung an morgen«), der im Kapitel 3 beschrieben wurde. Insbesondere machen ausgeprägte psychische Symptome wie Depressionen, Halluzinationen, Ängste und (körperliche) Aggressivität eine medizinische Unterstützung unabdingbar. Eine Einweisung der Erkrankten in eine psychiatrische Klinik zur Behandlung und medikamentösen Einstellung ist jedoch, ob in Japan oder in Deutschland, häufig nicht unproblematisch. Sicherlich sind die beiden Gesellschaften auf die Häufung der problematischen, häufig gewalttätigen Fälle noch nicht genügend vorbereitet. Generell liegt die Tendenz in der japanischen Gesellschaft darin, solche Problemfälle in die geschlossene psychiatrische Anstalt »abzuschieben« (vgl. Tateiwa 2015). Aber auch in Deutschland werden Antipsychotika bei Demenzerkrankungen oft zu schnell und zu lange verschrieben (vgl. Gertz et al. 2013). Da die Effektivität oft gering und die Nebenwirkungen hoch sind, warnte bereits 2009 die deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. (DGSP) vor der zu schnellen Therapie mit Antipsychotika (DGSP 2009). Trotzdem zeigte sich im AOK-Pflegereport 2017, dass die medikamentöse Behandlung demenziell Erkrankter mit Antipsychotika weiterhin weit verbreitet ist (vgl. Jacobs et al. 2017). Dies zeigt eine gewisse Ratlosigkeit in beiden Gesellschaften, wie man mit diesen Fällen umgehen soll. Vor diesem Hintergrund ist es unabdinglich, bei der Behandlung des Themas der lokalen Fürsorge für demente Personen auch die Fälle in Betracht zu ziehen, die die Grenzen der Pflegemöglichkeiten aufzeigen. In diesem Unterkapitel werden daher zwei Fallbeispiele behandelt, an denen die Grenzen der Pflege sichtbar werden. Durch die Betrachtung dieser Fäl-

4.3 Die Grenzen der Pflege

le werden die unterschiedlichen Rahmenbedingungen aufgezeigt.1 Des Weiteren lassen sich auch kulturelle Umgangsformen herausarbeiten.

Der Umgang mit einem schwierigen Fall in der Einrichtung Yoriai Die Grenzen der Pflege sind häufig erreicht, wenn die Pflegenden keinen Zugang mehr zu den dementen Menschen finden, ihre Bemühungen zu helfen auf heftige Abwehr stoßen und ein Zustand erreicht ist, in dem die Erkrankten sichtlich leiden und ihr Verhalten für sie selbst aber auch für andere bedrohlich geworden ist. Im Folgenden wird an einem Fallbeispiel aus dem Yoriai dargestellt, wie die Einrichtung versucht, mit besonders schwierigen Fällen umzugehen und welche weiteren Schritte eingeleitet werden, wenn alle Beteiligten sich nicht mehr dazu in der Lage sehen, Verantwortung für die Pflege des dementen Menschen zu übernehmen.

Vorübergehende Einweisung in die Psychiatrie als Notlösung Interview mit den Pflegerinnen Frau Sueyoshi und Frau Yoshimitsu Frau Sunada, geboren 1944, verlor ihren Ehemann, als sie etwa 23 Jahre alt war. Sie zog ihre beiden Töchter alleine auf und arbeitete als Bürokraft in einer Druckerei. Um das Jahr 2000, sie war Mitte 50, besuchte sie auf eigene Initiative hin eine städtische Beratungsstelle für Vergesslichkeit und erhielt die Diagnose Alzheimer im Frühstadium. Frau Sunada hatte bis dahin in der Stadt Hita (ca. 2,5 Stunden von der Stadt Fukuoka entfernt) gelebt, aber aufgrund der neuen Situation zog sie zu ihrer älteren Tochter nach Fukuoka und kam mit der Einrichtung Yoriai in Kontakt. Zuerst besuchte sie ein, zwei Mal in der Woche die Tagespflege vom Yoriai und ab dem Jahr 2003 schließlich jeden Tag. Anfangs war sie sehr ruhig und lächelte viel. Die Vergesslichkeit war fast das einzige Krankheitssym1 | Für eine nähere Untersuchung der psychiatrischen Einweisung der dementen Personen in eine geschlossene Anstalt wäre eine Analyse der institutionellen und vor allem rechtlichen Rahmenbedingungen in beiden Länder unumgänglich. Doch im Rahmen der vorliegenden Forschung war dies kaum möglich, sodass in diesem Kapitel nur am Rande darauf eingegangen werden wird (vgl. allgemein zum psychiatrischen Medizinsystem in Japan: Yagi/Tanabe 2002).

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ptom. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie im Yoriai noch kleine Aufgaben wie z.B. das Einstecken von Broschüren in Briefumschläge übernehmen, doch mit der Zeit mussten immer einfachere Aufgaben für sie gefunden werden. Schließlich wurde es für sie immer schwieriger, alleine Zeit in der Wohnung der Tochter zu verbringen, wenn ihre Tochter bei der Arbeit war. Sie war nicht mehr dazu imstande morgens die Tür aufzumachen, wenn sie von den Yoriai-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern abgeholt wurde, oder nach dem Verlassen der Wohnung die Tür abzuschließen. Etwa vier, fünf Jahre nach ihrem ersten Besuch in der Tagespflege begann sie einen Drang zum unruhigen Umherlaufen zu entwickeln. Wenn sie morgens im Yoriai ankam, wollte sie gleich wieder nach Hause und brach auf. Eine Pflegerin begleitete sie stets, bis Frau Sunada erschöpft wieder mit zurückgehen wollte. Zudem bekam sie zunehmend nachts Angst. Im April 2005 verschlechterte sich ihr Zustand: Sie konnte nicht mehr geradeaus laufen und wurde zunehmend aggressiv, vor allem, wenn sie von einer der Pflegerinnen berührt wurde. Auch ihre nächtlichen Angstzustände verschlimmerten sich. Wenn sie tagsüber Zeit im Wohnzimmer der Einrichtung verbrachte, wurde sie wegen der Stimmen der vielen Menschen immer unruhiger und aggressiver, sodass sie in ein Einzelzimmer gebracht werden musste. Aber auch dort wurde sie zunehmend unruhig und sie begann ruhelos im Haus umherzulaufen. Sie wehrte jede körperliche Berührung aggressiv ab, sodass sowohl die Toilettengänge als auch das Baden zunehmend schwierig wurden. Auch zu Hause wurde das Zusammenleben immer problematischer. Sie verhielt sich immer häufiger auch gegenüber ihren Enkelkindern aggressiv und diese bekamen Angst vor ihr. Daher beschloss die Familie zusammen mit der zweiten Tochter in eine neue, größere Wohnung zu ziehen und Frau Sunada gemeinsam zu pflegen. Doch wurde es für Frau Sunada aufgrund ihrer nächtlichen Angstzustände immer schwieriger, die Nächte zu Hause zu verbringen. Aus diesem Grund begann sie in der Einrichtung Yoriai zu übernachten, zuerst eine Nacht pro Woche, mit der Zeit zwei Nächte. Etwa im selben Zeitraum wurde ihr Zustand in einer Klinik medizinisch untersucht und sie bekam Medikamente verschrieben. Die Mitarbeiter/innen vom Yoriai und ihre Familie entschieden sich jedoch dagegen, ihr Medikamente zu geben, da die Verabreichung mit einem enormen Aufwand verbunden gewesen wäre. Jedoch verschlechterte sich Frau Sunadas Zustand zusehends. Sowohl zu Hause als auch im Yoriai lief sie aggressiv umher, bis sie vor Erschöpfung nicht mehr gehen konnte. Dabei war offen-

4.3 Die Grenzen der Pflege

sichtlich, dass sie selbst darunter litt. Da sie auf jede Körperberührung aggressiv reagierte, konnten die Pflegerinnen kaum etwas für sie tun. Nur ab und zu kehrte sie in ihren früheren Zustand zurück. In solchen Momenten entschuldigte und bedankte sie sich bei den Pflegerinnen. Je weiter sich der Zustand von Frau Sunada verschlechterte, desto ersichtlicher wurde für ihre Familie und die Mitarbeiter/innen vom Yoriai, dass sie mit der Situation überfordert waren und die Pflege an ihre Grenzen stieß. Als Frau Sunada aufgrund ihrer großen Ruhelosigkeit nicht mehr aß und zunehmend kraftloser wurde, sahen die Pflegenden ihr Leben gefährdet. Die Einrichtung Yoriai konnte die Verantwortung nicht mehr übernehmen und Frau Sunada wurde in eine psychiatrische Klinik gebracht. Der Facharzt war über den Zustand von Frau Sunada erschrocken und verwundert, wie es möglich gewesen war, eine Kranke in einem solch fortgeschrittenen Stadium zu Hause zu pflegen. Frau Sunada wurde in der Klinik aufgenommen und sofort in ein sogenanntes »Schutzzimmer« (hogoshitsu) mit einer Doppeltür eingesperrt. Dort schlug sie ihren Kopf und ihre Hände an die Betonwände, ohne dass eingriffen wurde. Sie blieb mehrere Wochen in diesem »Schutzzimmer«. Zum Ende ihres Aufenthalts in der Klinik konnte sie nicht mehr laufen und nur noch im Bett liegend zerkleinerte Nahrung zu sich nehmen. Insgesamt wurde sie ein Jahr und vier Monate lang stationär in der geschlossenen Anstalt behandelt. Während dieser Zeit besuchten sie die Mitarbeiter/innen vom Yoriai einmal im Monat und sangen mit ihr Lieder. Im Dezember 2007 wurde sie auf die Initiative der Mitarbeiter/innen vom Yoriai gegen die Meinung der Ärzte aus der Klinik entlassen und zurück ins Yoriai gebracht. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie sich zwar äußern, aber kaum noch bewegen. Deswegen war ihr in der Klinik im Liegen zerkleinerte Nahrung verabreicht worden. Doch am Tag nach ihrer Entlassung konnte sie bereits wieder normal essen. Sie wurde noch ein halbes Jahr lang medikamentös behandelt. In dieser Zeit war ihr Blick unbestimmt und auch kein Lächeln zu beobachten. Nachdem die Medikamente jedoch abgesetzt wurden, fing sie wieder an zu lachen und ihr Blick wurde klar. Ihr Zustand war ruhig, nur ab und zu gab sie unbestimmte Laute von sich. Etwa ein Jahr nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie konnte sie wieder sitzen, alleine essen und zur Toilette gehen. Es war sogar möglich, mit dem Auto einen Ausflug mit ihr zu unternehmen. Deshalb wurde überlegt, ob sie wieder von ihren Töchtern zu Hause gepflegt werden könnte. Doch wegen ihrer körperlichen Schwäche beschlossen ihre Töchter zusammen

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mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom Yoriai, sie in der Einrichtung zu lassen. Zum Zeitpunkt unserer Feldforschung äußerte sich Frau Sunada gar nicht mehr. Ihr Körper hatte sich auch zunehmend so versteift, dass eine komplette Übernahme der Pflege durch die Mitarbeiter/innen notwendig geworden war.

Am Fallbeispiel von Frau Sunada wird deutlich, auf welche Schwierigkeiten die pflegenden Angehörigen und die professionellen Pfleger/innen stoßen, wenn eine Person in relativ jungen Jahren an Alzheimer erkrankt. Da diese Betroffenen in der Regel noch körperlich rüstig und kräftig sind, gestaltet sich die Versorgung und Pflege bei großer Unruhe oder Aggressivität als besonders schwierig. In Frau Sunadas Fall wurde etwa die Körperpflege unmöglich, da sie sich körperlich dagegen heftig zur Wehr setze und damit auch das erfahrene Pflegepersonal vom Yoriai seiner Arbeit nicht mehr nachkommen konnte. Schließlich konnte eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik nicht verhindert werden, da sowohl die Familie als auch das Yoriai überfordert waren. Das Besondere am Yoriai liegt hier darin, dass die Pflegekräfte die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen unterstützen, selbst wenn, wie im obigen Beispiel, eine Pflegebedürftige in die Klinik gebracht wird. Sie verfolgen den Verlauf der Erkrankung und beraten die Angehörigen bei der Beurteilung der medizinischen Behandlung. Sie übernehmen also auch eine beratende Funktion für die Angehörigen, die als Laien im medizinischen und pflegerischen Kontext oft hilflos sind. Die Übernahme dieser beratenden Funktion ist informell und gehört nicht zum offiziellen Angebot der Einrichtung. Die Beratung und Betreuung geschieht in der Regel durch die persönliche Anteilnahme der Pfleger/innen an der schwierigen Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen. Besuche in der Klinik, wie im Fallbeispiel, werden von den Pflegerinnen und Pflegern in der Regel außerhalb ihrer offiziellen Arbeitszeiten geplant. Die Pflegekräfte sehen dies aber als ihre Aufgabe, da sie die langfristige Begleitung der Pflegebedürftigen als Voraussetzung für eine befriedigende Pflege sehen. Zugleich verdeutlicht dieses Fallbeispiel, warum die zeitliche und psychische Beanspruchung der Pflegekräfte vom Yoriai weit über die Grenzen eines normalen Arbeitszeitverständnisses hinausgehen. Wichtig ist hier auch anzumerken, dass eine längerfristige beratende Begleitung von Pflegebedürftigen durch Pflegekräfte im japanischen

4.3 Die Grenzen der Pflege

Pflegealltag in anderen Einrichtungen keineswegs üblich ist. In der Regel werden solche »Problemfälle« schnell in die geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen und die Pflegekräfte und Pflegeeinrichtungen halten die Beziehung zu den ehemaligen Nutzerinnen und Nutzern der Einrichtung generell nicht aufrecht. Aus der Perspektive der ökonomischen Effektivität der Pflegeversicherung sind solche schwer behandelbaren Personen nichts Anderes als »Störfälle«. In der Regel werden solche Fälle mit ihrer Verlegung in die Psychiatrie als »erledigt« angesehen (vgl. Tateiwa 2015: 43). Rechtlich ist dieser Umstand in Japan dadurch möglich, dass die Einweisung in die Psychiatrie nicht gerichtlich geregelt wird. Es ist prinzipiell möglich, eine demente Person in die Psychiatrie einzuweisen, wenn Angehörige und Ärzte dies für notwendig halten.

Der Umgang mit einem schwierigen Fall im Umfeld der Diakonie in Düsseldorf Welche Möglichkeiten gibt es in Düsseldorf, wenn ein besonders schwieriger Fall auftritt? Anhand des Fallbeispiels von Herrn Weigel aus dem Umfeld der Diakonie in Düsseldorf wird im Folgenden deutlich, dass es hier zu sehr ähnlichen Problemen wie im Fallbeispiel aus dem Yoriai kommen kann, die Familie und Pflegepersonal überfordern können.

Überforderung der Angehörigen und Pflegekräfte – »Kein Platz für Herrn Weigel?« Interview mit Petra Wienß Herr Weigel war erst Mitte 60, als seine Tochter zum ersten Mal in die Beratung des zentrums plus nach Düsseldorf Gerresheim kam, weil ihr einige Veränderungen ihres Vaters auffielen. Zu diesem Zeitpunkt war er noch weitestgehend gesund und sehr sportlich. Er engagierte sich in einem Taubenzüchterverein und hatte die Aufgabe, täglich das Enkelkind von der Schule abzuholen. Zum zweiten Beratungsgespräch nach etwa zehn Monaten kam Herr Weigel selbst, zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter. In diesem Gespräch wurde deutlich, dass Herr Weigel demenzielle Probleme hatte. Die Familie wurde dazu eingeladen, regelmäßig das von der Diakonie betriebene Demenzcafé des zentrums plus zu besuchen.

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Herr und Frau Weigel kamen danach etwa zwei Mal zum Café. Es stellte sich jedoch heraus, dass Herr Weigel sich dort nicht wohl fühlte, weil er weit jünger und auch fitter als die anderen Teilnehmerinnen war. Mit fortschreitender Demenz wurde er immer unruhiger und hatte verstärkt den Drang, hinauszugehen und herumzulaufen. Er ging mehrmals am Tage mehrere Stunden mit hoher Geschwindigkeit laufen. Zunächst begleitete ihn seine Frau, doch diese stundenlangen Märsche erschöpften Frau Weigel zunehmend. Aus diesem Grund wurde ein ehrenamtlicher Helfer für ihn gesucht, der mit ihm spazieren ging. Anfänglich übernahm der Helfer zwei Mal in der Woche diese Aufgabe. Später wurden die Spaziergänge auf drei Mal in der Woche ausgedehnt. Die beiden freundeten sich an, sodass der Helfer, wenn er Zeit hatte, Herrn Weigel mit seinem Auto zum Spazierengehen an schöne Orte brachte. Der ehrenamtliche Helfer erkannte auch, dass die Pflege für Frau Weigel eine große Belastung darstellte. Er versuchte sie weiter zu unterstützen und ging nicht nur mit Herrn Weigel spazieren, sondern begleitete das Ehepaar auch zum Tanzen. Bereits beim ersten Gespräch im zentrum plus war der Tochter empfohlen worden, mit ihrem Vater eine Fachärztin aufzusuchen. Herr Weigel wurde daraufhin über das Demenznetz Düsseldorf an die Psychiaterin Frau Dr. Höft vermittelt und von ihr ambulant medikamentös behandelt, doch das Medikament wirkte mit der Zeit nicht mehr. Mit dem Fortschreiten der Demenz veränderte sich auch die Persönlichkeit von Herrn Weigel. Er glaubte, dass seine Frau ihn bestehlen oder ihn in einen Raum einschließen würde. Schließlich fing er an, seiner Frau gegenüber gewalttätig zu werden. Das Zusammenleben des Ehepaars litt unter diesen Veränderungen und auch die alltägliche Körperhygiene von Herrn Weigel wurde zu einem problematischen Thema. Wenn er nach seinen zwei- bis dreistündigen Spaziergängen durchgeschwitzt nach Hause kam, weigerte er sich des Öfteren, sich umzuziehen und schlief in der verschwitzten Kleidung. Es wurde für seine Frau auch immer schwieriger, ihren Mann zu waschen oder zu duschen. Herr Weigel begann eine Therapie. Durch ein Gespräch mit seiner Frau wurde offenbart, dass hinter seiner Gewalttätigkeit anscheinend Missbrauchserlebnisse während seiner Kindheit steckten. Er hatte durch den Krieg früh seine Eltern verloren und war bei einer Tante in Österreich aufgewachsen. Doch mit dem Erreichen der Volljährigkeit verließ er diese Tante und fand Arbeit in Düsseldorf. Die genauen Umstände von damals

4.3 Die Grenzen der Pflege

sind jedoch nicht bekannt. Er war anscheinend später sowohl ein guter Vater als auch ein guter Ehemann, doch soll er niemals von seiner Vergangenheit gesprochen haben. Daher wurde vermutet, dass seine Gewaltausbrüche etwas damit zu tun haben. Da mit der Zeit die Pflege durch die Ehefrau immer schwieriger wurde, wurde eine professionelle Pflegekraft engagiert, die von der Pflegeversicherung bezahlt wurde. Aufgrund der Gewaltausbrüche organisierte die Sozialarbeiterin des zentrums plus eine männliche Pflegekraft. Zunächst funktionierte die Pflege gut, doch dann weigerte sich Herr Weigel, sich waschen zu lassen. Die Gewaltausbrüche wurden mit der Zeit heftiger und Frau Weigel bekam Angst vor ihrem Mann. Einmal schloss er sich beispielsweise in ein Zimmer ein und zerbrach die Zimmertür. Da auch die Medikamente kaum wirkten, entschied die Sozialarbeiterin in Absprache mit der Ehefrau, ihn in einer stationären Pflegeeinrichtung unterzubringen. Zunächst wurde er in einem Altersheim der Diakonie in der Nähe seines Wohnortes aufgenommen. Die Ehefrau und auch der ehrenamtliche Helfer konnten ihn dort häufig besuchen und begleiteten ihn beim Spazierengehen. Doch mit seinem immer stärker werdenden Bewegungsdrang begann Herr Weigel immer weniger zu essen. Irgendwann aß er gar nicht mehr. Er zog sich auch nicht mehr um und badete nicht mehr. Allein wenn sein Enkelkind zu Besuch kam, wurde er ruhiger und konnte etwas essen. Nur gegenüber seinem Enkel war er nicht aggressiv. Gegenüber den Pflegerinnen und Pflegern wurde er gewalttätig und schrie im Heim, sodass immer mehr Mitbewohner/innen Angst vor ihm bekamen. Es wurde offensichtlich, dass er dort nicht bleiben konnte. Er wurde in ein anderes Altersheim gebracht, in dem auch gewalttätige Bewohner/innen gepflegt wurden. Als Herr Weigel in die neue Einrichtung zog, stellte der ehrenamtliche Helfer seine Besuche ein, da Herr Weigel aufgrund seiner körperlichen Verfassung nicht mehr dazu in der Lage war spazieren zu gehen. Obwohl zu Beginn in dieser Einrichtung alles gut verlief, traten nach einer Weile Schwierigkeiten auf, weil die Pfleger/innen wegen seiner ablehnenden Haltung nicht mehr mit Herrn Weigel zurechtkamen. Während der gesamten Zeit wurde Herr Weigel von der Fachärztin Frau Dr. Höft begleitet. Als die Pflege von Herrn Weigel auch von der zweiten Einrichtung nicht mehr geleistet werden konnte, wurde er in der psychiatrischen Klinik stationär aufgenommen.

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Die Fachärztin Frau Dr. Höft schätzte die Situation so ein, dass Herr Weigel wegen seines aggressiven Verhaltens nicht nach Hause entlassen werden konnte und verlängerte in Absprache mit dem Betreuungsgericht und der Krankenkasse die stationäre Behandlung nach der üblichen Aufenthaltsdauer von sieben Tagen. Währenddessen suchte die Sozialarbeiterin die nächste mögliche Unterbringungsmöglichkeit für Herrn Weigel. Viele Altersheime verweigerten die Aufnahme mit dem Argument, dass er andere Bewohner/innen verängstigen würde. Schließlich bekam er in der Klinik ein stärkeres Medikament, sodass er etwas ruhiger wurde. Zugleich nahm er sehr ab und konnte auch nicht mehr laufen. Letztendlich wurde ein Pflegeheim mit gerontologischer Psychiatrie in einer benachbarten Stadt gefunden. Nachdem Herr Weigel einige Zeit dort verbracht hatte, stand erneut ein Heimwechsel zur Debatte, da er mittlerweile recht ruhig geworden war und das Heim auf schwerste Fälle spezialisiert ist, zu denen Herr Weigel nun nicht mehr gezählt wurde. Zum Ende unserer Feldforschung war er jedoch weiterhin in diesem Pflegeheim.

Der Fall von Herrn Weigel verdeutlicht die Grenzen der Pflege, sowohl im privaten Haushalt als auch in verschiedenen Einrichtungen. Es wird offensichtlich, dass ein normales Altersheim mit dementen Personen, die gewalttätig werden, nicht umgehen kann. Obwohl das Heim in Gerresheim eine psychiatrische Behandlung anbot, stellte der Fall von Herrn Weigel eine extreme Herausforderung für die Pfleger/innen und das Fachpersonal dar. Hier war es sehr wichtig, dass Herr Weigel in der gerontopsychiatrischen Klinik untergebracht werden konnte, wo er fachlich behandelt wurde, während für ihn die nächste Unterbringungsmöglichkeit gesucht wurde. Dies war nur möglich, weil die Fachärztin diesen Fall von Anfang an begleitet hatte. Die Aufenthaltsdauer des Patienten in der Klinik wurde über das Betreuungsgericht streng reglementiert und kontrolliert, und eine Verlängerung der Aufenthaltsdauer war nur mit einer fachärztlichen Begründung möglich. Man sieht darüber hinaus an diesem Fallbeispiel, wie das Demenznetz Düsseldorf und das zentrum plus im lokalen Kontext funktionieren. Wichtig ist hierbei, dass zwei Personen – die Sozialarbeiterin und Fachärztin – die Betroffenen und ihre Angehörigen durchgehend professionell beratend begleiteten, sodass ein Vertrauensverhältnis zu den Angehörigen aufgebaut werden konnte. Dadurch werden die Belastungen durch

4.3 Die Grenzen der Pflege

die Pflege für die Angehörigen verringert. Es gelingt hier, die medizinische und pflegerische Seite der Fürsorge durch die genannten Netzwerke miteinander zu verschränken. Wichtig sind einerseits die institutionellen Bedingungen dafür, aber auch die personelle Verbindung zwischen der Sozialarbeiterin und der Fachärztin, die eine reibungslose Abstimmung der beiden Bereiche ermöglicht. Eine solche Abstimmung ist auch nur möglich, da auf einer höheren Stufe eine Koordination der Tätigkeiten innerhalb des Demenznetzes stattfindet. Denn das Demenznetz ist ein Kooperationsprojekt zwischen den Kliniken, der Stadt Düsseldorf, den Wohlfahrtsverbänden und einigen NGOs wie der deutschen Alzheimer Gesellschaft. Es finden regelmäßig Treffen der Beteiligten zur Koordination (»Arbeitskreis Demenznetzkoordinatoren«) statt (sechs Mal jährlich und bei Bedarf).

Vergleichende Betrachtung Beide Fallbeispiele illustrieren zu welchen Problemen es kommen kann, wenn relativ junge Personen in den 50er- und 60er-Lebensjahren an einer Demenz erkranken und sehr starke Symptome zeigen. Sowohl Frau Sunada als auch Herr Weigel waren körperlich noch sehr fit und ihre große Unruhe und Aggressivität machten die Pflege für Familie und Pflegepersonal fast unmöglich und brachten diese an ihre Grenzen. In beiden Fällen ließen sich eine medikamentöse Behandlung und eine Einweisung in die Psychiatrie nicht verhindern.2 2 | Gesamtgesellschaftlich gesehen, bestehen wohl große Unterschiede in Bezug auf die Einweisung und Behandlung in der Psychiatrie. Während in Deutschland die Einlieferung einer dementen Person in eine geschlossene psychiatrische Klinik rechtlich streng reglementiert und nur über die Genehmigung des Betreuungsgerichtes möglich ist, gibt es im japanischen Kontext weit weniger rechtliche Auflagen, sodass eine demente Person auf Wunsch der Familienangehörigen mit Einverständnis des Facharztes sofort in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden kann. Es existieren in Japan zahlreiche private psychiatrische Kliniken, die sich auf demente Menschen spezialisiert haben. In den 1970er-Jahren gab es in diesem Zusammenhang einen Skandal, als die Missstände der psychiatrischen Kliniken in der Trägerschaft von Jūzen kai in Kyoto massenmedial großes Aufsehen erregten. Der japanische Soziologe Tateiwa Shinya fasst die damaligen Missstände folgendermaßen zusammen: »Medikamentenmissbrauch, längere

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Frau Sunada und ihre Angehörigen wurden über den Krankheitsverlauf von den Yoriai-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern begleitet und beraten. Dem Konzept der Einrichtung entsprechend war diese Unterstützung eher persönlich und informell und keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Im Unterschied zum Fallbeispiel von Frau Sunada bewegt sich die Unterstützung bei Herrn Weigel und seiner Angehörigen weitestgehend im institutionellen Rahmen des zentrums plus und Demenznetzes Düsseldorf. Die beiden Netzwerke greifen ineinander und ermöglichen eine dauerhafte Begleitung der dementen Person und ihrer Angehörigen. Die Sozialarbeiterin und die Fachärztin begleiteten Herrn Weigel und seine Zwangseinsperrungen, Gewaltanwendung gegenüber den Patienten und fahrlässige Tötung […] Überfüllte Räume, Unterbesetzung der Pfleger, nicht qualifiziertes Personal usf. [es gab so viele Missstände], dass man kaum alles aufzählen kann.« (Tateiwa 2015: 43; eigene Übersetzung ShS). Er weist mit Recht darauf hin, dass dies kein Einzelfall war und dass bis heute kaum etwas gegen diese Missstände unternommen wurde. Ebenso ist die oft leichtfertige Unterbringung dementer Personen in psychiatrischen Kliniken ein verbreitetes Problem in Japan (ebd. 43ff.). Im Jahr 2008 waren nach einem Bericht des Gesundheits- und Arbeitsministeriums über 50.000 altersdemente Personen in psychiatrischen Kliniken untergebracht (MHLW 2008). Ihre durchschnittliche Aufenthaltsdauer betrug 373,8 Tage (vaskuläre Demenz) bzw. 290 Tage (Alzheimer-Erkrankung). Diese Werte sind im internationalen Vergleich extrem hoch. Nach dem Bericht der OECD war die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Demenzpatienten in einer psychiatrischen Klinik in den westeuropäischen Gesellschaften unter 20 Tage (OECD 2010). Diese Zahlen verweisen auf eine mögliche problematische Situation in der japanischen Gesellschaft. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens gibt es, wie bereits erwähnt, keine gerichtliche Einschränkung zur Einlieferung von dementen Personen in die Psychiatrie. Zweitens verweigern sowohl »normale« Kliniken in Krankheitsfällen, als auch Pflegeheime aufgrund des zu erwartenden Pflegeaufwandes, häufig die Aufnahme dementer Personen, sodass sie an die Psychiatrie weitergeleitet werden. Und drittens fehlt häufig die Möglichkeit oder Bereitschaft unter den Angehörigen und in der Nachbarschaft, die dementen Personen nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie zu unterstützen und zu pflegen. Auch gängige Pflegeeinrichtungen neigen dazu, Pflegebedürftige aus der Psychiatrie aufzunehmen, weil sie von ihnen Mehraufwand an Pflege befürchten.

4.3 Die Grenzen der Pflege

Frau über den gesamten Verlauf und halfen bei der Organisation und dem Finden einer Lösung, die ein möglichst langes Verbleiben von Herrn Weigel in seiner vertrauten Umgebung ermöglichte. Ein mehrfacher Wechsel von Einrichtungen und eine Einweisung in die Psychiatrie konnten jedoch auch hier nicht verhindert werden, da die Pflegeheime vor Ort auf einen derart schwierigen Fall nicht eingestellt waren. Hier zeigt sich ein Mangel an auf schwere Fälle eingestellten Einrichtungen, der generell in ganz Deutschland herrscht. Doch blieb die Sozialarbeiterin trotz der mehrmaligen Wechsel als konstante Ansprechpartnerin erhalten, was für Frau Weigel die Situation wesentlich erleichterte. Die Mitarbeiter/innen der Einrichtung Yoriai besuchten Frau Sunada in der psychiatrischen Klinik nach ihrer täglichen Arbeitszeit oder an freien Tagen. Einerseits ist diese Art des persönlichen Engagements bemerkenswert, doch die zeitliche Belastung der Mitarbeiter/innen ist auch unverkennbar. Die beiden Fallbeispiele zeigen ferner auf, wann eine Pflege an die Grenze kommt. Es sind die pflegenden Angehörigen, die stark belastet werden. In beiden Fällen erhalten sie Unterstützung von außen, dies aber auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Wenn auch die Unterstützung der Angehörigen im Fall von Frau Sunada von der Einrichtung Yoriai angeboten wird, ist sie im Prinzip informell und weitestgehend außerhalb des institutionellen Rahmens. Die Narrative der involvierten Pflegerin ist gegenüber der medizinischen Behandlung tendenziell negativ eingestellt. Die Mitarbeiter/innen der Einrichtung Yoriai und die Angehörigen bilden eine emotionale Gemeinschaft, die sich der medizinischen Einrichtung als »Opfer« darstellen. Diese Narrative ist im Yoriai weit verbreitet, und man hört sie immer wieder, wenn man eine gewisse Zeit dort verbringt. Dagegen ist die Narrative zum Fall von Herrn Weigel dadurch geprägt, dass zwischen den institutionell unterstützenden Personen in der Gestalt der Sozialarbeiterin, sowie der Fachärztin und den Angehörigen, ein tiefgreifendes Vertrauensverhältnis gebildet wurde. Diese Vertrauensbildung ist offensichtlich dadurch möglich, dass medizinische Einrichtungen, kommunalpolitische Institutionen wie das Demenzservicezentrum Düsseldorf und zivilgesellschaftliche Akteure wie Wohlfahrtsverbände zusammenarbeiten. Abgesehen von diesen unterschiedlichen narrativen Perspektiven zeigen diese Fallbeispiele ebenso, dass bestimmte Demenzfälle weder im familiären Kontext, noch in Pflegeinstitutionen und noch in lokalen Ge-

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Fukuzaki Haru, Shingo Shimada

meinschaften bewältigt werden können. Für diese Fälle sind ausgebildete Fachkräfte notwendig, die für beide Gesellschaften weitestgehend noch fehlen.

4.4 P flege und lok ale F ürsorge aus der  S icht pflegender A ngehöriger Ludgera Lewerich 1

Aufgrund der hohen Lebenserwartung und der steigenden Wahrscheinlichkeit einer Demenzerkrankung mit zunehmendem Alter sind heute immer mehr Familien in Deutschland und Japan mit der Frage nach der Betreuung und Pflege betroffener Angehöriger konfrontiert. Zudem werden aufgrund der guten medizinischen wie pflegerischen Versorgung die Pflegezeiträume immer länger (vgl. Kasuga 1991: 49; Jenike 2003: 180; Deutmayer 2008: 259). Die Pflege- und Betreuungssituation besteht oft über Jahre, manchmal Jahrzehnte hinweg. Die Pflege demenziell erkrankter Angehöriger bringt besondere Herausforderungen mit sich. Je weiter die Erkrankung fortschreitet, desto intensivere Betreuung und körperliche Pflege werden notwendig. Und der Umgang mit demenziell erkrankten Menschen mit stark ausgeprägten Symptomen wie Unruhe, Depressionen oder Aggressivität macht die Pflege psychisch wie körperlich besonders belastend (vgl. Ōra et al. 2007; Kurasawa et al. 2012)2. Für pflegende Familienangehörige kommt noch hinzu, dass die zunehmend zeitintensive Pflege oft neben vielen anderen Aufgaben wie der Arbeit, dem Haushalt oder der Kinderbetreuung bewältigt werden muss. Da die Pflegeversicherung auch meist nicht das ganze Spektrum an anfallenden Kosten abdeckt, kommt zudem für viele Familien eine finanzielle Belastung hinzu. Aufgrund dieser vielen Herausforderungen erkranken pflegende Angehörige oft selbst oder leiden unter sozialer Isolation, da kaum noch Zeit für andere soziale Unternehmungen außerhalb von Arbeit, Familie und Pflege bleibt (vgl. Tebb/Jivanjee 2000; Kasuga 1991: 51f.). Hinzu kommt, dass die Kinder mittlerweile meist vom demenziell erkrankten Elternteil räumlich getrennt wohnen. Dann muss entschieden werden, ob man pflegebedürftige Eltern zu sich holt, vor Ort ambulante Pflege organisiert oder ein stationäres Pflegeheim sucht. Ziehen Vater oder Mutter 1 | Teile dieses Kapitels sowie des Kapitels 4.2 erscheinen in veränderter, gekürzter Form in Lewerich 2018. 2 | Pflegeerfahrung kann aber natürlich auch positiv gewertet und als erfüllende Tätigkeit erfahren werden (siehe z.B. Cohen et al. 2002; Tarlow et al. 2004).

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bei den pflegenden Kindern ein, muss Platz zur Unterbringung, später eventuell auch für sperrige Pflegebetten vorhanden sein und der ganze Alltag umstrukturiert werden. Verbleiben Vater oder Mutter dagegen an ihrem Wohnort, kommt eventuell häufiges Pendeln hinzu. Die Pflege in der Familie, die früher als selbstverständlich galt, ist heute also aus vielerlei Gründen in Deutschland wie Japan immer schwieriger zu bewältigen. Gleichzeitig basieren aber die Pflegeversicherungssysteme in beiden Ländern – in unterschiedlichem Ausmaß – weiterhin auf die Annahme eines informellen häuslichen Pflegearrangements, das unterstützt werden soll (vgl. Kap. 2; Dammert 2009: 150). Der Familie kommt also weiterhin eine zentrale Bedeutung in den Pflegearrangements zu, während gleichzeitig die Bereitschaft oder die Möglichkeit Pflege zu übernehmen, abnimmt. Dieses Problem soll, wie bereits in den einführenden Kapiteln beschrieben, der Einbezug des lokalen Kontextes in die Demenzpflege abfangen. Der Lebensraum demenziell erkrankter Menschen soll aus der Betreuung zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen in den öffentlichen Raum erweitert werden. Regierung, Wohlfahrt- und Pflegesektor hoffen, dadurch eine stärkere gesellschaftliche Partizipation von Menschen mit Demenz und ihr Weiterleben in gewohnter Umgebung zu ermöglichen, sowie Familien und Pflegeeinrichtungen zu entlasten. Solche Lösungsansätze gewinnen gerade auch durch die zunehmende Zahl an Alleinlebenden und die prozentuale Zunahme an Menschen mit Demenz in der Bevölkerung an Bedeutung. Sowohl die Einrichtung Yoriai in Fukuoka als auch die der Diakonie in Düsseldorf versuchen durch Angebote wie Cafés, Basare oder Tanzabende demenziell Erkrankte und ihre Angehörigen anzusprechen und in die lokale Gemeinschaft 3, also die unmittelbare Nachbarschaft des Quartiers, einzubinden. Wie überhaupt durch gesellschaftliche Normen und Strukturen den Familienangehörigen – und dabei vor allem den Frauen – die Rolle der Pflegenden zugeschrieben wird, wurde bereits im Unterkapitel 2 kurz thematisiert. Am Beispiel einiger Familienangehöriger von Menschen mit Demenz im Yoriai in Fukuoka und der Diakonie in Düsseldorf werden in diesem Kapitel ihre persönlichen Erfahrungen, die Probleme und Herausforderungen, die die Demenzerkrankung von Familienmitglie3 | Wenn in diesem Kapitel von Gemeinschaft gesprochen wird, ist darunter das Gefüge aus Familie und Freunden bzw. Freundinnen, sowie die umgebene lokale Nachbarschaft zu verstehen.

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

dern mit sich bringen, beleuchtet. Wie beim Lesen dieses Kapitels auffallen wird, konnten in Fukuoka nur pflegende (Schwieger-)Kinder, in Düsseldorf dagegen pflegende Ehepartner/innen rekrutiert werden. Dadurch ergeben sich natürlich vor allem Unterschiede im Familiengefüge zwischen den beiden Interviewgruppen. Doch die für das Kapitel zentralen Themen wurden in den Erzählungen der Interviewten in Fukuoka und Düsseldorf gleichermaßen und mit ähnlichen Inhalten angesprochen. Neben der eigenen Pflegeerfahrung wird die Beziehung der Familien zu dem Pflegepersonal der jeweiligen Einrichtung und die Sicht der Familie auf die Pflege im lokalen Kontext thematisiert. Durch die Betrachtung der Perspektive der Familie wird deutlich, warum die Pflege – besonders von Angehörigen mit Demenz – alleine in der Familie heutzutage schwierig bzw. kaum zu bewältigen ist. Andererseits wird anhand der Beispiele des Yoriai in Fukuoka und der Diakonie Düsseldorf aufgezeigt, wie durch eine Pflege zwischen Familie, Pflegeeinrichtung und lokalem Kontext die Familie unterstützt sowie entlastet, und gleichzeitig zusammen mit ihren demenziell erkrankten Angehörigen weiterhin in die lokale Gemeinschaft eingebunden werden kann. Durch die vergleichende Betrachtung der Fallbeispiele aus Fukuoka und der aus Düsseldorf werden außerdem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Betreuung und Unterstützung von Familien deutlich, die aus den jeweiligen institutionellen und politischen Gegebenheiten erwachsen. Dadurch kann aus dem jeweils anderen Kontext möglicherweise gelernt und es können neue Wege in der Unterstützung von Familien zu Hause und in der lokalen Gemeinschaft erreicht werden.

Familienangehörige in der Einrichtung Yoriai Wie bereits in den vorausgegangenen Kapiteln deutlich wurde, zeichnet sich die Einrichtung Yoriai durch einen starken Fokus auf die Einbindung der Familie und der lokalen Gemeinschaft aus. Dies geht auch aus den Prinzipien der Einrichtung hervor. So hält das Yoriai den Bund mit der Familie und als Einrichtung ein Mitglied der lokalen Gemeinschaft zu sein, für sehr wichtig (siehe Kap. 4.1). Diese Sicht spiegelt sich auch in den Interviews mit Familienangehörigen wieder, die während der Feldforschungsaufenthalte 2013 und 2014 geführt wurden. Zwei dieser Interviews werden in diesem Kapitel beispielhaft untersucht: Frau Matsumoto und Frau Takayama, die beide Mitgliederinnen der Kazoku no Kai (»Fa-

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milienvereinigung«) sind, einer Unterstützergruppe für Angehörige von Menschen mit Demenz. Frau Matsumoto und ihre Mutter wurden bereits in Kapitel 4.2 ausführlich vorgestellt und ihr Fallbeispiel wird hier daher nicht noch einmal zusammengefasst, sondern nur die relevanten Details in Erinnerung gerufen. Frau Takayama fand bisher noch keine Erwähnung und wird darum etwas ausführlicher vorgestellt.

Das »traditionelle Modell«: Pflege durch die Schwiegertochter Interview mit Frau Takayama Im Jahr 1997 verstarb plötzlich Frau Takayamas Schwiegervater und bei der Beerdigung wurde deutlich, dass die nun verwitwete Schwiegermutter nicht mehr alleine leben konnte. Frau Takayama hatte erstmals etwa drei Jahre vor dem Tod des Schwiegervaters Veränderungen bei ihrer Schwiegermutter wahrgenommen, aber die Demenzerkrankung wurde in vollem Ausmaß erst nach dem Tod des Schwiegervaters deutlich, der sich wohl bis dahin alleine um seine Frau gekümmert hatte. Die Entscheidung, die Schwiegermutter von Yamaguchi zu sich nach Osaka zu holen und ihre Pflege zu übernehmen, fällte der Sohn, also Frau Takayamas Ehemann. Daher zog die Schwiegermutter noch im selben Jahr zu Frau Takayama und ihrem Mann nach Osaka und einmal im Monat fuhr Frau Takayama mit ihr zurück nach Yamaguchi. Da der Arzt nur die Diagnose der Krankheit gestellt hatte und von ihm keinerlei weitere Informationen oder Hilfestellungen kamen, informierte sich Frau Takayama selbst und kaufte oder lieh sich Sachbücher über die Krankheit aus. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Pflegeversicherung und nach einer Weile wurden Betreuung und Pflege sehr ermüdend und so entschied sich Frau Takayama, nach einem Fernsehbericht über Pflegeeinrichtungen, Tagespflege in Anspruch zu nehmen. Aufgrund mehrerer Versetzungen ihres Mannes zogen Frau Takayama, ihr Ehemann und ihre Schwiegermutter erst gemeinsam von Osaka nach Kagoshima und einige Jahre später schließlich nach Fukuoka. Damit musste Frau Takayama immer wieder neue Pflegeeinrichtungen für die Schwiegermutter suchen. Da es in Fukuoka viele Einrichtungen gab, stand sie vor der Frage, wie sie die am besten geeignete finden würde. Von der Pflegeeinrichtung in Kagoshima hatte sie eine Liste mit Büros der Kazoku no Kai erhalten, die sie nun in Fukuoka aufsuchte. Dort erhielt sie die Empfehlung, sich an das Yoriai zu wenden, wo ihre Schwiegermutter

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

seither in der Tagespflege betreut wird. Frau Takayamas Schwiegermutter entwickelte im Laufe ihrer Erkrankung eine große Unruhe und Nachtaktivität, die für ihre pflegende Schwiegertochter sehr belastend wurden. Frau Takayama konnte kaum noch schlafen, da sie sich Sorgen um die oft in der Nacht herumwandernde Schwiegermutter machte. Zuerst bekam Frau Takayama Schlaftabletten verschrieben, aufgrund der Belastung durch die Pflege der Schwiegermutter und durch die später eintretende Erkrankung ihres eigenen Vaters entwickelte sie dann eine Depression, wegen derer sie auch in Behandlung ging. Mittlerweile ist ihre 93 Jahre alte Schwiegermutter bettlägerig und die meiste Zeit – auch zum Übernachten – im Yoriai in Betreuung.

Pflege in der Familie Frau Takayamas Erzählung lässt vermuten, dass bis zu seinem Tod der Schwiegervater seine Ehefrau gepflegt hatte. Hier spiegelt sich ein Muster wieder, das immer häufiger zu finden ist: zunehmend werden ältere Pflegebedürftige nicht mehr durch ihre Kinder, sondern durch ihre Ehepartner/innen gepflegt. Dies hat eine Reihe von Gründen, wie etwa die Tatsache, dass die Kinder meist weiter weg wohnen und keine Zeit haben. Die pflegenden Eheleute sind selbst meist in fortgeschrittenem Alter, körperlich weniger belastbar und anfälliger für Krankheiten. Dieses Phänomen, dass Pflege der älteren Bevölkerung immer häufiger von Angehörigen übernommen wird, die selbst über 65 Jahre sind, wird in Japan als rōrō kaigo bezeichnet. Dabei bezieht sich dieser Begriff sich nicht nur auf pflegende Ehepartner/innen, sondern umfasst z.B. auch Kinder über 65, die ihre hochaltrigen Eltern versorgen – eine ebenfalls zunehmend auftretende Situation (vgl. Hotta et al. 2010). Dies traf zum Zeitpunkt des Interviews auch auf Frau Takayama zu: Ihre Schwiegermutter ist mittlerweile über 90 Jahre alt und Frau Takayama über 60. Frau Takayamas Beispiel zeigt, wie sich in vielen Fällen Pflegemuster von der Kinder- zur Elterngeneration verschoben haben und traditionelle Rollenbilder an Bedeutung verlieren: erst, wenn der/die pflegende Ehepartner/in stirbt oder

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die Pflege körperlich nicht mehr schafft, übernehmen die Kinder die Pflege4. Frau Takayama und ihr Ehemann bemerkten so erst nach dem Tod des Schwiegervaters das volle Ausmaß der Demenzerkrankung ihrer Schwiegermutter. Die Entscheidung, die Pflege der Mutter zu übernehmen, lag bei ihrem Mann – dem einzigen Sohn der Familie – und nicht bei ihr, obwohl hauptsächlich sie die tatsächliche Pflege übernahm. Somit entspricht diese Aufteilung dem gerne als »traditionell« bezeichneten Modell, nach dem die Ehefrau des (ältesten) Sohnes, die Pflege der Schwiegereltern übernimmt (vgl. Kap. 2). Frau Takayama bezieht sich weder explizit auf dieses Konzept, noch stellt sie die Aufteilung in Frage. Es ist offensichtlich, dass Frau Takayama die Übernahme der Pflege ihrer Schwiegermutter als so selbstverständlich sah, dass sie im Interview keine weiteren tiefergehenden Reflexionen darüber anstellt oder die Gegebenheiten als erklärungsbedürftig einstuft. Mit ihren bereits Mitte 60 Jahren kann Frau Takayama noch einer Generation zugerechnet werden, in der die Mehrheit der Frauen zu Hause als Hausfrau und Mutter tätig waren. Die geschlechtliche Arbeitsteilung, nach der Frauen allgemein die Funktion der Fürsorge und speziell die Pflege kranker oder alter Angehöriger zufiel, ist zwar durch die Berufstätigkeit japanischer Frauen immer mehr in Frage gestellt worden und immer seltener der Fall, ist aber weiterhin eine verbreitete Normvorstellung. Und trotz der Infragestellung dieser Aufteilung seit den späten 80er-Jahren, sind es auch bis heute vor allem Frauen, die die Pflege Angehöriger übernehmen. Vor diesem Hintergrund scheint sich Frau Takayama trotz ihres traditionellen Pflegeverständnisses durchaus der wandelnden gesellschaftlichen Sicht auf das Pflegekonzept »Schwiegertochter pflegt Schwiegereltern« bewusst zu sein. Darauf weist eine Bemerkung hin, in der Frau Takayama betont, dass sie keine Abneigung gegen das Zusammenleben mit der Schwiegermutter bzw. bezüglich ihrer Pflege empfunden habe: »Es wird wohl schwierig, dachte ich, aber es war mir nicht zuwider mit meiner Schwiegermutter zusammenzuwohnen. Also, auch jetzt ist es mir nicht zuwider und ich empfand kein unangenehmes Gefühl, ich dachte irgendwie wird 4 | Laut einer Statistik des MHLW waren im Jahr 2014 26,2 % der pflegenden Angehörigen die Ehepartnerin bzw. der Ehepartner. Darauf folgten mit 21,8 % die Kinder und mit 11,2 % die Schwiegerkinder – bei beidem vor allem Frauen (MHLW 2014: 32f).

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es schon.« Damit stellt sich Frau Takayama möglicherweise gegen die mittlerweile gängige Meinung, dass das Pflegen und Zusammenleben mit der Schwiegermutter etwas sei, das Schwiegertöchter ablehnen oder das ihnen gar zuwider sein könnte. Frau Takayama nimmt hier vermutlich Bezug zur Debatte um die Pflegeübernahme durch Familienangehörige und vor allem zur Pflege durch die Schwiegertöchter, merkt aber durchaus auch an, dass es schwierige Zeiten gab. An Frau Takayamas Beispiel wird noch ein weiterer Aspekt deutlich, der die Pflege in der Familie heutzutage immer schwieriger macht. Frau Takayama und ihr Mann wohnten räumlich weit von ihren Schwiegereltern und Eltern getrennt. Dies führte einerseits dazu, dass sie die Veränderung der Schwiegermutter lange nicht bemerkten und andererseits zu einer großen Belastung Frau Takayamas, die teilweise zwischen drei verschiedenen Orten pendeln musste. Der Ortswechsel vom gewohnten Zuhause in Yamaguchi nach Osaka verwirrte außerdem die demenzkranke Schwiegermutter, die Probleme hatte, sich in dem ungewohnten Umfeld zurechtzufinden. Die Pflege gestaltete sich für Frau Takayama schwierig und als zunehmend belastend – vor allem aufgrund der Unruhe der Schwiegermutter und durch ihre zunehmende Verwirrung, die dazu führte, dass sie oft nachts herumlief und häufig nicht mehr rechtzeitig die Toilette fand. Das Fallbeispiel von Frau Takayama zeigt dabei typische Probleme bei der Pflege von Menschen mit Demenz in einem fortgeschrittenen Stadium: körperliche und psychische Erschöpfung der Pflegenden durch die intensive Pflegeanforderung. Bei Frau Takayama kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Aufgrund der langen Lebenserwartung und der geringen Geburtenzahl, muss sich immer häufiger ein Ehepaar um bis zu vier pflegebedürftige Elternteile kümmern. In Frau Takayamas Fall war dies zunächst die Schwiegermutter, dann ihr eigener Vater und, wie sie am Ende des Interviews berichtet, ist nun auch ihre Mutter an Demenz erkrankt. Von Frau Matsumoto und ihrer Mutter war bereits im Unterkapitel 4.2 die Rede. Während Frau Takayama und ihr Mann ihre Schwiegermutter zu sich nach Osaka holten, wohnte Frau Matsumoto bereits in der Nähe ihrer Mutter Frau Hayashi. So konnte sich Frau Hayashi, als sie krank wurde, trotzdem in ihrer gewohnten Umgebung bewegen. Frau Matsumoto übernahm als älteste Tochter die Pflege der eigenen Mutter. Hier ist es also nicht die Ehefrau des Sohnes, der diese Aufgabe zufiel. Frau Matsumoto hat zwar einen Bruder, der also der älteste Sohn wäre, dieser wohnt jedoch in Yokohama. Laut ihrer Erzählung fiel ihr die Aufgabe da-

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her relativ selbstverständlich zu. Wie Frau Takayama erhielt auch Frau Matsumoto erst keine Beratung über den Umgang mit der demenziell erkrankten Mutter oder Hilfe bei der Auswahl einer Pflegeinrichtung. Vor dem Yoriai besuchte die Mutter eine andere Tagespflege, die für Menschen mit Demenz im frühen Stadium geeignet war. Dort wurde etwa gebastelt und rehabilitative Maßnahmen angeboten. Die Mutter besuchte diese Einrichtung zwar gerne, konnte aber mit fortschreitender Demenz irgendwann an diesen Aktivitäten nicht mehr teilnehmen. Daher musste Frau Matsumoto eine neue Einrichtung suchen. Hier zeigt sich ein Problem, mit dem die Angehörigen häufig konfrontiert sind: sofern überhaupt ein Schwerpunkt auf Demenz besteht, sind viele Einrichtungen jedoch oft nur auf demenziell erkrankte Menschen in einem bestimmten Stadium der Erkrankung eingestellt. Dies liegt unter anderem an den sehr unterschiedlichen Anforderungen, die die Krankheit in ihren verschiedenen Stadien an Betreuung und Pflege stellt. Mit Fortschreiten oder Verschlimmern der Symptome – besonders Verhaltensstörungen wie Unruhe oder Aggressivität – muss dann oft eine neue Pflegemöglichkeit gesucht oder sogar spezielle Einrichtungen wie psychiatrische Kliniken gefunden werden (vgl. Kapitel 4.3). Die immer wiederkehrende Suche nach einer guten Einrichtung stellt dabei eine große zeitliche, aber auch mentale Belastung dar. Beide Frauen, Frau Takayama und Frau Matsumoto berichten zudem über ihr anfängliches Unwissen über die Krankheit Demenz. Frau Matsumoto sagt dazu: »Ich dachte, das ist eine Krankheit bei der man nur vergisst. Dass man am Schluss stirbt, das habe ich da zum ersten Mal erfahren. Das war ein großer Schock.« Während sie zwar ärztliche Diagnosen der Krankheit erhielten, mussten sich beide weitere Informationen besonders über den Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen und die richtige Pflege selbst verschaffen. Dies lernten beide vor allem auch aus der täglichen Praxis bzw. später dann aus Gesprächen mit anderen pflegenden Angehörigen sowie dem Personal beim Yoriai. Für beide war es dann vor allem die Kazoku no Kai, die ihnen schließlich emotionale Unterstützung und Raum zum Erfahrungsaustausch bot. In dieser Selbsthilfe- und Informationsgruppe für Angehörige von demenziell Erkrankten konnten sie über Probleme bei der Krankheit berichten und sich mit anderen austauschen. Beide betrachten dies als wichtige Hilfe in der oft schwierigen und belastenden Pflege ihrer Angehörigen mit Demenz.

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

Die Sicht der Angehörigen auf das Yoriai Frau Takayama und Frau Matsumoto übernahmen beide anfangs alleine die Pflege zu Hause. Aus beiden Interviews wird deutlich, dass der Wunsch vorhanden war, die Angehörigen selbst zu Hause zu pflegen, diese Möglichkeit aber bald an Grenzen stieß. Daher suchten sich beide Frauen nach einiger Zeit Unterstützung durch Pflegeservices. Diesbezüglich thematisieren sie keine großen Zweifel oder Versagensgefühle (etwa die Mutter abzuschieben oder die Aufgabe als Schwiegertochter nicht erfüllen zu können). Im Interview betonen beide vor allem, wie schwierig es in den 90er-Jahren, also vor der Einführung der Pflegeversicherung, gewesen sei an Informationen über Demenz und entsprechende Versorgungsmöglichkeiten zu kommen und gute Einrichtungen zu finden. Für Frau Takayama wie Frau Matsumoto war das Yoriai nicht die erste Pflegeeinrichtung, die in Anspruch genommen wurde, aber bei beiden sind die Mutter bzw. Schwiegermutter nun seit über zehn Jahren im Yoriai in Betreuung – und werden dort wohl voraussichtlich bis an ihr Lebensende bleiben. Daher bestand zum Zeitpunkt der Interviews bereits eine lange Verbindung mit der Einrichtung. Frau Matsumoto beschreibt ihren ersten Besuch beim Yoriai im Rückblick folgendermaßen:

»[Es] kam […] durch einen Zufall zum Treffen mit dem Yoriai. […] Die Vorgehensweise dort war anders als bei der Tagespflege davor. Es gab keine Regelungen. […] Ich hatte viele Pflegeeinrichtungen für meine Mutter angeschaut, aber überall waren die Gesichter der alten Leute wie tot, also ihre Gesichtsausdrücke. Aber die alten Leute beim Yoriai, […] sie haben gelächelt. Damals war das Yoriai nicht besonders sauber und alt. Aber, ›Hier ist es am besten’, habe ich gesagt und seither werde ich vom Yoriai unterstützt.« Frau Matsumoto stellt das Yoriai als etwas Besonderes dar, eine Einrichtung, die sich von anderen abhebt, in der Menschen mit Demenz trotz ihrer Krankheit weiterhin positive Emotionen ausdrücken. Darüber hinaus beschreibt sie das Yoriai als eine Einrichtung ohne Regelungen und Kontrollen (kisei), was sie als positiv bewertet. Es gibt tatsächlich wenig feste Strukturen im Tagesablauf und auch die Aufgabenverteilung des Personals wird Tag für Tag sehr spontan und informell vorgenommen (vgl. 4.1, 4.6). Auch Frau Takayama betont, dass das Yoriai sich den Bedürfnissen der Familie flexibel anpasse, statt von ihnen zu verlangen, sich auf

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einen bestimmten Ablauf in der Einrichtung einzustellen. Frau Takayamas Schwiegermutter war eigentlich zur Tagespflege beim Yoriai und es gab keinen Platz für Übernachtungen: »Mir ging es körperlich nicht gut und ich kam ins Krankenhaus und da konnte ich dann die Kurzeitpflege in Anspruch nehmen und auch als mein Mann für die Arbeit woanders wohnte. Was das angeht, gibt es also keinen strengen Plan, und den Vorteil, dass [das Yoriai] die Umstände der Familie versteht und sich diesen anpasst.« Allerdings erwähnt sie auch, dass durch die Pflegeversicherung nun die Anforderung an das Yoriai solche Pflegepläne aufzustellen und sich daran zu halten, zugenommen hätten. Wie Frau Takayamas Erzählung illustriert, bietet das Yoriai den pflegenden Familienangehörigen oft auch kurzfristig Hilfe an und passt sich den ändernden Pflegesituationen in den Familien an. Aber Familien und Nutzer/innen werden auch über die eigentliche Pflege hinaus unterstützt. Etwa werden kranke Nutzer/innen im Krankenhaus besucht und die Familie dort beraten, kurzfristig ungeplante Hausbesuche unternommen oder bei Krankheit der Pflegenden die demenzkranken Angehörigen für einige Zeit für Übernachtungen aufgenommen – wie im Beispiel von Frau Takayama. Diese oft informell organisierten Angebote gehören zum Programm der Einrichtung: »›Takurōsho Yoriai‹ […] ist ein Stützpunkt für die Familien und die Menschen aus der Umgebung geworden.« (Takurōsho Yoriai 2018; Internet; vgl. dazu Abbildung 1 im Kapitel 4.1). Die Familie soll unterstützt werden und ein emotionales Band (kizuna) die Familie und das Yoriai verbinden, die Familie aber nicht durch das Yoriai ersetzt werden. Generell versucht das Yoriai die Familien dahingehend zu unterstützen, dass die demenziell erkrankten Angehörigen so lange wie möglich zu Hause wohnen bleiben können und nur zur Tagespflege ins Yoriai kommen. Eine durchgehend stationäre Aufnahme soll damit möglichst hinausgezögert werden. Frau Matsumoto erwähnt dies im Interview folgendermaßen: »Und [eine Pflegerin] sagte zu mir: ›Frau Matsumoto, die Pflege zu Hause ist am besten. Auch für die Betroffene bzw. den Betroffenen ist das Zuhause gut. Das Personal vom Yoriai unterstützt so, dass die Pflege zu Hause möglich ist.‹«. Sie beschreibt, dass sie am Anfang ihre Mutter gerne stationär zur Pflege beim Yoriai gegeben hätte. Nachdem sie jedoch im Yoriai immer wieder mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Lage besprochen hatte und auf einen bald freiwerdenden Platz vertröstet wurde, begann sie selbst davon überzeugt zu sein, dass neben der Tagespflege eine möglichst lange Betreuung zu

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

Hause am besten sei. Frau Matsumoto erzählt, dass sie so verstanden habe, dass das Yoriai die Familien wirklich sehr unterstützt. Hier zeigt sich die Grundvorstellung vom Yoriai, der zufolge die Pflege in der Familie bzw. das Wohnen mit der Familie in Verbindung mit Tagespflege die beste Lösung ist. Ein Herauslösen der dementen Menschen aus der Familie in eine komplett institutionelle Pflege soll vermieden werden. Es lässt sich rückschließen, dass das Yoriai ein Konzept von Familie als emotional verbundene Einheit vertritt. Die Familienmitglieder/innen können einander am besten Halt und Unterstützung geben und Menschen mit Demenz können in der vertrauten Umgebung am besten zurechtkommen. Allerdings gibt es auch Nutzerinnen und Nutzer, die im Yoriai wohnen und deren Familien sehr selten zu Besuch kommen. Aber während der Feldforschung beim Yoriai kamen immer wieder ein, zwei Angehörige spontan zu Besuch und wurden ganz selbstverständlich begrüßt. Da es beim Yoriai keinen festen Tagesablauf gibt, störte weder ihre noch die Anwesenheit der Forscherin, sondern man saß einfach mit in der Runde der Pflegebedürftigen und Pflegerinnen.

Kizuna – die Beziehung zwischen Familien und dem Yoriai Das Entgegenkommen des Yoriai und die Unterstützung über die eigentliche Betreuung und Pflege hinaus sehen Frau Matsumoto und Frau Takayama als Grund für ein besonderes Verhältnis zwischen dem Yoriai und Familienangehörigen, das es so in anderen Einrichtungen nicht gäbe. So erwähnt Frau Matsumoto im Interview, dass viele Familien mit dem Yoriai in Kontakt bleiben, auch wenn die beim Yoriai gepflegten Angehörigen bereits verstorben sind. Diese Familien sind oft weiterhin Teil des erweiterten Yoriai-Netzwerkes. Manche von ihnen helfen in der Freiwilligengruppe, andere kommen zu den Basaren und anderen Veranstaltungen.

»[…] das Verhältnis zwischen dem Personal vom Yoriai und den Familien ist eng. Nicht nur das direkte Verhältnis der Pfleger/innen zu den Nutzerinnen und Nutzern der Einrichtung, was ja normalerweise der Fall ist. Aber hier werden die Familien auch mit einbezogen, wenn die verschiedenen Basare oder Veranstaltungen sind. […] Ich bin froh, dass [im Yoriai] an die Stärke der Familie geglaubt wird.«

Frau Matsumoto setzt das Yoriai zu anderen, »normalen« Einrichtungen ( futsū dattara) in Kontrast, in denen ihrer Erfahrung nach die Beziehung

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zwischen Pflegepersonal und Nutzerinnen und Nutzern gut sei, aber nicht unbedingt zwischen Personal und Familien. Somit stellt sie das Yoriai als eine Ausnahme dar, bei der auch Familien und Pfleger/innen eine enge Beziehung verbindet. Frau Matsumoto erwähnt hier außerdem, dass die Familien in die Veranstaltungen des Yoriai einbezogen werden, was sie nicht als zusätzliche Belastung, sondern als positiv empfindet. Es mache sie glücklich, dass das Yoriai an die »Stärke« der Familie glaubt und deren Unterstützung in Anspruch nimmt. Die Familien sind also nicht nur passive »Kundinnen« und »Kunden« der Dienstleistungen, sondern aktive Teilnehmer/innen in dem über die Pflegeeinrichtungen hinausgehenden Engagement des Yoriai. Denn neben der Pflege hilft das Personal beim Fundraising und kocht etwa Marmelade zum Verkauf beim Basar und hilft bei diesen Veranstaltungen mit. Die Familien nehmen laut Frau Matsumoto wahr, dass das Personal beim Yoriai sich sehr engagiert und sind daher bemüht, das Personal im Gegenzug zu unterstützen: »Einige haben damals vom Yoriai Hilfe bekommen, und wollten gerne, wenn möglich, etwas machen. Als Familie konnten sie damals nichts tun, aber, seit [der/die Angehörige] verstorben ist, gibt es nun Zeit und also es gibt Leute, die jetzt gerne etwas zurückgeben möchten.« Frau Matsumoto beschreibt auf diese Weise eine Art Gabe-Gegengabe-Prinzip der gegenseitigen Wertschätzung und Unterstützung: »Auch wir bitten das Yoriai um Hilfe, aber das Yoriai bittet auch die Familien um Hilfe.« Natürlich sind nicht alle Familienangehörige so involviert wie Frau Matsumoto, die auch in der Freiwilligengruppe für das Yoriai kocht. Aber viele kommen zu den Basaren oder dem Yoriai no Mori Café, das fast jeden Samstag in den Räumlichkeiten vom Yoriai 3 stattfindet.

Lokale Fürsorge beim Yoriai Das Konzept der lokalen Fürsorge soll, wie bereits erwähnt, unter anderem dafür sorgen, dass die Familien entlastet werden, aber auch die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Demenz weiter ermöglichen. Es ist daher wichtig zu betrachten, wie Familienangehörige Angebote bewerten, die der lokalen Fürsorge, also der Einbindung der lokalen Gemeinschaft in die Betreuung der demenziell erkrankten Gemeinschaftsmitglieder zuzuordnen sind. In der Einrichtung Yoriai sind dem vor allem zwei Beispiele der lokalen Fürsorge zuzuordnen: lockere Unterstüt-

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zungsnetzwerke wie die »Gruppe um Frau Hayashi« (vgl. Kap. 4.3) und das Yoriai no Mori Café mit den dort stattfindenden Veranstaltungen. Die Gründung der »Gruppe um Frau Hayashi« wurde bereits in Kapitel 4.3 ausführlich diskutiert. Diese Form der Einbindung der lokalen Gemeinschaft in die Betreuung von Menschen mit Demenz kann selbstverständlich nur mit dem Einverständnis der Familie stattfinden. Frau Matsumoto war als Tochter von Frau Hayashi direkt in die Einberufung der Gruppe und deren Aktionen involviert. Zusammen mit ihrer Mutter und dem Pflegepersonal vom Yoriai verteilte sie Handzettel, die ihre Mutter vorstellten und Kontaktdaten enthielten für den Fall, dass jemand ihre Mutter beim unbegleiteten Herumlaufen beobachten sollte (siehe Kap. 4.2). Das Unterstützungsnetzwerk blieb im Hauptaspekt ohne Ergebnis – wenn Frau Hayashi von zu Hause oder aus dem Yoriai weglief, waren es immer das Pflegepersonal oder die Familie, die sie wieder auffanden und kein sonstiges Mitglied aus der Hayashi san wo kakomu kai. Trotzdem blickt Frau Matsumoto sehr positiv darauf zurück: »Allein [von anderen] zu hören ›Ich helfe bei der Suche.‹, ›Ich hänge ein Poster im Laden auf, damit sie nicht verschwindet.‹, ›Kontaktieren Sie mich, falls etwas ist.‹, da hat sich meine Stimmung – also ich war beruhigt.« Aus der Perspektive der Familie war also die Involvierung der lokalen Umgebung in diesem Fall hilfreich. Die Bedeutung der Einbindung der lokalen Gemeinschaft in die Betreuung von Frau Hayashi liegt für ihre Tochter Frau Matsumoto dabei vor allem in dem Wissen, dass sie nicht alleine ist und sich andere ebenfalls um ihre Mutter kümmern und auf sie achten. Frau Matsumoto bewertet diese Herauslösung der Familie aus der Isolation der alleinigen Verantwortung als äußerst positiv. Die Tatsache, dass nun die ganze Nachbarschaft um die Demenzerkrankung ihrer Mutter weiß, wird von ihr nicht als stigmatisierend bewertet. Auch das Yoriai muss so nicht in Erwägung ziehen, Frau Hayashi in ihrem Laufdrang einzuschränken, sondern weiß ebenfalls um die Unterstützung der lokalen Gemeinschaft. Damit kann das Yoriai weiterhin seinem Prinzip nachkommen, die Nutzerinnen und Nutzer so wenig wie möglich in ihrer Selbstbestimmung einzuschränken, die Einrichtung muss nicht abgeschlossen oder Frau Hayashi ständig überwacht werden. Auch eine mögliche Einweisung in eine geschlossene Einrichtung oder eine Ruhigstellung Frau Hayashis durch Medikamente kann verhindert werden. Durch diesen offenen Umgang mit der Erkrankung wird außerdem die Nachbarschaft über Demenz und den Umgang mit demenziell Erkrankten informiert und auf-

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geklärt und dies trägt möglicherweise zu mehr Verständnis bezüglich der Krankheit bei und fördert eine Destigmatisierung. Sobald Menschen mit Demenz wie Frau Hayashi den Raum der Familie oder der Pflegeinrichtungen verlassen und umherstreifen, ist auch die lokale Gemeinschaft herausgefordert. Mit der zunehmenden Anzahl an demenziell Erkrankten in der Bevölkerung kommen solche Herausforderungen vermehrt auf den öffentlichen Raum zu. Soll eine Gesellschaft geschaffen werden, in der Menschen mit Demenz so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung selbstbestimmt verbleiben können, sind Lösungen, die die lokale Gemeinschaft einbeziehen, unumgänglich. Dafür müssten jedoch auch eine passende lokale Infrastruktur und eine entsprechende Bereitschaft zur Kooperation vor Ort vorhanden sein. In der eher von Einfamilienhäusern geprägten Umgebung vom Yoriai 1 und 2 und dank des Einsatzes engagierter und gut vernetzter Persönlichkeiten wie Frau Shimomura, lässt sich ein solches Konzept vermutlich besser umsetzen als in einem sehr dicht besiedelten und eher von Wohnungsblöcken geprägten, weniger gut gemeinschaftlich vernetzten Wohnviertel. Neben dieser erwähnten Einbindung der lokalen Gemeinschaft in die Betreuung der Nutzer/innen bietet das Yoriai gleichzeitig auch Möglichkeiten zur Gemeinschaftsbildung, die Familie, demenziell Erkrankte und lokale Umgebung zusammenbringen. Fast jeden Samstag findet im Yoriai 3 das Yoriai no Mori Café statt. Es gibt eine Speisekarte mit ein oder zwei Hauptgerichten sowie Kaffee und Kuchen. Die Speisen werden von einer Gruppe von Freiwilligen, zu denen auch Frau Matsumoto gehört, und mit der Unterstützung des Personals gekocht. Die Besucher/innen des Cafés sind Familienangehörige der Yoriai-Nutzer/innen, Personen aus der Nachbarschaft, Angestellte vom Yoriai, freiwillige Unterstützer/ innen und einige der körperlich mobileren Bewohner/innen. Das Café erfreut sich großer Beliebtheit und ist meist gut besucht. Die lokale Gemeinschaft und Familien sind dabei nicht nur Gäste, sondern durch den Besuch des Cafés und die Teilnahme bei Veranstaltungen wie den Basaren als Spender/innen und Helfer/innen dabei und unterstützen damit im Gegenzug das Yoriai. Das Café und die Veranstaltungen bieten die Möglichkeit zum Kennenlernen und Austausch mit und innerhalb der lokalen Gemeinschaft. Im Sommer spielen auf der Wiese und der offenen Holzterrasse Kinder und dort werden auch Basare vom Yoriai abgehalten. Die Gruppe der demenziell Erkrankten ist ganz selbstverständlich mit dabei – ohne übermäßig im Fokus zu stehen. Dabei herrscht eine lockere

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

Stimmung und viele Besucher/innen kennen einander. Dies kann auch als eine gewisse Normalisierung der Teilhabe von Menschen mit Demenz am öffentlichen Leben gesehen werden und macht ihre Anwesenheit außerhalb von Familie und Pflegeinrichtung selbstverständlicher. Zwar ist das Yoriai no Mori Café auf dem Gelände vom Yoriai 3 angesiedelt, aber es ist dezidiert für die lokale Gemeinde außerhalb von Familienangehörigen und Pflegepersonal geöffnet. So wird die Trennung zwischen Pflegeraum und öffentlichem Raum überbrückt und das Café stellt gleichzeitig weiterhin eine geschützte Umgebung für Menschen mit Demenz dar. Es ist dabei interessant anzumerken, dass das Café auch in seinem an die Pflegeinrichtung angelehnten Namen das Ziel verkörpert: Yoriai no Mori Café bedeutet etwa »Zusammenkommen im Wald-Café«. Es heißt also nicht Demenz-Café, ein Name, der für entsprechende, ähnliche Einrichtungen in Japan, aber auch in Deutschland geläufig ist. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass das Yoriai den Begriff ninchishō (Demenz) ablehnt (siehe Kapitel 3), soll aber vermutlich auch signalisieren, dass das Café eben nicht nur für Menschen mit Demenz und deren Familien gedacht ist, sondern für alle Mitglieder der lokalen Gemeinschaft.

Familienangehörige in der Diakonie Düsseldorf Auch in Deutschland ist es meist die Familie, die sich um ein dementes Familienmitglied kümmert. Im Kapitel 4.2 wurde besprochen, wie Herr Dürnberg seine dement werdende Lebenspartnerin Frau Hartmann pflegte und betreute. Im Fallbeispiel von Herrn Weigel im Kapitel 4.3 war es vor allem seine Frau (aber auch die Tochter), die sich als erste Person mit der Demenz ihres Ehemannes und der Frage nach Betreuung und Pflege, besonders angesichts sehr ausgeprägter Symptome wie Aggressionen und Gewalt, konfrontiert sah. Neben diesen beiden Fällen, wird hier als drittes Beispiel kurz das Interview mit Herrn Schmidt vorgestellt und in die Betrachtung miteinbezogen:

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Pflege zu Hause und in der Tageseinrichtung: Herr und Frau Schmidt Interview mit Herrn Schmidt Etwa 2009 bemerkte Herr Schmidt bei seiner Frau kognitive Veränderungen wie Orientierungsschwierigkeiten und Vergesslichkeit. Nach Tests bei einem Neurologen stand die Diagnose der Alzheimererkrankung fest und Frau Schmidt begann die verschriebenen Medikamente zu nehmen. Nach einer anfänglichen Verbesserung verschlechterte sich jedoch ihr Zustand und sie konnte ihren gewohnten Freizeitbeschäftigungen nicht mehr nachgehen. Die ersten Jahre übernahm der Ehemann die Pflege alleine Zuhause, doch mit zunehmender Pflegebedürftigkeit wurde die Belastung für ihn zu hoch und er stellte Pflegehelferinnen an, die seither ins Haus kommen und vor allem die Körperpflege seiner Frau übernehmen. Nachdem Herr Schmidt viel über die Angebote der Diakonie gehört hatte, begann er mit seiner Frau einmal die Woche das Café Schatztruhe im zentrum plus in Düsseldorf Oberkassel zu besuchen. Als die Beschäftigung und Versorgung seiner Frau tagsüber auch über die Körperpflege hinaus schwieriger wurde, kam er über das Café auf die Tagespflege der Diakonie im Dorothee-SölleHaus in Oberkassel, die seine Frau seither zweimal in der Woche besucht.

Pflege in der Familie Auch wenn Angehörige zunehmend getrennt von ihren Eltern wohnen, ist es auch in Deutschland immer noch meist die Familie, die sich um die Betreuung und Pflege kümmert – es wird anfangs oft selbst gepflegt und/oder ein ambulanter Pflegeservice in Anspruch genommen. Auch die interviewten Angehörigen der Düsseldorfer Fallbeispiele haben alle die Pflege zuerst alleine übernommen und wollten diese soweit als möglich in der Familie bewältigen. Interessanterweise handelte es sich bei den Interviewten nur um Beispiele der Pflege durch die Ehepartner/innen, nicht die Kinder. Dies ist unter anderem auf das Alter der Interviewten zurückzuführen, die etwa Mitte bis Ende 60 Jahre waren. Je älter die Pflegebedürftigen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Ehepartner/ innen die Pflege nicht mehr übernehmen können und die Kindergeneration in die Verantwortung tritt – wie in den japanischen Fallbeispielen.

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

Bei den drei Beispielen aus Düsseldorf war im Anfangsstadium der Demenz die Übernahme der Pflege durch die Ehepartner/innen machbar. Doch mit zunehmend schweren psychischen Symptomen wie Unruhe, Depressionen und Aggressivität, als auch einer steigenden Pflegebedürftigkeit vor allem bei der Körperpflege und Problemen wie Inkontinenz, wurde die Belastung zu groß. Die Forschungsliteratur zeigt, dass es gerade Faktoren wie Unruhe und Inkontinenz sind, die zu stationärer Pflege führen (Förstl et al. 2009: 48f.). An den Fallbeispielen zeigt sich, dass der Wunsch und der Anspruch, die Pflege in der Familie zu übernehmen, durchaus vorhanden sind, aber die Demenz die Angehörigen schnell an die Grenzen des Möglichen stoßen lässt. Herr Schmidt reflektiert über die emotionale Belastung durch die Pflege folgendermaßen:

»Wenn jemand Pflege macht mit ’ner fremden Person… is’ das ganz was anderes, als wenn ’n Angehöriger das macht, und wenn’s der Ehemann macht, noch mehr. Weil Sie, da sind Sie emotional ganz anders gebunden, und wenn Sie dann merken, dass Ihre Frau das nich’ mehr kann und das nich’ mehr kann, das geht schon an die Substanz, ne? Und mit der Situation… dass Sie emotional damit erstmal klarkommen müssen, dass es so is’, und dann noch richtig zu reagieren… weil Sie, irgendwo… Gut, das hört jetzt auch auf, aber bis zu ’ner gewissen Grad der Demenz… is’ es ja noch Ihr Partner, Ihr richtiger Partner, wo Sie auch noch ’n bisschen Kontakt haben und reden können, und, und, und irgendwo… Und da is’ es eben so, dass das, dass das eigentlich ziemlich hart is’. Und dieses, dieses Verhalten, sich richtig zu verhalten und trotzdem… das anzunehmen, das, äh, das is’ eigentlich das schwere.« Er beschreibt hier die komplexe Situation, in der er sich als pflegender Ehemann befand. Zum einen stellen die Veränderung der Ehefrau und ihre abnehmenden Fähigkeiten eine emotionale Belastung dar. Zu der Verarbeitung dieser Situation kommt die Pflege hinzu, die für die ungeschulten Angehörigen viele Herausforderungen mit sich bringt. Dazu gehört nicht nur die Frage wie Körperpflege abläuft, sondern auch der notwendige besondere Umgang mit demenziell Erkrankten. Dies aber gleichzeitig mit der krisenhaft empfundenen Veränderung der Beziehung zur Ehefrau zu bewältigen, stellte sich für ihn schließlich als unmöglich heraus. Mit der Diagnose der Demenz ist zwar die Ursache für das Verhalten der Angehörigen geklärt, doch die Frage, wie die Krankheit sich im Laufe der Jahre auf den Alltag auswirken wird und wie sie

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damit am besten umzugehen haben, bleibt ihnen meist unklar. Zudem ist der Verlauf von Fall zu Fall verschieden. Es ist dieses komplexe Gewebe aus Emotionen, ständiger Situations- und Rollenveränderungen und Körperpflege, das für viele Angehörige eine besondere Herausforderung darstellt. Nach wie vor ist dabei der Anspruch vieler Familien an sich, die Pflege selbst zu bewältigen, hoch. Herr Schmidt bezeichnet die Pflege durch die Familie als selbstverständlich und sagte dazu Folgendes: »Und wir waren uns eigentlich mit der Familie immer klar, wir machen das so, dass wir sie auf jeden Fall zu Hause behalten. Das ging deswegen auch oder geht auch bis jetzt gut, weil sie… sehr positiv is’ und sehr, eigentlich ’n fröhlicher Mensch is’.« Ebenso wie bei den japanischen Interviewpartnerinnen und -partnern versucht auch im Fall von Frau Schmidt die Familie, die Pflege erst einmal alleine durchzuführen. Als dies für Herrn Schmidt insbesondere aufgrund der Inkontinenz seiner Frau zu schwierig und belastend wird, stellt er für zu Hause Pflegerinnen an. Auch Frau Weigel beschäftigten ähnliche Gedanken. Ihr Mann wurde durch seine Demenz zunehmend aggressiv und auch handgreiflich. Ihre Reaktion auf den Vorschlag ihrer Kinder, den Vater ins Pflegeheim zu geben, beschreibt sie folgendermaßen: »Und dann ham’ die Kinder das auch mitgekriegt, Mutti, das geht so nich’, wir müssen irgendwas machen. Und dann sach’ ich, nee sach’ ich, sach’ ich, ich kann den nich’ abgeben, ich sach’, kumma’, wir sind über fünfzig Jahre verheiratet, ne, und dann is’ datt so.« Ebenso wie für Herrn Schmidt bedeutet für Frau Weigel zu diesem Zeitpunkt die Inanspruchnahme eines Pflegeheims »ein Abgeben« des Ehemannes, dass aus ihrer Sicht den Prinzipien der ehelichen Fürsorge widerspricht. Erst durch Anstoß von außen und als die Pflegesituation alleine kaum mehr zu bewältigen ist, verlieren derartige Vorstellungen von der Pflicht der Familie ein Stück weit ihre normative Verbindlichkeit. Auch wenn die Angehörigen in den Düsseldorfer Fallbeispielen die Pflege gerne alleine übernehmen wollten, nahmen sie alle ab einem gewissen Punkt einen Pflegedienst in Anspruch, da sie die Pflege selbst nicht mehr alleine leisten konnten. Im Rückblick äußern sie die Sorge, bei der Pflege Fehler gemacht zu haben. Frau Weigel sagt dazu: »Weil ich ja auch gar keine Ahnung hatte, ne. Wenn man, wenn man so’n Menschen hat, man weiß dat ja gar nich’, wie, eh, mit der, mit der Krankheit, ne. Ich sach’, es weiß gar nich’, also der Außenstehende weiß gar nich’, wie furchtbar so was is’.«

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

Der richtige Umgang mit ihren dementen Angehörigen sowie der Verlauf der Krankheit ist für die Angehörigen ein wichtiges Thema. All dies mussten sie erst lernen und räumen ein, vermutlich Fehler gemacht zu haben. Aus Gesprächen mit Pflegepersonal und anderen Angehörigen erhalten sie Tipps und Erklärungen, wie mit ihren demenziell erkrankten Familienmitgliedern umzugehen und was im Verlauf der Krankheit zu erwarten ist. Sowohl Herr Schmidt als auch Frau Weigel besuchen darüber hinaus Selbsthilfegruppen, in denen sie sich mit anderen Betroffenen austauschen können und Hilfestellungen bekommen. Herr Schmidt besucht die Selbsthilfegruppe mittlerweile nicht mehr, doch Frau Weigel geht immer noch regelmäßig dorthin und betont, wie wichtig die Unterstützung dort für sie im Umgang mit ihrem Mann ist. Beispielsweise suchte sie dort Rat, nachdem ihr Ehemann immer wieder große Summen Geld von seinem Konto abgehoben und versteckt hatte. Auf Anraten des Leiters der Selbsthilfegruppe nahm sie seine Bankkarte schließlich an sich:

»Da, geh’ da mal hin und so, und dann, da bin ich, aber die, wirklich, der hat mir auch gute Tipps gegeben. Ne, so wie das mit der, mit der Karte. Ich sach’, das kann ich nich’ machen. Doch, sacht’a, das können Sie machen. Bei so’n Menschen Sie können das, Sie können das auf alle Fälle machen. Sie brauchen gar kein schlechtes Gewissen haben. Der Mann, der ist krank, sacht’a, das wird schlimmer, dat, sacht’a, das können Sie machen. […] da hat der mir gute Ratschläge gegeben.«

Hier wird deutlich, wie wichtig Ansprechpartner/innen für die Angehörigen sind, die bei schwierigen Entscheidungen unterstützend zur Seite stehen. Darauf wird im folgende Unterkapitel noch einmal genauer eingegangen.

Wichtige Personen in der Pflegegeschichte Die Angehörigen ziehen ein positives Feedback hinsichtlich der in Anspruch genommenen Pflegeservices und der Einrichtungen, erläutern dies aber nicht sehr ausführlich. Auch das Pflegepersonal findet in den Interviews mit den Angehörigen aus Düsseldorf relativ wenig Erwähnung. Mit der Betreuung sind alle drei Angehörigen zufrieden und berichten, dass die Pflege gut und der Umgang sehr freundlich sei. Herr

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Schmidt berichtet außerdem, dass das Personal auch bei Fragen hilfsbereit sei: »Also ich find’, das Personal geht a) unheimlich gut mit den Kranken um. Das is’ also, ich find’ das traumhaft gut. Und sind auch unheimlich freundlich und, und aufgeschlossen, und wenn man mal ’n Problem hat […] dann sind sie auch sehr… beruhigend auch für einen selbst, dass man sagt: Naja, gut, okay, dann… bist’e in den richtigen Händen, ne?«

Herr Schmidts Ehefrau ist zur Tagespflege in einer Einrichtung der Diakonie. Wenn zu Hause manchmal Fragen anfallen, kann er sich an das Personal wenden und bekommt Unterstützung. Eine besonders emotionale Beziehung oder eine namentliche Erwähnung bestimmter Pflegender ist aber nicht in den Interviews zu beobachten. Dagegen werden bei Frau Weigl der Sozialarbeiterin aus Gerresheim, Frau Wienß, und bei Herrn Dürnberg sowie Frau Weigl der Gerontopsychiaterin Frau Dr. Höft eine besondere Bedeutung zugewiesen. Diese werden als wichtige Personen in der Demenzgeschichte beschrieben. Als die durch die Demenz ausgelöste Depression seiner Lebensgefährtin ihn zu Hause an die Grenzen der Pflege brachte, wandte er sich an Frau Dr. Höft:

»Das war einfach, äh, g-, ging nicht, sie, ähm, die Depression wurde stärker. Und… äh… wie sie dann in dem Herbst in die Klinik ging, hat die Frau, für sechs Wochen, für den langen Aufenthalt, hat die Frau Dr. Höft gesagt: ›Frau Hartmann, Sie werden wieder lachen können.‹ Da hab’ ich gesagt: ›Die Frau is’ bekloppt, die Ärztin.‹ Das hab’ ich nicht geglaubt. Es war aber so.«

Herr Dürnberg beschriebt, wie er über den Zustand seiner Frau verzweifelt selbst nicht an eine Besserung der Situation geglaubt hatte. Hier war es Frau Dr. Höft, die ihm und seiner Lebensgefährtin Mut zusprach. Für Angehörigen wie Herr Drünberg, die sich in einer schwierigen Pflegesituation befinden, kann die Situation schnell hoffnungslos aussehen und zu einer Überforderung und Erschöpfung führen. Auf Symptome wie Depressionen, Unruhe oder Aggressionen, wie im Fall von Frau Weigels Mann, richtig einzugehen, ist für Angehörige, die dafür nicht ausgebildet sind, fast unmöglich und stellt eine starke emotionale Belastung dar. Hier ist also wichtig, dass von außen Hilfsangebote und Impulse kommen,

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

um die Situation zu entschärfen. Im Fall von Herrn Dürnberg und seiner Lebensgefährtin war es die Fachärztin Frau Dr. Höft, die durch die regelmäßige Betreuung erkannte, dass die häusliche Pflege nur noch schwer zu bewältigen war, und die einen Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik vorschlug. Generell beschreibt Herr Dürnberg, dass die Fachärztin seine Lebensgefährtin und ihn über die Jahre hinweg betreute und beriet und wichtige Entscheidungen von ihr angestoßen wurden. So schlug sie zweimal Aufenthalte in der Psychiatrie vor und riet schließlich auch dazu Frau Hartmann in stationäre Pflege zu geben. Für Herrn Dürnberg war es wichtig, eine feste Ansprechpartnerin zu haben, an die er sich regelmäßig wenden konnte. Auch Frau Weigel hebt besonders den Einsatz der Sozialarbeiterin Frau Wienß und von Frau Dr. Höft hervor. Bei dem schwierigen Fall ihres Ehemanns können zwar auch die Beiden die häufigen Wechsel der Pflegeeinrichtungen nicht verhindern, sie stehen ihr aber beratend zur Seite: »Die Frau Wienß [die Sozialarbeiterin] war sehr nett gewesen, also da kann ich nix sagen. Sie hat auch sehr geholfen, Gespräche ham’wa gehabt. […] Das war ja dann, ja nee, eh, ich hab’ viel mit, mit ihr jesprochen, ich war viel hier, auch an-, angerufen hab’ ich se, wenn ich mal irgendwas hatte, ne. Und so. Das schon, aber, eh, im Grunde mussten wir das alleine machen.«

Auch wenn die Sozialarbeiterin ihr die Entscheidungen nicht abnehmen und einen häufigen Wechsel der Einrichtungen aufgrund der hohen Aggressivität ihres Mannes Herr Weigl nicht verhindern konnte, bot sie Frau Weigel die Möglichkeit, das Gespräch zu suchen und ihre Sorgen zu äußern. Die Fachärztin Frau Dr. Höft betreute zwar primär ihren Ehemann, aber beriet auch Frau Weigel und verschrieb ihr zum Beispiel Schlaftabletten, nachdem sie vor Sorgen um ihren sehr unruhigen Mann nachts nicht mehr schlafen konnte. Als ihr Mann aufgrund eines fehlenden Heimplatzes aus der Klinik wieder zu ihr nach Hause entlassen werden sollte, ist es auch diese Ärztin, die sich auf Frau Weigels Bitten hin dagegen ausspricht. Als dann in einem speziellen, geschlossenen Pflegeheim in Neuss ein Platz gefunden wurde, wurde ihr Mann dorthin entlassen. Oft wissen Angehörige von demenziell Erkrankten jedoch nicht, an wen sie sich bei allgemeinen Fragen, aber vor allem bei Problemen in der Pflege wenden können. Herr Schmidt beklagt, dass es zwar Angebo-

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te gibt, die man aber selber suchen muss. Er wünscht sich ein aktiveres Ansprechen der Familien von außen und eine stärkere Angehörigenbetreuung auch durch die Angestellten der Pflegeversicherung (vgl. Kap. 5). Er selbst beschreibt, dass er vor allem durch eigene Recherche und Ansprechen von Bekannten auf die Angebote der Diakonie gestoßen sei. In den Interviews zeigt sich die Bedeutung von individuellem Einsatz über die notwendige Arbeit hinaus und wie wichtig für Angehörige von demenziell Erkrankten professionelle Ansprechpartner/innen sind, die über den gesamten Zeitraum der Demenzerkrankung ansprechbar sind und den Fall genau kennen. Diese bieten den Angehörigen eine gewisse Stabilität und sind so neben der Beratung als psychologische Stütze für die Angehörigen wichtig.

Lokale Fürsorge in der Diakonie Düsseldorf Ungefähr zu der Zeit, zu der er die privaten Pflegekräfte engagierte, nahm Herr Schmidt auch Kontakt zu der Betreuungsgruppe Café Schatztruhe in der Diakonie auf, da er bereits viel Positives davon gehört hatte. Dort werden einmal die Woche demenziell Erkrankte betreut und beschäftigt, aber auch die Angehörigen finden Zeit zum Austausch und können sich beraten lassen. Herr Schmidt wertet solche Angebote als besonders wichtig, da ab einem bestimmten Stadium der Demenz es Angehörigen kaum noch möglich sei, selbst genug Abwechslung und Betreuung zu bieten:

»Und dann sind wir zunächst in dieses ›Café Schatztruhe‹, is’ sie zunächst gegangen montags. […] das war überhaupt kein Problem, sie geht hin, fühlt sich da auch wohl, und ich merke auch so im Ganzen, dass das sehr… … äh, ja, sehr anregend und, und, und ja, also für ihre innere Stimmung sehr gut is’. […] man kann sich mit Dementen, als Familienmitglied mit dementen Menschen… […] schwer… beschäftigen, […] wenn ich mal was mit ihr spielen will oder sag, »Komm, wir bauen mal irgendwas oder so«, bei mir… null. Da blockt sie ab, und das is’ scheinbar so ’ne innere, weiß ich… Prüfungssituation von ihrem Ehemann, den sie, die sie nich’… haben will. So, und da das dann schwierig wi-, äh, wird, hab’ ich gedacht, dann fragst’e mal nach ’ner Tagespflege,«

Herr Schmidt beschreibt hier, wie der ganz alltägliche Umgang mit demenzkranken Angehörigen und ihre Beschäftigung innerhalb der Familie immer schwieriger werden können. Wenn er versuchte, mit ihr etwas

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

an ihre Demenz Angepasstes zu spielen, wehrte seine Frau solche Versuche ab. Im Café Schatztruhe scheint sie solche Beschäftigungen dagegen gerne gemacht zu haben. Herr Schmidt führt dies darauf zurück, dass seine Frau solche Situationen als »Püfungssituation« empfand und erwähnt, dass andere Angehörige ähnliche Erfahrungen machen. Es wird also deutlich, dass eine Unterstützung der Familien nur bei der Körperpflege nicht ausreicht. Daneben braucht es Angebote, die eine an die Krankheit angepasste Beschäftigung mit den demenziell erkrankten Angehörigen ermöglicht, sowie emotionale Unterstützung der pflegenden Familien. Das Café Schatztruhe in Oberkassel und das Café Vergissmeinnicht in Gerresheim bieten über Angeboten wie Tanzveranstaltungen und Liederabende die Möglichkeit zur Partizipation und Einbindung in Gruppen außerhalb von Familie und Pflegepersonal. Dies bewerten die Angehörigen auch nicht nur als für sich wichtig, sondern auch für ihre demenziell erkrankten Partner/innen. Außerdem können sich die Familien während ihre Angehörigen mit Demenz betreut werden, mit anderen betroffenen Familien austauschen und sich beraten lassen. Herr Schmidt erwähnt außerdem, dass er erst über das Café Schatztruhe seine Hemmungen verloren hat, für seine Frau eine Tagespflege in Erwägung zu ziehen:

»Ja, doch, die ›Schatztruhe‹ is’ schon, is’ schon ’ne gu-, sehr tolle Institution, muss ich sagen. Also ohne das hätten wir auch den Einstieg in die Tagespflege glaub’ ich nicht gefunden. […] Also Tagespflege hört sich ja auch schon vom, vom Klang her schon ’n bisschen an, nach dem Motto: So, jetzt bist’e endgültig so ’n bisschen, nich’ abgeschoben, aber, äh… Also Tagespflege hätt’ ich ohne ›Schatztruhe‹ nich’ gemacht.«

Für ihn war also die Vorstellung, seine Frau in eine Einrichtung außerhalb des eigenen Zuhauses zu geben, mit dem Stigma des »Abschiebens« behaftet. Die Inanspruchnahme einer außerhäuslichen Betreuung seiner Frau in der Tagespflege verletzt scheinbar die normative Vorstellung, dass die Familie die Aufgabe der Pflege als verständliche Liebestätigkeit zu übernehmen hat. Während er die Anstellung eines privaten Pflegedienstes, der ins Haus kommt nicht problematisiert, scheint also das »Abgeben« der Frau aus dem privaten Schutz des eigenen Heimes die eigentliche Normverletzung darzustellen. Damit ist es für ihn weniger die Abgabe der Pflegetätigkeit an sich, sondern des »Abschieben« aus dem eigenen

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Zuhause in die fremde Umgebung, das als falsch verstanden wird. Erst über den Kontakt mit einem niedrigschwelligen Angebot wie dem Café Schatztruhe konnte er sich von dieser Vorstellung befreien und die Tagespflege in Anspruch nehmen. Herr Schmidt macht hier deutlich, dass sowohl für die demenziell Erkrankten selbst als auch für deren Familien ein langsames Heranführen an Pflege außerhalb des Hauses wichtig sein kann. Die demenziell erkrankten Angehörigen können sich so nach und nach an die ihnen fremde Umgebung gewöhnen und die Familien durch normative Vorstellungen ausgelöste Hemmungen abbauen. Davon abgesehen bieten lokale Angebote wie das Demenzcafé auch die Möglichkeit weiterhin gemeinsamen Hobbys nachzugehen. So besuchten Herr Dürnberg und seine Partnerin häufiger ein Tanzcafé, das für Menschen mit und ohne Demenz angeboten wurde:

»Da kommt in der Winterzeit ein Herr… Drechsler, ein Jan. Tanzlehrer selber, kommt Samstagnachmittag zum Tanz…-café, ja, ›Tanzcafé‹ heißt es. So zwei Stunden ungefähr spielt der dann alte Musik, Musik… von unserer Jugend, oder von der, äh, Gudrun. Also das war immer, immer ein Erfolg, dass wir da, wenn wir da teilgenommen haben.«

Herr Dürnberg bewertet die Besuche des Tanzcafés als Erfolg. Hier konnten er und seine Partnerin durch den gemeinsamen Tanz wieder in die alte Rolle als Lebensgefährten zurückfinden. Für demenziell Erkrankte und ihre Angehörigen sind neben der Pflege solche Angebote wie Tanzcafés oder Demenzcafés wichtig, da sie ein Zusammensein und Miteinander-Sein außerhalb der von Pflege geprägten Umgebung des Zuhauses oder der Pflegeinrichtungen bieten. Die sonst durch das Verhältnis Pflegende/r-Gepflegte/r geprägten Rollen können so ein wenig in alte Verhältnisse zurückgeführt und die durch die Erkrankung bestimmten Interaktionen um gemeinsame Unternehmung aufgelockert werden. Neben der Betreuung bleibt für solche Unternehmungen im Alltag oft wenig Zeit und es gibt wenig Orte, die auf demenziell Erkrankte eingestellt sind und entsprechende Betreuung bieten.

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

Vergleichende Betrachtung und Fazit In ihrem Aufsatz aus dem Jahr 2005 »Relationale Anthropologie – Ethische Herausforderungen bei der Betreuung von dementen Menschen« fordern der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff und die Moraltheologin Verena Wetzstein die Fürsorge für demente Menschen auch auf ihre Angehörigen auszudehnen:

»Nimmt man die Demenz als ein Beziehungsgeschehen ernst, so betrifft sie nicht nur den dementen Menschen, sondern auch den Angehörigen. Eine besondere Herausforderung für die Betreuung dementer Menschen und ihrer Angehörigen besteht für eine solidarische Gesellschaft folglich darin, die Fürsorge für demente Menschen besonders auch auf die Angehörigen auszudehnen.« (Schockenhoff/ Wetzstein 2005: 266) Was hier treffend zusammengefasst ist, spiegelt sich auch in den Interviews mit Angehörigen aus Fukuoka und Düsseldorf wieder. Die Demenzdiagnose und die mit der Erkrankung einhergehenden Symptome beeinflussen die Familiendynamik und -beziehungen dramatisch und nachhaltig. Diese Veränderung wird als besonders krisenhaft wahrgenommen, da über Jahrzehnte gewohnte und eingespielte Rollen und das gesamte Familiengefüge in Frage gestellt und verändert werden. In den besprochenen Fallbeispielen aus Fukuoka und Düsseldorf wurde die generell oft ähnliche Situation deutlich, in welche die Angehörigen geraten, wenn jemand in der Familie an Demenz erkrankt. Kinder oder Ehepartner/innen müssen einerseits die Diagnose und ihre Implikation verarbeiten und einen andererseits einen Übergang in die neue Rolle der Betreuenden und Pflegenden finden. Demenz ist somit nicht nur eine Krankheit(-sdiagnose) mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen für die Erkrankten, sondern auch ein Beziehungsgeschehen, dass die dementen Menschen sowie ihre Angehörigen betrifft und weitreichende Veränderungen in der Beziehungsdynamik mit sich bringt. Die Angehörigen sind besonders bei der Demenz, durch welche die Erkrankten irgendwann keine eigenen Entscheidungen mehr treffen können, nicht nur für das eigene Wohlergehen, sondern nun auch für das der demenziell erkrankten Familienmitglieder verantwortlich. Dabei ist die eigene psychische und körperliche Gesundheit oft eng mit der der demenziell erkrankten Angehörigen verbunden. Normative Vorstellungen von Familie und Pflege

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als Aufgabe der Familie wirken sich dabei ebenso auf die Entscheidungen zur Pflege aus wie Erwägungen zum eigenen und fremden Wohlergehen. Allen Fallbeispielen ist gemeinsam, dass die Angehörigen es zuallererst als ihre familiäre Pflicht ansahen, das demenziell erkrankte Familienmitglied selbst zu pflegen. Sowohl bei den Interviewpartnerinnen und -partnern aus Fukuoka als auch bei denen aus Düsseldorf wurden Hemmungen geäußert, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen. Herr Dietrich und Frau Weigel empfanden dies als besonders problematisch, da für sie die Pflege in einer Einrichtung mit einem »Weggeben« der Angehörigen verbunden war. Hier tritt ein eindeutiger Konflikt zwischen der normativen Vorstellung von Familie als Ort der Liebe und gegenseitigen Versorgung einerseits und andererseits des Pflegealltags zu Hause und den Schwierigkeiten, welche die familiäre Pflege für die partnerschaftlichen Beziehungen mit sich bringt, auf. Die Angehörigen müssen dann oft zwischen dem eigenen Wohlergehen und dem der demenziell erkrankten Familienangehörigen abwägen und versuchen Kompromisslösungen zu finden. Schließlich war für alle pflegenden Angehörigen, die interviewt wurden jedoch die Belastung durch die Pflege mit fortschreitendem Krankheitsverlauf und insbesondere durch Symptome wie Depressionen, Aggressionen oder Unruhe irgendwann so hoch, dass sie begannen, Pflegeservices in Anspruch zu nehmen. Der Zugang und die Formen der Unterstützung unterscheiden sich jedoch zwischen den Düsseldorfer Fallbeispielen und denen aus Fukuoka erheblich. Die Diakonie als großer Träger betreibt neben den Pflegeheimen und der Tagespflege davon getrennte, institutionalisierte niedrigschwellige Angebote wie das Café Schatztruhe und das Café Vergissmeinnicht. Diese werden im Rahmen der zentren plus betrieben, die innerhalb der Stadtteile, in Trägerschaft der Düsseldorfer Wohlfahrtsverbände und durch die Landeshauptstadt Düsseldorf gefördert und somit auf übergeordneter Ebene fest verankert sind. In den japanischen Beispielen sind es das Pflegepersonal und die Leiterin der Einrichtung Yoriai, die informell über die Pflege hinaus nach Bedarf Unterstützung sowie das Yorai no Mori Café anbieten. Die Selbsthilfegruppe Kazoku no Kai, die Angehörigen die Möglichkeit zu Austausch und Unterstützung bietet, ist eine vom Yoriai getrennte Organisation, die vor allem als Selbsthilfegruppe fungiert. Angebote wie das Café Schatztruhe werden somit bei der Diakonie von der Pflege getrennt organisiert, beim Yoriai jedoch vom Personal zusätzlich und über die eigene Arbeitszeit hinaus angeboten. Während

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

die deutschen Institutionen also von vorne herein in der klaren Absicht der Unterstützung der Angehörigen eingerichtet wurden, sind es in den japanischen Fallbeispielen Aufgaben, die weder für das Personal noch die Leiterin vorgesehen sind. Sie übernehmen diese Aufgaben aus der Not heraus und versuchen in der schwierigen Situation die Angehörigen weitestgehend informell zu unterstützen. Daraus entstehen zwangsläufig auch enge emotionale Beziehungen zwischen dem Personal und den Angehörigen, die wiederum das Yoriai beim Kochen oder Veranstaltungen wie Basaren unterstützen. In den Interviews wurde deutlich von welch großer Bedeutung für pflegende Angehörige bei der Betreuung bzw. Fürsorge die Information und Aufklärung sowie die Unterstützung und Beratung durch staatliche oder private Einrichtungen aus dem Fürsorgesektor sind. In den Interviews wurde häufig ein Mangel an Aufklärung über Demenz und Pflege demenziell erkrankter Menschen sowie oft auch über unzureichende Unterstützung geklagt. Die Angehörigen mussten sich diese erst selbst suchen: in Selbsthilfegruppen oder durch Nachfragen bei den professionellen Pflegekräften. Durch Beratung kann die Belastung zwar nicht völlig von den Angehörigen genommen, aber gelindert werden. Niedrigschwellige Angebote senken außerdem die Hemmung, Pflege in Anspruch zu nehmen bzw. eine stationäre Pflege in Erwägung zu ziehen, wie das Beispiel von Herrn Schmidt gezeigt hat. Sowohl in Japan als auch in Deutschland zeigen sich demnach ein Mangel an Aufklärung und Information der Angehörigen und an Ansprechpartnerinnen und -partnern, die Sorgen nehmen, Tipps für den Umgang und die Pflege geben und Möglichkeit zum Austausch bieten. Schockenhoff und Wetzstein schreiben daher, dass »für eine weitergehende Entlastung und Begleitung von pflegenden Angehörigen Sorge zu tragen« sei (Schockenhoff/Wetzstein 2005: 266). In den Fallbeispielen wurden verschiedene Formen der Angehörigenunterstützung bzw. -fürsorge vorgestellt. In den Interviews aus Fukuoka ist es vor allem das Pflegepersonal vom Yoriai und die Angehörigengruppe Kazoku no Kai, die hier Hilfestellungen leisten, Angehörige entlasten bzw. Möglichkeiten des Austauschs bieten. Dazu gehört auch das Yoriai no Mori Café. Das Yoriai selbst ist als eine kleine, unabhängige Einrichtung auf die Unterstützung der Familien angewiesen. Diese Beziehung wird sowohl von Angehörigen als auch vom Yoriai als eine Gabe-Gegengabe-Beziehung verstanden. Aus Dankbarkeit für die Unterstützung durch das

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Personal von Yoriai übernimmt Frau Matsumoto verschiedene ehrenamtliche Aufgaben in der Einrichtung und zahlt die empfangene Unterstützungen auf diese Weise zurück. Und es ist nicht nur Frau Matsumoto allein, die eine solche Beziehung zum Yoriai unterhält, sondern ein Großteil der Angehörigen der Pflegebedürftigen vom Yoriai – teilweise selbst Familien, deren Angehörige bereits verstorben sind. Dagegen findet man diese Form der Beziehung zwischen dem Personal und den Angehörigen kaum in den Interviews aus Deutschland vor. Dort herrscht eine stärkere Trennung zwischen den verschiedenen Bereichen Pflegeeinrichtung, Familie(-nleben) und Angehörigenbetreuung vor. Gerade Aufgaben wie das Kochen, für die beim Yoriai das Pflegepersonal und die Freiwilligengruppe zuständig sind, werden in den deutschen Einrichtungen von angestelltem Küchenpersonal übernommen. Anders als das Yoriai ist die Diakonie nicht auf Spenden für den Bau oder den Erhalt der eigenen Einrichtungen angewiesen. Die institutionalisierte Unterstützung ist ein fester Bestandteil des deutschen Wohlfahrtssystems, für das die informellen Beziehungen zwischen dem Personal und den Angehörigen keine Rolle spielen. Daher werden in den Fallbeispielen aus Düsseldorf vor allem die professionell ausgebildeten Ansprechpartnerinnen explizit erwähnt, die die Angehörigen unterstützen. Zum einen die Sozialarbeiterin des zentrum plus (Frau Wienß), zum anderen die Fachärztin (Frau Dr. Höft), die das Demenznetzwerk Düsseldorf initiiert haben. Die Pflegebelastung, die krisenhaft erlebte Erkrankung der Angehörigen und die damit verbundenen Auswirkungen auf das soziale Umfeld führen nicht selten bei pflegenden Angehörigen zu Krankheit, sozialer Isolation und psychischer Erschöpfung. Um diesen vorzubeugen sind Angebote, welche den Angehörigen Unterstützung und Möglichkeiten zum Austausch bieten, wichtig. Die Bedeutung des Austausches mit anderen Angehörigen wurde in den meisten Interviews sehr deutlich. Zudem können Angebote, bei denen Menschen mit und ohne Demenz zusammenkommen, wie das Yoriai no Mori Café oder die Demenzcafés der Diakonie ein Miteinander der Familie ermöglichen, in dem nicht die Pflege im Zentrum steht. Dies ist ebenfalls zur Entlastung der Angehörigen und der demenziell Erkrankten sowie für das Aufrechterhalten einer Beziehung, die nicht durch Krankheit geprägt ist, wichtig. Trotz vieler Angebote fühlten sich die Angehörigen mit der Suche danach allein ge-

4.4 Pflege und lokale Fürsorge aus der Sicht pflegender Angehöriger

lassen. Die Vermittlung von Angeboten für Angehörige müsste also entsprechend früh erfolgen – am besten möglichst zeitnah nach der Diagnose. Eine Fürsorge für Angehörige, wie Schockenhoff und Wetzstein sie vorschlagen, könnte so Erkrankungen und Überlastung pflegender Angehöriger möglicherweise verhindern und so auch ein längeres Verbleiben demenziell Erkrankter in ihrer gewohnten Umgebung ermöglichen.

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4.5 D ie P erspek tive der P flegekr äf te Jacqueline Yvette Spisa, Shingo Shimada

Neben Familienangehörigen spielen im Pflegealltag professionelle Altenpfleger/innen eine tragende Rolle. Ihr Arbeitsverständnis trägt wesentlich zur praktizierten Pflege bei und somit auch zur Zufriedenheit der pflegebedürftigen Menschen. Dabei ist zu beachten, dass der Beruf der Altenpfleger/innen sowohl in Deutschland als auch in Japan ein sehr junger Berufszweig ist. In Deutschland war bis ins 19. Jahrhundert das Alter kein gesellschaftlich relevantes Thema. Eine verstärkte Aufmerksamkeit kam erst mit dem demografischen Wandel auf. Des Weiteren gab es außerhalb der Familie keine Versorgungsstrukturen für pflegebedürftige alte Menschen. So fanden bedürftige alte Menschen im 19. Jahrhundert zunächst Hilfe in der Armenpflege, die vorwiegend von Kirchen und Klöstern in Armenhäusern durchgeführt wurde. Aus der Armenpflege entwickelte sich allmählich die Altenpflege (vgl. Riedel 2007: 27-31). Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Kleinfamilie in Deutschland zur dominanten Familienform, was zur Folge hatte, dass die Versorgung der pflegebedürftigen Angehörigen nicht mehr allein durch die Unterstützung der Familien bewältigt werden konnte. Um 1900 entstanden somit die ersten Altersheime, die vor allem Armen- und Krankenhäuser entlasten sollten, in denen die Alten, die nicht von den Familien gepflegt wurden, untergekommen waren (vgl. ebd.: 47). Durch die stetig steigende Zahl alter Menschen nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Versorgung dieser Altersgruppe in der Gesellschaft immer stärker diskutiert (vgl. ebd.: 48). Bis die Pflege der Alten jedoch nicht mehr hauptsächlich von Ordensschwestern und Ehrenamtlichen übernommen wurde, dauerte es noch einige Zeit: Erst Ende der 1950erJahre wurden Lehrgänge eingeführt und der Ruf nach einer qualifizierten Ausbildung im Bereich der Altenpflege wurde lauter. Dies geschah nicht zuletzt aufgrund der sinkenden Zahlen von Diakonissen und Ordensschwestern (vgl. ebd.: 50). Anfang der 1960er-Jahre entstand das Berufsbild der Altenpflege und entwickelte sich in den folgenden Jahren:

4.5 Die Perspektive der Pflegekräf te

»Kontinuierlich diversifizierte sich das Einsatzfeld der professionell Pflegenden institutionell und berufsstrukturell. Der Altenpflegeberuf entwickelte sich aus Lehrgängen, die Grundkenntnisse der Altenpflege vermittelten, zu einem hoch komplexen Gesundheitsfachberuf. Bis zur Einführung des Altenpflegegesetzes zum 1. August 2003 unterlag die Altenpflegeausbildung somit vielfältigen Novellierungs- und Professionalisierungsbestrebungen.« (Riedel 2007: 153).

Erst seit dem Inkrafttreten des Altenpflegegesetzes 2003, welches unter anderem zum Ziel hatte, ein deutliches Berufsbild aufzuzeigen, wird die Altenpflege-Ausbildung bundeseinheitlich geregelt (vgl. BMFSJ: 2017). Wie eingangs bereits erwähnt, weist der Beruf der Altenpflegerin und des Altenpflegers, der sich aus der Armenpflege entwickelte, in Deutschland demnach eine recht junge Geschichte auf (vgl. Riedel 2007). Auch in Japan entwickelte sich der Beruf der Altenpflege erst im letzten Jahrhundert. Die Pflege der alten Menschen wurde zunächst hauptsächlich von den Familien übernommen, und der Begriff der Altenpflege (kaigo) und das damit verbundene Bewusstsein dafür kam erst in den 1970er-Jahren in Japan auf (vgl. Nagata 2009: 16; zur Entwicklung des Pflegebegriffes siehe Kap. 3). Ausbildungen zu Pflege- und Wohlfahrtsarbeiterinnen und -arbeitern an Kurzzeituniversitäten und Fachhochschulen wurden erst nach 1988 angeboten, nachdem ein Gesetz hierfür (Shakai Fukushishi hō bzw. Kaigo Fukushishi hō) eingeführt worden war (vgl. Suehiro 2012: 138f.). Vor diesem Hintergrund konzentriert sich dieses Unterkapitel im Folgenden auf die Fallbeispiele zweier Altenpflegerinnen, basierend auf je einem Interview mit einer Mitarbeiterin des Yoriai, Frau Michiko Sueyoshi, und einer Pflegerin aus dem Dorothee-Sölle-Haus der Diakonie, Frau Conrad. In den Interviews kamen Themen wie der Werdegang, die Ausbildungsinhalte und der Berufsalltag zur Sprache. Die Pflegekräfte schilderten, welche Aufgaben zu ihrem Beruf gehören, was ihnen an diesem gefällt und was sie verbessern würden. Sie erzählten von Fällen während ihrer beruflichen Lauf bahn, die eine besondere Bedeutung für sie haben. Auch wenn die institutionellen Rahmenbedingungen des Dorothee-SölleHauses der Diakonie und des Yoriai sich enorm unterscheiden, so weisen die beruflichen Tätigkeitsfelder große Ähnlichkeiten auf. Durch die Analyse der Narration der beiden Interviewpartnerinnen können wiederum Rückschlüsse auf die Einrichtungen der Diakonie und des Yoriai, sowie auf soziokulturelle Hintergründe gezogen werden. Wie eingangs bereits

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erwähnt, trägt das Arbeitsverständnis der Pflegerinnen entscheidend zur Art und Weise wie gepflegt wird bei, und somit ist die Perspektive der Pflegerinnen ein wichtiger Punkt, der nicht außer Acht gelassen werden sollte.

Die Perspektive der Pflegekräfte des Yoriai

Selbstverständnis der leitendenden Pflegerin im Yoriai Frau Sueyoshi, Jahrgang 1980, studierte das Fach Soziale Wohlfahrt an einer Universität in Fukuoka.1 In ihren ersten Semestern wurde sie nicht nur mit dem Thema der Altenpflege, sondern auch mit Themen der Sozialarbeit allgemein, Kinderpflege, sowie Pflege von Menschen mit Behinderung vertraut gemacht. Ihre Motivation Pflegerin zu werden, verortet sie in ihrer Kindheit. Ihre Mutter war Kindergärtnerin, und viele Mitarbeiter/innen und Angehörige der Kinder besuchten ihre Mutter zu Hause. Sie wusste dadurch früh, dass sie später einen Beruf ausüben wollte, in dem sie viel mit Menschen zu tun haben würde. Darüber hinaus besuchte sie während der Schulzeit oft ihren Großvater in einem Pflegeheim und die Eindrücke dort prägten sie sehr. Daher entschied sie sich, das Fach »Sozialwohlfahrt« an einer Universität zu studieren. Während ihres Studiums spezialisierte sie sich auf das Fach Altenpflege und machte ein Praktikum in einem Altenpflegeheim. Hier betont sie die positiven Erfahrungen, die sie dort mit dementen Personen machte, zu denen sie eine besondere Zuneigung entwickelte. Auf Empfehlung eines Dozenten hin ging sie in ihrem vierten Jahr an der Universität zu einer öffentlichen Veranstaltung zum Thema Altenpflege, auf welcher der Leiter der Einrichtung Yoriai, Murase Takao, einen Vortrag über seine Arbeit hielt. Sie informierte sich danach weiter über die 1 | Zahlreiche Universitäten in Japan bieten heute das Fach Soziale Wohlfahrt (Shakai Fukushi Gakka) an, in dem Sozialarbeiter/innen ausgebildet werden. Ein großer Unterschied zur deutschen Pflegesituation besteht darin, dass es in Japan sehr viele akademisch ausgebildete Sozialarbeiter/innen gibt, die aber tatsächlich Pflegearbeiten übernehmen. Das zwei- bis vierjährige Studium ermöglicht die Teilnahme an der staatlichen Prüfung für diesen Beruf.

4.5 Die Perspektive der Pflegekräf te

Einrichtung. Die Geschichten, die sie über das Yoriai hörte, begeisterten sie so sehr, dass sie sich dazu entschloss, vorerst als ehrenamtliche Mitarbeiterin ein- bis zweimal in der Woche im Yoriai beim Kochen auszuhelfen. Sie betont, dass sie sich dort sehr wohl fühlte und aus dieser emotionalen Verbundenheit der Wunsch entstand, dort regulär zu arbeiten. Als dann zufällig ein Mitarbeiter des Yoriai seine Stelle kündigte, fing sie an dort neben dem Studium als Teilzeitkraft zu arbeiten. Ein Jahr später, im Jahr 2003, machte sie ihren Abschluss an der Universität und wurde vom Yoriai als Festangestellte übernommen. Seither ist sie dort als Altenpflegerin tätig. Zu ihren Qualifikationen zählen shakai fukushi shuji (vergleichbar mit einer Sozialarbeiterin) und hōmu herupā 2 kyū (Haushaltshilfe zweiter Stufe). 2 Mittlerweile nimmt Frau Sueyoshi eine leitende Position im Yoriai 2 ein. Ihr Arbeitstag beginnt offiziell um 08:30 Uhr und endet um 17 Uhr (vgl. zum Tagesablauf Kap. 4.1). Sie hat neben der alltäglichen Pflegearbeit die Aufgabe, die Pflegetätigkeiten zu koordinieren, den Gesamtbetrieb zu managen und die Verantwortung für das reibungslose Funktionieren der Einrichtung.

Im Interview antwortet Frau Sueyoshi auf die Frage hin, was sie für wichtig bei ihrer Arbeit ansehe, dass die Körperpflege zwar sehr wichtig sei, betont aber gleichzeitig, dass die Bewohner/innen darüber hinaus im sozialen Miteinander unterstützt werden müssen. Dass man einem pflegebedürftigen Menschen beim Toilettengang und beim Essen helfe, sei selbstverständlich. Vielmehr käme es darauf an, ihn in seiner letzten Le-

2 | Die erste Bezeichnung ist eine Qualifikation im Wohlfahrtsbereich ohne staatliche Prüfung. Erst die in der Fußnote 1 genannte staatliche Prüfung verleiht dieser Qualifikation eine offizielle Anerkennung. Daher ist Frau Sueyoshi zwar Sozialarbeiterin von ihrer akademischen Ausbildung her, jedoch nicht staatlich anerkannt. Die zweite Bezeichnung steht für Pflegekräfte in der ambulanten Pflege. Ihre Arbeit umfasst sowohl die Pflege als auch die Haushaltsführung von Menschen, die zu Hause gepflegt werden. Man kann diese Bezeichnung nach einem 130-stündigen Kurs erwerben, der von Kommunen, Einrichtungen oder NGOs angeboten wird. Bis 2009 gab es drei und bis 2013 zwei Stufen in der Ausbildung. Jedoch wurde diese Differenzierung abgeschafft.

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bensphase in allen Bereichen so zu unterstützen, dass er sich zufrieden fühlen kann. Pflege versteht sie als eine Arbeit, die von Person zu Person unterschiedlich ist und dafür gibt es ihrer Meinung nach keine festgelegte Form, sondern jeder müsse individuell betreut werden. Dabei sei es am besten, im Team zusammenzuarbeiten, um die Bedürfnisse und den bestmöglichen Umgang für eine Person herauszufinden. Außerdem sei es ihr sehr wichtig, sich niemals im hierarchischen Sinne über die Seniorinnen und Senioren zu stellen. Sie betont, dass man sich stets bemühen solle, freundlich mit den Pflegebedürftigen umzugehen, räumt jedoch auch ein, dass es Zeiten gäbe, in denen sie ihre Gefühle nicht kontrollieren könne. In diesem Zusammenhang erzählt sie von einem schwierigen Pflegefall im Yoriai, bei dem eine demente Person gegenüber den Pflegekräften ein sehr aggressives Verhalten zeigte. Auch wenn es Frau Sueyoshi sehr schwer fiel, versuchte sie dennoch ruhig zu bleiben und das Verhalten dieser Person zu verstehen. Laut ihrem Verständnis ist ein dementer Mensch nicht unbedingt für sein Verhalten verantwortlich, da er aufgrund der Erkrankung häufig sein Leiden nicht verbalisieren kann. Daher versuche sie selbst ein derartig aggressives Verhalten zu akzeptieren. Auch sei sie überzeugt, dass Menschen mit Demenz einen eigenen Willen haben. Um den Willen einer dementen Person zu respektieren, müsse man verschiedene Methoden im Umgang mit dieser Personen ausprobieren und bei Menschen, die nicht mehr sprechen können, versuchen, den Wunsch oder den Willen am Gesichtsausdruck und der Körpersprache abzulesen. Dadurch, dass im Yoriai viel Zeit mit den Pflegebedürftigen verbracht wird, entstünde ein enges Verhältnis zwischen diesen und den Pflegekräften. Wenn Frau Sueyoshi im Interview von Seniorinnen und Senioren spricht, verwendet sie häufig Ausdrücke wie ojiichan (Großväterchen) und obāchan (Großmütterchen), welche auf ein vertrautes Verhältnis hindeuten (vgl. Kap. 5). Wenn Frau Sueyoshi von einzelnen Bewohner/ innen erzählt, die bis zu ihrem Tod im Yoriai lebten und ihr besonders in Erinnerung geblieben sind, wird die intensive Beziehung zwischen dem Pflegepersonal und den Pflegebedürftigen im Yoriai sichtbar. Über ihr Verhältnis zu einer verstorbenen Bewohnerin namens Frau Doi sagt sie explizit, dass dies keine rein professionelle, sondern eine auf der menschlichen Ebene sehr enge Beziehung gewesen sei. Als Frau Doi im Sterben lag, versammelten sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

4.5 Die Perspektive der Pflegekräf te

des Yoriai, um sie während ihrer letzten Tage und Stunden zu begleiten und ihr Beistand zu leisten. Frau Sueyoshi erinnert sich, dass sie zehn Tage lang bis zu Frau Dois Tod an ihrer Seite gewesen ist und in dieser Zeit jeden Tag im Yoriai übernachtet hat. Dabei habe sie realisiert, wie wichtig körperliche Berührungen in ihrem Beruf seien. Dadurch hätte sie ein fast familiäres emotionales Verhältnis zu der Pflegebedürftigen aufgebaut. Auch wenn der Tod ein trauriges Ereignis war, sagt Frau Sueyoshi, dass sie in dieser Zeit mit Frau Doi sehr glücklich gewesen sei. Insgesamt pflegte Frau Sueyoshi Frau Doi etwa zehn Jahre. Zu ihrem heutigen Verhältnis zu den Pflegebedürftigen erläutert sie, dass sie mittlerweile durch die vielen Erfahrungen, die sie im Pflegeberuf gesammelt habe, nicht mehr so extreme Gefühle entwickele wie gegenüber Frau Doi. In diesem Interview wird die sehr enge emotionale Beziehung der Pflegerin zu den Gepflegten sichtbar. Die Pflegekräfte im Yoriai verbringen zum einen tagsüber viel Zeit mit den Seniorinnen und Senioren. Zum anderen verbringen viele Seniorinnen und Senioren wie Frau Doi auch einen relativ langen Zeitraum in der Einrichtung. Diese tiefgehenden emotionalen Bindungen erwecken durch die Gepflogenheiten der japanischen Sprache, auch außerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen Menschen mit familiären Rollenbezeichnungen anzusprechen, den Eindruck, dass zwischen Pflegenden und Gepflegten familienähnliche Beziehungen entstehen (vgl. Kap. 5). Dies trägt aus der Perspektive der Pflegenden auch dazu bei, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen. Frau Sueyoshi spricht zwar immer wieder von shigoto (Arbeit), jedoch zeigt ihr Einsatz bei der Sterbebegleitung von Frau Doi, dass ihre Tätigkeit eindeutig über das herkömmliche Verständnis eines Arbeitsverhältnisses hinausgeht. Wörter wie kakawaru (in Beziehung stehen zu) und tsukiau (begleiten) sind Verben, die sie in ihrer Narrative häufig verwendet. Diese Verben drücken besonders stark die menschliche Nähe aus und zeigen, welche Aspekte des Pflegeberufs Frau Sueyoshi für wichtig hält. Es ist gerade dieses »jemandem bis zum Schluss beistehen können« (saigo made tsukiaeru), was ihr an ihrer Arbeit so gut gefalle. Besonders freue sie sich, wenn sie eine positive Entwicklung bei den Pflegebedürftigen erkennen könne: »Wenn jemand zu lachen und zu sprechen beginnt, dann entsteht ein Kreis um diese Person und sie steht auf einmal im Mittelpunkt. Wenn ich eine solche Ent-

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wicklung mitbekomme, fühle ich mich in meinem Beruf bestätigt. Das gibt mir persönlich etwas Positives.«

Generell besteht, wie in Kapitel 4.1 beschrieben, in der Einrichtung Yoriai keine formelle Arbeitsteilung unter den Pflegekräften. Unabhängig von ihrer Ausbildung wird die Arbeit je nach dem situativen Bedarf verteilt. Es gibt jedoch eine lose hierarchische Ordnung unter ihnen, sodass Frau Sueyoshi die Leitungsfunktion im Yoriai 2 übernimmt. Es gehört daher zu ihren Aufgaben, einen Arbeitsplan für die Pflegekräfte zu erstellen, die Zahl der Pflegebedürftigen zu koordinieren, die in die Tagespflege oder zur Übernachtung kommen, sowie morgendliche und abendliche Besprechungen zu moderieren. Abgesehen davon teilen alle Pflegekräfte die Pflege- und Haushaltsdienste so, dass keine funktionale Arbeitsteilung wie zwischen Pfleger/in und Sozialarbeiter/in erkennbar wird. Diesem Umstand entsprechend gibt es keine Arbeitsteilung, die auf einem Verständnis des gelernten Berufes beruht. Zwar ist Frau Sueyoshi ausgebildete Sozialarbeiterin, doch ihre Arbeit umfasst alle Pflegearbeiten, Hausarbeiten wie Kochen und Putzen sowie das Management des täglichen Programms der Einrichtung Yoriai 2. Wahrscheinlich irritierte Frau Sueyoshi aus diesem Grund auch die zu Beginn des Interviews gestellte Frage nach ihrer offiziellen Berufsbezeichnung. Dies liegt zum einen darin begründet, dass Berufe wie Pfleger/in oder Sozialarbeiter/in generell in der japanischen Gesellschaft ein junges Phänomen sind. Zum anderen spielt die Berufsbezeichnung in der japanischen Arbeitswelt im Vergleich zu Deutschland eine untergeordnete Rolle. Die Zugehörigkeit zu einer Institution ist hier wesentlich wichtiger. Diesem Verständnis folgend wird von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwartet, dass sie alle Aufgaben die in dieser Institution anfallen, unabhängig von der Art ihrer Ausbildung, übernehmen. Auch wenn im Interview eine positive Einstellung Frau Sueyoshis in Bezug auf ihren Beruf überwiegt, äußert sie dennoch Kritik an der Situation der Pflege in Japan. Ihrem Verständnis zufolge können über die Pflegeversicherung bestimmte Bereiche im Leben der Pflegebedürftigen nicht abgedeckt werden, die eigentlich abgedeckt werden müssten, wenn eine gute Pflege gewährleistet werden soll. Für eine bestimmte Leistung sind einzelne Tätigkeiten und genaue Zeiten vorbestimmt. Es gäbe aber immer wieder anfallende Aufgaben in ihrem Arbeitsalltag, wie die psychologische Betreuung und Beratung der Angehörigen, die durch die

4.5 Die Perspektive der Pflegekräf te

Pflegeversicherung nicht abgefangen werden. Diese kritische Sicht auf das japanische Pflegesystem wird von den meisten Pflegenden der Einrichtung Yoriai geteilt, und sie versuchen, die Systemlücken mit persönlichem Engagement zu füllen. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass die Pflegenden außerhalb ihrer Arbeitszeit ab und zu in der häuslichen Umgebung der Nutzer/innen vorbeischauen. Bei Mitarbeiterinnen in einer leitenden Funktion wie Frau Sueyoshi steigt die Arbeitsbelastung zusätzlich an, weil sie einspringen muss, wenn personelle Lücken im Pflegealltag aufreißen. Insgesamt haben wir durch unsere Feldforschung in der Einrichtung Yoriai den Eindruck gewonnen, dass die Pflegenden durch ihre Arbeit nicht nur eine starke emotionale Bindung zu den Pflegebedürftigen, sondern auch zu ihren Angehörigen auf bauen. Der oben schon erwähnte familienähnliche Charakter dieser emotionalen Bindungen zeigt sich in Aspekten der Tätigkeit, die eindeutig über das professionelle Pflegeverhältnis hinausgehen. Besonders auffällig wird dies in der Sterbebegleitung, wenn die Pflegekräfte über mehrere Tage in der Einrichtung übernachten und der im Sterben liegenden Person bis zum Ende beistehen (zur Sterbebegleitung siehe auch Kap. 4.6). In Interviews mit weiteren sieben Pflegekräften wurde explizit auf die Sterbebegleitung Bezug genommen und sie wurde häufig als ein besonders positives Merkmal der Arbeit erwähnt. Zugleich bedeutet dies jedoch eine enorme sowohl zeitliche als auch psychische Belastung für die Mitarbeiter/innen. Es ist auch bekannt, dass die Fluktuation unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern recht hoch ist. Dies ist aber kein spezielles Merkmal dieser Einrichtung, sondern ein generelles Problem in diesem Berufsfeld.3 Möglicherweise ist es die Intensität der emotionalen Bezüge, die kleine Einrichtungen wie das Yoriai von anderen, strukturierteren Einrichtungen unterscheidet. Das professionellere Selbstverständnis und die strukturierteren Abläufe in einer Einrichtung wie der Diakonie ermöglichen es den Pflegenden, mehr persönliche Distanz zu wahren. Im Folgenden werden die Hintergründe sichtbar, vor denen die Pflegenden im deutschen Fallbeispiel arbeiten.

3 | Einem Bericht des MHLW zufolge, betrug im Jahr 2015 der Anteil der Pflegekräfte, die ihre Arbeitsstelle verließen, ca. 17 % (MHLW 2015).

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Die Perspektive der Pflegekräfte der Diakonie Düsseldorf

Selbstverständnis einer Pflegerin der Diakonie Frau Conrad wurde Mitte der 1950er-Jahre geboren. Durch ihr kirchliches Engagement übernahm sie 1988 die ehrenamtliche Betreuung einer Seniorentanzgruppe der Diakonie in Aachen. Seit dieser Zeit ist sie in der Altenarbeit tätig. Die Seniorentanzgruppe betreute sie einmal im Monat für insgesamt etwa fünf Jahre. In dieser Gruppe nahm sie als Leiterin eine sehr aktive Rolle ein und initiierte beispielsweise zweimal im Jahr eine größere Veranstaltung. Da sie der Gedanke stets beschäftigte, wie sie handeln sollte, falls jemandem in der Seniorengruppe etwas zustoße, entschied sie sich zu einer dreimonatigen Ausbildung zur Schwesternhelferin beim Deutschen Roten Kreuz. Darüber hinaus wurde ihr von der Diakonie angeboten, zusätzlich zur Betreuung der Seniorentanzgruppe in die Familienpflege einzusteigen. Sie nahm das Angebot an, bildete sich weiter und absolvierte später ein Examen, wodurch sie ihre »staatliche Anerkennung zur Altenpflegerin« erhielt. Von 2010 bis 2012 bildete sie sich weiter fort, um mehr Fachwissen zum Thema Demenz zu erwerben. Sie selbst bezeichnet sich heute als »examinierte Altenpflegerin« beziehungsweise »gerontopsychiatrische Pflegekraft«, auch wenn die geläufige Bezeichnung »im Volksmund« ihr zufolge heute einfach nur »Pflegekraft« laute. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews seit über 20 Jahren im Bereich der Pflege tätig und hat unter anderem zwei Jahre Erfahrungen in der häuslichen Pflege gesammelt. Seit acht Jahren arbeite sie im Dorothee-Sölle-Haus der Diakonie. Frau Conrads Arbeitstag in der Diakonie ist zeitlich genau festgelegt; er beginnt um 6:30 Uhr und dauert sieben Stunden. In einer Schicht pflegt sie vier bis acht Personen. Nachtwachen übernimmt sie nicht, da es in dem Diakoniehaus eine eigene »Nachtwache« gibt und die angestellten Pflegekräfte in der Regel nur die Dienste am Tag übernehmen.

Im Interview zählt Frau Conrad die Medikamentengabe, sowie die Erstellung von Tourenplänen, die den Ablauf der Pflege für die kommenden

4.5 Die Perspektive der Pflegekräf te

Tage festhalten, zu ihren Tätigkeiten. Auffällig ist, dass Frau Conrad als erstes vom Dokumentieren, von Medikamenten und von Formalitäten spricht, und nicht von der Pflege selbst. Dies liegt wohl daran, dass ihr beruflicher Tag damit beginnt. Die Pflegearbeit erläutert sie an Hand der »Pflegerichtlinien«, eines so genannten »Pflegesatzes«, in dem schriftlich festgehalten ist, welche Tätigkeiten die Grundpflege umfasst und mit dem jede Pflegekraft vertraut sein sollte. Sie spricht beispielsweise von der Körperpflege und differenziert sie in Zahnpflege und Duschen. Über Regeln für den Umgang mit den Pflegebedürftigen sagt sie: »Den Bewohner mit Namen ansprechen, vielleicht auch duzen. Kurze Sätze. Nich’ an dem vorbeirauschen, nicht viel erzählen, sondern kurze Sätze.« Auch ist ihr bei der Pflege sehr wichtig, nicht alles zu übernehmen, sondern den Seniorinnen und Senioren zur Selbsthilfe »anzuleiten«. Denn es sei besser, die Pflegebedürftigen die Dinge, die sie noch können, so gut wie möglich alleine machen zu lassen. Dieses Anleiten sehe sie als sehr wichtig an, um die Senioreninnen und Senioren fit zu halten. Frau Conrad probiere dabei stetig aus, wie viel die/der Pflegebedürftige noch alleine schafft und wasche gegebenenfalls nach, falls es zu oberflächlich war. Insgesamt dauere die Grundpflege etwa zwanzig Minuten bis eine halbe Stunde, wenn die Person noch geduscht und eingecremt werde. Zeit darüber hinaus werde nicht mit den Seniorinnen und Senioren verbracht. Aktivitäten, die ihren Beruf umfassen, sind weitestgehend im Rahmen der Grundpflege. Da sie in der Pflege überwiegend mit Seniorinnen und Senioren konfrontiert ist, die an Demenz leiden, nimmt das Thema Demenz in ihrem Interview einen wichtigen Stellenwert ein. Frau Conrad erzählt beispielsweise von einem Mann, der den ganzen Tag »Hallo, hallo, hallo, hallo, hallo!« rief. Auf diesen Menschen angemessen einzugehen, sei eine große Herausforderung, weil es schwierig sei, ihn aus »dieser Welt«, in der er sich gerade befindet, wieder herauszubekommen. »Jemanden aus der Welt, in der er sich befindet, herauszubekommen«, ist ein Ausdruck, den man im Zusammenhang mit Demenz häufig in der professionellen Pflege vorfindet. Das für einen Menschen mit Demenz typische »Umherirren« bezeichnet sie als »Hinlauftendenz«, ein Fachwort, das neuerdings in der Altenpflege verwendet wird. Diese typischen Verhaltensweisen machen die Demenz auch für sie, eine erfahrene Pflegerin, zur Herausforderung.

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Dennoch fühle sie sich durch ihre zweijährige Fortbildung zwischen 2010 und 2012 heute sehr sicher, mit derartigen Situationen umzugehen. So sieht sie es als sehr wichtig an, immer ruhig zu bleiben, da sich Unruhe schnell auf die Pflegebedürftigen übertrage. Darüber hinaus nennt sie ein Fachwort, das hierzulande in Schulungen und Büchern zum Thema »Umgang mit Demenz« häufig Verwendung findet: Validation. Auf die Frage hin, ob ihr die Fortbildung geholfen habe, antwortet sie: »Dann hat man denjenigen, der dann erzählte, er möchte jetzt nach Hause zu seiner Mutter, selber schon neunzig Jahre, die Mutter war längst nich’ mehr, man hat dann immer gesagt ›Ah, Mutter is’ schon längst tot‹, oder so. Heute, mh-mh. Ich versuche mit Validation aus dieser Schiene rauszuholen, ich sach’ nich’: ›Die Mutter is’ schon, is’ schon tot, wie, wie kommen Sie dadrauf?‹, sondern ich, äh, versuche das irgendwie, ja, wie alt die Mutter denn is’, was sie denn jetzt grade macht, ne? Manchmal kommt, ›Die schält grade schon die Kartoffeln, macht Mittagessen vor‹, aber oft is’ auch so: ›Ach, äh, die is’ ja gar nich’ mehr und ich bin ja selbst schon so alt.‹ Die kommen selber dann manchmal da drauf. […] Klappt nicht immer. Aber zu neunzig Prozent, ja. Es gibt Konzepte, nach Naomi Feil und noch so an einigen, ähm, Validation, die wir dann auch mitgelernt haben.«

Durch Validation akzeptiert Frau Conrad die Welt, in der sich die Pflegebedürftigen mit Demenz zu diesem Zeitpunkt befinden und erklärt sie für gültig (= validiert sie), mit dem Ziel, sie »aus dieser Schiene« respektive dieser Welt herauszuholen, ohne die Person zu verunsichern. An ihren Erzählungen wird deutlich, dass sie im Umgang mit Demenz sehr erfahren ist und sich nicht davor scheut, verschiedene Methoden auszuprobieren. Dadurch wisse sie, wie man in unterschiedlichen Situationen mit Menschen mit Demenz umgehen kann, wie man sie tröste, beruhige und ablenke. Im Pflegeberuf allgemein, aber vor allem im Umgang mit Demenz, sei für sie »Empathie« von großer Bedeutung. Empathie ist ein Wort, das bereits sehr früh im Interview fällt und dem Verständnis von Frau Conrad zufolge eine der wichtigsten Eigenschaften bezeichnet, die jede Pflegekraft mitbringen sollte. Jedoch ist es ihr wichtig, den interpretativen Charakter des Einfühlens in eine andere Person zu betonen und sie sagt, sie könne sich nie sicher sein, wie sich die andere Person fühle. In Bezug auf den gesellschaftlichen Umgang mit Demenz sieht sie eine insgesamt positive Entwicklung und betont den Vorteil des Fort-

4.5 Die Perspektive der Pflegekräf te

schrittes der technischen Hilfsmittel im Pflegebereich. Jedoch äußert sie auch Kritik. In ihrer Anfangszeit hätte sie viel mehr Freiheiten gehabt, doch durch das ständige Dokumentieren des Pflegealltags und das Einführen von zeitlichen Einheiten empfinde sie eine verstärkte Kontrolle. Wenn sie etwas an ihrem Beruf ändern könnte, dann wäre es gerade der zeitliche Aspekt. Denn jeder Mensch müsste individuell behandelt werden und es sei schwer, die Pflege in einer gewissen Zeit den Bedürfnissen entsprechend komplett durchzuführen. Außerdem könne man dadurch keine spielerischen Aktivitäten mehr gemeinsam ausüben, so, wie es früher üblich gewesen sei. Dies und der heutige Zeitdruck haben sich ihrer Meinung nach auf das Verhältnis zwischen Pflegekräften und Pflegebedürftigen ausgewirkt, früher fühlte sie sich verbundener. »Es is’, äh, es is’, also ich hab’ auch früher, vielleicht is’ dat auch die Lebenserfahrung oder die Jahre, ich hab’ früher eher, äh, geweint, wenn einer gegangen is’, also, wenn er sich verabschiedet hat. Aber ich glaub’, das hat was auch mit den Jahren, Berufsjahren zu tun, ne? Man muss auch irgendwo’n bisschen Distanz üben, obwohl man immer spezielle Leute hat, das tut einem mehr weh, wenn derjenige die Augen zumacht, aber… […] Doch, der Bezuch war schon etwas enger.«

Nichtsdestotrotz kann durchaus ein positives, emotionales Verhältnis aufgebaut werden, was sich zeigt, als sie von einer Erinnerung aus jüngster Vergangenheit berichtet. Sie erzählt von einer Frau, die trotz ihrer Krebserkrankung immer positiv gewesen sei und sich stets für den netten Umgang bedankt habe, was sie als sehr »berührend« empfunden habe. Dieses »Zurückgeben«, so sagt sie, »Dankbarkeit«, »Herzlichkeit«, »Wärme« und körperliche Berührungen wie Umarmungen, das alles empfinde sie als sehr positiv an ihrem Beruf. Aber auch das »Von-sich-aus-Geben« nennt sie, als sie gefragt wird, was ihr an ihrem Beruf gefalle. Sie betont demnach die emotionale Seite des Berufs, und es sei trotz der kurzen Pflegezeit von nur 20-30 Minuten pro Person täglich dennoch möglich, ein gewisses Verhältnis aufzubauen. Aus dem Interview mit Frau Conrad geht ihr eindeutig professionell bestimmtes Selbstbild hervor. Sie geriet zwar mehr oder weniger zufällig in den Beruf, doch ihr beruflicher Alltag wird von ihren Handlungen als »examinierte Altenpflegerin« bestimmt, die wiederum von offiziell formulierten Pflegerichtlinien definiert sind. Diesem Selbstbild entsprechend sind die Inhalte des Interviews durch Fachbegriffe wie Validation,

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Empathie und Hinlauftendenz geprägt. Ebenso ist ihre Stellungnahme zur Pflegeversicherung von einer formalen Natur, indem sie sich über den Dokumentationszwang beklagt. Sichtbar wird hierbei die Diskrepanz zwischen dem Ideal und der Alltagswirklichkeit: Auf der einen Seite betont sie die Wichtigkeit der Empathie in ihrem Beruf, auf der anderen Seite stehen die zeitliche Einschränkung der Pflege und Bürokratisierungstendenzen im Pflegealltag diesem Ideal jedoch entgegen. Nichtsdestotrotz ist Frau Conrads persönliche Engagement für ihren Beruf, das sie innerhalb des Rahmens ihrer beruflichen Institution einbringt, spürbar. In einer großen Organisation wie der Diakonie ist zudem eine berufsbezogene funktionale Arbeitsteilung vorherrschend. Im Zentrum der beruflichen Tätigkeit von Frau Conrad steht die Grundpflege. Tätigkeiten wie die nächtliche Aufsicht und Betreuung werden von einer Nachtwache übernommen, die Sozialarbeiter/innen sind für die Beratung zuständig und die Freizeitgestaltung übernehmen ehrenamtliche Mitarbeiter/innen.

Vergleichende Betrachtung Festzuhalten ist zunächst, dass es im beruflichen Alltagsleben der beiden Pflegerinnen einen gemeinsamen Kernbereich von Tätigkeiten gibt. Das ist, was Frau Conrad die Grundpflege nennt, zu der die Körperpflege gehört. Durch diese Hilfestellung wird das Alltagsleben der pflegebedürftigen Personen erleichtert oder gar ermöglicht. Diese Arbeit erfordert sowohl körperliche als auch emotionale Zuwendung zu den Gepflegten, was beide Interviewpartnerinnen betonen. Sie zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie als erfahrene Pflegekräfte ihren Beruf und ihre Tätigkeiten auf hohem Niveau reflektieren. Doch wie sie dies narrativ tun, ist sehr unterschiedlich. Auf der konkreten Ebene sieht man an der Beschreibung der beruflichen Tätigkeiten von Frau Conrad, dass es einen klar definierten Bereich der Grundpflege gibt, woraus sich wiederum ein klar definiertes Anforderungsprofil des Berufes ergibt, das vertragsmäßig festgehalten wird. Eine solche klar definierte Festlegung der beruflichen Tätigkeiten existiert im Fall vom Yoriai nicht. Die Pflegekräfte passen sich flexibel der jeweiligen Situation an und übernehmen in der Regel Tätigkeiten, die über die Grundpflege hinausgehen. Tätigkeiten wie die Beratung von Angehörigen, die im Fall der Diakonie durch Sozialarbeiter/innen institutio-

4.5 Die Perspektive der Pflegekräf te

nell abgedeckt sind, werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Yoriai außerhalb der regulären Arbeitszeit geleistet. Diese grundsätzliche Haltung der Einrichtung Yoriai, über die Pflegeversicherung hinausgehende Fürsorge anzubieten, verlangt von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine enorme persönliche Opferbereitschaft. Die Bereitschaft für ein derartiges Engagement erwächst unter anderem daraus, dass sie häufig eine emotional intensive Beziehung zu den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen auf bauen. Die Vermutung liegt hier nahe, dass eine derartige enge emotionale Bindung wiederum nur durch das persönliche Engagement der Pflegenden aufgebaut werden kann. Zwar wird auch in der Diakonie die Sterbebegleitung vom ehrenamtlichen Engagement der Mitarbeiter/innen getragen (siehe Kap. 4.6). Der entscheidende Unterschied zur japanischen Situation liegt darin, dass sie sich durch weitere Fortbildungen beruflich qualifizieren können und zum anderen darin, dass die zeitliche Ausdehnung ihrer Tätigkeit überschaubar bleibt. Vor allem ist hier die klare Trennung zwischen der Arbeitszeit und dem ehrenamtlichen Engagement eindeutig gezogen, während in der Einrichtung Yoriai diese Trennung kaum gezogen werden kann. Betrachtet man die abstraktere Ebene der sozialen Werte, sind aus diesem Vergleich ebenfalls Unterschiede ableitbar. Wie bei vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Diakonie ist die Motivation von Frau Conrad für ihren Beruf christlich begründet. Eine grundlegende Werthaltung im christlichen Verständnis der Nächstenliebe liegt darin begründet, dass jeder einzelne für das Wohlergehen der anderen Menschen eintritt, unabhängig davon, woher diese Menschen auch stammen mögen. Dagegen ist die Grundlage der Motivation von Frau Sueyoshi weniger auf einen bestimmten sozialen oder religiösen Wertekanon zurückführbar. Es sind alltagsnahe Erfahrungen, die sie zu einem sozialen Beruf motivierten. Ihre Zufriedenheit mit ihrem Beruf ist sicher auch wie bei Frau Conrad auf direkte menschliche Beziehung zu Pflegebedürftigen gegründet, doch ist sie weniger von abstrakten Werten geprägt, sondern stärker von Emotionalität. Diese Form der Emotionalität wird relational durch die Konstruktion der familienähnlichen Beziehungen ermöglicht (vgl. zur Relationalität des Selbst Kap. 5). In den meisten Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Yoriai, die wir im Rahmen dieses Forschungsprojekts geführt haben, fällt auf, dass die Interviewten sehr intensiv und lang von den gepflegten Personen erzählen, die bei ihnen einen besonderen Eindruck hinterlassen

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haben und mit denen sie eine außergewöhnliche Emotionalität verbindet. Diese emotionale Bindung wird unseren Beobachtungen in der Feldforschung zufolge im täglichen Miteinander bewusst hergestellt. Diese Emotionsarbeit beruht auf der kulturell konstruierten familiären Nähe der Pflegenden zu den Gepflegten. Auch die Pflegekräfte der Diakonie, die wir interviewt haben, bezogen sich des Öfteren auf einzelne Personen zu denen sie im Verlauf ihrer Pflegetätigkeit eine besondere emotionale Verbundenheit entwickelt haben. Jedoch gehörte der Auf bau einer intensiven zwischenmenschlichen Beziehung in den Erzählungen hier nicht zum Selbstverständnis der eigenen Berufsauffassung. Dies kann zum einen auf das System der Pflegeversicherung und die mangelnde Zeit für persönliche Beziehungsarbeit zurückgeführt werden, zum anderen scheint es jedoch durch das professionelle Verständnis der nötigen Distanz im Berufsbild der Interviewten begründet zu liegen. Darüber hinaus ist auch die Dauer der Nutzung der Einrichtung ein wichtiger Aspekt. Denn im Fall Yoriai sind die Nutzer/innen in der Regel wesentlich länger in der Einrichtung (fünf bis zehn Jahre), während die Nutzungsdauer im Dorothee-Sölle-Haus im Vergleich dazu wesentlich kürzer (zwei bis drei Jahre) ist.

4.6 H er ausforderungen der S terbebegleitung in E inrichtungen für  M enschen mit D emenz Celia Spoden, Matsuo Yayoi

In den bisherigen Kapiteln standen die Herausforderungen im Vordergrund, die sich für die Familien, lokalen Gemeinschaften und die Pflegeeinrichtungen bei der Versorgung von Menschen mit einer demenziellen Erkrankung im Alltag ergeben. Zu der Vorstellung, dass Menschen mit Demenz nach Möglichkeit integriert in die lokale Gemeinschaft leben sollten, gehört auch der Gedanke, ihnen einen Tod in ihrer gewohnten Umgebung zu ermöglichen. Der Tod zu Hause gilt in Japan als Ideal, was sich unter anderem in der alten Redewendung »auf den Tatami-Matten sterben wollen« (tatami no ue de shinitai) ausdrückt (vgl. Long 2004: 921ff.). Jedoch zeigen die Zahlen zum Sterbeort, dass in Japan 78,5 % der Bevölkerung in Krankenhäusern und Kliniken versterben und nur 12,5 % in der eigenen Häuslichkeit (vgl. MHLW 2012).1 Des Weiteren findet im medialen Diskurs zunehmend eine Problematisierung der sogenannten »einsamen Tode« (kodokushi) statt (vgl. Dahl 2016), das heißt von alten Menschen, die aufgrund fehlender sozialer Bindungen einsam und unbemerkt in ihrer Wohnung versterben. Mit dem Ideal des Todes in den eigenen vier Wänden ist demnach nicht nur die gewohnte häusliche Umgebung gemeint, sondern vor allem das Sterben im Kreise der Familie bzw. umgeben von vertrauten Personen. Für Menschen, die ihre letzten Lebensjahre in einer Pflegeeinrichtung verbracht haben, kann demnach Sterben in vertrauter Umgebung auch bedeuten, in dieser Einrichtung zu versterben. Während unserer Feldforschung stieß die Information, dass 31 % der Bevölkerung in Deutschland in Alten- oder Pflegeheimen versterben (vgl.

1 | Das Verhältnis der Todesfälle in Krankenhäusern und Kliniken zu den Todesfällen zu Hause hat sich seit den 1960er-Jahren umgedreht. Während Anfang der 1960er noch ein Großteil der japanischen Bevölkerung in den eigenen vier Wänden verstarb, überstiegen im Jahr 1977 zum ersten Mal die Todesfälle in Krankenhäusern und Kliniken die Sterbefälle zu Hause (vgl. Zenkoku ninchishō gurūpu hōmu kyōkai 2008: 26).

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Bertelsmann Stiftung 2015: 2)2 auf Verwunderung der japanischen Forschungspartner/innen, da in Japan trotz einer steigenden Tendenz das Versterben in Einrichtungen der Altenpflege mit 5,5 % eher eine Ausnahme darstellt (vgl. MHLW 2012). Dieser Umstand wurde dadurch erklärt, dass die Bewohner/innen häufig in die Klinik eingewiesen werden, wenn ihr Zustand aus Sicht des Pflegepersonals kritisch geworden ist. Das Ideal eines Todes umgeben von Menschen, die der Sterbenden bzw. dem Sterbenden nahestehen, findet in der japanischen Redewendung shini me ni au (den Augen der/des Sterbenden begegnen) seinen Ausdruck (vgl. Long 2005: 61). Im Zuge der Hospitalisierung Sterbender führte dieses Ideal jedoch zu einem vermehrten Einsatz von intensivmedizinischen Maßnahmen, um das Leben der/des Sterbenden so lange aufrechtzuerhalten, bis die Angehörigen am Sterbebett anwesend sein können (vgl. Asai et al. 1997: 325; Long 2005: 128 und 134f.). Diese Praxis zog seit den 1990er-Jahren die Kritik auf sich, dass durch den exzessiven Einsatz medizinischer Technik das Leid in der Sterbephase vermehrt und ein friedlicher (yasuraka na) Tod nicht ermöglicht werde (Asai et al. 1997: 326; Fetters/Danis 2002; Igata 2006: 2). Dem medikalisierten und technisierten Tod im Krankenhaus werden die idealisierten Vorstellungen eines »plötzlichen, leidfreien Todes« (pokkuri shinu, pinpin korori), eines »friedlichen Entschlafens im hohen Alter« (rōsui) oder eines »natürlichen Todes« (shizenshi) entgegengestellt. Durch Konzepte wie jibunrashii shi (dem eigenen Selbstbild entsprechender Tod) oder songenshi (würdevoller Tod) werden zudem die Wünsche und der Wille der/des Sterbenden immer mehr in den Mittelpunkt der Debatte gerückt. In diesem Kontext wird zunehmend über das Instrument der Patientenverfügung diskutiert, durch welches der Wille von nicht mehr äußerungsfähigen Patientinnen und Patienten leitend für die Gestaltung der Sterbephase werden soll (vgl. Spoden 2015; siehe auch Kap. 5). Die Fragen, wie eine gute, begleitete Sterbephase in einer Pflegeeinrichtung möglich ist und wie dabei der Wille und die Persönlichkeit der dementen Bewohnerin bzw. des dementen Bewohners geachtet werden können, stehen in den folgenden Fallbeispielen im Mittelpunkt. Hier zei2 | In Deutschland sind für das Jahr 2013 46 % der Todesfälle in Krankenhäusern verzeichnet, 31 % in Alten- oder Pflegeheimen, 3 % in Hospizen und obwohl 76 % wünschen zu Hause zu versterben, sterben nur 20 % in der eigenen Häuslichkeit (vgl. Bertelsmann Stiftung 2015: 2).

4.6 Herausforderungen der Sterbebegleitung

gen sich auch Probleme und Herausforderungen, die als spezifisch für den Umgang mit den Wünschen von Menschen mit Demenz in der Sterbephase angesehen werden können.

Sterbebegleitung in der Einrichtung Yoriai 3 Im Yoriai wird Wert daraufgelegt, dass die Bewohner/innen in ihrer gewohnten Umgebung versterben. Die Pflegenden grenzen sich mit diesem Grundsatz ihrer Einrichtung von der gängigen Praxis in japanischen Pflegeheimen ab, die Bewohner/innen in der Sterbephase ins Krankenhaus einzuweisen. Dadurch kommt der Einrichtung eine Vorreiterrolle im Bereich der Sterbebegleitung zu und die Praxis im Yoriai ist für andere Einrichtungen zum Vorbild geworden. Mit welchen Schwierigkeiten insbesondere zu den rechtlichen und medizinischen Rahmenbedingungen sich die Pflegenden im Yoriai vor allem zu Beginn konfrontiert sahen, wird anhand des folgenden Fallbeispiels deutlich.

Fallbeispiel: Konflikte im Umgang mit den gesetzlichen und medizinischen Rahmenbedingungen Interview mit Herrn Murase, Yoriai 2 Der Leiter der Einrichtung Yoriai 2, Herr Murase beschreibt im Interview den Tod von Herrn Mori als einen langsamen und musterhaften (migoto na) Tod. Die Sterbephase erstreckte sich über ein Jahr und wirkte, als würde sich Herr Mori langsam auf den Tod vorbereiten. Die Funktionen seines Körpers ließen nach und nach immer mehr nach. Seine Arme und Beine wurden steifer und er verbrachte das letzte Jahr seines Lebens in einem Stadium zwischen Leben und Tod. Tagsüber saß er mit den anderen Besucherinnen und Besuchern auf seinem Platz im Wohnbereich, die Augen geschlossen und den Mund weit geöffnet. Man habe nicht sagen können, ob er schläft oder wach ist, noch lebt oder schon verstorben ist. Von Zeit zu Zeit öffnete er die Augen und sah sich um, als sehe er die Räumlichkeiten zum ersten Mal. Auf die Menschen in seiner Umgebung erweckte sein Aus3 | Die Fallbeispiele zur Sterbebegleitung im Yoriai 2 basieren auf einem Interview, das Celia Spoden zusammen mit Kuroki Kunihiro im Jahr 2009 mit dem Einrichtungsleiter Herrn Murase geführt hat.

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druck den Eindruck, als wolle er sich versichern, ob er sich noch in dieser oder schon in jener Welt befinde. Deswegen begrüßten ihn alle Anwesenden in diesen Momenten mit der Floskel okaerinasai (willkommen zurück). Herr Murase fasst das letzte Jahr im Leben von Herrn Mori als »normalen Alltag« (futsū ni kurashi, minna to onaji seikatsu wo shiteimashita) zusammen, in dem die Pflegekräfte ihn bei den täglichen Bedürfnissen bis zum Ende unterstützten. Der einzige Unterschied zu den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern war, dass er nichts mehr gemacht hat, sondern einfach nur da war. Da Herr Mori über einen so langen Zeitraum in einem Zustand zwischen Leben und Tod Teil des Alltags im Yoriai war, kam sein Tod unvermittelt für die Mitarbeiter/innen. Einen Tag vor seinem Tod hatte er Blut in den Exkrementen und aufgrund des Geruchs hätte man eigentlich ins Krankenhaus fahren müssen. Am nächsten Tag war der Stuhlgang wieder besser. Herr Murase, der die Nachtschicht gehabt hatte, bereitete Herrn Mori ein dickflüssiges Getränk zum Frühstück. Das erste Glas leerte Herr Mori mit seiner Hilfe. Für das zweite Glas wurde Herr Murase von einer Pflegekraft der Tagesschicht abgelöst. Herr Mori schickte sich an, den Inhalt des zweiten Glases zu essen und holte tief Luft. Nach dem zweiten Atemzug klappte ihm der Unterkiefer hinunter. Da er früher des Öfteren Probleme mit dem Kiefer gehabt hatte, wurde ihm wie sonst der Kiefern massiert. Jedoch stellte die Pflegerin schnell fest, dass etwas anders war als sonst. Herr Mori war verstorben. Die Mitarbeiter/innen informierten zunächst die Angehörigen von Herrn Mori und danach den behandelnden Arzt. Der Arzt gab am Telefon die Anweisung, einen Krankenwagen zu rufen. Diese Anweisung stieß jedoch auf Ablehnung seitens der Yoriai-Mitarbeiter/innen. Einen Krankenwagen zu rufen bedeute, erklärt Herr Murase, dass Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet werden. Die Ablehnung der wiederbelebenden Maßnahmen begründet er damit, dass Herr Mori bis zum Ende aus eigener Kraft gelebt hat. Die wiederbelebenden Maßnahmen hätten im Widerspruch zu seinem »natürlichen Tod« gestanden. Hier begannen die Schwierigkeiten. Die gesetzlichen Bestimmungen in Japan sehen vor, dass die Polizei gerufen und Ermittlungen eingeleitet werden müssen, wenn nicht innerhalb von 24 Stunden nach dem Eintreten des Todes eine ärztliche Bestätigung des Todes mit einer Feststellung der Todesursache vorliegt. Die Yoriai-Mitarbeiter/innen hatten beabsichtigt, dass der behandelnde Arzt den Totenschein ausstellt. Da dieser jedoch

4.6 Herausforderungen der Sterbebegleitung

darauf bestand, dass der Notarzt gerufen werde, blieb ihnen letztendlich nichts anderes übrig, als seiner Anweisung zu folgen. Die Rettungssanitäter kamen mit der Absicht, Herrn Mori wiederzubeleben und als sie darum gebeten wurden, keine wiederbelebenden Maßnahmen einzuleiten, wurde die Situation kompliziert. Die Rettungssanitäter der Feuerwehr verlangten eine schriftliche Willensbekundung des Verstorbenen gegen die Wiederbelebungsmaßnahmen zu sehen. Eine solche Verfügung gab es von Herrn Mori jedoch nicht. Die Feuerwehr rief daraufhin die Familie des Verstorbenen an, die persönlich erscheinen sollte, um die Ablehnung der Wiederbelebung zu bestätigen. In der Zwischenzeit hatten die Sanitäter jedoch festgestellt, dass der Leichnam steif war und eine violette Verfärbung der Haut zu sehen war. Aufgrund der einsetzenden Leichenstarre und Zyanose vermuteten sie, dass zwischen dem Todeszeitpunkt und dem Anruf beim Rettungsdienst einige Zeit verstrichen war. Herr Murase verwies bei beiden Phänomenen darauf, dass Herr Mori sich schon seit einem Jahr in einem Zustand befunden habe, in dem sein Körper nach und nach immer steifer geworden war und der Sauerstoffgehalt des Blutes verringert war, sodass seine Haut sich langsam verfärbt hatte. Die Rettungssanitäter übergaben jedoch den Fall an die Polizei. Es kamen auf einmal Menschen ins Yoriai, denen Herr Mori und sein tägliches Befinden der letzten Monate fremd war und die seinen Zustand mit Durchschnittswerten verglichen, von denen er abwich, erinnert sich Herr Murase an die Geschehnisse. Die Polizei kam mit fünf bis sechs Beamten und nahm die Mitarbeiter/ innen des Yoriai ins Kreuzverhör (toi tsumerareta), während die Familie von Herrn Mori versuchte, die Pflegenden zu verteidigen. Danach kamen zusätzlich noch der Erkennungsdienst und Kriminalbeamte, um den Verdacht auf eine unnatürliche Todesursache auszuschließen. Herr Murase hatte den Eindruck, dass die Beamten selbst nicht von einer Straftat ausgingen. Trotzdem hätten sie formal ihre Ermittlungen beginnen müssen. Ihr Verhalten beschreibt er als streng und wichtigtuerisch (sugoku monomono shiku). Sie erfragten den Verlauf der Ereignisse und befragten dann die junge Mitarbeiterin, die Herrn Mori zuletzt beim Essen unterstützt hatte. Sie zeigten auf die Dinge auf dem Esstisch und fragten, was Herr Mori gegessen hatte und machten dann Beweisfotos. Die junge Mitarbeiterin weinte heftig während der Befragung und Herr Murase beschreibt die Situation als lauten Tumult. Letztendlich wurde die Familie

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aus dem Raum geschickt, der Leichnam komplett entkleidet und auf äußere Verletzungen und Fremdeinwirkungen untersucht. Herr Murase bedauert dieses polizeiliche Eindringen in die Einrichtung und stellt es dem natürlichen und gelungenen Tod (shizen no setsuri ni shitagatte) von Herrn Mori gegenüber. Er erklärt weiter, dass Herr Mori zur Stunde seines Todes von Menschen umgeben war, die seine Art zu Sterben mit einem Gefühl von Freude und Feierlichkeit erfüllte. Sie hätten gerne seine Bestattung besprochen, um seinen Übergang in die Welt der Toten zu planen. Die Ermittlungen der Polizeibeamten unterbrachen jedoch die feierliche Stimmung. Mit der Überlegung, dass es auf der gesellschaftlichen Ebene ein Problem im Umgang mit dem Tod gibt, beendet Herr Murase seine Schilderungen zu Herrn Mori.

Dass Herr Mori bis zum Ende aus eigener Kraft gelebt hat und aus eigener Kraft gestorben ist, wird von Herrn Murase als Kriterium zur Bewertung seines Todes als »gut« herangezogen. Darüber hinaus ist dies auch die Begründung, warum wiederbelebende Maßnahmen für ihn abgelehnt wurden. Der Interpretation »aus eigener Kraft leben/sterben« liegt das Ideal des »natürlichen Todes« (shizenshi) zugrunde. Herr Murase verdeutlicht an Herrn Mori, wie der »natürliche Alterungs- oder Sterbeprozess« seinen Lauf nahm, die körperlichen Funktionen über einen langen Zeitraum immer mehr nachließen und ein langsamer Übergang von der diesseitigen in die jenseitige Welt stattfand. Das Pflegepersonal im Yoriai begleitete diesen Prozess des Sterbens, indem sie ihn beobachteten und geschehen ließen. Der blutige, stinkende Stuhlgang hätte als alarmierendes Zeichen gedeutet werden können, das einen Eingriff durch einen Arzt nötig erscheinen lässt; jedoch war die Reaktion der Pflegenden erst einmal abzuwarten. Erst einmal abzuwarten kann genauso wie die Ablehnung von wiederbelebenden Maßnahmen im Kontext des »natürlichen Todes« als Respekt vor dem sterbenden Menschen gedeutet werden: Er soll nicht durch medizinische Maßnahmen im Sterben gestört werden. Der friedliche Sterbeprozess und die feierliche Stimmung der Pflegenden und Angehörigen nach dem Aussetzen der Atmung von Herrn Mori wurden jedoch durch die medizinischen und rechtlichen Rahmenbedingungen gestört. Durch die gesetzliche Vorgabe, dass innerhalb von 24 Stunden nach dem Todeszeitpunkt von einem Arzt der Totenschein ausgestellt werden muss, soll sichergestellt werden, dass der Tod nicht

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durch Fremdeinwirkung oder Vernachlässigung der Fürsorgepflicht eingetreten ist. Ihr kommt somit eine Kontrollfunktion zu, durch die Sterbende und Menschen in einem abhängigen und verletzlichen Zustand geschützt werden sollen. Von Herrn Murase wird diese Vorkehrung als Zeichen dafür gedeutet, dass im gesellschaftlichen Umgang mit Sterbenden und dem Tod etwas nicht stimmt. Zum einen kann sicherlich die Notwendigkeit einer solchen Kontrollund Schutzfunktion als Maßnahme gegen Missbrauchsfälle verstanden werden. Herr Murase scheint mit seiner Aussage jedoch vor allem auf eine Bürokratisierung des Todes und auf eine Medikalisierung des Sterbens anzuspielen. Die Kritik zielt darauf, dass Sterben nicht mehr als Teil des »natürlichen Alterungsprozesses« gesehen wird. Das Nachlassen und letztendliche Versagen der körperlichen Vitalfunktionen wird nicht akzeptiert, sondern pathologisiert und es wird mit allen verfügbaren medizinischen Mitteln versucht, sterbende Menschen am Leben zu erhalten. Durch die rechtliche Regelung des Todes wird aus einem sozialen Ereignis ein medizinisch abzusichernder und nach Todesursachen kategorisierbarer Zustand. Vor dem Hintergrund, dass bis in die 1990er-Jahre hinein eine Aufrechterhaltung des Lebens mit allen verfügbaren medizinischen Maßnahmen zur Norm gehörte (vgl. Asai et al. 1997; Fetters/Danis 2002; Long/Long 1982), kann die Praxis im Yoriai als eine Gegenbewegung zur Medikalisierung des Sterbeprozesses im Krankenhaus gesehen werden. An der Frage der Rettungssanitäter nach einer schriftlichen Willensbekundung des Verstorbenen zur Ablehnung von wiederbelebenden Maßnahmen lässt sich zudem erkennen, dass sich die medizinische Praxis von einer paternalistischen hin zu einer mehr auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten fokussierten Praxis gewandelt hat. Um auf die wiederbelebenden Maßnahmen zu verzichten, hätte Herr Mori im Vollbesitz seiner rationalen Fähigkeiten vor seiner Demenz oder in einem sehr frühen Stadium diese Situation antizipieren und in einer Patientenverfügung seine Wünsche festhalten müssen. Der Gedanke der Patientenverfügung widerspricht jedoch den grundlegenden Prinzipien der Einrichtung Yoriai. Die Pflegenden legen Wert darauf, dass der Wille der Bewohnerin bzw. des Bewohners situativ in der täglichen Interaktion erfasst wird. Auch lehnen sie es ab, den Willen des rationalen Individuums vor einer demenziellen Erkrankung – der in einer Patientenverfügung festgehalten wurde – über den aktual von diesem Menschen im

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dementen Zustand zum Ausdruck gebrachten Willen zu stellen (vgl. zu dieser Thematik auch Kap. 5). Dass es jedoch zuweilen unter den Pflegekräften auch Uneinigkeiten darüber gibt, was im Interesse der Bewohnerin bzw. des Bewohners ist und ob man den Dingen ihren Lauf lassen kann oder ob man doch medizinische Maßnahmen ergreifen sollte, wird im folgenden Fallbeispiel deutlich. Im Mittelpunkt steht hier die Ermittlung des mutmaßlichen Willens der betroffenen Bewohnerin. Zudem wird hier ersichtlich, wie die Pflegenden aus dem ersten Fall gelernt haben und Strategien entwickelt haben, mit den rechtlichen Vorgaben umzugehen.

Fallbeispiel: Jibunrashii shi – ein ihrer Persönlichkeit entsprechender Tod Interview mit Herrn Murase, Yoriai 2 Frau Noda zog mit 91 Jahren in die Einrichtung Yoriai und lebte dort fünf Jahre, bis sie im Alter von 96 Jahren verstarb. Bevor sie ins Yoriai kam, bestritt sie trotz einsetzender Altersvergesslichkeit selbstständig ihren Alltag. Nach einem Sturz wurde sie jedoch mit dem Verdacht auf einen Lendenwirbelkompressionsbruch ins Krankenhaus eingeliefert. Im Krankenhaus wurde sie zu ihrer eigenen Sicherheit im Bett fixiert (shibarareta/ gōhōteki ni yokusei sareta), da sie unruhig umhergelaufen war. Laut der Einschätzung von Herrn Murase fühlte sich Frau Noda in den Windeln unwohl, die ihr im Krankenhaus angelegt worden waren. Sie wollte selbst zur Toilette gehen, äußerte dies aber nicht verbal, sondern lief im Zimmer auf und ab. Für das Krankenhauspersonal sah ihr Verhalten nach dem typischen unruhigen Umherlaufen von Demenz- oder Alzheimer-Patientinnen und -Patienten aus, die sich durch ihr Verhalten selbst gefährden. Direkt nachdem sie fixiert worden war, verschlechterte sich der Zustand von Frau Noda rapide: Sie schlief tagsüber und war nachts wach, hörte Stimmen und sah Dinge, die niemand anderes hörte oder sah und sie erkannte ihre Angehörigen nicht mehr. Sie wurde aus der Sicht des Krankenhauspersonals zu einer typischen dementen alten Frau. Für die Familie von Frau Noda war der Gedanke unerträglich, dass sie im Krankenhaus ans Bett gefesselt sterben könnte und sie gingen zur Beratung ins Yoriai. Herrn Murases Einschätzung zufolge lag Frau Noda im Krankenhaus im Sterben, weil sie ans Bett gefesselt war. Er war davon

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überzeugt, dass sich ihr Zustand verbessern werde, wenn sie von den Windeln befreit und bei den Toilettengängen unterstützt würde. Und so wurde Frau Noda gegen die Meinung der Ärzte aus dem Krankenhaus in die Pflegeeinrichtung verlegt. Nachdem Frau Noda aus dem Krankenhaus verlegt worden war, blühte sie im Yoriai wieder auf und verbrachte dort fünf weitere lebhafte Jahre. Früher war sie die Vorsitzende des örtlichen Frauenvereins gewesen, hatte ein bestimmendes Auftreten und die Fähigkeit besessen, Menschen um sich zu versammeln. Diese Charakterzüge bewahrte sie auch im dementen Zustand. Sie war im Umgang nicht einfach. Vor allem gestattete sie es nicht, dass ihr Körper berührt wurde. Wenn sie durch eine Grippe geschwächt war, war es möglich, sie an einen Tropf anzuschließen. Aber sobald sie wieder zu Kräften kam, zog sie die Nadeln heraus. Was es bedeutet jemanden zu pflegen und auf diese Person einzugehen, das hätten vor allem die jungen Mitarbeiterinnen durch Frau Noda gelernt. Als Zeichen, dass sie sich dem Lebensende näherte, führt Herr Murase ihren Appetitverlust an. Sie aß irgendwann nicht mehr. Die Pflegenden probierten alles Mögliche aus und bereiteten für sie verschiedenste Speisen zu, aber sie konnte nicht mehr richtig schlucken und lehnte alles bis auf eine bestimmte Sorte Eiskonfekt ab. Nach einiger Zeit gab Frau Noda jedoch durch eine Bewegung mit dem Handrücken zu verstehen, dass sie auch kein Eiskonfekt mehr essen wollte. Diese Geste beschreibt Herr Murase als ihr typisches Zeichen der Ablehnung, das allen über die Jahre sehr vertraut geworden war. Zu diesem Zeitpunkt stellte sich die Frage, ob Frau Noda über einen Tropf oder eine Magensonde Nährstoffe und Flüssigkeit zugeführt werden sollten. Die Mitarbeiter/innen versammelten sich, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Einige waren der Meinung, die Sterbephase habe bereits eingesetzt und man sollte keine Maßnahmen zur Ernährung ergreifen. Doch keiner konnte dies mit Sicherheit sagen und die Ungewissheit blieb, ob sich ihr Zustand durch Infusionen nicht doch noch einmal bessern würde. Frau Noda konnte sich durch die fortgeschrittene Demenz nicht mehr selbst zu komplexen Sachverhalten äußern. Deswegen versuchten die Mitarbeiter/innen aufgrund ihres bisherigen Lebensstils und den gemeinsamen Alltagserfahrungen ihren Willen zu ermitteln. Gegen die Infusionen sprach das bisherige Verhalten von Frau Noda im Krankenhaus und in der täglichen Pflege. Jedoch gab es auch den Vorschlag, die Infusionen zumindest auszuprobieren. Das hätte bedeutet, dass jemand bei Frau Noda sitzen

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und sie während der Infusionen beaufsichtigen muss, damit sie die Nadel nicht herauszieht. An diesem Punkt in der Diskussion wurde der Vorschlag geäußert, ob man die Zeit nicht lieber für etwas Anderes verwenden sollte: Es wurde überlegt, Frau Noda ein letztes Mal an den Ort zu begleiten, wo sie nach ihrer Eheschließung 70 Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Diese Überlegung schloss an Diskussionen an, wo Frau Noda am besten sterben sollte, in ihrer Heimat oder im Yoriai. Da sie schon seit fünf Jahren im Yoriai lebte, dort neue Kontakte geknüpft hatte und ihre Verbindungen in die Heimat immer schwächer geworden waren, fiel die Entscheidung unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ihr einen Tod in vertrauter Umgebung im Yoriai zu ermöglichen. Drei Tage später fuhr Frau Noda begleitet von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in ihren Heimatort, um sich dort zu verabschieden. Sie übernachteten eine Nacht in einem Gasthaus. Frau Nodas Familie gesellte sich zu ihnen, es wurde dobinmushi, eine Art Suppe und Sake aufgetischt. Obwohl Frau Noda zu diesem Zeitpunkt schon nichts mehr aß, nippte sie an der ihr angebotenen Brühe und griff nach dem eingelegten Gemüse, das auf dem Tisch stand und steckte es sich in den Mund. Auch am darauf folgenden Tag, als sie in ihrem ehemaligen Wohnhaus ankamen, nippte sie an der Suppe, die von ihrer Schwiegertochter zum Mittagessen zubereitet worden war. Herr Murase interpretiert ihr Verhalten als Gesten des Abschiednehmens. Er erinnert sich, dass Frau Noda während des Essens die ganze Zeit auf den butsudan, den buddhistischen Totenaltar blickte, wo ein Bild ihres verstorbenen Mannes aufgestellt war. Drei Mal nickte sie ihrem Mann auf dem Bild tief zu. Frau Noda verstarb eine Woche nach der Rückkehr von diesem Ausflug. Herr Murase betont, dass der Tod häufig mit Krankheit in Verbindung gebracht wird. Bei Frau Noda hätte jedoch lediglich die Kraft abgenommen, die sie am Leben erhalten hatte. Die letzten Tage brachte sie dies verbal zum Ausdruck und sprach mit den Pflegenden darüber, dass sie bald gehen werde. Für die Mitarbeiter/innen erleichterte das den Abschied. Herr Murase schildert aus seiner Erfahrung, am schwächer werdenden Atem merke man, dass es mit jemandem zu Ende geht. Und so sei es auch bei Frau Noda gewesen. Am Ende des Tages wollten die Mitarbeiter/innen der Tagesschicht nicht nach Hause gehen, um in der Todesstunde anwesend zu sein. Aber da am nächsten Tag ein ganz normaler Arbeitstag auf sie wartete, streichelten sie Frau Noda zum Abschied. Frau Noda reagierte darauf mit der für sie charakteristischen ablehnenden Handgeste.

4.6 Herausforderungen der Sterbebegleitung

Drei Tage lang dauerten diese Verabschiedungsszenen, bis Frau Noda am frühen Nachmittag des dritten Tages verstarb. Sie starb zu einer Tageszeit, als noch alle Nutzer/innen der Tagespflege und die Mitarbeiter/innen der Tagesschicht anwesend waren. Das sei typisch für sie gewesen (Noda san rashii), kommentiert Herr Murase den Todeszeitpunkt. Schon zu Lebzeiten hätte sie die bemerkenswerte Eigenschaft gehabt, die Menschen zu versammeln und auch zu ihrem Tod waren alle anwesend. Ihre Familie war am Abend zuvor angereist und hatte im Yoriai übernachtet. Sie saßen alle zusammen in feierlicher Stimmung um sie herum. Es wurde gegessen, getrunken und über Frau Nodas Leben gesprochen, während alle ihrem schwächer werdenden Atem lauschten. Im Fall von Frau Noda wurde ein anderer Arzt verständigt als bei Herrn Mori. Die Mitarbeiter/innen riefen einen Arzt, der zuvor zu verstehen gegeben hatte, er würde nicht darauf bestehen, dass der Notarzt gerufen wird. Die Stimmung war feierlich und andächtig. Mit der Feststellung des Todes durch den Arzt wandelte sich die Stimmung jedoch und alle begangen zu weinen. Eine Besonderheit in diesem Fall war die Bitte eines ehrenamtlichen Helfers an den Sohn von Frau Noda, sie klatschend verabschieden zu dürfen, wenn der Bestatter ihre Leiche abholt. Diese Bitte führt Herr Murase darauf zurück, dass für alle Anwesenden der Tod von Frau Noda herausragend und beeindruckend war. Und so wurde der Leichnam von Frau Noda unter Beifall aus dem Yoriai verabschiedet.

In diesem Fallbeispiel stehen die positiven Aspekte des Sterbeprozesses im Vordergrund der Erzählung. Hierbei spielt die Persönlichkeit von Frau Noda eine wichtige Rolle. Es wird eine Kontinuität ihrer Charaktereigenschaften hergestellt: eine starke Persönlichkeit zu sein, Menschen zu versammeln und Berührungen ihres Körpers abzulehnen. Diese Eigenschaften änderten sich nicht durch die Demenz, sondern setzten sich bis zu ihrem Tod fort. Auch wenn sie sich kaum noch verbal äußern konnte, interpretierten die Pflegenden ihr Verhalten und ihre Gestik als klare Willensäußerungen. Den Willen der Bewohnerin zu achten und ihren Charakter zu respektieren, standen bei der Pflege und Sterbebegleitung im Vordergrund. Der Tod von Frau Noda kann als typisches Beispiel des Ideals gesehen werden, einen »dem Selbst/eigenem Charakter entsprechenden Tod zu

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sterben« ( jibunrashii shi). Bis zum letzten Augenblick ihrer Sterbephase sahen die Pflegenden in ihrem Verhalten ihre typischen Eigenschaften verkörpert, sogar der Zeitpunkt ihres Todes wurde als Ausdruck ihrer Fähigkeit gedeutet, Menschen um sich zu versammeln. Wie beeindruckt die Anwesenden von ihrer Art zu sterben waren, drückten sie durch ihren Beifall aus, der den Leichnam aus dem Yoriai geleitete. Dem ihrem Selbst entsprechenden Sterben im Yoriai wird die Episode des Krankenhausaufenthaltes gegenübergestellt. Bereits fünf Jahre vor ihrem letztendlichen Tod erweckte Frau Noda auf ihre Angehörigen den Eindruck, sie würde sterben. In Herrn Murases Erzählung werden die Verschlechterungen des Zustands von Frau Noda als Folgen der Behandlungen im Krankenhaus dargestellt, die ihren Charakter einschränkten und veränderten. Vor dem Hintergrund, dass sich Frau Noda im Yoriai wieder erholte und das für ihren Charakter typische Verhalten an den Tag legte, erscheint die Veränderung im Krankenhaus als Entfremdung von sich selbst durch die Zwangsmaßnahmen des Krankenhauses. Trotz des stark ausgeprägten Charakters von Frau Noda gab es jedoch auch Schwierigkeiten bei der Ermittlung ihres mutmaßlichen Willens. Letztendlich ist die Ermittlung des mutmaßlichen Willens eine Interpretation des Verhaltens der Bewohnerin durch Dritte vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte und unterliegt den Schwierigkeiten des Fremdverstehens. Für die Pflegenden ist es bei diesem Interpretationsprozess schwierig, sich von ihren eigenen Vorstellungen einer guten Sterbephase oder des richtigen Vorgehens zu lösen. Ebenso spielen die Grundsätze des Yoriai – die Ablehnung eines medikalisierten Todes im Krankenhaus und die Wertschätzung eines »natürlichen Todes« in gewohnter Umgebung – eine bedeutende Rolle bei der Interpretation des beobachteten Verhaltens und bei der Entscheidungsfindung welche Maßnahmen eingeleitet werden und welche nicht. An diesem zweiten Fallbeispiel wird ersichtlich, dass die Mitarbeiter/ innen vom Yoriai Strategien entwickelt haben, mit den rechtlichen Rahmenbedingungen umzugehen. Sie suchen sich gezielt Ärzte, die ihre Vorstellungen einer guten Sterbebegleitung unterstützen, sich auf die ambulante palliative Begleitung spezialisiert haben und nicht auf wiederbelebende Maßnahmen bestehen. Dies wurde möglich durch einen Ausbau der ambulanten Palliativversorgung, die sicherlich auch zu einer Zunahme an Sterbefällen in Pflegeeinrichtungen und der eigenen Häus-

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lichkeit geführt hat, welche sich seit 2006 in den Zahlen zum Sterbeort widerspiegelt (vgl. MHLW 2012). In beiden Fallbeispielen kommt deutlich zum Ausdruck, dass es im Yoriai kein standardisiertes Vorgehen zur Sterbebegleitung gibt. Von Fall zu Fall wird der Sterbeprozess beobachtet und versucht, eine individuelle, auf die Persönlichkeit des Sterbenden abgestimmte Begleitung zu realisieren. Auf die Einbeziehung der Familie wird dabei viel Wert gelegt. Ärztlicher Rat scheint jedoch in beiden Fallbeispielen – sowohl beim blutigen und stinkenden Stuhlgang von Herrn Mori als auch bei der Frage, ob Frau Noda Nährstoffe über einen Tropf zugeführt werden sollten – keine nennenswerte Bedeutung für die Entscheidungen zu haben. Darüber hinaus zeigt das zweite Fallbeispiel, wie sich die Mitarbeiter/innen vom Yoriai über die Basispflege und Sterbebegleitung hinaus bemühen herauszufinden, worin die Bedürfnisse der Bewohner/innen bestehen. In der Organisation des Ausflugs in den Heimatort von Frau Noda zeigt sich deutlich das Spezifische an dieser Einrichtung: Das Engagement der Mitarbeiter/innen geht eindeutig über das übliche Verständnis der Arbeit in einer Pflegeeinrichtung hinaus. Im Mittelpunkt steht die emotionale Bindung zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und der Nutzerin, die man als »familienähnlich« bezeichnen könnte.

Sterbebegleitung im Pflegeheim Midori AG 4 Wie bereits erwähnt, handelt es sich beim Yoriai um eine sehr spezielle Einrichtung, die sich explizit von der gängigen Praxis in konventionellen Pflegeeinrichtungen abgrenzt. Trotz – oder gerade wegen – seiner Besonderheit kommt dem Yoriai eine Vorbildfunktion zu. Dies zeigt sich vor allem in der Konzeptualisierung kleiner Gruppenwohnheime mit familiärer Atmosphäre, für die das Yoriai anderen Einrichtungen als Vorbild gilt. Auch die Praxis der Sterbebegleitung im Yoriai nimmt eine Vorreiterrolle ein. So orientierte sich die Pflegeeinrichtung Midori AG, die im Folgen4 | Dieses Unterkapitel basiert auf Daten, die Matsuo Yayoi für ihre Doktorarbeit in der Pflegeeinrichtung Midori AG erhoben hat. Anstatt den von Matsuo Yayoi verwendeten Abkürzungen für den Einrichtungsnamen und die erwähnten Personen, wurden hier zum besseren Lesefluss Pseudonyme verwendet. Matsuo Yayoi ist die einzige aus unserem Forschungsprojekt, die Feldforschung in der Midori AG durchgeführt hat. Sie ist außerdem mit dem Alltag im Yoriai vertraut.

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den exemplarisch vorgestellt wird, an dem Konzept der kleinen Wohneinheiten der Einrichtung Yoriai und an ihrer Praxis der Sterbebegleitung, die in der Midori AG jedoch viel standardisiertere Züge aufweist. Neben einem Gruppenwohnheim und einem Altenheim bietet das Pflegeunternehmen verschiedene andere Dienste an wie Tagespflege, private Wohneinheiten mit Serviceleistungen und häusliche Pflegedienstleistungen. In den unterschiedlichen Einrichtungen wohnen insgesamt etwa 60 Menschen. Die Midori AG legt besonders viel Wert auf die individuellen Bedürfnisse der Bewohner/innen und eine gute Beziehung zur Familie der/des Pflegebedürftigen sowie auf ein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft. Durch Umfragen unter den Nutzerinnen und Nutzern, Angehörigen und Pflegekräften stellten die Betreiber der Einrichtung fest, dass ein Gesprächs- und Informationsbedarf zum Themenkomplex Sterben bestand. Aus diesem Grund werden seit Dezember 2011 von den Sozialarbeiterinnen und -arbeitern der Einrichtung regelmäßig Workshops und Informationsabende zur »Death Education« veranstaltet, in denen über die eigenen Wünsche, Sorgen und Vorstellungen zur Sterbephase reflektiert wird oder über Vorausverfügungen und die Äußerung von Wünschen bei Menschen mit Demenz informiert wird. Durch abschließende Evaluationen der Workshops stellte sich heraus, dass ein großer Teil der Nutzer/ innen wünscht, in den Einrichtungen der Midori AG ihre letzten Tage und Stunden zu verbringen. Sterbebegleitung wurde zum ersten Mal in einer Altenwohngruppe der Einrichtung geleistet. Seit diesem ersten Fall wurden mehrere Bewohner/innen im Sterben begleitet, zwischen fünf und acht Menschen im Jahr. Es gab ferner erste Fälle, wo durch eine Kooperation von Angehörigen, ambulantem Pflegedienst, Haushaltshilfen und behandelndem Arzt die Sterbebegleitung in den privaten Wohneinheiten ermöglicht wurde. Wie Pflegende, Sozialarbeiterin, Arzt und die Familie zusammenarbeiten, um eine begleitete Sterbephase in der Einrichtung zu ermöglichen, wird im Folgenden exemplarisch an einem Fallbeispiel dargestellt.

4.6 Herausforderungen der Sterbebegleitung

Fallbeispiel: Infusionen beenden oder nicht? unveröffentlichte Doktorarbeit von Matsuo Yayoi 5 Frau Tanaka zog aufgrund ihrer demenziellen Erkrankung in die Appartements der Midori AG. Fünf Jahre lang nahm sie die Pflege der Einrichtung in Anspruch, bevor sie im Alter von 92 Jahren verstarb. Obwohl sie bis zu ihrem Tod offiziell als Bewohnerin eines Appartements registriert war, verbrachte sie aufgrund ihrer fortgeschrittenen Demenz vor allem das letzte Jahr vor ihrem Tod hauptsächlich in den Einrichtungen der Tagespflege und übernachtete in einer angegliederten Einrichtung, da sie nachts sehr unruhig geworden war und nicht mehr unbeaufsichtigt in ihrem Appartement bleiben konnte. Ihre Angehörigen – ihr Sohn und seine Frau – wohnten etwa neun Autostunden entfernt und besuchten sie in den ersten Jahren ein bis zwei Mal im Monat. Als sich der Zustand von Frau Tanaka verschlechterte, kamen sie häufiger zu Besuch. Die letzten zwei Monate vor ihrem Tod verbrachten die Angehörigen fast vollständig in Frau Tanakas Nähe. Frau Tanaka wird als Mensch beschrieben, der gerne und viel redete und immer gerne gegessen hat. Drei Monate vor ihrem Tod nahm sie jedoch von Tag zu Tag weniger zu sich und wenn sie etwas aß, dann meist ihre Lieblingsspeisen: Marmeladenbrot, Schokoladenpudding oder Eiscreme. Gleichzeitig verbrachte sie vermehrt Zeit in ihrem Bett. Diese Entwicklungen wurden von den Pflegenden als die ersten Anzeichen der einsetzenden Sterbephase gedeutet. Nachdem sich die verringerte Nahrungsaufnahme und verminderte Tagesaktivität über einige Tage fortgesetzt hatten und keine Besserung des Zustandes in Sicht war, besprach das Pflegepersonal das sinkende ADLLevel 6 und informierte die Angehörigen. Der Arzt von Frau Tanaka wurde gerufen und schlug als Behandlung Infusionen mit einer Nährstofflösung von 200ml pro Tag über einen Tropf vor. Ihre Familie hatte in einer Vorausverfügung festgelegt, dass Frau Tanaka so lange wie möglich Flüssigkeit und Nahrung über den Mund aufnehmen soll. Eine Magensonde wurde in 5 | Das dargestellte Fallbeispiel basiert auf der teilnehmenden Beobachtung von Matsuo Yayoi, Fragebögen mit den Pflegekräften sowie Leitfadeninterviews mit der Sozialarbeiterin und dem Sohn von Frau Tanaka. Alle Personen und die Einrichtung wurden anonymisiert. 6 | ADL steht für Activities of Daily Living.

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dieser Verfügung explizit abgelehnt. Als die Sozialarbeiterin den Angehörigen jedoch per Telefon den Vorschlag des Arztes unterbreitete, stimmte ihr Sohn der Tropf-Behandlung zu. Als die Infusionen Anfang Mai begonnen wurden, habe die Hoffnung bestanden, dass die Infusionen Frau Tanaka stärken und zu einer Besserung ihres Zustandes führen würden, sodass sie wieder abgesetzt werden können. Dies war ein paar Monate zuvor der Fall gewesen. Jedoch verbesserte sich der Zustand von Frau Tanaka dieses Mal nicht. Dem Pflegepersonal gegenüber äußerte Frau Tanaka mit einem Lachen im Gesicht: »Das Ziel ist schon nah…«. Ab Mitte und besonders gegen Ende Mai bereitete die Einnahme ihrer Medikamente Frau Tanaka zunehmend Schwierigkeiten. Sie hatte Probleme zu schlucken und verspürte bei der Einnahme Brechreiz, sodass die Medikation geändert wurde und nur noch morgens erfolgte. Sie saß mittlerweile im Rollstuhl und war bei der täglichen Körperhygiene zunehmend auf Hilfe angewiesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon viel Gewicht verloren und konnte sich nicht mehr alleine im Bett umdrehen. Um wund gelegene Stellen zu vermeiden, wurde Frau Tanaka alle zwei Stunden von den Pflegerinnen in eine andere Lage gedreht. Das Bett wurde zu diesem Zweck so im Zimmer ausgerichtet, dass die Pflege leichter geleistet werden konnte. Bei seiner Visite erhöhte der behandelnde Arzt die Infusionen auf 500ml. Frau Tanaka reagierte in dieser Phase auf Ansprache zunehmend nur noch mit einem Nicken, obwohl sie zuvor gerne und viel geredet hatte. Die Sozialarbeiterin bereitete in diesem Stadium in Absprache mit den Angehörigen das Zimmer für die Sterbephase vor, es wurden Blumen und Aroma-Öl aufgestellt und leise klassische Musik abgespielt. Auch die Wünsche der Familie zur Bestattung wurden besprochen sowie die Frage, welche Kleidung Frau Tanaka zuletzt tragen soll. Ende Mai klagte Frau Tanaka beim Wenden ihres Körpers über Rückenschmerzen und Anfang Juni litt sie zudem nachts unter Bauchschmerzen. Sie bekam Schmerzmittel und eine spezielle Matratze, um einem Dekubitus vorzubeugen. Die Durchführung der Infusionen wurde Anfang Juni immer schwerer. Zudem war ihr Bewusstsein getrübt. Sie bewegte häufig ihren Arm, sodass das Pflegepersonal während der Infusionen bei ihr sitzen und ihre Hände halten musste. Trotz des Beiseins einer Pflegekraft bewegte sie weiterhin ihren Arm so, dass die Infusionsnadel immer wieder verrutschte und die Nährlösung austrat. Ihre Armbewegungen deuteten die Pflegenden als

4.6 Herausforderungen der Sterbebegleitung

Ablehnung der Infusionen. Sie kannten Frau Tanakas Abneigung gegenüber Krankenhäusern. Sie hatte auch den expliziten Wunsch geäußert, dass der »Schlauch« abgenommen werden sollte (sono himo wa yamete). Zu diesem Zeitpunkt besprach sich das Personal regelmäßig und die Sozialarbeiterin informierte die Familie über die Entwicklungen. Da sich der Zustand von Frau Tanaka zunehmend verschlechterte und durch den Tropf keine Besserung erzielt wurde, äußerte die Familie den Wunsch, die Infusionen einzustellen. Die Sozialarbeiterin übermittelte diesen Wunsch den Pflegenden und dem behandelnden Arzt, und nach zwei Tagen wurde die Tropfbehandlung beendet. Mitte Juni fanden täglich Besprechungen über den Zustand von Frau Tanaka statt. Bei der Mundpflege wurde in diesem Stadium Brechreiz festgestellt. Sie war zu diesem Zeitpunkt offensichtlich entkräftet und auf ihren Fußrücken sowie an den Unterschenkeln bildeten sich Ödeme, sodass der Arzt gerufen wurde. Als ihre Atmung schwerer wurde und sich die Schultern beim Ein- und Ausatmen sichtlich hoben und senkten, wurde ihre Familie informiert. Kurze Zeit später setzte die Atmung aus und Frau Tanaka verstarb. Nach ihrem Tod wurde die sogenannte Angel Care7 eingeleitet: die Mitarbeiter/innen wuschen Frau Tanaka. Der Leichnam wurde zusammen von der Familie und den Pflegenden in das Wochenendhaus der Familie überführt und von der Schwiegertochter für die Aufbahrung zurechtgemacht.

Das Team der Tagespflege, wo Frau Tanaka im Sterben begleitet wurde, bestand aus neun Personen: ein Pfleger, sieben Pflegerinnen und eine Sozialarbeiterin. Hinsichtlich der Erfahrungen in der Sterbebegleitung unterschieden sich die einzelnen Mitarbeiter/innen voneinander. Während die Sozialarbeiterin und einige Pflegende bereits auf Erfahrungen zurückblicken konnten, war es für andere das erste Mal, dass sie jemanden während dieser letzten Lebensphase begleiteten. Die Ansichten und Einstellungen der Pflegenden wurden nach dem Versterben von Frau Tanaka durch einen Fragebogen ermittelt und etwa fünf Monate nach dem 7 | Der Ausdruck (auf Japanisch enjeru oder enzeru kea) steht für Tätigkeiten, die den Übergang der/des Verstorbenen in die Welt der Toten erleichtern sollen. Dazu gehören u.a. die Reinigung und das Zurechtmachen der Leiche durch das Pflegepersonal und auch die Begleitung der trauernden Angehörigen.

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Tod von Frau Tanaka wurde jeweils ein Interview mit ihrem Sohn und der Sozialarbeiterin geführt. Die größte Herausforderung bei der Sterbebegleitung von Frau Tanaka waren die unterschiedlichen Ansichten über das beste Vorgehen bezüglich der Ernährung seitens der beteiligten Parteien. Es war nicht einfach, unter den Pflegenden eine Übereinkunft zu erzielen, insbesondere als die Angehörigen um den Abbruch der Tropf behandlung baten. Wie die Pflegenden die verminderte Nahrungsaufnahme und später die Einstellung der Infusionen bewerteten, basierte auf ihrer Einschätzung, ob die Sterbephase bereits eingesetzt hatte oder nicht. Denjenigen Pflegenden, welche die Entwicklungen als Teil eines natürlichen Alterungs- bzw. Sterbeprozesses deuteten, fiel es leichter die Situation zu akzeptieren. Andere aus dem Team interpretierten die Appetitsabnahme und die verringerte Aktivität von Frau Tanaka jedoch als Symptome eines krankhaften Zustandes, wofür es unter Umständen Aussicht auf Besserung und Genesung gab. Ihnen bereitete die Entwicklung Sorgen und für sie war es schwierig zu akzeptieren, dass Frau Tanaka nicht die nötige Menge an Kalorien zugeführt werden sollte. Des Weiteren belastete einige Pflegekräfte die Verantwortung der Sterbebegleitung. Eine Entlastung sowohl für das Pflegeteam als auch für die Angehörigen wurde in den festen Strukturen der regelmäßigen Besprechung des Zustandes von Frau Tanaka und einer klaren Aufgabenteilung in der Zusammenarbeit zwischen Pflegekräften, Arzt und Familie gesehen. Der größte Teil des Teams akzeptierte letztendlich die Entscheidung, die Infusionen einzustellen, da keine Besserung eingetreten war und Frau Tanakas Reaktionen auf den Tropf als Ablehnung gedeutet wurden. Der Sohn von Frau Tanaka beschreibt die Einstellung der Infusionen ebenfalls als schwierige Entscheidung. Er und seine Frau hatten in einer Verfügung festgelegt, dass keine Ernährung oder Beatmung durchgeführt werden sollen, wenn es keine Aussicht auf Besserung mehr gibt. Doch in dem Moment, in dem die Frage nach Infusionen aufkam, sei es schwierig gewesen zu beurteilen, ob es nicht doch noch Aussicht auf Besserung gäbe. Aus diesem Grund habe er den Infusionen zugestimmt. Das Schwierigste sei dann die Entscheidung gewesen, wann die Infusionen eingestellt werden sollten. Eine Schlüsselfunktion kam in dieser Phase der Sozialarbeiterin zu. Sie war die Schnittstelle zwischen allen Beteiligten und ihr kam die Aufgabe der Beratung und vermittelnden Kommunikation zu. Sie war von

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Anfang bis Ende die Ansprechpartnerin für die Angehörigen bei Fragen und Anliegen im Alltag und sie erstellte den individuellen Pflegeplan. Sie beriet zudem die Pflegenden und hörte sich ihre Sorgen und Unsicherheiten an. Darüber hinaus beteiligte sie sich an der täglichen Pflege. Sterbebegleitung ist aus ihrer Sicht nur als Team durchführbar. Besonders in der Pflege sei eine einheitliche Ausrichtung wichtig. Selbst an ihren freien Tagen habe sie aus diesem Grund Gelegenheiten für Treffen geschaffen, damit beispielsweise Informationen des Arztes mit allen aus dem Pflegeteam geteilt werden konnten. Sie selbst habe ebenfalls Zweifel gehabt, ob es nicht noch zu früh ist, die Infusionen einzustellen. Ausschlaggebend sei für sie eine Beratung mit dem behandelnden Arzt gewesen, der ihr erklärte, dass die Infusionen nicht unbedingt eine positive Wirkung haben, sondern unter Umständen eine Belastung für das Herz darstellen können. Frau Tanaka war die erste Bewohnerin der Midori AG, für die es eine Vorsorgeverfügung ( jizenshijisho) gab. Jedoch war die Verfügung nicht von Frau Tanaka selbst, sondern von ihren Angehörigen verfasst worden. Ihr Sohn sagte später im Interview, er habe von der Abneigung seiner Mutter gegenüber Krankenhäusern gewusst. Doch sei für die dokumentierten Anweisungen ausschlaggebend gewesen, dass er und auch seine Frau lebensverlängernde Maßnahmen für sich selbst in einer ähnlichen Situation ablehnen würden. Dass die Angehörigen die Inhalte der Verfügung an ihren eigenen Präferenzen orientierten und nicht am mutmaßlichen Willen von Frau Tanaka, widerspricht der gängigen Auffassung zur Funktion einer solchen Verfügung. Und so gingen auch die Ansichten der Pflegenden, ob diese Verfügung die Wünsche von Frau Tanaka widerspiegelt und befolgt werden sollte, weit auseinander. Aus diesem Grund sei es nicht allein um die Umsetzung gegangen, sondern es wurde viel über die Interpretation der Verfügung diskutiert. Für das Personal bedeutete dies, sich Gedanken über die bisherige Lebensweise von Frau Tanaka zu machen, ihren Standpunkt einzunehmen und gegebenenfalls die Verfügung an die Umstände anzupassen. Eine Hilfe war, dass Frau Tanaka teilweise ihren Willen verbal oder durch körperliche Zeichen zu verstehen gab. Das Lesen dieser Zeichen ist aus Sicht der Sozialarbeiterin bei demenziell Erkrankten äußerst wichtig, um ihr Befinden wahrnehmen zu können. Es sei zudem wichtig, den Menschen stets in allem, was mit ihm geschieht, einzubeziehen. Selbst in schwierigen Phasen, in denen Frau Tanaka die

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Augen geschlossen hielt und kaum reagierte, sei sie stets angesprochen worden, ob sie etwas essen möchte, Schmerzen habe oder einfach um sie zu informieren, dass gleich ihre Angehörigen zu Besuch kommen. Ebenso sei es wichtig gewesen, die Pflege von Situation zu Situation auf das Befinden der Bewohnerin abzustimmen und Gefühle wie Ärger und Freude gleichermaßen zu respektieren. Nur so könne eine vertrauensvolle Atmosphäre geschaffen werden, in der es den Bewohnerinnen und Bewohnern möglich ist, ihre Empfindungen auszudrücken. Auch wenn der Wille von Frau Tanaka häufig zu erkennen war und sie die Infusionen abzulehnen schien, war der Zweifel unter den Pflegenden nicht gänzlich auszuräumen. Im Nachhinein wurde der Vorausverfügung der eindeutig positive Effekt zugeschrieben, dass sie Reflektionen und Gespräche über genau solche Zweifel ermöglicht und angeregt hat. Die unterschiedlichen Ansichten der Pflegenden wurden thematisiert und es wurde versucht, einen Konsens unter allen Beteiligten zu erzielen. Auch für den behandelnden Arzt sei die Verfügung ein wichtiges Instrument gewesen, um die Wünsche der Angehörigen bei seiner Behandlung zu berücksichtigen. Die Sozialarbeiterin deutet die Verfügung der Angehörigen zudem als Signal, dass sie bereit sind, über die Sterbephase zu sprechen. Dies sei häufig nicht der Fall. Zum Tod von Frau Tanaka äußerten sich die meisten Pflegenden positiv. Er wurde von ihnen als natürlicher, friedlicher oder altersbedingter Tod gedeutet. Bei einigen Pflegekräften löste Frau Tanakas Tod Gedanken über den eigenen Tod aus, andere veranlasste er die Zeit mit Frau Tanaka noch einmal Revue passieren zu lassen. Frau Tanakas Sohn äußerte sich ebenfalls positiv über die freundliche und respektvolle Atmosphäre, in der seine Mutter gepflegt und während der letzten Monate begleitet wurde. Bei der Einrichtung Midori AG wird deutlich, dass eine Akzeptanz für die verringerte Nahrungsaufnahme oder die Beendigung der Infusionen auf der Vorstellung beruht, dies sei ein Teil des natürlichen Alterungs- oder Sterbeprozesses. Ebenso wie im Yoriai wird Nahrungszufuhr in diesem Zustand als Zwang oder mögliche Qual interpretiert. Im Unterschied zum Yoriai stehen in diesem Fallbeispiel jedoch bei der Pflege und Sterbebegleitung physische und medizinische Kriterien mehr im Vordergrund. Der Gebrauch von Fachbegriffen wie Activities of Daily Living oder Angel Care sowie eine klarere Trennung zwischen Arbeitszeit und freien Tagen verweist zudem auf ein Selbstverständnis der Pflegen-

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den, das mehr an institutionalisierter Professionalität orientiert ist. Dies kommt darüber hinaus auch in der Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten zum Ausdruck. Beim Yoriai hingegen ist die Vorstellung, eine natürliche Sterbephase ohne ein Eingreifen durch medizintechnische Hilfsmittel wie Infusionen zu ermöglichen, stärker ausgeprägt. An den Diskussionen über die Frage, ob bei Frau Noda eine Tropf behandlung durchgeführt werden sollte oder nicht, wird ersichtlich, dass es hier ebenso wie bei der Midori AG um Unsicherheiten geht, ob der verminderte Appetit bereits als Einsetzen der Sterbephase zu bewerten ist und welches Vorgehen im Sinne der Betroffenen ist. Jedoch wird im Yoriai dem Gedanken des sozialen Wohlbefindens in der Entscheidungsfindung mehr Gewicht beigemessen, sodass Frau Noda ein letztes Mail in ihre alte Heimat begleitet wurde. Im Vergleich der beiden Einrichtungen wird ebenso deutlich, dass das Pflegeunternehmen Midori AG Anstrengungen unternommen hat, eine strukturierte Sterbebegleitung in ihr Pflegeangebot aufzunehmen. Während im Yoriai die Sterbebegleitung von Fall zu Fall individuell und informell gestaltet wird und durch eine sehr persönliche, fast familiäre Beziehung geprägt ist, zeichnet sich die Sterbebegleitung bei der Midori AG durch eine höhere institutionelle Professionalität mit klarer Aufgabenteilung aus.

Sterbebegleitung im Dorothee-Sölle-Haus der Diakonie 8 Das Dorothee-Sölle-Haus der Diakonie in Düsseldorf Oberkassel hat eine standardisierte Vorgehensweise zur Sterbebegleitung entwickelt. Bei der Entwicklung dieses Verfahrens war eine Wohnbereichsleiterin maßgeb8 | Dieses Unterkapitel basiert auf einem Interview, das Celia Spoden 2015 zur Praxis der Sterbebegleitung mit einer Wohnbereichsleiterin der Einrichtung geführt hat, die maßgeblich an der Standardisierung der Sterbebegleitung beteiligt war. Des Weiteren wurde ein Interview aus dem Jahr 2014 herangezogen, das Shingo Shimada, Kuroki Kunihiro, Toyota Kenji und Fukuzaki Haru ebenfalls mit derselben Wohnbereichsleiterin und dem Leiter der Diakonie in Oberkassel zur Organisation der Sterbebegleitung geführt haben. Die Informationen zur Ausbildung ehrenamtlicher Helfer/innen in der Sterbebegleitung wurden einem Interview entnommen, das Ludgera Lewerich, Fukuzaki Haru und Matsuo Yayoi 2014 mit der zuständigen Ausbildungsleiterin und dem Leiter der Diakonie Oberkassel geführt haben.

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lich beteiligt, auf deren Schilderungen die nachfolgenden Darstellungen hauptsächlich beruhen. Bei jedem Einzug in die Pflegeeinrichtung wird den Bewohnerinnen und Bewohnern und ihren Angehörigen vermittelt, dass sich die Einrichtung als letzter Wohnort im Leben der Neuankömmlinge versteht. Durch diesen Hinweis wird das Signal gesetzt, dass im Dorothee-SölleHaus offen mit der Thematik Sterben und Tod umgegangen wird. In der ersten Phase des Einzugs findet die »Bezugspflege« statt. Die Mitarbeiterinnen bemühen sich zu erfahren, was für ein Leben die neue Bewohnerin bzw. der neue Bewohner vor ihrem/seinem Einzug geführt hat. Es werden Informationen über die Biografie, den Lebensalltag oder Hobbys und Vorlieben gesammelt. Wenn die Bewohner/innen selbst nichts mehr über ihr Leben erzählen können, werden Gespräche mit den Angehörigen und Freunden geführt. Sobald sich die Bewohner/innen eingelebt haben, führt das Pflegepersonal mit ihnen und ihren Angehörigen erste Gespräche über die Sterbephase und ihre individuellen Wünsche. Dabei wird ein Fragebogen verwendet, der von der Diakonie-Arbeitsgruppe »Kultur des Sterbens« entwickelt wurde. Die Mitarbeiterinnen gehen gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern und ihren Angehörigen den Fragebogen durch. Zunächst wird über die persönlichen Erfahrungen mit dem Tod gesprochen und die Wünsche und Vorstellungen zur eigenen Sterbephase erfragt. Einen wichtigen Themenbereich stellt das körperliche Wohlempfinden dar. Dazu gehören Fragen wie die Häufigkeit, mit der die Bewohner/innen gewaschen werden möchten, oder ob nur noch eine Mundpflege gewünscht wird. Zudem wird der Umgang mit Schmerzen besprochen, sowie welche medizinischen Maßnahmen gewünscht werden, und ob oder unter welchen Umständen die Bewohner/innen noch einmal ins Krankenhaus möchten. In diesem Rahmen werden auch Patientenverfügungen und Vorsorge- oder Betreuungsvollmachten thematisiert. Des Weiteren werden ganz konkrete Fragen behandelt wie die Gestaltung des Zimmers, eventuelle Musikwünsche in der Sterbephase, ob eine Kerze aufgestellt werden soll, ob eine seelsorgerische Begleitung gewünscht wird oder welche Kleidung die Bewohner/innen bei der Einsargung tragen möchten. Nicht nur die Wünsche zur eigenen Sterbephase sind Thema des Palliativgesprächs, sondern auch Vorstellungen dazu, wie mit den Bewohnerinnen und Bewohnern nach dem Eintreten des Todes umgegangen

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werden soll. Dazu gehören Fragen, ob eine rituelle Waschung durch das Pflegepersonal und die Angehörigen gewünscht wird oder eine letzte Salbung, und ob die Tisch- oder Zimmernachbarn sich am Totenbett verabschieden dürfen. Nach der Beerdigung, an der nach Möglichkeit eine der Mitarbeiterinnen teilnimmt, bietet die Pflegeeinrichtung eine eigene kleine Gedenkfeier an, die nur in seltenen Fällen von den Bewohnerinnen und Bewohnern abgelehnt wird. Durch die Gespräche wird von der Pflegeinrichtung ein Rahmen geschaffen, in dem sich die Bewohnerinnen und Bewohner und ihre Angehörigen mit dem Tod auseinandersetzen können. Für die Angehörigen kann dieses Gespräch ein Anlass sein, Vorkehrungen zu treffen und sich auf den Abschied vorzubereiten. Des Weiteren spielt die Aufklärung der Angehörigen über die körperlichen Symptome in der Sterbephase eine wichtige Rolle. Aus der Erfahrung heraus, dass es für viele Angehörige schwer zu ertragen ist, wenn die Atmung der/des Sterbenden schwer klingt, stellt die Wohnbereichsleiterin ihnen einen kurzen Informationsfilm zur Verfügung, in dem die physiologischen Vorgänge erklärt werden. Bei Bewohnerinnen und Bewohnern, die zum Zeitpunkt ihres Einzuges an Demenz erkrankt sind und sich nicht mehr zu ihren eigenen Wünschen äußern können, findet das Gespräch mit den Angehörigen statt. Nach Möglichkeit wird der mutmaßliche Wille der Bewohnerin bzw. des Bewohners schriftlich festgehalten und von mehreren Angehörigen oder Freundinnen und Freunden durch ihre Unterschrift bestätigt.

Individuelle Wünsche respektieren: der »Runde Tisch« Ebenso wie im Yoriai und bei der Midori AG wird von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Dorothee-Sölle-Hauses die Appetitabnahme und Nahrungsverweigerung als eines der ersten Zeichen für das Einsetzen der konkreten Sterbephase gedeutet. Demenziell erkrankte Bewohnerinnen und Bewohner, die sich nicht mehr verbal äußern können, schieben häufig das Essen weg, wenden den Kopf ab, verschließen den Mund oder schieben das Essen mit der Zunge wieder hinaus. Verweigert jemand die täglichen Mahlzeiten, werde zunächst versucht, mit anderen Nahrungsmitteln und unter Rückgriff auf die Informationen zu Lieblingsspeisen den Appetit anzuregen. Ist die Bewohnerin bzw. der Bewohner jedoch weiterhin nicht zum Essen zu bewegen, wird die Ver-

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weigerung der Mahlzeiten von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dokumentiert und mit den Angehörigen und dem Hausarzt besprochen. Als institutionellen Rahmen für Entscheidungen, die signifikant für das Wohlbefinden und die Lebensdauer der Bewohnerin bzw. des Bewohners sind oder ethische Fragen aufwerfen, hat die Pflegeeinrichtung den sogenannten »Runden Tisch« eingeführt. Dort kommen die Angehörigen, der Hausarzt, Mitarbeiter/innen, der soziale Dienst, eventuell Therapeuten wie Logopäden oder Ergotherapeuten, ein Seelsorger und die Bewohnerin/der Bewohner zusammen, wenn sie bzw. er äußerungsfähig ist, um über das bestmögliche Vorgehen zu beraten. Der »Runde Tisch« wird einberufen, wenn Bewohner/innen den Wunsch äußern zu sterben, nicht mehr essen möchten und die Medikamente absetzen wollen, der behandelnde Arzt eine Behandlung vorschlägt, die durch die Bewohner/ innen und/oder die Angehörigen abgelehnt werden, oder wenn die Bewohner/innen eine Behandlung wünschen, die von den Angehörigen abgelehnt wird. Der »Runde Tisch« ist somit einerseits ein Instrument, um den Willen der Bewohnerin bzw. des Bewohners zu stärken. Auf der anderen Seite kann er als eine Art Absicherung für die Pflegenden verstanden werden. Insbesondere wenn es darum geht, jemanden sterben zu lassen, kann der Respekt vor dem Willen der Bewohnerin/des Bewohners mit den Pflichten des Pflegepersonals in Konflikt geraten. Denn die Pflegenden sind verpflichtet, auf eine bestimmte Menge an Kalorien- und Flüssigkeitszufuhr sowie auf die Einnahme der Medikamente zu achten. Über die schriftliche Dokumentation der Pflege wird diese Pflicht von der Heimaufsicht überwacht. Es geht bei der Einberufung des »Runden Tisches« demnach auch darum, die Pflegenden von ihrer institutionellen Verpflichtung zu entbinden und sie abzusichern. Bei besonders konfliktreichen Fällen besteht zudem die Möglichkeit, sich auf einer übergeordneten Ebene an das Ethikkomitee der Diakonie zu wenden. Dort wird auf der Ebene des Wohlfahrtsträgers gegebenenfalls unter Rückgriff auf juristische Beratung über heikle Fälle aus allen Bereichen der diakonischen Einrichtungen entschieden.

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Die Sterbephase Laut der Wohnbereichsleiterin verläuft der Sterbeprozess individuell sehr unterschiedlich, manchmal gehe es sehr schnell, in anderen Fällen erstrecke sich die Sterbephase jedoch über Tage oder Wochen. Neben dem abnehmenden Appetit gibt es noch weitere Zeichen, die von den Pflegenden als einsetzende Sterbephase gedeutet werden: dass die Bewohner/innen nicht mehr im Speiseraum sitzen, ihr Zimmer und das Bett nicht mehr verlassen wollen oder an eine bestimmte Stelle unter der Decke schauen und sich langsam in ihre eigene Welt einfinden. Obwohl es ein Anliegen der Einrichtung ist, dass die Bewohner/innen nicht im Krankenhaus versterben, komme dies jedoch immer wieder vor. Beispielsweise wenn jemand stürzt, aufgrund einer Oberschenkelhalsfraktur operiert wird und dann nach dem Eingriff im Krankenhaus verstirbt. Es komme überdies vor, dass die Nachtwache den Notarzt verständigt, wenn sie bei den nächtlichen Rundgängen jemanden schwer atmen hört. Für die Nachtwache sei die Situation manchmal schwer einzuschätzen und sie müsse handeln, wenn sie etwas Ungewöhnliches beobachtet. Während der Sterbephase versuchen die Pflegenden so häufig wie möglich Zeit zu finden, um am Bett der sterbenden Bewohnerin bzw. des sterbenden Bewohners zu sitzen. Wenn sich der nahende Tod durch eine schwerer werdende Atmung ankündigt, werden die Angehörigen angerufen. Sobald jemand verstorben ist, müsse der Tod durch einen Arzt bestätigt werden. Im Dorothee-Sölle-Haus wird der Hausarzt der Bewohnerin/ des Bewohners noch am selben Tag an das Sterbebett gerufen und stellt den Totenschein aus. Routinemäßig wird der Körper der/des Verstorbenen kontrolliert, um einen Tod durch Fremdeinwirkung auszuschließen. Diese Kontrollen seien aufgrund von Vorfällen in Deutschland über die Jahre verschärft worden. Erst nach der ärztlichen Untersuchung darf der Körper der/des Verstorbenen gereinigt werden. Im Fall von Feuerbestattungen werde der Leichnam zusätzlich noch einmal im Bestattungsinstitut einer ärztlichen Untersuchung unterzogen. Die »Reinigung des Körpers« wird unterschieden von der »letzten Waschung«. Bei der Reinigung gehe es darum, die Ausscheidungen, die der Körper im Sterbeprozess absondert, zu beseitigen. Die letzte Waschung hingegen ist ein Ritual, das der Wohnbereichsleiterin sehr am Herzen liegt. Im Idealfall wasche das Pflegepersonal zusammen mit den Angehörigen den Verstorbenen und nehme dabei Abschied.

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Fallbeispiel: »Rituelle Waschung« Interview zur Praxis der Sterbebegleitung mit der Wohnbereichsleiterin Für die Wohnbereichsleiterin ist eines ihrer schönsten Erlebnisse das Abschiednehmen von einer Bewohnerin mit einer Alzheimer-Demenz gewesen, die erst in den Wohnungen auf dem Gelände der Diakonie gewohnt hatte und dann später in eine der Wohngruppen umgezogen war. Diese Bewohnerin verstarb, als die Wohnbereichsleiterin schon Feierabend hatte. Sie wurde telefonisch verständigt und fuhr zurück in die Einrichtung. Als sie um 23 Uhr das Zimmer der verstorbenen Bewohnerin betrat, saßen schon die Tochter mit ihrem Mann und alle drei Enkeltöchter mit ihren Partnern dort. Sie tranken Kaffee bei Kerzenschein und hörten Musik aus der Zeit der Verstorbenen. Zusammen mit der Tochter und den Enkeltöchtern wusch die Wohnbereichsleiterin die Verstorbene. Anschließend cremten sie die Verstorbene ein. Jeder machte etwas und sie erzählten sich Anekdoten aus dem Leben der Verstorbenen, lachten und weinten. Auch bei der Wohnbereichsleiterin flossen Tränen, da die Pflegekräfte, wie sie sagt, eine Beziehung zu den Bewohnerinnen und Bewohnern aufbauen. Während sie die Verstorbene wuschen, sprachen sie mit ihr als sei sie noch zugegen und erklärten ihr, was sie als nächstes mit ihr tun würden. Die Wohnbereichsleiterin erklärt hierzu, dass die Verstorbene für sie und die Familie in dieser Situation noch anwesend war. Erst durch das Ritual der Waschung wurde die Bewohnerin verabschiedet. Nach dem Waschen und Eincremen zogen sie ihr Kleider an, welche die Verstorbene speziell für diesen Anlass vorher ausgesucht hatte. Anschließend, als sie mit allem fertig waren, öffneten sie das Fenster, damit die Seele den Raum verlassen konnte.

Für die Wohnbereichsleiterin stellt die letzte Waschung ein wichtiges Ritual der Sterbebegleitung dar, um die Verstorbenen zu verabschieden. Es komme jedoch vor, dass die Bewohner/innen keine letzte Waschung wünschen oder dass die Angehörigen Berührungsängste haben und draußen warten, bis die Pflegekräfte die Waschung beendet haben. Nach der letzten Waschung haben die anderen Bewohner/innen die Möglichkeit, sich am Totenbett zu verabschieden. Anschließend kommt das Bestattungsunternehmen und sargt die Verstorbene bzw. den Verstorbenen im Beisein einer Mitarbeiterin ein.

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Besonders wichtig ist der Wohnbereichsleiterin, dass die/der Verstorbene im Sarg die Einrichtung durch die Vordertür verlässt. Zur Begründung verweist sie auf Erfahrungen, die sie in anderen Einrichtungen gemacht hat. Als sie während ihrer Ausbildung im Krankenhaus tätig war, sei es vorgekommen, dass Patientinnen und Patienten zum Sterben in ihrem Bett ins Badezimmer geschoben wurden, damit die anderen Patientinnen und Patienten den Tod der Bettnachbarin bzw. des Bettnachbarn nicht mitterleben mussten. Die/Der Verstorbene habe die ganze Nacht im Bad gelegen, bis sie/er morgens in den Leichenkeller gebracht wurde. In einer anderen Einrichtung, in der sie zuvor gearbeitet hat, wurden die Verstorbenen im Keller in einem Glassarg aufgebahrt, bis das Bestattungsunternehmen den Sarg durch den Hinterausgang abholte. Die Angehörigen hätten in den kalten Keller gemusst, um sich zu verabschieden, das habe sie als gruselig empfunden. Durch die Bedeutung, die dem Verlassen der/des Verstorbenen durch die Vordertür der Einrichtung beigemessen wird, zeigt sich erneut der offene Umgang mit dem Tod und die Einstellung, dass der Tod zum Leben dazugehört. Jedoch gab es zu Beginn Beschwerden durch Nutzer/ innen des Tages-Services und von Bewohnerinnen und Bewohnern aus den Wohngruppen, die sich durch den Anblick des Sarges gestört fühlten, wenn sie im Wohnbereich oder der Eingangshalle beisammensaßen. Aus Rücksichtnahme wurde letztendlich ausgehandelt, dass die Verstorbenen immer erst nach 19 Uhr vom Bestattungsunternehmen abgeholt werden. Der letzte wichtige Bestandteil der Sterbebegleitung ist die Gedenkfeier für die Verstorbene bzw. den Verstorbenen. Wenn die Beerdigung vorüber ist, werden die Bewohner/innen sowie die Angehörigen und Pflegenden durch einen Aushang im Wohnbereich zu einer internen Gedenkfeier eingeladen, die in der Regel mittwochs um 15 Uhr stattfindet. Die Wohnbereichsleiterin suche ein Gedicht oder eine kurze Geschichte zur Einleitung der feierlichen Verabschiedung aus. Anhand von drei Symbolen, die auf einem Tisch bereitliegen, thematisiere sie das Leben der/des Verstorbenen. Ein weißer Stein steht für das Schwere und eine Rose für das Schöne im Leben und zusammen mit den Angehörigen lasse sie anhand dieser beiden Symbole noch einmal die wichtigsten Stationen im Leben der/des Verstorbenen Revue passieren. Das dritte Symbol, eine brennende Kerze, steht für die letzten Wünsche, die alle der/dem Verstorbenen mit auf den Weg geben. Danach wird gesungen und gebetet

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und ein Pastor spricht den Segen. Zum Abschluss wird zusammen Kaffee getrunken.

Die Bedeutung von persönlichem Engagement und Ehrenamt für die Etablierung der Sterbebegleitung Sterbebegleitung für die Bewohner/innen zu leisten, war ein Anliegen der Einrichtungsleitung, jedoch spielt auch im Dorothee-Sölle-Haus das persönliche Engagement des Pflegepersonals bei der Sterbebegleitung eine bedeutende Rolle. Sowohl bei der Einführung als auch bei der Umsetzung bestimmter Praktiken im Umgang mit Sterbenden war vor allem der persönliche Einsatz der Wohnbereichsleiterin bedeutsam. Aufgrund ihrer eigenen positiven Erfahrungen bei der Sterbebegleitung einer Angehörigen war es ihr ein persönliches Anliegen, in ihrer Arbeit den Menschen einen begleiteten und guten Tod zu ermöglichen. Auch als sie noch im ambulanten Pflegedienst arbeitete, nahm sie sich nach Feierabend Zeit, die sterbenden Klientinnen und Klienten aufzusuchen. Zu dieser Zeit führte sie schon die für sie bedeutsame letzte Waschung als Ritual zum Abschiednehmen ein. Als Wohnbereichsleiterin hatte sie sodann die Möglichkeit, eine von der Diakonie unterstützte Weiterbildung zur Palliativpflege zu machen und ein Konzept zur Sterbebegleitung für die gesamte Einrichtung zu erarbeiten. Da die Sterbebegleitung zeitintensiv ist und nicht zu den Leistungen gehört, die über die Pflegeversicherung abgerechnet werden können, wird die Begleitung der Sterbenden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jedoch hauptsächlich außerhalb ihrer regulären Arbeitszeit geleistet. Durch die Einführung einer Ausbildung zum/zur ehrenamtlichen Sterbebegleiter/in durch die Diakonie 2014 werden die Mitarbeiter/innen zudem von ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen und Bürgern unterstützt.

Die Vor- und Nachteile einer standardisierten Sterbebegleitung Wie die eingangs erwähnten Zahlen zum Sterbeort zeigen, ist in Deutschland der Tod in einer Pflegeeinrichtung mehr oder weniger selbstverständlich geworden, während in Japan zwar eine Nachfrage nach Sterbebegleitung in Pflegeheimen besteht und die Zahl der Tode in Alteneinrichtungen

4.6 Herausforderungen der Sterbebegleitung

leicht zugenommen hat, der Tod im Pflegeheim jedoch immer noch eher die Ausnahme ist. Dies zeigt sich auch im Grad der Institutionalisierung und Standardisierung in den betrachteten Fallbeispielen. Im Unterschied zum Yoriai bietet die Diakonie als etablierter Wohlfahrtsträger einen institutionellen Rahmen zur Standardisierung und Absicherung der Sterbebegleitung. Am Beispiel des Dorothee-Sölle-Haus wird deutlich, wie durch ein ausgearbeitetes Konzept zur Sterbebegleitung eindeutige Strukturen und klare Standards eingeführt wurden. Des Weiteren gibt es auf einer übergeordneten Ebene Fortbildungsprogramme zur Palliativpflege, für welche die Mitarbeiterinnen im Rahmen ihrer Tätigkeit von der Einrichtungsleitung freigestellt werden können. Auch hat die Diakonie ein eigenes Programm zur Ausbildung von ehrenamtlichen Sterbebegleiterinnen und -begleitern etabliert. Durch die Einführung von Standards in der Sterbebegleitung soll Qualität gewährleistet, Missbrauch vermieden und eine Absicherung geschaffen werden. Im Vergleich zum Fallbeispiel der Midori AG kann hier eine noch stärkere institutionelle Professionalisierung festgestellt werden, die sich unter anderem in der Einberufung des »Runden Tisch« und der Teilnahme von unterschiedlichen Expertinnen und Experten zeigt. Während bei der Midori AG die regelmäßigen Gespräche mehr auf einer informellen Ebene zur Beruhigung der Sorgen und Unsicherheiten der Mitarbeiterinnen führen, findet bei der Diakonie durch den »Runden Tisch«, den Einrichtungsleiter und gegebenenfalls durch den Wohlfahrtsträger und rechtliche Berater/innen eine Absicherung der Pflegekräfte statt. Die Standardisierung birgt jedoch die Gefahr, dass die Individualität der Bewohner/innen durch den festen Ablauf nicht genügend berücksichtigt wird. Dem wird versucht mit dem Leitsatz, individuelle Wünsche zu achten und zu respektieren, entgegenzuwirken. Der »Runde Tisch« kann als eine neue Institution gesehen werden, um die Wünsche der Bewohner/innen besser umzusetzen, wenn sie mit den Pflegerichtlinien oder Behandlungsvorschlägen der Ärzte und Wünschen der Angehörigen in Konflikt geraten. Der Fragebogen zur Sterbephase ist ebenfalls ein Instrument, um den Bewohnerinnen und Bewohnern den Ausdruck von Individualität zu ermöglichen. Im Vergleich zur Praxis im Yoriai wird deutlich, dass die Wünsche und der Wille schon im Vorhinein so gut wie möglich explizit gemacht werden, während im Yoriai (schriftliche) Willensbekundungen im Voraus keine Bedeutung für die Sterbebegleitung haben. Die in der Interaktion implizit geäußerten Wünsche und

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Bedürfnisse der Nutzer/innen werden im Yoriai durch die Pflegenden situativ erfasst. Ebenso ist bei der Midori AG und im Dorothee-SölleHaus davon die Rede, dass bei demenziell erkrankten Bewohnerinnen und Bewohnern, die sich selbst nicht mehr verbal äußern können, das Verhalten und die körperlichen Zeichen Gegenstand der Interpretation sind, um in der gegenwärtigen Situation die Wünsche der Bewohnerin bzw. des Bewohners zu ermitteln und zu berücksichtigen. Ein entscheidender Unterschied liegt jedoch darin, dass im Yoriai staatliche Pflegegrundsätze oder die Zusammenarbeit mit Ärzten eine untergeordnete Bedeutung haben. Dadurch entsteht zum einen der Eindruck eines niedrigeren Grades der institutionellen Professionalisierung der Pflege und Sterbebegleitung und zum anderen erweckt es den Anschein, dass die Pflegenden und Nutzer/innen eine sehr enge persönliche, fast familiäre Beziehung zueinander auf bauen. Dadurch verschwimmen im Yoriai die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem, was unter Umständen zu einer erhöhten psychischen Belastung der Pflegekräfte führen kann. Andererseits entsteht dadurch eine Freiheit im Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern und in der Gestaltung des Alltags, die es erlaubt, dass beispielsweise mit den Bewohnerinnen und Bewohnern eine Reise in die alte Heimat unternommen werden kann. Des Weiteren ist eine enge Beziehung und ein ausgeprägtes Vertrauensverhältnis zwischen Pflegenden und den Familien notwendig, da es keinerlei institutionelle Absicherung für die Pflegeentscheidungen der Mitarbeiter/innen einerseits und auch keine Standards zur Qualitätssicherung der Pflege gibt. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass die Mitarbeiter/innen der Diakonie durch den standardisierten Ablauf den Bewohnerinnen und Bewohnern und ihren Angehörigen einen Rahmen vorgeben, der von ihnen individuell ausgestaltet werden kann. Dies bietet einerseits eine Orientierungshilfe und Unterstützung der Familien, kann unter Umständen jedoch, wenn sich jemand nicht mit der Sterbephase auseinandersetzen möchte, als Zwang oder Belastung empfunden werden. Durch die Schilderungen des Ablaufs in der konkreten Sterbephase wird in der Diakonie ebenfalls deutlich, dass hier die Pflegenden den Umgang mit der/dem Sterbenden und später der/dem Verstorbenen anleiten, während im Yoriai die Angehörigen und die/der Sterbende im Vordergrund stehen und sich die Pflegenden fast beobachtend im Hintergrund halten. Allen drei Fallbeispielen ist gemein, dass eine gute Sterbebegleitung nicht ohne ehrenamtliches Engagement möglich wäre, sei es auf Seiten

4.6 Herausforderungen der Sterbebegleitung

der Mitarbeiter/innen oder speziell ausgebildeter ehrenamtlicher Sterbebegleiter/innen, da die Begleitung von Sterbenden zeitintensiv ist und nicht zu den Leistungen der Pflegeversicherung zählt. Dies gilt nicht nur für die Sterbebegleitung von demenziell erkrankten Menschen.

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5 Theoretische Reflexionen Konzeptionen des Selbst und ihre Bedeutung für unser Verständnis von Selbstbestimmung bei Menschen mit Demenz Celia Spoden, Shingo Shimada

Die Fallbeispiele im letzten Kapitel zeigen, welche Konsequenzen das Phänomen Demenz für Betroffene, Angehörige und professionell Pflegende mit sich bringt. Die Schilderungen verweisen darauf, dass hinter verschiedenen Umgangsweisen mit dementen und dement werdenden Personen unterschiedliche Konzeptionen des individuellen Selbst wirksam sind. Die normativen Erwartungen, die an das Individuum gestellt werden, sind beispielsweise abhängig von dem Stellenwert der Autonomie, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit für das Konzept des Selbst beigemessen wird. Verschiedene Selbstkonzeptionen beeinflussen in diesem Sinn die Vorstellungen davon, worin der Bedarf an Unterstützung für demente Menschen gesehen wird oder in welchem Rahmen ihnen noch Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit zugeschrieben werden. Da die Formen des sozialen Miteinanders in einer Gemeinschaft von den gegenseitigen Erwartungen – wie die anderen Gemeinschaftsmitglieder handeln und sich verhalten – beeinflusst sind, prägt das Konzept des Selbst auch das Verständnis davon, was »lokale Gemeinschaft« bedeutet. Daher ist die Bildung einer lokalen Gemeinschaft, in der demente Personen sorglos leben können, nicht getrennt vom Konzept des individuellen Selbst zu denken. Aus diesem Grund stellt das Konzept des Selbst auch die grundlegende Voraussetzung für das Konzept der lokalen Fürsorge dar. Dies sind die Hintergründe, vor denen wir in diesem Kapitel auf verschiedene Selbstkonzeptionen sowie das Verhältnis von Selbstkonzeption,

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sozialer Rolle und Selbstbestimmung eingehen. Nach der Betrachtung der konkreten Fallbeispiele im letzten Kapitel geht es hier darum, die Ergebnisse der Analyse auf eine abstraktere Ebene zu heben. In diesem Rahmen spielt die Frage eine zentrale Rolle, wie das Konzept des individuellen Selbst konzipiert werden müsste, um ein soziales Miteinander zu ermöglichen, das demente und dement werdende Personen einschließt. Wir gehen in diesem Kontext zunächst auf verschiedene Selbstkonzeptionen sowie das Verhältnis von Selbstkonzeptionen und sozialer Rolle ein. Im daran anschließenden Unterkapitel wenden wir uns der bioethischen Diskussion zu Patientenverfügungen zu, in der am Beispiel von Demenz und Alzheimer grundlegende Annahmen zum Konzept der Identität und des Personenstatus diskutiert werden. Wir beschäftigen uns hier insbesondere mit dominanten Positionen, welche die wesentlichen Merkmale der Identität oder des Personenstatus in der rationalen Fähigkeit des Menschen begründet sehen und verdeutlichen, welche schwerwiegenden Konsequenzen es für die Bildung einer Gemeinschaft mit sich bringt, wenn einem dementen Menschen der Personenstatus abgesprochen wird. Schließlich thematisieren wir im letzten Unterkapitel das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge und erläutern die Schwierigkeiten und Möglichkeiten, die beide Konzepte mit sich bringen.

5.1 K onzep te des S elbst und die B edeutung sozialer R ollen In der Einrichtung Yoriai konnten wir immer wieder beobachten, wie die Pflegekräfte die Kommunikation mit den dementen Nutzerinnen und Nutzern aufnehmen und aufrechthalten. Es war in der Regel ein sprachliches Rollenspiel, durch das den dementen Personen eine für sie klar verständliche soziale Rolle zugewiesen wurde. Das japanische Sprachsystem bietet die Möglichkeit, die Pflegebedürftigen ihre über den Lebenslauf hinweg erworbenen Rollen weiter spielen zu lassen, wie wir in der dichten Beschreibung im Kapitel 4.1 bereits gesehen haben. Ob Frau Takahashi, die frühere Hotelbesitzerin, die auch heute noch mit dem Titel »Präsidentin« (kaichō) angesprochen wird, oder Herr Nakamura, der ehemalige Lehrer, der von den Pflegekräften »Herr Lehrer« (sensei) genannt wird –

5 Theoretische Reflexionen

ihnen allen wird eine bestimmte Rolle zugeschrieben, die das (frühere) Selbstverständnis der dementen Personen widerspiegelt.1 Ab einem gewissen Stadium der Demenz können die erkrankten Menschen die vielfältigen Rollenspiele des Alltags von sich aus nicht mehr spielen, da sie ihre Kommunikationspartner/innen nicht mehr erkennen oder verunsichert sind, in welcher Relation sie zu dem für sie unbekannt erscheinenden Menschen stehen. Den Beobachtungen im Yoriai zufolge behalten viele Nutzer/innen jedoch durchaus ihr Rollenverständnis, selbst wenn sie ihre Angehörigen nicht mehr erkennen können. Die Pfleger/innen nutzen die biografischen Kenntnisse über das Leben der zu pflegenden Personen und spielen das Rollenspiel, mit dem diese Personen vertraut sind. Die Anrede mit einem für diese Person vertrauten Titel hat eine offensichtlich beruhigende Wirkung, auch weil sich diese Person von der sozialen Umgebung anerkannt fühlen kann. Diese Tatsache verweist auf die Wichtigkeit des Rollenspiels im Umgang mit dementen Menschen, wobei die Frage, ob ein Rollenspiel in bestimmten kommunikativen Zusammenhängen den Tatsachen entspricht oder nicht, keine Relevanz besitzt. Es ist sehr wichtig zu verstehen, in welchen sozialen Zusammenhängen sich die demente Person aus ihrer Perspektive befindet. Im Grunde haben wir es mit einer Herausforderung des Fremdverstehens zu tun, womit sich das interpretative Paradigma in der Soziologie und Kulturanthropologie lange beschäftigt hat. Es ist daher zu erwarten, dass man die theoretischen und methodologischen Konzepte dieser sozialwissenschaftlichen Richtung für die Pflegepraxis von dementen Personen operationalisieren kann. Denn in einer Kommunikationssituation mit einer dementen Person stehen wir vor einer mehr oder weniger fremden oder fremd werdenden Wirklichkeit. Wir können diese Wirklichkeit »nicht durch Introspektion, sondern lediglich in kommunikativer Interaktion erfassen« (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973: 433). Aufgrund unserer Kenntnisse der Kommunikationsregeln der Alltagswirklichkeit versuchen wir die demente Person zu verstehen. Hierbei ist es nicht vordergründig wichtig, ob wir diese Person wirklich verstanden haben. Entscheidend ist aber, dass sich die Ebene des praktischen Handelns durch diese Kommunikation fortsetzt und diese Person das Gefühl erhält, in die Kommunikationssituation eingebunden zu sein und als Kommuni1 | Zum System der Anredeformen und Selbstbezeichnung im Japanischen vgl. Kasai 2002.

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kationspartner/in anerkannt zu werden. Dies beruhigt diese Person und verschafft ihr eine bestimmte Sicherheit, weil sie in das kommunikative Netzwerk eingebettet wird. Im Unterschied zu unseren Beobachtungen im Yoriai ist in den öffentlichen Diskussionen häufig von Demenz als einer tiefgreifenden Tragödie für alle Beteiligten und einem Verlust des Selbst oder der Persönlichkeit in Bezug auf die Erkrankte bzw. den Erkrankten die Rede. Die Angst vor einem Verlust des Selbst durch Demenz beruht auf dem Selbstbild eines autonomen, aktiv handelnden und rationalen Subjektes. Dement zu werden bedeutet einen Verlust eben dieser rationalen Fähigkeiten und auch der Fähigkeit, die von der sozialen Umwelt erwarteten Rollen zu spielen. In diesem Verständnis ist auch aus der Perspektive Dritter von einem Verlust der Persönlichkeit die Rede, was sich in Aussagen wie »Mein Vater ist nicht mehr derselbe« äußert. Auch in unseren Fallbeispielen wurde deutlich, dass vor allem der Beginn der Demenz-Erkrankung als krisenhaft wahrgenommen wird. Für das familiäre Umfeld stellt der Umgang mit dementen Angehörigen eine große Herausforderung dar, wenn diese ihre Erinnerungen an die letzten Lebensjahrzehnte verlieren und wieder in Rollen aus jüngeren Jahren, der Jugend oder Kindheit schlüpfen und in der Vergangenheit zu leben scheinen. Die alten Rollenspiele zwischen Eltern und Kindern oder Partnern geraten ins Wanken, wenn der eine Part seine Rolle nicht mehr so ausfüllen kann wie bisher, Dinge vergisst, zunehmend orientierungslos oder gar aggressiv wird und nach und nach den eigenen Alltag nicht mehr bestreiten kann (siehe Kap. 4.4 »Die Perspektive der Familie«). Die innerfamiliären Rollen müssen neu ausgehandelt werden. Hierbei ist die Gefahr familiärer Konflikte groß, da innerfamiliäre Rollenerwartungen stark festgelegt und emotional sehr aufgeladen sind. Insbesondere in frühen Stadien der Demenz erleben die Erkrankten bewusst, dass sie immer mehr auf die Unterstützung anderer angewiesen sind und die an sie gestellten Rollenerwartungen nicht mehr erfüllen können. Je mehr ihr Selbstverständnis bisher auf der eigenen Unabhängigkeit beruht hat, desto stärker wird diese Phase als substanzieller Verlust der eigenen Persönlichkeit und Selbstwirksamkeit empfunden. Die Verlusterfahrungen verstärken sich für die erkrankten Menschen dramatisch, wenn sie zudem die eigenen Kinder oder die Partnerin bzw. den Partner nicht mehr erkennen.

5 Theoretische Reflexionen

Wie lässt sich dieser Unterschied – dass im Yoriai die Nutzer/innen scheinbar ihr Rollenverständnis beibehalten können, während Demenz im öffentlichen Diskurs häufig als ein Verlust des Selbst oder der Persönlichkeit verstanden wird – erklären? Zum einen liegt der Unterschied darin begründet, dass es sich bei der Einrichtung Yoriai um ein professionelles Umfeld handelt und die Pflegekräfte nicht wie die Angehörigen in einer emotional besetzten Rolle zu den dementen Menschen stehen, wenn diese beginnen die Einrichtung zu besuchen. Die Pflegekräfte können relativ unbefangen ein neues Verhältnis zu den Nutzerinnen und Nutzern auf bauen und sie erleben die Veränderungen des erkrankten Menschen nicht als persönlichen Verlust wie die Angehörigen, die die Partnerin/den Partner oder einen Elternteil verlieren mit dem sie Erinnerungen und Alltagsroutinen geteilt haben. Andererseits liegen diesen unterschiedlichen Umgangsweisen verschiedene Konzeptionen des Selbst zugrunde, die sich auch in der psychologischen und soziologischen Diskussion wiederfinden lassen. Eine Strömung, die identitätstheoretisch-substantivistische Position, geht von einer endogenen Entwicklung des Selbst aus und konzipiert es als eine mehr oder weniger statische Identität. Das zur Reife entwickelte Selbst ist nach diesem Verständnis rational handelnd, selbstständig und aktiv. Diese Strömung kann man wohl auf die Arbeiten von Sigmund Freud und Erik H. Erikson zurückführen. Die andere Strömung – die sich unseren Beobachtungen zufolge häufig im Yoriai wiederfindet – konzipiert das Selbst von seinen sozialen Beziehungen her. Das Selbst ist nach dieser Vorstellung nur im Zusammenhang seiner Intersubjektivität zu anderen begreif bar. Das Selbst wird nach dieser Auffassung durch das Nachspielen von sozialen Rollen in der Kindheit erlernt und angeeignet. Die Sozialpsychologie von G.H. Mead und der daraus entwickelte symbolische Interaktionismus bilden für diese Selbstkonzeption die theoretische Grundlage. In der Weiterentwicklung dieser theoretischen Position ist das Konzept der narrativen Identitätskonstruktion aufgekommen, das die personale Identität als einen Prozess begreift, der nur durch die kommunikative Situation des Erzählens begreif bar wird (vgl. dazu Straub 1998 und 2000; zur Konzeption des Selbst in der japanischen Kultur vgl. Shimada 2006 und 2010). Dass bei der Thematisierung der Altersdemenz das relationale Konzept des Selbst einige Vorteile mit sich bringt, ist anhand des Umgangs mit den Nutzerinnen und Nutzern im Yoriai nachvollziehbar. Autoren wie William E. Deal und Peter J. Whitehouse weisen ausdrücklich da-

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rauf hin, dass mit dem eher statischen Konzept des autonomen Selbst die demenzielle Erkrankung wie erwähnt nur als subjektiver Verlust verstanden werden kann. Dahingegen ermöglicht es das relationale Konzept, die dementen Personen in ihrem situativen relationalen Kontext zu sehen und ihr Selbstverständnis kommunikativ aufrechtzuerhalten (vgl. Deal/ Whitehouse 2000). Sicherlich geht die aktive narrative Kompetenz einer Person mit dem Fortschreiten der Demenz sukzessiv verloren. Doch konnten wir in der Einrichtung Yoriai im Umgang der Pflegekräfte mit schwer dementen Personen immer wieder beobachten, wie durch Zurufe, Gebärden und Berührungen die dementen Personen in die kommunikative Situation einbezogen wurden, was auch in der Regel zu positiven Gesichtsausdrücken und entspannten Körperhaltungen der Betroffenen führte. Durch Körpersprache, Zurufe und Berührungen entsteht so ein narrativer Raum, in dem die Menschen, von denen keine narrative Kompetenz mehr erwartet werden kann, durchaus wieder eine kommunikative Rolle spielen können. Einige kultur- und sozialwissenschaftliche Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass in der japanischen Kultur dieses relationale Konzept des Selbst ausgeprägt sei, während in den westeuropäischen und nordamerikanischen Kulturen eher das statische Konzept des autonomen Selbst vorherrsche.2 Es ist sicherlich richtig, dass das autonome Selbstkonzept eine sehr dominante Rolle beim Auf bau der europäischen Gesellschaften gespielt hat. Michel Foucault zeigt in seinen zahlreichen Schriften den ideologischen Charakter dieses Konzeptes auf. Auch Alain Ehrenberg verweist auf die Schwierigkeit, mit der sich das autonom gewordene Individuum in modernen Gesellschaften auseinanderzusetzen hat: »Die Person wird nicht länger durch eine äußere Ordnung (oder die Konformität mit einem Gesetz) bewegt, sie muss sich auf ihre inneren Antriebe stützen, auf ihre geistigen Fähigkeiten zurückgreifen.« (Ehrenberg 2004: 8, Hervorhebung im Original). Diese Dominanz ist auch in philosophischen Diskussionen zur Frage der Demenz und Identität deutlich vorzufinden, worauf wir unten näher eingehen. Wir gehen jedoch davon aus, dass in einer modernen Gesellschaft – unabhängig von ihrem kulturellen Kontext – stets unterschiedliche und divergierende Konzeptionen des Selbst existieren, die einander nicht einfach dichotomisch gegenübergestellt werden können und die je nach 2 | Deal und Whitehouse gehen beispielsweise von einer solchen Dichotomie aus.

5 Theoretische Reflexionen

sozialem Kontext wiederum unterschiedlich zum Tragen kommen. Es gibt selbstverständlich kulturelle Einflüsse auf diese Selbstkonzeptionen, doch sind diese Einflüsse niemals in der Weise monokausal, dass eine Kultur A die Selbstkonzeption X hervorbringen würde. Außerdem gehen wir davon aus, dass in jeder modernen Gesellschaft heterogene Kulturen existieren, die sich nicht unter einem nationalstaatlichen Adjektiv zusammenfassen lassen. Diesem Umstand entsprechend ist das moderne Selbst stets flexibel und relativ zu den jeweiligen kommunikativen Situationen, sodass es ständig unterschiedliche soziale Rollen spielen kann und muss. In diesem Sinne ist das Konzept des Selbst in einer modernen Gesellschaft unseres Erachtens von Grund auf relational. Es scheint jedoch so zu sein, dass die normativen Ansprüche an das erwachsene Individuum, ein eigenverantwortliches, unabhängiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, in den modernen Gesellschaften dermaßen dominant sind, dass es uns schwerfällt, die eigentliche Relationalität unseres Selbstseins wahrzunehmen. In welche Aporien uns ein überwiegend statisches Selbstkonzept führen kann, ist das Thema des folgenden Unterkapitels.

5.2 S elbstbestimmung und I dentität in bioe thischen D ebat ten zu Patientenverfügungen und D emenz Die verschiedenen Konzeptionen des Selbst bilden die Grundlage für unser Verständnis von Selbstbestimmung und Identität. Selbstbestimmung und Identität wiederum sind bedeutende Konzepte in bioethischen Debatten, beispielsweise im Kontext von Patientenverfügungen. Wie bereits im Unterkapitel zur Sterbebegleitung angerissen (vgl. Kap. 4.6), wird in Patientenverfügungen eine Lösung für schwierige medizinische Entscheidungssituationen bei nicht mehr entscheidungsfähigen Individuen gesehen. Aus der Sicht von Dritten wird sie als hilfreiches Instrument zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens aufgefasst. Auf der individuellen Ebene werden Patientenverfügungen von ihren Verfasserinnen und Verfassern als Erleichterung empfunden, im Voraus Vorkehrungen treffen zu können und somit auch für den Fall einer Demenz die Kontrolle zu behalten und selbst zu bestimmen, wie sie behandelt werden wollen (zu Patientenverfügungen in Japan vgl. Spoden 2015). In der medizin- und bioethischen Debatte zu Patientenverfügungen werden jedoch verschiedene konzeptuelle Schwierigkeiten diskutiert, die Vorausverfügungen

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wie die Patientenverfügung mit sich bringen. Im Folgenden werden einige prominente Positionen der philosophischen Diskussion exemplarisch vorgestellt und vor dem Hintergrund unserer bisherigen Überlegungen reflektiert. Die Fragen, die in Bezug auf Patientenverfügungen diskutiert werden, sind: Können autonome Entscheidungen überhaupt im Voraus getroffen werden oder sind autonome Entscheidungen nur in gegenwärtigen Situationen möglich? Wenn autonome Entscheidungen im Vorhinein getroffen werden können, welche moralische Autorität haben sie, bzw. wie verbindlich sind Patientenverfügungen? Das heißt konkret, wie soll mit der Verfügung umgegangen werden, wenn es einen Konflikt zwischen den vorausverfügten Interessen und den aktualen Interessen zu geben scheint? Anknüpfend an diese letzte Frage wird vor allem das Konzept der personalen Identität diskutiert, das Patientenverfügungen zugrunde liegt. Das heißt, es wird in Frage gestellt, ob das Individuum, das eine Vorausverfügung trifft, mit dem Individuum identisch ist, für das die Verfügung wirksam werden soll. Für den Fall, dass keine personale Identität zwischen diesen beiden vorliegt – zu diesem Schluss kommen einige Autorinnen und Autoren –, wird erörtert, ob oder unter welchen Umständen die Patientenverfügung trotzdem für das spätere Individuum über medizinische Maßnahmen angewendet werden kann oder sollte. Diese Fragen werden generell in Bezug auf Patientenverfügungen diskutiert. Um die Problematiken zu verdeutlichen, greifen die Autorinnen und Autoren gerne auf Erkrankungen wie Demenz als Beispiel zurück, da sich hier die Schwierigkeiten der verschiedenen Vorannahmen, die der Patientenverfügung zugrunde liegen, besonders anschaulich illustrieren und auf die Spitze treiben lassen. Häufig wird das Szenario herangezogen, dass ein rational entscheidendes Individuum in einer Patientenverfügung festlegt, auf jegliche lebenserhaltende medizinische Behandlungen – wie zum Beispiel die Gabe von Antibiotika bei einer Lungenentzündung – zu verzichten, falls es an Demenz erkranken sollte. Als strittig wird diskutiert, ob der vorausverfügte Wille für medizinische Entscheidungen eines entscheidungsfähigen Individuums auch dann verbindlich sein kann, wenn dieser Mensch an einer Demenz erkrankt und zu einem späteren Zeitpunkt – wenn die Patientenverfügung zum Einsatz kommen könnte – keinerlei Anzeichen eines Sterbewunsches zeigt. Der Philosoph Ronald Dworkin vertritt die Position, dass der Wille des rational entscheidenden Individuums, welcher vor der Demenz in

5 Theoretische Reflexionen

einer Patientenverfügung geäußert wurde, Priorität über die situativ geäußerten Wünsche und Bedürfnisse der/des Dementen haben müsse. Entscheidungen, die ein Individuum in der Vergangenheit für die Zukunft getroffen hat, sind laut Dworkin verbindlich, es sei denn, sie werden durch neue, autonome Entscheidungen revidiert (vgl. Dworkin 1993: 227). Das Recht auf Autonomie gehe jedoch in dem Maße verloren, wie die/der Demenzkranke ihre bzw. seine Fähigkeiten verliert, einigermaßen stabile und fortdauernde Interessen zu haben und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen (vgl. Dworkin 1993: 225). Dworkin unterscheidet in erlebnis- oder erfahrungsbasierte und kritische oder grundlegende Interessen. Die Interessen des dementen Menschen sind insbesondere in fortgeschrittenen Stadien erlebnis- oder erfahrungsbasiert, es geht darum Unangenehmes zu meiden. Kritische oder grundlegende Interessen werden von Dworkin höher bewertet, da es sich hier um entscheidende Urteile, Werte und Prinzipien handelt, welche die Art und Weise bestimmen, wie wir unser Leben führen und mit denen wir unserem Leben eine kohärente Struktur verleihen. Entscheidungen, die im Voraus durch eine Patientenverfügung getroffen wurden, verfolgen eben solche grundlegenden und kritischen Interessen und sind demnach gewichtiger als situative erlebnis- oder erfahrungsbasierte Interessen (vgl. Dworkin 1986: 11). Dem Einwand, es bestehe möglicherweise keine Identität mehr zwischen der früheren Person und dem dementen Menschen, stellt Dworkin ein narratives Konzept von Identität entgegen und argumentiert dafür, dass es sich bei einem Menschen vor und mit einer demenziellen Erkrankung um ein und dieselbe Person handle, die sich in verschiedenen Lebensstadien befindet (vgl. Dworkin 1986: 6). Dworkin gibt zu bedenken, dass die Konsequenzen seiner Schlussfolgerung – dass der Wille des rational entscheidenden Individuums, welcher vor der Demenz in einer Patientenverfügung geäußert wurde, Priorität über die situativ geäußerten Wünsche und Bedürfnisse der/des Dementen haben müsse – in der Alltagswirklichkeit unmenschlich erscheinen mögen. Er erkennt somit an, dass die Befolgung der Patientenverfügung für Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und Angehörige zu Konflikten führen kann, wenn der demente Mensch keine Anzeichen eines Sterbewunsches zeigt, aber in seiner Patientenverfügung vorausverfügt hat, im Falle einer Demenz auf jegliche lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten. In einem solchen Fall können Dworkin zufolge andere Grün-

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de gefunden werden – wie beispielsweise das Prinzip der Fürsorge – jemanden, der noch Lebenswillen zeigt, trotz gegensätzlicher Patientenverfügung weiterleben zu lassen. Man sollte sich jedoch darüber im Klaren sein, dass dadurch das Recht auf Autonomie dieses Menschen verletzt werde (vgl. Dworkin 1993: 228; Dworkin 1986: 13). Da für Dworkin eine enge Verbindung zwischen Autonomie, der Integrität der Identität und der Würde des Menschen besteht (vgl. Dworkin 1993: 201-206), stellt die Missachtung der vorausverfügten Entscheidung auch einen Angriff auf die Würde des Menschen dar. Die Juristin und Bioethikerin Rebecca Dresser kommt zu einer gegenteiligen Schlussfolgerung: Die gegenwärtigen Interessen eines Menschen sind ihr zufolge immer höher zu bewerten, als vorausverfügte Entscheidungen (vgl. Dresser 1989: 163f.). Ihre Kritik setzt bei dem Konzept der personalen Identität an, das der Patientenverfügung zugrunde liegt. Sie unterscheidet zwischen einem »simple view of identity« – zu dessen Vertretern sie auch Dworkin zählt – und dem von ihr vertretenen »complex view of identity« (Dresser 1989: 158), der auf den Philosophen Derek Parfit zurückgeht. Parfit sieht – in Anschluss an das Konzept der personalen Identität bei John Locke – in einer Kette von überlappenden Erinnerungen, Intentionen, Wünschen usw. und dem Bewusstsein an frühere Stadien der eigenen Person die entscheidenden Faktoren, welche die personale Identität ausmachen. Er spricht von »Psychological connectedness« und »Psychological continuity« (Parfit 1984: 206; Hervorhebung im Original). Da gerade die Kontinuität von Erinnerungen und psychologischen Zustände bei Dementen graduell abnehmen, wird davon ausgegangen, dass diese Verbindungen über den Verlauf der Demenz zerbrechen und es zu einem Bruch der Identität kommt. Dresser ist sich der Schwierigkeiten bewusst, in der Praxis festzustellen, in welchem Grad eine psychologische Verbindung oder Kontinuität vorliegt. Nichtsdestotrotz geht sie davon aus, dass es durchaus Fälle gibt, in denen keine Verbindung und somit auch keine Identität mehr zwischen der Verfasserin bzw. dem Verfasser der Patientenverfügung und dem späteren Individuum besteht (vgl. Dresser 1989: 158). Sie beschränkt ihre Einschätzung nicht nur auf Demenz, sondern gibt zu bedenken, dass sich durch Krankheiten häufig grundlegende Werte, Einstellungen und Vorstellungen von Wohlbefinden verändern (vgl. Dresser 1989: 161). Konsequenterweise schlussfolgert sie, dass die Interessen in Vorausverfügungen immer eine geringere moralische Autorität besitzen als die gegenwärtigen Interessen.

5 Theoretische Reflexionen

Die Utilitaristin Helga Kuhse folgt der Argumentation von Dresser bis zu dem Punkt, dass sehr wahrscheinlich bei Alzheimer-Patientinnen und -Patienten im fortgeschrittenen Stadium keine Identität mehr zu der Person besteht, die sie früher einmal waren. Hier geht sie noch einen Schritt weiter als Dresser: Kuhse zufolge ist die zur Debatte stehende Frage nicht, ob eine Person, die zum Zeitpunkt t 1 eine Patientenverfügung verfasst hat, damit über das Leben einer neuen, dementen Person zum Zeitpunkt t2 entscheiden darf. Ihrer Meinung nach liegt der Fehler von Autorinnen und Autoren wie Dresser darin, davon auszugehen, wir hätten es mit einer neuen oder anderen Person zu tun. Durch die Demenz werden ihr zufolge alle Fähigkeiten zerstört, die ein Mensch erfüllen müsse, damit ihm der moralische Status einer Person zukommt. Kuhse nennt hier insbesondere die Fähigkeit, sich selbst als eine Existenz in der Zeit zu begreifen, die ein Interesse an ihrer eigenen Zukunft hat. Dass die Person zum Zeitpunkt t 1 nicht mehr mit dem Menschen zum Zeitpunkt t2 identisch ist, liege demnach darin begründet, dass wir es zum späteren Zeitpunkt mit einem Menschen ohne Personenstatus zu tun haben. Diese Schlussfolgerung hat folgenreiche Konsequenzen, da der Mensch erst durch den moralischen Status der Person bestimmte Schutzrechte habe, insbesondere laut Kuhse das Recht auf Leben.34 Die/Der Demente habe 3 | Während wir im Alltag wie auch in diesem Buch häufig den Begriff der Person deskriptiv verwenden, wird »Person« in der bioethischen Debatte in der Regel als präskriptiv-normativer Begriff verstanden. Vor allem Moraltheologen gehen zwar von einer Äquivalenz zwischen den Begriffen »Person« und »Mensch« aus, eine Großzahl der Autorinnen und Autoren dagegen vertritt die Ansicht, dass der moralische Status »Person« mit all seinen Rechten nur Menschen zukommt, die über bestimmte kognitive oder moralische Fähigkeiten verfügen, wie zum Beispiel das erwähnte Zukunftsbewusstsein sowie Rationalität und Selbstbewusstsein oder Moralität und Autonomie etc. (vgl. Birnbacher 1997: 13). 4 | Der Personenbegriff ist selbst zu einem umstrittenen Gegenstand der bioethischen Debatte geworden und Autoren wie der Philosoph Dieter Birnbacher haben vorgeschlagen, gänzlich auf den Begriff der »Person« zu verzichten, da er die Debatte eher lähme als zur Klärung wichtiger Fragen beizutragen (siehe hierzu ausführlich Birnbacher 1997). Dass diese Problematik jedoch auch in der gegenwärtigen Debatte noch an Relevanz besitzt, zeigt u.a. das Forschungsprojekt »Person, Personalität und personale Identität im Kontext demenzieller Erkrankungen« unter der Leitung des Philosophen Dieter Sturma. Hier wird eine Neukonzeption des Per-

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jedoch dieser Argumentation zufolge kein Interesse an der Fortsetzung ihrer bzw. seiner Existenz und somit auch kein Recht auf Leben. Kuhses Absicht ist es nicht, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob es moralisch gerechtfertigt ist, dass eine Person zum Zeitpunkt t 1 mittels einer Patientenverfügung über Leben und Tod eines dementen Individuums zum Zeitpunkt t2 entscheidet. Vielmehr zielt ihre Argumentation darauf ab, die Auffassung von der Heiligkeit des Lebens (sanctity of life), und dass alle Leben gleichwertig sind, in Frage zu stellen. Stimme man dieser Argumentation zu, dann sei es zumindest nicht unmittelbar moralisch falsch, einen dementen Menschen schmerzfrei sterben zu lassen, wenn er zu einem früheren Zeitpunkt, als er noch über einen Personenstatus verfügte, eine Patientenverfügung verfasst hat (Kuhse 1997: 87-89). Die skizzierten Positionen verdeutlichen, wie durch die Problemstellung »Demenz« grundlegende Annahmen darüber, was es bedeutet »Mensch« oder »Person« zu sein, in Frage gestellt werden. Es wird neu verhandelt, wer ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft mit moralischen (Schutz-)Rechten ist, wie dem grundlegenden Recht auf Leben, dem Recht auf Autonomie oder dem Recht auf Wahrung der eigenen Interessen. Wenn dementen Menschen der Personenstatus abgesprochen wird, dann hat das nicht nur fatale Folgen für die moralischen Schutzrechte der/des Dementen, sondern auch schwerwiegende Konsequenzen für das soziale Miteinander. Insbesondere an der Position von Kuhse kann nachvollzogen werden, dass Selbstkonzeptionen, welche die Relationalität des Selbst nicht berücksichtigen und nur auf rationale Fähigkeiten rekurrieren, Gefahr laufen demente oder dement werdende Menschen aus dem Kreise der Mitglieder einer Gesellschaft auszuschließen.

sonenbegriffs beabsichtigt, die nicht nur in rationalen Fähigkeiten begründet ist, sondern u.a. auch die Leiblichkeit und Emotionalität berücksichtigt und Personen sowohl als Subjekte als auch als Objekte von Selbst- und Fremdzuschreibung sowie von Anerkennung und praktischen Verpflichtungen begreift. Die Autorinnen und Autoren vertreten die Position, dass eine neue Verantwortungskultur notwendig ist. Auf der Grundlage ihres reformierten Konzepts personalen Lebens sollen normative Kriterien entwickelt werden, die nicht zu diskriminierenden oder restriktiven Konsequenzen führen, sondern einen Umgang mit dementen Menschen ermöglichen, in dem Lebensschutz, Selbstbestimmung und Fürsorge in einem angemessenen Verhältnis zueinanderstehen (vgl. Sturma/Reichardt 2014).

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Hier setzt die Kritik der Moraltheologen Eberhard Schockenhoff und Verena Wetzstein ein. Ihnen zufolge bedarf es einer neuen Ethik der Demenz, die auf einer relationalen Anthropologie basiert und das Prinzip der Fürsorge über das Prinzip der Autonomie stellt (vgl. Schockenhoff/ Wetzstein 2005: 266-267). Sie kritisieren einerseits die Übernahme des methodischen Reduktionismus der Medizin in den gesellschaftlichen Debatten zu Demenz. Dies habe zu einem anthropologischen Reduktionismus geführt, der die Rationalität und das Selbstbewusstsein des Menschen in den Vordergrund stellt und den Menschen bei einem Verlust dieser Fähigkeiten pathologisiert (vgl. Schockenhoff/Wetzstein 2005: 263). Schockenhoff und Wetzstein schlagen als Grundlage einer neuen Ethik der Demenz ein ganzheitliches Menschenbild vor, in dem Menschen in allen Lebensstadien die gleiche Würde zukommt, ja sogar durch den Verlust der kognitiven Fähigkeiten der Schutzbereich der Menschenwürde ausgedehnt werde (vgl. Schockenhoff/Wetzstein 2005: 264). Dies führen sie auf den relationalen Aspekt der Menschenwürde als interaktionellen Anerkennungsakt zurück. Der Mensch könne sein Leben nur in Relation zu anderen leben und auch Demenz müsse folglich als ein »Beziehungsgeschehen« (Schockenhoff/Wetzstein 2005: 265) interpretiert werden. Die Fokussierung der Debatte auf das kognitive Paradigma kritisieren sie als säkularisierten Leib-Seele-Dualismus. Ein ganzheitliches Menschenbild müsse jedoch die Einheit des Menschen ernst nehmen und könne den Leib nicht vernachlässigen, da der Mensch sich nur durch seinen Leib ausdrücken und anderen und der Welt begegnen könne. Ein weiterer wichtiger Aspekt sei die Bedeutung der Angehörigen für den Umgang mit dementen Personen. Durch ihre Kenntnis der Dementen, ihrer Lebensgeschichte, Vorlieben und Interessen sei es erst möglich, ihre Identität, Kontinuität und Relationalität aufrechtzuerhalten (vgl. Schockenhoff/Wetzstein 2005: 265). Aufgrund der Überlastung des Pflegesektors sei zudem damit zu rechnen, dass den Angehörigen auch zukünftig vermehrt Bedeutung in der Pflege und Betreuung zukommen werde. Da die Pflege dementer Angehöriger eine enorme psychische Belastung mit sich bringe, fordern sie Fürsorge auch auf die Pflegenden auszudehnen. Durch die Position von Schockenhoff und Wetzstein wird exemplarisch deutlich, dass in der euroamerikanischen Debatte einerseits durchaus Kritik an einem reduktionistischen Selbstkonzept geübt wird und andererseits die Relationalität sowie die Leiblichkeit des Menschen be-

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tont werden (siehe auch Hughes 2001); dies ist demnach kein Alleinstellungsmerkmal der japanischen Debatte, sondern verweist vielmehr auf die »blinden Flecken« der gegenwärtigen dominanten Demenz-Debatte.

5.3 Z um S pannungsverhältnis von S elbstbestimmung und F ürsorge Die theoretischen Reflexionen in diesem Kapitel verdeutlichen, dass zum Umgang mit dementen Personen und zum Auf bau einer demenzfreundlichen Gemeinschaft eine tiefgreifende kritische Reflexion der verbreiteten Selbstkonzeptionen notwendig ist. Das bisher häufig hochgehaltene Konzept des modernen Selbst, das heroisch aus sich heraus rational sein Leben meistert, kann sich negativ auswirken, indem es demente Personen anhand dieser normativen Vorstellung aus gesellschaftlichen Alltagssituationen ausschließt. Wird das Selbst jedoch eingebettet in einen interaktiv-relationalen Kontext gedacht, in dem es über die diversen Rollenspiele erfahrbar wird, dann eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten die soziale Integration dementer Personen aufrechtzuerhalten und zu fördern. Ähnliches gilt für Konzepte wie Autonomie oder Selbstbestimmung. Das auf einer statischen Selbstkonzeption beruhende individualistische Autonomieverständnis abstrahiert von der Relationalität des Subjekts und erweckt die Illusion, dass Entscheidungen losgelöst vom sozialen Kontext allein durch ein Individuum basierend auf rationalen Kriterien getroffen werden können. Diese Sicht auf vereinzelte rationale Subjekte hat sicherlich in kulturhistorischer Perspektive eine emanzipatorische Funktion erfüllt und einen entscheidenden Beitrag in aufklärerischen Kontexten geleistet: Ihm verdanken wir einerseits die Abwehr von (gutgemeintem) Paternalismus und Bevormundung oder Fremdbestimmung und auf der anderen Seite die Garantie von Menschenrechten. Wenn wir uns jedoch in Debatten bewegen, in denen es um Menschen geht, die nicht (mehr) über rationale Fähigkeiten verfügen, nicht (mehr) selbstverantwortlich handeln und für ihre Rechte eintreten können, dann birgt dieses Konzept der Autonomie auch die Gefahr der Diskriminierung und des sozialen Ausschlusses, wie die Debatte um das Konzept der Person im Zusammenhang mit Patientenverfügungen gezeigt hat. Hier geht es um die Herausforderung, die prinzipielle Verletzlichkeit, Abhängigkeit

5 Theoretische Reflexionen

und Relationalität des Menschen anzuerkennen ohne in paternalistische Strukturen zu verfallen. Das Konzept der Autonomie birgt demnach einerseits die positive Seite des Empowerments, aber auch die Gefahr des sozialen Ausschlusses. Ebenso beinhaltet das Konzept der Fürsorge nicht nur positive Aspekte, sondern auch die Gefahr der Fremdbestimmung, Bevormundung und des Paternalismus. Beide Konzepte erscheinen in Debatten häufig als entgegengesetzte Extreme, die miteinander in Konflikt stehen. Begreift man Demenz jedoch wie Schockenhoff und Wetzstein vorschlagen als »Beziehungsgeschehen«, dann wird deutlich, dass sowohl Fürsorge als auch Selbstbestimmung in soziale Aushandlungsprozesse eingebettet sind und in der Praxis vielmehr in graduellen Abstufungen als in Extremen verwirklicht werden. Für ein soziales Miteinander, das demente und dement werdende Menschen sowie ihre pflegenden Angehörigen miteinschließt, kann es deswegen nicht darum gehen, das eine Konzept dem anderen über- oder unterzuordnen. Vielmehr sollte es im »Beziehungsgeschehen Demenz« darum gehen, beide Konzepte in ein ausgeglichenes Verhältnis zueinander zu bringen. Auf diese Weise kann gerade das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung/Autonomie und Fürsorge zu einer gegenseitigen Begrenzung der beiden Konzepte genutzt werden.

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Nachdem im vergangenen Kapitel das Konzept des Selbst im Bezug zum Phänomen der Demenz diskutiert wurde, stellt sich die Frage erneut, wie eine neue Form der lokalen Fürsorge möglich werden kann, in der ein dement werdender Mensch so lange wie möglich in gewohnter Umgebung weiterleben und gesellschaftlich teilhaben kann. Im Verlauf des vorliegenden Buches wurde aufgezeigt, dass eine kritische Reflexion über die grundlegenden Kategorien des menschlichen Zusammenlebens wie das Selbst, die Identität und die Selbstbestimmung notwendig ist. Wie diese kritischen Reflexionen in der konkreten Strukturierung der lokalen Gemeinschaften münden können, ist eine Frage, die sich nach dem Stand der derzeitigen Forschung noch nicht beantworten lässt. Daher werden hier einige Ansätze zusammengefast, die zu weiterreichenden Überlegungen beitragen sollen.

6.1 I nstitutionalisierte P flege und lok ale F ürsorge Wie am Beispiel des Yoriai gezeigt werden konnte, existieren in der japanischen Gesellschaft vielfältige informelle Beziehungsnetze zur Unterstützung hilfsbedürftig werdender Menschen. Außer der Einrichtung Yoriai gibt es auch andere Versuche wie das Toyama-Modell oder »CareTown Takanosu« (vgl. Ueno 2011: 345ff.; 380ff.).1 Zugleich sind auch Be1 | Mit dem Toyama-Modell werden Einrichtungen bezeichnet, in denen die Tagespflege sowohl für alte Menschen als auch Kinder angeboten wird. Drei Krankenpflegerinnen begannen 1993 in der Präfektur Toyama diese Form der Tagespflege, die einige Zeit später als Toyama-Modell landesweit bekannt wurde (vgl. Ueno 2011: 345-379). Care-Town Takanosu ist ein Versuch in der Präfektur Akita,

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mühungen von der kommunalpolitischen Seite durchaus sichtbar. Doch fehlen hier offensichtlich die Möglichkeiten, die Ebene der informellen Beziehungsnetze und die der Kommunalpolitik sinnvoll zu verknüpfen. Sichtbar wird hier das Fehlen zivilgesellschaftlicher Organisationen wie Wohlfahrtsverbände in Deutschland. Auf der anderen Seite macht die informelle Form der Unterstützung, wie die Feldforschung gezeigt hat, möglicherweise eine emotional intensivere Zuwendung zu Pflegebedürftigen leichter. Doch die Nachteile dieser Unterstützungsform sind ebenfalls unübersehbar. Zum einen hängt die Situation der Hilfsbedürftigen vom persönlichen Einsatz bestimmter, sehr engagierter Mitmenschen ab, sodass eine systematische Organisation der Unterstützung kaum denkbar ist. Zum anderen hat diese Form des Netzwerks naturgemäß Lücken, sodass nicht wenige Hilfsbedürftige aus dem Unterstützungsnetz herausfallen. Es hängt mehr oder weniger von Zufällen ab, ob man als Pflegebedürftige/r an das Netzwerk herankommt oder nicht. Auch neigt diese Form der Beziehung tendenziell dazu, eine eher geschlossene Einheit zu bilden, die zwischen den Zugehörigen und anderen stark unterscheiden. Generell tendieren die sozialen Einheiten in der japanischen Gesellschaft dazu, die Nichtzugehörigen stark auszugrenzen, worauf auch Hiroi Yoshinori hinweist (vgl. Hiroi 2010: 30). Die Tendenz zur Ausgrenzung bestimmter Menschen bei der Gemeinschaftsbildung ist sicherlich ein generelles Problem, dessen Lösung durch eine theoretische Auseinandersetzung gesucht werden müsste. In Deutschland hingegen ist die institutionalisierte Form der Unterstützung wesentlich besser ausgestattet und funktioniert in der Regel auch. Doch dieses gut funktionierende System hat einen Nachteil. Es erschwert den Aufbau von spontanen, informellen Formen der Unterstützung, wie wir sie in der Einrichtung Yoriai gesehen haben. Alle Formen des Engagements sowie ehrenamtliche Unterstützung werden sofort in das institutionalisierte Unterstützungssystem eingebunden und mehr oder weniger kontrolliert und bürokratisiert. Damit einhergehend bringt die Institution der Pflegeversicherung eine verstärkte Bürokratisierung mit sich, sodass eine emotionale Zuwendung an Pflegebedürftige immer schwieriger wird. Dies verhindert möglicherweise auch eine Identifikation mit der untereine Pflegeeinrichtung mit Bürgerbeteiligung aufzubauen. Mit einem innovativen Raumkonzept wurde das Projekt bekannt (vgl. Ueno 2011: 380-411). Doch dieses Projekt scheiterte an kommunalpolitischen Machtkämpfen.

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stützenden Tätigkeit und der jeweiligen individuell unterschiedlichen Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Familien. Durch die Bürokratisierung wird auch das Entstehen von Unterstützungsnetzwerken aus lokalen Zusammenhängen erschwert. Es besteht kaum ein Freiraum in der deutschen Gesellschaft, in dem mit neuen Formen der lokalen Unterstützung experimentiert werden könnte. In diesem Kontext könnten Einrichtungen wie das Yoriai durchaus Anregungen bieten, indem sie zeigen, wie informell entstandene Beziehungsnetzwerke im lokalen Kontext eingeleitet und aufrechtgehalten werden. Möglicherweise bietet das Phänomen der Reziprozität wie das Gabe- und Gegengabe-Verhältnis einen Ansatzpunkt zur Bildung der informellen Netzwerke (vgl. 4.4).

6.2 G emeinschaf tsbildung durch ge teilte W erte ? Eine andere Ebene, die in diesem Buch bisher nur am Rande diskutiert wurde, betrifft das Problem der sozialen Werte und die Frage, wie diese die gesellschaftlichen Zusammenhänge beeinflussen. Die weit verbreitete soziologische Perspektive der Moderne bestand darin, dass die traditionellen Gemeinschaften wie das Dorf, die Nachbarschaft, die Verwandtschaft oder das ganze Haus durch den sozialen Wandel von der neuen gesellschaftlichen Struktur ersetzt würden. Das von traditionellen sozialen Zusammenhängen befreite Individuum baut nach dieser Vorstellung der modernen Gesellschaft seine sozialen Beziehungen hauptsächlich über den Markt auf. Die Beziehungen unter den Gesellschaftsmitgliedern werden daher abstrakter. Hier kam die Frage auf, was unter diesen Bedingungen die Gesellschaft zusammenhält. Eine klassische Antwort darauf wie z.B. von Emil Durkheim war, dass wiederum abstrakte soziale Werte dies ermöglichen würden. Daher war seine Erwartung, dass die mechanische Solidarität, die sich auf die natürlich gegebenen sozialen Zusammenhänge gründete, durch die organische Solidarität ersetzt würde, welche die durch die funktionale Differenzierung komplex gewordene Gesellschaft zusammenhielte. In diesem Sinn wurden vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg nationalstaatlich verfasste Gesellschaften in Westeuropa aufgebaut, in denen den abstrakten sozialen Werten wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit als moralische Grundlage die Funktion zugesprochen wurden, den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu garantieren. Es

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steht wohl außer Frage, dass diese Werte in den letzten 70 Jahren erfolgreich die Grundlage moderner Gesellschaften bildeten. Doch unsere Diskussion um Demenz im fünften Kapitel zeigt das Problem dieser Werte. Das vermeintlich universelle Verständnis des rational handelnden Individuums – der Kernpunkt des modernen Selbstbildes – entpuppt sich in der Betrachtung der Demenz als ein Faktor, der den dementen Menschen den Personenstatus abspricht. Insofern fordert uns die Demenz dazu heraus, unser modernes Selbstverständnis kritisch zu reflektieren. Können wir eine Gesellschaft auf bauen, in der demente und dement werdende Menschen zufrieden leben können, wenn wir ihnen den Personenstatus absprechen? Diese Frage zielt auf eine kritische Reflexion der zentralen Werte der Moderne. Die grundsätzliche Frage, die sich aus den bisher ausgeführten Überlegungen ergibt, lautet daher: Können wir weiterhin davon ausgehen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt durch die genannten modernen sozialen Werte gewährleistet wird? Die Wertediskussionen der letzten Zeit zeigen zumindest, dass eine unreflektierte Annahme der universellen Gültigkeit der Werte, die von der historischen Phase der europäischen Aufklärung stammen, nicht ohne weiteres aufrechtgehalten werden kann. Können wir heute davon ausgehen, dass jedes Wohlfahrtssystem der Welt von den Ideen wie der Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit und Solidarität getragen wird? Zumindest zeigt das japanische Wohlfahrtssystem, dass es nicht unbedingt von diesen Ideen begründet werden muss (vgl. Kap. 2 und zum Konzept der Solidarität: Shimada/Tagsold 2006: 35-52). In diesem Rahmen lehrt uns die intensive Beschäftigung mit dem Phänomen Demenz, dass wir aus der Praxis heraus neue Konzepte entwickeln müssen, die der gegenwärtigen Situation angemessener sind. Vielleicht hilft uns dabei, wenn wir uns darauf besinnen, mehr auf die Relationalität unseres Daseins zu achten. In dem Sinne, dass wir alle mehr oder weniger auf Fürsorge untereinander angewiesen sind und gegenseitige Hilfe benötigen.

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6.3 A usblick Aus den bisher ausgeführten Überlegungen sind einige Ansätze ableitbar: 1. Die Diskussionen im Kapitel 5 zeigen, wie sehr der Blick auf die dementen Personen vom modernen Konzept des Selbst dominiert wird, das ein rational handelndes, autonomes Subjekt zur Norm erhebt. Dieses Konzept grenzt demente Personen – und darüber hinaus auch andere – vom Personenstatus aus. Daher ist eine weitere kritische Auseinandersetzung mit diesem Konzept notwendig. In diesem Rahmen ist das in der Altenpolitik häufig benutzte Konzept der Selbstbestimmung kritisch zu überdenken. Das relationale Konzept des Selbst würde die Ängste auf eine mögliche Demenzerkrankung im Alter möglicherweise etwas lindern. Ein stabiles gemeinschaftliches Netzwerk bietet durchaus Möglichkeiten der Erhaltung bestimmter Fähigkeiten von dementen Personen. 2. Damit einhergehend wurde aufgezeigt, dass das Phänomen der Demenz sehr viel mit sozialem Rollenspiel zu tun hat. Konflikte können dadurch entstehen, dass die/der Pflegende nicht versteht, welche Rolle die demente Person in der jeweiligen Kommunikationssituation spielt. Das Eingehen in die Rollenperspektive der dementen Person kann die konflikthafte Situation wesentlich entschärfen. Hier wäre eine weitere vertiefende Diskussion des Phänomens Demenz im Rahmen der soziologischen Kommunikations- und Rollentheorien denkbar. Tendenziell erleichtert die Akzeptanz des Phänomens Demenz, wenn man das Selbst stärker als ein Knotenpunkt verschiedener Rolleninszenierungen versteht. Hier könnte die Einbeziehung theoretischer Überlegungen der sozialen Rolleninszenierungen von Ervin Goffman fruchtbar werden (vgl. Goffman 2002). 3. Es bleibt diskussionswürdig, ob eine neue Form der lokalen Gemeinschaft, in der demente Personen problemlos weiter ihr Alltagsleben verbringen können, durch gemeinsam geteilte Werte generiert und aufrechterhalten werden kann. Insofern müsste das Konzept der »Wertegemeinschaft« kritisch hinterfragt werden. Es geht hier um die Frage, wie eine neue Form der Solidarität unter Fremden möglich ist (vgl. dazu Zoll 2000: 10).

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4. Möglicherweise liegt ein Schlüsselkonzept zum Auf bau einer neuen Gemeinschaftlichkeit im Konzept der Relationalität. Indem man stärker als bisher auf konkrete relationale Verhältnisse zwischen Menschen achtet, könnte daraus eine theoretische Perspektive entwickelt werden, die eine neue Form des lokalen Zusammenlebens ermöglicht. In diesem Fall müssten die theoretischen Konzepte induktiv von konkreten Fällen heraus entwickelt werden. Die in diesem Buch angestellten Überlegungen zeigen, dass das Phänomen Demenz schon lange kein rein sozialpolitisches Problem darstellt, das mit bestimmten konkreten Maßnahmen gelöst werden kann. Es ist eine Herausforderung an die Gesellschaft insgesamt, ihre Grundlagen wie Werte, Formen des Zusammenlebens oder personelle Identität kritisch zu überdenken. Die kritische Auseinandersetzung mit bisher gültigen Ideen und Konzepten kann nicht mehr allein auf der theoretischen Ebene geführt werden, sondern viel stärker auf der Ebene der Praxis geschehen. Auf der Ebene der Praxis besteht allgemein das Problem des Verhältnisses zwischen der Emotionalität und der institutionalisierten Form der Arbeit. Die Praxis der Einrichtung Yoriai zeigt, dass eine intensive emotionale Hinwendung zu dementen Personen für eine qualitativ hochwertige Pflege unumgänglich ist. Doch dies erfordert ein über das gängige Arbeitskonzept hinausgehende Engagement der Pflegekräfte. Hier wäre eine institutionalisierte Trennung zwischen der Arbeit und der Privatheit hilfreich. Auf der anderen Seite verhindert eine allzu starke Institutionalisierung der Pflegearbeit eine emotionale Zuwendung der Pflegekräfte an die Pflegebedürftigen. Dieses Dilemma weist auf einen grundsätzlichen Widerspruch, der in der Pflege als Arbeit enthalten ist. Denn die Pflegearbeit verlangt einen Grad der Emotionalität, die den gängigen Rahmen der Arbeit sprengt. Dies bedeutet, dass jede Pflegekraft individuell ausloten muss, wie weit sie mit ihrer emotionalen Zuwendung an die zu pflegenden Personen gehen will, sofern sie im Pflegealltag eine zeitliche Disposition dafür findet. Damit ist jede Pflegekraft möglicherweise überfordert, weil in der Regel das grundsätzliche Problem der Emotionalität und der Arbeit in ihrer Ausbildung kaum behandelt wird. Diese Überlegung weist darauf hin, dass das Phänomen Demenz uns die Notwendigkeit lehrt, theoretische Überlegungen aus der Praxis zu entwickeln. Dafür ist eine weit intensivere Form der interdisziplinären

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Zusammenarbeit der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen mit ihrem jeweilig unterschiedlichen Bezug zur Praxis unabdingbar.

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Autorinnen und Autoren

FUKUZAKI Haru (Dr. phil.) promovierte in Soziale Wohlfahrt an der Kumamoto Gakuen Universität. Sie ist als klinische Psychologin und als vom Kultus- und Wissenschaftsministerium anerkannte Schulsozialarbeiterin tätig und Leiterin des Forschungsinstituts »Katatsumuri gakusha«. KUROKI Kunihiro (Dr. phil.) ist Professor für Soziale Wohlfahrt an der Kumamotogakuen-Universität und Direktor des Forschungsinstituts für Soziale Wohlfahrt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Alternde Gesellschaft, Wohlfahrt in Japan und Pflege der dementen Personen. MATSUO Yayoi (Dr. phil.) promovierte in Soziale Wohlfahrt an der Kumamoto Gakuen. Des Weiteren hat sie verschiedene Zertifikate im Bereich soziale Wohlfahrt und Pflege erworben und verfügt über langjährige Erfahrungen in der Pflege. Sowohl im Rahmen ihrer Master- als auch Doktorarbeit war sie für mehrere Forschungsaufenthalte in Deutschland und hat sich schwerpunktmäßig mit der Pflege von Menschen mit Demenz beschäftigt. Ludgera LEWERICH (M.A.) studierte Japanologie und Kunstgeschichte an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Modernes Japan II des Institutes für Modernes Japan der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Alternde Gesellschaft, die koreanische Diaspora in Japan sowie das Phänomen der Stadt-Land-Migration im Kontext ländlicher Revitalisierungsdiskurse. Ihre Promotion dazu ist in Vorbereitung.

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Altersdemenz und lokale Fürsorge

Shingo SHIMADA (Dr. phil) ist Professor und Lehrstuhlinhaber für Modernes Japan mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kulturvergleichende Soziologie und alternde Gesellschaft im deutsch-japanischen Vergleich. Jacqueline Yvette SPISA (M.A.)  studierte Japanologie und Anglistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Während eines einjährigen Aufenthalts an der Osaka University war sie am Lehrstuhl für soziale Wohlfahrt und Sozialpolitik eingeschrieben und konnte dadurch einen Einblick in verschiedene Wohlfahrtseinrichtungen Japans erlangen. Ihre Masterarbeit trug den Titel Das Selbstverständnis der Pflegekräfte in einem japanischen Pflegeheim. Am Beispiel Takurōsho Yoriai. Celia SPODEN (Dr. phil.) studierte Japanologie und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 2008 bis 2018 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Modernes Japan II des Institutes für Modernes Japan an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dort entstand ihre Dissertation Über den Tod verfügen. Individuelle Bedeutungen und gesellschaftliche Wirklichkeiten von Patientenverfügungen in Japan, die 2015 bei transcript erschienen ist. Seit 2018 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).

Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de