Alter(n) in der Populärkultur 9783839459928

Nur auf den ersten Blick scheinen Alter und Populärkultur gegensätzlichen Sphären anzugehören. Populärkultur beruht auf

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Alter(n) in der Populärkultur
 9783839459928

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Henriette Herwig, Mara Stuhlfauth-Trabert (Hg.) Alter(n) in der Populärkultur

Alter(n)skulturen | Band 13

Editorial Die Reihe wird herausgegeben von Peter Angerer, Ute Bayen, Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Christoph Kann, Ulrich Rosar, Christian Schwens, Shingo Shimada, Stefanie Ritz-Timme und Jörg Vögele.

Henriette Herwig, geb. 1956, ist Lehrstuhlinhaberin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie promovierte an der Universität Kassel über Botho Strauß und habilitierte sich nach einem Forschungsaufenthalt an den Universitäten Harvard und Duke in Bern über Goethes Altersroman »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Literaturtheorie, Gender Studies und Cultural Gerontology. Mara Stuhlfauth-Trabert, geb. 1982, ist wissenschaftliche Angestellte am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dort promovierte sie 2016 über ökologisches Bewusstsein in Werken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Interdiskursanalyse und Comicforschung.

Henriette Herwig, Mara Stuhlfauth-Trabert (Hg.)

Alter(n) in der Populärkultur

Die Herausgeberinnen danken der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V. für die großzügige Unterstützung der Drucklegung dieses Bandes.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: https://de.dreamstime.com/ Redaktionelle Mitarbeit: Julian Sprengers, Larissa Woischnig Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5992-4 PDF-ISBN 978-3-8394-5992-8 https://doi.org/10.14361/9783839459928 Buchreihen-ISSN: 2702-8011 Buchreihen-eISSN: 2702-8038 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung: Alter(n) in der Populärkultur Henriette Herwig, Mara Stuhlfauth-Trabert, Florian Trabert ....................................... 7

Alter(n) im Film No Country for Old Men: Alter(n) im Westernfilm als Spiegel individueller und kultureller Transformationsprozesse Matthias Hurst ................................................................................. 17

Filmische Tragikomödien über Demenz: Et si on vivait tous ensemble?, Nicht schon wieder Rudi! und Honig im Kopf Henriette Herwig .............................................................................. 37

Zwischen seniler Komik und Desillusionierung:  Alter(n) im Zeichentrickfilm Matthias C. Hänselmann ....................................................................... 67

Alter(n) in Fernsehserien »Revenge is the best revenge«: Alter(n), Geschlecht und jüdische Identität in der Amazon-Serie Hunters Véronique Sina................................................................................ 99

»Face to face«: Die Fernsehserie Der Alte zwischen Kriminalgenre und Melodrama Thomas Küpper ............................................................................... 119

Age – the final frontier? Altersdarstellung und Geschichtsbild im Star Trek-Universum Florian Trabert ............................................................................... 133

Zwischen Zeitreisen, Zukunftsvisionen und außerirdischer Technologie: Altsein und Altwerden in einem Science-Fiction-Serienuniversum am Beispiel von Babylon 5 Dennis Korus................................................................................. 153

Verhandlungen des Populären: Alter(n) in David Lynchs und Mark Frosts Twin Peaks: The Return Irene Husser ..................................................................................173

Alter(n) im Comic »Jeder wehrt sich gegen die Zeit«: Zum Thema Alter im Comic Dietrich Grünewald ........................................................................... 195

»Ich bleibe hier«: Alter(n)sdarstellung und –konzepte in Thomas von Steinaeckers und Barbara Yelins Comic Der Sommer ihres Lebens Ursula Klingenböck............................................................................ 217

Alter(n) in Literatur und Hörspiel Sind Hexen wirklich alte Frauen?  Überlegungen zum Figurenmodell der ›alten Hexe‹ Sigrid Belzer-Kielhorn ........................................................................ 237

›Alter Schwede!‹ Literarische Altersbilder im Kriminalroman Helge Nowak ................................................................................. 247

»Ich war ein Sack voller vergammelnder Träume«:  Altersbilder in Rocko Schamonis Fünf Löcher im Himmel Simone Saftig ................................................................................ 285

Die Sprache des Alters: Zur altersspezifischen Semantisierung des Dialekts im Mundarthörspiel Matthias C. Hänselmann ...................................................................... 303

Einleitung: Alter(n) in der Populärkultur Henriette Herwig, Mara Stuhlfauth-Trabert, Florian Trabert

Alter(n) und Populärkultur scheinen gegensätzlichen Sphären anzugehören. Dies wird bereits bei einem intuitiven, aus dem Begriff selbst abgeleiteten Verständnis von Populärkultur deutlich. Begreift man Populärkultur als populäre, also beliebte Kultur (vgl. Storey 2017: 24), so lässt sich diese mit in der Moderne geschätzten Werten wie Jugend, Dynamik, Aktualität und Schnelllebigkeit verbinden. In noch höherem Maße gilt dies für die Popkultur, die mit der Populärkultur nicht deckungsgleich ist und die als explizite Jugendkultur (vgl. Mrozek 2019) nach Grenzüberschreitungen strebt und neue Modetrends setzt. Im Gegensatz hierzu ist Alter, vor allem hohes Alter, mit unbequemen und häufig verdrängten Aspekten wie dem Nachlassen körperlicher und geistiger Kräfte sowie Sterblichkeit konnotiert. Konträr zu diesem ersten Befund scheint sich jedoch das Spannungsverhältnis zwischen Alter(n) und Populärkultur in den letzten Jahrzehnten immer stärker abzubauen. Die Populärkultur bietet in zunehmendem Maße auch Raum für die Darstellung von Alternsprozessen, die Reflexion von Altersstereotypen und die Entwicklung neuer Alter(n)skonzepte. Welche Faktoren tragen dazu bei, dass Alter(n) in seinen vielfältigen biologischen, sozialen und kulturellen Dimensionen verstärkt zu einem Thema der Populärkultur geworden ist? Um diese Frage zu beantworten, erscheint es zunächst unerlässlich, den schillernden Begriff der Populärkultur genauer zu bestimmen und dabei von Wertungen weitgehend freizuhalten. Die einseitige Idealisierung der Populärkultur ist so wenig hilfreich wie ihre pauschale Abwertung. Es gibt weder eine ›schlechte‹ Populärkultur, die durch Kommerzialisierung, passive Rezeptionsmodi und die Affirmation bestehender Machtstrukturen gekennzeichnet wäre, noch eine ›gute‹ Populärkultur, als deren Merkmale Authentizität, egalitäre Teilhabe und eine kritisch-subversive Haltung anzuführen wären. Populärkultur ist weder nur Mainstream noch ausschließlich Subkultur. Wissenschaftsgeschichtlich haben vor allem die in Großbritannien beheimateten Cultural Studies, die auf eine Demokratisierung des Kulturverständnisses abzielen, ein differenziertes Verständnis von Populärkultur entwickelt. Tony Bennett hat sie im Anschluss an Antonio Gramscis dynamisches Hegemoniekonzept als einen Kampfplatz zwischen einer dominanten und einer oppositionellen Ideologie beschrieben:

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[T]he field of the popular culture is structured by the attempt of the ruling class to win hegemony and by the forms of the opposition to this endeavour. As such, it consists not simply of an imposed mass culture that is coincident with dominant ideology, nor simply of spontaneously oppositional cultures, but is rather an area of negotiation between the two within which – in different particular types of popular culture – dominant, subordinate and oppositional cultural and ideological values and elements are ›mixed‹ in different permutations. (Bennett 2013: 85) Allerdings werden dabei nicht nur Klassenkonflikte ausgetragen, sondern auch Konflikte im Hinblick auf Ethnie, ›Rasse‹, Gender, sexuelle Orientierung, Generation und Behinderung (vgl. Storey 2017: 32). Somit erweist sich dieser Ansatz auch für die kulturwissenschaftliche Alter(n)sforschung als anschlussfähig: Populärkultur wäre dann als ein Feld zu bestimmen, auf dem neben vielen anderen auch Konflikte zwischen den Generationen verhandelt werden. Ein solches dialektisches Verständnis von Populärkultur liefert insbesondere ein Gegenmodell zu ihrer einseitigen Abwertung in expliziter oder impliziter Entgegensetzung zur Hochkultur. Diese elitäre Perspektive ist sowohl für kulturkonservative Positionen als auch für die Ideologiekritik der Frankfurter Schule kennzeichnend. So subsumieren Horkheimer und Adorno die Populärkultur in der Dialektik der Aufklärung unter »Kulturindustrie« und »Massenbetrug« (1982: 108). Diese Sichtweise verkennt allerdings nicht nur, dass sich zwischen Populärkultur und Hochkultur keine trennscharfe Grenze ziehen lässt, sondern auch, dass zwischen beiden Kulturformen ein reger Grenzverkehr besteht. Das Beispiel von Shakespeares Dramen zeigt, dass die Dynamik dieses Grenzverkehrs keine eindeutigen Zuschreibungen erlaubt. Diese Texte, die heutzutage geradezu als Inbegriff der Hochkultur gelten, waren bis ins 19. Jahrhundert hinein Teil des populären Theaters (vgl. Storey 2017: 26; Levine 1988); auch die heutige Populärkultur greift immer wieder auf Shakespeares Dramen als ein schier unerschöpfliches Motivreservoir zurück. Die Beispiele reichen von der Shakespeare-Begeisterung der Figur Jean-Luc Picard aus der Serie Star Trek: The Next Generation (US 1987-1994) bis zu Filmen wie Shakespeare in Love (US/UK 1998). Erforderlich erscheint somit ein möglichst offenes Verständnis von Populärkultur. Einem solchen Modell zufolge sind kulturelle Systeme keine festen Entitäten, sondern sich berührende, überlagernde oder gar einschließende Felder, die sich aus diachroner Perspektive ausdehnen, verengen oder verlagern können. Damit ein so offenes und dynamisches Verständnis von Populärkultur nicht zu beliebigen Zuschreibungen führt, ist es wichtig, die geographische, historische und mediale Dimension einzubeziehen. Dass die USA zweifelsohne als Mutterland der Populärkultur zu benennen sind, ist vor allem auf die Liberalisierung, Demokratisierung und Kommerzialisierung der US-amerikanischen Kultur zurückzuführen, die hier früher einsetzte und sich intensiver entwickelte als in Westeuropa. Im Zuge der vom angloamerikanischen Kulturraum dominierten Globalisierung haben sich nationalkulturelle Differenzen angeglichen, bleiben allerdings unterhalb der homogenisierenden Oberfläche weiterhin bestehen (vgl. Kühn 2017: 58). In Deutschland führte die Rezeption der amerikanischen Populärkultur nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer allmählichen Ab-

Einleitung: Alter(n) in der Populärkultur

kehr von der bürgerlichen Ideologie, die normativen Vorstellungen von ›Bildung‹ und ›Kultur‹ verpflichtet war. Die historische Dimension der Populärkultur hängt eng mit der geographischen Dimension zusammen. Die Diversität der heutigen Populärkultur ist historisch gewachsen, wobei ihre Geschichte im Wesentlichen in die Moderne fällt. Storey hat den Zusammenhang von Populärkultur und Moderne aus einer stark anglozentrischen Perspektive begründet: Industrialisierung und Urbanisierung hätten ab dem späten 18. Jahrhundert zur Auflösung der paternalistischen Sphäre einer gemeinsamen Kultur und im Gegenzug zur Ausbildung der Populärkultur geführt (vgl. 2017: 35). Damit sind jedoch noch nicht alle entscheidenden Faktoren benannt. Eine wichtige Rolle hat auch die gleichfalls in der Sattelzeit einsetzende Säkularisierung gespielt, in deren Zuge die vergleichsweise homogene christliche Kultur ihre überwölbende Funktion verlor. Die Populärkultur übernimmt partiell Funktionen der Religion, indem sie den Rezipierenden Weltbilder, Sinnangebote und Handlungsorientierungen bereitstellt; ablesbar ist diese Ersetzung etwa am Umstand, dass Fan Conventions nicht selten Züge von Gottesdiensten tragen. Schließlich ist Popularität nicht ausschließlich als ein Phänomen der Rezeption aufzufassen, sondern gleichfalls durch Mechanismen der Produktion und Distribution bedingt: Damit etwas beliebt werden kann, muss es erst einmal in hinreichender Anzahl hergestellt werden und unter die Leute kommen. Erfindungen wie der Rotationsdruck haben überhaupt erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass bestimmte Inhalte populär werden konnten. Evident ist auch die Bedeutung des technischen Fortschritts für Medien wie den Kinofilm, die Fernsehserie oder das Computerspiel, die ihre Entstehung Innovationen des 19. und 20. Jahrhunderts verdanken. In der längeren Geschichte der Populärkultur ist ein entscheidender Unterschied zur Popkultur zu sehen, deren Entwicklung erst in den 1950er Jahren vor allem mit der Ausbildung von Musikstilen wie dem Rock’n’Roll einsetzt (Mrozek 2019: 15). Während für die audiophon geprägte Popkultur vor allem das Paradigma der Popmusik prägend ist, lässt sich im Bereich der Populärkultur kein derartiges Leitmedium ausmachen. Außer Frage steht jedoch, dass insbesondere visuelle Medien wie Film, Fernsehserie und Comic eine besondere Affinität zur Populärkultur aufweisen. Sie deshalb als per se populärkulturelle Medien zu bezeichnen, käme jedoch einem unhaltbaren Essenzialismus gleich. Eine solche Sichtweise verkennt, dass die historische Korrelierung dieser Medien mit einem Populären historisch gewachsen, aber nur sehr bedingt auf ihre Qualität zurückzuführen ist. Ein medialer Essenzialismus bestimmt etwa Thomas Manns 1928 publizierten Essay Über den Film, in dem dieser das vergleichsweise junge Medium nicht anhand der Dichotomie von Hochkultur und Populärkultur, sondern von Kunst und Nicht-Kunst beurteilt. Thomas Mann geht dabei so weit, dem Film seinen Kunstcharakter gänzlich abzusprechen: »Er ist nicht Kunst, er ist Leben und Wirklichkeit, und seine Wirkungen sind, in ihrer bewegten Stummheit, krud sensationell im Vergleich mit den geistigen Wirkungen der Kunst« (1960: 899). Auch wenn dieses Urteil vor allem durch Manns Unzufriedenheit mit frühen Verfilmungen seines Erfolgsromans Buddenbrooks (1901) begründet ist, verkennt es doch, dass der Film »Leben und Wirklichkeit« nicht einfach nur abbildet, sondern – mehr oder weniger – kunstvoll inszeniert.

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Dass Alter(n) zunehmend auch zu einem Thema der Populärkultur geworden ist, hängt mit der Veränderung der Alterspyramide in den westlichen Industriegesellschaften zusammen, der Langlebigkeit, die u.a. der Verbesserung der Ernährung, der Hygiene, der Wohnverhältnisse und dem medizinisch-technischen Fortschritt zu verdanken ist (Herwig 2014: 10). Der demographische Wandel führt nicht nur zur Zunahme des Anteils alter Menschen an der Gesamtbevölkerung, sondern auch zu einer Ausdifferenzierung dieser Altersgruppe. Mit den ›jungen Alten‹ entstand in den letzten Jahrzehnten eine finanziell potente Gruppe, die sich Identifikationsfiguren auch und gerade im Bereich der Populärkultur wünscht. Sie versteht Altern auch als Zugewinn an Erfahrung, Kompetenzen und Handlungsspielräumen und möchte das medial reflektiert sehen. Gleichzeitig nahm in den westlichen Staaten die Anzahl der Hochaltrigen zu, so dass die Thematisierung von körperlichem und geistigem Verfall auch die Lebenswirklichkeit von vielen jüngeren Menschen tangiert, die in die Pflege ihrer älteren Angehörigen involviert sind. Parallel zum demographischen Wandel erfolgte in Westeuropa eine Aufwertung der Populärkultur, die mit dem vermehrten Import der US-amerikanischen Kultur im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg einsetzte. Eine zusätzliche Dynamik gewann diese Entwicklung im Zuge der 68er-Bewegung, die sich vom sozialdistinktiven Konzept der Hochkultur abwandte. Die Menschen, die diese Entwicklungen in ihrer Jugend selbst miterlebt oder sogar mitgestaltet haben, zählen mittlerweile selbst zu den Alten. Diese Generationen sind zusammen mit langlebigen Phänomenen der Populärkultur wie der britischen Rockband The Rolling Stones oder der US-amerikanischen Serie Star Trek gealtert, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Rezeptionsbiographien geworden sind. Weiterhin ist in der Diversifizierung der Populärkultur ein Vorgang zu sehen, der nicht nur bis zum heutigen Tag anhält, sondern in den letzten Jahrzehnten vor allem aufgrund der Digitalisierung und der Entstehung sozialer Medien noch zusätzlich an Fahrt gewonnen hat. Somit entstehen populärkulturelle Angebote für die verschiedensten Bevölkerungsgruppen, zu denen selbstverständlich auch die älteren Generationen gehören. Zudem hat ein differenzierter Blick auf das Alter(n) in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, den Gegensatz von Alter und Jugend als weniger scharf wahrzunehmen. Es handelt sich um in mancherlei Hinsicht verwandte Lebensphasen, in denen Lebensentwürfe zur Disposition gestellt werden, wenngleich aus jeweils konträren Perspektiven. Auf die prospektive Frage junger Menschen nach der Gestaltung des künftigen Lebens folgt im Alter die retrospektive Bilanzierung des vergangenen Lebens, die ebenfalls zu Neuorientierungen führen kann. Die Schwellensituation des Alters ist häufig mit individuellen oder gesellschaftlichen Konflikten verknüpft, deren Ausgestaltung sich auch in populärkulturellen Medien anbietet. Schließlich bleibt die Affinität der Moderne zu Jugendlichkeit und Schnelligkeit nicht ohne ihre dialektische Gegenbewegung. Die Kompensationstheorie Odo Marquards betont, dass zur »modernen Fortschritts- und Innovationskultur« kompensatorisch die »Erinnerungs- und Bewahrungskultur« (2000: 39f.) gehört, als deren Träger ganz wesentlich die alten Menschen fungieren. Diese Dialektik macht auch vor der Populärkultur nicht Halt, die somit – wie jede andere kulturelle Sphäre auch – durch Tendenzen der Historisierung gekennzeichnet ist. Diesen hier skizzierten Zusammenhängen zwischen Alter(n) und Populärkultur spüren die Beiträge des vorliegenden Bandes anhand verschiedener me-

Einleitung: Alter(n) in der Populärkultur

dialer Formate wie Spielfilmen, Fernsehserien, Comics, Hörspielen und literarischen Texten nach. Matthias Hurst beginnt die Filmsektion des Bandes mit einer Analyse von Western der 1940 bis 1990er Jahre und verdeutlicht, inwiefern das Genre durch ein Auseinanderdriften von natürlichem Alterungsprozess und kulturellem Modernisierungsprozess gekennzeichnet ist. Der Western erscheint als Spiegel, in dem die alt gewordenen Helden des Westens sich mit Entwicklungen der modernen Zivilisation konfrontiert sehen, die ihre Rolle und ihr Selbstverständnis in Frage stellen. Henriette Herwig zeigt in ihrem Beitrag, dass auch der Spielfilm seit geraumer Zeit vermehrt alternde Figuren in den Mittelpunkt stellt, nicht nur ›junge Alte‹ mit ihren zukunftsoffenen Projekten, nein auch ältere, die mit dem Verlust ihrer geistigen Fähigkeiten, ihrer Willensfreiheit, Handlungs- und Entscheidungsmacht aufgrund der Erkrankung an Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz fertig werden müssen. Dass man so ernsthaften Problemlagen, die auch die Angehörigen vor große Herausforderungen stellen, durchaus auch heitere Seiten abgewinnen, sie mit Hilfe von Komik erträglich machen und so für Inklusion von Menschen mit Demenz in Familie und Gesellschaft plädieren kann, konkretisiert sie anhand der drei Tragikomödien Et si on vivait tous ensemble? (F/D 2011) von Stéphane Robelin, Nicht schon wieder Rudi! (D 2015) von Oona Devi Liebich und Ismail Şahin sowie Honig im Kopf (D 2014) von Til Schweiger. Matthias C. Hänselmann entwickelt im ersten seiner beiden Beiträge eine Typologie von Alter(n)sdarstellungen im Zeichentrickfilm, wobei durch den Gegenstand ein Fokus auf physische und morphologische Transformationen der Figuren vorgegeben ist. Insbesondere in der plastischen Vergegenständlichung von Altern als kontinuierlichem Prozess ist eine zeichentrickspezifische Möglichkeit zu sehen, die sich im Realfilm aufgrund der Langsamkeit dieses Vorgangs nur in weitaus eingeschränkterer Form umsetzen lässt. Die Sektion zu Alter(n) in Fernsehserien eröffnet Véronique Sinas Analyse der USamerikanischen Mini-Serie The Hunters, die sich von den historischen Ereignissen der Shoah und des Zweiten Weltkriegs inspirieren ließ. Sina zeigt, inwiefern The Hunters den vermeintlich fehlenden jüdischen Widerstand als fiktionalisierte Erzählung in einem populärkulturellen Artefakt nachliefert. Aus einer intersektionalen Perspektive nimmt sie die Verzahnung von Alter, Geschlecht und ›Jüdisch-Sein‹ in den Blick. Mit der Inszenierung jüdischer Rache wird in The Hunters nicht nur ein alternatives Bild jüdischer Männlichkeit entworfen, das der antisemitischen Zuschreibung des ›verweiblichten‹ Juden widerspricht, sondern zudem eine aktive und ›wehrhafte‹ Figur in das Zentrum der Narration gerückt, die durch ihr hohes Alter gekennzeichnet ist. Thomas Küpper weist nach, dass die Titelfigur der Serie Der Alte sich nicht nur innerhalb des Kriminalgenres profiliert, sondern der Serie auch melodramatische Dimensionen verleiht: Der lebenserfahrene Kommissar führt die Mörder*innen zum einen ihrer Bestrafung zu, zum anderen aber schenkt er ihnen als Menschen Aufmerksamkeit, hört ihnen zu und erlaubt es ihnen, ihre Gefühle zu äußern. Beide Facetten machen ihn zu einer Vaterfigur. Diese Vater-Imago entfaltet ihre Faszinationskraft für das Publikum gerade in solchen gesellschaftlichen Kontexten, in denen paternale Autorität fraglich geworden ist. Gleichzeitig stellt die programmatische Ruhe des Protagonisten einen Gegenpol zum Aktionismus amerikanischer Serienhelden dar. Florian Trabert geht bei seiner Analyse der Star Trek-Serien von der Beobachtung aus, dass die Diversität der Figuren in den Ka-

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tegorien gender und race weitaus stärker ausgeprägt ist als in der Kategorie age. Diesen Umstand führt er auf die Fortschrittsidee und den Frontier-Mythos zurück, die für diesen Serienkosmos leitend sind. Für das Science Fiction-Genre spezifische Erzählmuster wie Zeitreisen oder die Alterungsprozesse von Aliens ermöglichen zwar das Auftreten zahlreicher alter Figuren, die aber oft Stereotypen wie der/dem verliebten oder weisen Alten verhaftet bleiben. Differenzierte Altersbilder sind hingegen vor allem in Folgen zu finden, in denen die Konzeption von Star Trek als technische Utopie aufgehoben ist oder nur abgeschwächt in Erscheinung tritt. Eine vergleichbare Vielfalt von Altersbildern zeichnet auch die Science Fiction-Serie Babylon 5 aus, der sich Dennis Korus in seinem Beitrag widmet. Alter(n) und Tod stellen in diesem Serien-Universum lediglich dann eine Katastrophe dar, wenn die betroffene Figur ihren Zenit nicht erreichen kann, gehören aber ansonsten zum Leben selbst und sollen ebenso positiv aufgenommen werden. Irene Husser arbeitet heraus, wie die dritte Staffel von David Lynchs und Mark Frosts Serie Twin Peaks die in der Populärkultur beworbene Flexibilisierung traditioneller Lebensstufenmodelle zur Disposition stellt, indem Alter als ein mit Reife und Weisheit verbundener Lebensabschnitt zur Geltung gebracht wird. Der Rückgriff auf antike und aufklärerische Topoi des Alterslobs wird aber zugleich mit einem ironischen Subtext unterlegt, so dass den Alterskonfigurationen der Serie ein subversiver Charakter zukommt. Dass auch im Medium Comic zahlreiche Werke zu finden sind, die sich dem Thema Alter(n) in seiner ganzen Komplexität stellen, belegt Dietrich Grünewald anhand eines umfangreichen Korpus. Als Leitlinie dient ihm dabei Pascal Rabatés Comic Bäche und Flüsse (2009), in dem Grünewald zehn Aspekte der Alter(n)sthematik ausmacht, die auch in anderen Comics in Erscheinung treten: Lebenssinn im Alter, Lebensort im Alter, die Nähe zum Tod, Krankheit und Altenpflege, Selbsttötung, Erinnerungen, das Verhältnis der Generationen, Sexualität im Alter, die neuen agilen Alten und schließlich der Lebensgenuss. Ursula Klingenböck zeigt die Veränderung der Darstellungsmittel des Life-Writings beim Übergang vom Comic-Strip über den Web-Comic bis zum ComicBuch bei Thomas von Steinaeckers und Barbara Yelins Comic Der Sommer ihres Lebens (2015-2017) auf. Am Beispiel einer im Heim lebenden, hochbetagten Frauenfigur, die sich nie beklagt, am Schluss aber lieber stirbt, als lebensverlängernde Maßnahmen zu akzeptieren, wird in diesem Comic die institutionalisierte Unterbringung hochaltriger Menschen in Alten- und Pflegeheimen mit ihren Effekten der Separierung, Marginalisierung und Diskriminierung problematisiert. Durch die eingeblendeten Erinnerungen der alten Frau an frühere Lebensphasen wird der individuelle Alterungsprozess nicht nur in seinen sozialen, physischen und psychischen Komponenten dargestellt, sondern auch der sozialpolitische Kontext, der ihr Altern geprägt hat, berücksichtigt. Den Abschluss des Bandes bilden Analysen von Altersbildern in literarischen Texten und Hörspielen. Wie Helge Nowak in einem umfassenden Überblick über die Geschichte der Gattung Kriminalroman zu zeigen vermag, wird dieses Genre seit einigen Jahren vermehrt dazu genutzt, realistische Altersfiguren und -bilder zu zeichnen, wobei zunehmend die Figur des ›einsamen Wolfs‹, des allein lebenden, alternden Ermittlers in Erscheinung tritt, der mit eigenen Lebensversäumnissen und Fehlleistungen zu kämpfen hat. In dem – den Wallander-Zyklus von Henning Mankell abschließenden – Band Der Feind im Schatten (2010) beispielsweise kämpft er schließlich nicht nur genretypisch

Einleitung: Alter(n) in der Populärkultur

gegen einen äußeren Feind, sondern zugleich gegen einen inneren, seine Erkrankung an Alzheimer. Das neue Genre des Pflegeheim-Kriminalromans, das sich in jüngster Zeit herausgebildet hat, erweist sich hingegen als ein Feld, das sowohl zu humorvoll komischen als auch zu makabren Szenarien Anlass bieten kann. Simone Saftig analysiert den Roman Fünf Löcher im Himmel (2014) des Popautors Rocko Schamoni als Beitrag zum Genre Road Trip. Durch die – auch graphisch abgesetzte – Integration von Tagebucheinträgen des alternden Protagonisten aus seiner Jugend wird die Vergegenwärtigung von Adoleszenzproblemen mit der Darstellung einer verhängnisvollen Form von Altersresignation aufgrund von sozialem Abstieg verknüpft, die den Protagonisten erst in die Illegalität und dann in den Suizid treibt. Methodisch knüpft Saftig an Aleida Assmanns Konzept des individuellen Erinnerns zur Selbstdeutung und Selbstbestimmung sowie an Jean Amérys Essay Über das Altern an, um die Abhängigkeit der Erinnerung und des Zeitverständnisses vom individuellen Altern aufzuzeigen. Mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm nimmt Sigrid Belzer-Kielhorn eine frühe Form der Populärkultur in den Blick. Bei der Hexe handelt es sich ihrer Analyse zufolge um einen Figurentypus, dem erst durch die misogyne patriarchalische Überlieferungstradition der Stempel ›alte Frau‹ aufgedrückt worden ist. Die Zuschreibung von ›Alter‹ dient in den Märchen nur dazu, die Bösartigkeit der Hexen zu unterstreichen, es ist nicht das Resultat eines gelebten Lebens. Hexen sind alterslose, verwandlungsfähige Dämoninnen, aber keine ›alte Frauen‹. Mit dem Genre des Mundarthörspiels beschäftigt sich Matthias Hänselmann in seinem zweiten Beitrag. Ihm zufolge stellt die Korrelation von hohem Alter und dialektaler Ausdrucksweise ein verhältnismäßig junges Phänomen in der Geschichte dieses Genres dar. Es manifestiert sich im Konflikt zwischen alten, dialektsprechenden und heimatverbundenen Figuren mit einer modernen, natur- und traditionsvergessenen Welt, in der die Hochsprache zugleich den allgemeinen Standard darstellt. Der vorliegende Band versammelt größtenteils die schriftlichen Ausarbeitungen von Vorträgen für eine Tagung zum Thema »Alter(n) in der Populärkultur«, die im Mai 2020 in Düsseldorf stattfinden sollte, aber aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden musste. Die Herausgeberinnen danken allen, die ihre Beiträge trotzdem zur Verfügung gestellt haben, der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V. für die großzügige Unterstützung der Drucklegung dieses Bandes sowie Larissa Woischnig und Julian Sprengers für die sorgfältige redaktionelle Mitarbeit.

Quellenverzeichnis Bennett, Tony: Popular Culture and the ›Turn to Gramsci‹. In: John Storey (Hg.): Cultural Theory and Popular Culture. A Reader. 4. Aufl., Routledge: London/New York, 2013, S. 81-87. Herwig, Henriette: Für eine neue Kultur der Integration des Alters. In: Dies. (Hg.): Merkwürdige Alte: Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s. transcript: Bielefeld, 2014, S. 7-33. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. Fischer: Frankfurt a.M., 1982 [1969].

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Kühn, Thomas: Populärkultur – Popular Culture: Terminologische und disziplinäre Überlegungen. In: Thomas Kühn/Robert Troschitz (Hg.): Populärkultur: Perspektiven und Analysen. transcript: Bielefeld, 2017, S. 41-61. Levine, Lawrence: Highbrow/Lowbrow: The Emergency of Cultural Hierarchy in America. Harvard University Press: Cambridge/MA, 1988. Mann, Thomas: Über den Film. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. X: Reden und Aufsätze 2. Fischer: Frankfurt a.M., 1960, S. 898-901. Marquard, Odo: Philosophie des Stattdessen: Studien. Reclam: Stuttgart, 2000. Mrozek, Bodo: Jugend. Pop. Kultur: Eine transnationale Geschichte. Suhrkamp: Berlin, 2019. Storey, John: Was ist Populärkultur? In: Thomas Kühn/Robert Troschitz (Hg.): Populärkultur: Perspektiven und Analysen. transcript: Bielefeld, 2017, S. 19-40.

No Country for Old Men: Alter(n) im Westernfilm als Spiegel individueller und kultureller Transformationsprozesse Matthias Hurst

Zwei Filmszenen. Zwei Männer an den Gräbern ihrer Frauen, in der offenen Landschaft des amerikanischen Westens. Der ›wilde‹ Westen in friedvoller Stille: Die Sonne steht tief am Horizont, der Himmel leuchtet fern in dunklen Farben. Die beiden Witwer werden verkörpert von zwei Ikonen des Westernfilms – John Wayne als aufrichtiger und pflichtbewusster US-Kavallerie-Captain Nathan Brittles in She Wore a Yellow Ribbon (dt. Der Teufelshauptmann, US 1949) und Clint Eastwood als Mörder und ehemaliger Säufer William Munny in Unforgiven (dt. Erbarmungslos, US 1992). Die Männer schwören keine Rache an den Gräbern der Toten, wie es für das Westerngenre typisch wäre, in dem Geschichten häufig mit einem Racheschwur an einem Grab beginnen. Stattdessen halten sie Zwiesprache mit ihren verstorbenen Frauen, die in den beiden Filmen niemals selbst auftreten, sondern nur durch ihre Grabsteine präsent sind und dennoch eine so existenziell wichtige Rolle im Leben der alternden männlichen Protagonisten spielen. Die Filme schildern Auseinandersetzungen mit dem Alter und mit erlebter Vergangenheit, mit Verlust und Sterblichkeit. Konfrontiert mit dem bitteren Verlust der geliebten Frauen, mit Tod und Vergänglichkeit gewinnen die Helden des Westerns augenblicklich eine neue Dimension, und die repräsentierte Erfahrung des Alterns erscheint nicht mehr nur als individueller Veränderungsprozess oder als dramaturgisch wirkungsvolles Einzelschicksal; vielmehr wird Alter durch die genrespezifische Rahmung und thematische Verknüpfung mit dem Westernsujet als Ganzem auch als Phänomen vor dem Hintergrund historischer und gesellschaftlicher Transformationen erfahrbar und somit als sozial und kulturgeschichtlich relevanter Kommentar verstehbar. Die Alters-Thematik spielt im Westerngenre eine signifikant wichtige Rolle. Für einflussreiche Western-Regisseure wie John Ford und Sam Peckinpah stehen das Alter ihrer Helden und die damit verbundenen Schwierigkeiten, sich den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen anzupassen, häufig im Zentrum des Geschehens, und nahezu jeder populäre Star des Westernfilms hat auf seine Weise die Komplikationen und Fährnis-

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Matthias Hurst

se des Alter(n)s dargestellt und diesem Aspekt menschlicher Existenz dadurch großen Stellenwert innerhalb des Genres eingeräumt.1 Das Alter kann aber nicht nur in einzelnen wichtigen Filmen des Genres als explizites Thema beobachtet werden, seine Relevanz als thematische Komponente scheint vielmehr bereits dem Gesamtrahmen und Bedeutungsfeld des Westerns eingeschrieben zu sein. Das Motiv des Alters ergibt sich quasi nahtlos aus den diskursiven Grundlagen des Genres und seiner Bildlichkeit, aus seinen spezifischen semantischen Elementen und deren syntaktischen Verknüpfungen, die in ihrer Wechselwirkung das typische Westernnarrativ erzeugen und Sinngehalt und Bedeutungspotenzial des Genres bestimmen.2 Figuren, die sich mit ihrem Alter auseinandersetzen müssen, gibt es auch in anderen Genres vom Liebesfilm (in durchaus unterschiedlichen Tonlagen)3 bis hin zum Science Fiction-Film4 , und selbst das Action-Kino hat mittlerweile der älteren Generation Gelegenheit gegeben, ihre Entschlossenheit, ihre Energie und ihre Erfahrung in Konfliktverhalten explosiv unter Beweis zu stellen.5 Aber im Western allein zeigt sich ein geradezu organischer Zusammenhang zwischen den klassischen Genremotiven und den Explorationen des Phänomens Alter in verschiedenen Ausprägungen. Das Genre etabliert einen engen, sinnfälligen Bezug zwischen den historischen Transformationsprozessen und deren mythischen wie auch ideologischen Auslegungen, die den Nährboden des Westerns als populäre Unterhaltungsform bilden, einerseits und individuellen Alterungsprozessen und den daraus resultierenden sozialen Begleiterscheinungen und Befindlichkeiten andererseits. Im Folgenden soll dieser Bezug näher erläutert werden.

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So zum Beispiel John Wayne mehrfach in unterschiedlichen Filmen wie She Wore a Yellow Ribbon (dt. Der Teufelshauptmann, US 1949), True Grit (dt. Der Marshal, US 1969), The Cowboys (dt. Die Cowboys, US 1972) und The Shootist (dt. Der Scharfschütze, US 1976), Randolph Scott und Joel McCrea in Ride the High Country (dt. Sacramento, US 1962), William Holden und Ernst Borgnine in The Wild Bunch (dt. The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz, US 1969), Lee Marvin in Monte Walsh (US 1970) und The Spikes Gang (dt. Vier Vögel am Galgen, US 1974), Paul Newman in The Life and Times of Judge Roy Bean (dt. Das war Roy Bean, US 1972), Robert Duvall in Lonesome Dove (dt. Weg in die Wildnis/Alternativtitel: Der Ruf des Adlers, US 1989), Open Range (dt. Open Range – Weites Land, US 2003) und Broken Trail (US 2006) und Clint Eastwood, zusammen mit Gene Hackman, Morgan Freeman und Richard Harris in Unforgiven (dt. Erbarmungslos, US 1992). Zu semantischen und syntaktischen Elementen als Bausteinen einer Genretheorie vgl. Altman (2004) und Altman (2009). Zum Beispiel Something’s Gotta Give (dt. Was das Herz begehrt, US 2003), Wolke 9 (D 2008), Hope Springs (dt. Wie beim ersten Mal, US 2012), Den skaldede frisør (eng. Love Is All You Need, DNK 2012) und Amour (dt. Liebe, F 2012). Zum Beispiel Star Trek 2: The Wrath of Khan (dt. Star Trek 2: Der Zorn des Khan, US 1982), Space Cowboys (US 2000) und Star Wars: The Last Jedi (dt. Star Wars: Die letzten Jedi, US 2017). Zum Beispiel The Expendables (US 2010), The Expendables 2 (US 2012), The Expendables 3 (US 2014), RED (dt. R.E.D. – Älter. Härter. Besser, US 2010) und RED 2 (dt. R.E.D. 2 – Noch Älter. Härter. Besser, US 2013).

No Country for Old Men

1.

»Go West, young man, go West and grow up with the country!«

Diese berühmte, vielzitierte Aufforderung beschwört den amerikanischen Pioniergeist, die Abenteuerlust und die nach Westen gerichtete Expansionsbewegung der weißen Zivilisation im 19. Jahrhundert und evoziert das historische Phänomen der Besiedelung des nordamerikanischen Westens als Resultat einer persönliche Botschaft an die männliche Jugend des Landes und als Parallelentwicklung zum individuellen Reifeprozess junger Männer. Das programmatische Zitat wird traditionell Horace Greeley (1811-1872) zugeschrieben, dem amerikanischen Politiker, Journalisten und Gründer der New York Tribune, und als Fundort gilt sein Editorial vom 13. Juli 1865. Dass diese Worte dort allerdings nicht zu finden sind, gab Anlass zu Spekulationen über die wahre Autorschaft und führte zu anderen Ursprungstheorien: Womöglich stammt der Ausspruch nicht von Greely, sondern von John Babsone Lane Soule (1815-1891), Zeitungsherausgeber in Indiana (Terre Haute Daily Express) und später Professor für alte Sprachen an der Blackburn Universität in Carlinville, Illinois. Und womöglich wurden diese Worte nicht 1865 niedergeschrieben, sondern bereits 1851. Bis heute konnte nicht zuverlässig geklärt werden, wer diese Worte tatsächlich geprägt hat (vgl. Fuller 2004; Hine/Faragher 2000: 333; Taylor 2015), aber vielleicht ist die Frage nach individueller Urheberschaft nicht so wichtig angesichts ihrer kollektiven Wirkungskraft und kulturellen Bedeutung. Als populäres Motto, das die Kolonisierung des nordamerikanischen Kontinents und die implizierte optimistische Ideologie der Landnahme schlagwortartig zusammenfasst, haben diese Worte sowohl Geschichte symbolisch überhöht, emphatisch veranschaulicht und vermenschlicht als auch unzählige literarische und filmische Geschichten über den amerikanischen Westen und die Pionierleistungen in der Wildnis inspiriert, d.h. Stoff für Westernerzählungen und Westernfilme geliefert. Dass sich der Aufruf zur Besiedelung des Landes sozialhistorisch bedingt ausschließlich an junge Männer richtet, hat den Blick geschärft auf die Rolle der Frauen in der amerikanischen Pioniergeschichte wie auch auf die Repräsentationen von Frauen im Westernfilm.6 Jane Tompkins beschreibt ihre ambivalente Rezeptionshaltung gegenüber dem von Männern dominierten Westerngenre sowie ihr Verhältnis zum typischen männlichen Westernhelden, wobei grundlegende Aspekte geschlechtsspezifischer Wahrnehmungs- und Identifizierungprozesse im Bereich der populären Kultur deutlich werden: So although Westerns have traditionally been fare for men and not for women, women can feel engaged by them. In fact, since stories about men (at least in our culture) function as stories about all people, women learn at an early age to identify with male heroes. Socialized to please others, women also acquire early on the ability to sympathize with people whose circumstances are different from their own. Hence they

6

Zur Bedeutung von Frauen in der Kolonialgeschichte des nordamerikanischen Westens vgl. Brown (1975); zur kritischen Analyse der Frauenfiguren im Westerngenre vgl. Cook (1998), Lucas (1998) und Tompkins (1992).

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regularly identify across gender lines in reading and in watching movies and television. Feminist theorists have shown how movies force women to look at women from the point of view of men, seeing women as sex objects, forcing women to identify against themselves in order to participate in the story. Westerns do this more than most narratives […]. But in the very act of harming women this way Westerns also force men into parts that are excruciating to perform, parts that, given the choice, they probably would not have wanted to play. In fact, what is most interesting about Westerns at this moment in history is their relation to gender, and especially the way they created a model for men who came of age in the twentieth century. (1992: 17) Für Tompkins sind die sexistischen Implikationen des Westerns nicht zu übersehen, gleichwohl kann sie sich der Faszination des Genres und seiner Protagonisten nicht entziehen: I am simultaneously attracted and repelled by the power of Western heroes, the power that men in our society wield. I’ve been jealous of power, and longed for it […]. I have also been horrified by the male exercise of power and, like most women, have felt victimized by it in my own life. […] So I came to this project with a mixture of motives, not unlike the motives with which men originally came to the West: curiosity, awe, and a desire to subdue and possess. […] But though I have felt contempt and hatred for the Western hero, for his self-righteousness, for his silence, for his pathetic determination to be tough, the desire to be the Western hero, with his squint and his silence and his swagger, always returns. (1992: 18f.) Tompkins’ Schlussfolgerung: »With an irony so deep it envokes pity, the Western struggles and strains to cast out everything feminine, but in doing so only embeds itself more firmly in the gender system.« (1992: 127) »Go West, young man, go West and grow up with the country!« Überaus deutlich wird in diesem Spruch eine Parallelität oder Identität zwischen dem Individuum (»young man«) und dem Land am Beginn seines Entwicklungs- und Zivilisierungsprozesses suggeriert. Historische und individuelle Reifeprozesse werden miteinander in Verbindung gebracht und nahezu gleichgesetzt (»grow up with the country«). Das Heranwachsen des Landes bedeutet zunächst quantitativ die Eroberung und Besiedelung neuer Landstriche und die zunehmende Kontrolle über größere Territorien des amerikanischen Westens; darüber hinaus verweist das Heranwachsen des Landes aber auch auf den qualitativen Prozess der Kultivierung, auf das Entstehen und die Konsolidierung demokratischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen, auf Industrialisierung und Modernisierung der entstehenden Nation. Der geographische Landgewinn und die kulturelle, ökonomische und politische Entwicklung der Territorien und Staaten gehen Hand in Hand, und in den USA vollzog sich diese Entwicklung mit rasanter Geschwindigkeit. Allerdings entwickeln sich Land und Gesellschaft einerseits und das Individuum andererseits nicht immer im gleichen Maße und im harmonischen Gleichtakt. Vielmehr kann es zu Reibungen und Konflikten kommen.

No Country for Old Men

Der Alterungsprozess des Menschen vollzieht sich konkret am Individuum, gleichzeitig finden aber auch kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche statt; und der Wandel der Welt, das Verschwinden alter Traditionen, die Veränderungen von Sitten und Wertvorstellungen und die Verbreitung neuer Denkweisen, neuer ökonomischer und technologischer Strukturen verstärken die Effekte des individuellen Alterns bis hin zu körperlichen und geistigen Erschöpfungs- und Verfallsprozessen und machen das Alter in der Wechselwirkung innerer und äußerer Einflüsse insgesamt zu einer so wirkungsmächtigen und nicht selten krisenhaften Lebenserfahrung. Was ganz allgemein gilt, zeigt sich im vorliegenden Fall – in der Geschichte des amerikanischen Westens und den entsprechenden Fiktionalisierungen in der Populärkultur – in besonderer Schärfe, weil sich die historischen Prozesse in relativ raschen Zeiträumen vollziehen und sich die Wechselwirkungen zwischen individueller Befindlichkeit und sozialen Bedingungen somit außerordentlich stark bemerkbar machen. Im Laufe kurzer Zeit entwickeln sich das durch den typischen Westernhelden repräsentierte Individuum und das Land (d.h. der Staat, die bürgerliche Gesellschaft) hinsichtlich ihrer Bedürfnisse, Ansprüche und Werte sukzessive auseinander. »Go West, young man, go West« … aber innerhalb weniger Jahre driften die Entwicklungsstränge von Mensch und Land, von natürlichem Alterungsprozess und kulturellem Modernisierungsprozess auseinander. Individuum und Gesellschaft entfremden sich in zunehmendem Maße. Falls das Individuum nicht flexibel und extrem anpassungsfähig bleibt, wird die Aufforderung »grow up with the country« unweigerlich zu Spannungen und zu einem tragisch anmutenden Dualismus führen – und der einstmals verheißungsvolle Westen entpuppt sich als »No Country for Old Men«. Auch davon handeln die Geschichten des Westerngenres. In Cormac McCarthys Post-Western7 No Country for Old Men (2005) und in der gleichnamigen Verfilmung des Romans von 2007 beispielsweise sinnt der kurz vor der Pensionierung stehende Sheriff Ed Tom Bell (Tommy Lee Jones8 ) Anfang der 1980er Jahre über das Leben, das Alter und die aus seiner Sicht beunruhigenden Veränderungen der Gesellschaft nach, vor allem über die Gewalt und verstörende Brutaliät – verkörpert durch den soziopathischen Killer Chigurh (Javier Bardem) –, die er bei seiner Arbeit in Texas, nahe der mexikanischen Grenze, erlebt. Die verworrene, nahezu undurchschaubare Mordserie, die er untersuchen muss, verweist auf die Unübersichtlichkeit und Unbarmherzigkeit der modernen Welt, in der einfache Wahrheiten keine Gültigkeit mehr haben. Bell erfährt die Einsamkeit, die mit dem Alter kommt: »I’ve lost a lot of friends over these last few years. Not all of em older than me neither. One of the things you realize about getting older is that not everybody is goin to get older with you.« (McCarthy 2005: 216) Und er reflektiert über die Entfremdung, die er bei alten Menschen beobachtet und selbst von Tag zu Tag stärker empfindet:

7 8

Zum Subgenre des Post-Westerns vgl. Campbell (2013). Tommy Lee Jones wurde durch seine Rollen in Western und Post-Western wie Lonesome Dove (dt. Weg in die Wildnis/Alternativtitel: Der Ruf des Adlers, US 1989), The Good Old Boys (dt. Einmal Cowboy, immer ein Cowboy, US 1995), The Missing (US 2003), The Three Burials of Melquiades Estrada (dt. Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada, US/MEX/F 2005), No Country for Old Men (US 2007) und The Homesman (US/F 2014) gleichsam zum neuen ›alten Gesicht‹ des amerikanischen Westens.

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The other thing is the old people, and I keep coming back to them. They look at me it’s always a question. […] You see em and they dont even look confused. They just look crazy. That bothers me. It’s like they woke up and they dont know how they got where they’re at. Well, in a manner of speakin they dont. (McCarthy 2005: 304) Bells Gespräch mit seinem Onkel Ellis spendet nur schwachen Trost: »I agreed with him that there wasnt a whole lot good you could say about old age and he said he knew one thing and I said what is that. And he said it dont last long. I waited for him to smile but he didnt.« (McCarthy 2005: 281) Allerdings begreift Bell durch Schilderungen von früheren Gewalttaten, dass seine Sicht auf die Vergangenheit möglicherweise altersbedingt verklärt ist, dass sein Alter ihn rückblickend die Dinge anders wahrnehmen lässt, als sie tatsächlich waren, und er muss folglich erkennen, »that this country has got a strange kind of history and a damned bloody one too« (McCarthy 2005: 284).

2.

Western als moderner Mythos

In der Literatur wie auch im Film ist der Western das Genre der Populärkultur, in dem sich die Geschichte, die Politik und die Gesellschaft Amerikas mit all ihren Widersprüchen anschaulich abbildet und auf diskursive Weise konzentriert. Spannung entsteht in diesem Genre nicht nur im traditionellen erzählerischen Sinne durch abenteuerliche Handlungen und dramatisch zugespitze Konflikte, sondern auch gedanklich durch die teils naive Inszenierung, teils kritische Bestandsaufnahme und Entlarvung historischer (aber zuweilen immer noch einflussreicher) Ideologien und Wertesysteme. Der ›amerikanische Traum‹ und was daraus geworden ist, die großen Hoffnungen und die bitteren Enttäuschungen der Neuen Welt, bilden den thematischen Kern des Genres, wie es sich heute – lange nach seiner kinematographischen Blüte in den 1940er bis 1960er Jahren – darstellt.9 The Western has been a formative cultural experience for generations of audiences who have drawn on its evocative and affecting images, characters, narratives and spectacle to make life pleasureable, rich and meaningful. Yet […] the Western bears complex and contradictory pleasures and meanings. (Lusted 2003: 9) Der Western ist für die USA zu einem facettenreichen Spiegel der Selbstdarstellung, der Selbstvergewisserung und der Selbstkritik geworden, eine vertraute und wiedererkennbare Form der Erzählung, die durch Konventionalisierung, Stilisierung und Mythologisierung nationale Identität und Werte als vielfach typisiertes Narrativ inszeniert und dann vor allem in den Erscheinungsformen des revisionistischen Westerns, Spätwesterns oder Post-Westerns kritisch befragt. Aber auch jenseits der Grenzen der USA 9

Die Glanzzeit des Westerns ist zweifellos vorbei, doch ganz totzukriegen war das Genre nie. Besondere Beachtung verdient vor allem das nach wie vor starke akademische Interesse am Western und seinen politischen und ideologischen Konnotationen. Vgl. dazu Carmichael (2006), Pippin (2010), Slotkin (1998), Tompkins (1992), Tuska (1985), Walker (2001). Einen Überblick über die Ästhetik, Geschichte und die Entwicklung des Western-Genres bieten Buscombe (1998), Hanisch (1984), Jeier (1987), Kitses (1998), Kitses (2004), Rebhandl (2007), Seeßlen (1995), Wright (1977).

No Country for Old Men

konnte der Western zu einem populären und überaus erfolgreichen Genre werden, weil er allgemeingültigen Vorstellungen von Wildnis und Zivilisation, von individueller Freiheit und sozialen Einschränkungen, von Fortschritt, Entsagungen und Verlusten prägnante Bilder verleiht und somit gleichsam die inhärenten Antinomien der Moderne auf dramatische Weise gestaltet. Bazin charakterisiert den Westernfilm als »[d]as amerikanische Kino par excellence« (2004: 255), aber dieses amerikanische Kino erweist sich darüber hinaus auch als quasi universeller Ausdruck einer Befindlichkeit, die über regionale Grenzen, über spezifische historische Erfahrungen und über kulturelle Mentalität und nationale Ideologie hinweg Gültigkeit besitzt. Bazin erkennt im Western eine »geographische Universalität« (2004: 256) und in seinen ästhetischen Elementen einen modernen Ausdruck älterer Bedeutungsschichten, »Zeichen oder Symbole dessen, was er in Wirklichkeit ist: Mythos.« (2004: 257) Als Mythos ist der Western nicht historische Dokumentation – auch wenn er natürlich immer wieder auf amerikanische Geschichte und historische Ereignisse und Personen verweist –, und er verspricht auch nicht die harmonische Auflösung aller Gegensätze und Widersprüche der Geschichte und der westlichen Zivilisation; stattdessen stellt er als mythisches Narrativ die Erzählungen und die Bilder zur Verfügung, die die Gegensätze und Widersprüche unserer Realität und unseres Denkens zur Anschauung bringen. Gleichermaßen attestiert Seeßlen dem Genre aus soziologischer Perspektive nicht nur eine enorme Bandbreite an thematischen Ausprägungen – »Es gibt kaum einen Traum, kaum eine Hoffnung, kaum eine Angst, kaum eine Ideologie, kaum ein Trauma, kaum einen Zorn, der sich nicht in die Satteltasche eines Western-Helden packen ließe« (1995: 22) –, sondern auch eine gewisse Universalität der verhandelten Themen: Der Western repräsentiere eine »universale Aussage […], weil seine Mythen in sich die Widersprüche nicht nur der Geschichte der ›westlichen Welt‹, sondern auch solche eines jeden (zumindest jeden männlichen) Individuums in seinem Gesellschaftssystem tragen« (1995: 21). Im vorliegenden Kontext erhält Seeßlens Interpretation des Genres besonderes Gewicht, denn er versteht »das geschichtliche Gleichnis« des Westerns »auch als menschliches« (1995: 21). [D]as Genre [vermittelt] ein Geschichtsbild, das in seinen schlimmen Beispielen perfekte patriarchalisch[e] Mythen liefert, in seinen besten aber eine Dialektik zwischen Einzelschicksal und historischer Struktur zeigt, wie sie keine Geschichtsschreibung sonst zu realisieren imstande ist. […] Der Western ist das Drama der Sozialisation, in dem sich der wilde, ›unzivilisierte‹ Naturzustand dem ordnenden, besitzergreifenden Eingriff nur anfänglich widersetzen kann, um am Ende um so wirksamer ›kolonialisiert‹ zu werden. (1995: 21f.) Westerngeschichten der Populärkultur – die Abenteuer der Pioniere und Siedler, der Cowboys und Revolverhelden, der Zug in den Westen, die Eroberung der Wildnis und die Etablierung von Gesetz und Ordnung und allen weiteren zivilisatorischen Strukturen – vermitteln also nicht unbedingt historische Wahrheit im Sinne präziser Fakten, aber sie können als Repräsentationen einer mythisch überhöhten, poetischen Wahrheit verstanden und in doppelter Funktion als Sozialisationsgeschichten ihrer individuellen Helden und Antihelden wie auch als Entwicklungsgeschichte einer ganzen Nation

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gedeutet werden. Sie evozieren in ihrer Dramatik und Symbolik den Prozess des Heranwachsens, der Initiation und des Alterns, inklusive des Tatendrangs und Überschwangs der Jugend wie auch der Enttäuschungen und Desillusionierungen, die mit dem Alter so häufig (zwangsläufig?) kommen – Enttäuschungen einer individuellen Biographie wie auch der kollektiven Befindlichkeit und gesellschaftlichen Realität, wie sich in der Entwicklung des Westernfilms von den frühen optimistischen Western hin zu den revisionistischen, dystopischen und elegischen Western zeigt.10 In gewisser Weise spiegelt das Genre in seiner Entwicklung von naiv-idealistischen zu revisionistisch-kritischen Formen, vom romantischen zum dystopischen Western, gleichsam von der unbedarften Jugend zum reifen Alter, sinnbildhaft den Alterungsprozess des Menschen wider, der nach Jahren und Jahrzehnten seine Jugend vergangen sieht und mit Schrecken seines Alters gewahr wird, nostalgisch zurückblickt oder sich bei klarem Bewusstsein mit der neuen Realität abfindet. Wie kein anderes Genre der Populärkultur veranschaulicht der Western durch seine Geschichte und die chronologische Abfolge seiner verschiedenen Inkarnationen die Ablösung der Leichtigkeit und des Leichtsinns der Jugend durch die Sentimentalität und Schwermut, aber auch die Strenge, Nachdenklichkeit und Abgeklärtheit des Alters. Der Glanz und die Romantik der frühen Westernfiktionen, der Glaube an den Fortschritt und an die Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums, die Zuversicht des Neubeginns und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft werden in zunehmendem Maße von der Bewusstwerdung der Gewalt und der Schrecken der Geschichte, vom Schuldbewusstsein angesichts einer blutigen und rassistischen Eroberungs- und Kolonialpolitik und von den unbarmherzigen Strukturen der modernen kapitalistischen Welt verdrängt und gehen schließlich im Sog der umfassenden politischen und gesellschaftskritischen Diskurse der 1960er und 1970er Jahre verloren: das Erblühen des American Dream und dessen Verwelken. In seiner Lebensspanne demontiert und zerstört das Westerngenre den Mythos des amerikanischen Traums, eine der Grundlagen seiner Existenz, und schafft sich damit in gewisser Weise selbst ab. Das heisst nicht, dass keine neuen Westernfilme mehr produziert würden, aber es bedeutet wohl, dass sie hinsichtlich der kritischen Reflexion amerikanischen Nationalbewusstseins nichts wesentlich Neues mehr zum Genre beitragen können. Entscheidend ist aber, dass der Western nicht nur im spezifischen amerikanischen Kontext rezipiert werden kann – und sich deshalb durchaus ein längeres Leben verdient hat. Die dem Genre innewohnende »Dialektik zwischen Einzelschicksal und historischer Struktur« (Seeßlen 1995: 21) und deren mythische Ausprägung erlauben die Öffnung des Interpretationsrahmens auf eine größere Perspektive, die das Einzelschicksal nicht nur im Verhältnis zu den Strukturen amerikanischer Geschichte und zu Erfahrungen im amerikanischen Kulturraum sieht, sondern im Verhältnis zu Strukturen der Menschheitsgeschichte und zu menschlichen Erfahrungen generell.11

10 11

Zum Begriff des ›Dystopian Western‹ vgl. Lusted (2003: 174-204), zum Begriff des ›Elegiac Western‹ vgl. Lusted (2003: 205-230). Zu universellen Deutungen des Westerns über den amerikanischen Kontext hinaus und zu internationalen Ausprägungen und Formen des Westerngenres vgl. die Beiträge in Klein u.a. (2012) und Klein (2015).

No Country for Old Men

3.

Frontier

Neben dem überaus problematischen Konzept des ›manifest destiny‹, das als ideologische Begründung, Motivation und Legitimation der Expansion und Hegemonie der USA – oder präziser: der weißen, angloamerikanischen Zivilisation – diente und die Vertreibung, Unterwerfung und Ermordung der indigenen Völker zur Folge hatte,12 gewann auch der Begriff und die Idee der Frontier große Bedeutung im historischen Prozess der Eroberung und Kolonisierung Nordamerikas sowie in den Repräsentationen und Interpretationen dieses Prozesses. Die typische Westerngeschichte spielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Frontier, der Grenze zwischen den bereits besiedelten östlichen Gebieten Nordamerikas und den noch unerschlossenen Territorien des Westens, im immer weiter westwärts vorangetriebenen Übergangsbereich zwischen der expandierenden Zivilisation und der schwindenden Wildnis. Das Motiv der Frontier ist ein zentrales Element der Poetik des Westerns und ein wichtiger Baustein in der vorliegenden Betrachtung des Themas des Alter(n)s in Westernfilmen. Die Frontier, »the meeting point between savagery and civilization« (Turner 2010: 3), wird verstanden als der Ort und die Erfahrung, die den Europäer in der Neuen Welt durch Anpassung an die harten Lebensbedingungen und die unerbittlichen Kräfte der noch ungezähmten Natur in einen Amerikaner verwandelt. »The frontier is the line of most rapid and effective Americanization.« (Turner 2010: 3f.) Im Aufeinandertreffen und Zusammenspiel von natürlichen Elementen und Herausforderungen der Wildnis einerseits und Elementen der europäischen Kultur und Zivilisation andererseits entsteht die neue amerikanische Identität: stark, selbstbewusst, pragmatisch, grenzüberschreitend, individualistisch – so Frederick Jackson Turner in seiner einflussreichen Deutung der Frontier als Ursprung und Essenz amerikanischer Geschichte und Kultur von 1893, The Significance of the Frontier in American History, »the most famous paper ever given by an American historian« (Bogue 2010: iv). Die Frontier ist Herausforderung und Chance, der Übergang von den vertrauten und verbrauchten Strukturen einer alten Existenz zu den Möglichkeiten eines neuen Lebens im verheißungsvollen Westen; sie konnotiert Freiheit und Selbstbestimmung sowie Veränderungs- und Erneuerungsprozesse des Individuums, die darüber hinaus die ganze Gesellschaft zu revitalisieren vermögen: The West was another name for opportunity. […] The self-made man was the Western man’s ideal, was the kind of man that all men might become. Out of his wilderness experience, out of the freedom of his opportunities, he fashioned a formula for social regeneration, – the freedom of the individual to seek his own. (Turner 2010: 212f.) Nach Abschluss der Besiedelung des Kontinents gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die einst historisch-geographische Frontier als Grundlage einer mentalitätsgeschicht-

12

John L. O’Sullivan schreibt in einem Artikel der New York Morning News vom 27.12.1845: »The American claim is by the right of our manifest destiny to overspread and possess the whole of the continent which Providence has given us for the development of the great experiment of liberty and federative self-government entrusted to us.« (zitiert nach Hine/Faragher 2000: 202)

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lich prägenden Grenzerfahrung zum Fundament des Gründungsmythos der USA stilisiert und somit zu einem ideologischen Schlagwort, das Exzeptionalismus begünstigt sowie amerikanisches Denken und amerikanische Politik bis auf den heutigen Tag in nicht unbeträchtlicher Weise beeinflusst hat. Die Frontier im Sinne Turners symbolisiert den Übergang von Natur zur Kultur und damit verbundene zivilisatorische Transformationsprozesse, wobei zu betonen ist, dass die historische Frontier natürlich keine völlig unberührte Wildnis und keinen völlig kulturfreien Raum vorfand: Vor den europäischen Siedlern lebten bereits zahlreiche Völker mit ihren spezifischen Kulturen auf dem amerikanischen Kontinent, deren Anspruch auf Anerkennung und kulturelle Eigenständigkeit im Rahmen der Kolonisierungspolitik und im Zuge der Erschaffung und Verbreitung des Gründungsmythos allerdings wenig Beachtung fand. Turners Darstellung des Expansionsprozesses und seine Zuspitzung amerikanischer Geschichte und Identität auf die Frontier-Erfahrung sind durch kritische historische Forschung längst relativiert worden (vgl. Hine/Faragher 2000: 9, 401f., 494). Zu einseitig, zu spekulativ, zu ideologisch erscheint seine These der Frontier. »In fact, the apparently unifying concept of the frontier had arbitrary limits that excluded more than they contained«, stellt Limerick, Repräsentantin der New Western History-Bewegung fest. »Turner was, to put it mildly, ethnocentric and nationalistic.« (1988: 21) Aber im kollektiven Bewusstsein und in der Geschichtsschreibung wirkte und wirkt Turners schlagkräftige Frontier-These als Mythos noch lange nach. So ist der FrontierMythos ein kontroverses, aber nach wie vor erklärungsmächtiges Konstrukt, dessen nachhaltiger Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft, Kultur und Unterhaltungsindustrie, inklusive verschiedener Ausdrucksformen der Populärkultur, vor allem aber auf die Erscheinungsform und ideologische Grundierung des Westerns, kaum zu überschätzen ist.13 The Myth of the Frontier has found expression through media as varied as the pamphlet, the dime novel, the ninetheenth-century historical romance, the stage melodrama, the Wild West show, the movie, the modern paperback, and the TV miniseries.

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Auch Buscombe sieht deutlich die ideologischen Verzerrungen des Frontier-Mythos im Sinne Turners sowie deren potenzielle Nachwirkungen im Westerngenre; gleichwohl gibt er den Western nicht gänzlich an die reaktionäre Ideologie verloren, sondern weist – zu Recht – auf Nuancen einiger Westernfilme hin, die einer einseitigen Ideologisierung entgegenwirken: »The Turnerian view of the frontier also paid scant attention to the position of women and minorities. And its easy assumptions that westward expansion was a success story were belied by many catastrophic failures and a rapacious capitalism which wreaked havoc on the natural environment. From this perspective, if the Western expresses a Turnerian view of the frontier, then it can be attacked for its reactionary ideology, for promoting a myth of the West rather than portraying things as they really were, a fantasy, not true history. […] If it is indeed about America, it presents a distorted view of it. Westerns can be seen as supporting a racist, sexist, even homophobic view of American society, and on the surface that would seem to be self-evidently true. But a more subtle critique of some Westerns leads to the questioning of such easy assumptions. Some landmark films may be analysed in a more sophisticated manner, acknowledging perhaps their failure to confront full-on the politically reactionary nature of the genre, but finding ways in which they may nevertheless redeem themselves by undercurrents which run counter to the perceived ideological thrust.« (2012: 14)

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Moreover, the influence of the Myth is such that its characteristic conventions have strongly influenced nearly every genre of adventure story in the lexicon of mass-culture production, particularly science fiction and detective stories. (Slotkin 1998: 25) Indem man die Bedeutung der Frontier, die als Symbol so tief in einer Idee amerikanischer Geschichte und amerikanischer Identität verwurzelt ist, für die Semantik des Westerngenres betont, mag es zunächst so scheinen, als ob sie die Interpretation des Westerns auf seinen nationalen amerikanischen Geltungsbereich einschränke; aber ein Blick auf die Genre-Definition von Kitses (1998; 2004: 1-25) macht deutlich, dass gerade auch das weitreichende Bedeutungspotenzial der Frontier dazu beitragen kann, die mythischen Dimensionen des Westerns weiter zu entfalten und Interpretationen jenseits eines rein amerikanischen Kontextes zu legitimieren. Mit seiner Interpretation der Frontiersymbolik als zentralem Motiv des Genres liefert Kitses das Fundament für ein besseres Verständnis der thematischen Relevanz wie auch der thematischen Breite des Westerns. Kitses sieht die Frontier – wiederum in der mythischen Konzeption Turners – als Berührungspunkt unterschiedlicher Diskurse und als symbolischen Austragungsort der Konflikte der durch diese Diskurse repräsentierten Wertvorstellungen. Die unterschiedlichen Wertbegriffe bilden ein Spannungsfeld dialektischer Antinomien, die sich in einem System von Oppositionen jeweils einer der beiden Seiten diesseits und jenseits der Frontier (namentlich Zivilisation oder Wildnis) zuordnen lassen, wobei ein Netz positiver wie negativer Qualitäten entsteht. Da auf beiden Seiten sowohl positiv wie auch negativ konnotierte Begriffe zu finden sind, ergibt sich ein komplexes und insgesamt ambivalentes Spektrum, das nicht nur amerkanische Geschichte betrifft, sondern die grundlegenden Konflikte des Menschen als Individuum und als soziales Wesen in der Moderne abbildet. Vorderhand scheinen damit in erster Linie die Konflikte von Männern als den typischen Protagonisten der Western gemeint zu sein, aber die von Kitses aufgeführten dualistischen Wertbegriffe gelten natürlich auch in gleichem Maße für Frauen. Als Hauptgegensatzpaar stehen sich die Kategorien »Wilderness« und »Civilization« an der Frontier gegenüber; diesen beiden elementaren Kategorien ordnet Kitses weitere Begriffe und Qualitäten zu. Unter der Rubrik »Wilderness« erscheinen beispielsweise Begriffe wie »The Individual«, »Nature« und »The West« mit jeweils entsprechenden Aspekten, und unter der Rubrik »Civilization« listet Kitses Begriffe wie »The Community«, »Culture« und »The East«, ebenfalls mit den zugehörigen Charakteristika (vgl. die tabellarische Übersicht auf der folgenden Seite):

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THE WILDERNESS

CIVILIZATION

The Individual freedom honour […] intergrity self-interest solipsism

The Community restriction institutions   compromise social responsibility democracy

Nature purity experience empiricism pragmatism brutalization savagery

Culture corruption knowledge legalism idealism refinement humanity

The West […] equality agrarianism tradition the past

The East   class industrialism change the future

(Kitses 1998: 59; 2004: 12)

Man sieht die Gegensätzlichkeit der Wertbegriffe und wie sie bipolar aufeinander bezogen sind, man sieht aber auch, dass keine der beiden Sphären, die sich an der Frontier berühren, in einseitiger Weise idealisiert oder diskreditiert wird. Individualität birgt Chancen wie auch Gefahren, Natur ist befreiend wie auch bedrohlich für Leib und Leben, Kultur erhebt und verfeinert, kann aber auch einengen und korrumpieren, Zivilisation und Gesellschaft bieten Sicherheit und fordern Einschränkungen. Kitses’ Interpretationsmodell generiert ein komplexes Bedeutungsfeld; es lässt sich auf viele Genrebeispiele erfolgreich anwenden und verdeutlicht schlüssig, wie der Western als populäres Narrativ die Sphäre der Zivilisation wie auch die Sphäre der Wildnis kritisch und ausgewogen inszeniert und mit einer Vielzahl von konfligierenden existenziellen und sozialen Erfahrungen in Verbindung bringt, die sich ideologischen Vereinnahmungen weitestgehend entziehen. Beide Bereiche werden durch positive wie auch durch negative Qualitäten charakterisiert, so dass die Frontier als Repräsentation historischer Transformationsprozesse und als narratives Motiv des Übergangs und des Wandels keine eindeutigen, sondern in vielerlei Hinsicht gemischte Gefühle auslöst. Die Frontier zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine statische Grenzlinie ist, sondern ein gleichsam konkreter wie auch symbolischer Raum der Transformation und des Wandels vom Naturzustand in ein modernes Staatengebilde. Sie ist nicht nur ein Indikator für diesen historisch-kulturellen Wandel, sondern als Erfahrungsraum eine Kraft des Wandels selbst. Das Szenario der Frontier ist dem epischen oder heroischen Weltzustand im Sinne Hegels vergleichbar, einer vorstaatlichen Epoche, in der nicht legitimierte und gefestigte Institutionen, sondern individuelle Helden gegen Willkür und

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Unrecht und für Ordnung und Gerechtigkeit kämpfen und dadurch dem organisierten Staat und der Zivilgesellschaft im modernen Sinne den Weg bereiten.14 Als Symbol für historische und kulturelle Transformationsprozesse verweist die Frontier in der Mythologie des Westerns gleichermaßen auf den historisch und kulturell bedingten Wandel in der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, und Kitses’ erweiterte Interpretation der an der Frontier deutlich werdenden Konflikte zwischen individuellen und zivilisatorischen Kräften macht dabei die Ambivalenzen dieser Beziehung evident. Darüber hinaus wird die Frontier in ihrer zentralen, sinnstiftenden Funktion innerhalb des Westerngenres auch zum Sinnbild des elementarsten aller Wandlungsprozesse: des Alterungsprozesses des Menschen. Der nationale Aufruf »Go West, young man, go West and grow up with the country!« bedeutet nichts anderes, als zur Frontier zu gehen, sich dem transformatorischen Prozess der Frontier-Erfahrung zu stellen und die Grenzlinien des besiedelten Landes wie auch der eigenen Existenz weiter auszudehnen. Die im Western thematisierten historischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse und das Altern seiner Protagonisten sind wie Spiegelungen aufs Engste miteinander verknüpft und erhellen sich gegenseitig.

4.

»It … feels like times have changed.« – »Times maybe. Not me.«

Vielfältig und reich an Konnotationen sind die Darstellungen des Alter(n)s im Westernfilm, gleichwohl lassen sich bei allen die Bezüge zwischen individueller Biographie und historischem Zivilisationsprozess erkennen. Als bereits pensionierter Kavallerie-Captain Nathan Brittles begibt sich John Wayne in She Wore a Yellow Ribbon (US 1949) auf eine letzte Mission, um einen Krieg zwischen US-Soldaten und einer Allianz aus Cheyenne und Arapaho zu verhindern. »We are too old for war«, mahnt der greise Häuptling Pony That Walks (Chief John Big Tree), der keinen Einfluss mehr auf die jungen Krieger seines Stammes hat, und Brittles pflichtet ihm bei: »Yes, we are too old for war. But old men should stop wars.« (US 1949) Das Alter und das Wissen, dass sie beide der Vergangenheit angehören, machen die beiden Männer trotz aller Gegensätze zu Verbündeten. Manche Unterschiede, die die historische Frontier einst markiert haben mag, werden durch die Zeit ausgelöscht. »Yellow Ribbon ist ein trauriger und ein schöner Film«, sagt Regisseur John Ford (zitiert nach Jeier 1987: 104). Und der Filmkritiker Seidl bestätigt: »Eine überwältigende Traurigkeit geht aus von diesem Film; […] Es ist ein Film der Trauer um die verlorene

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»Einen schon zu organisierter Verfassung herausgebildeten Staatszustand mit ausgearbeiteten Gesetzen, durchgreifender Gerichtsbarkeit, wohleingerichteter Administration, Ministerien, Staatkanzleien, Polizei usf. haben wir als Boden einer echt epischen Handlung von der Hand zu weisen. Die Verhältnisse objektiver Sittlichkeit müssen wohl schon gewollt sein und sich verwirklichen, aber nur durch die handelnden Individuen selbst und deren Charakter […]. So finden wir im Epos zwar die substantielle Gemeinsamkeit des objektiven Lebens und Handelns, ebenso aber die Freiheit in diesem Handeln und Leben, das ganz aus dem subjektiven Willen der Individuen hervorzugehen scheint.« (Hegel 1976: 414) Zur Analogie zwischen Westerngenre/Frontier und Hegels epischem Weltzustand vgl. Bayertz (2004).

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Zeit.« (Seidl 2003: 126) Aber die Vergangenheit, die der Film durch die Trauer und Sehnsucht seines Protagonisten beschwört, erscheint nicht nur vergangen, sondern geradezu unwirklich. The past of She Wore a Yellow Ribbon […] is not seen and not known, except in the minds and imaginations of the filmmaker and his audience. […] The greatest force in She Wore a Yellow Ribbon is the past, rooted in American mythology. That Ford places the American dream in the past instead of in its usual position in the future of his characters’ lives is an indication of his growing disillusionment with that dream and his realization of its unreality. (Place 1974: 123f.) In seinem letzten Film, The Shootist (dt. Der Scharfschütze, US 1976), spielt John Wayne den berüchtigten Revolverhelden John Bernard Books, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Krebs erkrankt, ebenso wie Wayne im realen Leben, und geschwächt dem Tod entgegensieht. In Carson City möchte Books, »dieses Wrack von einem Mann« (Swarthout 1977: 115), seine letzten Tage verbringen, aber in der Stadt trifft er auf wenig Sympathie, da man aufgrund seiner Reputation mit Ärger rechnet. Vor allem Marshal Thibido (Harry Morgan) gibt ihm zu verstehen, dass Books als Relikt der gewalttätigen Vergangenheit des wilden Westens keinerlei Existenzberechtigung mehr in der modernen Zeit und neuen Gesellschaft hat: »Books, this is 1901, the old days are gone, and you don’t know it. […] We still got some weeding to do, but once we are rid of people like you we’ll have a goddamn garden Eden here.« (US 1976) Als er von Books’ Krankheit erfährt, gibt er ihm unverblümt den Rat, so bald wie möglich zu sterben: »Just don’t take too long to die. Be a gent and convenience everybody and do it soon.« (US 1976) Anstatt qualvoll am Krebs dahinzusiechen, entscheidet sich Books, seinen Tod selbst herbeizuführen und inszeniert einen letzten Kampf gegen drei Rivalen – ein finaler Akt heroischer Selbstbestätigung und Autonomie. Mit dem individuellen Tod als symbolischem Abschluss einer vergangenen Epoche endet auch Sam Peckinpahs The Ballad of Cable Hogue (dt. Abgerechnet wird zum Schluß, US 1970). Cable Hogue (Jason Robards) ist ein Mann des alten Westens, aber seine Bemühungen, eine Postkutschen-Haltestation inmitten der Wüste zu einem Stützpunkt der Zivilisation auszubauen, sowie sein Entschluss, mit der von ihm aufrichtig geliebten Prostituierten Hildy (Stella Stevens) nach San Francisco zu gehen und sich in der Westküsten-Metropole bürgerlich niederzulassen, zeigen, dass er an die Zukunft glaubt und sich auf das Abenteuer Zivilisation einlassen möchte. Dass er von einem Auto, Symbol der Moderne, überrollt wird und stirbt, noch bevor er die Wüste verlassen kann, ist eine tragisch-ironische Wendung, die Hogues individuellen Entwicklungsprozess zwar nicht negiert, aber die schicksalhafte Unmöglichkeit suggeriert, die Wildnis hinter sich zu lassen und in der modernen Welt glücklich weiterzubestehen. Mit der Entwicklungsgeschichte des Landes und der zunehmenden Konsolidierung der staatlichen und sozialen Strukturen altern auch die Protagonisten des Westerns und wandeln sich dabei häufig von strahlenden Helden zu desillusionierten Antihelden. Optimismus und Fortschrittsglaube weichen einem zutiefst kritischen Blick auf die Eroberungsgeschichte Amerikas, und die bereits in den Anfangsjahren des Genres implizierten Themen der Zivilisationskritik und der Entfremdung zwischen Individu-

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um und moderner Gesellschaft treten in den späteren revisionistischen Western und Post-Western als dominante Themen immer deutlicher zutage. In Larry McMurtrys Roman Buffalo Girls (1990) und in dem darauf basierenden gleichnamigen Film von Rod Hardy (US 1995) setzt sich Martha Jane Canary, besser bekannt als Calamity Jane (Anjelica Huston), mit ihrem Alter und den zivilisatorischen Veränderungen auseinander, die den amerikanischen Westen transformieren und ihr unstetes, abenteuerliches Leben zunehmend einschränken. Eingebunden in die Handlung sind tagebuchähnliche Briefe an ihre imaginäre Tochter Janey15 – Ausdruck ihres Verlangens nach Stabilität und Familie –, in denen sie die Erlebnisse mit ihrer Freundin Dora DuFran (Melanie Griffith) und ihren Weggefährten Bartle Bone (Jack Palance) und Jim Ragg (Tracey Walter) schildert und kommentiert, wobei das Hadern mit dem Alter und die damit verknüpfte nostalgische Sehnsucht nach der Jugend und der Vergangenheit des Landes zum durchgängigen Motiv werden und in zahlreichen Episoden und Variationen aufscheinen. Der ›Wilde Westen‹ und die Unberührtheit des Landes jenseits der Frontier werden gleichgesetzt mit den unbeschwerten Jugendjahren der Protagonisten – aber beides ist vergangen, und so schreibt Jane in einem ihrer Briefe: »We didn’t know it then, Janey, but them was the last of the Wild West times, before everything changed and Billy Cody made a show of it. Them last few days of wildness was our glory days.« (US 1995) In den beiden weiblichen Figuren Calamity Jane und Dora DuFran werden verschiedene Lebensentwürfe sichtbar, die aufs Engste mit Vorstellungen von Freiheit und Selbstbestimmung einerseits und Wünschen nach Liebe, Familie und Kindern andererseits verbunden sind. Deutlich zeigt sich in diesem Kontext die Relevanz von Kitses’ Interpretation der Frontiersymbolik. Unübersehbar ist auch die sinnfällige Verbindung zwischen dem unaufhaltsamen Zivilisationsprozess des Landes und den Altersprozessen aller Protagonisten in Buffalo Girls. Geprägt ist deren Alterungsprozess dabei von Phasen der Verdrängung und des Leugnens und von Momenten der Einsicht und Erkenntnis: She had known Bartle and Jim and Johnny when they were young, and in her thoughts they had never changed; years had passed, and then decades, and she still thought of them as young. Perhaps they thought the same about her, still saw her as the young woodchopper who wanted to go west, a girl who could walk all day beside the wagons and sit listening to their stories half the night. What was obvious, though, looking at the three of them in a cold camp in the Owl Creek Mountains, was that none of them was young; without any of them thinking about it, or even noticing, they had grown old – not so old perhaps, in terms of calendar years, but then, what were calendar years to people who had never settled, or wished to settle? The calendar meant nothing; what meant something, in the reaches of the

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Im Roman ist das gemeinsame Kind von Calamity Jane und Wild Bill Hickok nur eingebildet, und selbst die Beziehung zwischen Jane und Hickok ist nicht eindeutig belegt; im Film hingegen tritt Hickok tatsächlich auf, und die Tochter Janey existiert wirklich. Das sorgt zwar für berührende Szenen zwischen Mutter und Tochter in England, wo Janey bei Adoptiveltern lebt, ohne ihre eigentliche Mutter zu kennen, ist aber eine starke Verfälschung der Vorlage.

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west, were energy, muscle, will – three qualities they had all once had in abundance, otherwise they would not have survived. (McMurtry 1990: 67) Calamity Jane kritisiert ihre Freunde Bartle Bone und Jim Ragg, weil diese immer noch hoffen, irgendwo im Westen Biber zu finden, die sie in ihrer Jugend gejagt haben, um ihre frühere Lebensweise fortzusetzen und somit gleichsam ihre Jugend zurückzugewinnen: What it’s really a sign of, Janey, is that people can’t give up hoping for what they once had, youth or you name it. When Jim and Bartle come west the west meant beaver – now they’re old and the beaver have been gone for twenty-five years but the boys can’t admit it, at least Jim can’t. They still think there’s a creek somewhere boiling with beaver that God saved for them. It’s just how people are, Janey, they cling to foolish hopes. (McMurtry 1990: 13f.) Nach anfänglichem Zögern schließen sich Jane und ihre Freunde der zirkusähnlichen Wild West Show von William ›Buffalo Bill‹ Cody an und vermarkten »the wonder of the past they had all lived« (McMurtry 1990: 192), denn »›Billy Cody made the point when he started his Wild West show,‹ Calamity said. ›The big adventure’s over. It’s over, and that’s that. He’s smart to make a show of it and sell it to the dudes. I think I’ll go hire on with him, if he’ll have me. It would be more enterprising than sitting around here watching us all get old and die.‹« (McMurtry 1990: 68f.) Die Kommerzialisierung des Wilden Westens und die spektakuläre Inszenierung von Geschichte als purem, unkritischem Entertainment – und in dieser Beziehung kann Codys Wild West Show durchaus als Vorläufer des populären Westernfilms gesehen werden – sind nur weitere Zeichen für den forcierten Zivilisationsprozess und Ausdruck der fragwürdigen Tendenz, die Eroberung des Westens zu glorifizieren und zu mythologisieren. Für Calamity Jane ist die Show nur ein kurzer Aufschub auf dem Weg in die Einsamkeit und Verlorenheit des Alters. Am Ende ihrer eigenen Reise bekennt Jane: »Now I am old and going blind, half the time I wander over the plains and don’t even know what town I am looking for. Perhaps I am only looking for the past, Janey – how do you find the past?« (McMurtry 1990: 336f.) Wer es in die Wild West Show schafft, hat noch Glück. Die meisten Westernhelden jedoch scheitern bei dem Versuch, sich in der neuen Zeit zu behaupten. Ihre vielbeschworene Tragik ist, dass sie unter Einsatz ihres Lebens helfen, eine moderne Gesellschaft aufzubauen, oder diese in Zeiten der Gefährdung beschützen und verteidigen, aber selbst keine Akzeptanz in dieser Gesellschaft finden. Selbstbehauptung, Pragmatismus und Durchsetzungsvermögen, Waffenstärke und Gewaltbereitschaft sind die Eigenschaften, die dazu befähigen, an der Frontier zu überleben sowie Zivilisation zu begründen und Recht und Ordnung zu schaffen; es sind die gleichen Eigenschaften, die in Folge dafür verantwortlich sind, dass die harten Männer des Westens nicht selbst Teil dieser neuen Ordnung sein können. In manchen Fällen erweisen sich die ›Heldentaten‹ ihrer Blütezeit im Rückblick tatsächlich als brutale Verbrechen aus Habgier, Geltungssucht oder anderen niederen Beweggründen. Die offen zu Tage tretende Gewalt des

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kämpferischen Individuums, mit der die amerikanische Zivilisation an der Frontier errichtet wurde, kann im Sozialwesen der staatlichen Gemeinschaft nicht mehr toleriert werden. Die Selbstgewissheit und Authentizität des Individualisten kann in der unübersichtlichen Komplexität und Widersprüchlichkeit der modernen Lebenswelt nicht bestehen. »Im amerikanischen Western sind die Helden tragisch geworden, weil niemand mehr so recht sie brauchen und akzeptieren kann […]. Der Westen ist der Ort, an dem die Tragik des modernen Menschen begonnen hat, als der technologische Fortschritt, und was er im Gefolge hatte, sein Paradies zerstörte.« (Seeßlen 1995: 158) Durch ihre Individualität machen sich die alten Helden zu Außenseitern, zu unerwünschten Relikten der Vergangenheit, und nicht selten zu Outlaws. Die Versuche, sich anzupassen und in die moderne Gesellschaft zu integrieren, scheitern meist. Gefühle der Heimatlosigkeit, Unverständnis gegenüber bürgerlichen Lebensformen und gegenüber kapitalistischen Machtstrukturen und Ausbeutungsmechanismen, soziale Unangepasstheit und Konflikte mit der bestehenden Ordnung prägen ihre Altersphase, aber die Art und Weise, wie diese Konflikte im Western dargestellt werden, machen deutlich, dass die Unzulänglichkeiten – in dialektischer Verschränkung – auf beiden Seiten zu finden sind. Kritisch blickt das Genre sowohl auf die Vergangenheit, die blutige Gründungsgeschichte der USA und deren Protagonisten zurück als auch auf die Gegenwart und Zukunft, in der die moderne Gesellschaft Formen der Repression und der sozialen Entfremdung bedingt. Unzulänglich sind die alten Helden – trotz ihres Mutes und ihrer Charakterstärke –, und unzulänglich ist auch die neue Zeit – trotz Fortschritt und Zivilisation. Die Ambivalenzen, die Kitses’ Interpretation der dualistischen Struktur der Frontier aufdeckt, kommen auch hier zur Geltung. In Sam Peckinpahs Pat Garrett and Billy the Kid (dt. Pat Garrett jagt Billy the Kid, US 1973) werden die einstigen Freunde und Weggefährten Pat Garrett (James Coburn) und Henry McCarty (Kris Kristofferson), besser bekannt unter dem Spitznamen Billy the Kid, zu Gegnern. Garrett möchte die Vergangenheit hinter sich lassen und ein ehrbares Leben führen, während Billy sein Dasein als Outlaw ohne gesellschaftliche Zwänge bevorzugt. Als Sheriff soll Garrett im Auftrag der Regierung von New Mexico und einflussreicher Geschäftsleute – Politik und Kapital, die Motoren des Zivilisationsprozesses – den unerwünschten Störenfried Billy aus dem Weg räumen. »How does it feel?« fragt Billy, als er hört, dass Garrett die Seiten gewechselt hat und jetzt als nominierter Sheriff von Lincoln County das Gesetz vertritt. »It … feels like times have changed«, antwortet Garrett, woraufhin Billy entgegnet: »Times maybe. Not me.« (US 1973) Billy verweigert sich der neuen Zeit, will sich nicht anpassen oder unterordnen, sondern beharrt auf seinen Vorstellungen von Individualismus und persönlicher Freiheit. Er will nicht erwachsen werden, er bleibt ›the Kid‹. Garrett hingegen akzeptiert die Zeichen der Zeit, den historischen Wandel und die Veränderungen, die mit dem Alter kommen; gleichwohl gesteht er im Gespräch mit einem Hilfssheriff, dass Billys Entscheidung womöglich die ehrenhaftere ist: »This country’s getting old, and I aim to get old with it. Now, the Kid don’t want it that way. He might be a better man for it. I ain’t judging.« (US 1973) Garrett tötet Billy the Kid – wie wir aus Geschichtsbüchern wissen – am 14. Juli 1881 in Fort Sumner. Was in Geschichtsbüchern nicht überliefert ist und der Film in deutlicher Symbolik zeigt, ist der doppelte Effekt dieser Tat: Garrett schießt zuerst auf Billy

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und dann in einen Spiegel, in dem er selbst zu sehen ist; die erste Kugel tötet ›the Kid‹, die zweite zerschmettert den Spiegel und Garretts Spiegelbild. In den Splittern ist Garrett noch zu erkennen, aber zerbrochen, fragmentiert – mit dem jüngeren Mann und dem, was er repräsentiert, hat sich Garrett selbst symbolisch getötet. Billy the Kid ist gewiss kein unschuldiges Opfer, sondern ein Dieb und Mörder, Garrett hat das Gesetz auf seiner Seite – und dennoch: Billys Tod löscht auch den besseren Teil Garretts aus. Der zertrümmerte Spiegel ist das Sinnbild seiner Selbstverleugnung. Vergangenes und Gegenwärtiges, nostalgische Träume der Jugend und reale Enttäuschungen des Alters werden durch die von Gewalt, Verlusterfahrungen und Entfremdung geprägten Lebensläufe der Western-Protagonisten sinnfällig in Beziehung gesetzt. Normen und Werte, die individuelles wie auch soziales Leben bestimmen, werden in Frage gestellt, und mit der revisionistischen Analyse einer verklärten Vergangenheit erhebt sich gleichzeitig Kritik an transformatorischen Prozessen der Moderne. Das Westerngenre ist der Spiegel, in dem sich die alt gewordenen Helden des Westens und die moderne Zivilisation gleichsam begegnen und der Parallelen und Schnittstellen ihrer Biographien gewahr werden, all ihrer Kraft, Größe und Nobilität, aber auch aller Risse, Verwerfungen und Ambivalenzen und aller Lebenslügen und unerfüllten Hoffnungen – ein Doppelporträt der Sehnsucht und der Trauer.

Quellenverzeichnis Filme Buffalo Girls (US 1995), Regie: Rod Hardy. No Country for Old Men (US 2007), Regie: Ethan und Joel Coen. Pat Garrett and Billy the Kid (dt. Pat Garrett jagt Billy the Kid, US 1973), Regie: Sam Peckinpah. She Wore a Yellow Ribbon (dt. Der Teufelshauptmann, US 1949), Regie: John Ford. The Ballad of Cable Hogue (dt. Abgerechnet wird zum Schluß, US 1970), Regie: Sam Peckinpah. The Shootist (dt. Der Scharfschütze, US 1976), Regie: Don Siegel. Unforgiven (dt. Erbarmungslos, US 1992), Regie: Clint Eastwood.

Primärtexte McCarthy, Cormac: No Country for Old Men. Vintage Books/Random House: New York, 2007. McMurtry, Larry: Buffalo Girls. Simon and Schuster: New York u.a., 1990. Swarthout, Glendon: Der Superschütze. [The Shootist]. Heyne: München, 1977.

Sekundärliteratur Altman, Rick: A Semantic/Syntactic Approach to Film Genre. In: Leo Braudy/Marshall Cohen (Hg.): Film Theory and Criticism: Introductory Readings. Seventh Edition. Oxford University Press: New York/Oxford, 2009, S. 552-563. Altman, Rick: Film/Genre. British Film Institute: London, 2004.

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Filmische Tragikomödien über Demenz: Et si on vivait tous ensemble?, Nicht schon wieder Rudi! und Honig im Kopf Henriette Herwig

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Demenz: Eine Herausforderung für die Gesellschaft und die Künste

Der demographische Wandel und die mit ihm verbundene Häufigkeit demenzieller Erkrankungen stellt unsere Gesellschaft vor die Aufgabe, eine neue Kultur der Integration alter und sehr alter Menschen entwickeln zu müssen (vgl. Herwig 2014). Sie muss wieder lernen zu akzeptieren, dass Alter und hohes Alter ebenso natürliche Bestandteile des menschlichen Lebens sind wie alle anderen Phasen auch. Die mit der wachsenden Zahl hochaltriger Menschen verbundene Zunahme altersbedingter Erkrankungen wie der Demenz ist die Begleiterscheinung einer an sich positiven Entwicklung: der Langlebigkeit. Sie verdanken wir zivilisatorischen Errungenschaften wie dem medizinischtechnischen Fortschritt, dem höheren Lebensstandard durch verbesserte Ernährung, Kleidung, Wohnverhältnisse (vgl. Thane 2005: 263) sowie dem Ausbau des Sozialstaats. Jedes zweite in Deutschland neugeborene Mädchen kann heute damit rechnen, 100 Jahre alt zu werden (Strauß/Philipp 2017: V). Das ist eine Lebenserwartung, von der die Menschen früherer Generationen nur träumen konnten. Wir können das Positive, den erfreulich großen Zuwachs an Lebenszeit nicht haben, ohne das Negative mitzutragen: die hohe Zahl hochaltriger, schwerkranker, teilweise multimoribunder Menschen, von denen sich viele in einem Zustand eingeschränkter Handlungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit befinden. In Deutschland leben derzeit ca. 1,6 Millionen Menschen mit Demenz – zwei Drittel davon leiden an der Alzheimer-Krankheit –, bis zum Jahr 2050 wird diese Zahl auf 2,4 bis 2,8 Millionen angestiegen sein.1 Die im Grundgesetz festgehaltene Unantastbarkeit der Würde des Menschen gilt auch für sie. Das erfordert eine Ethik solidarischen Handelns (vgl. Schockenhoff/Wetzstein 2005; vgl. Pott 2014). Ihre Pflegebedürftigkeit – historisch neu oft eine lange Phase – macht früher oder später meist den Wechsel der Wohnform, den Übertritt ins Pflegeheim nötig, eine Perspektive,

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Vgl. die Statistik der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, Informationsblatt 1. Weltweit wird die Zahl der Menschen mit Demenz auf mehr als 50 Millionen geschätzt.

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die Senior*innen, die sich noch nicht ›alt‹ fühlen, das Alter noch nicht in ihr Selbstbild integriert haben, gern vertagen (Lessenich/Rothermund 2011: 290). Die Notwendigkeit dazu tritt dann oft plötzlich, schockartig ein. Die Demenz zwingt zur Reflexion der tragenden Werte unserer Kultur, »zur Revision des neuzeitlichen Menschenbilds und zur Neubestimmung der Begriffe des Selbst, der Person und des Gedächtnisses sowie des instrumentellen Körperbegriffs« (Herwig 2016a: 144). Von neurophysiologischem Reduktionismus, der den Menschen auf das reduziert, was sein Neokortex leistet, müssen wir uns verabschieden. Rüdiger Pohl unterscheidet zwischen dem ›autobiographischen‹, dem ›deklarativen‹, dem ›prozeduralen‹ und dem ›semantischen Gedächtnis‹ und verkehrt das cartesianische ›Cogito ergo sum‹ zu dem Satz: »Wir sind, was wir erinnern« (2007: 8).2 Dabei ist es nicht entscheidend, ob wir das, was wir erinnern, tatsächlich erlebt oder nur geträumt, gelesen, in einem Film gesehen oder erzählt bekommen haben; unser Gedächtnis kann auch durch fremde und mediale Einflüsse manipuliert worden sein (vgl. Herwig 2016a: 145). Allerdings stellt sich die Frage, was aus uns wird, wenn unser Gedächtnis versagt und unsere Identität ihre Verankerung im ›autobiographischen Gedächtnis‹ verliert. Offenbar muss die Reihe der Gedächtnisformen um eine weitere ergänzt werden: das ›Leibgedächtnis‹. Dieses ist für die Aufrechterhaltung der Persönlichkeit bei Demenz entscheidend (vgl. Fuchs 2010), denn es »ist auch dann noch vorhanden, wenn sich das deklarative Gedächtnis mit seinen bewussten Erinnerungen längst verabschiedet hat« (Klare 2012: 175). Die Geschichte der Körpererfahrungen eines Menschen hat sich in sein ›Leibgedächtnis‹ eingeschrieben. Da das Selbst eines Menschen umfassender ist als seine bewussten Erinnerungen, kann über person-zentrierte Pflege (vgl. Kitwood 2019), Beachtung emotionaler Reaktionen (vgl. Berendonk 2010) und körperbetonte Kommunikation (vgl. Kontos/Martin 2013) auch im fortgeschrittenen Stadium der Demenz noch Kontakt zu ihm hergestellt und freudvolle Erfahrung vermittelt werden. Allgemeine Prinzipien und gesellschaftliche Tendenzen bedürfen der Konkretisierung am Einzelfall. In den letzten Jahren nehmen sich die Künste, vor allem Literatur, Theater, Tanz und Film, verstärkt dieser Aufgabe an. Sie erzählen die Lebensgeschichten von Senioren, auch von Menschen, die an einer der vielen Formen von Demenz leiden, differenzieren »Altersbilder«3 und stellen unterschiedliche Reaktionsweisen von Angehörigen und Pflegenden auf diese langfristig mit Sicherheit zum Tod führende Alterskrankheit dar. Diese Darstellungen erfreuen sich erstaunlich großer Resonanz, denn eine »immer älter werdende Gesellschaft sehnt sich nach der kulturellen Verarbeitung ihrer schlimmsten Schreckbilder« (Hugendick 2015). Offenbar besteht ein Bedürfnis nach Orientierung. Demenznarrationen, seien sie bildkünstlerischer, literarischer, theatralischer oder filmischer Art, sind der Versuch der »Enttraumatisierung«, der »Alltäglichmachung des größten Horrors des modernen Individuums, das sein Ich

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Im ›semantischen Gedächtnis‹ sind »allgemeine, zeitlose Wissensinhalte« abgespeichert, im ›prozeduralen‹ unbewusst ablaufende Alltagsfähigkeiten, im ›deklarativen‹ Inhalte, »auf die wir bewusst zugreifen können«, dies können auch Erfahrungen und lebensgeschichtliche Ereignisse sein, die im ›autobiographischen Gedächtnis‹ gespeichert sind (Klare 2012: 120). »Altersbilder sind konkurrierende, mitunter stereotype Vorstellungen von der Rolle, den Eigenschaften und dem Wert alter Menschen in der Gesellschaft.« (Pichler 2010: 415)

Filmische Tragikomödien über Demenz

so pflegt wie nie zuvor: die Auslöschung seines Geistes« (Hugendick 2015). In Richard Glatzers und Wash Westmorelands Filmmelodram Still Alice (dt. Still Alice: Mein Leben ohne Gestern, US/F 2014) geht das so weit, dass die an der seltenen Frühform von Alzheimer erkrankte Protagonistin, eine Linguistik-Professorin und anerkannte Kapazität auf ihrem Gebiet, fragt: »Warum konnte ich nicht Krebs kriegen?« (US/F 2014) Denn dann wäre ihr wenigstens der Respekt und das Mitleid der anderen sicher. So muss sie mit der Krankheit, dem durch sie verursachten Berufsverbot und der ungeheuren intellektuellen Kränkung, vor der auch ihr Ehemann davonläuft, weitgehend allein fertig werden. Auch die Künste stehen im Fall von Demenz vor einem Problem, dem der Darstellbarkeit des Nicht-Darstellbaren, des Vergessens (vgl. Vedder 2012; Friedrich/Keilhauer 2012; Krüger-Fürhoff 2015). Sie suchen dafür symbolische Bilder wie Nebel, Meereswogen, Gleiten in die Dunkelheit oder »Honig im Kopf«, wie der Titel von Til Schweigers Demenzfilm lautet. Die frühen Alzheimer-Spielfilme griffen gern zum Mittel der Rückblende, denn sie erlaubt es, die vergangene Lebensgeschichte der Betroffenen zu erzählen, die ihnen selbst im fortgeschrittenen Stadium der Demenz gerade nicht mehr zugänglich ist, und die Zuschauenden so immer noch mit Jugendbildern zu unterhalten – wie in Nick Cassavetes’ Filmromanze The Notebook (dt. Wie ein einziger Tag, US 2004). Die subjektive Perspektive des Betroffenen einzunehmen und dadurch auch extreme Reaktionsweisen nachvollziehbar zu machen, gelang in jüngster Zeit Florian Zellers Oscar-prämiertem Filmdrama The Father (UK 2020) mit Anthony Hopkins in der Rolle des demenzkranken Vaters (vgl. Hein, 2021). Bei literarischen Demenznarrativen bemühen manche Autor*innen sich ebenfalls um die Schilderung von Bewusstseinszuständen aus Innensicht und nutzen dabei die Mittel der erlebten Rede, des inneren Monologs und des stream of consciousness, setzen also auf interne Fokalisierung als konsequente Form der ästhetischen Subjektivierung. Das gilt beispielsweise für Hirngespinste (1986; Hersenschimmen, 1984) des niederländischen Autors Hendrik Jan Marsman, der unter dem Pseudonym J. Bernlef publizierte (Vassilas 2009: 102-104; Herwig 2016b: 182-184), und für den Roman Morgen oder Abend (1996) der früh verstorbenen deutschen Autorin Katrin Seebacher.4 Im Unterschied dazu klagen Betroffene seit geraumer Zeit ein, für sich selbst sprechen zu dürfen.5 Das ist aber nur in der Frühphase der Erkrankung und/oder mit Hilfe von Co-Autor*innen möglich. Filme sind darauf angewiesen, das Innenleben der Figuren sichtbar oder hörbar zu machen, demenziell verändertes Erleben über wahrnehmbare Verhaltensauffälligkeiten, Körpersprache, lautwerdende Gedanken, Off-Stimme, oder Reaktionsweisen anderer auf die demenzkranke Figur zu veranschaulichen. In der Anfangsphase der filmischen Repräsentation von Demenz dominierten Katastrophenschilderungen, Darstellungen von Mittelschichtsfamilien, die unter der Last der Pflege eines an Demenz erkrankten Angehörigen zerbrechen, so in Andreas Kleinerts preisgekröntem Fernsehfilm Mein Vater (D 2003; vgl. Herwig 2016a: 152-155). Der Hollywood-Film bevorzugte Beschönigungen und Wunsch-Szenarien wie den Erhalt der Erinnerungsfähigkeit über das Vorlesen eines Tagebuchs wie in Nick 4 5

Die Autorin starb kurz nach Erscheinen des Romans im Alter von 31 Jahren überraschend an einem Aneurysma. Vgl. beispielsweise Demenz Support Stuttgart (2013).

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Cassavetes’ The Notebook (US 2004), wo der Glaube an die Macht der Liebe märchenhaft schön bis zum gemeinsamen Liebestod des alt gewordenen Paares reicht. Selbst die subtile Darstellung des Verfallsprozesses der an Alzheimer erkrankten Fiona (Julie Christie) in Sarah Polleys Filmdrama Away From Her (dt. An ihrer Seite, CAN 2006) verzichtet nicht auf die Utopie, dass die Protagonistin den Mann, den sie schon lange nur noch für einen hartnäckig um sie werbenden Bekannten hält, am Schluss als ihren Ehemann wiedererkennt und umarmt. Solche Szenen sind unrealistisch. In Wirklichkeit müssen Angehörige damit leben lernen, dass ihre Lieben sie im fortgeschrittenen Stadium der Demenz nicht mehr erkennen, auf Zuwendung zwar reagieren, aber völlig unabhängig davon, wer sie ihnen gibt. Fortgeschritten demenzkranke Menschen antworten auf freundliche Ansprache und zärtliche Berührung, stellen aber keinen Bezug zu biographisch relevanten Personen mehr her; im Gegenteil, sie lernen täglich neue Menschen kennen, denn Erinnerungen an frühere Begegnungen können nicht mehr gespeichert und nicht mehr aktiviert werden. Das »Beziehungshandeln« ist nicht mehr gebunden an »Beziehungserinnerungen«, es entstehen einseitige Fürsorge-Beziehungen (Wulff 2008: 250f.). Bei Menschen mit Demenz ist davon auszugehen, dass kognitive Schemata, die für die innere Repräsentation sozialer Normen und Regeln sozial funktional sind, und Erinnerungen an frühere Interaktionen nicht mehr abgerufen werden können. Die Konstitution des Subjekts über das im Gedächtnis gespeicherte oder (re-)konstruierte gelebte Leben ist nicht oder nur noch teilweise möglich. Auch das Verstehen des Emotionsausdrucks ist erschwert, wenn der Bezug zur eigenen und fremden Lebensgeschichte, zum kulturellen Wissen und zu konventionalisierten Situationen und Abläufen nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Da kulturelle Codes nicht mehr abgerufen werden können, entstehen Situationen, in denen Menschen mit Demenz neue, ›kreative‹ Ausdrucksformen entwickeln, die die Bezugspersonen überraschen, verwirren, aber auch erheitern können, so wenn die Vater-Figur in Arno Geigers biographischer Erzählung Der alte König in seinem Exil plötzlich sagt: »Früher hatte ich auch Katzen, nicht gerade für mich allein, aber als Teilhaber« (2011: 11) oder sich mit den Worten gegen Belehrungen wehrt: »Außerdem wirkt es sich ungünstig aus, dass ihr mir ständig ins Wetter pfuscht« (2011: 52; Herwig 2016b: 189). Alzheimer ist eine Krankheit, die nach acht bis fünfzehn Jahren unweigerlich zum Tod führt. Von ihr zu erzählen, hat immer tragische Seiten. Ich möchte mich im Folgenden mit drei Spielfilmen befassen, die es wagen, auch der Darstellung einer Demenzerkrankung heitere Seiten abzugewinnen, ohne sie zu bagatellisieren, und dabei mit zahlreichen komischen Elementen arbeiten: Stéphane Robelins Et si on vivait tous ensemble? (dt. Und wenn wir alle zusammenziehen?, F/D 2011), Oona Devi Liebichs und Ismail Şahins Nicht schon wieder Rudi! (D 2015) sowie Til Schweigers Honig im Kopf (D 2014). Alle drei Filme greifen am Beispiel einer Figur das Thema des demenziell bedingten Gedächtniszerfalls auf und stellen sich der Frage, ob der schleichende Verlust an kognitiven und alltagspraktischen Fähigkeiten, Sprachkompetenz, Autonomie und Identität durch verstärkte Akzeptanz emotionaler Ausdrucksformen, Beziehungsarbeit und Beachtung körpersprachlicher Zeichen partiell aufgefangen werden kann. In Filmkomödien bieten überraschende Reaktionen oder ›Fehlleistungen‹ von Demenzkranken Stoff für komische Effekte. Die Aufheiterung ernsthafter Themen trägt dazu bei, dass

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diese Filme als Medien der Reflexion kulturellen Wandels und als Experimentierfeld für neue Altersrollen, Wohn- und Beziehungsformen breitere Publikumsschichten erreichen als Filmdramen und problemorientierte Dokumentarfilme. Es ist aber zu fragen, welche Persönlichkeitskonzepte ihnen zugrunde liegen. Gelingt es ihnen, hohes oder – demenziell bedingt – frühzeitiges Altern als Teil des Lebenslaufs zu zeigen, ohne das mittlere Lebensalter als Norm zu setzen? Lassen sie den demenzkranken Figuren ihre Würde oder benutzen sie sie für Situationskomik und Slapstick-Effekte? Altern ist ein individueller Vorgang, es vollzieht sich differenziell, die Heterogenität des Alterns war noch nie so groß. Trotzdem ist die gesellschaftliche Wahrnehmung des Alter(n)s geprägt von Stereotypen (vgl. Herwig 2016a: 141). Stereotype sind »Zuweisungen von Merkmalen, Eigenschaften und Verhaltenserwartungen an Individuen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe« (Schwender 2011: 57), also Fremdzuschreibungen, die durch Verinnerlichung zu Selbstbildern und Selbstkonzepten werden können.6 Hat sich inzwischen schon ein stereotypes Bild von Menschen mit Demenz herausgebildet, wenn ja, durch welche Merkmale und Verhaltensweisen ist es gekennzeichnet? Gehen die Zeichen für Vergesslichkeit über den bereits zum Klischee gewordenen verlegten (Auto-)Schlüssel, die Brille im Kühlschrank und den in Brand gesetzten Herd hinaus? Welche Phasen des Krankheitsverlaufs nehmen sie in den Blick? Kommen dabei – geschlechtlich codierte – Altersstereotype zum Tragen, oder gelingt es den Narrationen, Alter(n), auch mit Demenz, individualisiert darzustellen?

2.

Demenz und Herzinfarkt als Anlass für die Senioren-WG:  Et si on vivait tous ensemble ?

Et si on vivait tous ensemble? (dt. Und wenn wir alle zusammenziehen?, F/D 2011) ist eine Tragikomödie mit Star-Besetzung (vgl. Huber 2012), die in überraschend heiterer Form vom Altern spricht, ohne seine Schattenseiten zu leugnen, und dabei Altersklischees dekonstruiert. Der junge Regisseur Stéphane Robelin hat sie in Erinnerung an seine Großeltern geschaffen, die von den Altersgebrechen »vollkommen überfordert waren« (Nitsche 2012). Sein Film zeigt in die Jahre gekommene Baby-Boomer, Angehörige der revolutionären 68er-Generation, die sich und ihre Beziehungen neu definieren und akzeptieren müssen, dass sie nicht mehr jung sind, daraus aber nicht dieselben Schlüsse ziehen wie ihre sie bevormundenden Kinder, die – sobald sie in das Leben der Alten eingreifen – mehr Probleme schaffen als lösen. Die mittlere Generation will nämlich vor allem eins: von den Nöten der Alten unbehelligt bleiben. Trotz Situationskomik und heiteren Pointen geht es in diesem Film um existenzielle Themen, »um Demenz, Impotenz, Herzschwäche und ums Sterben, doch dazu auch um Liebe, Eifersucht, Lebenslust, Sex« (Krings 2012); denn »Alte! Das ist keine andere Sorte Mensch. Alte wol-

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Mit Hänselmann (2022, in diesem Band) kann man zwischen psychischen Altersstereotypen, altersspezifischen Charakterzügen wie Gemeinheit, Geiz, Vergesslichkeit oder Weisheit und Toleranz, physischen Altersstereotypen, die sich u.a. in eingeschränkter Beweglichkeit, Kurzsichtigkeit oder Schwerhörigkeit zeigen, und morphologischen Altersstereotypen, die sich auf das Aussehen beziehen und »körperästhetische Mängel wie Falten« betonen, unterscheiden.

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len, was Jüngere wollen. Kriegen’s nur nicht« (Walser 1984: 27). 7 Die fünf Hauptfiguren sind Senioren8 über 70 und damit im ›dritten‹ Lebensalter (vgl. Laslett 1995) oder – wenn man Einteilungen wie diese für zu schematisch hält – in »Zonen des Übergangs« (Lessenich/Rothermund 2011: 289) vom aktiven Leben zu einer Phase größerer Hilfsbedürftigkeit. Es handelt sich um zwei Paare und einen Junggesellen, die seit Jahrzehnten befreundet und entschlossen sind, die Gestaltung ihres Lebens selbst in die Hand zu nehmen. Das Begehren ist geblieben, aber Seitensprünge finden nur noch in der Erinnerung statt oder werden in der Fantasie ausgelebt, und »das Wissen darum, dass die noch bleibende Zeit und der Handlungsraum begrenzt sind, ist stets präsent« (Koppold 2012). Aus Röntgenaufnahmen, die sie zerreißt, erfährt man zunächst von der beunruhigenden Diagnose von Jeanne, die die ehemalige Philosophie-Professorin ihrem an Demenz erkrankten Mann Albert (Pierre Richard) verschweigt. Dass Jeanne – gespielt von der schlanken und mit 74 Jahren immer noch ungemein attraktiven Jane Fonda9 – unheilbar krank ist, wird deutlich, als sie beim Bestatter nach einem Sarg in freundlicherer Farbe verlangt, der offensichtlich für sie selbst bestimmt ist. Ihr Mann Albert, ein Weinliebhaber und Hundenarr, verliert sein Gedächtnis. Nach einem Sturz im Notarztwagen kann er zwar darüber Auskunft geben, von seinem Hund umgerissen worden zu sein, aber die Frage des Arztes: »Welches Jahr haben wir?« (F/D 2011) nicht beantworten, er verstummt. Auf dem Weg zu ihm ins Krankenhaus sagt die erschrockene Jeanne im Auto: Es ist schon komisch. Da plant man alles im Voraus. Man versichert sein Auto. Man versichert sein Haus. Man versichert sein Leben. Aber man kümmert sich überhaupt nicht um seine letzten Jahre, darum, was man mit diesen Jahren anfängt. (F/D 2011) Ihr gemeinsamer Freund Claude (Claude Rich), ein Schürzenjäger und Hobby-Fotograf, der Aktfotos macht, Frauenbrüste liebt, Tango tanzt und, um sexuell aktiv zu bleiben, Viagra nimmt, erleidet beim Treppensteigen auf dem Weg zu einer Prostituierten einen Herzinfarkt. Als dirty old man entspricht er dem Figurentyp des ›Lustgreises‹ (Seidler 2010: 72), in seiner Sexbesessenheit trotz Herzschwäche und Potenzverlust fast schon einer Karikatur. Das hindert die Freunde und Freundinnen aber nicht daran, sich rührend um ihn zu kümmern, weil er als einziger Single der Gruppe ohne sie vereinsamen würde. Als er Jeanne während des Krankenhausaufenthalts von Albert besucht, will sie von ihm zwar gehalten werden und in seinen Armen weinen, lehnt jede Form der Sexualisierung dieser Nähe aber ab. Annie (Geraldine Chaplin) und Jean (Guy Bedos) sind zwar beide noch gesund und fit, aber in keiner Frage einer Meinung. Das scheint die

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Geraldine Chaplin, die der Rolle der Annie etwas streitsüchtig Burschikoses gibt, betont im Interview mit Patrick Heidmann (2012): »Dass man klüger oder gar weise wird, halte ich für ein Gerücht«. Diese Aussage trifft allerdings nicht auf die Figur der Jeanne zu. Das Konzept des ›Rentners‹ kam in den 1960er Jahren auf, das der ›Senioren‹ in den 1970ern, das der ›Neuen Alten‹ in den 1980ern (vgl. Göckenjan 2005: 369). »She is glorious at any age, in any language, and is a class act on the screen who is always welcome.« (Reed, 2012)

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erotische Spannung zu beleben, denn ihr Ehestreit lässt sich vorübergehend durch Wiedergutmachungssex befrieden. Allerdings bleibt die Kamera bei der entsprechenden Szene diskret, denn die Gegenlicht-Aufnahme zeigt die Körper – im Unterschied zum Sex der jungen Leute – »nur als schwarze Silhouetten« (Gierke/Rettmann 2016: 245). Jean ist ein Choleriker und linker politischer Aktivist, der zur komischen Figur wird, weil er bei einer Demonstration noch Flaschen nach Polizisten wirft und sich wundert, dass er nicht verhaftet wird. Als die Gäste beim gemeinsamen Essen zur Feier von Claudes 75. Geburtstag zu früh aufbrechen, verfällt er auf die Idee, eine Alters-WG zu gründen – sehr zum Ärger seiner bürgerlichen Frau. Die Gefahr, die Autonomie zu verlieren, wird zunächst an Claude konkretisiert. Er wird nach seinem Herzinfarkt gegen seinen Willen von seinem Sohn in ein Pflegeheim verfrachtet. Schockiert stellt er fest, dass es dort »nur alte Leute« (F/D 2011) gibt, zu denen er sich offensichtlich noch nicht zählt. So geht es auch den befreundeten Paaren, die ihn besuchen, die Fotos, die er dort – mit abschreckender Intention – geschossenen hat, entsetzt betrachten und ihn kurz entschlossen aus dem Pflegeheim entführen. Nach dem Einblick in den Heimalltag stellt Annie ihre geerbte Pariser Vorort-Villa doch zur Verfügung. So entsteht eine Senioren-WG, die das Leben aller grundlegend verändert. Sie sind noch voller Pläne, nur Jeanne, »die Mutigste von allen«, ist bereits dabei, sich »auf das Ende« vorzubereiten (Bylow 2012). Sie stimmt der Idee, mit den Freunden zusammenzuziehen, zu, weil sie klar sieht, dass ihr an beginnender Demenz erkrankter Mann sich nicht mehr allein versorgen kann und Unterstützung brauchen wird, wenn sie nicht mehr lebt. Ihre Entscheidung ist ein Akt der Fürsorge. Jeanne schafft für Albert ein Umfeld, in dem er voraussichtlich noch Jahre leben kann, ohne ins Pflegeheim übersiedeln zu müssen. Aber kaum, dass er mit ihr in die Villa des Freundespaars eingezogen ist, wird er von dem dringenden Wunsch erfasst, nach Hause zu gehen. In der ungewohnten Umgebung fühlt er sich offenbar verloren, was Demenzkranken häufig auch dann passiert, wenn sie Zuhause sind, doch nach einem Daheim suchen, das zu ihrer Kindheitswelt gehörte.10 An Alberts Orientierungslosigkeit ändert auch Jeannes Versuch nichts, ihm den Umzug ins Gedächtnis zurückzurufen; im Gegenteil, er provoziert nur trotziges Beharren auf dem Aufbruchswunsch. Aufgefangen wird die Situation durch Claude, der Albert mit dem Angebot, ihm neue Fotos zu zeigen, ablenkt. Claude erkennt, dass es sinnlos ist, der Weltsicht eines Menschen mit Demenz zu widersprechen, dass es das Zusammenleben erleichtert, sich auf seine Sicht der Dinge einzustellen oder ihn abzulenken, wenn er nach Unwiederbringlichem sucht. Dass Albert sein Kurzzeitgedächtnis verliert, wird auch deutlich, als er Reis für den Hund kocht, der – was er wissen müsste – auf Drängen der Tochter inzwischen ins Tierheim gebracht worden ist, wie Claude zuvor vom Sohn ins Altenheim. Als sein Hund doch

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Vgl. den folgenden Dialog zwischen Vater und Sohn in Arno Geigers Der alte König in seinem Exil (2011: 12f.): »Ich möchte lieber heimgehen.«/»Du bist zu Hause.«/»Wo sind wir?«/Ich nenne Straße und Hausnummer./»Na ja, aber viel bin ich hier nie gewesen.«/»Du hast das Haus Ende der fünfziger Jahre gebaut, und seither wohnst du hier.« […] »Ich glaube es dir, aber mit Vorbehalt. Und jetzt will ich nach Hause.«

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wieder vor der Tür steht, weil seine Freunde ihn – zum Unmut von Jeanne – zurückgeholt haben, hält Albert das für die Bestätigung der von ihm unterstellten Normalität. Seine Vergesslichkeit nimmt zu. Immer öfter weiß er nicht mehr, was er Minuten vorher getan hat. Wie vorher nach dem Hund sucht er später verzweifelt nach seiner Frau, obwohl sie ihm gesagt hat, dass sie mit dem Ethnologie-Studenten Dirk (Daniel Brühl), der angeheuert wurde, um den Hund auszuführen, den Albert nicht mehr halten kann, spazieren gehen will. Ein von ihrem Mann zerlegtes Elektrogerät kann sie nur noch stillschweigend entsorgen. Alberts Demenz bietet auch »Stoff für komische Effekte – so wenn sein Wunsch, beim Essen die ›Nachrichten‹ […] zu sehen, von den Mitbewohnern mit der stillschweigenden Übereinkunft beantwortet wird, eine Fernseh-Sendung über französischen Camembert zu behandeln, als ob es die Nachrichten wären« (Herwig 2016a: 140). In dieser Szene wird Alberts Fehlleistung von den andern humorvoll überspielt. Schwieriger wird es, als Albert die Wohnung flutet, weil er vergessen hat, dass er ein Bad nehmen wollte, und zugleich noch das zerlegte halbe Rind versorgt werden muss, das er bestellt hat – eine komische Überbietung des ohnehin schon entstandenen Chaos’. Als der Arzt vorbeikommt, um über den besorgniserregenden Befund von Jeanne zu sprechen, versteht Albert den Ernst der Lage hingegen sofort und notiert in seinem Tagebuch: »Jeanne hat mich angelogen. Sie ist schwer krank. Der Arzt sagt, sie will sich nicht operieren lassen. Das ist ihre Entscheidung.« (F/D 2011) Noch erstreckt sich Alberts Vergesslichkeit erst auf Alltagsabläufe, sie hat noch nicht das Beziehungsgedächtnis erfasst. Ihm wird bewusst, dass er in Gefahr ist, seine Frau zu verlieren, und dass sie ihm dieses Wissen vorenthalten hat, um ihn nicht zu beunruhigen. Er erkennt daran aber auch ihren Entschluss, auf jede weitere Behandlung zu verzichten, und akzeptiert ihn. Ja, er stützt sogar ihre Verheimlichungsstrategie mit der Lüge, er habe den Arzt, mit dem er sich unterhalten hat, nur begrüßt. Das ist ein lichter Moment. In ihm ist Albert Herr seiner Sinne, seiner Sprache und in der Lage, sein Verhalten zu kontrollieren. Er trägt die Ereignisse in sein Tagebuch ein, dem – wie in The Notebook – die Funktion des externen Gedächtnisses zukommt. Wie viele Demenzkranke, die ihr Kurzzeitgedächtnis verlieren, lebt Albert in anderen Augenblicken aber schon stark in der Vergangenheit. Er wird zum Beispiel von Erinnerungen an die Kriegserlebnisse geplagt, bei denen er als Kind zusehen musste, wie sein Vater gefoltert und getötet wurde. Aus Misstrauen gegen die Deutschen fragt er den Ostberliner Studenten Dirk immer wieder nach seinem Alter und seiner Herkunft. Trotzdem nimmt Albert gern Dirks Hilfe in Anspruch, so, als er sich im Keller das Schloss eines Seekoffers aufsägen lässt, den er für seinen eigenen hält, der sich aber als der von Claude erweist. Was dabei zum Vorschein kommt, sind die Liebesbriefe, die Annie und Jeanne ihrem heimlichen Liebhaber Claude vor Jahrzehnten zur gleichen Zeit geschrieben haben. Diese Briefe kann Albert problemlos lesen, die Absenderinnen erkennt er an der Handschrift. Er versteht sofort, dass er von seiner Frau mit Claude betrogen wurde, ebenso wie Jean von der seinen. Alberts Sprachverstehen ist hier nicht beeinträchtigt. Er ist auch noch zum Schreiben eigener Sätze wie diesem fähig: »Vor 40 Jahren hatten Jeanne und Annie beide eine Affäre mit Claude.« (F/D 2011) Aber wie ein Junge, der petzt, kommt er später plötzlich in die Küche und sagt zu Jean: »Annie hat dich mit Claude betrogen.« (F/D 2011)

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Albert befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch in einem frühen Stadium der Demenz. Sein Leben ist zwar schon von raum-zeitlicher Desorientierung, Gedächtnisausfällen und Einschränkungen bei alltäglichen Verrichtungen gekennzeichnet, aber noch nicht von vollständigem Sprachverlust. Mit Jeannes Tod aber tritt seine Demenz in eine neue Phase: Ihn versteht er nicht. Verstört wendet er sich mit der Tochter, die erst zur Beerdigung der Mutter wieder in Erscheinung tritt, von Jeannes pinkfarbenem Sarg ab, auf dem die Champagnergläser halbvoll stehen bleiben. Wie ihre Off-Stimme deutlich macht, hat Jeanne in ihrem Abschiedsbrief verfügt, dass bei ihrer Trauerfeier Champagner getrunken wird. Am Abend allerdings beginnt Albert, verzweifelt seine verstorbene Frau zu suchen. Die Not, Jeanne an den Tod verloren zu haben und das nicht einmal zu wissen, wird nur dadurch gemildert, dass ihm als Stütze wenigstens die Gemeinschaft der Freunde erhalten bleibt. Sie alle folgen ihm, helfen ihm suchen und laufen, »Jeanne!« (F/D 2011) rufend, in Rückenansicht aus dem Bild.

Abb. 1: Albert, von Jeanne erinnert, dass sein Hund weggegeben wurde

Szenenbild aus »Et si on vivait tous ensemble?« (F/D 2011)

Mit dieser Gemeinschaftsutopie, der in der Realität von an Demenz Erkrankten oft wenig entspricht, endet der Film. Im Mittelpunkt steht die Freundschaft, und wann könnte die »sich besser bewähren als im Alter« (Krings 2012) und angesichts von Demenz und unverstandenem Tod? Symbolisch verweist schon das Loch, das Annie als frustrierte Großmutter im Garten zum Bau eines Pools ausheben lässt, der die weggezogenen Enkel endlich wieder zu einem Besuch verlocken soll, voraus auf Jeannes Grab. Für Jean ist dieser Pool der Inbegriff verachtenswerter bürgerlicher Genusssucht (vgl. Naglazas 2012). Kaum sitzt das Becken, wird es von den Senioren zunächst zum Boccia-Spielen zweckentfremdet. Als sie abends »an einem Tisch auf dem Boden des leeren Bassins« (Bylow 2012) tafeln, kommt es zu dem cholerischen Ausbruch, bei dem Jean den Freund Claude für die von Albert aufgedeckte Verführung Annies zur Rede stellt und mit einem Messer bedroht.

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Statt des Essens gelangt der doppelte Ehebruch Claudes mit den Frauen beider Freunde auf den Tisch. Die Männer sehen sich unerwartet als Hahnrei, die Frauen erkennen sich als Rivalinnen. Doch, was vor 40 Jahren zum Zerwürfnis geführt hätte, wird nach so langer Zeit der Verjährung und angesichts der Probleme des Alterns nebensächlich: Die Frauen verhindern das Schlimmste, die Männer reichen sich zur Versöhnung die Hand. Jeanne und Annie tauschen im Bett die Geheimnisse ihrer zurückliegenden Affären aus. Albert hält beseelt seine sterbende Frau im Arm, glücklich, sie noch bei sich zu haben. Die Sexualität zwischen ihm und seiner Frau ist zwar eingeschlafen, nicht aber die Liebe und die Zärtlichkeit. Als Annies Enkel schließlich kommen, schreiend ins Becken springen und die besorgte Großmutter durch Baden ohne Schwimmflügel auf Trapp halten, ist sie erleichtert, als die Kinder wieder gehen. Der Anlass verlangt so bald nicht nach Wiederholung. Doch der Garten ist durch den Pool zerstört. Das ist Komik der enttäuschten Erwartung. Annie hat sich in ihrem Selbstbild als ›liebevolle Großmutter‹ offenbar überschätzt. Ein jugendliches Element wird durch den Ethnologie-Studenten Dirk in die Geschichte eingeführt. Er zieht auf Anregung von Jeanne ins Dachzimmer der SeniorenWG, um in situ-Feldforschung zu treiben und seine Doktorarbeit statt – wie geplant – über das Alter der australischen Aborigines über das Leben der Alten in Europa zu schreiben. Die Senioren erhalten dadurch nicht nur den Helfer in allen Lebenslagen, sondern auch einen Verbündeten bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Mit ihm besprechen sie Dinge, die sie einander oder ihren Kindern nicht anvertrauen. Jeanne, die durch ihren nahenden Tod noch freier wird, als sie immer schon war, spricht mit Dirk so offen über Alterssexualität, ihre Praxis der Masturbation und die dabei vorgestellten Liebhaber, dass der schüchterne junge Mann verlegen wird – möglich, dass sie ihn mit ihrer Themeninitiierung sogar verführen oder sich noch ein letztes Mal ihre Attraktivität beweisen will. Wie selbstverständlich bricht sie mit dem Vorurteil der jungen Generation, dass die Alten nicht mehr sexuell aktiv seien. Ihre Bereitschaft, Tabuthemen anzusprechen, ist auch Mäeutik, sokratische Hebammenkunst. Denn mit der Frage, welcher Typ Frau ihm denn gefalle und warum er mit dem Gegenteil zusammen sei, sorgt sie gleichzeitig dafür, dass die latente Krise von Dirks Beziehung ausbricht, sodass er sich endlich von einer Freundin trennt, die kein Verständnis für seine Forschungsarbeit hat, ihm Vorwürfe macht und auch sonst nicht zu ihm passt. Als verschmitzte ›Kupplerin‹ stellt Jeanne vor ihrem Tod schließlich noch Soraya (Shemss Audat), eine junge Frau mit exotischem Flair und großen Brüsten, als Haushaltshilfe an, damit Dirk eine Sexualpartnerin kennenlernt, die seinen geheimen Wünschen entspricht. Mit diesem ›Abschiedsgeschenk‹ an den jungen Mann, der ihr vor ihrem Tod rührend Beistand geleistet hat, sorgt Jeanne dafür, dass sein Leben lustvoller weitergeht als bisher – was dem voyeuristischen Blick des Erotomanen Claude, dem die Kamera folgt, nicht entgeht. Der Film gestaltet ein Beispiel für ›Neues Wohnen‹, für bewusste Veränderung der Umweltbedingungen des Alterns. Die Senioren-WG11 mit jungem Helfer im Haus 11

Eine repräsentative Umfrage der Körber-Stiftung von 2012 ergab, dass sich immerhin 6 % der Deutschen vorstellen konnten, in eine selbst gewählte Alters-WG zu ziehen, während 74 % mit dem Partner/der Partnerin oder allein in der eigenen Wohnung oder in ihrem Haus wohnen blei-

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erlaubt aging in place statt im Heim und damit langen Erhalt der Lebensqualität – selbst für Jeanne, die sich entschließt, ihrem Sterben nichts mehr entgegenzusetzen. Das enge Zusammenleben langjähriger Freunde schafft aber auch neue Konflikte und stellt die Beteiligten vor Entwicklungsaufgaben wie die, das Bild der bisherigen Freundschaften und Ehen korrigieren zu müssen, lernen zu müssen, Fehltritte zu verzeihen. Mit der neuen Wohn- und Lebensform sind psychische und soziale Anpassungsprozesse verbunden, die in dieser Filminszenierung gelingen. Es wird auch Investment in Ressourcen-Erhalt vorgeführt, so, wenn Annie ihre Fitness durch Training auf dem Trimm-Rad bewahrt, Albert seiner Vergesslichkeit mit Vergewisserungsfragen und Tagebuch-Führen entgegenwirkt oder Jeanne ihr positives Denken aufrechterhält, indem sie selbst dem eigenen Begräbnis noch Farbe verleiht.12 In Jeanne kreuzt sich die Figuration des Erhalts von Jugendlichkeit mit der von Persönlichkeitsstärke und Altersweisheit.13 Die Generativität, die sie mit ihrer abwesenden Tochter nicht gestalten kann – ihr gegenüber verschweigt sie sogar den bösartigen Tumor –, lebt Jeanne in den Gesprächen mit Dirk. Mit ihm bespricht sie, wovon sie die andern verschont, an ihn gibt sie ihr Wertsystem weiter. Er seinerseits lernt, Jeannes Sterben zu begleiten und dabei Schmerz und Trauer auszuhalten. In der Realität erweist sich der Aufbau einer Senioren-WG oft als schwierig. Felix Herzog hat ein Internet-Portal (plusWGs.de) und eine Agentur in Berlin gegründet, um Bewohner*innen ab 50 für Seniorenwohngemeinschaften zusammen zu bringen: Auch bei 45 Interessent*innen konnte er keine einzige WG vermitteln, zu unterschiedlich sind die Bedürfnisse (vgl. Strohmaier 2012). Vielleicht helfen Filme wie Et si on vivait tous ensemble? oder Wir sind die Neuen (D 2014), als Formen imaginären Probehandelns die Bereitschaft zu wecken, auch im Alter noch neue Wohn- und Lebensformen auszuprobieren.

3.

Demenz als Bedrohung von Freundschaft: Nicht schon wieder Rudi!

Nicht schon wieder Rudi! (D 2015), ein Filmdebut des jungen Regie-Paars Oona Devi Liebich und Ismail Şahin, das es immerhin nach Cannes geschafft hat, ist ein »Film, den sogar Menschen mit Demenz lieben«, wie ein Experiment in Nürnberg zeigte, wo sich 60 an Demenz erkrankte Menschen ohne vorherige Werbung den Film im Kino anschauen, der Handlung folgen und »über die Figuren lachen« konnten (Thalmann 2016).14 Bei genauerem Hinsehen überwiegt das Tragische aber das Komische. Bernd (Matthias Brenner), Mitte 50, organisiert einen Männerausflug zum Angeln an einen ruhigen See

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ben wollten. Zum Ergebnis, dass die Akzeptanz alternativer Wohnformen im Alter – zur Vermeidung von sozialer Isolation – zunimmt, kam auch die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Studie Wohnen im Alter in Europa (Stula 2012). Vgl. Gierke/Rettmann (2016: 235f.). Bramstedts Frage: »Is there such a thing as an upbeat coffin?« (2013: 119) würde Jeanne mit »Ja« beantworten. Zu verschiedenen Elementen der Weisheitstopik vgl. Gunreben (2016: 57-70). Die Idee zu diesem Film beruhte »auf einem Erlebnis des Regisseurs« (Thalmann 2016), der die Demenz einer Person in der Nachbarschaft erst erkannte, als sie nicht mehr da war.

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und verspricht sich davon einen schönen Kurzurlaub in idyllischer Natur. Mit von der Partie ist sein Bruder Peter (Frank Auerbach), sein bester Freund Klaus (Oliver Marlo) und ein junger Typ, den Bernd eigentlich nicht mag, weil er der Tochter von Klaus das Herz gebrochen hat: Murat, gespielt vom Co-Regisseur Ismail Şahin. Warum der unausgeschlafene Playboy nach einem one-night stand mit einer Französin die drei Älteren auf den Ausflug begleitet, bleibt offen, vermutlich auf Einladung von Peter hin, dem er gefällt. Es ist aber Voraussetzung für das Drama unter Männern, das sich jetzt entfaltet. Die vier schlafen in einer Holzhütte, Bernd und Klaus im Doppelbett, Peter und Murat im Kinderzimmer im Etagenbett. Sie haben neben der Angelrute ausreichend Essen und Bier dabei und erwarten viel Spaß in der Männer-Clique, wobei Bernd Murat zunächst ausgrenzt, während Peter ihn zu integrieren versucht. Doch in der Nacht passiert etwas, was die ohnehin schon beschädigte Idylle noch mehr stört: Klaus, der wegen des Missbrauchs seiner Tochter mit Murat ein Hühnchen zu rupfen hat, fordert diesen zum Zweikampf auf und stürzt, weil er von einer Schaukel am Kopf getroffen wird, rücklings in den See. Durch einen blitzschnellen Sprung ins Wasser gelingt es dem guten Schwimmer Murat, Klaus herauszufischen. Als Klaus am nächsten Morgen zum Frühstück kommt, bei dem Bernd Murat erstmals mit Respekt behandelt und für die Rettung von Klaus dankt, beginnt dieser, merkwürdige Verhaltensweisen zu zeigen: Klaus fragt: »Wart ihr auch schon mit Rudi draußen? Wo ist er überhaupt?« (D 2015) und meint damit seinen Hund, der vor zwei Jahren gestorben ist. Er vermisst ihn und glaubt, ihn eben erst aus den Augen verloren zu haben. Als Peter ihm sagen will, dass Rudi tot ist, fällt sein Bruder Bernd ihm ins Wort, erweckt den Eindruck, als sei der Hund nur weggelaufen, und erklärt die Bereitschaft aller, ihn suchen zu helfen. Damit zieht Bernd auch die andern in ein Fantasiespiel hinein, das sich zu verselbständigen droht. Sie sind jetzt verpflichtet, einen toten Hund zu suchen, und finden aus diesem Rollenspiel kaum noch heraus. Sie ziehen einzeln oder gruppiert immer wieder durch den Wald und rufen nach Rudi. Schließlich verteilen sie auf Rat einer alten Dame sogar einen Hunde-Steckbrief im nahegelegenen Dorf und an Bäumen im Wald. Auch diese Form der Kooperation ist kontraproduktiv, denn sobald Klaus irgendwo des Steckbriefs ansichtig wird, vermisst er wieder seinen Hund, auch wenn er ihn zwischenzeitlich vergessen hat. Klaus fragt immer wieder nach ihm, bis Bernd entnervt ausruft: »Nicht schon wieder Rudi!« (D 2015) Das quälend Repetitive der immer gleichen Suchaktionen ist kein running gag, sondern Zeichen eines ernsthaften Problems von Klaus und der völligen Hilflosigkeit seiner Freunde ihm gegenüber. Sie ahnen langsam, dass seine Vergesslichkeit keine vorübergehende Fehlleistung ist, sondern Symptom einer Krankheit, eine existenzielle Bedrohung. Verblüfft stellen sie fest, dass sie damit überhaupt nicht umgehen können. Statt des Spaßes, den sie erwartet haben, sehen sie sich mit bitterem Ernst konfrontiert: Klaus verliert den Verstand. Er hat nur noch seinen »Hund im Kopf« (Färber 2015), und das dürfte ein Zeichen dafür zu sein, dass er an einer Frühform von Demenz erkrankt ist. Das ist ein Schock. Er bewirkt, dass die Männer ihre Handlungssicherheit verlieren. Der gut geplante Herrenausflug droht zu entgleisen. Sie sind zuerst begriffsstutzig und zeigen ›männlich‹ codierte Reaktionsweisen wie die, dem Gedächtnisverlust von Klaus mit dem Einsatz von Kraft zu begegnen: zwei weiteren Schlägen mit einer Schaufel vor

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den Kopf, ein Slapstick-Effekt wie in Filmen Charly Chaplins. Die Schläge, zu denen Bernd den friedliebenden Peter überredet hat, strecken Klaus aber ohnmächtig zu Boden und lassen ihn am nächsten Morgen mit starken Kopfschmerzen erwachen. Kurz darauf zeigt er noch mehr Zeichen von Desorientierung. Dass die andern hinter seinem Rücken ernsthaft diskutieren, ob es ein Schlag zu viel war, wobei einer dem andern die Schuld am verschlechterten Zustand von Klaus in die Schuhe schiebt, ist eine komische Übertreibung, die an Absurdität grenzt: Die Männer scheinen tatsächlich für möglich zu halten, dass sich die – wie sie annehmen – schädlichen Folgen von Schlägen mit noch mehr Gewalt beheben lassen. Es ist zwar gut gemeint, aber grenzenlos verfehlt. Im Gegenteil, Klaus weiß erst recht nicht mehr, wo er ist, und rennt sogar in Unterwäsche los, seinen Hund zu suchen. Das wird szenisch lange ausgespielt, obwohl »ältere Männer in Feinripp« (Möller 2015) nicht gerade eine Augenweide sind. Die Freunde finden Klaus schließlich im Dorf wieder, wo er, auf einer Mauer sitzend, auf sie wartet und nach einer Zigarette verlangt.

Abb. 2: Klaus auf Mauer wartend

Szenenbild aus »Nicht schon wieder Rudi!« (D 2015)

Schließlich platzt Bernd der Kragen und er rudert Klaus zu einem Gespräch unter vier Augen im Kahn hinaus auf den See. Obwohl längst deutlich geworden ist, dass Klaus seine Verwirrung nicht vortäuscht, stellt Bernd ihn zur Rede und verlangt unter Beschwörung ihrer langjährigen Freundschaft von ihm die Beendigung des Spiels. Um der Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen, unterstellt er eine geschmacklose Altersperformanz.15 Klaus versteht aber gar nicht, was Bernd von ihm will. Als er schließlich behauptet, nicht schwimmen zu können, wirft Bernd seinen Freund erbost aus dem Boot. Klaus hat aber tatsächlich vergessen, wie man schwimmt, und droht erneut zu ertrinken. Wie am ersten Abend bewahrt das beherzte Engreifen von Murat, der die 15

Durch Altersperformanzen werden Altersbilder erzeugt, bestätigt, korrigiert und modelliert.

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Szene vom Ufer aus beobachtet hat, den Demenzkranken vor dem Tod im Wasser. Wie ist das Paradox zu verstehen, dass Bernd, der unentwegt beteuert, wie wichtig Klaus ihm ist, seinen besten Freund aus Wut in Gefahr bringt? Offenbar will Bernd nicht wahrhaben, was längst offensichtlich ist, dass Klaus sein Gedächtnis verliert. Er wehrt diese Erkenntnis ab, weil sie ihn bedroht. Wenn die Demenz von Klaus fortschreitet, wird er sich irgendwann auch an Bernd nicht mehr erinnern können. Damit droht Bernd der Verlust des einzigen emotionalen Halts, den er hat, der Verlust des einzigen Freundes. Im Gegensatz zu seinem Bruder und zu Klaus hat Bernd keine Frau, jedenfalls wird keine erwähnt. Deshalb ist er stärker als die andern auf die Männer-Clique und die Freundschaft mit Klaus angewiesen. Sie ist sein Familienersatz. Noch kann er mit Klaus in gemeinsamen Jugenderinnerungen wie der, in dasselbe Mädchen verliebt gewesen zu sein, schwelgen – der einzige Moment im Film, in dem beide sich vor Lachen schütteln –, doch wie lange noch? Die Gefahr, die gemeinsame Geschichte und damit einen seine Identität stabilisierenden Faktor zu verlieren, erklärt die zunehmende Aggressivität, mit der Bernd auf die kognitiven Ausfälle von Klaus reagiert. Wie stark sie Bernd bedrohen, zeigt das Männergespräch, das er in der Nacht kurz vor Abbruch des Urlaubs mit Klaus am Esstisch führt. In ihm spricht Bernd das Problem von Klaus erstmals offen an: Du bist krank. Du vergisst alles, kannst dich an nichts mehr erinnern. Wir sollten einen Arzt aufsuchen. […] Ich weiß nicht, was es ist. Aber ich lass dich nicht alleine. Ich werde immer an deiner Seite sein, du brauchst keine Angst zu haben. (D 2015) Darauf antwortet Klaus überraschend klar: »Ich hab’ keine Angst, Bernd. Du hast welche.« (D 2015) Hier handelt es sich um einen der lichten Momente von Klaus, wie sie bei Demenzkranken immer wieder vorkommen. Menschen mit Demenz haben ein erstaunlich gutes Gespür für Emotionen. Klaus scheint weniger über seine eigene Zukunft beunruhigt zu sein, als die Irritation des Freundes zu bemerken, der ihn mit einem Versprechen zu beruhigen sucht, das angesichts der Lebenslage beider nicht anders als leer sein kann. Denn Bernd spricht mit Klaus hier so, als sei er der Lebensgefährte an seiner Seite. Das ist er aber nicht. Das ist Christa, die Frau von Klaus. Sie lebt mit ihm und zu ihr will Klaus zurück. Er sagt: »Bernd, ich will nach Hause. Ich will zu Christa.« (D 2015) Bernd beschwört eine Zweisamkeit, die so, wie er sie sieht, gar nicht besteht. Er hat durch Fehlentscheidungen und Aggressivität während dieses Urlaubs Klaus sogar mehrfach in Lebensgefahr gebracht. Auch, wenn Klaus das vielleicht nicht mehr weiß, spürt er, wohin er gehört: an die Seite von Christa. Und nach ihr hat er sich zwischenzeitlich auch gesehnt: »Es wäre schön, wenn Christa jetzt da wäre.« (D 2015) Mit seiner Rückkehr zu ihr sind die andern die Aufgabe, mit seiner beginnenden Demenz umgehen zu müssen, erst mal los, für Klaus und seine Frau fängt sie erst an. Auch die Lösung des akuten Problems, der Sehnsucht von Klaus nach seinem Hund, bringt eine Frau: Sophie, die Kontakte zum Tierheim hat und dank ihrer Fähigkeit zur Empathie versteht, dass Klaus einen Ersatzhund braucht, auf den er seine Emotionen übertragen kann. Sie ist es, die das Theaterspiel der Männer sofort durchschaut, die Demenz von Klaus erkennt und im Hintergrund dafür sorgt, dass Murat – von ihr zurückkommend – Klaus die »Hunde-Auferstehung« (Färber 2015) bescheren kann: »Ich hab Rudi gefunden« (D 2015), dem Film damit das Happy End. Dass Klaus auf der Heim-

Filmische Tragikomödien über Demenz

fahrt im Auto zum Hund auf seinem Schoß sagt: »Na, Rudi, dem haben wir’s aber gezeigt« (D 2015), ist von tiefer Ironie. Klaus hat es Murat gezeigt, aber nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Denn Klaus hat Murat nicht durch männliche Kraft im Zweikampf ›bekehrt‹, sondern paradoxer Weise durch das Gegenteil: seine Krankheit, seine Schwäche, seine Unfälle. Die Nähe zur Fragilität und Gefährdung des Lebens von Klaus, den er zweimal aus dem Wasser ziehen musste, hat dem jungen Mann vor Augen geführt, worauf es im Leben ankommt. Die Demenz von Klaus hat Murat auch zu Sophie geführt. Sie ist eine Frau, die sich durch Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit und die Fähigkeit zum Fremdverstehen auszeichnet. Nur sie geht mit dem Demenzkranken adäquat um. Die mit ihm den Urlaub verbringenden Männer hingegen sind mit seiner Vergesslichkeit überfordert. Die geschlechterstereotype Rollenverteilung sagt auch etwas aus über den Zustand unserer Gesellschaft, in der die Betreuung Demenzkranker – wie Pflege überhaupt – noch immer weitgehend Frauensache ist. Was macht hier das Besondere der filmischen Erzählweise aus? Obwohl der Film wie ein Road Movie beginnt und endet und die Handlung zu großen Teilen im Außenraum spielt, hat er etwas Kammerspielartiges.16 Er beschränkt sich auf eine geringe Personenzahl, vier Männer, eine junge Frau und eine alte Dame, die ebenfalls dement ist, was durch floskelhafte Rede in wörtlicher Wiederholung und die sofort vergessene Einladung eines fremden Manns in Unterwäsche zum Kaffeetrinken markiert wird – eine weibliche Spiegelfigur zu Klaus. Kurz taucht zu Beginn noch eine zweite junge Frau in Murats Bett auf; ihre Funktion erschöpft sich aber darin, Kontrastfigur zu Sophie zu sein. Auch die langen ruhigen Kamera-Einstellungen, die lockere Szenenfolge und die in Schnitt-Gegenschnitt-Technik gefilmten Dialoge unterstreichen den Eindruck des Theatralischen. Wie in der Komödie üblich sind die Hauptfiguren Typen: Bernd, der Macher und Organisator, der zu cholerischen Ausbrüchen neigt, gern den ›harten Mann‹ markiert, seinen Bruder herumkommandiert und dessen unterdrückte Homosexualität am Ende gnadenlos bloßstellt; Peter, der Weiche, Nachgiebige, latent Homo- oder Bisexuelle, der sich gegen Bernds Dominanz nicht zur Wehr setzen kann und sich nach seiner Beschimpfung als »Schwuchtel« (D 2015) ins Schweigen zurückzieht; Klaus, der Demenzkranke mit Hundeobsession; Murat, der notorische Playboy, dem die andern Respekt vor Frauen beibringen wollen. Das aber gelingt nicht ihren verfehlten Erziehungsmethoden, sondern der Aufrichtigkeit von Sophie. Sie, eine allein gelassene junge Frau, die ihr Schicksal und die Verantwortung für ihr ungeborenes Kind annimmt, sagt dem jungen Mann, der einen Flirt initiieren will, sofort wahrheitsgetreu ins Gesicht: »Ich bin im vierten Monat schwanger. […] Der Vater hat mich sitzen lassen, als er’s erfuhr« (D 2015); sie legt ihm – später im Auto – auch erst die Hand auf den Arm, als er aufhört, sie zu belügen. Sophie beseitigt den akuten Mangel von Klaus, indem sie einen Hund beschafft, der Rudi ähnlich sieht. Alle hoffnungsvollen Aspekte des Films gehen von ihr aus. Zu ihr kehrt Murat, samt Gepäck aus dem Wagen springend, am Schluss zurück. Im Kontrast zum Anfang, wo Murat die Französin, mit der er die Nacht verbracht hat, skrupellos in seiner Wohnung zurücklässt, bleibt es bei Sophie

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Nicht zufällig ist der Hauptdarsteller Matthias Brenner Intendant des Neuen Schauspieltheaters in Halle (Saale).

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nicht bei einer Nacht. Damit steht zumindest die Möglichkeit im Raum, dass das Paar mit dem Kind, das die junge Frau erwartet, eine gemeinsame Zukunft haben kann. Das Problem von Klaus ist nur für den Augenblick gelöst. Bernd wird, wenn er Klaus zu Christa zurückgebracht hat, allein sein. Denn er hat durch seine Aggressivität den Freund verloren und seinen Bruder so erniedrigt, dass er nicht mehr mit ihm spricht. Peter wird seiner Frau, die er liebt, weiterhin die Treue halten und fortfahren, sein anders geartetes Begehren zu unterdrücken. Ihm macht die ambivalente sexuelle Orientierung das Leben schwer. Murat erhält durch Sophies Zuwendung die Chance, eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Narratologisch werden zwei Erzählstränge kombiniert: die Offenlegung der Konflikte in der Männer-Clique, die durch die Vergesslichkeit von Klaus in Gang gesetzt wird, und die Entwicklung der Beziehungsfähigkeit von Murat durch die Begegnung mit Sophie. Hegemoniale Vorstellungen von Männlichkeit17 werden durch den Film dekonstruiert. Denn Perspektiven für die Zukunft ergeben sich nur dort, wo auf Dominanzstreben und Machtgehabe verzichtet wird.

4.

Plädoyer für Inklusion: Honig im Kopf

»Mit 7,19 Mio. Kinobesuchern ist Honig im Kopf 18 der meistgesehene […] Kinofilm« (Töpfer/Wilz 2017: 324) des Jahres 2014. Wie ist der große Erfolg eines Films, der als Familiendrama beginnt und als »Verfolgungs-Roadmovie […] mit einem überzuckerten Südtirol« (Prechtel 2014) und einem Bilderbuch-Venedig endet, zu erklären? Vielleicht, weil die Botschaft lautet: Lernt von Kindern! Sie gehen viel natürlicher und unverkrampfter mit Alzheimer-Patient*innen um als viele Erwachsene. In einem Interview erklärt der Regisseur Til Schweiger sich den unverhofften Erfolg selbst so: »Ich spüre, dass ich durch den Film eine Hoffnung vermittelt habe, dass man auch mit dieser Krankheit noch schöne Momente erleben kann«; dass viele Menschen, die den Film gesehen haben, aus dem Kino kommen und sagen: »ich muss meine Eltern anrufen, ich muss meinen Opa besuchen«, ist für ihn der Beweis, »alles richtig gemacht« (Seitz 2015) zu haben. Wer wollte dem widersprechen? Der Drehbuch-Entwurf für den Film stammt von Hilly Martinek, deren Vater an Alzheimer gestorben war. Til Schweiger, der Mitverfasser, hat den Film im Gedenken an seinen Großvater produziert, der auch an Alzheimer erkrankt war und zum Schluss noch sechs Wochen von ihm gepflegt wurde, wobei es durchaus noch viel zu lachen gab. Allerdings war – wie man heute weiß – auch Til Schweigers Mutter an Alzheimer erkrankt. Sie lebte zurückgezogen in einem Pflegeheim und ist am 25. Januar 2021 der Krankheit erlegen (vgl. May/Emich 2021: 26). Auch der Darsteller des Amandus, Dieter Hallervorden, hatte Erfahrung mit Alzheimer im nächsten Umfeld. Trotz allem Schalk, den er dem demenzkranken Opa verleiht, gelingt es ihm gut, »auch die innere Leere seiner Figur zu transportieren« (Worschech 2015), so wenn Tilda ihn fragt, wie die Krankheit sich anfühlt, und er antwortet: »wie Honig im Kopf« (D 2014). »Alle Szenen mit 17 18

Hegemoniale Männlichkeit ist eine Form von Männlichkeit, »die in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position einnimmt« (Connell 2015: 130). Vgl. auch meine Analyse (Herwig 2016a: 159-163).

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dementem Verhalten« basieren, wie Schweiger im Interview mit Dieter Oßwald (2014) betont, auf eigener Erfahrung oder wurden in Gesprächen mit Pflegenden, Ärzt*innen berichtet, was auch Mitglieder der Deutschen Alzheimer Gesellschaft bestätigten; die vielfältigen Geschichten wurden »auf die eine demente Figur übertragen« (Oßwald 2014). Hilly Martinek und Til Schweiger haben keine Demenz-Symptomatik erfunden, sie nur verdichtet. Durch die kommentierende Off-Stimme von Anfang an auf die Perspektive der elfjährigen Enkelin Tilda (Emma Schweiger) eingestimmt, richtet sich die Aufmerksamkeit der Zuschauenden sofort auf die Beziehung zwischen ihr und ihrem Großvater (vgl. Prechtel 2014).19 Amandus, ihren an Alzheimer erkrankten Opa, kann sie verstehen, ihre Eltern hingegen nicht. Wie der weitere Verlauf der Handlung zeigt, versagt die mit Karrierezwang, Sozialstatus und den Folgen ehelicher Seitensprünge beschäftigte mittlere Generation zunächst total. Tilda, ein Schlüsselkind, wird dadurch früh selbstständig und zur »Principessa« (D 2014) ihres Opas, von dem sie bekommt, was ihr fehlt: Aufmerksamkeit, Zuwendung, Nestwärme. Das legt die Grundlage für eine ›karnevalistisch‹ verkehrte Welt: ein Mädchen, noch Kind, wird zur ›guten Mutter‹ (Töpfer/Wilz 2017: 328f.) ihres Großvaters, der alte Mann zum ›Narren‹, der die Wahrheit sagt, beide halten der mittleren Generation den Spiegel vor. Der Vorspann, der proleptisch die Reiseszene zeigt, bei der Amandus in Bozen in Unterhosen aus dem Zug steigt, sodass Tilda die Notbremse ziehen muss, um ihm nachspringen zu können, stimmt sofort auf Abenteuer ein. Danach wird die Handlung chronologisch erzählt. Die Demenz von Amandus wird bereits bei seiner Rede während des Trauergottesdiensts für seine verstorbene Frau Margarete deutlich. Schon hier zeigen sich erste Wortfindungsstörungen, Personenverwechslungen – er nennt seine Frau mit dem Namen seiner Mutter »Elisabeth« (D 2014) – Normbrüche – er erwähnt ihren großen Busen – und Verstöße gegen »Konversationsmaximen« (Grice 1979: 250; Lapp 1997: 64): Amandus verletzt die Quantitäts-Maxime, nur so viel Information zu geben wie nötig, die Relevanz-Maxime – für ihn ist alles, was im Zusammenhang mit seiner Frau steht, relevant – und die Modalitäts-Maxime, Unklarheit und Ungeordnetheit zu vermeiden. Er verliert den Faden, wird weitschweifig, hält sich lange bei seinen Kuchenvorlieben auf und findet erst am Schluss zum traurigen Anlass zurück, indem er eine Rose auf den Sarg seiner Frau legt. Schon in diesem Moment sind sein Sohn Niko (Til Schweiger) und seine Schwiegertochter Sarah (Jeanette Hain) alarmiert, sie greifen aber noch nicht ein. Erst als Amandus bei der Polizei eine Vermisstenanzeige für seine verstorbene Frau aufgibt, Niko bei einem Besuch die Verwahrlosung der Wohnung bemerkt und Amandus die im Polizeiwagen geklaute Pistole entwenden muss, wird ihm klar, dass sein Vater nicht mehr allein leben kann. Auf Tildas Frage, warum er die Esswaren im Büchergestell aufbewahrt, antwortet ihr Opa: »In der Spülmaschine war kein Platz mehr.« (D 2014) Was sonst Schlagfertigkeit wäre, ist hier ein Zeichen für durcheinander geratene kognitive Kategorien. Da das bereits zur Selbst- und Fremdgefährdung führt, beschließt Niko, den Vater zu sich zu holen, allerdings ohne Veränderung seines

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Ein literarischer Prätext für die innige Beziehung zwischen einem vagabundierenden Großvater und seiner Enkelin könnte Charles Dickens Roman Der Raritätenladen (1840/41) gewesen sein.

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Zeitmanagements und ohne Rücksprache mit seiner Frau. Das ohnehin schon angespannte eheliche Verhältnis verschlechtert sich durch den Einzug des Schwiegervaters noch mehr. Dabei wird aufgrund von Fehlverhalten von Amandus auch schon das erste Auto ramponiert. Sarah reagiert von Anfang an gereizt auf den Schwiegervater. Schon beim ersten gemeinsamen Brettspiel auf der Veranda zeigt sich, dass sie ihn verärgert, weil sie auf der Einhaltung von Spielregeln besteht, die er nicht mehr versteht. Es sind die Kinder, Tilda und ihre Freundin, die bereit sind, die Regeln im Sinne von Amandus’ Spielzügen abzuändern. Tilda manipuliert den Würfel unter dem Tisch sogar so, dass der Opa mit seiner Spielfigur die von Sarah schlagen kann. Schon in diesem Moment kooperiert sie gegen die Mutter mit dem Großvater. Von nun an wird auch innerhalb der Familie ein ›Spiel‹ gespielt, das nach Tildas Regeln und denen des Opas funktioniert. Notfalls belügt Tilda ihren Vater am Telefon, damit dieser nicht merkt, dass sie den Weg zum Kinderarzt allein zurückgelegt hat. Mit ihrer Lüge deckt sie die demenziell bedingte Pflichtvergessenheit des Großvaters gegenüber dem Vater, der sich seinerseits schuldig fühlt, weil er sie in der zweifelhaften Obhut des dementen Opas gelassen hat, um beruflichen Interessen nachzugehen. Dass Amandus ausgerechnet die Schwiegertochter wiederholt mit falschem Namen anspricht – er nennt sie Sandra statt Sarah – entbehrt nicht einer geheimen Logik, denn er fühlt sich von ihr kontrolliert und abgelehnt. Selbst, wenn er ihr helfen will, wie in der Szene, in der er auf ihren Wunsch die Hecke schneidet, erntet er nichts als Empörung, da er sie falsch verstanden und die Hecke zu kurz geschnitten hat. Von Unwahrscheinlichkeiten wie der, dass eine reiche Blankeneser Familie nicht von Anfang an eine Betreuungsperson für Amandus ins Haus holt, ihn sogar bei einem mondänen Sommerfest ohne Aufsicht lässt – er soll in seinem Zimmer bleiben, was er so wenig zu tun gewillt ist wie ein störrisches Kind –, muss man allerdings absehen. Sie ist nötig für den Action-Film-Effekt, dass Amandus das Fest durch das zu früh gezündete Feuerwerk sprengt und so unbewusst dafür sorgt, dass die Ehekrise von Niko und Sarah manifest wird. Für die Demenznarration entscheidend ist, dass Amandus sich selbst nach dieser – übertrieben inszenierten – Turbulenz an nichts mehr erinnern kann: »Papa, weißt du denn gar nichts mehr?« (D 2014), fragt sein soeben von Sarah verlassener und vom Vater mit einer Liebeserklärung überraschter Sohn verzweifelt und bricht in Tränen aus. Niko, sonst viril, aktiv, dominant, darf hier ›weich‹ werden und weinen. Er muss nicht der ›harte Mann‹ bleiben, als der er sich in seiner schlagkräftigen Attacke auf Serge, den Liebhaber seiner Frau und ungebetenen Gast, beim Sommerfest gezeigt hat. Das Vorstellungsbild von Männlichkeit, das der Film vermittelt, ist differenzierter. Serge wird zur komischen Figur, weil er sich vor Sarah als unwiderstehlicher Salonlöwe aufbläht, nach Nikos Schlägen aber mit blutigem Gesicht und ausgeschlagenem Zahn dasteht. Niko geht zwar als Sieger aus dem Rivalitätskampf hervor, steht aber in Haus, Garten, Ehe und Familie vor einem Trümmerhaufen. Dass er nicht zu stolz ist, sich bei Sarah für die öffentliche Bloßstellung auf dem Fest zu entschuldigen, macht die Versöhnung mit ihr möglich, zwingt ihn aber auch, sich nach einem Heimplatz für Amandus umzusehen. Das aber erbost Tilda, seine Tochter. Dass sie ihrem Vater von der Toilette aus zuruft: »Ich würde dich nie ins Heim geben, wenn du alt bist« (D 2014), greift auf das Motiv der ›Enkelmahnung‹ zurück, wie man es aus Märchen kennt,

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in denen ein Kind den Eltern die Misshandlung des Großvaters zurückspiegelt.20 Tilda beherzigt auch den Rat des Kinderarztes, dem Opa »Aufgaben« zu geben, »damit er sich gebraucht fühlt« (D 2014). Deshalb entwickelt sie den Handlungsplan, mit ihm nach Venedig zu reisen, in die Stadt, an die er sich noch erinnern kann, weil er in ihr seiner Frau den Heiratsantrag gemacht hat. Beim gemeinsamen Betrachten eines Fotoalbums appelliert sie wiederholt an das ›biographische Gedächtnis‹ von Amandus, das sich auf diesen Zeitabschnitt seines Lebens bezieht. Unbemerkt von den Eltern, bereitet sie schließlich die Flucht vor, die das ungleiche Paar nach einer abgebrochenen Zugfahrt und einer abenteuerlichen Alpenüberquerung im Schafe-Transporter und Gemüsewagen dank williger Helfer*innen glücklich in der italienischen Lagunenstadt ankommen lässt, wo es sich zufällig im selben Hotel einquartiert, in dem auch die nachgereisten Eltern abgestiegen sind. Amandus verlässt jedoch nachts das Hotel, um zum Lido zu gehen. Als Tilda ihn am Morgen wiederfindet, stellt sie fest, dass er sie nicht mehr erkennt. In ihrer Verlorenheit liest sie sich selbst den Brief an die geliebte Enkelin vor, den er ihr »für diesen Fall diktiert hatte« (Töpfer/Wilz 2017: 322). Bevor Tildas Autonomiegenuss in Verzweiflung kippen kann, wird sie von ihren Eltern entdeckt. Die Sorge um ihre Tochter hat aus dem zerstrittenen Paar wieder »ein Team« (D 2014) gemacht und in der ersten Nacht im Hotel auch zu orgiastischem Versöhnungssex geführt. Das zurückgewonnene Eheglück macht aus der übererregten, von Amandus genervten Sarah eine fürsorgliche Pflegeperson, die bereit ist, ihren Beruf aufzugeben, um für den Schwiegervater und ihre Tochter da zu sein. Das ist eine wertkonservative Lösung, »die hinter den Modernisierungsprozess und die mit ihm verbundene Veränderung der innerfamiliären Arbeitsteilung zurückfällt« (Herwig 2016a: 162): Pflege ist auch hier am Ende Frauensache (vgl. Breuer 2015) oder wird – was für die wohlhabende Familie kein Problem ist – an eine professionelle Kraft delegiert. Prekäre Arbeitsverhältnisse von 24Stunden-Pflegekräften aus Osteuropa, wie sie Christiane Büchner in ihrem Dokumentarfilm Family Business (D 2015) anspricht, sind hier kein Thema.21 Das reiche Milieu erlaubt es auch, »Krankheit und Verfall ästhetisch überspielt und gelindert« (Prechtel 2014) darzustellen. »Nach Beendigung des Venedig-Abenteuers lässt Schweiger Opa Amandus relativ rasch sterben« (Hugendick 2015), die Spätphase der Demenz mit ihren extremen Begleiterscheinungen (vgl. Worschech 2015) wie Heimrealität, Aggressivität, Inkontinenz bleibt ausgespart. Dass Amandus schließlich doch noch in ein Pflegeheim gebracht werden muss, wird von Tildas Off-Stimme nur summarisch erwähnt. Selbst

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In dem von Jung-Stilling überlieferten Märchen der Brüder Grimm Der Großvater und der Enkel wird der zittrige, sabbernde Alte zunächst hinter den Ofen abgeschoben. Das wenige Essen, das ihm noch vergönnt ist, wird ihm in einem billigen Holzschälchen gereicht. Erst als der vierjährige Enkel ein Holzschälchen zimmert und dazu sagt: »Ich mache ein Tröglein […] daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin« (Bd. 1, 1987: 389), holen die Eltern den Großvater wieder an den gemeinsamen Esstisch zurück. In der von Heinrich Zschokke überlieferten Version Der Aetti und Großätti ist das Schälchen ein »Katzentrog« (1825: 12). »Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass 24-Stunden-Betreuungskräfte Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben – auch für Bereitschaftszeiten.« (Walker 2021: 8)

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auf dem Totenbett ist ihr Opa noch in der Lage, seine »kleine Prinzessin […] für immer« (D 2014) seiner Liebe zu versichern.22 Der Film betont die Wichtigkeit guter emotionaler Beziehungen innerhalb der Familie und von Lernbereitschaft: Die Eltern Tildas erweisen sich am Schluss als fähig, von ihrer Tochter zu lernen und Fehlverhalten zu korrigieren. Trotz seiner Unwahrscheinlichkeiten ist der Film ein starkes Plädoyer für möglichst lange Aufrechterhaltung häuslicher Pflege und Inklusion. Mit Bezug auf das theoretische Konzept des framing von Gorp und Vercruysse (2012) – den Rückgriff auf Symbole, Werte, Weltanschauungen einer Kultur – betonen Töpfer und Wilz die vier »Counter-Frames« zum konventionellen »Frame« von Demenz als Degeneration, die bei der Darstellung der AlzheimerKrankheit von Amandus zum Tragen kommen: »ganzer Mensch« statt »leere Hülle«, »Carpe diem« statt sozialer Tod, »offener natürlicher Umgang« statt »Wegsperren« und »gute Mutter« statt Opferrolle der Pflegeperson. Allerdings gestehen sie auch zu, dass Tilda ein »Pflegeideal der guten Mutter« verkörpert, »das nahezu unerreichbar ist« (Töpfer/Wilz 2017: 332) und die Elfjährige von Freundschaften mit Ihresgleichen ausschließt. »Die Folgen ihres Verzichts auf Freizeitaktivitäten mit Gleichaltrigen für ihre Entwicklung werden nicht einmal angedeutet.« (Töpfer/Wilz 2017: 331) Allerdings hat sie von der Aufgabe, für ihren Opa da zu sein, auch einen psychologischen Gewinn: Die Rolle der ›guten Mutter‹ wertet sie auf: »Du bist ein gutes Mädchen und der Weg, den du gehst, ist ein besonderer« (D 2014), sagt die Oberin (Claudia Michelsen) des Südtiroler Klosters zu ihr und fährt das ungleiche Paar nach Venedig. Wie gelingt Schweigers Demenznarration die Balance, Komik zu erzeugen, ohne den demenzkranken Opa der Lächerlichkeit preiszugeben? Komik lebt vom »ungeregelten, anarchischen Spiel zwischen Sinnlichkeit und Intellekt« (Greiner 2006: 88). Ein an Demenz erkrankter Mensch ist prädestiniert dafür, zur komischen Figur zu werden, weil sein Verhalten unfreiwillig Situationskomik erzeugt. Diese reicht hier von der Vermisstenanzeige für eine Tote, über Auto-Karambolagen und geschrottete Nobelkarossen bis zu der Explosion eines überhitzten Stöckelschuhs im Backofen und Küchenbrand. Hinzu kommt die Komik der »Heraufsetzung des materiell Leiblichen« (Jauß 1976: 104), des Kreatürlichen, »des nicht in Sitte gebändigten Körpers, der nicht kanalisierten Affekte« (Greiner 2006: 90). Sie erzeugt ein lachendes Einvernehmen über die Freisetzung des Sinnlichen, die Feier des Triumphs über normative Gewalten und Autoritäten.23 Soziale Normen werden bei Demenz hinfällig, weil diese Krankheit den erwachsenen, sonst kognitiv gesteuerten Menschen wieder auf seine Leiblichkeit zurückwirft. Da gibt es auch nichts zu kritisieren, wenn Tilda ihrem Opa im Zugabteil die nassen Hosen wechselt, was sie so selbstverständlich tut wie Mütter bei ihren Kleinkindern. Als ein vorbeigehendes Paar sie pikiert beobachtet, macht sie mit der Rückfrage »Is was?« (D 2014) deutlich, dass sie die Situation vollkommen normal findet. Scham empfindet nicht sie, Scham empfinden die Mitreisenden, deren Vorstellungen von korrektem Verhalten in der Öffentlichkeit verletzt werden. Allerdings ist Amandus kein

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Amandus sagt auch zur Mutter-Gottes-Statue im Kloster, die er für seine verstorbene Frau hält: »Mein Gott, wie schön du bist. Ich hab’ dich so vermisst.« (D 2014) Sie hat Nähe zur Komik der Erfüllung unbewusster Triebwünsche, wie Sigmund Freud sie in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905) beschrieben hat.

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Kind, auch wenn er ein Plüschtier im Arm hält, und er darf auch nicht als solches behandelt werden. Trotz seines Humors ist er ein verzweifelter erwachsener Mann, dem bewusst ist, dass er den Verstand verliert, und der zu Niko sagt: »Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen.« (D 2014) Er will auch nicht zum Arzt gehen, weil er weiß, dass der ihm nicht helfen kann. Das vom Sohn dann doch herbeigeführte Arztgespräch boykottiert er. Ausweichmanöver dieser Art als Reaktion auf unbequeme Fragen sind für Demenzkranke typisch. Amandus war früher von Beruf Tierarzt, Mediziner. Er befindet sich nicht im Unklaren über sein Krankheitsbild und den ihm bevorstehenden Krankheitsverlauf. Er weiß, dass es kein Medikament gegen Alzheimer gibt.

Abb. 3: Amandus beim Arzt

Szenenbild aus »Honig im Kopf« (D 2014)

In Momenten verfügt er auch noch über Reste von Selbstreflexivität. Er weint im Restaurant, als er begreift, dass er die Speisekarte nicht mehr lesen kann, nicht einmal mehr weiß, was er gerne isst. Verzweifelt fragt er seinen Sohn: »Was esse ich denn gern?« (D 2014) In dieser Situation ist es der Restaurantbesitzer, der die Situation auffängt, indem er die Integration von Amandus durchsetzt: »Der Mann ist krank« (D 2014) und einem arroganten Gast, der sich über den Störenfried beschwert, die Tür weist. Das ist ein Plädoyer für Inklusion von Menschen mit Behinderung, auch wenn sie Benimmcodes und soziale Normen verletzen. Die Komik der Heraufsetzung erlaubt es auch, Amandus als sympathischen ›Lustgreis‹ zu zeigen, der – zum Ärger von Sarah – mit Fotografien und Filmbildern von schönen Frauen flirtet, Nonnen mit Gurken-Witzen in Verlegenheit bringt und fremden Frauen – wie im falschen Zugabteil – an den Busen fasst. Amandus vermisst seit dem Tod seiner Frau körperliche Intimität. Da er sein Verhalten nicht mehr kontrollieren kann, zeigt das Begehren sich unverstellt; weil er dement ist, wirkt er trotzdem nicht als dirty old man – im Unterschied zu Claude, der weiß, was er tut, und trotzdem seinen Sohn stehen lässt, um einer Prostituierten nachzueilen, weil Viagra gerade eben

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wirkt. Was Honig im Kopf betont, ist: Auch ein Mann mit Demenz ist ein Mann. Dass er zur Triebkontrolle nicht mehr fähig ist, ist nicht seine Schuld. Sein grenzüberschreitendes Verhalten unterliegt deshalb keinem moralischen Urteil. Allerdings ist es Sache des Umfelds, mit dieser Form der Alterssexualität umzugehen.24 Der unbeschwerten Tilda gelingt es – im Gegensatz zu ihrer Mutter – problemlos, das Begehren ihres Großvaters mit Humor zu nehmen und sogar den von ihm provozierten Nonnen über die Verlegenheit hinwegzuhelfen, indem sie einen seiner zweideutigen Witze abbricht und die Frage stellt: »Stimmt es eigentlich, dass ihr keinen Sex haben dürft?« (D 2014) Daraufhin antwortet ihr die Oberin ebenso ernsthaft: »Ja, mein Kind. Wir verzichten darauf, einen Mann zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Wir halten diesen Platz für Gott frei.« (D 2014) Weil es dann auch kein Fremdgehen und keine Eifersucht gibt, äußert Tilda daraufhin die Bitte: »Dürfen meine Eltern euch mal besuchen? […] Ich glaube, sie könnten viel von euch lernen.« (D 2014) Das ist Komik der Inversion, des Rollentauschs, und ein äußerst berührender Moment des Films: Ein Kind bittet eine keusch lebende Nonne, seine sexuell aktiven Eltern über Liebe und Treue zu belehren. Im selben Nonnenkloster führt Tilda den Opa, der nachts seine tote Frau sucht, behutsam vor die Madonnen-Statue. Als er in ihr Margarete wiederzuerkennen glaubt, beruhigt er sich. Das ist ein symbolischer Einbezug von Transzendenz, denn die Szene akzentuiert die Verankerung der Menschenliebe in der Gottesliebe. Zur komischen Aufwertung des Leibes gehört auch die Nähe von Geburt und Tod. Auch dieses Konzept greift Schweiger auf, indem er den Film-Plot so konstruiert, dass die Nacht, in der Amandus seine »beste Prinzessin« (D 2014) vergisst, zugleich die Nacht ist, in der ihre Eltern nebenan ihr Brüderchen zeugen. Amandus, der Mensch ohne Geist (de-mens) beweist auch Freiheit des Geistes, denn er hat keine Angst vor dem Tod. Er tröstet sogar die Enkelin, die seinen Tod fürchtet, indem er ihr seinen Schutz auch noch von der himmlischen Warte aus zusichert. Obwohl Tilda nicht an den Himmel glaubt, tröstet sie dieser Gedanke. So kann sie seiner Beerdigung fernbleiben und sich – auf einer Wiese liegend mit Schafblöken im Hintergrund – beim Blick in den Himmel weiterhin seiner Nähe sicher sein: »Opa, hast du was gesagt?« (D 2014), fragt sie schmunzelnd. Die Kamera zeigt abwechselnd in Draufsicht ihr entspannt lächelndes Gesicht und – schließlich kreisend – weiße Wolken vor blauem Himmel. Der Soundtrack, mit dem die Szene unterlegt wurde, der Song Pieces des amerikanischen Sängers Andrew Belle, beginnt mit den Versen: »You and me/Got ourselves a problem/I can see this/Better than I solve ’em/I believed/I found a way around it/I will leave this better than I found it« (D 2014). Tilda lässt den Opa, den sie bis zum Tod begleitet hat, ziehen im Vertrauen auf etwas, das Bestand hat, vielleicht auf Transzendenz. Kunst lügt nicht, sie behandelt den »Schein als Schein«, »Dichtung […] als Dichtung« (Weinrich 1974: 73f.). Das gilt auch für das Familienidyll, das Honig im Kopf am Schluss inszeniert, es gibt sich als märchenhaft schön zu erkennen. Man kann sich darüber ärgern, weil es nicht in jeder Hinsicht politisch korrekt ist, in seinem Plädoyer für Toleranz, Nachsicht und Inklusion ist der Film das zweifellos. 24

In Pflegeheimen müssen Menschen mit Demenz, die sich gegen sexuelle Übergriffe nicht mehr selber wehren können, deshalb durch das Personal geschützt werden.

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5.

Resümee

Alle drei Filmkomödien zeigen teils gelingende, teils scheiternde Interaktion mit Demenzkranken in der Frühphase oder mittleren Phase der Demenz, in denen die Betroffenen noch ansprechbar sind, ein Bewusstsein ihrer Krankheit und lichte Momente haben; alle drei beziehen komische Effekte aus dem Kontrast von verstandesmäßig kontrolliertem Sprechen und Handeln und Momenten des Verwirrt-Seins, ohne die demenzkranken Figuren zu diskreditieren; alle drei sparen schwerwiegende Belastungen der Spätphase wie Aggressivität, Sprachverlust, Inkontinenz, Immobilität und vollständiges Verstummen aus. Es kommt auch nicht zu Momenten völliger Verzweiflung wie in Still Alice, als Alice erkennt, dass sie die Toilette im Ferienhaus nicht mehr gefunden und in die Hose gemacht hat. Im Gegenteil, die vergleichbare Situation im Zugabteil wird in Honig im Kopf durch den natürlichen Umgang Tildas mit den nassen Hosen des Großvaters sogar in Heiterkeit überführt. Alle drei Filme schildern die Krankheit in erträglicher Form und helfen – auch dort, wo sie Fehlverhalten vorführen –, Rollenmodelle des Umgangs mit demenzkranken Menschen zu reflektieren und zu differenzieren. Sie plädieren dafür, die »Endstation Seniorenheim« (Brunnhuber 2010: 183) so lange wie möglich hinauszuzögern. Zudem zeigen sie starke Frauenfiguren wie die sterbende Jeanne, die schwangere Sophie und die entschlossen handelnde Tilda, die sich den Herausforderungen, die existenzielle Krisen mit sich bringen, stellen. Die drei Demenzkomödien stellen auch hegemoniale Männlichkeitskonzepte in Frage, indem sie alternde, geschwächte, im Selbstbetrug befangene oder durch Demenz veränderte Männlichkeit vorführen. Albert wird durch die Alters-WG gestützt, als er seine Frau verliert. Klaus kehrt zu Christa heim und wirft damit den auf seine Freundschaft angewiesenen ›Macho‹ Bernd auf sich selbst zurück. Peter bleibt Gefangener seiner ambivalenten sexuellen Orientierung. Albert und Jean zeigen Bereitschaft, dem Ehebrecher Claude zu verzeihen. Amandus darf auch als Demenzkranker Mann bleiben, da er mit seinem provozierenden Verhalten niemanden schädigt und seine Enkelin es mit Humor nimmt. Niko darf seinen Tränen freien Lauf lassen, als der kranke Vater ihm plötzlich seine Liebe erklärt. Die Filme brechen nicht nur stereotype Vorstellungen vom Alter(n) und vom Leben mit Demenzkranken auf, sondern differenzieren auch das hegemoniale Bild von Männlichkeit. Sie tragen dazu bei, Berührungsängste im Umgang mit demenzkranken Menschen abzubauen sowie Möglichkeiten des Erhalts von Lebensqualität und häuslicher Pflege auszuloten, und sie plädieren vehement für den Abbau von Scham und für Inklusion.

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Abbildungen •

• •

Abb. 1: Albert, von Jeanne erinnert, dass sein Hund weggegeben wurde, Szenenbild aus Et si on vivait tous ensemble? (F/D 2011), mit freundlicher Genehmigung der Rommel Film GmbH. Abb. 2: Klaus auf Mauer wartend, Szenenbild aus Nicht schon wieder Rudi! (D 2015), mit freundlicher Genehmigung von Macchiato Pictures, Ismail Sahin. Abb. 3: Amandus beim Arzt, Szenenbild aus Honig im Kopf (D 2014), Gordon Timpen/barefoot films GmbH/Warner Bros. Entertainment GmbH.

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Zwischen seniler Komik und Desillusionierung:  Alter(n) im Zeichentrickfilm Matthias C. Hänselmann

Die Animation Studies haben sich als eigenständige Forschungsdisziplin im wissenschaftlichen Diskurs mittlerweile fest etabliert (vgl. Feyersinger/Reinerth 2013; Hänselmann 2016a: 19-28). Sie zeigen sich auch für diversitätsbezogene Fragestellungen offen (vgl. Brode 2005; Lehman 2007; Hänselmann 2016b).1  Trotzdem erfuhr die Kategorie ›Alter‹ in ihrer zeichentrickspezifischen Umsetzung bisher kaum ein größeres Interesse.2 Das heißt nicht, dass Alter im Zeichentrick- bzw. allgemein im Animationsfilm bislang überhaupt nicht beachtet worden wäre, jedoch geschah dies im Wesentlichen nur von mediensoziologischer Warte aus (vgl. Bishop/Krause 1984; Towbin u.a. 2004; Robinson/Anderson 2006; Robinson u.a. 2007; Gatling 2013: 28f., 75-80, 129; Elnahla 2015; Zurcher/Robinson 2018). Derlei stichprobenhafte stochastische Auswertungen von Medieninhalten verzichten in aller Regel auf eine stärker analytisch-interpretative Untersuchung ihres Gegenstandes, wodurch die spezifisch mediale Artung der Filme ebenso übergangen wird wie der Umstand, dass der Zeichentrickfilm als vorwiegend fantastische Filmform eigenen Darstellungsgesetzmäßigkeiten folgt, entsprechend derer er auch analytisch betrachtet werden sollte. Außerdem beschränken sich die Untersuchungen meist auf eine Auswertung rein äußerlicher Aspekte des Figurendesigns, operieren mit fragwürdigen Kategorisierungen und Lemmatisierungen3 und erfassen im größeren Zusammenhang von narrativen Strukturen entfaltete Altersdiskurse nicht. Sowohl der Aussagegehalt als auch der Erkenntniswert entsprechender Untersuchungen ist entsprechend limitiert. Gleichzeitig bedeutet das, dass medienadäquate diachron-synchrone Grundlagenuntersuchungen zum Komplex Alter und Altern im

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Selbst in der um eine diversitätsbezogene Totalschau bemühten Sammelveröffentlichung von Johnson (2013) fehlt der Altersaspekt als Untersuchungskategorie. Teilweise haben jedoch auch diese Untersuchungen die Schwäche, dass sie nicht filmformspezifisch verfahren und den Zeichentrickfilm nur als ›generische‹ Klammer begreifen, ohne auf die animationsbezogenen Besonderheiten stärker einzugehen. Aktuelle Ausnahmen sind McGowan (2019: 245-262) und Garrett (2019: 153-174). So werden die Zwerge in Snow White and the Seven Dwarfs (1937) von Robinson u.a. (2007: 210) als alte Männer gewertet.

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Matthias C. Hänselmann

Zeichentrickfilm fehlen. Im begrenzten Rahmen dieses Aufsatzes soll immerhin versucht werden, einen generellen Überblick über die dominanten, wirkmächtigsten und prägnantesten Formen der Thematisierung von Alter im Zeichentrickfilm zu geben, um Ansatzpunkte für weitergehende Forschungsarbeiten zu liefern. Zu diesem Zweck wird im Folgenden, nach einer generellen Klärung der Begriffe ›Alter‹ und ›Altern‹, zunächst ein Blick auf die medienspezifischen Darstellungsvoraussetzungen und Darstellungsebenen geworfen, um Zeit und Alter(n) sowie am konkreten Beispiel die gängigen Altersstereotype im Zeichentrickfilm zu beleuchten. Den Abschluss bildet eine an den unterschiedlichen Zeichentrickformaten orientierte Gesamtschau der Thematisierung von Alter(n), in der die wichtigsten Beispiele aus dem seriellen, didaktischen, alternativen und langen Zeichentrickfilm chronologisch vorgestellt werden, um so die historisch entstandenen Ordnungen und Wirkungszusammenhänge sowie die von Diskurswandel beeinflussten Phasen der Zeichentrickgeschichte skizzieren zu können.

1.

Klärung der Begriffe Alter und Altern

Alter und Altern sind Begrifflichkeiten, die in der Regel einen greifbaren Anfangspunkt4 der Existenz des mit ihnen bezeichneten bzw. des davon betroffenen Gegenstandes voraussetzen: ohne Geworden-Sein kein Altern und ohne Altern kein Alter. Beide Terme können dabei in einem allgemeinen, neutralen, aber auch in einem speziellen, negativen Sinn5 verwendet werden und implizieren im letzteren Fall eine Veränderlichkeit, in der Regel auch eine Endlichkeit des Gegenstands. So bezeichnet Alter entweder allgemein die mit kulturabhängigen Maßeinheiten quantifizierte Spanne an bereits absolvierter Lebenszeit eines Lebewesens bzw. die schiere Daseinsdauer eines Objekts – oder speziell im engen Sinn das hohe Alter, das eine je nach sozialen, kulturellen und medizinischen Implikationen definierte Periode des Lebens kurz vor dem altersbedingten Tod ist. Entsprechend kann Altern entweder als der Prozess begriffen werden, der eine reine Akkumulation von Zeit durch ein identitäres Wesen oder Objekt bezeichnet, oder als der Prozess, der jedes Lebewesen oder Objekt über die Dauer seines Bestehens in Form von entwicklungsbedingten psychischphysisch-morphologischen Veränderungen betrifft und es im Laufe der Zeit seinem Tod

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Siehe jedoch zur Besonderheit der Zeichentrickfiguren McGowan (2019: 252): »[J]ust as animated stars appear to lack a definitive end in a human sense, they also have an ambiguous beginning. […] All human stars have a period of existence before their appearance in film; animated characters do not.« Medizinische Definitionsansätze konzentrieren sich in der Regel auf die negativen Aspekte: »It turns out that defining aging is not so straightforward and the definition itself is open to various interpretations […]. Aging has been defined as the collection of changes that render human beings progressively more likely to die. Aging can also be defined as a progressive structural and functional decline, which means gradual deterioration of physiological functions with age, including a decrease in fecundity. However, it can be viewed as the intrinsic, inevitable, and irreversible process of loss of viability and increase in vulnerability.« (Borysławski/Chmielewski 2012: 33)

Zwischen seniler Komik und Desillusionierung

bzw. Zerfall zuführt. Alter setzt somit in jedem Fall Zeit sowie ein von dieser betroffenes – und theoretisch zu Veränderungen fähiges – Objekt voraus.

2.

Zur Theorie von Zeit und Alter(n) im Zeichentrickfilm

Altern ist also ein zeitinduziertes Phänomen. Deshalb ist es sinnvoll, zunächst die spezifische Manifestation von Zeit im Zeichentrickfilm zu klären,6 wozu ein erster Blick auf den Realfilm dienlich ist. Betrachtet man einen Realfilm mit echten Schauspieler*innen, kann man sich darüber bewusst werden, dass man im Verlauf der Filmrezeption die auftretenden Schauspielerinnen und Schauspieler altern sieht. Man weiß um die grundsätzlich gleiche biologische Verfasstheit der Figuren, weswegen jedem Realfilm als elementares emotionales Grundmoment eine gewisse Melancholie eignet.7 Insofern konserviert der Realfilm Zeit. Zwar ist auch der Zeichentrickfilm eine Zeitkunst, hier ist die Zeit allerdings etwas von Grund auf und durchweg Verschiedenes. Der Zeichentrickfilm erschafft Zeit.8 Er erzeugt eine künstliche Zeit – sie ist künstlich, insofern sie synthetisch hergestellt wird und in der Folge einen abstrakten Charakter besitzt. Die Synthetik der Zeit im Zeichentrickfilm lässt sich medienspezifisch begründen: Anders als beim Realfilm ist die Zeit nicht bereits vorfilmisch gegeben, sondern muss nach dem Prinzip der wählbaren Zeitsyntagmen erst erzeugt werden (vgl. Hänselmann 2016a: 40; 2020). Er nutzt also eine einzelbildweise Aufnahmetechnik (Stop Motion), die einerseits eine völlige Kontrolle über Inhalt, Metrik, relative Dynamik u.a. eines jeden einzelnen Bildes oder Bildinhalts des Films erlaubt und andererseits als Einzelbilder gestaltete, vordefinierte Handlungsmomente, die ohne Beziehung zur vorfilmischen Zeit stehen, zu einem flüssigen Bewegungseindruck verschmilzt, sodass erst im Augenblick der Filmvorführung in Abhängigkeit von der Präsentationszeit die eigentlich diegetische Zeit entsteht. Abstrakt ist diese Zeit, weil außer der Relation zur Präsentationszeit keine temporale Verbindlichkeit zur außerfilmischen Zeit besteht und das gesamte Darstellungssystem des Zeichentrickfilms von Kausalzusammenhängen der Realität entkoppelt ist (vgl. Hänselmann 2016a: 157f.). Besonders anschaulich zeigt sich das etwa im Verfahren des Mickey-Mousing, bei dem die gesamte Diegese einem musikalischen Prinzip

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Zu den grundsätzlichen Aspekten von Zeit im Zeichentrickfilm vgl. auch die rudimentären Anmerkungen von Pikkov (2010: 46-56); ausführlicher dazu Hänselmann (2016a: 353-372) sowie Hänselmann (2020). Siehe dazu besonders Barthes (1985: 81-90, hier 89, H. i. O.): »[B]eim (fiktionalen) Film werden zwei Posen vermengt: das ›Es-ist-so-gewesen‹ des Schauspielers und das seiner Rolle, weshalb ich in einem Film niemals ohne eine gewisse Melancholie Schauspieler, von denen ich weiß, daß sie tot sind, sehen oder wiedersehen kann (ein Gefühl, das ich vor einem Gemälde niemals empfände): es ist nichts anderes als die Melancholie der Photographie.« Siehe auch McGowan (2019: 246f.): »For all human stars, the body – as a professional tool – will eventually fail. Conceptions of live-action stardom have thus explicitly presumed that even the most glittering career will be concluded by the performer’s death. With animation, however, the situation is a little different. […] Unlike his live-action contemporaries, Bugs Bunny has the capacity to appear just as sprightly now as he was more than seventy years ago.«

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vollständig unterworfen werden kann, wodurch nicht nur die Künstlichkeit der Welt, sondern auch die der Zeit deutlich zutage tritt. Dem Zeichentrickfilm stehen 24 Bilder pro Sekunde zur Verfügung, in denen unter den technischen Maßgaben alles passieren kann – oder nichts. Seine Zeit hat daher nicht mehr mit der Realität zu tun als den Umstand, dass auch sie das Fluidum darstellt, in dem sich Veränderungen vollziehen. Dabei implizieren diese Veränderungen, zumal sie im narrativen Rahmen eines jeweiligen Films erfolgen, jedoch oft nur eine räumliche Translokation, nicht aber – bezogen auf das jeweils betroffene Zeichentrickelement – eine eigentlich wesenhaft zeitliche Transformation. Es sind Transformationen von per se zeitlosen Elementen auf Basis des rezeptionsabhängigen Faktors der Präsentationszeit. So gibt es drei zeitliche Aspekte: die Präsentationszeit, die diegetische (Handlungs-)Verlaufszeit, die zu ersterer in Relation steht, und die Zeitlichkeit der Objekte, die insofern ambivalent ist, da die Objekte zwar durch die diegetische Verlaufszeit bedingte und in ihr entfaltete Ereigniswerte akkumulieren können, sozusagen eine ›diegetische Historizität‹ (vgl. Hänselmann 2016a), doch ansonsten von ihr unbedingt sind – sie erfahren Dinge bzw. ihnen widerfahren Dinge; das kann, aber das muss sie nicht verändern. Auch insofern sind sie also Gesetzmäßigkeiten der außerfilmischen realen Zeit enthoben. Altern ist für sie rein optional.

3.

Darstellungsbereiche von Alter im Zeichentrickfilm

Spezifiziert man die zuvor gewonnenen Definitionen durch ihre Übertragung und Anwendung auf den Zeichentrickfilm, erscheint die Anknüpfung an narratologische Konzepte zweckdienlich zu sein, da in diesen die Komponenten von Figur, Zeit und Transformation als die Minimalvoraussetzungen angesehen und als elementare Beschreibungseinheiten verwendet werden.9 Jede Geschichte bzw. noch grundsätzlicher: Jede Handlung bedarf nach der dominanten Auffassung der Erzähltheorie eines transformativen Moments. So wird eine Handlung gemeinhin narratologisch definiert als eine transformative Ableitung einer Ausgangssituation auf eine Endsituation, wobei der zugehörige Referenzpunkt eine Figur, ein Objekt oder eine dargestellte Welt insgesamt ist. Zugrunde gelegt ist dabei der narrative Dreischritt von Ausgangssituation, Transformation, transformierter Situation, wobei die Ausgangssituation die Eigenschaften einer Figur (deren inneren/psychischen bzw. äußeren/physisch-morphologischen Zustand) umfasst oder die Eigenschaften der dargestellten Welt (deren physisch-morphologischen Zustand). Diese Komponenten werden in Form von Figuren und Objekten miteinander kombiniert, sodass mit ihrer Hilfe eine handlungskausale Ereigniskette

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Zur Minimalerzählung siehe besonders Genette (1998: 202f.) und Schmid (2005: 13): »Die Minimalbedingung der Narrativität ist, dass mindestens eine Veränderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt wird.« Speziell für den Film siehe Kuhn (2011: 55-64) und Bal (2009: 199): »The initial situation in a fabula will always be a state of deficiency in which one or more actors want to introduce changes. The development of the fabula reveals that, according to certain patterns, the process of change involves an improvement or deterioration with regard to the initial situation.«

Zwischen seniler Komik und Desillusionierung

hergestellt, Figuren und Objekte transformiert und folglich Handlung erzeugt werden kann. Altern lässt sich diesbezüglich als unspezifische Form einer Transformation ansehen, nämlich als die zeitbedingte, chronologische Veränderung eines beliebigen intradiegetischen Elementes – sei es einer Figur oder eines Gegenstandes –, wobei für unseren Zusammenhang im Wesentlichen nur das Altern von Figuren relevant ist. Altern ist insofern das essenzielle Grundmoment jeder auch noch so elementaren narrativen Struktur10 und das in gleicher Weise und unabhängig von dem Umstand, ob man von der allgemeinen oder speziellen Definition des Begriffs ausgeht, da selbst die reine Akkumulation von Zeit ohne jede deutliche psychische oder physisch-morphologische Transformation doch eine wesenhafte Veränderung des Objekts bedeutet. Das heißt jedoch nicht, dass das medialisierbare Phänomen des Alterns mediale Zeit schlechthin ist, da es zumindest im illusionistischen Rahmen des Zeichentrickfilms auch Darstellungsinhalte gibt, die sich im zeitlichen Prozess der filmischen Entfaltung eines Inhalts manifestieren, jedoch – quasi aufgrund ihrer Bedeutungslosigkeit – atemporal sind und sich in einem beständigen, perpetuierten Jetzt befinden, also nie so etwas wie diegetische Historizität gewinnen und damit letzten Endes nie altern können (vgl. Hänselmann 2020).11 Da in solchen Fällen diegetische Zeit und diegetische Alterungsphänomene zu trennen sind, kann im Weiteren nur der narrative Zeichentrickfilm in Betracht gezogen werden, da nur in diesem aufgrund der figuralen Konkretheit der Darstellungsinhalte sowie aufgrund der erzählerischen Entfaltung von Zustandsveränderungen zeitliche Aspekte medialisiert werden können. Alter sowohl im allgemeinen Sinn von ›bisherige Lebensdauer‹ als auch im besonderen Sinne von ›hohes Alter‹ ist somit auch im narrativen Kontext eines Zeichentrickfilms das Resultat von Altern: ein bestimmter, für die jeweilige Betrachtung fixer Zeitpunkt in der Daseinsspanne einer Figur. Dabei ist Alter in aller Regel das Phänomen, das in den betreffenden Untersuchungen in den Mittelpunkt der Analyse gestellt wird – im Gegensatz zum Phänomen des Alterns. Das hat seinen vornehmlichen Grund wohl in der Besonderheit, dass Altern als Prozess und Entwicklung des Altwerdens gemeinhin nicht in actu wahrnehmbar ist; »aging [i]s a process of slow, continuous transformation – so that it hardly seems like transformation at all« (Jewusiak 2020: 42), denn es erfolgt »slower than perceptible motion« (Scarry 1999: 172). Alter dagegen ist, wie gesagt, auf Basis bestimmter Vorbestimmungen direkt am Objekt feststellbar, weswegen es sich

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Vgl. dazu auch die Definition von Bal (2009: 214): »Events have been defined as processes. A process is a change, a development, and presupposes therefore a succession in time or a chronology.« Es sei angemerkt, dass es auch im Bereich des abstrakten Zeichentrickfilms auf höherer als der diegetischen, sprich: meist auf der materiellen Ebene so etwas wie Manifestationen transformativer Zeit und damit Altersmomente gibt. So existieren Animationen, die – wie etwa Steven Woloshens The Babble on Palms (2001) oder Minuet (2003) – durch die Nutzung von Verwitterungs- und Zersetzungsphänomenen auf der physisch-chemischen Ebene des Filmmaterials den Faktor Zeit in den Gesamtgehalt eines Films integrieren und entsprechend auch einen Aspekt von Alterung und Alter implizieren können. Dasselbe trifft generell auch auf modifikative Bildanimationen wie Caroline Leafs The Street (1976) zu, bei denen das vorfilmische Bild im Verlauf der Erstellung des Films durch sukzessive Umgestaltung zerstört wird (vgl. Hänselmann 2016a: 46-63; Takahashi 2006; Furniss 2007: 40-45); zum materiellen Aspekt im Zeichentrickfilm siehe besonders Hänselmann (2018).

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als greifbarer und prägnanter Untersuchungsgegenstand anbietet. Wann immer aber Alter thematisiert wird, wird der Blick eigentlich auf das Ergebnis, auf Gealtert-Sein gerückt und immer auch – mindestens implizit – mit Bezugnahme auf eine jüngere Version des betrachteten Objekts der Prozess von dessen Alterung anvisiert. Wie jede Form diegetischen Geschehens ist Altern also in erster Linie ein Prozess und als solcher zudem Begleiterscheinung oder auch Parallelentwicklung jedes diegetischen Filmgeschehens.12 Es addiert sich subtil zu jeder Art der manifesten Transformation einer Figur, die sie in Gestalt von körperlichen Verletzungen, psychischen Traumatisierungen, Verlusterfahrungen u.a. erleidet, und kann sich in einer Gesamtschau als die Summe all dieser einzelnen augenfälligen Transformationen selbst manifestieren: So erscheint dann eine alte bzw. gealterte Figur als eine von den Ereignissen ihres Lebens gezeichnete Figur. Das heißt, dass sich die Transformationsart des Alterns von anderen figuralen Transformationen dadurch unterscheidet, dass sich Gealtert-Sein normalerweise nicht sprunghaft einstellt, sondern grundsätzlich prozessualen Charakter hat, und dass es einen transformativen Effekt an einem selbstidentischen Handlungselement zeitigen muss, um als solches wahrnehmbar zu sein und narrativ aktualisiert werden zu können: Es muss in Veränderungen der Ausgangsform einer Figur resultieren. Ansatzpunkte für Alterszeichen können sowohl die psychischen, physischen als auch die morphologischen Aspekte einer Figur sein. Bei einer als gedächtnisstark eingeführten Figur können allmählich Anzeichen von Vergesslichkeit virulent werden, eine körperlich kräftige Figur kann allmählich gebrechlich werden und es können an einer äußerlich bisher ›makellosen‹ Figur optische Alterserscheinungen wie Falten oder graue Haare auftreten – oder alles zusammen. Deutlicher als psychische Transformationen, die auch als Desillusionierung, Erlangung von Reife oder ähnliches gewertet werden können und insofern oftmals keine eindeutige Schlussfolgerung auf figurale Alterung im strengen Sinn erlauben, lassen sich physische und vor allem morphologische Transformationen in aller Regel klar als altersbedingt verstehen. Sie sind daher auch das wichtigste und im Zeichentrickfilm am Häufigsten genutzte Indiz für das Altern bzw. das hohe Alter einer Figur und treten meist in Kombination auf,13 während rein psychische Transformationen allein als Alterungsindizes im Grunde nicht vorkommen. Daher sei im Folgenden der Schwerpunkt auf physisch-morphologische Altersdarstellungen gelegt.

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Siehe dazu auch Jewusiak (2020: 44): »Aging is the existential form of duration, the embodied manner through which one passes through the everyday: it forms the background against which all character development occurs, but almost never rises to the level of analysis in its own right.« und Heinricy (2010: 39f.): »Animation, all forms of animation, focuses on plasticity of bodies. […] [A]ll bodies are constantly changing. However, only in extreme cases are we able to see that change happening, such as in a bad car accident. Usually the changes in our bodies happen too slowly to see them take place or at too microscopic a level to view with the naked eye. Animation, however, is the perfect medium to portray changing bodies.« Siehe beispielsweise den in seinen Handlungen als eindeutig senil dargestellten Filmboss W. Cobb in der Ren and Stimpy-Folge Stimpy’s Cartoon Show (1994), der zudem auch eindeutige äußere Altersmerkmale wie Falten, eine dickglasige Brille, lichtes Haupthaar, eine übergroße Nase und fehlende Zähne aufweist.

Zwischen seniler Komik und Desillusionierung

Obwohl Altern selbst ein prozessuales Phänomen ist, lässt es sich entweder darstellen als ein kontinuierlicher Prozess oder als diachroner Vergleich zweier Zeitstufen eines Menschenlebens oder als kontrastiver Vergleich von zwei oder mehreren Figuren mit offenbar deutlich verschiedenem Alter. Zudem stehen auch Verfahren der symbolischen Repräsentation von Altern und Alter zur Verfügung. Wird Altern als kontinuierlicher Prozess wiedergegeben, muss ein und dieselbe Figur im Verlaufskontinuum ihrer altersbedingten Transformation darstellungssynchron begleitet werden. Die Darstellung von Alter und vor allem auch Alterungsprozessen eignet sich besonders für die Umsetzung in audiovisuellen Medien, da diese Altern als inszenierten Prozess in seiner Sequenzialität mit perzeptiver Genauigkeit abzubilden vermögen.14 Gleichzeitig kann allerdings auch die herkömmliche Realfilmaufnahme Alterungsprozesse aufgrund von deren erheblicher Langsamkeit nur mithilfe von zeitraffenden Tricktechniken einfangen. Dergleichen gehört dagegen zum besonderen Darstellungspotenzial des Zeichentrickfilms, dessen transformative Grundstruktur und dessen metamorphotischer15 Charakter (vgl. Hänselmann 2016a: 416-418) ihn als spezielle Filmvariante zu einem fließend-manipulativen Umgang mit Formen und Zeit befähigen. Die Möglichkeit der plastischen Vergegenständlichung von Alter als kontinuierlichen Prozess ist daher als eigentlich zeichentrickspezifisch anzusehen. Besonders eindrücklich nachvollziehen lässt sich das an einem Film wie Room and Board (1974) von Randy Cartwright, in dem in knapp vier Minuten die gesamte Lebensspanne eines Menschen vom Säugling über das Kindes-, Jugendlichen- und Erwachsenenalter bis hin zum Greisenalter verdichtet wird.16 Wird Altern durch einen diachronen Vergleich dargestellt, müssen mindestens zwei temporal deutlich getrennte diegetische Zeitstufen eingeführt werden, auf denen der

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Schriftliche Medien, wie der Roman, werden dagegen in dieser Hinsicht vor deutliche Schwierigkeiten gestellt. Siehe diesbezüglich auch Jewusiak (2020: 24f., H. i. O.): »Aging challenges the temporal limits of representation. […] While it is easy to imagine a humane who is young or old, it is more difficult to image a person in the process of aging. If one imagines an adolescent aging into adulthood and on to old age, she will find it difficult to image this process as a seamless, continuous movement. Rather, the body that she imagines will probably go through a series of stages that progress in a linear manner. Each image settles into progressively more aged glimpses of the individual, approximating the movement of a flipbook animation rather than the ›melt[ing] and alter[ing]‹ we observed earlier in the case of Hyde’s transformation. The temporal continuity of an individual life resists representation, and aging is usually registered narratively as a past event recounted in the present.« »Metamorphotisch« bezeichnet einen zeichentrickspezifischen Veränderungsprozess, bei dem sich eine Form fortgesetzt bruchlos in eine andere verwandelt u.a. (ein Hut wird zu einem Auto, das Auto zu einem Dinosaurier u.a.). Das Phänomen findet sich bereits in den ersten Zeichentrickfilmen; etwa in Émile Cohls Fantasmagorie (1908). Ein weiteres eindrückliches Beispiel wäre etwa die Verwandlungssequenz in dem unter der Regie von David Hand realisierten Disney-Film Snow White and the Seven Dwarfs. Im Anime und im Zeichentricklangfilm sind Alterungsaspekte nur bedingt und fast ausschließlich als psychische Transformation nach dem Prinzip der erfahrungskausalen Reife gegeben; morphologische Veränderungen sind dabei die absolute Ausnahme. Ein – wenngleich drastisches – Beispiel wäre etwa die Transformation von Tetsuo in Katsuhiro Otomos Akira (1988).

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jeweilige Zustand einer Figur präsentiert wird. Das Altern lässt sich dann als die Gegenüberstellung der durch die Zeit transformierten Zustände der Figur begreifen, die in zwei oder mehreren Momenten ihres Lebens erscheint. Beispielhaft kann diesbezüglich der Anime Tränen der Erinnerung (1991) von Isao Takahata genannt werden, in dem die junge Tokyoerin Taeko durch einen Landaufenthalt an ihre Kindheit erinnert wird und ihre aktuellen Erfahrungen immer wieder von Rückblenden auf ihr früheres Ich oder von mental-metadiegetischen Erinnerungseinschüben durchbrochen werden. Die dritte Möglichkeit, Alter durch Zeichentricks zu thematisieren, erfolgt durch einen kontrastiven Vergleich von zwei oder mehreren Figuren mit offenbar deutlich verschiedenem Alter, wobei – in der Regel infolge eines stärkeren Rückgriffs auf Darstellungsstereotype – eine Unterscheidung von jungen und alten Figuren augenscheinlich wird. Während die beiden bereits genannten Möglichkeiten das Alter einer Figur explizit darbieten, ist diese Option, da sie auf einer Thematisierung von altersbedingten Relationen beruht, eine eher implizite Variante der Altersdarstellung. Um sie zu realisieren, bedarf es eines entsprechend ausdifferenzierten Figurenarsenals mit klar unterscheidbarer altersbezogener Semantisierung, wobei sie sich – nachdem sie für den Zeichentrickfilm über lange Zeit völlig untypisch war – mittlerweile in fast jeder heutigen Zeichentrickproduktion findet. Beispielhaft kann auf die diegetische Welt von Springfield verwiesen werden, in der etwa Homer Simpson mit seinem alten Vater Abraham lebt. Daneben existieren als relativ gängige Topoi gerade im klassischen amerikanischen Cartoon der 1920er- und 1930er-Jahre und insbesondere auch bei Disney verschiedene symbolisch-narrative Darstellungen von Tod oder Lebensbedrohung, die über ihren paradigmatischen Nexus immer auch das Moment von Alter wachrufen. So tritt besonders prominent in der Silly-Symphony-Folge The Skeleton Dance, aber auch in MickeyMouse-Produktionen wie The Haunted House (1929) oder auch The Mad Doctor (1933) der Tod in Gestalt von Skeletten immer wieder leibhaftig in Erscheinung. Auch die graphische Umsetzung von buchstäblich aufgefassten Sprichwörtern lässt den Bezug zum Alterskomplex aufscheinen, wenn beispielsweise in Tex Averys The Shooting of Dan McGoo (1945) die Figur des Wolfs schon ganz unverkennbar ›einen Fuß im Grab‹ hat.

4.

Altersstereotype im Zeichentrickfilm

Alter als figurales Phänomen bedarf figürlicher Elemente, die einen derart hohen Grad an Konkretheit aufweisen müssen, dass sie in Homologie zu Elementen der extrafilmischen Realität und speziell in Analogie zum Menschen gesehen und ihre äußeren Merkmale bzw. ihre Transformationen durch das Publikum in Relation zu realweltlichen Altersphänomenen als entsprechende altersbedingte Erscheinungen erkannt werden können. Die Visualisierung von Alter erfordert also eine besondere Darstellungsweise: Entsprechend angelegte Figuren müssen durch ihr äußeres Erscheinungsbild oder durch Hinweise auf ihre körperliche und/oder geistige Gebrechlichkeit ausgezeichnet werden; dabei wird in aller Regel auf einen – an einem bestimmten Normkonzept gemessenen – hohen Grad an psychischer, physischer und morphologischer Defizität zurückgegriffen,

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um das Figurenmerkmal ›Alter‹ für das Publikum kenntlich zu machen. Alter wird hier gerade nicht durch besondere Fähigkeiten oder Erfahrungen positiv codiert.17 In der Praxis des Zeichentrickfilms wie in vergleichbaren Medien erfolgt eine das Alter der Figuren akzentuierende Behandlungsweise häufig unter Rückgriff auf gängige Altersstereotype,18 wobei man zwischen einer neutralen bzw. objektiven Merkmalszuweisung und einer negativen Eigenschaftsbestimmung unterscheiden kann. Neutral sind dabei etwa graues oder lichtes Haar.19 Negativ sind dagegen alle generalisierenden Alterszuschreibungen, die allein die Gebrechlichkeit bzw. die Defizite der Figur herausstellen (etwa falsche Zähne oder die Angewiesenheit auf eine Gehhilfe), alle Formen der Karikierung (etwa die exzessive Überzeichnung von Falten) sowie eindeutig negative Charaktermerkmale.20 Ansatzpunkte für eine Altersstereotypisierung von Figuren können also gleichermaßen deren psychische, physische wie auch deren morphologische Aspekte sein. In allen Fällen lässt sich dabei unterscheiden zwischen situativ-statisch und synchron erkennbaren Altersaspekten der Figur und solchen infolge einer narrativen Aufladung der Figur, die im Wesentlichen nur diachron unter der Gesamtschau einer Geschichte wahrnehmbar sind und als Alterungsprozesse in Gestalt von Veränderungen figuraler Wesensmerkmale im Verlauf und unter dem Einfluss bestimmter Handlungen auftreten. Ersteres ist dem Bereich des Figurendesigns zuzuschlagen, Letzteres dem Bereich der diegetischen Historizität der Figur und der eigentlichen Narration. Psychische Altersstereotype manifestieren sich statisch in spezifisch altersbezogen semantisierten Charakterzügen, die das Wesen einer Figur von Anfang an bestimmen, wie etwa gemein, mürrisch, senil, verrückt, vergesslich u.a.,21 die jedoch auch dynamisch durch eine dahingehende Veränderung der Grundhaltung bzw. der Handlungsnorm der betreffenden Figur inszeniert werden können.

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Siehe schon Bishop/Krause (1984: 93): »Being old, as seen from the standpoint of Saturday morning television […], is not healthy, not attractive, and not good.« Schon Sheppard (1981: 125) konstatiert: »The existence of a recognizable stereotype appears intrinsic to much humor […]. Similarly, much of the effectiveness of old-people humor appears based on the recognition or acceptance of a common stereotype. […] In short, stereotyping and caricature appear basic to humor itself«. Siehe auch Robinson u.a. (2007: 209): »Neutral characteristics, such as gray or white hair, baldness, and wrinkles were common.« Siehe auch Robinson u.a. (2007: 209): »[N]egative physical stereotypes includ[e] wrinkles, the use of canes and wheelchairs, and a need for glasses and hearing aids […]. ›Toothless and missing teeth‹ was the only negative physical characteristic that seemed to persist in depictions of older characters. Although not specifically coded, the coders did note that a number of the background characters had cracking voices, were hunched over, and that the women were often depicted with ›saggy breasts‹.« sowie Preston 1976; Smith 1981: 15; Sheppard 1981: 123; Robinson/Anderson 2006: 289 und 298f. Siehe dazu auch Robinson u.a. (2007: 209): »Nevertheless, there were still a large number of negative portrayals and negative characteristics associated with older animated characters. With 25 % of the characters shown as grumpy, 12 % as evil or sinister, 8 % as helpless, 3 % as senile or crazy, and 2 % as the object of ridicule, children are receiving a large dose of negative portrayals that may help form or reinforce negative attitudes toward older people.«

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Physische Altersstereotype werden dagegen meist direkt aus der Bewegungsdynamik der Figur oder der unmittelbaren Handlung ersichtlich, wie durch einen schleppend-gebückten Gang, Kurzsichtigkeit, Zittrigkeit oder Schwerhörigkeit.22 Morphologische Altersstereotype bedienen sich häufig aus dem Darstellungsinventar zur Visualisierung des Hässlichen und zeigen sich in der oft übertriebenen Ausstellung körperästhetischer Mängel wie Falten, Warzen oder eine ausgeprägte Knochigkeit, die wiederum entweder statisch als Merkmale einer konkreten alten Figur konzipiert und von Beginn an gegeben sind oder sukzessive von einer alternden Figur erworben werden. Begreift man die Stimme einer Figur als Bestandteil ihrer Morphologie, können auch diesbezüglich klare Altersstereotypisierungen festgestellt werden, da als alt markierte Figuren häufig entweder mit müden Stimmen ausgestattet werden oder »cracking voices« (Robinson u.a. 2007: 209) besitzen oder sich »in a querulous voice« (Gatling 2013: 131) artikulieren.23 Auch der Aussageninhalt ist häufig altersstereotyp geprägt, so wenn sich alte Figuren mürrisch, übertrieben pathetisch und meist in Form von Beschwerden zu bestimmten Sachverhalten äußern. Aufbauend auf diesen drei Darstellungsprinzipien findet eine Altersstereotypisierung auch auf der Ebene der Rollenzuweisung statt. Da nach dem Prinzip der klassischen Ästhetik das Böse auch unansehnlich ist und da das Unansehnliche eben meist mit Alter korreliert, erhalten alte Figuren häufig nicht nur ein unansehnliches Äußeres, sondern sind oft auch für die Rolle der bzw. des Bösen prädestiniert.24 Während es unter den jungen oder mittelalten Figuren eines Zeichentrickfilms jedoch durchaus auch das Konzept der oder des attraktiven Bösen gibt (vgl. dazu Thomas/Johnston 1984: 267-290), ist das Äußere alter Bösewichte in aller Regel eindeutig hässlich semantisiert. Zudem haben sich besonders im komischen Zeichentrickfilm bestimmte typenhafte Figurenkonzepte etabliert, auf die wiederholt zurückgegriffen wird, wie besonders der »dirty old man«, die »little old lady« sowie die »seductive old granny« (Sheppard 1981: 125)25 . Im japanischen Anime hat sich dagegen auch der weitgehend positive Figurentyp eines alten Mannes etabliert, der körperlich bzw. in bestimmten Kampfkünsten, 22 23

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Siehe dazu auch Smith (1981: 14): »One of the most pervasive stereotypes of old people is that they are both physically incapacitated and very ›fragile‹.« Siehe auch die als Darstellungsempfehlung gegebene Äußerung von Beauchamp (2013: 34): »Stereotyping is an important means of developing characters that are not human or normally capable of speech […]. An old weathered tree is voiced by a tired, elderly sounding voice.« Siehe dazu etwa schon Bishop/Krause (1984: 91): »Studies […] find the elderly depicted in an unhappy combination of craziness, folly, mystic wisdom, irrelevance, sadness, and evil.« und Robinson/Anderson 2006: 297; Gatling 2013: 131; Primo 2019: 147 sowie den Hinweis auf »the questions of ageism and sexism inherent in the continued gratuitous portrayal of elderly women as ugly and evil« in der anonymen Rezension zu Faith Hubleys Sky Dance (1980: 27) in der Zeitschrift Film News 37 (1980), S. 26-29, hier S. 27. Sheppard gewinnt diese Erkenntnisse aus seiner Beobachtung von Zeitungscartoons, doch sind sie auf den animierten Cartoon übertragbar und durch Beispiele wie etwa die Figur des Old Man in Old Man of the Mountain (1933), der Emma Webster aus den Looney Tunes (siehe zum Beispiel Tugboat Granny (1956)) oder der Großmutter in Red Hot Riding Hood (1943) zu belegen. Der ›dirty old man‹ findet sich besonders häufig gerade im japanischen Anime, beispielsweise in Gestalt von Master Roshi in der Dragon Ball-Serie, und ist mittlerweile auch im Hentai-Bereich gängig. Beispiele für

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wie besonders der Schwertkunst, anderen Figuren überlegen ist;26 Alter ist hierbei mit Erfahrung korreliert27 und negative Stereotype fehlen häufig.

5.

Altersthematisierungen in den unterschiedlichen Zeichentrickformaten

Entsprechend ihrer unterschiedlichen, häufig nach Altersgruppen klar getrennten Rezipierendenkreise kommen die genannten Darstellungsformen und Altersstereotype in den verschiedenen Zeichentrickformaten in ganz ungleicher Weise zum Einsatz.28 Zudem beeinflussen produktionsökonomische Aspekte das jeweilige Figurendesign von seriellen, didaktischen, alternativen und langen Zeichentrickfilmen. Daher ist es notwendig, bei der folgenden Betrachtung der wichtigsten Formen konkreter Altersthematisierungen im Zeichentrickfilm zwischen diesen Formaten zu unterscheiden.

5.1

Serieller Zeichentrickfilm

Ökonomisches Kalkül hat bereits in den Anfängen des klassischen amerikanischen Cartoons zur Verfestigung einer widersprüchlichen Situation bei der Darstellung figuraler Alterungsprozesse im Zeichentrickfilm geführt. Trotz seines ausgeprägt transformativen Potenzials, durch das Zeit extrem verdichtet und dabei Übergänge harmonisch fließend gestaltet werden können, bildete sich im Zeichentrickfilm alsbald das Prinzip der individualisierten, ikonischen Figur (vgl. Hänselmann 2021) heraus, das auf den unbedingten Wiedererkennungswert eines einmal entwickelten und fortan beibehaltenen Figurendesigns und damit prinzipiell auf (morphologische/physische/psychische) Figurenkonsistenz setzt. Wenn die Figuren überhaupt so etwas wie eine altersbezogene darstellerische Veränderung erfuhren, dann meist nur in Gestalt einer zeichnerischen Verfeinerung oder in Form einer Aktualisierung des Figurendesigns, was aber, wie im Fall der Mickey Mouse, auch in eine Verjüngung der Figurenerscheinung resultieren konnte.29 Ziel war es, mit dem fixen, statischen Erscheinungsbild der Figur sowohl über lange Laufzeiten hinweg kommerziell rentabel produzieren zu können, da sich so arbeitsaufwändige Neukonzeptionen vermeiden ließen, als auch bestimmte Publikumskreise, auf deren Vorlieben die Figurengestaltung zugeschnitten war, durch Bildung einer Fankultur zu binden – beide Aspekte verstärken sich gegenseitig, da eine

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die ›little old lady‹ im Anime wären etwa die Figur Akiko in Miracle Train (2009) oder die Figur Cho in Hanebado! (2018). Siehe Hiruzen Sarutobi aus Naruto (2002-2007) oder Yamamoto aus Bleach (2004-2012). Ähnliches gibt es auch im westlichen Zeichentrickfilm, wo positiv konnotierte alte Figuren häufig auch als »weise« (Towbin u.a. 2004: 40) semantisiert werden. Eine Rolle spielt dabei sicher der Umstand, dass altersbezogene Komik in Abhängigkeit vom zunehmenden Alter der Rezipierenden eine sinkende Akzeptanz erfährt (vgl. Sheppard 1981: 125). Siehe dazu die Anmerkung von Gould (1987: 100) in seiner ›biologischen Huldigung‹ an Mickey Mouse: »In dem Maße, in dem Mickeys Benehmen sich mit der Zeit besserte, wurde sein Aussehen immer jugendlicher. Messungen auf drei Stufen seiner Entwicklung enthüllten eine zunehmende relative Größe des Kopfes, größere Augen und einen vergrößerten Schädel – alles Züge von Jugendlichkeit.«

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einmal geprägte Figurengestalt kaum gegen den Widerstand des Publikums revidiert werden kann.30 Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Figuren überhaupt nicht transformierten – im Gegenteil wurde gerade die spontane, drastische Deformation der Figur bald zu einem Medienspezifikum –, allerdings kehrten die Figuren gemäß dem zeichentricktypischen Unverwundbarkeitspostulat nach jeder Transformation zu ihrer Normform zurück (Hänselmann 2016a: 416-456). Ein solches Konzept, in dem die Figuren nicht auf kontinuierliche morphologische Progressivität hin konzipiert sind, schließt jedoch Altersprozesse als definitive Figurentransformationen aus. Allenfalls kommt es mitunter dazu, dass die bekanntesten Figuren des Zeichentrickfilms in einer Sonderepisode ihren eigenen Geburtstag feiern.31 Die Konsequenz ist eine unveränderliche oder – wenn man so will – unsterbliche Figur, die über Jahre und Jahrzehnte Tag für Tag mit exakt demselben Aussehen auf den Bildschirmen erscheint und allerhöchstens ein episodisches Gedächtnis besitzt.32 Denn ein weiteres produktionsökonomisches Prinzip serieller Zeichentrickfilme, dessen Vorteile besonders darin liegen, dass prinzipiell an mehreren Folgen gleichzeitig ohne Notwendigkeit einer kausalchronologischen Abstimmung gearbeitet werden kann, besteht darin, dass – genauso wie episodische Veränderungen an den Figuren – auch Veränderungen an allen sonstigen Elementen der Diegese am Ende der jeweiligen Folge revidiert werden. Schon in der nächsten Folge einer Zeichentrickserie ist der Zustand der dargestellten Welt auf null zurückgesetzt und die neue Handlung beginnt voraussetzungslos in einem neuen narrativen Setting, sodass auch die Rezeption der einzelnen Folgen im Grunde unabhängig von ihrer Produktionsreihenfolge möglich ist.33 Die Zielgruppenkonfektion, also der Umstand, dass Medieninhalte auf die intendierten Adressaten, im Fall des Zeichentrickfilms besonders auf die Gruppe der kindlichen bis jugendlichen Rezipierenden ausgerichtet werden, führt zudem dazu, dass das Phänomen des Alterns im Serienzeichentrickfilm stark unterrepräsentiert ist, weil er traditionell vor allem mit ›attraktiven‹ Figuren operiert. Auch werden alte Figuren hier generell marginalisiert sowohl in quantitativer Hinsicht (gemessen an der Gesamtfigurenzahl) als auch in qualitativer (bemessen an ihrer narrativen Relevanz), wobei alte weibliche Figuren noch seltener erscheinen als alte männliche, jedoch häufiger negativ semantisiert oder mit körperlichen Einschränkungen gezeigt werden als diese. Generell

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Wie verbindlich dieses Konzept ist, zeigt sich etwa im Zusammenhang des Vorhabens von Dave Stone, Joe Adamson und Jim Morrow, die in ihrem Hybridfilm A Political Cartoon einen gealterten Bugs Bunny zeigen wollten, aber: »Warner Brothers was very nice, all right. Their New York office sent us a very nice letter informing us they could not allow ›an ageless Bugs Bunny aged‹ in a movie that children might see, and ›Best of luck with your project‹« (Stone u.a. 1975: 21). Vgl. Betty Boop’s Birthday Party (1933), Mickey’s Birthday Party (1942) oder den Popeye-Cartoon Happy Birthdaze (1943) (vgl. McGowan 2019: 247). Siehe auch Wells (1998: 214): »The body, naked or otherwise, in the cartoon, is fundamentally free of the aging process. Tom and Jerry were perennially the same age in the Hanna Barbera period«. Dieses Prinzip wird in der Serie South Park ad absurdum geführt, da die Figur Kenny am Ende jeder Episode stirbt.

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ist auch das Fehlen von alten Figuren aus Minderheitengruppen festzustellen.34 Auch wenn sich Beispiele für die Darstellung von menschlichen Alterungsprozessen schon in proto-animatorischen Zeiten, wie bei den Lightning-Sketches des Vaudeville, finden lassen,35 dominieren im seriellen Zeichentrickfilm Kinder- oder Tierfiguren im Kindchenschema das Geschehen. Eine der wenigen und dadurch umso wirkmächtigeren Ausnahmen ist die Figur des Farmers Alfalfa der Aesop’s Fables von Paul Terry, die als lang verwendete Großvatergestalt in Hauptfigur- und Titelbesetzung zum Vorbild für das Figurendesign fast aller Darstellungen alter männlicher Charaktere des klassischen amerikanischen Cartoons wurde und in dieser Hinsicht als der Großvater aller Zeichentrickgroßväter bezeichnet werden kann. Das Besondere an Alfalfa ist, dass er bis auf seinen langen Vollbart und seine beinahe vollständige Glatze in physischer wie psychischer Hinsicht nicht hinter den entsprechenden Fähigkeiten jüngerer Figuren der Serie zurücksteht – im Gegenteil bleibt er bei handfesten Auseinandersetzungen, wie etwa mit dem Hundefänger in Dinner Time (1928), meist der Überlegene und die mit ihm entwickelte Komik ist nicht altersdiskriminierend angelegt, sondern entspringt unabhängig vom Figurenalter einer slapstickhaften, rasch chaotisch werdenden und häufig in Handgreiflichkeiten ausartenden Anhäufung von Missverständnissen, Missgeschicken und Turbulenzen. Seit Alfalfa wurden immer wieder Großvater- und Großmutterfiguren verwendet, um einzelne Folgen von Zeichentrickserien, aber auch in sich abgeschlossene Episoden zu gestalten.36 Daneben trat seit Ende der 1930er-Jahre und ihrem ersten Erscheinen in Tex Averys Little Red Walking Hood (1937) mit der Figur Emma Webster eine weibliche alte Figur auf den Plan, die – anfangs stark karikierend, später deutlicher am Typ der ›little old lady‹ orientiert37  – ihrerseits Vorbildfunktion erlangte und deren oftmals drastisch gewalttätige Handlungen bei der Verteidigung ihres Kanarienvogels Tweety und bei der Bestrafung des Katers Sylvester in komischem Kontrast zu ihrer arglosen Erscheinung stehen.38 Auch in den Popeye-Cartoons finden sich seither immer wieder Großmutter-

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Vgl. hierzu die Ausführungen von Bishop/Krause (1984: 91-94); Robinson/Anderson (2006: 295f.); Towbin u.a. (2004: 23); Gatling (2013: 129); Blaine (2013: 179); Meisner/Levy (2016: 265) sowie Zurcher u.a. (2019: 2). Bekannt ist vor allem der Chalk-Talk The Seven Ages of Man von Winsor McCay (vgl. Canemaker 1980: 14f. und Solomon 1989: 16). Vgl. die Großvaterfigur in den Toonerville-Cartoons, etwa in Toonerville Trolley (1936) oder in Trolley Ahoy (1936), das alte Paar in der Rahmenhandlung von Musical Memories (1935) oder die in verschiedenen Betty Boop-Cartoons zwischen 1935 und 1937 auftauchende Figur des Grampy (erstmals in Betty Boop and Grampy, 1935), für die Altersdarstellung tierlicher Figuren beispielsweise das Altenheim aus Papageien in Parrotville Old Folks (1935). Vgl. dazu besonders ihre Gestaltung in Tugboat Granny (1956). Zu diesem Prinzip der Inkongruenz-Komik siehe Sheppard (1981: 125, H. i. O.): »Moreover, when an old person is depicted as competent, assertive, or energetic, as the social critics might wish, the humor appears based on the implicit opposite – that old people are not or should not act like that.«

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figuren,39 ja, in Folgen wie Goonland (1938) oder Let’s Stalk Spinach (1951) lernt man sogar die Eltern von Popeye selbst kennen. Mit der steigenden Selbst- und Medienreflexivität der MGM- und besonders der Warner-Cartoons der 40er- und 50er-Jahre entstanden Versuche, die Unsterblichkeit der Figuren mitunter wieder zu entautomatisieren, indem – gegen alle traditionellen Genrekonventionen und Zuschauererfahrungen – bewusst die Potenzialität der Sterblichkeit der Figuren aktualisiert wurde:40 »aging itself could be used as a gag« (Wells 1998: 214). Verfahren, diese grundsätzliche Verletzbarkeit der Figuren zu inszenieren, sind zum Beispiel punktuelle morphologisch-reversible Figurentransformationen, bei denen vorübergehend prinzipiell lebensbedrohliche Effekte der Gewalthandlungen an den Figuren gezeigt werden,41 sowie indexikalische Zeichen (etwa stilisierte, weiße und über den ganzen Körper der Figur verteilte Pflaster) oder auch explizite Hinweise, mittels derer dem Publikum punktuell glaubhaft gemacht wird, die Figur sei nun tatsächlich gestorben bzw. theoretisch zum Sterben in der Lage.42 Am deutlichsten in Hinblick auf Altersaspekte wich Robert Clampett in seinem Cartoon The Old Grey Hare (1944) vom Unverwundbarkeitspostulat und der Norm der Unveränderlichkeit der Figuren ab, indem er die Figuren Bugs Bunny und Elmer Fudd ins Jahr 2000 versetzte und dabei mit eindeutigen Symptomen altersbedingter Hinfälligkeit ausstattete, sie also altern ließ und als prinzipiell sterblich zeigte, um auf diese völlig unkonventionelle Weise im Spiel mit der Unsterblichkeit oder Unveränderlichkeit der Figuren Komik zu erzeugen. 1952 wurde dieses Erzählschema noch einmal von Walter Lantz für seinen Woody-Woodpecker-Cartoon Born to Peck adaptiert, in dem die Hauptfigur zu Beginn als vom Alter gebeugter, langbärtiger, greiser Specht auftaucht und sich sehnsüchtig an seine tatkräftige Kindheit und Jugend erinnert. Da er nun aber unfähig ist, mit seinem Schnabel in einen Baum zu dringen, und weiter keinen Sinn mehr im Leben sieht, wirft sich Woody zuletzt in Selbstmordabsicht von einem Berggipfel in die Tiefe, wo er in einem Jungbrunnen landet, dem er in neuer Frische und mit seiner üblichen Erscheinung wieder entsteigt. Seit den 1940er-Jahren, in denen die Präsenz des Zweiten Weltkriegs generell zu einer erkennbaren Brutalisierung des Cartoons führte (vgl. Hänselmann 2019: 196-209), 39

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Vgl. beispielsweise die Folge Let’s Celebrake (1938), in der Popeye für einen Ballbesuch mit Brutus und Olivia die Großmutter der Letztgenannten nicht allein zuhause lassen möchte, sie deshalb als seine Ballbegleitung wählt und – unter Einfluss von etwas Spinat – mit ihr zuletzt den Tanzpreis des Abends gewinnt. Im späteren Sick-Humor-Cartoon wird mit der drastischen, möglichst brutalen Zerstückelung der Figuren diese Tendenz ins Extrem getrieben (vgl. Hänselmann 2013). Vgl. etwa Fritz Frelengs Cartoon Tweet Tweet Tweety (1951), in dem nach der Explosion einer Dynamitstange direkt vor dem Gesicht Silvesters dessen sonst behaarter Kopf über drei Einstellungen hinweg völlig kahl bleibt. Beispielsweise zerdrückt der Jagdhund Willoughby in The Heckling Hare (1941) beim Versuch, Bugs Bunny durch ein Astloch greifend zu erhaschen, eine ihm von Bugs in effigie hingehaltene Tomate und bricht beim Anblick seiner rotverschmierten Hände in Tränen aus im Glauben, er habe Bugs zerquetscht. – Siehe auch Averys A Wild Hare (1940), wo Bugs, nachdem Elmer auf ihn geschossen hat, sehr realistisch seinen eigenen Tod simuliert. – Siehe auch die extreme, äußerst makabere Tom and Jerry-Folge Blue Cat Blues (1956), in der die beiden Hauptfiguren zuletzt gemeinsam Selbstmord begehen.

Zwischen seniler Komik und Desillusionierung

finden sich aber auch Gag-Strukturen, die unverblümt alte Leute zur Zielscheibe von Inkongruenz-Komik (vgl. Kindt 2017) machten. Mit Tex Avery etablierte sich eine neue Form der Gewaltkomik, die auf einer Preisgabe unterlegener Figuren an die Lächerlichkeit basierte und besonders Minderheiten im Zusammenspiel mit der Überzeichnung körperlicher, geistiger, sozialer u.a. Schwächen attackierte. Fand sich schon im Fleischer-Cartoon The Old Man of the Mountain (1933) die nach dem Konzept des ›dirty old man‹ gestaltete groteske Überzeichnung der sexuellen Libido eines alten Mannes, nutzte Avery unter anderem in Red Hot Riding Hood (1943) eine senile, sexuell enthemmte und abstoßende Alte als komische Karikatur und griff in Droopy’s Good Deed (1951) auf intersektionale Diskriminierungsformen zurück, indem er von einer Bombendetonation betroffene Figuren in rassistische Karikaturen von alten Afroamerikanern verwandelte.43 Dergleichen war spätestens seit den 1960er-Jahren nicht mehr möglich, als unter dem massiven Druck von Familienverbänden wie der Action for Children’s Television (ACT) oder der National Coalition on Television Violence (NCTV) ein Prozess der politischen Korrektur von Zeichentrickinhalten einsetzte (vgl. Solomon 1989: 245f.; Cohen 1997: 121154), durch die eine Förderung von ›prosozialen Werten‹ eingefordert wurde. Demgemäß wurden Gewalthandlungen ebenso verbannt wie rassistische Darstellungen oder gegen bestimmte gesellschaftliche Minderheiten gerichtete Themen.44 So viele durchaus positive Aspekte diese Einflussnahmen hatten, war ein Effekt doch auch, dass sich der Zeichentrickfilm in der Folgezeit auch zu dem entwickelte, was vielfach als »illustriertes Radio« (vgl. Adamson 1980: 140f.) beschrieben wurde: weitgehend durch VoiceOver-Erzählung und Figurendialog auditiv getragene, limitiert animierte und reduziert bebilderte Fernsehproduktionen von erstaunlicher Bewegungs- und Handlungsarmut. Zudem entwickelte der Zeichentrickfilm einen sehr biederen, oftmals belehrenden Charakter, ehe mit gesamtfamiliengerechten Produktionen wie der Hanna-Barbera-Serie The Flintstones (1960-1966) allmählich narrativ akzeptablere, wenn schon nicht animatorisch befriedigende Zeichentrickerzeugnisse entstanden. Offenbar im Bestreben, um jeden Preis auf diskriminierende Figurenkonzepte zu verzichten, beschränkte man sich dabei meist auf Geschichten, die um idealisierte Kernfamilien aus Vater, Mutter und zwei Kindern entfaltet wurden und diese im Konflikt mit den Schwierigkeiten des Alltags zeigten – sprich animierte Familiensituationskomödien.45 Es genügt ein Blick auf Serien wie The Flinstones, The Jetsons (1962-63) oder The Roman Holidays (1972), aber auch

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Avery verwendete dieses Prinzip des explosionsinduzierten Blackfacing auch in anderen Konstellationen, etwa in Henpecked Hoboes (1946) durch die Verquickung von Geschlecht, Alter und Ethnizität am andern Ende der Altersskala, indem aus der Explosion eine Pickaninny-Karikatur hervorgeht (vgl. Hänselmann 2019: 212f.; Lehman 2007: 104-119). Ein Grund für den Rückgang von altersdiskriminierendem Humor im Zeichentrickfilm mag auch in der Veränderung der Rezeptionssituation liegen infolge des Verschwindens des Kinos und der entstehenden Dominanz des Fernsehcartoons in dieser Zeit, da offenbar stereotypengetragene Komik in Gruppensituationen größere Akzeptanz erfährt (vgl. La Fave u.a. 1976; Sheppard 1981: 125). Eine Ausnahme stellt lediglich die Serie Mister Magoo (1960-1962) um den titelgebenden schrulligen Alten in Hauptfigurenposition dar.

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Die Schlümpfe (1981-1989), um zu erkennen, dass dieses nicht nur für die Hanna-BarberaProduktionen typische Erzählprinzip zu einem allgemeingültigen Muster wurde, das selbst noch zum Ausgangspunkt heutiger Serien wie insbesondere Die Simpsons (1989-) wurde. Diese letztgenannte Serie stellt – nicht zuletzt aufgrund ihrer langen Laufzeit – jedoch einen Sonderfall dar, denn sie verwendet verglichen mit traditionellen Zeichentrickserien hybride Alterungsformen. So altern die Figuren hier zwar auch nicht, aber ihre diegetisch-historische Kontextualisierung verändert sich diachron, indem die Vergangenheit der Figuren regelmäßig aktualisiert und überschrieben wird.46 Beispielsweise treffen sich in der Folge Wie Alles Begann (1991) die zeittypisch in Schlaghosen gekleideten Figuren Homer und Marge 1974 auf der High School und haben Bart als frischgeborenes Kind; in Die Wilden Neunziger (2008) treffen sich die beiden erneut auf der High School, allerdings in den 1990er-Jahren und Homer ist, statt Hippie, nun GrungeBand-Sänger. Erst seit den 1990er-Jahren wurden Fernsehzeichentrickserien deutlich mutiger, auch kontroverse Themen anzugehen, und alsbald auch wieder beleidigender. Offen altersdiskriminierende Gag-Strukturen finden sich allerdings kaum noch im regulären Zeichentrickfilm,47 wenn auch bei der Figurengestaltung häufig eine Überbetonung negativer Altersaspekte beobachtbar ist48 oder – wie sehr häufig im Aufeinandertreffen von Homer und seinem Vater Abraham in Die Simpsons49  – diskriminierende Kommentare jüngerer Figuren über andere ältere Figuren fallen, die diese aufgrund ihres Alters abwerten und die nicht (wesentlich) durch andere intradiegetische Aspekte relativiert werden.50 Mitunter werden auch besondere Narrative entwickelt, durch die altersbezogene Verfahren einer Überlegenheitskomik statthaft erscheinen und als ›alt‹ markierte Figuren im sicheren Rahmen relativierender Präsuppositionen verspottet oder

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Verwandt ist dieses Prinzip mit der späteren Hinzufügung von Familienstrukturen. So bekam Donald Duck Neffen, Popeye Eltern und später auch einen Sohn, Betty Boop bekam Kinder, Goofy seinen Sohn Max u.a. (vgl. McGowan 2019: 248f.). Eine unrühmliche Ausnahme ist die Darstellung des alten Filmbosses in der Ren and Stimpy-Folge Stimpy’s Cartoon Show (1994). »[W]hen they [i.e. older characters] are present, they reinforce negative aspects of age […] – either directly (e.g., Scrooge) or indirectly (e.g., a nurturing, but frail, grandmother).« (Meisner/Levy 2016: 265) Vgl. die Aussage Homer Simpsons gegenüber seinem Vater: »Aw, Dad, […] you’re a very old man now and old people are useless, aren’t they? […] Aren’t they? Aren’t they? Huh? Yes they are! Yes they are!« (zitiert nach Blakeborough 2012: 259); siehe auch Blaine (2013: 179): »Abe Simpson is the nursing home-bound father of Homer; he is typically portrayed as a senile and dependent individual who is a burdensome figure in his son’s life. Mr. Burns (Homer’s boss) is cast as a disagreeable, spiteful, miserly, and manipulative old man. The Simpsons cast of characters is age diverse in a way that is roughly proportionate to the real world, but the older characters are portrayed in negative stereotypical terms.« Das in Hinblick auf die Verfestigung von Stereotypen gefährliche Potenzial (unrelativierter) derogativer Figurenaussagen gegenüber alten Personen betonten schon Isaacs/Bearison (1986) und Bishop/Krause (1984: 93). Allenfalls der Umstand, dass Homer selbst nicht als der geistig profilierteste Charakter der Serie bekannt ist, schränkt die Gültigkeit seiner abwertenden Aussagen gegenüber seinem Vater ein.

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bekämpft werden können.51 In der American Dad-Folge Old Stan in the Mountain (2012) beispielsweise verhält sich die Figur Stan an der Supermarktkasse herablassend gegenüber einem alten Mann, der ihn daraufhin zu rascher Alterung verflucht. Um sich vom Fluch zu befreien, muss der inzwischen selbst als alter Mann erscheinende Stan den Kilimandscharo erklimmen. Zur Veranschaulichung seines Zustands greift die Folge auf verschiedene Altersstereotype zurück, wie etwa aggressive Verwirrtheit; so attackiert Stan seine beiden Kinder Hayley und Steve mit dem Messer, weil er glaubt, dass sie ihn umbringen wollen. Letztlich fällt er vom Gipfel des Berges herab und stürzt den ganzen langen Weg bis zum Fuß des Berges, was in toto gezeigt wird, um aus der Inkongruenz von langem Sturz und altem Stürzenden Komik zu erzeugen. Durch die Rahmung erscheint die narrative Sanktionierung Stans zwar als gerechte Strafe, was die komische Funktionalisierung von Alter jedoch kaum weniger fragwürdig macht.52

5.2

Didaktischer Zeichentrickfilm

Seit dem Zweiten Weltkrieg, in dem allgemein die besondere Eignung des Zeichentrickfilms für die filmische Vermittlung von (speziell militärischen) Lehrinhalten erkannt wurde (vgl. Hubley/Schwartz 1946; Gibson u.a. 1948), gab besonders die amerikanische Regierung immer wieder cartoonhaft gestaltete, volksdidaktische Aufklärungsfilme zu altersbezogenen Themen in Auftrag, um auf unterhaltsame Weise die Bevölkerung allgemein bzw. an bestimmte medizinische oder soziale Einrichtungen affiliierte Berufsgruppen über grundsätzliche Aspekte sowie Neuerungen im Medizin- und Sozialsystem zu informieren. So gab es beispielsweise Zeichentrickkurzfilme zur Organisation von Krankenhäusern und Altenpflegeheimen,53 zu Änderungen am Sozialversicherungsgesetz der Zeit mit besonderem Blick auf die ältere Bevölkerung54 oder zu psychischer Gesundheit und psychischen Problemen.55 Ein recht frühes und interessantes Beispiel ist – nicht zuletzt, weil hierbei mit Chuck Jones einer der bedeutendsten Animatoren der Zeit Regie führte – der als Warner-Produktion für die U. S. Federal Security Agency entstandene Zeichentrickkurzfilm So Much for so Little (1949), in dem am Beispiel von John Anderson Jones Junior der Lebensweg eines Mannes vom Säuglings- bis zum Greisenalter nachvollzogen wird, um zu jeder der menschlichen Lebensphasen Empfehlungen geben zu können, mit denen sich die Gesundheit sichern und das Leben verlängern lässt. Der Film, in dem sich auch eine Zeitrafferanimation zu altersbedingten Körperveränderungen (Stirnglatze, Doppelkinn, Bauchansatz) findet, wendet den Blick von John ab, als dieser schließlich

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Immer wieder werden auf diese Weise – beispielsweise in der The Ripping Friends-Folge The Indigestible Wad (2001) oder der Codename: Kids Next Door-Folge Operation Z.E.R.O. (2006) – Figuren in alte Menschen verwandelt, wobei deren Erscheinungsbild und Semantik im Grunde mit dem von Zombies identisch ist, weshalb sie als Monster bekämpft werden können. Zumindest hingewiesen sei noch auf die Folge Mean Seasons (1998) der New Batman Adventures, in der das Problem der altersabhängigen Dismorphophobie thematisiert wird. Vgl. Houskeeping Series (1955); siehe dazu Federal Security Agency (1962/1965: 19). Vgl. Sam’l and Social Security (1965); siehe dazu Federal Security Agency (1962/1965: 27). Vgl. How are you? (1966); siehe dazu Psychiatric Services (1967: 29).

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in glücklichem, hohem Alter zusammen mit seiner Frau in den Sonnenuntergang fährt.56 Derartige didaktische, volkspädagogische Animationen gibt es bis heute57  – tatsächlich schrieb die Royal Society of Arts 2017 sogar einen Animationsfilmwettbewerb zum Thema ›End Ageism‹ aus, für den zu einer vorgegebenen Sprecherinnenansage unter anderem Joshua Gilroy-Rossi, Yasmin Cowen und Wyl Parkes ansprechende, gut einminütige Animationen erstellten.

5.3

Alternativer Zeichentrickfilm

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vor allem im Zuge der von der United Productions of America (UPA) vorangetriebenen Bemühungen um eine graphisch-experimentelle Revitalisierung des Zeichentrickfilms jenseits des Mainstream-Cartoons entwickelte sich – auch dank der limitierten und daher kostengünstig zu leistenden Animation – immer stärker ein alternativer Autorenzeichentrickfilm, der sich auf Einzelproduktionen verlegte und daher vom Prinzip der Figurenkonsistenz abweichen konnte. Anders als bei den zu Unterhaltungszwecken bestimmten Cartoons, gerieten in diesen alternativen Zeichentrickfilmen immer wieder ernsthafte Themen wie das Alter(n) in den Mittelpunkt, die hier auch eine seriöse, teils autobiographische und damit nicht-stereotype Gestaltung erfuhren. Zu den frühen Beispielen zählt Vlado Kristls Film La Peau de Chagrin (1960), der sich in seinem Stil einer expressiven Reduktion unter Anknüpfung an Darstellungsformen der modernen Malerei noch in enger Tradition der UPA bewegt, zu den Meisterwerken der Zagreber Animationsschule zählt (vgl. Holloway 1975) und einen Stoff von Honoré de Balzac in Zeichentrickform umsetzt. Raphaël, der Held der Geschichte, will sich, nachdem er sein letztes Geld verspielt hat, sein Leben nehmen, wird jedoch von einem Maskierten zu einem Teufelspakt überredet, der darin besteht, dass Raphaël alle Wünsche erfüllt werden, sein Leben sich jedoch mit jedem Wunsch verkürzt – was an der schwindenden Größe eines roten Chagrinlederstücks versinnbildlicht wird. Raphaël lebt daraufhin in Saus und Braus, altert dadurch rapide und das Leder schrumpft, bis Raphaël kurz vor seinem Ableben erneut vom Maskierten heimgesucht wird, unter dessen Larve sich das Knochengesicht des Todes verbirgt. In Der alte Cowboy (1973) von Witold Giersz werden die Erinnerungen eines gealterten Sheriffs dargestellt, der – ähnlich wie Marshal Will Kane in High Noon (1952) – bei der Ankunft von vier Schurken in der Stadt von allen Helfern verlassen wurde und es allein mit den Bösewichten aufnehmen musste, sodass er, nach der erfolgreichen Verteidigung der Stadt, mit seinem Pferd die untreue Gemeinde verließ und schließlich – langsam verdurstend – in der Wüste von den Bildern des Geschehenen heimgesucht wird.58 56

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Hingewiesen sei noch auf ein Animationsprojekt des National Institute on Aging (1983: 214), das 1977 für eine Ausstellung einen 30-sekündigen Animationsfilm produzierte, »using Rembrandt’s self-portraits to illustrate one person’s aging process«. Vgl. beispielsweise What is Aging? (2013). Siehe dazu auch die Angabe im Filmkatalog des Department of Health, Education, and Welfare (1981: 41; dort als »Memories of an Old Cowboy« aufgeführt): »An aging cowboy recalls the exciting days

Zwischen seniler Komik und Desillusionierung

John Hubley gestaltete 1975 mit Everybody Rides the Carousel einen didaktischen alternativen Langfilm, in dem er das menschliche Leben, das mit dem Symbol des Karussells versinnbildlicht wird, in acht Phasen unterteilte und den Menschen in jeder Phase durch zwei antagonistische Prinzipien bestimmt darstellte, die von zwei verschiedenen Tierfiguren verkörpert werden. Zu Beginn jeder Phase wird die Figur von einem Harlekin auf ein anderes Karussellpferd gesetzt und die in dieser Phase dominierenden Leitprinzipien werden benannt. So versinnbildlicht beim Säugling das tierliche Gegensatzpaar von Igel und Katze das (durch Erfahrungen von Hunger, Angst u.a. ausgelöste negative) Gefühl von Misstrauen bzw. das (durch Erfahrungen von Geborgenheit, Freude u.a. ausgelöste) Gefühl von Vertrauen. Das Kleinkind der zweiten Phase ist von den als Löwe und Hase wiedergegebenen Prinzipien von Autonomie bzw. Scham und Zweifel bestimmt. Diese Darstellungssystematik wird bis zur letzten Phase des hohen Alters verfolgt, in der die Prinzipien von Integrität und Verzweiflung in Gestalt von Eule und Gespenst dominieren, ehe abermals der personifizierte Tod die alten Menschen heimsucht. Den Abschluss des Films bildet eine Wiederaufnahme einer Sequenz aus der Säuglingsphase, durch die der ewige Kreislauf des Lebens insinuiert wird. In The Street (1976) befasste sich Caroline Leaf nach einem Erzählmotiv von Mordecai Richler mit dem allmählichen, über Tage sich erstreckenden Sterbeprozess einer alten Frau im Familienkreis, der aus der Perspektive eines kleinen Jungen geschildert wird. Der Film »is textured with small, true-to-life observations and insignificant daily expressions which create an intimate relationship with the audience, such as rarely occurs in animation« (Bendazzi 1994: 269f.). Er weist die Besonderheit auf, dass er zur Wiedergabe des Geschehens auf eine modifikative Bildanimation (vgl. Hänselmann 2020) zurückgreift, bei der die Darstellungen mit flüssiger Farbe auf einer Glasplatte ausgeführt, einzelbildweise abfotografiert und für die jeweils nächste Bewegungsphase sukzessive so verändert werden, dass die vorfilmischen Bilder im Verlauf der Filmherstellung verloren gehen. Diese Fertigungsweise, die auf materieller Ebene das Moment der Vergänglichkeit aufnimmt, steht in feinsinniger Homologie zur Gesamtthematik des Films. Das von Leaf auch genutzte Verfahren, eine Voice-Over-Erzählung zum Thema Alter mit eindrücklichen Bildern zu illustrieren, findet sich – mit autobiographischer Referenz – ebenfalls in Joanna Priestleys Animation Voices (1985) (vgl. Rabinovitz 1987: 76f.), in der sich Priestley u.a. zu ihren Sorgen über das Älterwerden äußert und dabei eine rasche Alterstransformation verwendet. Auch in ihrem späteren Zeichentrickfilm Grown Up (1993) thematisiert Priestley das eigene Altern, in diesem Fall den konkreten Zeitpunkt des 40. Geburtstags, wobei sie diesem Film, trotz ernster Hinweise auf das Zerbrechen von Beziehungen, den Tod u.a., eine durchweg positive Grundstimmung gibt (vgl. Robinson 2010: 87). Erschütternd trotz seiner zunächst absurd wirkenden narrativen Prämisse ist dagegen der Kurzfilm Why Me? (1978) von Janet Perlman und Derek Lamb, in dem Mr. Spoon von einem Arzt mitgeteilt bekommt, dass er nur noch fünf Minuten zu leben

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hat. In diesen fünf Minuten durchlebt Mr. Spoon mit Verweigerung über Wut, Verhandeln und Depression bis zur letztendlichen Akzeptanz mustergültig und eindrücklich die fünf üblichen Reaktionsstufen der Krisenerfahrung. La Traversée de l’Atlantique à la Rame (1979) von Jean-François Laguionie59 stellt den Lebensweg eines Paares dagegen symbolisch als Fahrt im Ruderboot über den Atlantik mit teils surrealistischen Bildern dar. Während dieser Reise, die von New York aus startet und von Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dauert, fechten die beiden Figuren – teils von äußeren Kräften, teils von eigenen Halluzinationen heimgesucht – verschiedene Kämpfe aus, ehe sie alt und ergraut gemeinsam ins Wasser steigen und darin versinken, während das Boot leer an die Küste getrieben wird. Ähnliche symbolische, den gesamten Lebensweg in den Blick nehmende Umsetzungen finden sich verhältnismäßig häufig im alternativen Zeichentrickfilm; beachtenswert sind in diesem Zusammenhang noch Anna & Bella (1984) von Børge Ring, Der Löwe mit dem grauen Bart (1995) von Andrei Khrzhanovsky und besonders Father and Daughter (2000) von Michaël Dudok de Wit60 sowie Kunio Katōs La maison en Petits Cubes (2008). Gerade die beiden Letztgenannten erreichen, indem sie völlig auf verbale Aspekte verzichten und das Geschehen in suggestiv wirksamen Bildern verdichten, in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema altersbedingter Verlusterfahrungen ein Höchstmaß an anrührender poetischer Tiefe. Bei de Wit verlässt ein Vater seine kleine Tochter an einem Gewässer, steigt in ein Boot und rudert davon. Die Tochter kehrt über die Jahre in unterschiedlichen Stadien ihres Lebens an diese Stelle zurück, hält nach ihrem Vater Ausschau, doch erst, als sie selbst schon eine alte Frau ist, findet sie schließlich statt der Wasserfläche eine hohe Wiese vor, in die sie hineingeht und in der sie erst das Boot aufstöbert und dann auch ihrem Vater wieder begegnet. Bei Katō wird der Lebensweg eines alten Mannes dagegen in umgekehrter Richtung nachvollzogen. Ein ständig steigender Meeresspiegel bedingt in diesem Film, dass die Menschen immer ein neues Geschoss auf ihr bereits bestehendes Haus aufsetzen müssen, wenn das vorherige Geschoß unter Wasser versinkt, wodurch sich eine Verräumlichung der Zeit ergibt. Der alte Mann kauft sich irgendwann eine Tauchausrüstung und steigt damit die verschiedenen Abschnitte des Hauses hinab, die verschiedenen Abschnitten in seinem Leben entsprechen. Indem jede Etage die mit ihr verbundenen Erinnerungen in dem alten Mann wachruft, wird der Abstieg in dem ›Haus der kleinen Würfel‹ zu einer Reflexion über das eigene Leben, die wertvollen Augenblicke darin und den ganz persönlichen, doch überindividuell begreiflichen Prozess des altersbedingten Verlustes unwiederbringlicher Momente.61

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Siehe dazu auch Neupert (2011: 116f.). Siehe dazu Wells u.a. (2009: 162-165); Bendazzi (2016: 114f.). Weitere interessante alternative Zeichentrickfilm um das Thema Alter(n) und Tod sind Joanna Quinns The Wife of Bath (GB 1998), Dennis Tupicoffs Into the Dark (2001), Gil Alkabetzs Morir de Amor (D 2004), Cedric Babouches Imago (2005), Suzan Pitts El Doctor (2006) und Paul Fierlingers My Dog Tulip (2009).

Zwischen seniler Komik und Desillusionierung

5.4

Langer Zeichentrickfilm

Da auch der lange Zeichentrickfilm grundsätzlich nicht auf eine serielle Ausbeutung eines einmal ausdifferenzierten Figurendesigns angelegt ist, entfällt für ihn ebenfalls prinzipiell die Verbindlichkeit eines alterslos-unveränderlichen Figurenkonzepts. Die Figuren werden hier meist auf ein Abenteuer mit einem definitiven Ziel geschickt, wobei diese Erzählstruktur in der Regel Anleihen beim Narrationsmuster von Entwicklungsgeschichten nimmt. Während das für den westlichen Zeichentrickfilm jedoch lange Zeit nicht unbedingt zu einer Aufnahme altersbezogener Handlungskomponenten führte, nehmen Themen wie Erwachsenwerden, Reife und die Überwindung problematischer Lebensphasen wie besonders der Pubertät einen breiten Raum im japanischen Zeichentrickfilm ein, der auch – anders als sein westliches Pendant – nur bedingt das Konzept der figuralen Unversehrtheit kennt. Auch der japanische Serienzeichentrickfilm, der meist nicht episodenzyklisch geschlossene Handlungsverläufe mit einer Rückkehr zur Ausgangssituation verwendet, sondern in der Regel linear-progredierende Geschichten, folgt in dieser Hinsicht dem Langfilmsystem. In allen Fällen sind Reifeprozesse die Regel, doch sind diese meist nur psychisch konzipiert.62 Äußerliche Veränderungen durch den Einfluss der vergehenden Zeit sind im westlichen Zeichentrickfilm äußerst selten, im Anime eher die Ausnahme63 und insgesamt meistens nicht zeichentrickspezifisch inszeniert. Ein höheres und hohes Alter findet sich – gemeinhin nach gängigen Darstellungstypen gestaltet – meist nur bei Nebenfiguren,64 im Westen besonders bei (weiblichen) Verkörperungen des Bösen, wie den Disney-Schurkinnen, etwa der bösen Königin in Snow White (1937), Lady Tremaine in Cinderella (1950), Madam Mim in Die Hexe und der Zauberer (1963) oder auch Yzma in Ein Königreich für ein Lama (2000) (vgl. Zurcher/Robinson 2018). Geraten ganze Lebensläufe in den Blick, erscheinen diese, wie vor allem in Disneys Bambi (1942) oder Der König der Löwen (1994), oft altersdeterminiert und resultieren als Reifezyklen nie in der Darstellung der Hauptfiguren als greise Persönlichkeiten im Hochalter, sondern stets werden die Figuren im Zustand der Mannbarkeit ein letztes Mal in den Blick genommen. Gleichzeitig wird die ehemalige Elterngeneration durch die letztlich erwachsene Jugend verdrängt und dieser Prozess der Ablösung und Tilgung des Alten durch das Junge in klar ideologischen Konzepten, wie dem des Circle of Life, naturalisiert. So wird für eine an die Altersstufen gekoppelte Wertehierarchie argumentiert, die das Junge vor dem Alten präferiert und Letzteres mehr oder minder deutlich entwertet und einer Daseinsberechtigung enthebt. Es ergeben sich als tendenziell sozialdarwinistische Sinnlinien die semantischen Paradigmen von ›jung, kräftig, gemein62 63

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Diese können allerdings, wie etwa bei der Figur Shinji Ikari in Neon Genesis Evangelion (1995), bis zur totalen psychischen Zersetzung der Figuren führen. Vgl. jedoch die Filme Miyazakis, in denen – wie etwa in Prinzessin Mononoke (1997) – körperliche Versehrungen (Ashitakas Hand, Eboshis Arm u.a.) oft vorkommen und mitunter sogar den Ausgangspunkt der Handlung bilden. Vgl. jedoch Das wandelnde Schloss (2004) von Miyazaki, in dem zumindest mit einer altgezauberten Hauptfigur gearbeitet wird; siehe dazu Camp/Davis (2007: 163): »Charismatic elderly characters have always been an element of Miyazaki’s films, such as the pirate leader Dola in Castle in the Sky, but Howl’s is the first time aged characters take the center stage as stars.«

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schaftsrelevant, lebensfähig‹ gegenüber ›alt, hinfällig, gemeinschaftsunverträglich, ablebensbestimmt‹. Der alte König tritt ab, der neue König nimmt seinen Platz ein – eine Koexistenz beider Generationen scheint nicht wünschenswert und keine mögliche Option zu sein. Eine andere Auffassung und Semantisierung von Alter im Zeichentricklangfilm, die sich besonders auch im Anime findet, ist die einer Desillusionierung oder zumindest nostalgisch-melancholischen Vergangenheitssicht. Im Anime müssen sich die Figuren von dieser Betrachtungsweise oft zunächst lösen, um jenseits der Attraktion des verklärten Vergangenen den Herausforderungen der Gegenwart gerecht werden zu können.65 Medienreflexiv auf den Gipfel geführt wird dies in Sylvain Chomets Film L’Illusionniste (2010), der den Lebensweg des Zauberkünstlers Tatischeff in einer modernen, entzauberten Welt zeigt. Dessen Handwerk, das letztlich selbst von Kindern durchschaut wird, gehört wie das anderer Bühnenkünstler im Umfeld Tatischeffs offenbar der Vergangenheit an, wird vom Publikum, das nicht mehr an die Möglichkeit von Wundern zu glauben vermag, nicht mehr wertgeschätzt und kann zuletzt auch die Künstler selbst nicht mehr ernähren. Ein Kollege von Tatischeff, der als Clown arbeitet, wird von Kindern auf der Straße zusammengeschlagen und versucht sich daraufhin das Leben zu nehmen; ein anderer, der als Bauchredner auftrat, muss Hab und Gut und schließlich auch seine Puppe verkaufen und landet völlig mittellos auf der Straße. Auch der Illusionist Tatischeff kann sich zuletzt keine Illusionen mehr über die gewandelten Präferenzen der Zeit machen, in die er mit seinen Tricks nicht mehr zu passen scheint, und gibt am Ende des Films, nachdem er die Letzten, die an seine magischen Fähigkeiten glaubten, ›ent-täuscht‹ hat, sein Handwerk auf. Chomet lässt diesen resignativen, zutiefst deprimierenden Handlungsverlauf in einer Szene gipfeln, in der er die Zauberkunst der Hauptfigur mit der Illusionskunst des Zeichentrickfilms in Homologie setzt: Tatischeff sieht die junge Schottin Alice, für die er zärtliche Gefühle hegt, mit einem jungen Mann und stolpert von diesem Anblick ganz erschüttert in ein Kino, auf dessen Leinwand ein Ausschnitt aus dem Realfilm Mein Onkel (1958) von Jacques Tati dargestellt wird. Der plötzliche, unaufgelöste Bruch mit der bisher rein auf das Medium Zeichentrickfilm beschränkten Darstellungsweise macht den Zuschauenden abrupt bewusst, dass auch die Filmhandlung nur illusioniert ist – und der Zeichentrickfilm wohl eine in die Jahre und aus der Mode gekommene Kunstform geworden ist, die mit der jungen, auf optische Glätte und Oberflächenreiz setzenden Digitalanimation nicht mehr konkurrieren kann (vgl. Hänselmann 2016a: 16).

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Vgl. Tränen der Erinnerung (1991), Flüstern des Meeres (1993) oder Chihiros Reise ins Zauberland (2001), siehe dazu im größeren Zusammenhang auch Hu (2010: 130-132).

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»Revenge is the best revenge«: Alter(n), Geschlecht und jüdische Identität in der Amazon-Serie Hunters Véronique Sina Auschwitz was full of horrible pain & suffering documented in the accounts of survivors. Inventing a fake game of human chess for @huntersonprime is not only dangerous foolishness & caricature. It also welcomes future deniers. We honor the victims by preserving factual accuracy. (Auschwitz Memorial 2020)

Mit diesem Tweet kommentierte das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau Ende Februar 2020 die Veröffentlichung der US-amerikanischen Serie Hunters auf der populären Videostreaming-Plattform Amazon Prime. Die zehnteilige Mini-Serie, die mit dem Slogan »Revenge is the best revenge« beworben wird, dreht sich um eine Gruppe von Vigilant*innen, die im New York der 1970er Jahre Jagd auf Nazis macht, die nach dem Zweiten Weltkrieg Unterschlupf in den USA gefunden haben und dort unbehelligt leben. Anführer und »Mastermind«1 der selbsternannten Nazijäger*innen ist der Auschwitz-Überlebende Meyer Offerman, gespielt von Al Pacino, der 2020 seinen 80. Geburtstag feierte. Gemeinsam mit seiner langjährigen Freundin Ruth Heidelbaum (Jeannie Berlin), die ebenfalls in Auschwitz interniert war, rekrutiert Offerman sechs weitere Mitstreiter*innen, mit deren Hilfe er ehemalige SS-Offiziere und Nazi-Funktionär*innen aufspürt und zur Strecke bringt. Ruth wiederum ist die Großmutter von Jonah Heidelbaum (Logan Lerman), einem verwaisten jüdischen Zwanzigjährigen, der in einem Comic-Laden jobbt und Marihuana verkauft, um seine Großmutter, bei der er seit dem Tod seiner Eltern wohnt, finanziell zu unterstützen. Als Ruth eines Abends in ihrem heimischen Wohnzimmer ermordet wird, erfährt Jonah

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Auf den offiziellen Postern zur Serie wird der Figur des Meyer Offerman die Funktion des »Mastermind« zugewiesen.

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Véronique Sina

von dem geheimen Leben seiner geliebten ›Safta‹2 als Nazi-Jägerin und schließt sich der Vigilant*innen-Gruppe von Meyer Offerman an, um den Tod seiner Großmutter zu rächen und ihr Lebenswerk fortzuführen. Durch Meyer, die anderen Gruppen-Mitglieder und die persönlichen Erinnerungsstücke seiner Großmutter3 erhält Jonah im Verlauf der Serie nicht nur Einblick in Ruths Doppelleben, sondern auch in die Schrecken des Holocaust. So sind in Hunters immer wieder einzelne Episoden zu sehen, die u.a. in dem Vernichtungslager AuschwitzBirkenau angesiedelt sind. In der Pilotfolge In the Belly of the Whale (Hunters 1.1, US 2020) berichtet Meyer beispielsweise von einem sadistischen Schachspiel, das er während seiner Zeit in Auschwitz beobachtet hat und das mit Hilfe einer Rückblende visualisiert wird: Auf einem Feld werden jüdische Häftlinge gezwungen, als menschliche Schachfiguren zu agieren und sich gegenseitig umzubringen, wenn eine Figur im Spiel geschlagen wurde. Für das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau bietet diese grausame fiktive Szene Anlass für heftige Kritik an der Streaming-Serie, die nicht nur in dem eingangs zitierten Tweet ihren Ausdruck findet, sondern auch in verschiedenen Presseberichten nachzulesen ist. In der Jüdischen Allgemeine betont der Sprecher der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau etwa, dass es sich bei der besagten Menschenschach-Rückblende um eine erfundene Szene handelt, die so nie passiert sei. Durch die Zurschaustellung fiktiver Gräueltaten würde Hunters Gefahr laufen, die Geschichte zu verfälschen sowie die Shoah zu verzerren, und damit Holocaust-Leugner*innen in die Hände spielen (vgl. El, 2020). In verschiedenen Kritiken zur Serie ist darüber hinaus von »Lagervoyeurismus und Gewaltpornographie« (Jungen, 2020), von Geschmacklosigkeit, reißerischer Comic-Ästhetik und der Kommerzialisierung des Holocaust die Rede (vgl. Gedlicka, 2020; Kaever, 2020; Silow-Carroll, 2020). Mit dieser negativen Resonanz steht die von David Weil kreierte fiktionale Serie, die sich von den historischen Ereignissen der Shoah und des Zweiten Weltkriegs inspirieren lässt, nicht alleine da. Auch populäre Produktionen wie die US-amerikanische Fernsehserie Holocaust (dt. Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss) aus dem Jahr 1978 oder Quentin Tarantinos postmoderner Kinofilm Inglourious Basterds (US/D) von 2009 sehen sich wiederholt mit dem Vorwurf der Fiktionalisierung, Sentimentalisierung und Trivialisierung der Shoah konfrontiert (vgl. Paul 2010; Dassanowsky 2012; Seeßlen 2013; Wohl 2013).4 Während Inglourious Basterds den Zuschauer*innen »keine Konzentrati2 3

4

Das ist die hebräische Bezeichnung für Großmutter. Nach Ruths Tod findet Jonah unter den persönlichen Gegenständen seiner Großmutter eine Kiste, in der sie verschiedene Erinnerungsstücke aufbewahrt hat u.a. auch Briefe, in denen sie von ihren Erlebnissen während des Holocaust berichtet. Wie Johannes Rhein, Julia Schumacher und Lea Wohl von Haselberg in der Einleitung zu dem Sammelband Schlechtes Gedächtnis? Kontrafaktische Darstellungen des Nationalsozialismus in alten und neuen Medien ausführen, lässt sich »seit Beginn des 21. Jahrhunderts […] ein Boom […] kontrafaktischer […] NS-Darstellungen verzeichnen, der auffällig stark durch audiovisuelle Medien geprägt ist. Innerhalb der letzten zehn bis fünfzehn Jahre entstand eine Vielzahl fiktionaler Spielfilme und TVSerien, die Motive der Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs aufgreifen, dabei aber drastisch von der konventionellen Form des historischen Spielfilms abweichen: Diese Produktionen entziehen sich der im Zusammenhang mit der Thematisierung des Nationalsozialismus oft an Kino und Fernsehen herangetragenen Erwartung, historisches Wissen zu vermitteln. Vielmehr setzen sie beim Publikum die Kenntnis bestimmter Fakten und historischer Ereignisab-

»Revenge is the best revenge«

onslagergeschichte« präsentiert, wie Lea Wohl bemerkt, »sondern verschiedene Handlungsstränge, die im von Nazi-Deutschland besetzten Frankreich spielen« (2013: 347), zeigt die von Marvin Chomsky inszenierte NBC-Serie Holocaust, welche in insgesamt vier Episoden die Geschichte der jüdischen Familie Weiss während des Zweiten Weltkriegs erzählt, gleich mehrere ›KZ-Szenen‹ und sogar Bilder der Gaskammern und löste damit eine kontroverse Debatte über adäquate Repräsentationsformen der Shoah aus (vgl. Rohr 2010; Sina 2017).5 Genau wie Holocaust und Inglourious Basterds wagt sich also auch Hunters als populärkulturelles Artefakt an die Repräsentation und Verhandlung der Shoah und schreckt dabei nicht vor der Darstellung fiktionalisierter Inhalte zurück.6

1.

Wehrhafte Jüd*innen

Ein weiterer Aspekt, den die drei Produktionen miteinander teilen und dem im Rahmen des vorliegenden Beitrags besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll, ist die mediale Inszenierung wehrhafter Jüd*innen bzw. das Motiv der jüdischen Rache sowie »der Täter-Bestrafung« (Wohl 2013: 351). In der Serie Holocaust schließt sich etwa der jüngste Sohn der Familie, Rudi Weiss (Joseph Bottoms), während des Krieges einer Gruppe militanter jüdischer Partisan*innen an und leistet so aktiv Widerstand gegen das Nazi-Regime. Der Film Inglourious Basterds entwirft wiederum ein Szenario, in dem die junge Jüdin Shoshanna Dreyfus (Mélanie Laurent) einen Plan schmiedet, um Hitler zu töten, und sich zudem eine Gruppe jüdisch-amerikanischer Soldaten7 – unter ihnen der aufgrund seiner physischen Stärke als ›Bärenjude‹8 bezeichnete Donnie Donowitz

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läufe voraus und ziehen ihren Reiz daraus, demonstrativ von diesen abzuweichen« (Rhein u.a. 2019: 12). Wenngleich die Mini-Serie seit ihrer Ausstrahlung Ende der 1970er Jahre – durchaus berechtigt – mit dem Vorwurf der Trivialisierung, Fiktionalisierung und Sentimentalisierung des Holocausts zu kämpfen hat, gelang es ihr, die Vernichtung der Jüd*innen durch die Nazis einem breiten internationalen Publikum nahe zu bringen und das bis dato dominierende (massenmediale) Schweigen erfolgreich zu durchbrechen. Und zwar so erfolgreich, dass der Titel der Fernsehserie zum Synonym für die Judenvernichtung wurde (vgl. Hickethier 2003: 130). Laut Johannes Rhein, Julia Schumacher und Lea Wohl von Haselberg ermöglichen »Digitalisierung und Internet« u.a. über Streaming-Plattformen wie Amazon Prime »nicht nur ökonomische Voraussetzungen für die Produktion«, sondern, wie die Autor*innen erläutern, »auch für die konkrete visuelle Gestaltung: Neben der ästhetischen und geistigen Plünderung der Mediengeschichte betrifft dies auch die Schaffung historisch unmöglicher Bilder, die durch digitale Nachbearbeitungen besonders reizvoll geraten« (Rhein u.a. 2019: 18). Angeführt wird die Gruppe jüdisch-amerikanischer Soldaten, die sich selbst ›Basterds‹ nennt, von dem nicht-jüdischen Amerikaner Lt. Aldo Raine (Brad Pitt). Die Figur des ›Bärenjuden‹ ist als Referenz auf das Konzept des ›Muskeljuden‹ zu verstehen, das sich im Rahmen der Zionismus-Bewegung herausbildet: »Ende des 19. Jahrhunderts sehen die Väter des Zionismus in der jüdischen Tradition, die auf geistige Bildung ausgerichtet ist, ein großes Problem. Auf dem Zweiten Zionistenkongress in Basel 1898 prägt Max Nordau den Begriff des ›Muskeljuden‹. Für den Aufbau einer sicheren Heimstätte in Palästina fordert der Arzt körperliches Training, um dem schlaffen jüdischen Leib die verlorene Spannkraft wiederzugeben« (Blaschke, 2015). Zum Konzept des Muskeljuden vgl. ebenfalls Presner (2007).

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(Eli Roth) – auf den Weg nach Frankreich macht, um dort (auf sehr brutale Weise) möglichst viele Nazis umzubringen. Am Ende sind sie es, die – noch vor Shoshanna – Hitler ermorden und so den Zweiten Weltkrieg beenden. Mit der populärkulturellen Darstellung wehrhafter Jüd*innen erfährt das weit verbreitete, stereotype Narrativ des passiven jüdischen Opfers sowohl in Holocaust als auch in Inglourious Basterds eine radikale Umdeutung. So bemerkt etwa Margarete Myers Feinstein in ihrem Aufsatz Reconsidering Jewish Rage After the Holocaust, dass »[a]long with a myth of silence, there [in the days after the Second World War] developed a myth that Jews had not sought vengeance« (2020: 743). Und auch Mark Roseman konstatiert, dass das Motiv der jüdischen Rache eine auffallende Leerstelle darstellt: »Revenge is absent not only in survivor memoirs but even in so many of the wartime accounts that have resonated in the postwar period« (2016: 71).9 In diesem Sinne präsentiert Hunters – genau wie Holocaust und Inglourious Basterds – den Zuschauer*innen »eine Realfiktion«, die »die Geschichte auf den Kopf stellt« (Hütt, 2020) und den vermeintlich fehlenden jüdischen Widerstand als fiktionalisierte Erzählung in einem populärkulturellen Artefakt nachliefert. In Hunters sind es die Überlebenden der Shoah, die das Gesetz und die Strafverfolgung in die eigene Hand nehmen und Nazis für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Dabei »spielt die Serie mit dem Unfassbaren« und inszeniert »einen Teufelskreis von Gewalt im Stil eines PulpComics« (Hütt, 2020), wie Hans Hütt treffend formuliert. Mit der Inszenierung jüdischer Rache wird in Hunters jedoch nicht nur »eine Gegenfigur zum friedlichen und wehrlosen jüdischen Opfer« (Czolleck 2020: 157) und damit auch ein alternatives Bild jüdischer Männlichkeit entworfen, das der antisemitischen Zuschreibung des ›verweiblichten‹ Juden widerspricht (vgl. Mosse 199; Rosenberg 2001; Jütte 2020).10 Mit Meyer Offerman wird zudem eine aktive und ›wehrhafte‹ Figur in das Zentrum der Narration gerückt, die durch ihr hohes Alter gekennzeichnet ist. Im Folgenden soll dieser Verzahnung von Alter, Geschlecht und ›Jüdisch-Sein‹ mit Blick auf den Topos jüdischer Rache nachgegangen werden. 9

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Wie Margarete Myers Feinstein u.a. anhand von Erfahrungsberichten Holocaust-Überlebender darlegt, gab es durchaus Rache- und Vergeltungsakte von Jüd*innen, die die historische Vorlage für populärkulturelle Inszenierungen wie etwa Holocaust, Inglourious Basterds und Hunters liefern. Exemplarisch sei hier auf die so genannten Avengers verwiesen, die Myers Feinstein wie folgt beschreibt: »The Avengers, a group of former partisans under the leadership of Abba Kovner, was an organization that sought to inflict losses on the Germans similar to those suffered by the Jews« (2020: 745). Bei den »Nazi hunters« handelt es sich um ein weiteres von Myers Feinstein aufgeführtes historisches Beispiel jüdischer Wehrhaftigkeit: »One group of Dachau survivors served as Nazi hunters for the US Army in Salzburg, Austria. Dennis Urstein estimated that they murdered eleven SS men before being told that they must bring their prisoners in alive« (2020: 751). In ihren Ausführungen geht Myers Feinstein auch auf die Rolle der Kategorie Gender bzw. der Geschlechterdifferenz im Kontext jüdischer Racheakte ein. So bemerkt sie etwa, dass das im Rahmen der zionistischen Bewegung propagierte Konzept des ›Muskeljuden‹ Einfluss auf das Selbstbild und damit die Wehrhaftigkeit jüdischer Männer hatte: »Zionist masculinity expected Jewish man to be strong, physical, and to take up arms in defense of the community« (2020: 749). Weiterhin hält sie fest: »In contrast to men who felt that their masculinity required them to take revenge, women might minimize their revenge thoughts and behavior in order to conform to norms of femininity« (2020: 749).

»Revenge is the best revenge«

2.

Jüdische Männlichkeit und hegemoniale Hierarchiegefüge

In seinem Buch Legacy of Rage. Jewish Masculinity, Violence, and Culture geht Warren Rosenberg dem im anglo-amerikanischen Raum weit verbreiteten Vorstellungsbild11 nach, jüdische Männer seien per se nicht gewalttätig: »Erudite, comedic, malleable, nonthreatening, part nebbish, part schlemiel, Jewish men do not fight, they talk. One might imagine a cross between Clark Kent and the early Woody Allen as the quintessential Jewish American male« (2001: 1).12 Wie Rosenberg ausführt, lässt sich das geschlechtlich codierte Stereotyp des friedliebenden Juden zum Teil auf das in der aschkenasischen Tradition verwurzelte Konzept des ›Menschen‹ zurückführen, einer idealtypischen Konstruktion jüdischer Männlichkeit als intellektuell, gutmütig und verantwortungsvoll (vgl. auch Brod 1988). Dieser positiven Auslegung friedliebender ›Jüdischkeit‹ ist jedoch eine weitere Diskursivierung zu ergänzen und zwar die sowohl antisemitische als auch heteronormative und homophobe Zuschreibung männlicher Juden als verweiblicht sowie die damit einhergehende diskriminierende Markierung des (männlichen) jüdischen Körpers als deviant und unzulänglich: »That discourse […] has emphasized since the mid-nineteenth century the feminization of the Jewish male, a process exacerbated by the victimization of the Holocaust and dramatically reversed by the military triumph of Israel’s Six-Day-War in 1967« (Rosenberg 2001: 11). Folgt man Robert W. Connells Konzept hegemonialer Männlichkeit, so lassen sich innerhalb einer Gesellschaft bzw. Kultur verschiedene Arten von Männlichkeiten ausmachen, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinanderstehen (Connell 1999). Zu einem bestimmten Zeitpunkt gibt es also immer ein spezifisches gesellschaftlich erstrebenswertes Männlichkeitsbild, welches die anderen Formen der Männlichkeit dominiert.13 Demnach muss Männlichkeit als eine »relationale Kategorie« verstanden werden, »die nicht nur im Verhältnis zu Weiblichkeit ihre Gestalt annimmt, sondern auch im Verhältnis zu anderen Männlichkeiten« (Lünenborg/Maier 2013: 110). So unterscheidet Connell etwa »zwischen der hegemonialen Männlichkeit sowie den untergeordneten Männlichkeiten«, wie Margreth Lünenborg und Tanja Maier (2013: 110) bemerken. Während »in der heutigen westlichen Gesellschaft« (Connell 1999: 99) etwa die Dominanz heterosexueller Männlichkeiten überwiegt, werden homosexuelle Männlichkeiten in eine untergeordnete Position gedrängt.14

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In Anlehnung an Stephen Lowry, der in seinen Ausführungen wiederum Richard Dyers diskursanalytischer Konzeptualisierung eines ›Image‹ folgt, verstehe ich unter Vorstellungsbild »ein[en] Komplex aus visuellen und auditiven Zeichen, die im Film sowie in anderen Medien vermittelt werden« (Lowry 1999: 120). Vgl. hierzu u.a. auch Wisse (1980) sowie Berger (1996). Connell betont, dass hegemoniale Männlichkeit ein dynamisches Konzept ist, welches einen veränderlichen Charakter besitzt. Hegemoniale Männlichkeit stellt demnach eine Form von Männlichkeit dar, »die in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position einnimmt, eine Position allerdings, die jederzeit in Frage gestellt werden kann« (1999: 97). Somit muss auch die Vorherrschaft bzw. Dominanz einer bestimmten Männlichkeit stets verteidigt und neu verhandelt werden. Untergeordnete Männlichkeiten werden von Connell zudem in marginalisierte, unterdrückte und komplizenhafte Männlichkeiten differenziert.

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Durch diese Unterdrückung geraten homosexuelle Männlichkeiten an das unterste Ende der männlichen Geschlechterhierarchie. Alles, was die patriarchale Ideologie aus der hegemonialen Männlichkeit ausschließt, wird dem Schwulsein zugeordnet […]: Deshalb wird aus der Sicht der hegemonialen Männlichkeit Schwulsein leicht mit Weiblichkeit gleichgesetzt. (Connell 1999: 99) Weiterhin betont Connell, dass homosexuelle Männlichkeiten zwar »die auffallendste, aber nicht die einzige Form untergeordneter Männlichkeit« (1999: 100) sei. So können auch andere Strukturkategorien wie etwa Klasse oder ethnische und religiöse Zugehörigkeit die Grundlage für die gesellschaftliche Ausgrenzung untergeordneter bzw. marginalisierter Männlichkeiten bilden. Im Rahmen der von Connell beschriebenen geschlechtlichen Macht- und Hierarchiegefüge wird das (hetero-)normative Bild hegemonialer Männlichkeit also stets durch die Abgrenzung dessen definiert, was es nicht ist bzw. nicht sein darf (vgl. Hißnauer/Klein 2002: 28). Während sich das in populären Medien propagierte dominante westliche, sprich anglo-amerikanische Idealbild weißer hegemonialer Männlichkeit u.a. über muskulöse Körperkraft, Agilität, Aggressivität, Mut, Abenteuerlust und Tatendrang definiert, wird jüdische Männlichkeit innerhalb stereotyper antisemitischer Denkmuster mit körperlicher Unzulänglichkeit, Schwäche, Gelehrsamkeit und Sanftmütigkeit assoziiert, als Gegenentwurf dominanter Männlichkeit konzipiert und folglich marginalisiert. Aber auch die Kategorie Alter(n) kann eine zentrale Rolle innerhalb der hier beschriebenen diskriminierenden Marginalisierungsprozesse spielen, da hegemoniale Männlichkeit in der Regel mit Jugend bzw. Jugendlichkeit in Verbindung gebracht wird. »This is because old age translates automatically to decline, especially as hegemonic masculinity is premised on physicality (of the body), […] and authority« (Bartholomaeus/Tarrant 2015: 8). So weist auch Rebecca Feasy mit Bezug zu Männlichkeitsbildern im Action-Kino darauf hin, dass hegemoniale Männlichkeit und alternde Männlichkeit in der Regel nur schwer in Einklang zu bringen sind: »After all, hegemonic masculinity has associations with physical prowess, sexual virility, social dominance and aggression, which are potentially at odds with the image of the ageing male« (2011: 507). Anhand einer vergleichenden Gegenüberstellung der beiden Protagonisten Meyer Offerman und Jonah Heidelbaum sowie der differenzierten Analyse ausgewählter Szenen soll im Folgenden exemplarisch das intersektionale15 Zusammenspiel der Kategorien Alter(n), Geschlecht und ›Jüdisch-Sein‹ in der Amazon-Serie Hunters näher beleuchtet und untersucht werden, inwiefern sich die repräsentierten jüdischen Männlichkeiten in die oben beschriebenen hierarchischen Relationsgefüge einordnen bzw. wann, wie und unter welchen Umständen sie diese gegebenenfalls auch konterkarieren und unterlaufen.

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Unter dem von Kimberlé Crenshaw eingeführten Intersektionalitätsbegriff wird das Ineinandergreifen und Zusammenwirken gesellschaftlich konstruierter Strukturkategorien verstanden.

»Revenge is the best revenge«

3.

»Jew bitch« – Hate Speech und marginalisierte jüdische Männlichkeit

Den Zuschauer*innen wird Jonah Heidelbaum zum ersten Mal in der Pilotfolge der Serie präsentiert, als dieser mit seinen beiden Freunden Cheeks (Harry Hunter Hall) und Bootyhole (Caleb Emery) das Kings Theater-Kino in Brooklyn verlässt, in dem sie gerade gemeinsam den Film Star Wars (dt. Krieg der Sterne, US 1977) gesehen haben. Auf ihrem Weg hinaus spekulieren die drei Jugendlichen mit Hilfe diverser populärkultureller Verweise über die (ethnische) Identität von Darth Vader und diskutieren darüber, ob es sich bei dieser Figur tatsächlich um einen bösartigen Schurken oder vielmehr um einen missverstandenen Vigilanten à la Batman und Co. handelt. Im Verlauf des Gesprächs argumentiert Jonah, dass Darth Vader sicherlich nicht als Bösewicht zur Welt gekommen sei: »For all we know, he was born Chad Rubenstein, asthmatic, premature ejaculator, looser« (Hunters 1.1, US 2020). Mit Hilfe dieser einführenden Dialogszene werden Jonah und seine Freunde bereits zu Beginn der Serie als Comic-begeisterte Nerds und damit als stereotype Außenseiter markiert.16 Darüber hinaus werden geschlechtlich codierte Vorstellungsbilder ›des Jüdischen‹ (re-)produziert, die jüdische Männlichkeit mit Intelligenz aber auch zugleich mit körperlicher bzw. sexueller Unzulänglichkeit und Devianz in Verbindung bringen. In der darauffolgenden Szene wird diese diskriminierende Assoziationskette fortgeführt und noch weiter auf die Spitze getrieben. Mit dem Ziel Marihuana zu verkaufen, treffen sich die drei Jugendlichen in einem dunklen Hinterhof mit Dennis (Gordon Winarick) und dessen Freundin Carol (Ebony Obsidian), in die Jonah heimlich verliebt ist. Während der Außenseiter-Status von Jonah, Cheeks und Bootyhole auf der visuellen Ebene dadurch unterstrichen wird, dass die drei Freunde zunächst hinter einem Zaun stehenbleiben, um von dort in den Hinterhof zu blicken, bevor sie ihn betreten, sorgt der Gebrauch von Hate Speech auf der sprachlichen Ebene für eine zusätzliche Ausgrenzung und Herabsetzung der drei Jugendlichen. So werden die drei nicht nur von dem als WASP17 codierten Teenager Dennis despektierlich als »fuck heads« und »nerds« bezeichnet, sondern Bootyhole wird aufgrund seines korpulenten Körperbaus auch als »fat shit« beschimpft. Als sich Jonah und Dennis im Hinterhof wie zwei Kontrahenten in einem Duell gegenüberstehen, fragt Letzterer den Protagonisten zudem abfällig, ob es für ihn das erste Mal sei: »First time, Heidel bitch?«. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung beschimpft Dennis Jonah außerdem als »Jew bitch« und »kike«18 und bezeichnet dessen Penis als »tiny kosher wiener«. Durch den Gebrauch sexueller Metaphorik wird in dieser Szene ein oppositionelles Machtgefälle zwischen Jonahs vermeintlich devianter, mit Weiblichkeit assoziierter jüdischer Männlichkeit und dem von Dennis verkörperten hegemonialen Ideal potenter, heterosexueller, weißer, christlich-abendländischer Männlichkeit konstruiert. Die Darstellung hegemonialer Differenzverhältnisse und Hierarchiestrukturen findet auch hier ihre Entsprechung auf der visuellen Ebene, wenn die Unterhaltung zwischen Jonah und

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Zum Stereotyp des Comic-Nerds als Außenseiter vgl. u.a. Woo (2011). Die Abkürzung WASP steht für white, anglo-saxon, protestant male (vgl. Sina 2016: 203). Bei dem Wort kike handelt es sich um eine beleidigende Bezeichnung für eine jüdische Person, das vom jiddischen kaykl (Kreis) abgeleitet ist.

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Abb. 1: Visualisiertes Machtgefälle in »Hunters«

(Hunters 1.1, US 2020)

Dennis mit Hilfe eines klassischen Schuss-Gegenschuss-Verfahrens in Szene gesetzt wird: Die Kamera zeigt die beiden Dialogpartner mit Over-the-Shoulder-Shots, wobei die Blickachse diagonal verläuft, sodass Jonah aufblickt, während Dennis auf seinen Gesprächspartner herunter schaut (Abb. 1). Da Dennis nicht bereit ist, den vollen von Jonah genannten Preis für das Marihuana zu zahlen,19 kommt es schließlich zu Handgreiflichkeiten zwischen den beiden Jugendlichen. Dennis, der seinem Kontrahenten aufgrund seiner muskulösen Statur und Körpergröße überlegen scheint, schubst Jonah zur Seite und schlägt ihm mehrmals mit der Faust ins Gesicht, woraufhin dieser wehrlos zu Boden geht. In der beschriebenen Szene wird die jüdische Figur des Jonah also nicht nur zum Opfer körperlicher Gewalt degradiert, sondern auch zum Zielobjekt diffamierender, antisemitischer und damit verletzender Rede. Laut Judith Butler ist »die sprachliche Verletzung […] nicht nur ein Effekt der Wörter, mit denen jemand angesprochen wird, sondern ist der Modus der Anrede selbst, ein Modus – eine Disposition oder eine konventionelle Handlung –, der das Subjekt anruft und konstituiert« (2006: 10). Indem Sprache das Subjekt konstituiert, birgt sie ebenfalls die Macht in sich, dieses zu verletzen und es – wie es bei Butler heißt – auf seinen bzw. ihren Platz zu verweisen, »der aber möglicherweise gar keiner ist« (2006: 13), da er außerhalb der hegemonialen heteronormativen Ordnung angesiedelt ist. In der verletzenden Rede wird die normierende Kraft der heterosexuellen Matrix deutlich, die sich wiederum in hierarchisierenden Relationsgefügen hegemonialer Männlichkeit manifestiert, denn durch »den Namen, den man erhält, wird man nicht einfach nur festgelegt. Insofern dieser Name verletzend 19

Neben den hier aufgeführten Beleidigungen wird in dieser Szene auch das diffamierende antisemitische Klischee des ›geldgierigen Juden‹ abgerufen.

»Revenge is the best revenge«

ist, wird man zugleich herabgesetzt und erniedrigt« (Butler 2006: 10). In diesem Zusammenhang muss die Darstellung physischer sowie verbaler Gewaltakte in der oben beschriebenen Hinterhof-Szene als Form der Ausgrenzung und Verwerfung verstanden werden: Aufgrund seiner jüdischen Identität und vermeintlichen Schwäche ist Jonah nicht in der Lage, das dominante hegemoniale Männlichkeitsbild zu erfüllen. Diese Unzulänglichkeit wird als verweiblicht und deviant markiert, gewaltvoll bestraft und Jonah so zum hilflosen jüdischen Opfer stilisiert.

4.

»Old Jew« – Alter(n) und jüdische Wehrhaftigkeit

Seinen ersten Auftritt hat Meyer Offerman ebenfalls in der Pilotfolge der Serie und zwar während der Beerdigung von Ruth Heidelbaum. Vor dem Haus, in dem die Trauerfeier stattfindet, spricht Meyer den frustrierten und von seiner Begegnung mit Dennis sichtlich lädierten Jonah auf Jiddisch an, reicht ihm zur Begrüßung die Hand und setzt sich auf der Veranda in einen Stuhl (und damit erhöht) neben ihn. Dabei fällt Jonah die Auschwitz-Häftlingsnummer auf, die Meyer auf den Unterarm tätowiert wurde (Abb. 2). Die beiden Protagonisten kommen ins Gespräch und als Jonah von der Ermordung seiner Großmutter berichtet, befragt Meyer ihn neugierig, ob ihm an dem Abend ihres Todes irgendwas oder irgendwer aufgefallen sei. Als Jonah ob der Befragung skeptisch wird und seinerseits nachhakt, warum er sich für die Hintergründe der Tat interessiere bzw. warum er so viel über den Tathergang wisse, kontert Meyer mit dem Hinweis, dass er auf seine alten Tage vermutlich zu viele Krimiserien geschaut habe: »I suppose I watched too many Kojak in my old age, a potato of the couch« (Hunters 1.1, US 2020). In dieser kurzen Szene wird Meyer nicht nur durch sein Auschwitz-Tattoo und seinen hörbaren jiddischen Akzent als jüdische Figur und Holocaust-Überlebender eingeführt, sondern auch als vermeintlich stereotyper passiver alter Mann, der seine Tage vornehmlich fernsehschauend auf dem Sofa sitzend verbringt. Als Meyer Jonah seine Visitenkarte mit den Worten zusteckt »if you need anything, money, assistance, you come to me« (Hunters 1.1, US 2020) und zum Abschied die Torah zitiert, wird er – nicht minder klischeehaft – ebenfalls als wohlhabend, besonnen und weise charakterisiert. Im Rahmen ihrer zweiten Begegnung wird das Klischee des reichen (alten) Juden sogar noch verstärkt. Jonah, der von der Polizei wegen Drogenbesitz verhaftet wurde, besucht Meyer auf dessen luxuriösem Anwesen, nachdem dieser seine Kaution gestellt hat, und begrüßt den Hausherren mit den Worten: »You didn’t tell me you were Bruce Wayne rich« (Hunters 1.1, US 2020). Der Vergleich mit der Comic-Figur Bruce Wayne, einem wohlhabenden Millionär, dient hier der Betonung von Meyers Reichtum und verweist dabei zugleich auf dessen gehobenen sozialen Status. Da es sich bei Bruce Wayne um das Alter Ego des Superhelden Batman handelt, lässt sich der Vergleich darüber hinaus auch als Hinweis auf Meyers ›geheime Identität‹ als Nazi-Jäger interpretieren. Als Jonah anbietet, die ausgelegte Kaution zu erstatten, erlässt Meyer ihm seine Schulden und fordert den Jugendlichen, den er als »Torah ignorant Punk« (Hunters 1.1, US 2020) bezeichnet, zu einer Partie Schach heraus. Im weiteren Verlauf der Szene wird immer wieder der Altersunterschied zwischen den beiden Protagonisten betont. So bezeichnet Meyer sich beispielsweise selbst als »old Jew« (Hunters 1.1, US 2020) und nachdem Jonah

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Abb. 2: Das Tattoo einer Auschwitz-Häftlingsnummer als visueller Marker von ›Jüdisch-Sein‹ in »Hunters«

(Hunters 1.1, US 2020)

ihn in nur zwei Zügen schachmatt gesetzt hat, kommentiert dieser seinen Sieg mit den Worten: »beating an old man’s ass at his own game« (Hunters 1.1, US 2020). Nur kurze Zeit nach der Schachpartie entdeckt Jonah, der über ein spezielles Talent zum Erkennen verborgener Codes und Muster verfügt, zufällig ein geheimes Hinterzimmer in Meyers Bibliothek, das als Operationsbasis für die Nazi-Jäger*innen fungiert. Dort findet er Hinweise, die darauf schließen lassen, dass Meyer die Identität von Ruths Mörder bekannt ist. Jonah, der sich hintergangen fühlt, fordert Meyer auf, ihm den Namen des Killers preiszugeben, dieser weigert sich jedoch, Jonah in die Sache hineinzuziehen, da er ihn für ein hilfloses Kind hält: »[…] you are a boy, you are a child, who could do nothing to stop the killing in his home, who did nothing to save his grandmother« (Hunters 1.1, US 2020). Die Darstellung der von Meyer beschriebenen Hilflosigkeit Jonahs kulminiert in einer Szene, die sich nur kurze Zeit später abspielt. Dank eines Fotos, das er Meyer zuvor entwenden konnte, gelingt es Jonah, den Mörder seiner Großmutter ausfindig zu machen. Bei dem Täter handelt es sich um den Alt-Nazi und ehemaligen SS-Offizier Heinz Richter (Kenneth Tigar), der mittlerweile als unbescholtener Bürger und vermeintlich harmloser alter Mann in New York lebt und dort einen Spielzeugladen betreibt. Mit einem Messer bewaffnet, sucht Jonah Richter in dessen Ladengeschäft auf. Richter, der während seiner Zeit als SS-Offizier in Auschwitz verantwortlich für die eingangs erwähnte grausame Menschenschach-Partie zeichnete, sitzt auf Kundschaft wartend in seinem Büro und liest eine Fernsehzeitung. Als die Ladentürglocke klingelt, setzt der mittlerweile ergraute Mann seine Lesebrille ab, richtet sich schwerfällig auf und humpelt in sein Geschäft, wo er eine Frau und zwei Kinder freundlich begrüßt. Jonah, der sichtlich nervös und angespannt im Laden verweilt, wird ebenfalls von Richter ange-

»Revenge is the best revenge«

sprochen und zwar mit der Frage »Can I help you son?« (Hunters 1.1, US 2020), die den Altersunterschied zwischen den beiden Kontrahenten dezidiert hervorhebt. Da Jonah nicht auf Richters Anrede reagiert, sondern den Ladenbesitzer schweigend und mit durchdringendem Blick fixiert, fragt dieser erneut und mit ängstlicher Stimme »Son?« (Hunters 1.1, US 2020), woraufhin der Protagonist ihn am Kragen packt und mit dem Messer bedroht. Die Dramaturgie der Szene ähnelt zunächst der typischen Inszenierung eines Raubüberfalls, in der ein schwächlicher alter Mann von einem jugendlichen Gewalttäter angegriffen wird. So beteuert Richter seine Unschuld, als Jonah ihn mit dem Messer attackiert, und fleht ihn an, ihn zu verschonen. Plötzlich wendet sich jedoch das Blatt und Richter setzt Jonah mit Hilfe eines Elektroschockers außer Gefecht. Geknebelt und an einen Stuhl gefesselt erwacht Jonah und findet sich erneut in der Rolle des passiven jüdischen Opfers wieder, die von Richter prompt wie folgt kommentiert wird: »Jews are always the best to play a game with. You know why? Because you know what it is to play for your life« (Hunters 1.1, US 2020). Als Richter von einer Kundin an der Ladentür abgelenkt wird, gelingt es Jonah zwar seine Fesseln zu lösen, doch der Fluchtversuch schlägt fehl und es kommt zu einem Kampf zwischen den beiden Antagonisten. Wenngleich der erhebliche Altersunterschied vermuten ließe, dass Jonah dem betagten und körperlich beeinträchtigen Alt-Nazi in einem Handgemenge überlegen sein müsste, so weist Richter jedoch in der direkten Auseinandersetzung mit dem Jugendlichen keine Zeichen von Schwäche auf und schafft es sogar erneut, ihn zu überwältigen und ihm das entwendete Messer an die Kehle zu halten. Bevor es Richter gelingt, ihn zu töten, taucht unverhofft Meyer im Spielzeugladen auf, ersticht den Alt-Nazi und rettet Jonah damit das Leben. In dieser Szene erfüllt Meyer somit nicht nur die Funktion des kompetenten, heldenhaften Retters, der Jonah aus einer misslichen Lage befreien muss. Indem er Richter tötet, schlüpft er zugleich in die Rolle eines wehrhaften Juden, der stellvertretend für »six million clients« (Hunters 1.1, US 2020) Rache für die von den Nazis begangenen Verbrechen nimmt.

5.

»The Hunters« – Stereotypisierung und Naturalisierung jüdischer Männlichkeit(en)

Um die Komplexität hegemonialer Relationsgefüge sowie die Aus- und Verhandlung wehrhafter jüdischer Männlichkeit in Hunters zu verdeutlichen, soll abschließend ein Blick auf das von Meyer zusammengestellte Nazi-Jäger*innen-Team geworfen werden. Die verschiedenen Mitglieder des Teams werden den Zuschauer*innen im Rahmen der zweiten Folge The Mourner’s Kaddish (Hunters 1.2, US 2020) genauer vorgestellt. Nach den Geschehnissen im Spielzeugladen beschließt Jonah, sich den Nazi-Jäger*innen anzuschließen. Aufgrund seiner Begabung, (geheime) Botschaften und Codes besonders schnell erfassen bzw. entschlüsseln zu können, und da er im Kampf gegen Richter bewiesen hat, dass er willens ist, in die Fußstapfen seiner Safta zu treten, nimmt Meyer Jonah als neues Gruppenmitglied auf und präsentiert ihn den sogenannten hunters, bestehend aus Sister Harriet (Kate Mulvany), Lonny Flash (Josh Radnor), Roxy Jones (Tiffany Boone), Joe Mizushima (Louis Ozawa Changchien) sowie dem Ehepaar Mindy und

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Murray Markowitz (Carol Kane und Saul Rubinek). Während die Gruppe sofort an die Arbeit geht, um die nächste ›Jagd‹ vorzubereiten, sorgt Jonahs Alter für heftige Diskussion. Sister Harriet und Mindy sind der Meinung, Jonah sei noch zu jung, um den Nazi-Jäger*innen beizutreten, und daher als Teammitglied ungeeignet. Beide bezeichnen ihn als »boy« oder »kid« (Hunters 1.2, US 2020) und auch Meyer verwendet den jiddischen Begriff »Kinderleh« (Hunters 1.2, US 2020), um Jonah zu adressieren. Die herablassende Art der Gruppenmitglieder löst bei Jonah eine wütende Reaktion aus. Verärgert stellt er sich Sister Harriet entgegen und erklärt, dass er kein Kind mehr sei, seine Bar Mizwa20 bereits vor sieben Jahren stattgefunden habe und er alt genug sei, um Alkohol zu trinken, zu rauchen und zum Militär zu gehen.21 Das Stichwort ›Bar Mizwa‹ und der durch diesen jüdisch-religiösen Brauch symbolisierte Übergang in die Volljährigkeit bzw. Mündigkeit wird prompt von Meyer aufgegriffen und wie folgt kommentiert: »You like Bar Mizwas? Welcome to ours« (Hunters 1.2, US 2020). Was folgt ist eine hypermediale Szene in der unter Rückgriff auf ein ganzes »Arsenal popkultureller Versatzstücke« (Gedlicka, 2020) die Teammitglieder innerhalb einer imaginierten Bat Mizwa-Feier Jonah und damit auch dem Publikum präsentiert werden: Während die kreisende Kamera von oben auf eine blau-weiß dekorierte Torte mit dem Schriftzug »The Hunters. Mazel Tov Ruchel!« (Hunters 1.2, US 2020) herabfährt, ist aus dem Off die Stimme eines jungen Mädchens, die von Ruchel (Ayla Schwartz), zu hören, die ihre Gäste begrüßt und die Nazi-Jäger*innen nach einander zu sich ruft, damit sie nach vorne auf die Bühne kommen und die Kerzen auf der Torte anzünden. Den Anfang macht Sister Harriett, katholische Nonne und ehemalige MI6-Agentin.22 Als nächstes wird der jüdische Schauspieler und Verwandlungskünstler Lonny Flash auf die Bühne zitiert, um Kerze Nummer zwei zu entzünden. Gefolgt wird Lonny von der schwarzen Bürgerrechtsaktivistin und Tatortreinigerin Roxy Jones. Kerze Nummer vier ist für den als »human weapon« (Hunters 1.2, US 2020) bezeichneten Soldaten und Vietnam-Veteranen Joe Mizushima reserviert, während die fünfte Kerze für die beiden Holocaust-Überlebenden und Waffenexpert*innen Mindy und Murray Markowitz vorgesehen ist. Als letztes wird schließlich Meyer Offerman nach vorne gerufen, den Ruchel als Millionär, »master plotter« und »chief vigilante« (Hunters 1.2, US 2020) beschreibt.

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Auf der Webseite des Zentralrats der Juden in Deutschland wird die Bar bzw. Bat Mizwa wie folgt erläutert: »Im Alter von 12 bzw. 13 Jahren werden jüdische Mädchen und Jungen im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes zu Erwachsenen. Die religiöse Volljährigkeit heißt bei Mädchen Bat Mizwa, ›Tochter des Gebots‹. Bar Mizwa bedeutet ›Sohn des Gebots‹. Als Bat Mizwa und Bar Mizwa übernehmen Mädchen und Jungen alle religiösen Rechte und Pflichten eines Mitglieds der jüdischen Gemeinschaft«. In der Diskussion mit Sister Harriet erwähnt Jonah zudem, dass er im Anschluss an seine Bar Mizwa-Feier erste heterosexuelle Erfahrungen gesammelt hat. Somit werden in dieser Szene Männlichkeit bzw. der Prozess der Mann-Werdung, sexuelle Potenz und Heterosexualität sowie Erwachsen-Sein und Jüdisch-Sein miteinander in Beziehung gesetzt. Wie sich später herausstellen wird, stammt auch Sister Harriet alias Rebekah Kreutzer (Anouk Xuereb) aus einer jüdischen Familie. Um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen, wird sie von ihren Eltern als junges Mädchen in die Obhut katholischer Nonnen gegeben und konvertiert gezwungener Weise zum Katholizismus.

»Revenge is the best revenge«

Abb. 3: Exploitation-Film-Ästhetik in »Hunters«

(Hunters 1.2, US 2020)

Die Präsentation der einzelnen Teammitglieder, die wiederum verschiedenen nonhegemonialen und marginalisierten Personengruppen angehören, erfolgt auf der visuellen Ebene mit Hilfe von kurzen Einspielern, die animierten Filmpostern gleichen und deren Ästhetik dem Exploitation-Film23 bzw. dem »Grindhouse-Kino-Modell eines Quentin Tarantino« (Gedlicka, 2020) entliehen ist (Abb. 3).24 Auch die musikalische Untermalung erweist sich als Hommage an Tarantinos postmodernes Zitatenkino. So kommt in der Bat Mizwa-Szene das Lied Hava Nagila des Musikers Dick Dale zum Einsatz. Entgegen des Titels und der durch ihn geweckten Erwartungshaltung ist hier jedoch nicht das bekannte hebräische Volkslied zu hören, das traditionell bei jüdischen Feiern gespielt wird und in der Populärkultur als stereotyper auditiver Marker von ›Jüdischkeit‹ fungiert. Vielmehr bekommen die Rezipierenden eine Melodie zu hören, die große Ähnlichkeit mit der aus Tarantinos Erfolgsfilm Pulp Fiction (US 1994) stammenden Instrumentalversion des Songs Misirlou aufweist, die ebenfalls von Dick Dale interpretiert wurde. Bei den zahlreichen Referenzen, Anspielungen und selbstreflexiven Momenten, wie etwa in der hier exemplarisch analysierten Bat Mizwa-Szene, handelt es sich um eine regelrechte Verkettung remedialisierter populärkultureller Artefakte, die den medial-diskursiven Charakter der Serie offen zur Schau stellt und zelebriert. So 23

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Unter Exploitation-Filme fallen Produktionen mit meist »reißerischen Inhalt[en]«, die »die Neugier und Sensationslust des Publikums [nutzen], um ihre i.d.R. gewalttätigen und blutigen Bilder zu verkaufen. Der Begriff Exploitation-Film wird heute fast ausschließlich in Bezug auf Gewaltfilme benutzt, da für Filme sexuellen Inhalts das Wortspiel Sexploitation zum stehenden Ausdruck geworden ist« (Bender, 2012).  Eine weitere Anleihe an das Werk Quentin Tarantinos lässt sich in der Farbgestaltung der offiziellen Werbeposter zur Serie ausmachen, die im »schönstem Kill Bill-Gelb-Rot« (Gedlicka, 2020) daherkommen.

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wird die ›Poster-Optik‹ der oben erwähnten Einspieler beispielsweise durch digital generierte Falt- und Gebrauchsspuren zusätzlich verstärkt,25 die sich auf dem Film- bzw. Fernsehbild sowie auf den offiziellen (digitalen) Werbepostern zur Serie ausmachen lassen und so auf den Aspekt des Gemacht-Seins, sprich auf den artifiziellen Status der Serie, ihrer Inhalte und remedialisierten Bilder verweisen (Abb. 4).

Abb. 4: Offizielles Werbeposter zur Serie »Hunters«

Überdies bestechen sowohl die verschiedenen Einspieler bzw. animierten Filmposter als auch die offiziellen Werbeposter durch ihre klischeehafte Überzeichnung und die Reduktion der einzelnen Teammitglieder auf stereotype Rollenmuster, auf

25

Der digital generierte Effekt von Falt- und Gebrauchsspuren simuliert nicht nur die materielle Ebene eines physischen Objekts (des Posters), sondern suggeriert auch eine Form der Zeitlichkeit und des Alterns (im Sinne einer Abnutzung).

»Revenge is the best revenge«

eindimensionale Abziehbilder ohne Referenz an eine wie auch immer geartete außermediale Wirklichkeit. So handelt es sich bei Roxy Jones beispielsweise um eine zähe Afro-Amerikanerin, die nach dem Vorbild von Foxy Brown (Pam Grier) in sexy Pose mit phallischer Waffe inszeniert wird (Abb. 3). Das Filmplakat des asiatisch-amerikanischen Vietnam-Veteranen und Kampfsportexperten Joe Mizushima ist wiederum von vermeintlich ›fernöstlicher‹ Symbolik durchzogen und kommt als ästhetisierter Stilmix mit Referenzen zum Martial-Arts- und Kriegsfilm-Genre daher. Und auch wenn die Teammitglieder im Rahmen der PR-Kampagne zur Serie ihre eigenen Werbeposter erhalten, so wird auch hier die Eindimensionalität der Charaktere hervorgehoben. Dies geschieht etwa durch die Abbildung eines kurzen Slogans, der die auf den Plakaten zu sehenden Porträtfotos der Akteur*innen begleitet und ihre jeweilige Funktion benennt: Mindy und Murray Markowitz sind »The Weapon Experts«, Sister Harriet ist »The Spy«, Lonny Flash »The Master of Disguise«, Roxy Jones »The Fixer«, Joe Mizushima »The Soldier« und Meyer Offerman wird als »The Mastermind« ausgewiesen (Abb. 5).26 Interessanterweise handelt es sich bei Jonah um das einzige Teammitglied, das über kein eigenes Filmplakat verfügt.27 Dies scheint umso verwunderlicher, da das offizielle Werbeposter, auf dem alle Akteur*innen abgebildet sind, Jonah und Meyer durch ihre überproportional große und prominente Darstellungsweise eindeutig als Protagonisten der Serie identifiziert (Abb. 4). Durch das fehlende Poster fällt Jonah als Teammitglied aus der Reihe und sticht dabei (paradoxerweise) zugleich als Serienfigur hervor. Insgesamt wirkt Jonahs Figurenzeichnung im Vergleich zu der seiner Mitstreiter*innen ›runder‹ und komplexer, wobei auch seine Charakterisierung von geschlechtlich codierten und rassifizierten Stereotypen durchzogen ist, wie im Rahmen des vorliegenden Beitrags aufgezeigt wurde. Im Gegensatz zu den anderen Teammitgliedern wird Jonah im Verlauf der Serie jedoch als ›ganz normaler‹ Jugendlicher inszeniert, der im Rahmen (s)einer Coming-of-Age-Geschichte verantwortungsvolles, mutiges Handeln lernen muss, um seinen Platz als (anerkanntes) erwachsenes Mitglied in der patriarchalen Gesellschaft einnehmen zu können. Diese Form der ›Normalisierung‹ kann als Authentifizierung und Naturalisierung der Jonah-Figur bzw. der von ihr verkörperten jüdischen Männlichkeit verstanden werden, die wiederum in Relation zu anderen Männlichkeiten sowie in Abgrenzung zu Weiblichkeit ausgehandelt und definiert wird. So muss Jonah im Verlauf der Serie nonkonforme Aspekte seiner als schwach, unreif, kindlich und verweiblicht konnotierten jüdischen Männlichkeit ablegen, um dem von Meyer verkörperten ›Ideal‹ wehrhafter (jüdischer) Männlichkeit zu entsprechen. In der zehnten und letzten Episode der Mini-Serie ist es dementsprechend auch Jonah, der Meyer auf die Schliche kommt und sein dunkles Geheimnis offenbart: Wie sich herausstellt ist der ›echte‹ Meyer Offerman 1945 kurz nach der Befreiung von Auschwitz von dem Nazi-Chirurgen Wilhelm

26 27

Die Verwendung des bestimmten Artikels the kann in diesem Zusammenhang als weiterer Aspekt der Stereotypisierung, Verallgemeinerung und Objektifizierung verstanden werden. Neben den Einzelpostern zu den verschiedenen Nazi-Jäger*innen gibt es auch ein Werbeplakat zur Figur der afro-amerikanischen FBI-Agentin Millie Morris (Jerrika Hinton), die zunächst gegen das Team ermittelt, es später aber unterstützt.

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Abb. 5: Meyer Offerman alias »The Mastermind«

Zuchs (Christian Oliver) alias ›der Wolf‹ ermordet worden. Dieser hat Meyers jüdische Identität angenommen, um den Alliierten zu entkommen und seiner Verurteilung als Kriegsverbrecher zu entgehen. Als Jonah von diesem Identitätsschwindel erfährt, tötet er Meyer – respektive Wilhelm Zuchs – und nimmt damit nicht nur dessen Platz als Anführer der Nazi-Jäger*innen ein, sondern beweist damit schließlich auch seine wehrhafte jüdische Männlichkeit.

6.

Schlussbemerkungen

Wie sowohl der gegenüberstellende Vergleich von Jonah Heidelbaum und Meyer Offerman als auch die differenzierte Analyse ausgewählter Szenen verdeutlicht haben, wird über die Kategorien Alter(n), Klasse und Wissen innerhalb der marginalisierten Gruppe jüdischer Männlichkeit, der beide Protagonisten angehören, bereits zu Beginn

»Revenge is the best revenge«

der Serie ein hierarchisches Relationsgefüge etabliert, in dem der junge, naive, unreife, finanziell abhängige, bei seiner Großmutter lebende, nicht Torah-kundige Jonah dem älteren, gelehrten, weisen, erfahrenen und wohlhabenden Meyer untergeordnet wird. Entgegen geschlechtlich codierter stereotyper Konventionen und gängiger Inszenierungsstrategien wird Jugendlichkeit bzw. jüngere Männlichkeit in Hunters also nicht automatisch mit Potenz, Erfolg, Unabhängigkeit, Aktivität, Muskelkraft und Effizienz gleichgesetzt. Indem der jugendliche Jonah zwar als besonders intelligent und scharfsinnig, gleichzeitig aber auch als zögerlich, (körperlich) unzulänglich, schwach und passiv charakterisiert wird, erfüllt er das antisemitische Vorstellungsbild devianter untergeordneter jüdischer Männlichkeit, das innerhalb der Serie normalisiert und als ›natürlich‹ konzipiert wird. Umgekehrt präsentiert Hunters mit der von Al Pacino verkörperten Figur des Holocaust-Überlebenden Meyer Offerman ein Vorstellungsbild alternder (jüdischer) Männlichkeit, das weder von körperlichen Defiziten noch von Inkompetenz oder Passivität geprägt ist. Vielmehr nimmt Meyer eine privilegierte Position ein, die im Verlauf der Serie immer wieder bekräftigt wird. Anders ausgedrückt repräsentiert Meyer Offerman all das, was die Figur des non-hegemonialen Jonah nicht ist und auch dauerhaft nicht sein darf. Innerhalb der Logik einer auf Oppositionen, Machtstrukturen, Ausgrenzung und Verwerfung basierenden männlichen Geschlechterhierarchie muss Jonah daher in der finalen Folge der Serie non-konforme Aspekte seiner devianten Männlichkeit ablegen und so nicht nur erwachsen, sondern auch zu einem wehrhaften jüdischen Mann werden.

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Abbildungen • • • • •

Abb. 1: Visualisiertes Machtgefälle in Hunters (Hunters 1.1, US 2020). Abb. 2: Das Tattoo einer Auschwitz-Häftlingsnummer als visueller Marker von ›Jüdisch-Sein‹ in Hunters (Hunters 1.1, US 2020). Abb. 3: Exploitation-Film-Ästhetik in Hunters (Hunters 1.2, US 2020). Abb 4: Offizielles Werbeposter zur Serie Hunters. (10.03.2021, https://s-cdn.serienju nkies.de/the-hunt/poster/hunters-2020-serienposter-1.webp). Abb. 5: Meyer Offerman alias »The Mastermind«. (10.03.2021, https://s-cdn.serienj unkies.de/the-hunt/poster/hunters-season1-poster7.webp).

»Face to face«: Die Fernsehserie Der Alte zwischen Kriminalgenre und Melodrama Thomas Küpper

Die 1977 gestartete Serie Der Alte wird im deutschsprachigen Fernsehen des ORF, SRF und ZDF zur Hauptsendezeit erstausgestrahlt und läuft darüber hinaus »in über hundert Ländern der Welt« (Brück u.a. 2003: 183). Um diesen Erfolg zu erklären, wird man nicht zuletzt die Faszination am Alter berücksichtigen müssen, das durch den Titel der Serie in den Blickpunkt gerät – und zwar auch bei vielen Fassungen in anderen Sprachen: In Dänemark beispielsweise heißt die Serie Den gamle, in Finnland Vanha kettu, in Litauen Senis, in den Niederlanden Onze ouwe, in Rumänien Bătrânul, in Schweden Den gamle deckarräven, in der Slowakei Starý, in Spanien El viejo, in Ungarn Az Öreg, in Venezuela Veterano en homicidios und im Vereinigten Königreich The Old Fox. Wodurch also zeichnet sich das Alter in der Serie aus? Schwierig dürfte es sein, diese Frage allgemein, zeit- und kontextübergreifend zu beantworten – sind doch nicht nur die Umfelder verschieden, in denen Der Alte beliebt ist; auch ändern sich nach und nach Strukturen der Serie: Selbst die Stammfiguren und die sie Darstellenden, der Vorspann sowie die Titelmusik wechseln im Laufe der Zeit. Zudem bleiben die Verhaltensweisen der Hauptfigur nicht gleich: In den frühen Folgen, insbesondere in Der Alte schlägt zweimal zu (1.3, D 1977), wendet »der Alte«, das ist Kommissar Erwin Köster (Siegfried Lowitz), illegale Mittel an, um Verbrecher zu überführen; dieses Vorgehen aber brüskiert die damaligen Erwartungen an die Serie – große Teile des Publikums reagieren darauf so irritiert und unmutig, dass der Kommissar sich in späteren Folgen strikter an das gesetzlich Erlaubte hält (Brück u.a. 2003: 181f.; Weber 1992: 101; Zwaenepoel 2004: 162). Der vorliegende Beitrag zeichnet solche Veränderungen nicht im Einzelnen nach, sondern konzentriert sich auf einen ausgewählten Kontext, nämlich auf die Etablierung der Serie im deutschsprachigen Fernsehen um 1980. Bereits in der damaligen Forschungsdiskussion wird der Erfolg von Der Alte und den bereits zuvor gestarteten Fernsehserien Der Kommissar und Derrick damit in Verbindung gebracht, dass die jeweiligen Hauptfiguren, polizeiliche Ermittler, väterliche Züge haben – einschlägig ist dazu Oliver Storz’ Beitrag Der Kommissar – ein deutscher

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Traum von 1978, den Knut Hickethier 1985 in Die umkämpfte Normalität – Kriminalkommissare in deutschen Fernsehserien und ihre Darsteller aufgreift. Im Folgenden soll die These von der Vaterfigur zunächst genauer erläutert werden. Es gilt zu zeigen, dass das Bild des Vaters unter anderem die Facetten des Zuhörenden und des Strafenden hat: Als Zuhörender kann der alte, lebenserfahrene Kommissar nachvollziehen, wie jemand zu Verbrechen verleitet worden ist, und – im einen Fall mehr, im anderen Fall weniger – Verständnis aufbringen; als Strafender oder auf eine Strafe Hinwirkender übergibt er die kriminell Gewordenen dem Rechtsapparat. Diese beiden Facetten der Kommissarbzw. Vaterfigur wiederum lassen sich – und darauf liegt im Weiteren der Akzent – mit der Positionierung der Serie Der Alte zwischen Kriminalgenre und Melodrama in Zusammenhang sehen. In erster Linie gilt Der Alte als Krimiserie – was einleuchtet, wird doch sowohl Rätselspannung bei detektivischer Tätigkeit als auch Zukunftsspannung in Bedrohungssituationen geboten. So üblich und selbstverständlich das Zuordnen der Serie zu diesem Genre sein mag, nimmt sie aber auch Anleihen beim Melodrama: In einigen Folgen zumindest sind diese Anleihen greifbar; als Beispiel wird die Folge Der Überfall (1.60, D 1982) zu untersuchen sein. Gerade das Oszillieren der Serie zwischen Kriminalgenre und Melodrama wird durch das beschriebene Janusgesicht der Vaterfigur begünstigt: Als Zuhörer eignet Köster – so handlungsmächtig er in seinen Gesprächen bleiben mag und wie zielgerichtet und raffiniert gestellt seine Fragen auch immer seien – ein Moment der Passivität. Er überlässt anderen gleichsam die Bühne dazu, innere Konflikte und psychische Probleme zum Ausdruck zu bringen. Indem Köster jedoch zugleich die Instanz der Strafe vertritt, konfrontiert er die Gefühle mit der Wirklichkeit des Gesetzes. Damit erhalten auf der einen Seite melodramatische Elemente in der Serie Raum, auf der anderen Seite aber werden sie wiederum relativiert und mit der Logik des Kriminalgenres vermittelt.

1.

Der Kommissar als Vaterfigur

Nach Storz ist an der Bevorzugung eines bestimmten »Kommissartypus« in Fernsehserien wie Der Kommissar, Derrick und Der Alte1 zu erkennen, »was sich die Nation offensichtlich […] tief wünscht: den Vater«; gerade weil dieser »ihr in der Realität längst abhanden« gekommen sei »im undurchschaubaren Geschiebe der Funktionäre und Apparate«, versuche die Nation noch »im Traum«, sich ihn zu erhalten (Storz 1978: 293). Die Vaterfigur des Kommissars sei zugleich die eines Erlösers, denn jeder »gelöste Fall« stelle für die Zuschauenden »eine winzige Teil-Erlösung einer in Unordnung geratenen Welt« dar (Storz 1978: 288). Entsprechend liege die »winzige Heilsbotschaft«, die dem Publikum von Kriminalserien gegeben werde, in der impliziten Versicherung: »Entwirrung findet statt, Klarheit über Schuld und Unschuld ist zu erlangen« (Storz 1978: 286).

1

Als Storz seinen Beitrag verfasst, beobachtet er noch die erwähnte Irritation des Publikums, die von den ersten Folgen der Serie Der Alte ausgelöst wird, in denen der Kommissar sich nicht als »märchenhaft integer« erweist. Zu Recht vermutet Storz, dass der Ermittler in späteren Folgen der Serie einwandfrei korrekt handeln wird – nämlich angelehnt an ein Rollenschema, das durch die Serien Der Kommissar und Derrick bereits etabliert ist (1978: 289).

»Face to face«

Der korrespondierende »Wunsch nach Trost, Hoffnung, Ordnung, ›Erlösung‹« sei – dies erscheint Storz naheliegend – »personbezogen, nicht sachbezogen«, deshalb brauche der Fernsehkrimi den »beherrschenden, stets gegenwärtigen Mittelpunktkommissar«, auch wenn dieser unrealistisch sei: Allein »die Überfigur des Kommissars« könne »jene Botschaften vermitteln, nach denen wir dürsten. Er, der einzelne, der einzige, der kleine säkulare Gottvater«, stelle die Ordnung wieder her; vonnöten sei immer der »Einsatz der vollen, der obersten Autorität« (Storz 1978: 291f.). An diese Überlegungen anknüpfend, erklärt Hickethier (1985: 194), dass die Titelfiguren der Serien Der Kommissar, Derrick und Der Alte »ein sehr ähnliches Rollenschema« erfüllen, »das Amtsgewalt« nicht zuletzt »mit patriarchalischer Haltung […] verbindet«. Er weist darauf hin, dass mit »der Bestimmung des Kommissars als patriarchalischem Chef […] für die Besetzung ein Schauspieler eines bestimmten Altersspektrums erforderlich« ist, damit ihm »Abgeklärtheit und Lebenserfahrung […] abgenommen werden« (Hickethier 1985: 195) können. Die von Storz und Hickethier vertretenen Ansätze lassen sich in mindestens drei Richtungen weiterdenken. Erstens eröffnen beide eine Perspektive auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem die Figur des väterlichen Kommissars beliebt ist. Diese Perspektive auslotend, kann diskutiert werden, welche realen Umstände das Interesse am fiktiven »Alten« aufkommen lassen. Thomas Weber (1992: 100f.; Küpper 2010: 48-51) etwa bezieht sich auf Alexander Mitscherlichs Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, um dieses Interesse zu begründen. Mitscherlich (1996 [1963]: 249) stellt fest, dass ein neuer »Abschnitt der Geschichte« begonnen habe, der »das Ende der Vorherrschaft paternitärer Herrschaftsgebilde« einleite, dass sich mithin »eine Epoche der vaterlosen Gesellschaft« abzeichne, also »einer Gesellschaft, die der Vormundschaft entwachsen« sei. Geht man von dieser Beobachtung aus, so kann gerade der reale Schwund väterlicher Macht als Bedingung dafür ausgemacht werden, dass fiktive Väter-Kommissare beim Fernsehpublikum Erfolg haben. Mit solchen Figuren weichen die genannten Fernsehserien von der Alltagswirklichkeit ab und zeigen eine tatsächlich im Rückzug begriffene, schwächer bzw. seltener gewordene Form von Autorität. Zweitens ist es im Anschluss an Storz und Hickethier möglich, den Blick darauf zu richten, wie die Fernsehserien ihrerseits den gesellschaftlichen Wandel thematisieren, der jenen Autoritätsverlust des Alters mit sich bringt. Hickethier bemerkt, dass »der Kommissar« (Erik Ode) in der gleichnamigen Serie sich »immer wieder mit jugendlichen Tätern« auseinandersetzt, zum Beispiel »mit einem Studenten als Rauschgifthändler und Mörder« konfrontiert ist. Damit ist dieser Kommissar für ein breites Publikum »in einer Zeit der Verunsicherung durch Studentenproteste und Jugendrevolten eine Identifikationsfigur« und wird in seiner Väterlichkeit »zu einer Art ›Über-Ich‹« (Hickethier 1985: 194). Neben der rebellisch gewordenen Jugend werden in der Serie Der Alte auch die neuen technischen Apparate thematisiert, die das väterliche Wissen ergänzen oder gar zu ersetzen drohen. In der ausgewählten Folge Der Überfall spricht Köster mit seinem Assistenten Gerd Heymann (Michael Ande) ironisch über den Computer als »unser[en] große[n] elektronische[n] Bruder«, der bei den Ermittlungen nützlich ist (1.60, D 1982). Durch die Ironie wird der Stellenwert des Computers relativiert und für das menschliche Denken und Kombinieren des »Alten« ein eigenes Recht beansprucht.

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Drittens kann das Profil des inszenierten Alters nicht nur im Kontext realer gesellschaftlicher Veränderungen, sondern auch im Zusammenhang der Konkurrenz von Unterhaltungsangeboten des Fernsehens, gerade im Bereich fiktionaler Genres, betrachtet werden: Wie zeichnet sich das Alter in diesem Zusammenhang ästhetisch aus und welche Abgrenzungen zu vergleichbaren Sendungen werden dadurch vorgenommen? Hickethier vollzieht nach, wie Der Kommissar, Derrick und Der Alte als Entgegensetzungen zu amerikanischen Krimiserien aufgekommen sind: Bereits die erste der genannten deutschen Serien, Der Kommissar, orientiert sich weniger an amerikanischen Vorbildern denn an der BBC-Produktion Kommissar Maigret (englische Erstausstrahlung 1960-1963), von der das ZDF Folgen aufkaufte und von 1965 an sendete. »Rupert Davies spielte hier den Kommissar, der durch seine kleinbürgerliche Erscheinungsweise und durch Ruhe in der Darstellung sich deutlich vom Aktionismus der amerikanischen Serienhelden abhob.« (Hickethier 1985: 193) Diese »Ruhe in der Darstellung« ist ein Prinzip, das auch für die betreffenden deutschen Serien programmatisch wird. Durch seine Ruhe unterscheidet sich der Kommissar von den Kriminellen: [D]ie achsiale Konstruktion zwischen Kommissar und Verbrecher wird in einer Vielzahl von Fällen so eingelöst, daß vor allem auf der Seite des Verbrechens sich immer wieder und unerwartet etwas ereignet, etwas vorbereitet wird, etwas dazwischenkommt, während auf der Seite des Kommissars höchst wenig geschieht. Der Kommissar beobachtet, denkt nach, schlußfolgert, wartet ab und schnappt im richtigen Moment den Richtigen. Gegen die Betriebsamkeit des Kriminellen steht die Ruhe des Kommissars, steht die Arbeit des Kommissars, die vor allem hinter dem freundlich-verschlossenen Gesicht stattfindet. (Hickethier 1985: 199) Ein Beispiel dafür ist die Folge Der Zigeuner (1.52, D 1981) von Der Alte (vgl. zu dem Titel Margalit 2002: 251). Eine Bande junger Männer nimmt unüberlegt und planlos einen Polizisten als Geisel. Kommissar Köster lässt sich gegen den Gefangenen austauschen und bewahrt die Ruhe auch im Lager der Verbrecher, während diese nervös und hektisch wirken. Bedächtig und unaufgeregt spricht er zu ihnen: »Sagt mal, ihr habt doch nicht alle Tassen im Schrank. Was soll denn das Ganze?« (1.52, D 1981) Als dann einer der jungen Männer mit zitternden Händen eine Pistole auf ihn richtet, bemerkt der Kommissar, noch immer unbewegt bleibend: »Wenn Sie mich erschießen wollen, […] müssen Sie die Waffe erst entsichern.« (1.52, D 1981) Mit seiner statuarischen Ruhe glänzt der Kommissar im Kontrast zur unstet erscheinenden Jugend. In solchen Folgen dienen Großaufnahmen von Kösters Gesicht dazu, »auf seine Denkarbeit hinzuweisen. Den mürrischen Blick, das Grübeln und den dahin gesagten Spruch hat der Zuschauer mit der zuvor gezeigten Aktivität der Gegenseite in Verbindung zu bringen« (Hickethier 1985: 200). Weiter führt Hickethier dazu aus: Wenn Köster blickt, dann ist sein Blick starr, das heißt in der Konvention des narrativen Films, er denkt nach. Die Täter dagegen schauen unruhig hin und her, zeigen damit, daß sie etwas zu verbergen haben, oder sie senken den Blick, was Schuldbewußtsein ausdrückt. Starre ist Ruhe, ist Ordnung in den Dingen, ist die Macht des Ordentlichen über sie. (1985: 200)

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Der statische Gesichtsausdruck des »Alten« demonstriert demnach, dass das von ihm vertretene Gesetz beständig ist und durch die Verbrecher nicht umgebogen werden kann.

Abb. 1: »Der Überfall« (D 1982), Vorspann

Diese Macht des Gesichtsausdrucks entfaltet sich auch im Vorspann mit Kommissar Köster: Zunächst ist ein dunkler, nächtlich-nebliger Bildhintergrund zu sehen, der einem Aquarell oder einer gemalten Theaterkulisse ähnelt, sodass zum einen das Schattige, Sinistre und Undurchschaubare als Topos des Verbrechens, der Gefahr aufgerufen wird und zum anderen das Fiktive und Bühnenhafte der gezeigten Welt markiert ist. Von der Seite der vierten, zum Publikum offenen Wand dieses Bühnenraums her wird dann ein Pistolenschuss hin zur Rückwand abgefeuert, mit dem eine aufgepeitschte, unruhige, synkopierte und spannungsgeladene Musik einsetzt. Anschließend wird nach Art von Chronofotografie eine Bewegung des Kommissars in fünf stehenbleibenden Einzelaufnahmen dargestellt: Köster, anfangs zur Rückwand hinsehend, dreht sich nach und nach dem Publikum zu, bis er es direkt anschaut. Mit dem konfrontierenden Blick beansprucht er Autorität, die noch dadurch verstärkt wird, dass er als Figur das Gesamtbild immer mehr ausfüllt (Abb. 1). Auf diese Weise veranschaulicht der Vorspann eine Struktur der Serie: Der Pistolenschuss bzw. Mord, der – wie Peter Nusser über Detektivromane allgemein sagt – »auslösende Funktion« hat und »Anlass für die Tätigkeit der Detektion« (2009: 24) ist, ruft den Kommissar auf den Plan. Dieser Ermittler wiederum tappt zunächst in jedem Sinne des Wortes im Dunkeln, wendet sich aber allmählich der richtigen Person zu und stellt sie; das anfänglich düstere Bild hellt sich zum Schluss auf, als die Aufnahmen vom Kommissar den dunklen Hintergrund überdecken – der Fall ist buchstäblich aufgeklärt. Die kriminelle Waffengewalt wird letztlich durch die Macht des väterlichen Gesichts überboten. Die chronofotografische Mehr-

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fachpräsenz des Kommissars kommt selbst gleichsam schussweise zustande: Ein Foto nach dem anderen wird dem Pistolenschuss entgegengestellt, sodass der Kommissar das Gesamtbild immer mehr dominiert. Wie sehr Fotografien Schüssen ähneln können, wird nicht nur an Ausdrücken wie ›ein Foto schießen‹ oder ›Fotoshooting‹ deutlich, sondern auch an der Geschichte der Chronofotografie, zu der Jules Janssens fotografischer ›Revolver‹ gehört – eine Erfindung, die dann von Étienne-Jules Marey aufgegriffen wurde (Maffei/Fiorentini 1997: 216). Janssens ›Revolver‹, mit dem eine Reihe von kurzzeitig aufeinanderfolgenden fotografischen ›Schüssen‹ erzielt werden konnte, war inspiriert von Samuel Colts Revolverpistole (Chanan 1996: 57). Das Schussähnliche und nicht zuletzt auch die Starrheit der Fotografien verdeutlichen die Macht des Kommissars. Köster trägt in dem Vorspann einen Trenchcoat – ein Attribut von Detektiven, das etwa durch Humphrey Bogarts Verkörperung des Philip Marlowe in The Big Sleep (dt. Tote schlafen fest, US 1946) einschlägig geworden ist (Nichols 2011: 52). Kombiniert wird dieses Element mit weiteren Merkmalen, die zum Erscheinungsbild eines ordentlichen Polizeibeamten passen: Köster ist rasiert, gekämmt und mit Hemd und Krawatte korrekt angezogen. Sein Gesicht zeigt Falten, wie es den gängigen Erwartungen an eine Figur entspricht, die »der Alte« genannt wird. Auch seine Brille fügt sich in dieses Bild: Sie dient nicht nur als Stellvertreterin der Lupe, des geradezu klassischen DetektivAttributs. Überdies kann das Publikum auch vermuten, dass Köster sich mit der Brille nicht wie ein Action-Held in Handgemenge verwickelt, sondern eher durch seine intellektuellen Fähigkeiten die Fälle löst, was üblicherweise als altersgemäß gilt. Das Denken und Kombinieren, in dem Köster sich als den Verbrechern überlegen erweist, wird auch durch das Schachspiel symbolisiert, das in der Serie wie ein Leitmotiv wiederkehrt: In der Folge Marholms Erben (1.22, D 1978) beispielsweise dienen ein Schachbrett und Schachfiguren nicht nur als Beweisstücke in einem Mordfall; vielmehr spiegelt sich gleichsam im Schach auch die Handlung. So ist etwa in dem Schachfigurenset die schwarze Dame »gefälscht« (1.22, D 1978) und am Ende stellt sich die Frage, welche Rolle eine Frau (Krista Keller-di Cerami) in dem Mordfall einnimmt (1.22, D 1978). Als der Mörder (Günther Ungeheuer) seine Pistole auf sie richtet, sagt er: »Schach!« (1.22, D 1978). Für Köster selbst ist charakteristisch, dass er sich gern mit Schach befasst – unter anderem bereits in der Folge Jack Braun (1.2, D 1977). Das Schach trägt zur Kennzeichnung sowohl der Kriminalfälle als auch des Ermittlers bei: Die Fälle erhalten durch die Parallelisierung mit Schachpartien und -aufgaben etwas Spielerisches, den Stellenwert von Rätseln, die man zum Vergnügen lösen kann; und der Ermittler ist nicht nur eine handelnde Figur, sondern auch und vor allem derjenige, der über die Gesamtsituation (oder die Stellung auf dem Brett) nachgrübelt. Dadurch profiliert er sich als Denker – für die Aufklärung der Fälle ist entscheidend, dass er den Kriminellen letztlich sozusagen einen Zug voraus ist.2 Mit der Lebenserfahrung, die »der Alte« für sich beanspruchen kann, vermag er zu durchschauen, was (auf dem Brett bzw. im jeweiligen Fall) gespielt wird; die möglichen Laufbahnen der Figuren (in beiderlei Sinn des Wortes) sind ihm bekannt. Er weiß, auf 2

In der Folge Teufelsküche beispielsweise verblüfft Köster eine zwielichtige Figur (Paul Muller), indem er bei deren Anruf schon im Vorhinein dank seiner Kombinationsfähigkeiten weiß, was sie ihm sagen will (1.57, D 1982).

»Face to face«

welche Weise diese, wie man sagt, ›vom rechten Weg abkommen‹ und ›auf die schiefe Bahn geraten‹.3 Damit erleichtert die väterliche Kommissarfigur es der Serie, den Fokus auf das Deviant-Werden zu richten. Devianz kann abschreckend und zugleich faszinierend erscheinen (Gerhard u.a. 2003: 7; Hickethier 1995: 190; Link 2009: 377f.; Parr 2013: 77); sie erkundet Spielräume, denen das Interesse des Publikums sicher ist. Nicht von ungefähr sind die Rollen der Kriminellen sowie der ihnen Nahestehenden in Der Alte häufig mit besonders prominenten Schauspielern besetzt. Diesen bieten gerade die Gegenparts zu dem ruhigen, gesetzten Kommissar Gelegenheiten zum Brillieren. Dominik Graf (2010: 45) bemerkt, in Serien wie Der Alte seien »oft die wirklich großen Figuren, die faszinierenden Verlierer« zu finden. Allein der Fernsehthriller kenne »eine solche Erhabenheit der dunklen Seelen, solch eine Souveränität von Protagonisten in Szenen, in denen sich der Boden vor ihnen« auftue – eine derartige »Grandezza« sei »dem Kino weitgehend suspekt geworden«. Beobachtungen wie diese verdeutlichen, wie Der Alte schauspielerischer Bravour und großen Gesten sozusagen die Bühne gibt. Damit fließen auch melodramatische Elemente in die Serie ein.

2.

Der Überfall als Melodrama

Der Alte ist durch Paratexte in Programmzeitschriften und durch seine Sendeplätze vor allem dem Kriminalgenre zugeordnet – von Folge 10 (D 1978) bis 99 (D 1985) zum Beispiel nimmt die Serie im ZDF den Platz des Freitagabendkrimis ein (Compart 2000: 226). Diese Zuordnung schließt jedoch nicht aus, dass Der Alte sich auch mit melodramatischen Elementen profiliert. Auf den ersten Blick mögen Kriminalgenre und Melodrama zwar als gegensätzlich erscheinen – wird doch Ersteres mit Gewalt in Verbindung gebracht, Letzteres vor allem mit Liebe, und sucht man gewöhnlich Spannung und Nervenkitzel bei dem einen, große Gefühle bei dem anderen4 –, doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, wie rasch beide Genres ineinander übergehen können. Bekenntnisse zum Beispiel haben – etwa als bloße Bestätigungen dafür, dass ein Fall als Rätsel richtig gelöst worden ist – im Kriminalgenre ihren Ort, aber auch als Ausdruck von Innerem im Melodrama. Peter Brooks (1995: 41) bemerkt zu diesem Genre: »We come to expect and to await the moment at which characters will name the wellsprings of their being, their motives and relations, the moment when a daughter cries out, ›O my father!‹ or a villain, ›Yes, it is I who sought the ruin of innocence!‹« Bereits die historischen Entwicklungslinien des Kriminalgenres und des Melodramas überschneiden sich, wie an Bezeichnungen für Subgenres wie ›Crime Melodrama‹ ersichtlich wird. Bezogen auf das 19. Jahrhundert gilt: »crime melodrama […] enables

3

4

Die väterliche Haltung reicht so weit, dass Köster in der Folge Die Unbekannte einem jungen Mann, der von einer Frau nachgerade zum Mord verführt worden ist, am Ende Weisheiten vermittelt. Kösters letzte Worte an ihn vor dem Abspann sind: »Das ewig Weibliche zieht uns nicht immer nur hinan; manchmal zieht’s uns auch hinab. Aber das ist nicht von Goethe« (1.53, D 1981). Mit solchen Gegenüberstellungen gehen oft Stereotypisierungen der Geschlechter einher; häufig gelten Frauen als alleinige Zielgruppe von Melodramen (Seeßlen 1980: 9).

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the extension of sympathetic melodramatic recognition to figures whose criminal actions and anti-social behaviour would traditionally exclude them from communal regard, deprive them of human dignity, human rights, and even life« (Buckley 2018: 29f.). Eine solche sympathisierende Anerkennung nicht zuletzt von Delinquenten wird auch in Der Alte auf melodramatische Weise begünstigt. Zu den melodramatischen Elementen der Serie gehört Frank Duvals emotionalisierende Off-Musik: Synthesizer-Pop wie der Song Face to Face in Der Überfall. Wie markant und eingängig dieser Song 1982 wirkte, zur Zeit der Erstausstrahlung der Folge, lässt sich daran ersehen, dass er in die Charts des Jahres gelangte (Horst 2011: 70). Der Vers »Face to face« ist mit verschiedenen Fernsehgenres vereinbar: Begegnungen von Angesicht zu Angesicht sind prägnant für Western (man denke nur an Duelle), für Thriller (auch hier Kämpfe und Konfrontationen) und nicht zuletzt für Melodramen (in diesem Fall bedeutungsschwere, aufwühlende Begegnungen). Insofern bildet der Vers ein Verbindungsstück zwischen der Krimiserie und dem Melodrama als weiterem Genre, mit dessen Bestandteilen die Folge Der Überfall spielt. Zu den Begegnungen von Angesicht zu Angesicht, die in Der Überfall in Szene gesetzt sind, gehört zum einen das Aufeinandertreffen von Täter und Opfer. Das Verhältnis zwischen diesen Figuren scheint zunächst professioneller Art zu sein: Bei dem Täter handelt es sich um den jungen Kaufhausdetektiv Frank Gart (Sascha Hehn), der den einschlägigen Verbrecher Georg Vandrey (Arthur Brauss) erschießt, als dieser einen Raubüberfall auf das von Gart bewachte Geschäft verübt. Erst allmählich, im Laufe der polizeilichen Aufdeckungsarbeit, kommt ans Licht, dass zwischen beiden Figuren eine überaus persönliche Beziehung bestanden hat: Vandrey hat Garts Kindheit unheilvoll beeinträchtigt und ihn auch noch kürzlich erpresst. Der Überfall des Kriminellen auf das Warenhaus nun ist für Gart eine Gelegenheit, sich seines Peinigers zu entledigen unter dem Vorwand, nur beruflich zu handeln. Auf die Szene, in der sich beide mit Schusswaffen gegenüberstehen und Gart abdrückt (1.60, D 1982), lassen sich die Worte »Face to face« beziehen.5 Zum anderen stehen auch die Konfrontationen zwischen Kommissar und Täter im Mittelpunkt. Köster führt mehrere Gespräche bzw. Verhöre mit Gart von Angesicht zu Angesicht. Gleich bei ihrem ersten Aufeinandertreffen entsteht zwischen beiden eine Spannung dadurch, dass sie nah aneinander herantreten und sich in die Augen schauen (Abb. 2). Das auf diese Weise sich herausbildende Verhältnis ist nicht nur das zweier Gegner, sondern hat – durch die Art, wie der Altersunterschied zum Tragen kommt – auch einzelne Züge einer Vater-Sohn-Beziehung. Köster bittet einmal Gart darum, ihn anzuschauen (1.60, D 1982) – also um eine Geste der Aufrichtigkeit, die nach verbreiteten Vorstellungen auch Väter im Gespräch von ihren Söhnen verlangen. Gart ist kein einschlägiger Krimineller, kein Profi-Killer, sondern allererst durch besondere Umstände deviant geworden. Dies erinnert noch entfernt an das hergebrachte Rollenschema des vom rechten Weg abgekommenen, verlorenen Sohnes und des Vaters, der – etwa mit seiner Lebenserfahrung oder mit göttlichem Wissen – in der Lage ist, die Fehltritte einzuschätzen. Nachdem Gart wegen Mordverdachts festgenommen ist, erklärt Köster 5

Oder auch auf einen inneren Gegner, wenn es in dem Song heißt: »with a stranger in myself and his grip on my soul« (1.60, D 1982).

»Face to face«

Abb. 2: »Der Überfall« (D 1982)

ihm, wie er anders hätte handeln können, nämlich sich durch eine Meldung bei der Polizei statt durch Mord gegen Vandrey zur Wehr setzen: »Da hätten Sie ihn anzeigen müssen, Frank! Das wäre das Richtige gewesen!« (1.60, D 1982) Darin, dass Köster Gart mit dem Vornamen anredet, aber nicht umgekehrt dieser jenen, liegt eine Asymmetrie, die auf den Altersunterschied zwischen den Figuren und auf Kösters Autorität hinweist. Mit dieser Autorität kann der Kommissar zum Schluss den Täter darauf aufmerksam machen, welcher rechte Weg diesem offen gestanden hätte. Kösters Autorität wird nicht nur auf sein Alter und seine Lebenserfahrung gegründet, sondern auch darauf, dass er weiter als sein Gegenspieler vorauszudenken scheint. Kurz nach dem Vorspann ist in Der Überfall ein Schachcomputer unter den Auslagen eines Warenhauses zu sehen (1.60, D 1982); das Motiv des Rätselvergnügens wird auf diese Weise wiederum exponiert. Köster demonstriert in der Folge, dass er Gart im Berechnen der auszuführenden Züge überlegen ist. Als Gart sagt, ihm sei nicht entgangen, dass er von der Polizei beschattet werde – es gelinge Kösters Team nicht, unauffällig zu sein –, antwortet ihm der Kommissar: »Ach, Sie meinen, meine Leute sind schlecht, ja? […] Nein, nein, ich wollte, dass Sie meine Leute sehen. Ich wollte, dass Sie es merken.« (1.60, D 1982) Der Kommissar beansprucht, besser als der Täter zu wissen, welche Winkelzüge gleichsam auf dem Brett sind. So souverän Köster die Auseinandersetzung mit dem Täter gewinnt, ist es auch in Der Überfall wiederum der Verlierer, von dem eine eigene Faszinationskraft für das Publikum ausgehen kann – wie die von Graf beschriebenen typischen Verliererfiguren der Serie wirkt er zugleich anziehend und abschreckend. Dazu trägt das Image des Schauspielers Sascha Hehn bei, der als attraktiv, begehrenswert, hübsch, aber auch als anrüchig gilt: 1982, also im Jahr der Erstausstrahlung von Der Überfall, ist Hehn als

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Chefsteward Victor Burger aus der Serie Das Traumschiff (seit 1981) bekannt, zudem jedoch als Mitwirkender bei Erotikfilmen wie Nackt und heiß auf Mykonos (D 1979). Gerade durch die Ambivalenz seines Images qualifiziert sich Hehn dazu, die Rolle des sowohl einladenden als auch zurückscheuen lassenden Devianten zu übernehmen. Auch die von den Figuren gefahrenen Autos dienen dazu, den Kommissar und den Täter zu charakterisieren (Parr 2014). Köster fährt in der Serie eine Mercedes-Limousine der Baureihe 123; so kommt das damalige Markenimage von Daimler-Benz zur Geltung, zu dem semantische Elemente wie ›solide‹, ›stabil‹, ›beständig‹, ›zuverlässig‹, ›sicher‹ und ›konservativ‹ gehören (Hilger 2004: 273). Als Vertreter des Gesetzes und der Ordnung lässt sich der Kommissar mit solchen Werten in Verbindung bringen. Auch sein Alter ist mit ihnen vereinbar – hat es doch häufig klischeehaft insbesondere für ›Beständigkeit‹ und ›Konservatismus‹ einzustehen.6 Die dem Alter zugeschriebene ›Beständigkeit‹ kontrastiert mit der ›Unstetheit‹ als üblichem Attribut der Jugend. In Der Überfall fährt Gart einen Ford Capri, ein Sportcoupé, das mit ›Dynamik‹, ›Schnelligkeit‹ und ›Action‹ assoziiert werden kann (es steht im Blickpunkt der britischen Actionserie Die Profis, im Original The Professionals, die von 1981 an im ZDF gezeigt wird); damit werden abermals Jugend-Stereotype aufgerufen. Während Gart mit seinem Auto fährt (1.60, D 1982), ist der Song Face to Face laut zu hören, sodass die Situation emotional aufgeladen wird. Dadurch, dass die Figur im Karosserie-Gehäuse des Autos sitzt und die Außenwelt an den Scheiben vorbeizuziehen scheint, konstituiert sich ein Innenraum der Gefühle, von dem aus die Umgebung buchstäblich er-fahren wird. Das Sich-Fortbewegen mit dem Auto ist damit nicht nur Teil der Handlung, sondern zugleich auch ein inneres Bewegt-Sein. Darin liegt ein Ansatz zum Melodramatischen in dieser Folge. Hermann Kappelhoff sieht ein Prinzip melodramatischer Unterhaltung darin, dass »die subjektive Realität – die ›Wahrheit‹ der Figuren – durch visuelle und akustische Figurationen (Mimik und Gestik der Schauspieler –, aber auch alle Elemente filmischer Mise en Scène: Ton, Dekor, Licht und Stellung der Schauspieler im visuellen Tableau) zum Ausdruck gebracht wird«, während hingegen Dialoge die Handlungsebene entstehen lassen (Kappelhoff 2004: 52). Gerade das Auto, das einen Zustand des Durch-die-Welt-Gleitens und Eingekapselt-Seins ermöglicht, bietet sich als Vehikel solcher Melodramatik an. Gesteigert wird das Melodramatische noch zum Schluss der Folge: Gart sitzt in Handschellen als überführter Täter im mit Chromleisten verzierten Mercedes von Köster. Das Metallische verbindet die Handschellen und das Auto miteinander; an diesem harten, kühl glänzenden Material wird sinnenfällig, dass Gart nun festgenommen ist. Die Außenwelt, durch die sie sich fortbewegen, spiegelt sich in den Scheiben des Fahrzeugs – nun aber stellt das vorbeihuschende Leben dasjenige dar, von dem Gart getrennt ist und sein wird. Die Gefängnisgitter, die Gart zu erwarten hat, werden bereits auf der Spiegelfläche der Seitenscheibe angedeutet, durch die er schweigend sieht: Auf ihr scheint eine Hausfassade mit einem Kästchengitter auf, das Garts Gesicht überzieht;

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»Der Alte« gewinnt sein Profil in der Serie unter anderem dadurch, dass er überkommenen Ordnungen anhängt. In der Folge Hass etwa redet er eine junge weibliche Figur mit »Fräulein« an – in einer Zeit, in der diese Bezeichnung allmählich obsolet wird – und die so Angesprochene korrigiert ihn: »Frau« (1.59, D 1982).

»Face to face«

Abb. 3: »Der Überfall« (D 1982)

das Eingesperrt-Werden, die Inhaftierung zeichnet sich ab (Abb. 3). Das Bild wird eingefroren und über dieses werden die Schlusstitel gelegt. Das Einfrieren gehört zu den typischen Verfahren des Melodramas. Als kennzeichnend für das Melodramatische betrachtet Jiří Anger (2019: 25) zum Beispiel Folgendes: »a scene of passionate suffering when the plot breaks down and freezes in a static and symbolic arrangement, […] a moment that may seem relatively brief in terms of narrative content yet is pregnant with emotional meaning«. Um einen solchen Moment handelt es sich bei Garts Augen-Blick durch die spiegelnde Scheibe. Das innerliche Abschiednehmen vom ›Leben da draußen‹ fügt sich zwar in die Handlung ein, allerdings wird durch die – im Rahmen der Handlung nur zufällige, doch für das Melodrama bedeutsame – Spiegelung der subjektive Zustand, die Gefühlslage, markant in Szene gesetzt. Darin, dass die Kästchenformen der Hausfassade auf die Gefängnisgitter übertragbar sind, liegt eine konzentrierte visuelle Metapher im Sinne von Thomas Elsaesser (1991: 76). Der eingefrorene Moment kann in seiner Emotionalität ausgekostet werden, wie es für das Melodrama typisch ist: »by slowing down, freezing or repeating images, key moments and meanings become visible that could not have been perceived when hidden under the narrative flow and the movement of film« (Mulvey 2006: 174). Passend zu solchen melodramatischen Elementen in Der Überfall aber ist nicht nur die Figur des jungen Gart, der den Entzug seiner Freiheit erfährt, sondern auch der väterliche Kommissar: Zum einen steht dieser mit seinem Auto und den Handschellen für die harte, unerbittliche Wirklichkeit, auf die der Täter als Verlierer stößt, die er also in ihrer einschränkenden Gewalt zu spüren bekommt und fühlt. Zum anderen verdächtigt der Kommissar den Täter bereits früh und rückt ihn dadurch in den Mittelpunkt – die Aufmerksamkeit der Zuschauenden wird auf Gart, sein etwaiges Motiv zum Mord und

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damit auf seine Subjektivität gelenkt. Kösters analytische Rekonstruktion von Garts Denken und Empfinden bildet ein Komplement zu dem melodramatischen Ausdruck von Emotionen, der vor allem durch Duvals Musik und durch die beschriebenen Bilder von Autofahrten zustande kommt. »Der Alte« ist damit die tragende Figur nicht allein der gleichnamigen Krimiserie im Ganzen, sondern auch und insbesondere der zum Melodramatischen tendierenden Folge Der Überfall.    

Quellenverzeichnis Filme und Serien Das Traumschiff (D seit 1981). Der Alte, 1.2: Jack Braun (D 1977), Regie: Wolfgang Becker. Der Alte, 1.3: Der Alte schlägt zweimal zu (D 1977), Regie: José Giovanni. Der Alte, 1.22: Marholms Erben (D 1978), Regie: Alfred Vohrer. Der Alte, 1.52: Der Zigeuner (D 1981), Regie: Theodor Grädler. Der Alte, 1.53: Die Unbekannte (D 1981), Regie: Zbyněk Brynych. Der Alte, 1.57: Teufelsküche (D 1982), Regie: Theodor Grädler. Der Alte, 1.59: Hass (D 1982), Regie: Zbyněk Brynych. Der Alte, 1.60: Der Überfall (D 1982), Regie: Alfred Weidenmann. Der Kommissar (D 1968-1975). Derrick (D/AT/CH 1974-1998). Maigret (dt. Kommissar Maigret, UK 1960-1963). Nackt und heiß auf Mykonos (D 1979), Regie: Claus Tinney. The Big Sleep (dt. Tote schlafen fest, US 1946), Regie: Howard Hawks. The Professionals (dt. Die Profis, UK 1977-1981).

Sekundärliteratur Anger, Jiří: (Un)Frozen expressions: Melodramatic moment, affective interval, and the transformative powers of experimental cinema. In: NECSUS. European Journal of Media Studies 8/2 (2019), S. 25-47. Brooks, Peter: The Melodramatic Imagination: Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. With a new Preface. Yale University Press: New Haven/London, 1995. Brück, Ingrid u.a.: Der deutsche Fernsehkrimi: Eine Programm- und Produktionsgeschichte von den Anfängen bis heute. Metzler: Stuttgart/Weimar, 2003. Buckley, Matthew: Early English Melodrama. In: Carolyn Williams (Hg.): The Cambridge Companion to English Melodrama. Cambridge University Press: Cambridge/UK, 2018, S. 13-30. Chanan, Michael: The dream that kicks: The prehistory and early years of cinema in Britain. 2. Aufl., Routledge: London/New York, 1996. Compart, Martin: Crime TV: Lexikon der Krimiserien. Bertz: Berlin, 2000.

»Face to face«

Elsaesser, Thomas: Tales of Sound and Fury: Observations on the Family Melodrama. In: Marcia Landy (Hg.): Imitations of Life: A Reader on Film & Television Melodrama. Wayne State University Press: Detroit, 1991, S. 68-91. Gerhard, Ute u.a.: Zur Einleitung: Facetten des Faszinationstyps ›(nicht) normale Fahrt‹. In: Dies. u.a. (Hg.): (Nicht) normale Fahrten: Faszination eines modernen Narrationstyps. Synchron: Heidelberg, 2003, S. 7-17. Graf, Dominik: Der Dschungelhauch der kleinen Filme. In: Ders.: Schläft ein Lied in allen Dingen: Texte zum Film. Hg. von Michael Althen. 2. Aufl., Alexander: Berlin, 2010, S. 44f. Hickethier, Knut: Die umkämpfte Normalität: Kriminalkommissare in deutschen Fernsehserien und ihre Darsteller. In: Karl Ermert/Wolfgang Gast (Hg.): Der neue deutsche Kriminalroman: Beiträge zu Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres. Evangelische Akademie: Loccum, 1985, S. 189-212. Hilger, Susanne: »Amerikanisierung« deutscher Unternehmen: Wettbewerbsstrategien und Unternehmenspolitik bei Henkel, Siemens und Daimler-Benz (1945/49-1975). Franz Steiner: Wiesbaden, 2004. Horst, Dirk: Synthiepop: Die gefühlvolle Kälte. 2. Aufl., BoD: Norderstedt, 2011. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle: Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit. Vorwerk 8: Berlin, 2004. Küpper, Thomas: Filmreif: Das Alter in Kino und Fernsehen. Bertz + Fischer: Berlin, 2010. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird. 4. Aufl., Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen, 2009. Maffei, Lamberto/Fiorentini, Adriana: Das Bild im Kopf: Von der optischen Wahrnehmung zum Kunstwerk. Übers. von Dietmar Zimmer. Springer: Basel, 1997. Margalit, Gilad: Germany and Its Gypsies: A Post-Auschwitz Ordeal. The University of Wisconsin Press: Madison/WI, 2002. Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft: Ideen zur Sozialpsychologie. 10. Aufl., Piper: München/Zürich, 1996. Mulvey, Laura: Death 24x a Second: Stillness and the Moving Image. Reaktion Books: London, 2006. Nichols, William J.: Transatlantic Mysteries: Crime, Culture, and Capital in the »Noir Novels« of Paco Ignacio Taibo II and Manuel Vázquez Montalbán. Bucknell University Press: Lewisburg/PA, 2011. Nusser, Peter: Der Kriminalroman. 4., aktual. und erw. Aufl., Metzler: Stuttgart, 2009. Parr, Rolf: Being Normal/Not Being Normal: Two Types of Unbearably-Attractive in Literature, Film and Television. In: Image & Narrative 14/1 (2013), S. 76-88. Parr, Rolf: Vehikel, Charakter-Pendant und Mittel zur Raumerkundung: Das Auto als multifunktionales Strukturelement im Tatort. In: Christian Hißnauer u.a. (Hg.): Zwischen Serie und Werk: Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im Tatort. transcript: Bielefeld, 2014, S. 129-144. Seeßlen, Georg: Kino der Gefühle: Geschichte und Mythologie des Film-Melodrams. Rowohlt: Reinbek, 1980.

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Storz, Oliver: Der Kommissar – ein deutscher Traum. In: Fritz Hufen/Wolfgang Lörcher (Hg.): Phänomen Fernsehen: Aufgaben, Probleme, Ziele, dargestellt am ZDF. Econ: Düsseldorf/Wien, S. 285-293. Weber, Thomas: Die unterhaltsame Aufklärung: Ideologiekritische Interpretation von Kriminalfernsehserien des westdeutschen Fernsehens. Aisthesis: Bielefeld, 1992. Zwaenepoel, Tom: Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur: Das populäre Krimigenre in der Literatur und im ZDF-Fernsehen. Königshausen & Neumann: Würzburg, 2004.

Abbildungen • • •

Abb. 1: Der Überfall (D 1982), Vorspann. Abb. 2: Der Überfall (D 1982). Abb. 3: Der Überfall (D 1982).

Age – the final frontier? Altersdarstellung und Geschichtsbild im Star Trek-Universum Florian Trabert

1.

Star Trek und die Populärkultur

Das Star Trek-Franchise zählt aufgrund seiner Langlebigkeit, seiner Breitenwirkung und seiner treu ergebenen Fangemeinde zu den markantesten Phänomenen der Populärkultur. Phrasen wie ›Beam me up, Scotty‹ oder Gesten wie der vulkanische Gruß haben auch außerhalb der Fangemeinde Eingang in soziale und kulturelle Zusammenhänge gefunden. Diese Entwicklung war in der Anfangszeit von Star Trek noch in keiner Weise abzusehen: Die von Gene Roddenberry kreierte erste Serie um die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise, das in der fernen Zukunft des 23. Jahrhunderts fremde Welten und Zivilisationen erforschte, wurde 1969 nach nur drei Staffeln wegen Erfolglosigkeit abgesetzt. Erst im Laufe der 1970er Jahre avancierten der draufgängerische Captain Kirk und der emotionslose, stets der Logik folgende Vulkanier Mr. Spock zu Ikonen der Populärkultur und bereiteten so die Grundlage für den Siegeszug von Star Trek. Seit 1979 entstanden sechs weitere Serien sowie 13 Kinofilme;1 zudem expandierte das Star Trek-Universum auch in anderen medialen Formaten wie Zeichentrickserien, Büchern, Comics, Rollen- und Computerspielen. Als Hochphase des Star Trek-Booms sind die 1990er Jahre zu benennen, in denen die Serien The Next Generation, Deep Space 9 sowie Voyager entstanden, die ein Jahrhundert nach The Original Series im technologisch weiter fortgeschrittenen 24. Jahrhundert spielen; mit den beiden Serien Discovery und Picard hat sich Star Trek zudem seit 2017 im Streaming-Zeitalter etabliert. Auch wenn bei dieser Analyse von Alter(n)sbildern in Star Trek die zweite Serie The Next Generation

1

Da die ›unendlichen Weiten‹ des Star Trek-Universums mittlerweile für den Einzelnen kaum noch zu überblicken sind, wurden für die Recherche von Handlungsverläufen einzelner Episoden und von intradiegetischen ›Fakten‹ die Seiten Memory Alpha und Deutscher StarTrek-Index verwendet, deren Inhalte von Fans erstellt wurden.

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Florian Trabert

im Vordergrund stehen wird, soll die obige Aufstellung zunächst eine Übersicht über die verschiedenen Serien und Kinofilme liefern:2

Serien

22. Jahrhundert

23. Jahrhundert

24. Jahrhundert

Enterprise (ENT, 2001-2005)

The Original Series (TOS, 1966-1969)

The Next Generation (TNG, 1987-1994)

Discovery (DIS, seit 2017)

Deep Space 9 (DS9, 1993-1999) Voyager (VOY, 1995-2001) Picard (PIC, seit 2020)

Kinofilme

Star Trek I-VI (1979-1991)

Star Trek VII-X (1994-2002)

Star Trek XI-XIII (2009-2016)

2.

Diversität in Star Trek

In den mittlerweile über 50 Jahren Laufzeit von Star Trek lässt sich eine zunehmende Diversität und eine gleichzeitig abnehmende Stereotypisierung der Figuren auf nahezu allen Ebenen konstatieren.3 Der Serienschöpfer Gene Roddenberry wurde von der Überzeugung geleitet, »that differences in ideas and attitudes are a delight, part of life’s exciting variety not something to fear« (zitiert nach Klein 1997: 171). Besonders deutlich lässt sich dieser Anspruch an den Kategorien race und gender ablesen. Bereits The Original Series, die zeitgleich zum Höhepunkt des Civil Rights Movement entstand, setzte – auch aus intersektionaler Perspektive – Maßstäbe, indem sie mit der Kommunikationsoffizierin Uhura eine farbige weibliche Figur etablierte, wenngleich dieser eine nur randständige Rolle zukam. Vor allem im Laufe der drei in den 1990er Jahren entstandenen Serien wurden die entsprechenden Charaktere zunehmend vielschichtiger angelegt (vgl. Rauscher 2003: 32, 60 und 143); in der dritten Serie Deep Space 9 sowie der vierten Serie Voyager übernahmen mit Captain Sisko und Captain Janeway ein farbiger und 2

3

Im Folgenden werden die einzelnen Episoden mit Angabe der gängigen, auch in der tabellarischen Übersicht verwendeten Kürzel für die jeweiligen Serien sowie der Staffel- und Folgennummer zitiert. Aufgrund dieser Entwicklung erscheint es zu einseitig, mit Knut Hickethier in Star Trek lediglich einen »Baustein im Marktkalkül der Medienindustrie« zu sehen, und keinen »Entwurf einer neuen, anderen, besseren Welt« (1997: 122). Eine solche an der Kulturkritik Theodor W. Adornos orientierte Sichtweise verkennt das gesellschaftsverändernde Potenzial der Populärkultur, so sehr diese auch von kommerziellen Aspekten dominiert wird. Beispielhaft sei darauf verwiesen, dass die farbige Schauspielerin Nichelle Nichols vom Bürgerrechtler Martin Luther King persönlich dazu gedrängt wurde, ihre Rolle als Uhura fortzusetzen (vgl. Rauscher 2003: 60). Umgekehrt soll damit nicht in Frage gestellt werden, dass Star Trek auch systemstabilisierende Züge aufweist, insofern die heile Welt dieser Utopie Eskapismus ermöglicht.

Age – the final frontier?

ein weiblicher Charakter das Kommando über die jeweilige Crew.4 Mit dem blinden Schiffsingenieur Geordi La Forge gehörte zudem eine behinderte Figur zum Stammpersonal der Serie The Next Generation. Schließlich ist Star Trek in den letzten Jahren deutlich queerer geworden:5 In dem bisher letzten Kinofilm Star Trek Beyond (US 2016) hat der bereits aus The Original Series bekannte Charakter Hikaru Sulu sein Coming-out als homosexuelle Figur, während in der Serie Discovery der Astromykologe Paul Stamets und der Schiffsarzt Dr. Hugh Culber in einer homosexuellen Beziehung leben. Eine Kategorie allerdings scheint zumindest auf den ersten Blick von dieser Entwicklung weitgehend ausgenommen zu sein: die Kategorie Alter. Die offenkundige Ausnahme der ersten sechs Kinofilme,6 mit denen die Crew der ersten Enterprise ihren späten Erfolg feiern konnte, ist vor allem durch die verspätete Rezeption von The Original Series bedingt. Ansonsten bewegte sich das Alter der Schauspieler*innen, die Hauptrollen übernommen hatten, beim jeweiligen Serienstart mit nur wenigen Ausnahmen in einem Korridor zwischen Ende 20 und Mitte 40.7 Selbstverständlich traten in den bisher über 750 produzierten Star Trek-Folgen auch ältere Figuren auf. Bei den wiederkehrenden Nebenrollen sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Eltern der Crew-Mitglieder zu nennen, wobei die entsprechenden Charaktere zumeist sehr deutlich Altersstereotypen verhaftet bleiben, die lediglich durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Alien-Rassen eine spezifische Färbung erhalten. Lwaxana Troi, die Mutter der Schiffspsychologin Deanna Troi in der Serie The Next Generation, verleiht dem Stereotyp der ›lüsternen Alten‹ eine komödiantische Note, indem sie als telepathisch begabte Betazoidin die intimsten Gedanken der Figuren ausplaudert.8 Eine groteske Qualität 4

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Die größere Sensibilität in Gender-Belangen äußert sich auch im Schlusssatz der ansonsten weitgehend identischen Texte, die in The Original Series und The Next Generation im Intro gesprochen werden. Aus der ursprünglichen Wendung: »To boldly go where no man has gone before!« (TOS) wird zwei Jahrzehnte später: »To boldly go where no one has gone before!« (TNG) Die maskuline Form »no man« wurde durch die genderneutrale Form »no one« ersetzt. Torsten Dewis Feststellung, dass in Star Trek »Homosexualität […] offiziell ebensowenig statt[findet] wie sexuell andersartige Orientierungen« (1997: 13) ist zwar im Hinblick auf die in den 1990er Jahren entstandenen Serien zutreffend, entspricht aber nicht mehr der aktuellen Entwicklung des Franchises. Die dritte Staffel von Discovery wurde jüngst für den GLAAD Award nominiert, der die mediale Darstellung queerer Inhalte würdigt: »In the GLAAD announcement, Discovery was amongst the shows praised for including ›powerful and impactful stories about LGBTQ people of color‹ and for centering ›transgender people and issues in new and diverse ways.‹« (Trekmovie Staff, 28.01.2021) In Star Trek VII: Generations (US 1994) steht bereits die Crew von The Next Generation im Mittelpunkt, aber insbesondere William Shatner hat noch einen letzten Auftritt als Captain Kirk. In den weitaus später entstandenen Filmen Star Trek XI (US 2009) und Star Trek XII: Into Darkness (US 2013) tritt zudem Leonard Nimoy kurz vor seinem Tod (2015) noch einmal in seiner Paraderolle als Mr. Spock auf. Es ist in diesem Zusammenhang sinnvoller, vom Alter der Schauspieler*innen und nicht vom Alter der durch sie dargestellten Charaktere auszugehen, da die zahlreichen Alien-Rassen oftmals Altersprozessen unterworfen sind, die stark von dem des Menschen abweichen; einige Charaktere, wie zum Beispiel der Android Data aus The Next Generation oder das holografische Programm Doctor aus Voyager, altern zudem gar nicht oder nur sehr eingeschränkt. Die Sonderstellung der Folgen mit Lwaxana Troi, die von Gene Roddenberrys Frau Majel Barrett gespielt wird, ergibt sich nicht nur durch den komödiantischen Charakter, sondern auch durch

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gewinnt dieses Altersstereotyp hingegen durch die in Deep Space 9 auftretenden Figuren Ishka und Großer Nagus Zek, die der koboldhaften Alien-Rasse der Ferengi angehören.9 Insgesamt muss jedoch festgehalten werden, dass den Familienmitgliedern in den Star Trek-Serien nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung zukommt. Da somit die Familie als wichtigster sozialer Verbund entfällt, innerhalb dessen generationenübergreifende Begegnungen stattfinden (vgl. Settersten/Godlewski 2016: 16), beschränkt sich der alltägliche Umgang der Charaktere weitestgehend auf die jeweiligen Crews, die zwar die Rolle von Ersatzfamilien übernehmen, hinsichtlich des Alters aber einen homogen Verbund bilden. Diese erste Bestandsaufnahme lässt Star Trek als einen geeigneten Untersuchungsgegenstand diverser kulturwissenschaftlicher Ansätze wie der Gender, Queer oder Disability Studies erscheinen, während sich für die Alter(n)sforschung zunächst nur vergleichsweise wenig Anknüpfungspunkte anbieten. Die Dominanz junger Charaktere inhaltlich mit den Gefahren des Weltalls zu erklären, bleibt unbefriedigend, da auf den Raumschiffen und -stationen des Star Trek-Universums auch Familien mit Kindern leben. Weitaus zutreffender lässt sich dieser Befund auf eine prinzipielle Affinität zwischen Populärkultur und Jugendlichkeit zurückführen, ohne dass damit allerdings das Spezifische des Star Trek-Franchise hinreichend erfasst wäre. Dies vermag erst ein Exkurs zu dem Star Trek zugrundeliegenden Geschichtsbild zu leisten: Die Jugendlichkeit des Franchise ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, durch den utopischen Charakter der Serie bedingt; in einem zweiten Schritt werden allerdings auch gegenläufige Momente in den Blick genommen, die auch differenziertere Altersbilder ermöglichen.

3.

Star Trek und der Mythos der Moderne

Star Trek ist als populärkulturelles Phänomen nicht nur ein moderner Mythos, sondern partizipiert zugleich am Mythos der Moderne (vgl. Götze 2019: 119f.), insofern als das Franchise entscheidend von der Fortschrittsidee getragen wird. Auch wenn zwischen der Fortschrittsidee und dem Science Fiction-Genre eine gewisse Affinität besteht, sind diese doch nicht zwangsläufig aneinander gekoppelt. Dies vermag insbesondere der Vergleich mit Star Wars als dem einzigen Franchise zu verdeutlichen, das innerhalb des Genres den Erfolg von Star Trek erreicht oder sogar noch übertrifft. Dass sich Star Trek

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den Umstand, dass diese Figur pro Staffel genau einen Auftritt hat. Tragisch eingetrübt ist diese Komik in der Folge Half a Life (dt. Die Auflösung, TNG 4.22), in der sich Lwaxana in einen Bewohner des Kaleon-Systems verliebt, die beim Erreichen ihres siebten Lebensjahrzehnts rituellen Suizid begehen. Gelegentlich begegnen die Crews der Raumschiffe Alien-Rassen, deren Alterungsprozesse von dem des Menschen stark divergieren; so trifft die Voyager in der Folge Innocence (dt. Unschuld, VOY 2.22) auf die Spezies der Drayaner, die – ähnlich wie der Titelheld von F. Scott Fitzgeralds Kurzerzählung The Curious Case of Benjamin Button (1922) – als Kinder sterben. Die in den ersten drei Staffeln von Voyager als Hauptfigur auftretende Kes, die der Spezies der Ocampa angehört, hat eine Lebenserwartung von nur zehn Jahren. Aufgrund des frühzeitigen Ausscheidens dieses Charakters aus der Serie wird der Alterungsprozess aber kaum thematisiert, sieht man von der kurzfristigen Rückkehr der Figur in der Folge Fury (dt. Voller Wut, VOY 6.23) ab.

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und Star Wars gleichermaßen als postmoderne Mythen-Patchworks bezeichnen lassen, sollte nicht über eine entscheidende Differenz hinwegtäuschen: Bei Star Wars vollzieht sich dieser Synkretismus prinzipiell unter dem Vorzeichen eines vormodernen Weltbildes, bei Star Trek hingegen unter dem Vorzeichen eines (hyper)modernen Weltbildes. Der für Star Wars zentrale Mythos der Macht weist eine deutliche Parallele zur Religion auf und ist als solcher transhistorisch. Aus diesem Grund sind alle Star Wars-Filme notgedrungen Variationen des ersten Films und gestalten stets den archetypischen Grundkonflikt zwischen den guten Jedi-Rittern und den bösen Sith-Lords, für den das Weltall eine letztlich austauschbare Kulisse darstellt. Star Trek hingegen ist die Utopie einer besseren Welt (vgl. Klein/Hellmann 1997: 8), genauer gesagt eine technologische Utopie, da die Menschheit soziale Ungerechtigkeit, Kriege und Krankheiten dank des technologischen Fortschritts überwunden hat und nicht – wie in soziostrukturellen Utopien – durch Veränderungen in der Organisation der Gesellschaft (vgl. Münkler 1997: 63).10 Angesichts dieser Differenzierung erscheint es nicht sinnvoll, den utopischen Charakter von Star Trek mit dem – durchaus zutreffenden – Hinweis in Abrede zu stellen, dass die soziostrukturelle Komponente der Utopie weitgehend diffus bleibt (vgl. Hickethier 1997: 137). Allerdings bleibt das kritische Potenzial von technologischen Utopien eher gering, da sie das grundlegende Problem der Knappheit von Ressourcen nicht durch Verzicht oder gerechtere Verteilung, sondern durch gesteigerte Produktivität lösen.11 Auf der Ebene der Biographien ermöglicht die technologische Lösung gesellschaftlicher Konflikte den Individuen eine weitgehend ungestörte Entfaltung ihrer Persönlichkeiten. Aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive ist im Star Trek-Universum die These vom ›Ende der Geschichte‹ verwirklicht, die der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama – unter dem Eindruck des zu Ende gegangenen Kalten Kriegs und zeitgleich zur Ausstrahlung der Serie The Next Generation – formulierte: Die Geschichte steuert in einem mit historischer Notwendigkeit ablaufenden Prozess auf die universelle Verbreitung von Demokratie und Liberalismus zu (1992: 48).12 Dass die Geschichte in Star Trek überhaupt noch weitergeht, ist vor allem durch die Konfrontation

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Es ist in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass die dystopische Serie Black Mirror, die sich vor allem mit den negativen Auswirkungen der Technik beschäftigt, die Folge USS Callister (UK 2017) enthält, die sich bereits mit ihrem Titel deutlich als Star Trek-Parodie zu erkennen gibt. Dieser Umstand erklärt auch den breiten Erfolg von Star Trek trotz der politischen Polarisierung, die sich in den USA bereits in den 1990er Jahren abzuzeichnen begann: Eine technologische Utopie bietet Identifikationspotenziale gleichermaßen für politisch progressive wie konservative Gruppen, da sie die Frage nach der Ausgestaltung der Gesellschaft nicht beantworten muss. Auch wenn dieses ›Ende der Geschichte‹ in Star Trek mit einer deutlichen Akzentuierung des USamerikanischen Individualismus umgesetzt ist, greift diese Idee zugleich auf die europäische Aufklärung zurück. Das bereits von Immanuel Kant in seiner geschichtsphilosophischen Abhandlung Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht anvisierte Ziel eines »großen Völkerbunde[s] (Foedus Amphictyonum)« (1985: 30), der die Durchsetzung allgemeiner Rechtsprinzipien garantiert, ist in Star Trek in Gestalt der Vereinigten Föderation der Planeten nicht nur in globalem, sondern sogar in interstellarem Maßstab realisiert. Dieser unter menschlicher und vulkanischer Federführung errichteten Institution, der weitere friedfertige und technologisch hinreichend fortgeschrittene Zivilisationen beigetreten sind, droht Gefahr nicht mehr von innen, sondern lediglich von außen, durch feindlich gesinnte Alien-Rassen.

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mit diversen Alien-Rassen bedingt, die zumeist – wie etwa die militaristischen Klingonen, die kapitalistischen Ferengi oder die kollektivistischen Borg – Gegenentwürfe zum freiheitlichen Gesellschaftsmodell der Menschen verkörpern. Anders als bei Fukuyama stellt dieses ›Ende der Geschichte‹ in Star Trek zudem nicht das Ergebnis eines linearen Prozesses dar; vielmehr wäre hinsichtlich der Geschichtsmythologie des Franchise systematisch zwischen einer fehlgeleiteten ›ersten Moderne‹ und einer besseren ›zweiten Moderne‹ zu unterscheiden, in der die Menschheit aus den zuvor begangenen Fehlern ihre Lehren gezogen hat.13 Ihren deutlichsten Ausdruck findet diese Einsicht in der sogenannten ›Obersten Direktive‹, die allen Mitgliedern der Sternenflotte kategorisch untersagt, sich in die Belange von ›Präwarp-Zivilisationen‹ – Zivilisationen, die noch nicht den für interstellare Reisen notwendigen Warp-Antrieb entwickelt haben – einzumischen. Die ›Oberste Direktive‹ soll verhindern, dass sich das Grundmuster der europäischen Expansion wiederholt, in deren Zuge die technologisch unterlegenen Zivilisationen außerhalb Europas marginalisiert oder sogar vernichtet wurden. Sein räumliches Analogon findet dieses Geschichtsdenken in der Umdeutung des amerikanischen Frontier-Mythos, den die Intros von The Original Series und The Next Generation mit dem aus dem Off gesprochenen Satz »Space, the final frontier« evozieren. Da der Begriff ›Frontier‹ keine Entsprechung in der deutschen Sprache hat, gibt die deutsche Übersetzung »Der Weltraum, unendliche Weiten« die ideologischen Implikationen dieses Satzes notgedrungen nur äußerst unzureichend wieder. Jürgen Osterhammel hat die Genese des Frontier-Mythos im späten 19. Jahrhundert skizziert: Der junge Historiker Frederick Jackson Turner […] sprach von einer ›Frontier‹, die sich immer weiter von Ost nach West vorangeschoben habe und in seiner Gegenwart zum Stillstand und Ende (closure) gekommen sei. Hier seien Zivilisation und Barbarei in asymmetrischer Verteilung von Macht und historischem Recht aufeinander getroffen; in den Mühen der Pioniere habe sich ein besonderer amerikanischer Nationalcharakter geformt; der besondere Egalitarismus der amerikanischen Demokratie verdanke sich dem Gemeinschaftserlebnis in den Wäldern und Prärien des Westens. Mit ›Frontier‹ war ein Stichwort geschaffen, das zunächst eine neue ›Großerzählung‹ der USamerikanischen Nationalgeschichte ermöglichte und später als eine allgemeine, auch auf andere Umstände übertragbare Kategorie generalisierend weiterentwickelt wurde. (2009: 469)

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Innerhalb der Star Trek-Mythologie fungiert das 21. Jahrhundert als Zäsur, die die erste von der zweiten Moderne trennt. Aus den Folgen und Filmen, die in dieser Zeit spielen, wie der Deep Space 9-Doppelfolge Past Tense (DS9 3.11-12) oder dem Film Star Trek VIII: First Contact (US 1996) wird ersichtlich, dass die negativen Aspekte der ersten Moderne ungefähr in der Mitte des 21. Jahrhunderts eine Dynamik erreichen, die die Menschheit zum Umdenken zwingt. Der Utopie des 22., 23. und 24. Jahrhunderts steht somit die Dystopie des 21. Jahrhunderts gegenüber. Mit der Inszenierung dieser Zäsur ist Star Trek insgesamt einem modernen Zeitdenken verpflichtet, wie sich im Anschluss an Aleida Assmann festhalten lässt: »In der Geschichte der westlichen Kultur besteht der Zauber des Anfangs […] in der sich wiederholenden Chance, den angehäuften Ballast der Geschichte loszuwerden und noch einmal voraussetzungslos von vorn beginnen zu können.« (2013: 150)

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Die Frontier stellt als Grenzraum zwischen fortschrittlichen und rückschrittlichen Kulturen sowie als hochgradig dynamisches Konzept in gleich zweifacher Hinsicht die räumliche Entsprechung zur Fortschrittsidee dar. An diesem Begriff lässt sich festmachen, dass »Beweglichkeit […] für die Raumepistemologie der Moderne zu einem dem Sein inhärenten Prinzip« (Borsò 2015: 161) wird. Gleichzeitig wird aus Osterhammels Beschreibung ersichtlich, dass Star Trek den Frontier-Mythos des 19. Jahrhunderts einer weitreichenden Modifikation unterziehen musste, insofern dieser mit den Mängeln der ersten Moderne behaftet war und den Untergang technologisch unterlegener Kulturen legitimierte. An die Stelle des Legionärs, des Kaufmanns, des Siedlers und des Missionars, die Osterhammel als die typischen Figuren der Frontier beschrieben hat (vgl. 2009: 468), ist in Star Trek der Typus des Forschers – und der Forscherin – getreten, der die asymmetrische Konstellation gerade nicht zu seinem eigenen Vorteil nutzt. Auf ihren Forschungsmissionen nehmen die Crew-Mitglieder »nicht die Perspektive der kolonialistischen Entdecker ein, sondern die von aufklärerischen Ethnologen, die bereits akzeptiert haben, dass es nicht eine alles umfassende, allgemeingültige Wahrheit gibt, die mit allen Mitteln durchgesetzt werden muss« (Rauscher 2003: 178).

4.

Altersstereotype in Star Trek

Der Zusammenhang zwischen dem skizzierten Geschichtsbild von Star Trek und der konstatierten Dominanz junger Charaktere ergibt sich zum einen aus der Anknüpfung an den Frontier-Mythos, der sich bereits im 19. Jahrhundert in dem Slogan ›Go west, young man‹ verdichtete. Diesem Slogan entsprach eine soziale Realität, da als charakteristischer Typus im Pionierwesten der USA »der junge, familiär ungebundene männliche Arbeiter« auszumachen ist, »oft nur saisonal beschäftigt, hochmobil und gefährlichen Arbeitsbedingungen ausgesetzt« (Osterhammel 2009: 479). Dieses Profil entspricht ziemlich genau, sieht man von der Beschränkung auf das männliche Geschlecht und dem saisonalen Beschäftigungsverhältnis ab, den Angehörigen der Sternenflotte, aus denen sich die Hauptfiguren des Star Trek-Universums nahezu ausschließlich rekrutieren. Die prinzipielle Dynamik der Frontier-Konstellation lässt sich offenkundig anhand junger Charaktere glaubhafter vermitteln; in dieser Hinsicht berührt sich Star Trek mit dem Genre des Westerns.14 Das technisch-wissenschaftliche Selbstverständnis der Moderne manifestiert sich in Star Trek zudem in der relativ großen Bedeutung, die in allen Serien dem Schiffsarzt zukommt: »Der Arzt steht […] für einen wichtigen Aspekt des Heilsversprechens der Moderne: für die Überwindung körperlicher und seelischer Gebrechen, für den Sieg über Krankheit und Tod« (Götze 2019: 126; vgl. Küpper 2010: 193) – und den – zumindest zeitweiligen – Sieg über das Alter. Schließlich lässt sich aus dem Hypermodernismus von Star Trek ableiten, dass ein sehr häufiges Altersstereotyp in den Filmen und Serien nur vergleichsweise selten vertreten ist: der ›weise Alte‹. Wie Hartmut Rosa in seiner Studie zu Beschleunigungsphänomenen geltend gemacht hat, ist die Figur des weisen Alten, die in traditionalen Gesellschaften aufgrund

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ihrer Erfahrung hohe Wertschätzung erfährt, »in der spätmodernen Gesellschaft praktisch verschwunden: Die Alten sind vielmehr dadurch stigmatisiert, dass sie sich nicht mehr auskennen und dass sie nicht mehr mitkommen« (Rosa 2005: 188, H. i. O).15 Einmal mehr ist in dieser Hinsicht der Vergleich mit Star Wars aufschlussreich: Während in der ersten Star Wars-Trilogie (US 1977-1983) mit den Yedi-Rittern Obi Wan Kenobi und Meister Yoda gleich zwei weise Alte zentrale Funktionen für die Handlung übernehmen,16 ist dieser Figurentypus in Star Trek nur selten voll ausgeprägt. Ausnahmen, die diese Regel bestätigen, existieren insbesondere in der Serie The Next Generation. Zu nennen wäre die Figur der Guinan, die auf der Enterprise dem unscheinbaren Job der Barkeeperin nachgeht, zugleich aber als Angehörige der mysteriösen Alien-Rasse der El-Aurianer über eine jahrhundertelange Lebenserfahrung verfügt. Als in Rätseln sprechende Allwissende ist sie durchaus mit Yoda aus Star Wars vergleichbar (vgl. Rauscher 2003: 145), aber diese Analogie endet bei den körperlichen Aspekten: Während sich Yoda zumeist auf seinen knotigen Stock als typisches Altersattribut stützt und im Film The Return of the Yedi (US 1983) an Altersschwäche stirbt, wurde Guinan von der in ihrem fünften Lebensjahrzehnt stehenden Whoopi Goldberg verkörpert. Auch in körperlicher Hinsicht entspricht dem Stereotyp des ›weisen Alten‹ der nur in wenigen Folgen von The Next Generation und Voyager auftretende Gärtner der Sternenflottenakademie Boothby, der aufgrund seiner Tätigkeit dezidiert außerhalb seines hochtechnisierten Umfeldes steht, den angehenden Kadetten aber mit wertvollen Ratschlägen zur Seite steht. Als weitaus wichtigere Figur, die dem Typus des ›weisen Alten‹ zumindest partiell entspricht, ist jedoch mit Jean-Luc Picard niemand geringeres als der Captain der Enterprise aus der Serie The Next Generation anzuführen. Als Gegenentwurf zu seinem Vorgänger aus The Original Series, dem jugendlichen Tatmenschen James Tiberius Kirk (vgl. Rauscher 2003: 12f., 34 und 139), ist Picard mit Alters- und Weisheitsattributen versehen: Seine Herkunft vom ›alten‹ Kontinent Europa weist ebenso in diese Richtung wie sein Interesse für Archäologie und Literatur, wobei letzteres insbesondere durch zahlreiche Shakespeare-Zitate sowie seine Vorliebe für gedruckte Bücher anstelle der im Star Trek-Universum sonst üblichen Tablet-artigen Geräte inszeniert wird. Dass Picard mit seinem Denken und Handeln ein entschiedener Vertreter humanistischer Ideale ist, kommt ihm insbesondere bei diplomatischen Missionen zugute, da der Umgang mit fremdartigen Alien-Rassen die Bereitschaft erfordert, den eigenen Standpunkt nicht absolut zu setzen. Dass eine solche Figur, die »eher einem Philosophen gleicht als dem Kommandanten eines Raumschiffs in riskanter Mission« (Münkler 1997: 71), überhaupt in Erscheinung treten konnte, hängt auch mit dem Abbau der Frontier-Konstellation im Vergleich zur ersten Serie zusammen. Da der Weltraum 15

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Diese Entwicklung ist auf den bereits von Reinhart Koselleck analysierten Zerfall des historia magistrae vitae-Topos zurückzuführen: Da in der Moderne aufgrund des Imperativs zu beständiger Veränderung nichts mehr aus der Geschichte gelernt werden kann (1979: 38-66), verliert Erfahrung zwangsläufig an Bedeutung. Dass Star Wars in dieser Hinsicht keine Ausnahme darstellt, zeigt ein Blick auf Battlestar Galactica (dt. Kampfstern Galactica, US 1978-1980) als weitere erfolgreiche Science Fiction-Serie der 1970er Jahre, in der mit Commander Adama – gespielt durch den damals in der Mitte seines siebten Lebensjahrzehnts stehenden Lorne Greene – gleichfalls der Typus des ›weisen Alten‹ markant vertreten ist.

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nun nicht mehr der Prärie des Wilden Westens, sondern eher einem modernen Stadtgeflecht mit verschiedenen sozialen Mikrokosmen entspricht (vgl. Rauscher 2003: 148), ist nun auch eine Bühne für den gebildeten Humanisten Picard bereitet.17 Gleichwohl hat Patrick Stewart, der zuvor insbesondere als Shakespeare-Schauspieler hervorgetreten war, die Rolle des Jean-Luc Picard nicht wegen, sondern trotz seines Alters von Mitte 40 zu Serienstart erhalten: »Star Trek creator Gene Roddenberry was famously resistant to Stewart’s casting. The British actor was, to his mind, too old and too bald to succeed Shatner’s swaggering James T. Kirk.« (Holloway, 2020) Insgesamt bleibt zunächst festzuhalten, dass in Star Trek durchaus alte Figuren auftreten, das Franchise aber insgesamt von diskursiven Formationen bestimmt ist, die eine prinzipielle Dominanz jüngerer Charaktere befördern. Diese abstrakten Überlegungen sollen anhand einer knappen Analyse der Folge Unnatural Selection (dt. Die jungen Greise, TNG 2.7) konkretisiert werden, die Handlungselemente der gut zwei Jahrzehnte zuvor entstandenen Folge The Deadly Years (dt. Wie schnell die Zeit vergeht, TOS 2.12) aufgreift: In beiden Folgen bedroht eine Krankheit, die zu einem rapiden Alterungsprozess der Befallenen führt, die jeweilige Crew. Da die Patienten innerhalb weniger Tage an Altersschwäche sterben, ist der Alterungsprozess – sofern sich bei einer so kurzen Zeitspanne überhaupt von Prozess sprechen lässt –, auch nicht mit einem wesentlichen Erfahrungszuwachs verbunden; mit anderen Worten: Biologisches und psychologisches Alter (vgl. Settersten/Godlewski 2016: 10) treten denkbar weit auseinander. Die in Star Trek häufiger zu beobachtenden negativen Altersstereotype erfahren eine drastische Zuspitzung: Altern erscheint nicht wie eine Krankheit, Altern ist eine Krankheit. Die erste bildliche Darstellung der Krankheit kombiniert Elemente des Science Fiction- und des Horror-Genres. Die Enterprise trifft auf ein steuerungslos durch das All fliegendes Versorgungsraumschiff, dessen Besatzung bereits von der Krankheit dahingerafft wurde. Insbesondere der Captain des Schiffs, der vor Altersschwäche dahingesunken in seinem Kommandostuhl sitzt, ist deutlich von Alterssymptomen entstellt, wobei ein zusätzlicher Schockeffekt noch durch den langsamen Zoom auf sein Gesicht hergestellt wird (vgl. TNG 2.07). Die Bewältigung der von der Krankheit ausgehenden Gefahr stellt eine Bestätigung der Fortschrittsidee dar, die Star Trek insgesamt prägt: Eine Modifikation des Transporters ermöglicht eine Heilung von der Krankheit, ähnlich wie bereits in der älteren Folge der EnterpriseCrew die Herstellung eines Gegenmittels auf Adrenalinbasis gelang. Ein differenzierteres Bild ergibt sich allerdings, wenn man nicht nur die Heilung von der Krankheit, sondern auch deren Genese in den Blick nimmt. Gegenläufig zur in Star Trek dominanten Fortschrittsidee lässt sich in der Folge aus The Original Series ein Rekurs auf ein vorwissenschaftliches Denken, in der Folge aus The Next Generation hingegen ein Rekurs auf ein wissenschaftskritisches Denken beobachten. In der älteren Folge wird die

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Die folgenden Serien sollten allerdings die Frontier-Konstellation wieder weitgehend restituieren: Deep Space 9, da die gleichnamige Raumstation in der Nähe eines Wurmlochs positioniert ist, das einen Zugang zum bisher unerforschten Gamma-Quadranten ermöglicht; Voyager, da die Crew des titelgebenden Raumschiffs in den gleichfalls unerforschten Delta-Quadranten verschlagen wird; und Enterprise, da die Handlung im 22. Jahrhundert spielt und der Weltraum für die Menschen prinzipiell noch terra incognita darstellt.

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Krankheit von einem Kometen verursacht, so dass die Handlung an das seit der Antike nachweisbare Motiv der Kometenfurcht anknüpft. In der neueren Folge hingegen wird die Krankheit durch Experimente am Genom des Menschen ausgelöst, die auf der Raumstation mit dem bezeichnenden Namen Darwin unter der Leitung der Ärztin Dr. Kingsley durchgeführt werden. Die ungebrochene Affirmation des technisch-wissenschaftlichen Weltbildes und dessen Kritik stehen sich in Gestalt der Schiffsärztin Dr. Pulaski und Captain Picards gegenüber. Während Dr. Pulaski beim Anblick eines genmanipulierten Jungen, der auf die Enterprise gebeamt wurde, enthusiastisch ausruft: »We could be looking at the future of humanity«, entgegnet Picard skeptisch: »Hmm. At least Dr. Kingsley’s vision of it« (TNG 2.07). Der englische Titel der Folge, Unnatural Selection, lässt diese Experimente als Zerrbild der natürlichen Evolutionsprozesse erscheinen, wie sie Darwin erstmals beschrieben hat. Genmanipulationen gehören in Star Trek in den Bereich einer fehlentwickelten Naturwissenschaft, die für die erste Moderne typisch ist, aber in der zweiten Moderne noch nicht vollständig überwunden wurde.

5.

Differenzierte Altersbilder

Dass die Altersbilder in Star Trek insgesamt weitaus differenzierter sind, als es die bisherigen Ausführungen erscheinen lassen, ist auf eine Reihe gegenläufiger Momente zu den bisher beschriebenen Altersbildern von Star Trek zurückzuführen. Diese weichen den für das Franchise charakteristischen Zusammenhang zwischen Jugendlichkeit, Populärkultur und Fortschrittsidee ein wenig auf, ohne ihn allerdings grundsätzlich in Frage stellen. Zum einen treten die Figuren des Star Trek-Universums in einem höheren Alter auf, sobald sie einen Kultstatus erreicht haben, wie dies am offenkundigsten in der bereits erwähnten Ausnahme der ersten sieben Kinofilme der Fall ist. Zweitens ist Star Trek – durchaus genretypisch – immer auch eine Auseinandersetzung mit den Problemen der jeweiligen Entstehungszeit (vgl. Dewi 1997: 14; Rauscher 2003: 11), und zu diesen Problemen gehört fraglos die Überalterung in den westlichen (post)industriellen Gesellschaften. Drittens diskutiert Star Trek anhand von Phänomenen wie Zeitreisen und Spiegeluniversen immer wieder die Möglichkeit alternativer Biographien und Geschichtsverläufe und weicht somit von dem linear-progressiven Geschichtsverständnis ab, das in den Serien und Filmen insgesamt dominiert. Und zuletzt hat die Fortschrittsidee, die zur Entstehungszeit von The Original Series noch fraglos den Diskurs dominierte und insbesondere von Gene Roddenberry affirmiert wurde, seit den 1970er Jahren zunehmend an Anziehungskraft verloren (vgl. Habermas 1985: 143). Inwiefern diese gegenläufigen Momente andere und insbesondere auch positive Altersbilder ermöglichen, sollen im Folgenden Analysen einzelner Episoden aus The Next Generation sowie ein Ausblick auf Picard, die bisher jüngste Serie des Franchises, zeigen. Star Trek-Charaktere werden nicht als alte Figuren konzipiert, aber sie können im Laufe der Zeit zu alten Figuren werden. Im Fall der ersten sieben Kinofilme wurde diese Entwicklung durch den speziellen Rezeptionsverlauf von The Original Series verstärkt, die erst nach einigen Wiederholungen Kultstatus erreichte, so dass nach dem durchschlagenden Erfolg der Star Wars-Filme Ende der 1970er Jahre auch die Zeit für einen Neustart von Star Trek auf der Kinoleinwand gekommen war. Mit der Ausnahme

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des Kirk-Darstellers William Shatner, der zumindest teilweise an seinen jugendlichimpulsiven Auftritt aus der Fernsehserie anknüpfte, versuchten die Darsteller*innen gar nicht erst, ihr zunehmend sichtbarer werdendes Alter zu kaschieren (vgl. Rauscher 2003: 168). Das für die Populärkultur charakteristische Phänomen des alternden Stars lässt sich auch als Kompensation der Beschleunigungsphänomene auffassen, die für die Moderne kennzeichnend sind.18 Durch ihr Auftreten verkörpern die bekannten Charaktere Kontinuität und bilden somit ein Gegengewicht zu zeitlichen Brüchen (vgl. Küpper 2010: 186). Fans und Figuren altern gewissermaßen parallel, da in der Realität und in der Fiktion annährend gleich viel Zeit vergangen ist. Anders verhält es sich mit den Auftritten der aus The Original Series bekannten Charaktere in The Next Generation. Da die ältere Serie im 23. Jahrhundert spielt, die 20 Jahre später entstandene Serie hingegen im 24. Jahrhundert, reale und fiktive Zeit mithin nicht gleich schnell vergangen sind, werden diese Auftritte nur dank diverser narrativer ›Krücken‹ möglich. So hat DeForest Kelley in der Pilotfolge von The Next Generation einen kurzen Cameo-Auftritt als hochbetagter Admiral McCoy, dessen biblisches Alter von 137 Jahren angesichts des medizinischen Fortschritts noch hinreichend plausibel erscheinen mag (vgl. TNG 1.1); Spock und sein Vater Sarek können sogar für die Handlung einzelner Folgen zentrale Funktionen übernehmen (vgl. TNG 3.23 und 5.7-8), da Vulkanier über eine weitaus höhere Lebenserwartung als Menschen verfügen; der Chefingenieur ›Scotty‹ materialisiert sich auf der neuen Enterprise, nachdem sein Muster 75 Jahre in einem Transporter gespeichert war (vgl. TNG 6.4); und Captain Kirk trifft schließlich im Kinofilm Star Trek VII: Generations (dt. Treffen der Generationen, US 1994) auf seinen Nachfolger Picard in dem paradiesähnlichen Nexus, in dem die Zeit anders vergeht als im übrigen Universum. Insbesondere im Fall des letztgenannten Kinofilms ist das bereits im Titel angekündigte Generationentreffen wohl auch aufgrund kommerzieller Erwägungen zustande gekommen, da ein Film mit Kirk und Picard verschiedene Generationen von Star Trek-Fans anzusprechen vermag. Im Folgenden soll ausführlicher auf die Folge Sarek eingegangen werden, in der Mark Lenard den Vater Spocks als – auch nach vulkanischen Maßstaben – hochaltrigen Charakter spielt.19 Sarek tritt in der nach ihm benannten Folge in der gleichen Funktion auf wie in der bereits über zwei Jahrzehnte zuvor entstandenen Folge Journey to Babel (dt. Reise nach Babel, TOS 2.10): als Botschafter. Dass es sich bei der Diplomatie um einen Sektor handelt, der den Akzelerationsphänomenen der Moderne weitgehend entzogen ist, verdeutlichen die Hinweise zu Sareks Mission fast über das Maß der Glaubwürdigkeit hinaus: Ganze 93 Jahre hat der Botschafter das Abkommen mit der Alien-Rasse der Legaraner vorbereitet, dessen Abschluss seine Karriere gleichermaßen krönen wie 18

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Der Begriff der Kompensation wird hier im Anschluss an Odo Marquard verwendet: »Zur modernen Fortschritts- und Innovationskultur, die auf Emanzipation aus den Traditionen setzt, zum Wegwerfen zwingt und schließlich sogar die lebensweltlichen Geschichten wegwirft, gehö rt – als Kompensation – spezifisch modern die Ausbildung des historischen Sinns: die Blü te der Erinnerungsund Bewahrungskultur, der Siegeszug der erzä hlenden Kunst des Romans, die Konjunktur der historischen Orientierung nach rü ckwä rts und vorwä rts.« (Marquard 2000: 39f.) Mark Lenard übernahm diese Rolle auch in dem nahezu zeitgleich gedrehten Kinofilm Star Trek VI: The Undiscovered Country (dt. Das unentdeckte Land, US 1991), dessen Handlung jedoch am Ende des 23. Jahrhunderts und damit mehrere Jahrzehnte früher situiert ist.

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beenden soll. Allerdings sind Sareks Verhandlungen mit den heiklen Legaranern, die in der Folge gar nicht zu sehen sind und auch sonst im Star Trek-Kosmos nicht weiter in Erscheinung treten, lediglich der Aufhänger, um einen gänzlich anderen Problemzusammenhang zu diskutieren: das hohe Alter des Vulkaniers. Die Eingangssequenzen der Folge treiben erheblichen Aufwand, um Sarek als würdevolle, ja geradezu auratische Erscheinung zu inszenieren. Sareks intradiegetischer Status als hochbetagter Diplomat und sein extradiegetischer Status als Kultfigur des Star Trek-Universums gehen dabei Hand in Hand. Im Gespräch mit seinem ersten Offizier William Riker erinnert sich Picard daran, dass es ihm als junger Leutnant bei seiner ersten Begegnung mit Sarek buchstäblich die Sprache verschlagen habe; auf der Enterprise materialisiert Sarek in einem Gewand, das halb an eine römische Toga, halb an eine Mönchskutte erinnert; körperliche Alterssymptome insbesondere in Gestalt von Falten finden sich zwar auch auf den ikonischen spitzen Ohren des Vulkaniers, sind aber im Gegensatz zu der Folge Unnatural Selection von jeglichen Schockmomenten freigehalten. Die durch diese Inszenierung geweckten Rezeptionserwartungen werden im Fortgang der Handlung allerdings durchbrochen. Dem positiven Altersstereotyp des weisen Alten, das bei den für ihre stoische Emotionskontrolle bekannten Vulkaniern ohnehin naheliegt, entspricht Sarek nur partiell. Der zentrale Konflikt der Folge erwächst aus dem Umstand, dass sein hohes Alter den Erfolg der diplomatischen Mission gleichermaßen ermöglicht und gefährdet. Zwar verfügt nur der Botschafter über die notwendige Erfahrung im Umgang mit den Legaranern, aber zugleich leidet er an dem sogenannten Bendii-Symptom, das ihm die Kontrolle seiner Emotionen zunehmend erschwert. Bei einem zu seinen Ehren gegebenen Konzert rinnt Sarek, während der Androide Data mit weiteren Crew-Mitgliedern den melancholischen langsamen Satz von Johannes Brahms’ erstem Streichsextett spielt, eine Träne über die Wange. Spätestens als klar wird, dass der wie alle Vulkanier telepathisch begabte Sarek seine nicht mehr kontrollierten Gefühle auf seine Umwelt projiziert, so dass es sogar zu einer Massenschlägerei unter den sonst so friedliebenden Offizieren der Enterprise kommt, steht der Erfolg der Mission auf des Messers Schneide. Die sonst so naheliegende technische oder medizinische Lösung wird in dieser Folge allerdings verweigert, da sich das Bendii-Symptom als nicht therapierbar erweist – eine Begebenheit, die in der technologischen Utopie des Star Trek-Kosmos kaum weniger unerhört ist als ein weinender Vulkanier. So bemerkt Picard: »It’s ironic, isn’t it? All this magnificent technology, we still find ourselves susceptible to the ravages of old age. (sighing) Loss of dignity. The slow betrayal of our bodies by forces we cannot master.« (TNG 2.07) Sarek kann schließlich die Verhandlungen doch noch zu einem erfolgreichen Ende führen, indem er mit Picard das vulkanische Ritual der Gedankenverschmelzung durchführt und so zumindest kurzfristig die Kontrolle über seine Emotionen wiedergewinnt. Obwohl diese Lösung Vertrautheit mit den Gesetzmäßigkeiten des Serienkosmos voraussetzt – die Gedankenverschmelzung wurde bereits in The Original Series als Fähigkeit der Vulkanier etabliert –, belegt die Handlung, dass Star Trek im Gewand der Science Fiction-Serie immer auch Probleme der eigenen Gegenwart thematisiert, insofern das Bendii-Symptom deutliche Parallelen zu Demenzerkrankungen aufweist. Das anfängliche Leugnen der Erkrankung, die Wutanfälle sowie der Verlust von Kontrolle, Identität und schließlich auch – wie Picard hervorhebt – der Würde des Patienten, tragen als Handlungselemente nicht nur zum

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Spannungsaufbau bei, sondern sind auch aus dem Verlauf von Demenzerkrankungen bekannt. Ansätze zu einem offenen und konstruktiven Umgang mit derartigen Krankheitsbildern – gerade angesichts fehlender Therapiemöglichkeiten – sind vor allem dem Verhalten des humanistischen Picard zu entnehmen, der Sarek dazu drängt, die Diagnose zu akzeptieren, durch seine Bereitschaft zur Gedankenverschmelzung aber auch die notwendige Empathie aufbringt. Auch wenn Star Trek insgesamt von der utopischen Idee bestimmt ist, dass sich die Probleme der Menschheit durch technischen Fortschritt lösen lassen, wird dieser, wie bereits mehrfach angedeutet, nicht durchgehend affirmiert. In der Folge Sarek bleibt es dem relativ unsympathischen Stabschef des Botschafters vorbehalten, der Hoffnung auf eine baldige medizinische Therapie des Bendii-Symptoms Ausdruck zu verleihen. Systematischer sind solche Abweichungen vom linear-progressiven Geschichtsbild der Serie in Gestalt von Handlungselementen wie Zeitreisen und Spiegeluniversen etabliert, die die Figuren mit der Möglichkeit alternativer Biographien konfrontieren: Der Ausflug »in ein alternatives Universum und in die Identität eines anderen Ichs skizziert für die Dauer einer Episode die verpassten Möglichkeiten und die ausgeklammerten Lebensentwürfe« (Rauscher 2003: 182; vgl. zudem Hickethier 1997: 132f.). Gelegentlich schließen diese alternativen Lebensentwürfe auch die Phase des Alters mit ein. So zeigen insbesondere die finalen Doppelfolgen der beiden Serien The Next Generation und Voyager die Crew-Mitglieder in einem deutlich höheren Alter. Während Picard in der Folge All Good Things (dt. Gestern, Heute, Morgen, TNG 7.25-26) in einer alternativen Zukunft als Winzer auf seinem südfranzösischen Weingut lebt und seine Tätigkeit als Captain eines Raumschiffs weit hinter sich gelassen hat, überredet in der Folge Endgame (dt. Endspiel, VOY 7.25-16) eine deutlich gealterte Captain Janeway ihr jüngeres Alter Ego zu dem Wagnis, den Rückflug zur Erde über einen Transwarp-Kanal der feindlichen Borg anzutreten; im letzten Fall ist der Erfahrungszuwachs auch mit einem deutlich erhöhten Starrsinn verbunden. Dem Handlungsmuster der alternativen Biographie folgt auch die Episode The Inner Light (dt. Das zweite Leben, TNG 5.25), die zugleich ein deutlich positiveres Altersbild zeichnet. Beim Kontakt mit einer Raumsonde unbekannter Herkunft wird Picard in einen tranceähnlichen Zustand versetzt. Im weiteren Verlauf dieser Folge lassen sich deutlich zwei Stränge unterscheiden: eine äußere Handlung, bei der die CrewMitglieder eine knappe halbe Stunde versuchen, ihren Captain aus dem Trancezustand zurückzuholen, und eine innere Handlung, bei der Picard ein ganzes Leben wie einen Traum erlebt (vgl. Rauscher 2003: 184). Picard findet sich auf dem Planeten Katan als ein Mann wieder, den alle unter dem Namen Kamin kennen. Auch wenn er seine alte Existenz als Captain der Enterprise nicht vergessen hat, akzeptiert er mit der Zeit seine neue Rolle in einer Gesellschaft, die in etwa das technologische Niveau des späten 20. Jahrhunderts erreicht hat. Im deutlichen Gegensatz zum linearen Geschichtsbild von Star Trek ist Picard/Kamin in zyklische Vorgänge eingebunden: Mit seiner Ehefrau zeugt er zwei Kinder und wird später Großvater. In der Phase der Hochaltrigkeit ist er zwar nicht frei von Alterssymptomen wie Gebrechlichkeit und Vergesslichkeit, aber doch erfüllt im Spiel mit seinem Enkel – krasser könnte der Kontrast zu Picard nicht ausfallen, der den Umgang mit Kindern stets meidet. Ein vorzeitiges Ende ist diesem zyklischen Reproduktionsprozess allerdings durch den Umstand bereitet, dass die Son-

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ne des Sternensystems ihre Wasserstoffreserven weitgehend aufgebraucht hat, sodass die Landwirtschaft allmählich zum Erliegen kommt. Eine technische Lösung, die vor allem in der Evakuierung Katans zu sehen wäre, kommt nicht in Frage, da die Raumfahrt auf dem Planeten noch in den Anfängen steckt. Seiner Tochter Meribor rät Picard/Kamin angesichts dieser Entwicklung zu einer Konzentration auf eine erfüllte Gegenwart: »Seize the time, Meribor. Live now. Make now always the most precious time. Now will never come again.« (TNG 5.25) Diese Lebensweisheit ist durch den nahenden Untergang Katans motiviert, stellt zugleich aber einen Gegenentwurf zu der Zukunftsorientierung dar, die Star Trek insgesamt kennzeichnet. Am Ende der Folge werden die beiden Handlungsstränge wieder zusammengeführt: Der mittlerweile hochbetagte Picard/Kamin erlebt noch den Start einer Raumsonde, die zwar nicht die Zivilisation des Planeten retten wird, aber zumindest die Erinnerung an diese; es handelt sich hierbei um genau jene Raumsonde, die Picard in seinen Trancezustand versetzt hatte, aus dem er nach dem Ende der Vision wieder erwacht. Als Dingsymbol, das die beiden Handlungsebenen verbindet, fungiert eine Flöte, die Picard in seinem alternativen Leben als Kamin gespielt hatte und die von der Crew der Enterprise in der Sonde gefunden wird; kaum zufällig handelt es sich dabei um ein Instrument, das vor allem mit Einfachheit und Natürlichkeit assoziiert wird und somit in einem deutlichen Gegensatz zum hochgradig technisierten Umfeld Picards steht. Diesem Kontrast entspricht, dass die hypermoderne Science Fiction-Serie in dieser Folge explizit auf den vormodernen Topos des Lebens als Traum zurückgreift, wie ihn exemplarisch der spanische Barockdichter Calderón in seinem Drama La vida es sueño realisiert hat. Wenn Picards/Kamins Ehefrau die Frage stellt: »You think that this – your life – is a dream?« (TNG 5.25), so ist damit genau jenes Erzählmuster alternativer Lebensentwürfe angesprochen, das auch im Star Trek-Universum das Auftreten von Hauptfiguren als alte Charaktere ermöglicht.

6.

Mensch und Maschine

Die Star Trek insgesamt kennzeichnende Fortschrittsidee ist am stärksten in den ersten beiden, von Gene Roddenberry kreierten Serien The Original Series und The Next Generation ausgeprägt. Die Annäherung zwischen der Vereinten Föderation der Planeten und den militaristischen Klingonen, die sich in der zweiten Serie vollzieht und im Kinofilm Star Trek VI: The Undiscovered Country (US 1991) vorbereitet wird, lässt sich zudem als deutlicher Reflex auf das Ende des Kalten Krieges verstehen, der den Geschichtsoptimismus des Franchise zu bestätigen schien (vgl. Dewi 1997: 15). Aber bereits in den beiden folgenden Serien Deep Space 9 und Voyager trübt sich der utopische Gehalt deutlich ein, und dieser Trend verstärkt sich noch einmal in den beiden jüngsten Serien Discovery und Picard. Die erste Staffel von Picard zeigt eine Vereinigte Föderation der Planeten, die ihren humanistischen Idealen untreu geworden ist, indem sie die Romulaner nach der Zerstörung ihrer Heimatwelt weitgehend sich selbst überlässt; und in der dritten Staffel von Discovery, die 900 Jahre nach den ersten beiden Staffeln spielt, ist die Föderation nach einem Austritt vieler Planeten – insbesondere der Erde und Vulkans – nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die offenkundige Parallele zu den isolationistischen

Age – the final frontier?

Tendenzen, die seit der zweiten Hälfte der 2010er Jahre zunehmend die globale Politik bestimmen, hat Patrick Stewart in einem Interview selbst gezogen: »In a way, the world of Next Generation had been too perfect and too protected,« he says. »It was the Enterprise. It was a safe world of respect and communication and care and, sometimes, fun.« In Picard, the Federation – a union of planets bonded by shared democratic values – has taken an isolationist turn. The new show, Stewart says, »was me responding to the world of Brexit and Trump and feeling, ›Why hasn’t the Federation changed? Why hasn’t Starfleet changed?‹ Maybe they’re not as reliable and trustworthy as we all thought.« (Holloway 2020) Dies bedeutet allerdings nicht, dass Star Trek seinen utopischen Gehalt gänzlich eingebüßt hätte; allerdings ist die freiheitliche Gesellschaftsordnung in den beiden jüngsten Serien nicht mehr von vornherein gegeben und lediglich von äußeren Mächten bedroht, sondern stellt vielmehr ein Ideal dar, das sich nur mit äußersten Anstrengungen aufrechterhalten lässt und nun auch vermehrt gegen innere Feinde verteidigt werden muss – was den Helden selbstverständlich gelingt. Kritischer gewendet ließe sich dieser Sachverhalt so darstellen, dass die Gewissheit des guten Endes als Grundprinzip von Star Trek (vgl. Hickethier 1997: 136) auch in den neueren Produktionen die zunehmende Geschichtsskepsis (noch) überwiegt. Dass die Moderne ein prinzipiell antitragisches Projekt darstellt (vgl. Koschorke 2015: 86), bestätigt sich auch in Discovery und Picard. Die Frage, inwiefern mit diesem geänderten Geschichtsbild auch eine Veränderung der Alterskonzeptionen einhergeht, soll ein Ausblick auf die Serie Picard zumindest andeutungsweise beantworten. Die Sonderrolle, die Picard unter den sieben Serien des Franchise einnimmt, lässt sich bereits an dem Umstand ablesen, dass die Serie nicht nach einem Raumschiff oder einer Raumstation, sondern nach dem Protagonisten benannt ist.20 Die folgenden Überlegungen tragen diesem Umstand Rechnung, indem sie weniger die Handlung von Picard als vielmehr den Charakter der Titelfigur in den Blick nehmen. In der ersten Folge Remembrance (dt. Gedenken, PIC 1.1) ist die Zukunftsvision der letzten Folge von The Next Generation Realität geworden: Der deutlich gealterte Picard lebt auf seinem südfranzösischen Weingut. Bei einem Interview, mit dem Picard sein langjähriges Schweigen beendet und in dem das intradiegetische Äquivalent zur Pause zwischen Stewarts letztem Auftritt als Picard in dem Kinofilm Star Trek X: Nemesis (US 2002) und dem Start von Picard zu sehen ist, erfährt der Rückzug des Sternenflottenadmirals eine überraschende Motivierung: Dieser erfolgte weniger aus Altersgründen, sondern vor allem als Reaktion auf die zunehmende isolationistische Politik der Föderation der vereinten Planeten. Auffällig ist in diesem Zusammenhang zudem, dass die Handlung der ersten Folgen zu großen Teilen auf der Erde spielt – und nicht in den unendlichen Weiten des Weltraums; zu den äußeren Bedrohungen durch diverse feindliche Alien-Rassen sind Probleme getreten, die auch und gerade auf der Erde gelöst werden müssen. Das visuelle Äquivalent dieser Geschichtsskepsis ist im Rekurs auf Topoi des dystopischen Cyperpunk-Genres zu sehen, die in kurz zuvor 20

Diese Entwicklung deutet sich aber bereits in der Serie Discovery an, die zwar noch Star Trek-typisch nach einem Raumschiff benannt ist, mit Michael Burnham aber einen klaren Hauptcharakter aufweist.

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entstandenen Filmen wie Blade Runner 2049 (US 2017) oder Ghost in a Shell (US 2017) deutlich ausgeprägt sind. Das Boston des späten 24. Jahrhunderts, das in der ersten Folge von Picard zu sehen ist, wirkt mit seinen überdimensionalen Werbehologrammen im postkapitalistischen Star Trek-Kosmos zunächst wie Fremdkörper; stimmig erscheinen diese Cyperpunk-Zitate jedoch insofern, als sich die Serie wie die genannten Vorbilder dem Mensch-Maschine-Verhältnis widmet. Dem Stereotyp des weisen Alten entspricht Picard nach wie vor nur partiell: Während ihn die alte Serie als einen zwar weisen, aber allenfalls mittelalten Mann zeigte, erscheint er nun als ein alter Mann, dessen Weisheit aber nicht mehr völlig außer Frage steht. Insbesondere als sich seine alte Mitarbeiterin Raffi Musiker zunächst vehement einer erneuten Zusammenarbeit verweigert, muss Picard erkennen, dass er seinem Umfeld mit seinem abrupten Rückzug aus der Sternenflotte psychische Verletzungen zugefügt hat. Picards Handeln wird zudem durch die Diagnose eines tödlichen Hirnleidens bestimmt. Der ehemalige Admiral kann es sich leisten, Anweisungen der Sternenflotte zu missachten, da er weder seine Karriere noch sein Leben aufs Spiel setzt. Dass Picard am Ende doch überlebt, indem sein Bewusstsein in einen künstlichen Körper transferiert wird, lässt sich wohl gleichermaßen auf den Charakter von Star Trek als technologische Utopie, auf das Grundprinzip des guten Endes sowie auf kommerzielle Erwägungen zurückführen – eine zweite Staffel ist derzeit (2021) bereits in Arbeit. Der (Alp)traum des zeitlich unbegrenzten Lebens wird in Picard zudem durch den Umstand gedämpft, dass der künstliche Körper auf einen allerdings noch mehrere Jahrzehnte entfernten Tod programmiert ist. Picards Fortbestehen als Maschine knüpft an Handlungsfäden aus The Next Generation an,21 folgt aber zugleich einer Logik, die sich vor allem aus der Figurenkonstellation ergibt, genauer gesagt aus dem Verhältnis Picards zu dem Androiden Data. Während einer der großen übergreifenden Handlungsbögen von The Next Generation in der Menschwerdung des Androiden Data zu sehen ist, der sich bei diesem Prozess vor allem an dem Vorbild Picards orientiert hatte, gestaltet die neuere Serie die Maschinenwerdung des Humanisten Picard. Seine Menschlichkeit verliert Picard dabei nur im biologischen, nicht aber im moralischen Sinn. Zusammen mit Data sowie dem holografischen Programm Doctor und der ehemaligen Borgdrohne Seven of Nine aus Voyager zählt Picard zu den Figuren, anhand derer in Star Trek die Dekonstruktion des Gegensatzes von Mensch und Maschine erfolgt. Solange die Maschinenwerdung des Menschen innerhalb eines liberalen Paradigmas erfolgt und nicht das Ergebnis einer Zwangskollektivierung wie bei den Borg darstellt, erscheint sie in Star Trek als Teil der Utopie. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich, dass technologische Utopien über ein geringeres kritisches Potenzial verfügen: Den existenziellen Fragen, die sich mit der Endlichkeit des menschlichen Daseins verbinden, muss sich Picard nicht in letzter Konsequenz stellen.

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Bereits in der Folge Samaritan Snare (dt. Das Herz eines Captains, TNG 2.17) musste Picard Fähnrich Wesley Crusher gestehen, dass er ein künstliches Herz hat, da er als junger Offizier bei einer Schlägerei lebensgefährlich verletzt wurde; und in der Doppelfolge The Best of Both Worlds (dt. In den Händen der Borg/Angriffsziel Erde, TNG 3.26/4.1) – einer der bekanntesten des ganzen Franchise – wurde Picard kurzfristig durch die feindlichen Borg zu einem Maschinenwesen assimiliert.

Age – the final frontier?

Dass Patrick Stewart seine Paraderolle als Jean-Luc Picard nicht wegen, sondern trotz seines beim Start von The Next Generation nicht einmal sonderlich hohen Alters erhielt, mag im Rückblick, angesichts der mittlerweile seit mehr als drei Jahrzehnten andauernden medialen Präsenz der Figur, nur mehr als eine kuriose Anekdote erscheinen. Tatsächlich ist die anfängliche Ablehnung Stewarts durch den Serienschöpfer Gene Roddenberry als Symptom eines strukturellen Zusammenhangs zu sehen: In Star Trek findet sich eine vergleichsweise große Vielfalt von Altersbildern nicht wegen, sondern trotz der Konzeption des Serienkosmos als technologische Utopie. Die Tendenzen der zunehmenden Diversität und abnehmenden Stereotypisierung, die Star Trek seit den 1990er Jahren kennzeichnen, sind bei den alten Figuren weitaus weniger stark vorangeschritten als in anderen Kategorien. Differenziert gezeichnete alte Figuren finden sich insbesondere in Folgen wie Sarek oder The Inner Light, in denen auf eine technische Lösung der Handlungskonflikte verzichtet wird. Insgesamt bleiben die hier identifizierten gegenläufigen Momente gegenüber dem linear-progressiven Geschichtsdenken der Serie, das die Dominanz junger Charaktere befördert, durchweg sekundäre Phänomene. Alter(n) stellt in Star Trek nicht zwangsläufig die letzte, aber doch eine Frontier dar, deren Überwindung eine Aufgabe künftiger Serien bleibt.

Quellenverzeichnis Filme und Serien Star Trek VI: The Undiscovered Country (dt. Das unentdeckte Land, US 1991), Regie: Nicholas Meyer. Star Trek: Generations (dt. Treffen der Generationen, US 1994), Regie: David Carson. Star Trek (dt. Alternativtitel: Star Trek – Die Zukunft hat begonnen, US 2009), Regie: J. J. Abrams. Star Trek Into Darkness (US 2013), Regie: J. J. Abrams. Star Trek Beyond (US 2016), Regie: Justin Lin. Star Trek (späterer Titelzusatz: The Original Series, dt. Raumschiff Enterprise, US 1966-1969). — The Deadly Years (dt. Wie schnell die Zeit vergeht, 2.12, US 1967), Regie: Joseph Pevney. Star Trek: The Next Generation (dt. Das nächste Jahrhundert, US 1987-1994). — Encounter at Farpoint Part I (dt. Der Mächtige, 1., US 1987), Regie: Corey Allen. — Unnatural Selection (dt. Die jungen Greise, 2.7, US 1989), Regie: Paul Lynch. — Sarek (dt. Botschafter Sarek, 3.23, US 1990), Regie: Les Landau. — Half a Life (dt. Die Auflösung, 4.22, US 1991), Regie: Les Landau. — Unification? (dt. Wiedervereinigung?, 5.7-8, US 1991), Regie: Les Landau. — The Inner Light (dt. Das zweite Leben, 5.25, US 1992), Regie: Peter Lauritson. — Relics (dt. Besuch von der alten Enterprise, 6.4, US 1992), Regie: Alexander Singer. — All Good Things (dt. Gestern, Heute, Morgen, 7.25-26, US 1994), Regie: Winrich Kolbe. Star Trek: Voyager (US 1995-2001). — Innocence (dt. Unschuld, 2.22, US 1996), Regie: James L. Conway. — Fury (dt. Voller Wut, 6.23, US 2000), Regie: John Bruno. — Endgame (dt. Endspiel, 7.25-26, US 2001), Regie: Allan Kroeker. Star Trek: Picard (US 2020).

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— Remembrance (dt. Gedenken, PIC 1.1, US 2020), Regie: Hanelle M. Culpepper. Star Wars (späterer Titelzusatz: Episode IV – A new Hope, dt: Episode IV – Eine neue Hoffnung, US 1977), Regie: George Lucas.

Sekundärliteratur Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München: Hanser, 2013. Borsò, Vittoria: Transitorische Räume. In: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. de Gruyter: Berlin/Boston, S. 259-271. Dewi, Torsten: Star Trek – Was ist das?. In: Arne Klein/Kai-Uwe Hellmann (Hg.): »Unendliche Weiten…«: Star Trek zwischen Unterhaltung und Utopie. Fischer: Frankfurt a.M., 1997, S. 10-15. Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man. Free Press: New York, 1992. Götze, Martin: Star Trek als Mythos der Moderne. In: Michael C. Bauer (Hg.): Neue Welten – Star Trek als humanistische Utopie? Springer: Berlin/Heidelberg, 2019, S. 119164. Hellmann, Kai-Uwe: »Sie müssen lernen, das Unerwartete zu erwarten«: Star Trek als Utopie der Menschwerdung. In: Arne Klein/Ders. (Hg.): »Unendliche Weiten…«: Star Trek zwischen Unterhaltung und Utopie. Fischer: Frankfurt a.M., 1997, S. 91-111. Hickethier, Knut: Die Utopie der Serie. In: Arne Klein/Kai-Uwe Hellmann (Hg.): »Unendliche Weiten…«: Star Trek zwischen Unterhaltung und Utopie. Fischer: Frankfurt a.M., 1997, S. 120-138. Kant, Immanuel: Schriften zur Geschichtsphilosophie. Hg. von Manfred Riedel. Reclam: Stuttgart, 1985. Klein, Arne: Faszinierend! »Star Trek zwischen Unterhaltung und Utopie?«. In: Ders./Kai-Uwe Hellmann (Hg.): »Unendliche Weiten…«: Star Trek zwischen Unterhaltung und Utopie. Fischer: Frankfurt a.M., 1997, S. 166-182. Koschorke, Albrecht: Hegel und Wir. Suhrkamp: Berlin, 2015. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1989. Küpper, Thomas: Filmreif: Das Alter in Kino und Fernsehen. Bertz + Fischer: Berlin, 2010. Marquard, Odo: Philosophie des Stattdessen. Reclam: Stuttgart, 2000. Münkler, Herfried: Moral und Maschine: Star Trek im Spannungsfeld von Sozialutopie und technologischem Fortschritt. In: Arne Klein/Kai-Uwe Hellmann (Hg.): »Unendliche Weiten…«: Star Trek zwischen Unterhaltung und Utopie. Fischer: Frankfurt a.M., 1997, S. 59-71. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck, 2009. Rauscher, Andreas: Das Phänomen Star Trek: Virtuelle Räume und metaphorische Weiten. Ventil: Schüren, 2003. Rosa, Harmut: Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2005.

Age – the final frontier?

Settersten, Richard A./Godlewski, Bethany: Concepts and Theories of Age and Ageing. In: Vern L. Bengtson (Hg.): Handbook of Theories of Aging. Springer: New York, 2016, S. 9-25.

Internetquellen Deutscher StarTrek-Index. (28.06.21, https://www.startrek-index.de). Holloway, Daniel: Star Trek: Picard: Patrick Stewart on Why he returned to the Final Frontier. (10.03.2021, https://variety.com/2020/tv/features/patrick-stewart-star-tre k-picard-cbs-all-access-1203459573). Memory Alpha: Fandom. (28.06.21, https://www.startrek-index.de und https://memor y-alpha.fandom.com/de). Memory Alpha: Fandom. (28.06.21, https://memory-alpha.fandom.com/wiki/Memory_ Alpha). Trekmovie Staff: ›Star Trek: Discovery‹ Nominated For GLAAD Award. (10.03.2021, htt ps://trekmovie.com/2021/01/28/star-trek-discovery-nominated-for-glaad-award/).

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Zwischen Zeitreisen, Zukunftsvisionen und außerirdischer Technologie: Altsein und Altwerden in einem Science-FictionSerienuniversum am Beispiel von Babylon 5 Dennis Korus

1.

Futuristische Bilder des Alter(n)s – nicht nur bei Star Trek

Ein alternder Admiral, der an einer unheilbaren Krankheit leidet, nimmt eine Droge, die ihn heilen kann und wird dabei, zumal er auch die für seine Frau angedachte Dosis zu sich nimmt, körperlich wieder zu einem jungen Mann (vgl. Too Short a Season, dt. Die Entscheidung des Admirals, TNG 1.16)1 ; in diversen Star Trek-Episoden werden die Hauptfiguren, sei es in Form von Zeitreisen oder durch Prolepsen, in späteren Lebensphasen gezeigt; die Drayaner werden im Alter in körperlicher Hinsicht menschlichen Kindern immer ähnlicher und verlieren zunehmend ihr Gedächtnis (vgl. Innocence, dt. Unschuld, VOY 2.22). Es ist wohl vor allem die beeindruckende Vielfältigkeit der unterschiedlichen Altersbilder und (dahinterstehenden) Alterskonzepte im Star Trek-Universum, die dazu geführt haben mag, dass diese Serienreihe nicht nur im vorliegenden Band eingehend besprochen wird. Aufgrund seiner Langlebigkeit und der wechselnden Autor*innen eignet sich Star Trek wie kaum ein anderes Serienfranchise aus dem Non-SoapOpera-Bereich dazu, die Historizität serieller Alter(n)sbilder zu untersuchen sowie die synchronen Alterskonzepte unterschiedlicher Autor*innen von Episoden einer Staffel zu untersuchen. Demgegenüber steht die Space Opera-Serie Babylon 5, deren 110 Episoden in 5 Staffeln von 1994 bis 1998 (im Anschluss an einen 1993 erschienen Pilotfilm) erstmalig ausgestrahlt wurden. Joseph Michael Straczynski, Showrunner von Babylon 5, schrieb insgesamt 92 Episoden selbst. Der Serie war lediglich ein sehr kurzlebiges Spin-Off vergönnt, es entstanden aber diverse Direct-to-DVD-Produktionen und Romane als Begleitmaterial zur Serie. Dadurch konnte Straczynski – für eine Serienproduktion ungewöhnlich – 1

Im Folgenden werden die einzelnen Episoden von Babylon 5 mit der Sigle B5 sowie der Angabe der Staffel- und Folgennummer zitiert; bei Star Trek-Episoden werden zudem die gängigen Kürzel für die jeweiligen Serien angegeben.

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ihre Handlung zu einer Einheit fügen und dadurch einen inneren Zusammenhang hervorbringen, der aufgrund strenger Einschränkungen der Improvisationsfreiheit am Set selbst von den Schauspieler*innen nur selten beeinflusst wurde. Ohne ihrerseits notwendigerweise zu den sogenannten Autorenserien gezählt werden zu müssen, kann Babylon 5 als eine Art Wegbereiter für diesen Serientypus verstanden werden. Die Autorenserie zeichnet sich nämlich neben der zentralen Rolle eines einzelnen Showrunners u.a. durch »narrative Innovationen und eine im neueren Hollywoodkino selten gewordene diskursive Breite« (Foerster 2010: 87) aus. Folgt man dem bisherigen Fachdiskurs, so gilt : »Babylon 5 a représenté une révolution narrative, esthétique et technologique, rarement égalée dans l’histoire de la télévision américaine« (Favard 2016 : 1). Obwohl der Serie also nicht nur in der Fangemeinde »eine hohe Bedeutung für die Entwicklung der Fernsehserien in den USA beigemessen« (Wikipedia: B5) wird, ist der Forschungsstand zu Babylon 5 mehr als überschaubar.2 Aufgrund ihres – gerade im Vergleich zu Star Trek – geringen Bekanntheitsgrades werde ich daher zunächst einen inhaltlichen Abriss der Serie geben, bevor ich mich in einem Dreischritt aus Gastfiguren, Hauptfiguren und Konzeptualisierungen dem Thema des vorliegenden Bandes – der Analyse der Alter(n)sbilder – widme.

2.

Einführung in Babylon 5

2.1

Handlungsabriss über Babylon 5

Im Zentrum der Serie stehen die Geschehnisse auf der Raumstation Babylon 5, die im Jahre 2257 von der Erdregierung errichtet wurde, um als ein Ort des Handels und der Diplomatie den Frieden mit den anderen Völkern des Universums zu sichern. Beginnend mit dem Jahr 2258 umfasst jede Staffel jeweils ein Jahr der Geschehnisse auf der Station. Die erste Staffel (2258) wird vorrangig dafür verwendet, die Ausgangslage der Serie zu etablieren und die wichtigsten Völker der Serie – darunter die aristokratischen Centauri, die ehemals von diesen besetzten Narn oder die so alten wie mysteriösen Vorlonen – sowie einige Hauptcharaktere der Serie vorzustellen. Lediglich im Hintergrund wird die für den weiteren Verlauf zentrale Bedrohung durch die sogenannten Schatten eingeführt, die sich immer mehr in die Angelegenheiten der herrschenden Völker, insbesondere der Centauri, einmischen. Dies geschieht in zumeist in sich abgeschlossenen Einzelepisoden, die häufig nur marginal aufeinander aufbauen. Nach dieser – wie man es in Rückgriff auf Freytags Dramentheorie nennen könnte –»ruhigeren Exposition« (Freytag 1876: 103) gerät die Welt von Babylon 5 in Staffel 2 (2259) zuneh-

2

Als bisher vielleicht umfassendste wissenschaftliche Arbeit zu Babylon 5 muss an dieser Stelle Lancaster (2001) genannt werden, der allerdings vorrangig auf den Umgang der Fans mit dem Serienprodukt zielt. Beachtenswert, wenngleich stellenweise einem populärwissenschaftlichen Umfeld zuzuordnen, ist der Band The Parliament of Dreams: Conferring on Babylon 5. Diesem sind die Beiträge von Keane (1998) und Chan (1998) entnommen. Einige der neueren Artikel zu Babylon 5 entstammen – wie etwa Favard (2016) – dem französischsprachigen Diskurs.

Zwischen Zeitreisen, Zukunftsvisionen und außerirdischer Technologie

mend in Bewegung3 und die horizontalen Elemente nehmen im Folgenden von Staffel zu Staffel sukzessive zu: Der vorrangig diplomatisch agierende Jeffrey Sinclair wird als Kommandant der Station durch den wesentlich impulsiver agierenden John Sheridan ersetzt; die seit jeher verfeindeten Völker der Centauri und der Narn geraten in einen durch Centauri-Botschafter Londo Mollari mithilfe der Schatten initiierten Krieg, den die Centauri gewinnen; ein Krieg gegen die Schatten selbst wird immer wahrscheinlicher; es werden Gerüchte laut, dass der aktuelle Erdenpräsident seinen Vorgänger ermordet haben soll. Aufgrund ebenjener Gerüchte erlebt die Station in Staffel 3 (2260) einen wichtigen Wendepunkt in ihrer Geschichte: Während Sinclair mit der im Jahr 2254 verschwundenen Vorgängerstation, Babylon 4, 1000 Jahre in die Vergangenheit reist, um sich – gemeinsam mit den Vorlonen jener Zeit – der damaligen Angriffswelle der Schatten entgegenzustellen, erklärt Sheridan Babylon 5 für von der Erde unabhängig. In Staffel 4 (2261) gewinnt Sinclairs Nachfolger sowohl den Schattenkrieg als auch den darauffolgenden Bürgerkrieg gegen die Erde; auf dem Zenit seines Schaffens gründet er die neue Interstellare Allianz und wird deren Präsident. Zwar werden gegen Ende der Serie, in der teilweise wieder mehr aus klar abgegrenzten Einzelepisoden bestehenden 5. Staffel (2262), wieder neue Herausforderungen für Sheridan angedeutet – insbesondere ein Konflikt mit einer Gruppe aus Telepathen – doch die für die Serie zentralen Konflikte mit den Schatten sowie der von ihnen beeinflussten Erdregierung können beigelegt werden; lediglich für einige Hauptfiguren gibt es kein Happy End. So erkennt Londo Mollari zwar, dass sein Deal mit den Schatten ein Fehler war und vertreibt sie von Centauri Prime, doch erlebt er als neu gekrönter Imperator der Centauri genau jene Katastrophe, die er stets abwenden wollte: Er muss mitansehen, wie sein Heimatplanet von den Drakh, den ehemaligen Handlangern der Schatten, besetzt wird. Erst in der 20 Jahre später spielenden, letzten Episode der Serie wird deutlich, dass Centauri Prime doch noch gerettet werden konnte. Allerdings ist Londo hier bereits tot und die Episode dreht sich vorrangig um die letzten Tage im Leben Sheridans, ehe dieser friedlich stirbt. Vor dem Hintergrund dieser eben resümierten Haupthandlung werde ich zeigen, wie das Konzept des Altseins in Babylon 5 mit einem Gefühl der Machtlosigkeit angesichts eines solch chaotischen Universums voller Zeitreisen, Prophezeiungen und tech-

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Dieser Rückgriff auf Freytag bleibt im Folgenden der einzige explizit markierte Verweis auf die Dramentheorie. Der Teil der Leserschaft, der mit den dazugehörigen Konzeptionen vertraut ist, wird auch in der weiteren Darstellung feststellen, dass ich Freytags Terminologie teilweise noch aufgreife. Die dahinterstehende These, dass sich Freytags Fünfakt-Struktur zur Beschreibung sowohl einzelner Figurenhandlungsbögen als auch der übergeordneten Handlung der fünfstaffeligen Serie Babylon 5 eignet, knüpft an die in Nelson (2003) vertretene Position an, wonach sich klassische Dramentheorien in besonderer Weise auf serielle Handlungsstrukturen übertragen lassen. Wenngleich eine tiefergehende Thematisierung der Übertragung an dieser Stelle zu weit vom Thema des Artikels wegführen würde, möchte ich jedoch anmerken, dass diese Anwendung der Freytag’schen Kategorien von mir nicht als 1:1-Äquivalenz angedacht ist, sondern beispielsweise die Katastrophe, die nach Freytag den 5. Akt eines Dramas bestimmt, in Babylon 5 nur teilweise umgesetzt wird. Immerhin heißt es aber bereits über die Dramaturgen der Mitte des 19. Jahrhunderts: »Den modernen Dichtern pflegt die Katastrophe Schwierigkeiten zu machen« (Freytag 1876: 119).

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nischer Errungenschaften verknüpft wird. Um die alten und alternden Figuren in das gesamte Figurenensemble von Babylon 5 einordnen zu können, gilt es zunächst, die Figuren in Bezug auf ihre Bedeutung für die Handlung und die gemeinsame Diegese der Serienepisoden zu charakterisieren.

2.2

Zentrale Merkmale der Welt und der Figuren von Babylon 5

Star Trek wie Babylon 5 bieten, ihrer Einordnung als Space Opera entsprechend, beide jeweils »starke Helden als Identifikationsfiguren« (Neuhaus 2003), die zwar nicht notwendigerweise ohne Schwächen konzipiert sind, ihre Stärke aber im unbedingten Willen unter Beweis stellen, ihre Schwächen zu überwinden. Insbesondere im Falle des menschlichen Kommandostabs der Station erinnert die Zusammensetzung der Hauptfiguren in Babylon 5 an die für Star Trek übliche Crew-Konstellation, in der auch verschiedene Eigenschaften und »Funktionen der handelnden Personen« (Propp 1975: 16) eingeschrieben sind. Doch gerade die Konstruktion ganzer außerirdischer Völker zeichnet die Welt von Babylon 5 als ein »sekundäres, modellbildendes System« (Lotman 1972: 22) aus – weshalb insbesondere narratologische Kategorien, zu denen beispielsweise auch die Figur gehört, bei ihrer Analyse von besonderer Relevanz sind. Die – soweit es den Hauptcast betrifft, vollständig humanoiden – Außerirdischen wirken zunächst menschenähnlich, doch übernehmen sie häufig zudem eine Repräsentationsfunktion, um die Eigenarten ihres jeweiligen Volkes zu vermitteln. Dazu gehören u.a. übergeordnete Kulturkonzepte, wie beispielsweise auch die Einstellungen der außerirdischen Figuren gegenüber ihrem eigenen Dasein als alte oder nicht-alte Figur. Nach Fürstenberg ist jede »Alter(n)sdefinition […] eine Art der Positionsbestimmung, bezogen auf ein soziales Feld oder dessen Zusammenhang mit anderen Merkmalen der Sozialstruktur« (2002: 76). In der Seriendiegese gilt dies insbesondere für die Kultur der Centauri, in der Statusfragen eine besonders hohe Relevanz beigemessen wird, wie Londo erklärt: »Centauri live our lives for appearances: position, status, title. These are the things by which we define ourselves. But when I look beneath the mask I am forced to wear, I see only emptiness.« (Born to the Purple, dt. Die Purpurdaten, B5 1.3) Aus der erzählerischen Konzeption von Babylon 5 als eine Serie mit zunehmender Verdichtung eines vorausgeplanten, folgenübergreifenden Handlungsfadens ergibt sich des Weiteren – gerade in Kombination mit den beschriebenen Produktionsbedingungen – eine von Star Trek unterschiedliche Konstitution der seriellen Dimension, die sich auch auf die Darstellung von Altersbildern und alten Figuren auswirkt. Wo sich im Star Trek-Universum – nicht zuletzt aufgrund verschiedener Personalwechsel in den Autorenteams (bis hin zur Showrunner-Ebene) – »die Entwicklung im mittleren und höheren Lebensalter als äusserst divergent und variantenreich« (Perrig-Chiello 2000a: 7) entpuppt, liegt es bei der Betrachtung von Babylon 5 vergleichsweise näher, die verschiedenen Figuren – bei aller gerechtfertigten »Problematisierung einer Engführung von Serie [oder Serialität] und Wiederholung« (Rothöhler 2020: 120) – als Iterationen eines umfassenden Alterskonzepts zu verstehen, auf das sie rekurrierend einwirken. Allgemeiner ausgedrückt : »[Babylon 5] use d’une structure fractale et répercute, à l’échelle microscopique des épisodes, les problématiques déployées par la matrice de la série« (Favard, 2016 : 12). Mehr noch als bei den meisten Star Trek-Serien vor 2017 (die – teilwei-

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se mit Ausnahme von Deep Space Nine – kaum von horizontalen Handlungselementen geprägt sind), müssen also einzelne Episodenhandlungen oder Figuren in Bezug auf ihre Stellung im Gesamtkonstrukt hin betrachtet werden, die gerade zum Serienbeginn häufig ästhetisch motiviert sind. Wenn die serielle Schöpfungskraft dabei sowohl in der Wiederholung als auch in der Differenz der jeweiligen Wiederholungen offenbar wird (vgl. Blättler 2012: 75), dann ist die von Favard festgestellte Matrix für die Zwecke der serienwissenschaftlichen Gerontologie wie folgt zu beachten: Jede alte, alternde oder über das Alter(n) sprechende Figur teilt demgemäß »eine Vorstellungswelt, ein Modell« (Decker 2018: 83) des Alter(n)s. Da dieses allerdings wiederum aus verschiedenen (durchaus auch widersprüchlichen) Teilmodellen bestehen kann, gilt es, verschiedene alte bzw. alternde Figuren aus der Serie gegenüberstellend zu analysieren und so die Multifaktorialität des Straczynski’schen Alter(n)sbildes zu erfassen. Um dem aber gerecht werden zu können, unterscheide ich mit Blick auf die Darstellung des Alter(n)s zwischen der Altersrepräsentation, die sich auf »die einzelne alte Figur in literarischen Texten« (Seidler 2010: 19) bezieht, und den Alterskonzepten, unter denen ich – mit Göckenjan gesprochen – »Vorstellungen, Wertungen und Bilder des Alters« (2000: 13) verstehe. Dabei übertrage ich Begriffe und Figurenmodelle, die von Schlaffer (2003) und Seidler (2010) für die Analyse philosophischer und literarischer Texte sowie von Göckenjan (2000) für die Analyse von Diskursen entwickelt worden sind, auf die Betrachtung meiner Serien-Figuren. Damit folge ich zum einen der immer häufiger festzustellenden Tendenz, Fernsehserien, insbesondere Autorserien und mit ihnen verwandte Typen, eine literarische Qualität zuzusprechen (speziell in Bezug auf Babylon 5 vgl. Keane 1998: 15). Zum anderen berücksichtige ich hiermit den ausgeprägten Konstruktionscharakter der vorgestellten Serienwelt. Wie nämlich aus den Worten und Taten der Vertreter der verschiedenen Völker die jeweiligen Kulturkonzeptionen abstrahiert werden müssen, so können von den Verhaltensweisen der Figuren in Babylon 5 auch ihre Alterskonzepte abgeleitet werden. Dabei widme ich mich zunächst den sogenannten Gastfiguren, die an dieser Stelle – wie in den frühen Episoden der Serie selbst – dazu genutzt werden, einen Überblick über die verschiedenen Facetten des Babylon 5-Universums zu geben.

3.

Altersrepräsentationen: Alte Gastfiguren in Babylon 5

Als Gastfiguren bezeichne ich hier – unter Rückgriff auf Junklewitz und Weber (2008) – solche handlungstragenden Figuren, die in keiner Staffel zum offiziellen Main Cast gezählt wurden. Häufig tauchen Gastfiguren lediglich in einer einzelnen Episode auf. Korrespondierend zum »Patient[en] der Woche [oder] Verdächtige[n] der Woche« (Junklewitz/Weber 2008: 25) bei Krankenhaus- oder Krimiserien zeigt Babylon 5 häufig den ›Stationsbesucher der Woche‹. Darunter befinden sich gelegentlich auch alte Figuren, wie zum Beispiel die lediglich in der Folge The Quality of Mercy (dt. Die Heilerin, B5 1.21) auftauchende, von der Erde stammende Laura Rosen. Bedeutend für Lauras Einordnung als alte (oder zumindest ältere) Person ist bereits die Wahl der 1925 geborenen June Lockhart als Schauspielerin, die diese Rolle verkörpert. Die ihr anhaftenden (und nicht überschminkten) Altersmarker – wie Falten – erweisen sich als eine Art »Kurzzitat« ei-

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ner bestimmten Altersstufe, auf die hier referiert wird; »im engen 40-Minuten-Format [sind solche Marker] sehr hilfreich […], um (Erzähl-)Zeit zu komprimieren« (Hahlbohm 2009: 167) – zumal Babylon 5 bei den äußeren Merkmalen der Gastfiguren grundsätzlich wenig Subtilität an den Tag legt. Zu diesem ersten Eindruck passt auch der von Laura an den Tag gelegte Habitus: Wie eine Großmutterfigur hat sich Rosen der Betreuung und Erziehung des jüngsten Sprosses ihrer Familie verpflichtet und zeigt sich in ihren ersten Szenen als besonders gütig, denn mittels eines außerirdischen Artefakts überträgt sie Teile der ihr verbliebenen Lebensenergie, um Alte und Kranke zu heilen. Dieses Altersbild wird allerdings nach und nach konterkariert: Lauras Auftritt bedient zwar Elemente des Großmutterbildes, doch sie hat keine Enkelin, sondern reist zusammen mit ihrer bereits erwachsenen Tochter. Trotz ihrer Erkrankung findet Laura noch die Kraft, als Ärztin zu praktizieren. Das ihr als Großmutterfigur zunächst zugeschriebene Verständnis für die Fehler der Jüngeren endet, als sie von einem Schwerverbrecher namens Karl Mueller gekidnappt wird und die für Schlaffers Altersfigurenmodell zentralen Komponenten »Todesangst« und »Lebenshunger« (2003: 20, 23) zusammenkommen, sodass Laura mithilfe des Artefakts die Lebensenergie ihres Entführers entzieht. Trotz dieser Tat – im Grunde eine in Selbstjustiz ausgeführte Todesstrafe – werden bei Lauras Darstellung allerdings weiterhin Topoi des ›Alterslobs‹ (vgl. Haller 2004: 176) bedient: Zumindest angesichts der Umstände scheint Lauras Handlung trotz ihrer Ungewöhnlichkeit den rechtlichen und ethischen Normen des Babylon 5-Serienuniversums zu genügen, dessen amerikanische Herkunft hier offenbar wird. Belohnt wird Lauras Akt der Selbstjustiz damit, dass sie in der Umkehrung der bisherigen Verwendung des Artefakts ihre Krankheit überwinden kann. Wie auch Laura zeichnen sich viele der anderen als Gastfiguren auftretenden Alten zum einen dadurch aus, dass ihre Altersweisheit nicht durch eine Abgrenzung von der Jugend deutlich wird, sondern durch eine liebe- und häufig auch humorvolle Umgangsweise der Alten mit den für sie Jungen. Zum anderen wird das Auftreten alter Figuren in Babylon 5 häufig mit der Frage verknüpft, inwiefern ihre restliche Lebenszeit noch mit Bedeutung gefüllt werden kann. Laura etwa eröffnet auf der untersten Ebene, d.h. im ärmsten Bereich der Station, eine Arztpraxis. In der als Schlüsselepisode der Serie fungierenden Folge The Coming of Shadows (dt. Schatten am Horizont, B5 2.9) formuliert der alte und weise Centauri-Imperator Turhan die folgende Einsicht: »The past tempts us, the present confuses us, and the future frightens us. And our lives slip away, moment by moment, lost in that vast terrible in-between. But there is still time to seize that one last, fragile moment. To choose something better, to make a difference.« (B5 2.9) Wer aber glaubt, keinen Unterschied mehr machen zu können, fühlt sich in Babylon 5 alt und ungebraucht. Entsprechend dem Glauben der Minbari und deren semantischer Besetzung des Weltraums mit Wassermetaphern, erklärt etwa der Minbari Draal seiner ehemaligen Studentin und jetzigen Botschafterin Delenn: »It is not the same world I was born in, Delenn. Not the same world at all. I am going to the sea« (A voice in the Wilderness – Part I, dt. Angriff der Aliens – Teil I, B5 1.18). Er bezeichnet sich als ohnmächtig gegenüber sozialen und politischen Veränderungen im Machtgefüge seines Volkes. Delenn aber teilt seine Meinung nicht und antwortet entsetzt: »No, you’re too young to go to the sea. There’s much you could do back home.« (B5 1.18) Sie glaubt nicht, dass Draals Lebensweg bereits seinen Höhepunkt erreicht hat und nun nur noch auf sein

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Ende zusteuert – und sie wird Recht behalten: Draal erhält im weiteren Verlauf eine neue Aufgabe, d.h. es kommt zu einem wichtigen Wendepunkt in seinem Leben. Er soll eine bis dato unbekannte Maschine auf dem Planeten Epsilon 3 steuern, welche auf einen lebenden Wächter angewiesen ist, um funktionieren zu können. Sein Vorgänger in dieser Position – ein Alien unbekannter Spezies, der optisch vor allem durch seine faltige Haut als sehr alt gezeichnet wird – stirbt und Draal übernimmt die Aufgabe. Diese neue Bestimmung geht einher mit einer körperlichen Verjüngung, hervorgerufen – wie bereits bei Laura – durch die erweiterten technischen Möglichkeiten im futuristischen Babylon 5-Universum, hier die Maschine auf Epsilon 3. Draal befindet sich also ganz unverhofft wieder auf dem Zenit seines Lebens. Den von Turhan beschworenen Moment zu nutzen und einen neuen, vorher nicht mehr für möglich gehaltenen Wendepunkt einzuleiten, wird in Babylon 5 allerdings nicht selten als ein Bruch der Figur mit den Normen ihrer Kultur verstanden. Draal identifiziert sich, wie oben beschrieben, schon länger nicht mehr mit seinem eigenen Volk. Während die Figuren um sie herum zunächst andere Lösungen für Muellers Bestrafung suchen, verhängt Laura zuletzt eigenmächtig eine Todesstrafe und führt diese mittels des außerirdischen Artefakts auch selbst aus. Damit tritt sie zum einen aus der Rolle des gekidnappten Opfers. Da sie damit aber zum anderen tradierte Vorstellungen des ihrer Rolle zugeteilten altersgerechten Verhaltens punktuell untergräbt, kommt es zu einer doppelten »Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes« im Sinne Lotmans (1972: 332). Ein solches Feld möchte auch Imperator Turhan überschreiten: Anstelle der Fortführung einer Semantik des Hasses gegenüber den Narn hat Turhan vor, sich erstmals öffentlich für die begangenen Gräueltaten der Centauri bei der Besetzung des Heimatplaneten der Narn zu entschuldigen. Die Folge The Coming of Shadows (B5 2.9) baut im Vorfeld mehrere Szenarien auf, wie Turhan sterben könnte, bevor er sein Ziel erreichen kann: Es scheint möglich, dass ein Verbündeter Londos ein Interesse daran hätte, den Imperator zu vergiften; Narn-Botschafter G’Kar plant explizit ein Attentat. Zuletzt ist es aber das biologische Alter Turhans, welches die Tragödie in Gang setzt: Turhan leidet – wie Laura – an einer unheilbaren Krankheit, der er lange trotzen konnte, die aber seinen Auftritt bei der Botschafterversammlung auf Babylon 5 verhindert. Die Dramatik der Szene, in der Turhan auf dem Weg zur Konferenz zu Boden fällt, wird durch den Einsatz von Trommeln in der Filmmusik und der Verwendung einer Zeitlupe bei seinem Fall filmisch herausgestellt. Anstelle einer öffentlichen Entschuldigung kann Turhan lediglich Dr. Franklin als Boten in die privaten Räumlichkeiten G’Kars schicken. Auf dem Totenbett fragt Turhan den Vorlonen Kosh, von dem er gehört hat, dass er die Zukunft sehen könnte: »How will this end?« Koshs kryptische Antwort lautet: »In fire« (B5 2.9). Der Indikativ der Frage zeigt an, dass sich Turhan spätestens jetzt jenseits des Zenits wähnen muss; er erfährt, dass er das Feuer nicht mehr verhindern kann. Im Gegenteil: Nur wenige Stunden später befinden sich die Centauri aufgrund einer Intrige von Turhans politischen Feinden offiziell wieder im offenen Krieg mit den Narn. Zugleich gilt: »Altern wird in unserer Gesellschaft nicht bloss assoziiert mit dem Verlust körperlicher […] Leistungsfähigkeit […], sondern – und vor allem auch – mit dem Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit« (Perrig-Chiello 2000b: 27). Während erstgenannter Aspekt beispielsweise Turhan an seinem symbolischen Akt hindert, spielt

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letzterer weder bei ihm noch bei Laura oder Draal eine Rolle. Stattdessen geht das Altwerden und Altsein in der Serie oft mit einer klareren Sicht auf die Mechanismen des Babylon 5-Universums einher – und zwar selbst bei einer tendenziell negativ besetzten Figur: Der weißhaarige – vom 1918 geborenen Efrem Zimbalist Jr. verkörperte – Großindustrielle William Edgars geht zwar über Leichen, um seine Ziele zu erreichen und nimmt menschenunwürdige Experimente vor, um ein Mittel zu erschaffen, mit dem Telepathen ihrer Kräfte beraubt werden, doch mit seinem hinter diesen Taten stehenden Glauben, dass es bald zum Krieg gegen die Telepathen kommen würde, soll er Recht behalten (vgl. The Face of the Enemy, dt. Homo Superior, B5 4.17). Unter den alten Figurenbildern, die in der Serie bedient werden, ist dabei die vielleicht »positivste […] der weise Alte« (Seidler 2010: 72, H. i. O.). Lorien, der diesen Typus besonders deutlich repräsentiert, tritt erst in der vierten Staffel auf, wo die folgenübergreifenden Handlungsstränge bereits das Episodengeschehen dominieren. Sheridan hat am Ende der dritten Staffel auf dem Heimatplaneten der Schatten den Tod gefunden. Doch nach einem Sprung in den Abgrund kommt er in einer Höhle zu sich, in der sich außer ihm lediglich Lorien aufhält. Dieser erklärt Sheridan, er befinde sich an einem Ort »between tick and tock «, an dem Sheridan – ähnlich einer Wanduhr – beim Erkunden der Höhle jeweils nur einen »full circe« (Whatever happened to Mr. Garibaldi, dt. Der Letzte des Kha’ri, B5 4.2) vollführen kann. Die Darstellung des Ortes bleibt in der Serie jedoch vage: Es wird nicht eindeutig festgelegt, ob hier eine Art Unterwelt gezeigt wird oder ein Reich zwischen Leben und Tod. Stattdessen wird stellenweise gar angedeutet, dass sich Sheridan und Lorien gar nicht körperlich gegenüberstehen, sondern alle Unterhaltungen zwischen den beiden stattfinden, obwohl Sheridan sich noch im freien Fall befindet. Während also im Dialog zwischen den beiden ein Bild des Stillstands gewählt wird, um Sheridans Zustand zu beschreiben, werden die Fliehkräfte, die auf ihn wirken, immer stärker. Zusammen mit dem (wie sich herausstellt) unsterblichen Lorien kann Sheridan diesem Zwischenort jedoch entfliehen und eine Wende im Schattenkrieg einleiten. In den folgenden Kampf gegen die Schatten treten auch die sogenannten Allerersten – sehr alte Völker, die den jüngeren Völkern (zu denen zum Beispiel die Menschen oder die Centauri zählen) technologisch weit voraus sind. Lorien hingegen ist nicht einer der Allerersten, sondern kann vielmehr unter Verwendung des bestimmten Artikels behaupten: »I am … the first one«. Als der Erste ist er dennoch – trotz seiner Unsterblichkeit – der Zeit unterlegen, denn auf Fragen zur Zukunft erwidert er: »Only time will tell«. (B5 4.2) Mit der Verneinung der Allwissenheit bezeugt Lorien wiederum seine Altersweisheit. Trotzdem blieb Lorien lange Zeit tatenlos und ließ zu, dass die Schatten, die er metaphorisch als seine »children« (B5 4.2) bezeichnet, ganze Völker ausrotteten. Anscheinend braucht es für den Alten, selbst für den Ältesten, im Babylon 5-Universum den Zuspruch eines jugendlichen Verbündeten, um aus den Mustern des taten- und machtlosen Alterns auszubrechen. Bei Draal übernimmt weitestgehend Delenn diese Rolle; bei Lorien ist es Sheridan, der ihn dazu veranlasst, zusammen mit dem Commander in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Dr. Franklin agiert als Bote für Turhan, doch weil Londo, die politisch mächtigere Hauptfigur, Turhan die Unterstützung versagt, bleibt dessen Einfluss nur noch marginal. William Edgars, der von Michael Garibaldi, Sicherheitschef auf Babylon 5, an die

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Behörden übergeben wird, stirbt, ohne den Konflikt mit den Telepathen verhindern zu können.

4.

Alternsrepräsentationen: Alternde Hauptfiguren in Babylon 5

Die Hauptfiguren der Serie – also jene Figuren, deren Darsteller im Vorspann Credits erhalten – befinden sich zwischen 2257 und 2262 allesamt (auch nach außerirdischen Maßstäben) in ihren mittleren Jahren. Allerdings gewährt die Serie den Zuschauenden bei verschiedenen Gelegenheiten einen jeweiligen Blick auf spätere Lebensphasen der Hauptfiguren, deren Altern ich im Falle von drei bereits genannten Figuren genauer betrachten möchte: Londo Mollari, Botschafter der Centauri, Jeffrey Sinclair, erster Commander von Babylon 5 und John Sheridan, sein Nachfolger. Das Altersnarrationen häufig nachgesagte Potenzial, insbesondere die gegebene Linearität von Lebensläufen und -stufen zu verunsichern, wird in allen drei Beispielen insbesondere durch die Möglichkeiten des Science-Fiction-Genres umgesetzt, weswegen ich diese drei Hauptfiguren hier nun vertieft betrachte.

4.1

Londo Mollari: Altern als Blick in das Alter

Zu Beginn der Serie erscheint Londo seiner Umgebung als fröhlicher Zeitgenosse, der allerdings seine Zeit häufig lieber im Spielcasino verbringt, als auf den Ratssitzungen zu erscheinen. In seiner Eigenschaft als Botschafter der Centauri agiert Londo also häufig sehr leichtfüßig, und es kommt schnell der Verdacht auf, dass er seine Stellung nicht besonders ernst nähme. In der Tat handelt es sich bei der Position als Botschafter auf Babylon 5 aus der Sicht der Centauri um ein minderwertiges Amt; mit der Versetzung auf die Raumstation, weit entfernt vom Hof des Imperators (und dem Zentrum der politischen Macht über Centauri Prime) findet sich Londo, ein »Staatsmann, der seine Funktionen nicht verlieren will« (Schlaffer 2003: 42), auf einem als nahezu funktionslos bewerteten Posten wieder. Die sprichwörtliche gute Miene zum bösen Spiel, die er vorrangig als Maske aufsetzt, legt er in Staffel 1 lediglich in wenigen, intimen Momenten der Selbstreflexion ab. In der Rolle des lebensmüden Alten zeigt sich Londo dann meist gegenüber seinem Attaché Vir, der in solchen Situationen die zuvor skizzierte Rolle des jungen Verbündeten übernimmt. LONDO: …My shoes are too tight. VIR: …Excuse me? LONDO: Something my father said. He was … Old, very old at the time. I went into his room, and he was sitting, alone in the dark, crying. So I asked him what was wrong, and he said, »My shoes are too tight. But it doesn’t matter, because I have forgotten how to dance.« I never understood what that meant until now. My shoes are too tight, and I have forgotten how to dance. (The War Prayer, dt. Angriff auf die Außerirdischen, B5 1.7) Londo spürt hier sein Alter und sieht sich in der Wiederholung des Altersprozesses seines eigenen Vaters, dessen Ausspruch er zitiert. Schuhmetaphern werden nicht nur

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an dieser Stelle zur Verdeutlichung von Erschöpfung eingesetzt (vgl. u.a. Movements of Fire and Shadow, dt. Der letzte Befehl, B5 5.17); die Erschöpfung im oben zitierten Dialog ergibt sich für Londo aus der Diskrepanz zwischen seiner für den Staatsmann typischen konservativen politischen Gesinnung, nach der eine Centauri-Hochzeit stets nur aus Statusgründen beschlossen wird, und dem für Londo dennoch nachvollziehbaren Wunsch von Kiron, Virs Vetter, sich aus Liebe mit einer Centauri niederen Ranges zu vermählen. Zuletzt entschließt sich Londo, aus dem Prozess der Tradierung alter Werte auszutreten und Kiron zu unterstützen. Anders als Londo selbst dürfte viele aufmerksame Zuschauende diese Entscheidung nicht überraschen, denn schon in der Folge Born to the Purple (B5 1.3) hat Londo gezeigt, dass er sehr wohl noch ›tanzen‹ kann: Dort hat er eine Affäre mit der jungen Tänzerin Adira und spielt sogar mit dem Gedanken, diese Beziehung öffentlich zu machen. Das auch von Göckenjan vertretene Verständnis von Alter »als soziale Konstruktion« (Schroeter/Künemund 2010: 393) anstelle einer sozialen Realität wird also insgesamt selbst beim außerirdischen Londo deutlich. Teil des Lebensgefühls der centaurischen Aristokratie, der Londo entstammt, ist beispielsweise, niemals eine Kindheit gehabt zu haben. Dementsprechend fühlt er sich, gerade in der Konfrontation mit den menschlichen Lebenskonzepten, in seinen (nach Centauri-Maßstäben) mittleren Jahren bereits alt. Diese Selbstwahrnehmung mündet in seine Selbstinszenierung als lebensmüder Staatsmann, steht aber im Kontrast zu seiner jeweils aufblitzenden Jugendlichkeit in jenen Momenten, in denen er glaubt, das Schicksal noch beeinflussen zu können. Angesichts der von ihm aufgesetzten Masken, dem von ihm zur Schau gestellten Selbstverständnis und seiner Verortung innerhalb des Altersprozesses seines Volkes wird Londo zu einer komplexen Figur, deren Habitus mehreren, manchmal sogar sich widersprechenden, Altersmodellen zugeordnet werden kann. Im Gespräch mit Vir bespielt Londo den Typus des »alten Alten« (Seidler 2010: 68, H. i. O.); in der Öffentlichkeit gibt Londo, der sich gerne in den Casinos und Bars der Station aufhält u.a. in der Folge Born to the Purple (B5 1.3) das »Bild des Lustgreises« (Seidler 2010: 72) zum Besten, der natürlich die Tänzerinnen des Etablissements bei ihren Namen kennt; in Gegenwart von Adira wird er zum »jungen Alten« (Seidler 2010: 68, H. i. O.), der fröhlich umhertobt; zugleich bedient er in der Rolle des »verliebten Alten […] ein typisches Komödiensujet« (Seidler 2010: 73, H. i. O.). Willems, auf den die von Seidler verwendete Unterscheidung zwischen einem jungen und einem alten Alten zurückgeht, zeigt aber auf, dass der Typus des jungen Alten kaum positiv gezeichnet werden kann. Entweder er ›verkriecht‹ sich – hierzu passt vor allem der Londo, der selbst dann Babylon 5 lange Zeit nicht verlässt, als er wieder mächtiger zu werden scheint – oder aber er fällt einem »wahnhaft gesteigerten Aktionismus« (Willems 2001: 60) anheim, wie er ihm durch seinen Pakt mit den Schatten ermöglicht wird. Dadurch aber wird Londos Fehde mit G’Kar verstärkt, und genau diese Fehde soll es sein, glaubt man Londo in der Folge Midnight on the Firing Line (dt. Ragesh 3, B5 1.1), die ihm dereinst den Tod bringen wird: My people, we have a way, you see. We know how, and sometimes even when, we are going to die. Comes in a dream. In my dream, I am an old man. It’s 20 years from now, and I am dying. My hands wrapped around someone’s throat, and his around mine. […]

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The first time I saw G’Kar… I recognized him as the one from the dream. It will happen. (B5 1.1) Der hier mündlich geschilderte, wiederkehrende Traum wird in der Folge The Coming of Shadows (B5 2.9) erstmals visuell dargestellt. Die Kamera zoomt auf den unruhig schlafenden Londo, und es folgt eine Blende zu einer Einstellung aus der Folge Midnight on the Firing Line (B5 1.1), während ein Londo-Zitat aus jener Folge im Off eingespielt wird. Getrennt durch gelegentliche weiße Lichtblitze vermischen sich bereits bekannte Mikroszenen und Worte mit eingestreuten metaphorischen Bildern und solchen Teilszenen, die einen jeweils älteren Londo zeigen, wie er u.a. auf dem Thron des Imperators sitzt und hustet. Die letzte Einstellung des Traums zeigt einen nahezu weißhaarigen, faltengezeichneten Londo, der, gewürgt von einem ebenso faltigen G’Kar, fast in Ohnmacht fällt. Es folgt ein Schnitt zum jüngeren Londo, der mit ähnlicher Wucht aus dem Bett fällt (vgl. B5 2.9). Versteht man mit Martin Seel Ereignisse als »Veränderungen in der natürlichen oder geschichtlichen Welt, die eine Umstellung unserer Orientierung bewirken« (2003: 39, H. i. O.), so kann auch Londos Traum als Ereignis verstanden werden, denn: Spätestens von The Coming of Shadows (B5 2.9) an ist Londos weiterer Werdegang in der Serie, d.h. auch der dargestellte Alterungsprozess, final motiviert. Vor diesem Hintergrund kann auch ein gelegentliches Hüsteln Londos an verschiedenen, einschneidenden Stellen seines Werdegangs jeweils als Markierung solcher Momente verstanden werden, in denen er der Erfüllung seines vermeintlichen Schicksals näherkommt. Doch auch wenn Londo zunächst glaubt, dass er keine andere Wahl habe, als den von ihm gesehenen Weg zu beschreiten (vgl. B5 2.9), so wird er von der Hellseherin Lady Morella, deren Körper die unsterbliche Seele des Staatsmanns und Imperators Turhan aufgenommen haben soll, eines Besseren belehrt: Sie nennt ihm verschiedene Chancen, »to avoid the fire […] at the end of [the] journey« (vgl. Point of no Return, dt. Kriegsrecht, B5 3.9). Der Prozess, in dem Londo seinem alten Ich näherkommt, wird spätestens ab der Folge Point of no Return (B5 3.9) als eine Reihe von retardierenden Momenten inszeniert: Londo erkennt zwar, dass er den Pakt mit den Schatten auflösen muss, doch im Gegenzug töten diese im Jahr 2260 Adira. Lady Morella rät Londo zwar, nicht denjenigen zu töten, der schon tot ist (vgl. Point of no Return, B5 3.9), doch er lässt Mr. Morden, den menschlichen Mittelsmann der Schatten köpfen, um im Jahr 2261 Centauri Prime aus seinen Fängen zu befreien. Londo wird zwar Imperator, doch besitzt er nun endgültig keine Entscheidungsfreiheit mehr, da er von den Drakh im Jahr 2262 einen sogenannten Wächter eingepflanzt bekommt, der all seine Schritte beobachtet. Das im oben beschriebenen Traum etablierte Bild des alten Imperators Londo wird in der Serie bereits vorher wieder aufgenommen, als Sheridan – im Zuge der Mission, an deren Ende Sinclair mit Babylon 4 in die Vergangenheit reist – 20 Jahre in die Zukunft springt und dort auf den gealterten Londo trifft. Londo und G’Kar erwürgen sich nicht etwa aus Hass, sondern weil Londo den Wächter daran hindern möchte, Sheridans Flucht zu vereiteln, während der Wächter Londos Körper übernimmt und G’Kar würgt. Damit ist Londos letzte Tat ein Versuch, sich im Alter treu zu bleiben. Problematisch an Londos Träumen ist also, dass er zwar die Situationen sehen, aber nicht kontextualisieren, d.h. in den (Alters-)Prozess einordnen kann. Dies gelingt ihm lediglich in der Retrospektive – und exakt ein solcher Blick zurück wird kurz vor seiner Krönung insze-

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niert, wo eine Abfolge von Mikroszenen aus vorhergegangenen Episoden (vgl. B5 5.17) den Gegenpart zu Londos proleptischen Träumen bildet. Londo ist indes nicht die einzige Figur, deren Vollendung ihres Handlungsbogens von einem solchen analeptischen Zusammenschnitt bisheriger Ereignisse begleitet wird; eine andere ist Jeffrey Sinclair.

4.2

Jeffrey Sinclair: Altern als nicht endende Selbstfindung

Zu Beginn der Serie ist Sinclair bereits ein Veteran des 2245 begonnen Krieges der Minbari gegen die Erde. Einerseits ein in sich ruhender, besonnener Diplomat, ist er aber andererseits auch von der Erfahrung gezeichnet, Teil der letzten Verteidigungslinie der Erde gewesen zu sein. Doch die Minbari kapitulierten überraschend, da sie Hinweise dafür gefunden hatten, dass Minbari-Seelen in Menschen wiedergeboren worden seien. Sinclair, der von diesem Erlebnis selbst 2258 immer noch gezeichnet ist, begibt sich als Commander der Station auffällig häufig in für ihn lebensgefährliche Situationen. Auch wenn dies oft der Selbstverteidigung oder gar dem Schutz der gesamten Stationsbevölkerung dient, warnt ihn Garibaldi, mit dem Sinclair eng befreundet ist, davor, mit zunehmendem Alter nicht immer mehr in die Rolle des Lebensmüden hineinzurutschen, die vom Sicherheitschef der Station wie folgt definiert wird: »Me, I think, they’re looking for something worth dying for … because it’s easier than finding something worth living for« (Infection, dt. Ein unheimlicher Fund, B5 1.4), was der – auch in mittleren Jahren bereits ergraute – Sinclair nicht verneint. Die ihm hier von Garibaldi als fehlend attestierte »direction« (B5 1.4) erhält er erst, als er im Jahr 2260 einen 800 Jahre alten Brief erhält, der in seiner eigenen Handschrift geschrieben wurde. Wie auch im Falle Londos geschildert, ist der Weg hin zu Sinclairs Bestimmung »full of signs and portents, among which everyone is entangled in seas of information and cannot grasp the picture […] as a whole« (Chan 1998: 28). Dieses Gesamtbild stellt sich wie folgt dar: Mit dem Befolgen der Anweisungen im Brief wird eine Ereigniskette ausgelöst, an deren Ende Sinclair mit Babylon 4 etwa 800 Jahre in die Vergangenheit reist, um dort den Minbari bereits beim ersten Krieg gegen die Schatten zu helfen und den Brief an sich, sein zukünftiges, aber jüngeres Ich zu verfassen. Nicht nur an den drei Episoden, die Babylon 4 thematisieren, sondern auch an Zeitreise-Episoden bei anderen Science Fiction-Serien wie Star Trek »lässt sich das Kernproblem der Zeitreisen erkennen: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei« (Hansemann 2013: 222)? Insbesondere bei sogenannten Zeitschleifen werden traditionelle, weil biologisch vorgegebene Muster in der Geschichte mit Leichtigkeit aufgehoben: Sinclair wird alt, noch bevor er geboren wurde – wenngleich derartige Phänomene hier zunächst nur auf der »objektiven Seite« (Micali 2015: 186) der »Zeit als Geschehen« (Held 2005: 17) und nicht direkt auf der Ebene »subjektiver Zeit« (Micali 2015: 186) zu verorten sind. Die Willkürlichkeit der biologischen Altersprozesse im Falle einer Zeitreise zeigt sich auch, als für Sinclair bei einem ersten Zeitsprung mit Babylon 4 plötzlich ein rascher Verfall des Körpers einsetzt, der ihn optisch mehrere Jahre älter erscheinen lässt, obwohl für ihn nur wenige Sekunden vergangen sind. »Zum Ereignis gehört die Irritation« (Seel 2003: 39), und zur Zeitreise als Ereignis gehören bei Babylon 5 »Semantiken des Alter(n)s als Krise, Katastrophe und Apokalypse« (Süwolto 2016: 222): Als Sheridan, der Sinclair bei seiner Zeitreise-Mission unterstützt, aufgrund einer Fehlfunktion der

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Zeitmaschine unverhofft in der Zukunft landet, erblickt er – ohne dass eine Prolepse im engeren Sinne vorliegen würde – mitten in der Serie den ergrauten Londo auf Centauri Prime, doch die Hauptstadt des Planeten steht in Flammen; Sinclair hat Michael absichtlich nicht auf die Mission nach Babylon 4 mitgenommen, um ihm das Schicksal des beschleunigten biologischen Alterns zu ersparen. Dieser Nebeneffekt rührt nämlich daher, dass er bereits 2258 – damals mit Garibaldi – bereits einmal Babylon 4 betreten hat, was in der Staffel-1-Episode Babylon Squared (dt. Verloren in der Zeit, B5 1.20) erzählt und in Staffel 3 repetitiv aufgegriffen wird: Aufgrund eines technischen Fehlers wird Babylon 4 von Zathras, Draals vertrauenswürdigen, aber schusseligen Gehilfen, aus Versehen nach 2258 versetzt. Der frühere Sinclair aus diesem Jahr geht einem Notruf der Station nach und hilft dabei, das verbliebene Stationspersonal zu evakuieren. Bemerkenswert ist an der Folge Babylon Squared (B5 1.20) zum einen, dass der Zuschauer hier sogar bereits einen ersten Blick auf den gealterten Sinclair erhält, der aber nicht proleptisch eingebettet ist, da der ältere Sinclair zeitgleich zum jüngeren Sinclair auf Babylon 4 agiert. Zum anderen wird hier die im Alltag und in der Persönlichkeitspsychologie beliebte Frage, ob man im Alter noch derselbe Mensch sei, zumindest im Kontext der Zeitreise aktiv verneint, denn als Zathras auf den früheren Sinclair trifft, glaubt er zunächst, seinen Gefährten zu erkennen, um sich dann aber zu erinnern: »Not the One« (B5 1.20 und 3.17). Der spätere Sinclair mag indes zwar im Aussehen dem Typus des Lebensmüden, wie Schlaffer (2003: 63) ihn versteht, näher gekommen sein, doch hat er nun eine Richtung eingeschlagen, die er in der Retrospektive als final motiviert erkennt: »My whole life has been leading to this« (B5 3.17), ertönt gegen Ende seiner Mission Sinclairs Stimme im Off, gefolgt von einer Reihe von schwarz/weiß gehaltenen Bildern aus früheren Staffeln, die sich nun als Hinweise auf Sinclairs Schicksal entpuppen. Mithilfe eines außerirdischen Artefakts gelingt es ihm sogar, den Alterungsprozess umzukehren. Im Zuge dessen wird er zu Valen, der von dem Volk der Minbari als eine Art Jesus-Pendant verehrt wird. Dadurch erhält der Glauben der Minbari eine neue Grundlage, denn es ist, sofern man im Babylon 5-Universum überhaupt von einer Seelenwanderung ausgeht, nun vielmehr wahrscheinlich, dass – durch Sinclair als Bindeglied – Menschenseelen in Minbari wiedergeboren werden. Dort, wo – wie der Stoiker Seneca im 12. Brief an Lucilius betont – »die Seele sich allmählich aus ihrer Gefangenschaft im Körper befreit und ihre ewige Jugendlichkeit offenbart« (Übersetzung nach Schlaffer 2003: 39), wird allerdings die Zeitschleife zu ihrem neuen Gefängnis. Hierfür steht auch der sprechende Titel der Doppelepisode um Sinclairs Zeitreise mit Babylon 4 – War without End (dt. Ranger Eins & Tausend Jahre durch die Zeit, B5 3.16 & B5 3.17). »War without End is not just the middle episode of the middle season, only concluding the first two seasons and not in itself hinting towards further developments in the final two years. As its title implies, the war, the story, will also go on forever« (Keane 1998: 22). Das gilt auch für die Zeit nach Sinclairs endgültigem Verschwinden in der Vergangenheit.

4.3

John Sheridan: Altern als Verlängerung des Lebens

Glaubt man den Aussagen Straczynskis (vgl. Sülter 2018), so war Sinclairs Reise mit Babylon 4 als das ursprüngliche Ende von Babylon 5 angedacht, während ein Komman-

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dantenwechsel in den ersten Planungen noch nicht vorkam, sondern erst durch eine psychische Erkrankung des Darstellers Michael O’Hare nötig wurde (Umbesetzungen von Hauptfiguren lehnte Straczynski in der Regel ab). Dass Sheridan damit auch abseits des Kommandopostens Sinclairs Funktion übernimmt, wird u.a. dadurch deutlich, dass einige der im Zusammenhang mit Sinclair gestellten Fragen auch für Sheridan eine zentrale Rolle spielen. Von besonderer Bedeutung dafür, ob Loriens Versuch, ihn wiederzubeleben, gelingen kann, ist beispielsweise, dass Sheridan die folgende Frage bejahen kann: »It’s easy to find something worth dying for. Do you have anything worth living for?« (B5 4.2). Wenn er einen solchen Grund, sich zum Leben zu entscheiden, nicht mehr hätte, dann würde er sterben. Paradoxerweise muss Sheridan sich jedoch, wie Lorien ihm erklärt, zugleich »Tock« (also dem Voranschreiten der Zeit und damit dem Altern) ergeben, um gerettet werden zu können. Zu einem Leben, das den Kreislauf durchbricht, gehört also die Akzeptanz des Voranschreitens der Zeit nach Lorien unbedingt dazu. So kann Sheridan vor dem Tod gerettet werden und darf weiter altern. Allerdings gilt im Babylon 5-Universum auch, dass Prozesse, die das Lebensende einläuten, sich nicht ohne einen Preis umkehren lassen. So muss Sinclair als Valen sein bisheriges Leben aufgeben, während Sheridans Leben, obwohl er von den Toten auferstehen konnte, dennoch ein vorzeitiges Ende finden wird: »Twenty years. No more. And then, one day he [Sheridan] will simply … stop« (Falling towards Apotheosis, dt. Das Monster auf dem Thron, B5 4.4), erklärt Lorien. Der Tod als ein Ereignis, das »als eine Unterbrechung des Kontinuums der historischen Zeit [hier: Lebenszeit] erfahren« (Seel 2003: 41) wird, bewirkt hier auch eine Veränderung des individuellen Anteils, den Sheridan an diesem Kontinuum noch erhalten kann. Wie auch Londo in der Folge Midnight on the Firing Line (B5 1.1) weiß Sheridan also, dass sein Leben wahrscheinlich in etwa 20 Jahren enden wird. Verschränkt werden die beiden Figurenschicksale zudem dadurch, dass Sheridan u.a. deswegen nach Z’ha’dum gegangen ist, um die düstere Zukunft, in der er den alten Londo getroffen hat, zu verhindern. Dass er dies nicht konnte, wird spätestens in der Episode Sleeping in Light (dt. Der Weg ins Licht, B5 5.22), der letzten der Serie, deutlich. Diese Folge spielt im Jahr 2281 und die Zuschauerschaft erfährt, dass Vir nach Londos Tod der Imperator eines freien Centauri Prime wurde. In ebenjener Episode hat der weißhaarige, nunmehr bärtige Sheridan – einen solchen Bart erhält er erst im Jahr 2262 – alles erreicht, was er sich einst vorgenommen hatte: Der Schattenkrieg wurde gewonnen, die Völker im Babylon 5Universum sind zu einer Allianz vereint worden. Auf den ersten Blick ist Sheridan nun der »große Alte« (Schlaffer 2003: 55, H. i. O.), der insbesondere von seinen früheren Weggefährten verehrt wird. Für einen solchen gilt allerdings auch: »Die Anbetung, die das Genie des Alters nun erfährt, kontrastiert die Funktionslosigkeit, zu der diese Lebensphase die meisten verurteilt hat« (Schlaffer 2003: 56). In der Tat ist Sheridan hier nicht mehr Präsident der Interstellaren Allianz, allerdings ist er noch Oberster Anführer der Ranger, einer Elitetruppe der Allianz – dies kann als Signal dafür verstanden werden, dass Sheridans Tod dennoch verfrüht stattfindet. In seinen letzten Tagen aber verhält sich Sheridan, dem durch wiederholt auftretende, analeptische Träume der baldige Tod angekündigt wird, wie einer der »vielen Senioren […], die in Städten und Ferienorten flanieren« und dabei ihr »persönliches Altersglück« (Schlaffer 2003: 34) genießen: Nach einem letzten gemeinsamen Essen mit seinen Freunden besucht Sheridan ein letztes

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Mal Babylon 5. »Der Rückblick in die – kollektive oder individuelle – Vergangenheit beschäftigt seit dem 18. Jahrhundert mit Vorliebe alte Männer« (Schlaffer 2003: 57). Im Babylon 5-Universum gilt dies sogar noch im 23. Jahrhundert, wie nicht nur an Londo und teilweise Sinclair, sondern auch an Sheridan deutlich wird (während alte Frauen stattdessen dazu neigen, ihre Gedanken auf die Zukunft zu richten). So durchlebt er auf Babylon 5 noch einmal die damalige Rede nach seiner Auferstehung von den Toten, also jenen Wendepunkt, den er dank seiner Wiederauferstehung einleiten konnte (vgl. B5 5.22). In seinen letzten Momenten erblickt er das Antlitz einer anderen alten Figur: Lorien ist in seinem Altsein derart alterslos geblieben, dass er Sheridan erneut durch den Tod begleiten kann (vgl. B5 5.22). Der Tod ist aber, weil Sheridan seinen Zenit erreichen durfte, keine Katastrophe, sondern wird zum überindividuellen Ende – nicht nur deswegen, weil es im Zentrum der letzten Serienepisode steht, sondern weil mit ihm auch ›The One‹ endet. Diesen Titel teilt Sheridan sich u.a. mit Sinclair, welcher von Zathras als »the beginning of the story« (B5 3.17) des Einen bezeichnet wird, während Sinclairs Nachfolger als Kommandant mitgeteilt wird, er sei »the end of the story« (B5 3.17).

5.

Alter(n)skonzepte: Alte und alternde Völker

Insbesondere die Verbindungen zwischen den beiden Kommandanten – die sich die Initialen JS mit Stracynski teilen – zeigen auf: »Der Greisenkörper verweist nicht auf den einzelnen alten Menschen, sondern wird zum Symbolsystem« (Seidler 2010: 15), welches – auch in Folge der Wiederholung als serielles Kernelement – im Kontext von Babylon 5 zur Basis eines überindividuellen Narrativs werden kann. Seine Teilabschnitte können, wie bestimmte Lebensabschnitte, auf verschiedene Figuren verteilt werden. Turhan fragt Kosh am Sterbebett nicht, wie es für ihn endet, sondern wie ›alles‹ endet. Die Feuermetapher, mit der Kosh antwortet, kann ebenfalls nur sehr bedingt auf Turhan selbst bezogen werden: Vielmehr erfüllt sie sich in Londo und der um ihn brennenden Stadt, während Londo von G’Kar erwürgt wird. Londos Opfer zeigt seine Wirkung, denn die Darstellung des Imperators Vir entspricht »der Vorstellung des kindischen Alten, der seine kindliche Unschuld wiedergefunden hat« (Seidler 2010: 75). Die beiden Figuren – Vir wie Londo – zuzusprechende Repräsentationsfunktion verstärkt sich im Falle von Londo noch durch seine unbedingte Identifikation mit dem Wohle der Centauri. Londos Gefühl des Altseins beruht nicht nur darauf, dass sein eigener Karrierehöhepunkt überschritten ist, sondern auch darauf, dass die Glanzzeiten der Centauri bereits lange vergangen sind. Seine Motivation erklärt er folgendermaßen: »l want a rebirth of glory, a renaissance of power«, von dem, was er gelegentlich »the old Republic« (Ceremonies of Light and Dark, dt. Ein neuer Anfang, B5 3.11) nennt. Dazu nutzt er die militärische Stärke der Schatten als Verbündete. Eine Hierarchie der Völker wird von den Figuren in Babylon 5 allerdings nicht nur anhand der politischen Macht oder militärischen Stärke aufgestellt, sondern auch auf Basis des relativen Alters eines Volkes, aus welchem die beiden erstgenannten Variablen – etwa aufgrund des technologischen Fortschritts – erst resultieren. Insbesondere den Vorlonen wird dabei eine besondere Ehrerbietung zuteil, denn diese werden nicht

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mehr, wie zum Beispiel die Menschen oder die Centauri, zu den sogenannten »younger races« gezählt, sondern inszenieren sich als ein Volk aus sogenannten »First Ones« (Into the Fire, dt. Das dritte Zeitalter, B5 4.6). In dieser Rolle erlauben sich die Vorlonen – auch aufgrund der ihnen zugesprochenen Altersweisheit – gelegentlich, die jüngeren Völker zu erziehen und ihnen bestimmte Technologien oder Vorgehensweisen zu verbieten. Als die intrigante J’ha’dur ein Unsterblichkeitsserum entwickelt hat, lässt Kosh das Schiff, auf dem sie sich befindet, vor den Augen der Botschafter auf Babylon 5 abschießen und schließt mit den Worten: »You are not ready for immortality« (Deathwalker, dt. Die Todesbringerin, B5 1.9). Der Episodenkontext gibt Kosh Recht, denn verschiedene Völker versuchen, mit J’ha’dur eine Einigung zu erzielen, damit nur sie allein Zugang zum Serum erhalten. Allerdings verbirgt sich hinter der Maske der besonnenen und nie irrenden Vorlonen eine andere Wahrheit: Das Bild ihrer großen Alterssouveränität verdanken die Verlonen Sinclair, denn nur dank seiner Zeitreise kennen sie die Zukunft. Das späteste Ereignis, von dem sie noch gesichert wissen können, ist – dank Sheridans Zeitsprung – das In-Flammen-Stehen von Centauri Prime; genaue Kenntnisse haben sie aber bis 2260. Kaum verlieren sie ihren Wissensvorsprung, verlieren sie die Maske der Altersweisheit und drohen mit einem Völkermord an allen, die sich mit den Schatten einlassen. Damit aber wenden sich die Vorlonen ihrerseits gegen ein noch älteres Volk, denn: »The shadows were old, when even the Ancients [die Vorlonen] were young« (In the Shadow of Z’ha’dum, dt. Das Geheimnis von Z’ha’dum, B5 2.16). Sheridan erkennt jedoch spätestens nach dem Treffen mit Lorien, dass die Vorlonen sich wie die Schatten Rollen zuschreiben (lassen), die nicht die ihren sind, denn die wahren First Ones haben – bis auf Lorien – das Universum bereits längst verlassen. Den Vorlonen und den Schatten, die also selbst einmal zu den jüngeren Völkern gehörten, wirft er nun vor: »You’re like a couple of parents arguing in front of their kids, manipulating them, trying to get them to take sides. […] But what if the right choice is not to choose at all?« (B5 4.6) Die hiermit beschriebene Rollenzuweisung, so Sheridan weiter, passe nicht mehr zu den tatsächlichen Altersverhältnissen der Völker im Babylon 5-Universum, denn die jungen Völker seien nicht mehr jung, sondern bereits erwachsen. Lorien erklärt den Vorlonen und Schatten, dass sie nun in der Folge selbst zu den alten Völkern gehören würden und dass sie als solche nun – wie auch von Londo als Kennzeichen des Alterns erkannt (vgl. B5 1.7) – die Taten ihrer Vorgänger wiederholen müssten: »As I taught you, then stepped aside, now you must do the same. Our age is past.« (B5 4.6) Selbst für den Unsterblichen ist Sterblichkeit ein hohes Gut und der Tod ein wichtiger Schritt der Reise, denn wenn die Vorlonen und Schatten seinen Rat nicht befolgen, gilt: »[T]he war will never end.« (B5 4.6) Dass im Gegenzug die Unsterblichkeit im Babylon 5-Universum kein anzustrebendes Gut darstellt, wird an diversen Beispielen und vielleicht am prägnantesten an J’ha’durs Lebenselixier deutlich, dessen Herstellung einen hohen moralischen Preis kosten würde: »The key ingredient in the anti-agapic cannot be synthesized. It must be taken from living beings. For one to live forever, another one must die. You will fall upon one another like wolves.« (B5 1.9) Dementsprechend wird nun auch Sheridans Tod am Ende der Serie nicht als per se negatives Ereignis dargestellt: Der Tod und das Altern sind im Babylon 5-Universum lediglich dann eine Katastrophe, wenn die betroffene Figur durch sie daran gehindert wird, ihren Zenit zu erreichen; ansonsten

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aber gehören das Altern und der Tod zum Leben selbst und sollen ebenso positiv aufgenommen werden.

6.

Futuristische Bilder des Alter(n)s – nicht nur bei Babylon 5

Seit 1998, als die letzte Folge erstmals ausgestrahlt wurde, haben sich auch andere Science-Fiction-Serien Fragen des Alter(n)s angenommen und diese in ähnlicher Art und Weise realisiert. Ein vergleichbares Verhältnis zur (Un-)Sterblichkeit wird beispielsweise im jüngsten Star Trek-Realserien-Ableger Picard formuliert, wonach erst der Alternsprozess dem Leben Bedeutung gibt. Jean-Luc Picard überlebt dort mit Mitte 90 seinen eigenen Tod, indem sein Bewusstsein in einen Androidenkörper übertragen wird (vgl. Et in Arcadia Ego – Part 2, dt. Et in Arcadia Ego – Teil 2, PIC 1.10). Die Trope der Zeitschleife wird auch in der 2020 abgeschlossenen deutschsprachigen Science-Fiction-Serie Dark verwendet: Dort treffen verschiedene Hauptfiguren permanent auf – je nach Perspektive – ältere oder jüngere Pendants ihrer selbst, versuchen aber, aus diesem ewigen Kreislauf auszubrechen. Wenn die dort vorzufindenden Alter(n)snarrationen ähnlichen Mustern folgen wie jene von Babylon 5, lässt sich dies als Indiz für die eingangs vorgestellte These der bedeutenden Rolle von Babylon 5 für die amerikanische Serienlandschaft werten. Die weiterführende Frage, ob die oben beschriebenen Tendenzen zum Umgang mit verschiedenen Altersrollen nicht nur den individuellen Besonderheiten der Serie geschuldet sind, sondern überindividuelle Züge des Science-Fiction-Genres darstellen, darf, wenn überhaupt, erst dann beantwortet werden, wenn neben Star Trek und Babylon 5 auch weitere, nicht kanonische Serien dieses Genres betrachtet werden.

Quellenverzeichnis Serien Babylon 5 (US 1993-1998). — Midnight on the Firing Line (dt. Ragesh 3, 1.1, US 1994), Regie: Richard Compton. — Born to the Purple (dt. Die Purpurdaten, 1.3, US 1994), Regie: Bruce Seth Green. — Infection (dt. Ein unheimlicher Fund, 1.4, US 1994), Regie: Richard Compton. — The War Prayer (dt. Angriff der Außerirdischen, 1.7, US 1994), Regie: Richard Compton. — Deathwalker (dt. Die Todesbringerin, 1.9, US 1994), Regie: Bruce Seth Green. — A Voice in the Wilderness – Part I (dt. Angriff der Aliens – Teil 1, 1.18, US 1994), Regie: Janet Greek. — Babylon Squared (dt. Verloren in der Zeit, 1.20, US 1994), Regie: Jim Johnston. — The Quality of Mercy (dt. Die Heilerin, 1.21, US 1994), Regie: Lorraine Senna Ferrara. — The Coming of Shadows (dt. Schatten am Horizont, 2.9, US 1995), Regie: Janet Greek. — In the Shadow of Z’ha’dum (dt. Das Geheimnis von Z’ha’dum, 2.16, US 1995), Regie: David Eagle. — Point of No Return (dt. Kriegsrecht, 3.9, US 1996), Regie: Jim Johnston. — Ceremonies of Light and Dark (dt. Ein neuer Anfang, 3.11, US 1996), Regie: Jesús Treviño.

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— War without End – Part I (dt. Ranger Eins, 3.16, US 1996), Regie: Michael Vejar. — War without End – Part II (dt. Tausend Jahre durch die Zeit, 3.17, US 1996), Regie: Michael Vejar. — Z’ha’dum (dt. Der Alleingang, 3.22, US 1996), Regie: Adam Nimoy. — Whatever Happened to Mr. Garibaldi? (dt. Der Letzte des Kha’ri, 4.2, US 1996), Regie: Kevin James Dobson. — Falling towards Apotheosis (dt. Das Monster auf dem Thron, 4.4, US 1996), Regie: David Eagle. — Into the Fire (dt. Das dritte Zeitalter, 4.6, US 1997), Regie: Kevin James Dobson. — The Face of the Enemy (dt. Homo Superior, 4.17, US 1997), Regie: Michael Vejar. — Movements of Fire and Shadow (dt. Der letzte Befehl, 5.17, US 1998), Regie: John C. Flinn III. — The Falling of Centauri Prime (dt. Die Bürde des Imperators, 5.18, US 1998), Regie: Douglas E. Wise. — Sleeping in Light (dt. Der Weg ins Licht, 5.22, US 1998), Regie: J. Michael Straczynski. Star Trek: The Next Generation (dt. Das nächste Jahrhundert, US 1987-1994). — Too Short a Season (dt. Die Entscheidung des Admirals, 1.16, 1988), Regie: Rob Bowman. Star Trek: Voyager (US 1995-2001). — Innocence (dt. Unschuld, 2.22, US 1996), Regie: James L. Conway. Star Trek: Picard (US 2020). — Et in Arcadia Ego – Part 2 (dt. Et in Arcadia Ego – Teil 2, 1.10, US 2020), Regie: Akiva Goldsman.

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Verhandlungen des Populären: Alter(n) in David Lynchs und Mark Frosts Twin Peaks: The Return Irene Husser

Ein Blick auf die Serienlandschaft seit 2000 lässt die Vermutung aufkommen, dass die Würdigung des Alters als distinkte Lebensphase, in der der Mensch Weisheit und Reife erlangt und der deshalb ein eigener Wert, wenn nicht gar Mehrwert gegenüber anderen Lebensabschnitten zukommt, nicht mit den Grundsätzen der Populärkultur vereinbar ist. Freilich lassen sich zahlreiche Serienbeispiele wie Sex and the City (1998-2004), Gilmore Girls (2000-2007; 2016), How I Met Your Mother (2005-2014), Community (20092015), New Girl (2011-2018) oder Fleabag (2016; 2019) nennen, die sich dem Thema des Alterns und des Reif- und Mündig-Werdens, seltener auch des hohen bzw. höheren Alters, annehmen. In diesen geht es allerdings vor allem darum, Altern als einen diskontinuierlichen, nicht-linearen Prozess darzustellen und Abstand von einem Lebensstufenmodell zu nehmen, in dem Lebensphasen einander ablösen und klare Grenzziehungen zwischen Jugend und Alter getroffen werden können. Beliebtes Sujet populärer Serien ist daher das verzögerte oder unabgeschlossene Erwachsen-Werden. Die Populärkultur gesteht alten und alternden Figuren zu, jugendlich zu bleiben, und lotet die Turbulenzen dieser Diffusion aus. Freilich kennt auch die ›Höhenkammliteratur‹ die Figur des/r jugendlichen bzw. junggebliebenen – etwa des/r verliebten – Alten, thematisiert diese Entgrenzung aber vor allem in ihrer normverletzenden Wirkung und führt die gesellschaftliche Sanktionierung der Figuren vor (man denke an Thomas Manns Der Tod in Venedig oder Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin). Dahingegen forciert die Populärkultur eher die Normalisierung dieser Grenzüberschreitungen1 im Sinne des ›flexiblen Normalismus‹ (vgl. Link 2013: 206f.). Sie ist weniger an Vorstellungen des ehrwürdigen Alter(n)s denn an Figurationen der Grenzüberschreitung interessiert. Dementsprechend sind in der Forschung serielle Formate als besonders wegweisend und innova1

Hierbei gilt es allerdings zu bedenken, dass diese Grenzüberschreitungen durchaus zeitlich-räumlich begrenzt sein können. So wird zum Beispiel in Sex and the City, New Girl oder How I Met Your Mother den Figuren zwar zugestanden, in ihren Zwanzigern bzw. Dreißigern noch nicht erwachsen zu sein, doch erkunden diese Serien vor allem in ihren Endstaffeln die Reifung der Protagonist*innen und ihren Übertritt in eine neue Lebensphase.

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tiv beurteilt worden, die den »›slice-of-life approach‹ to aging« (Oró-Piqueras/Wohlmann 2016: 11) überwinden und das Altern als komplexes nicht-lineares Geschehen zur Darstellung bringen. Der serielle »›Zwang‹ zur Fortsetzung« (Schleich/Nesselhauf 2016: 141) und Wiederholung kann neue Möglichkeiten der Repräsentation von Alterungsprozessen eröffnen, denen die Herausgeber*innen des Sammelbandes Serializing Age. Aging and Old Age in TV Series subversives kulturelles Potenzial zuschreiben: »These complex and multi-layered relations of TV series to temporality seem to offer alternatives to the chronological and linear notions of standardized time or ›clock‹ time.« (OróPiqueras/Wohlmann 2016: 11) In diesem Beitrag möchte ich den Blick auf serielle Altersfigurationen richten, die die postmoderne, in der Populärkultur beworbene Flexibilisierung traditioneller Lebensstufenmodelle auf den Prüfstand stellen, indem sie das Alter als einen mit Reife und Weisheit verbundenen Lebensabschnitt zur Geltung bringen und sich damit in den Diskurs2 des Alterslobes einschreiben. Der Diskurs des Alterslobes, der eine erste, kanonisch gewordene Ausarbeitung in Platons Nomoi gefunden hat, erfährt vor allem im 18. Jahrhundert einen enormen Aufschwung. Die »Altenverehrungsrhetorik« der Aufklärung gilt dem »moralisch hochgestimmten, exzeptionellen Alter« (Göckenjan 2007: 132) und verfolgt damit eine pädagogische Funktion. Der alte Mensch, der sein Leben in den Dienst der Gemeinschaft und der nächsten Generation stellt, wird zu einer »Andachtsfigur bürgerlicher Werte« und zum »Symbol einer vernünftigen Lebensordnung« (Göckenjan 2000: 102f.). Diesen kulturellen Sonderstatus büßt das Alter im 19. Jahrhundert allmählich ein, bis es schließlich um 1900 seine Funktion, gesellschaftliche Werte zu repräsentieren, endgültig an die Jugend abtritt: »Jugend wird Metapher der Moderne.« (Göckenjan 2007: 134) Dieser Tendenz folgend haben die im Diskurs des Alterslobes positiv codierten Werte wie »Erfahrung, Weisheit, Urteils- und Leitungsfähigkeit, […] Dauer und Kontinuität« (Göckenjan 2007: 129) mit der Durchsetzung des Kreativitätsdispositivs und der damit einhergehenden Wertschätzung des Neuen im 20. Jahrhundert (vgl. Reckwitz 2012) ihre kulturelle Breiten- und Tiefenwirkung weitgehend eingebüßt. Aktuelle Diskurse des Alterslobes können in ihrer Unzeitgemäßheit sonach kritisches Potenzial mobilisieren, das es bei der Frage nach ihrem kulturellen Stellenwert einzuholen gilt. Trotz der sozio-kulturellen Marginalisierung des (hohen) Alters ist die Figur des alten Weisen3 zu einem kulturellen Archetyp geronnen, der mitunter in der Gegenwartsliteratur revitalisiert wird (vgl. zum Beispiel Gunreben 2016: 365-428) und auch der Populärkultur nicht fremd ist, so etwa in der – vorwiegend männlichen – Mentor-Figur (vgl. Casado-Gual u.a. 2019). Während jedoch populäre Mentor-Narratives den Fokus auf die jungen Held*innen legen (zum Beispiel Luke und Anakin Skywalker und ihre 2

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Gerd Göckenjan unterscheidet vier Typen des Altersdiskurses: Alterslob, Altersschelte, Altersklage und Alterstrost, die ihre Ursprünge in der Antike haben und das Reden über Alter(n) bis heute prägen (vgl. Göckenjan 2007: 127f.). Marie Gunreben betont die geschlechtsspezifische Codierung der Altersweisheit. Zwar wird im 19. Jahrhundert mit der Großmutter ein positives Modell weiblichen Alters entworfen, doch ist diese »von der geistigen Größe und der Autorität des alten weisen Mannes […] weit entfernt«, weshalb festgestellt werden kann: »Grundsätzlich sind Ikonographie und Topik der Altersweisheit […] in hohem Maße männlich konnotiert« (Gunreben 2016: 57).

Verhandlungen des Populären

Mentoren Obi Wan Kenobi und Yoda aus der Star-Wars- oder Harry Potter und Professor Dumbledore aus der Harry-Potter-Reihe) und die Altersweisheit so in den Dienst der Aus-/Bildung der Jugend stellen, sollen in diesem Beitrag Figurationen der Altersweisheit untersucht werden, die diese narrative Hierarchisierung umgehen und das Alter damit auch als Gegenentwurf zur Jugend- und Populärkultur ins Feld führen. Mit David Lynchs und Mark Frosts Twin Peaks: The Return (US 2017)4 ist eine Serie in den Blick zu nehmen, die ein Alterswerk in der Filmographie von David Lynch darstellt. In der dritten Staffel von Twin Peaks thematisiert Lynch seinen Status als ikonischer Filmemacher, stellt die filmischen und literarischen Einflüsse seines Schaffens (Kafka, Kubrick) aus und sucht immer wieder den Bezug auf sein bisheriges Filmwerk (vgl. Husser 2019: 249-252). Diese Einordnung von Twin Peaks: The Return in Lynchs Œuvre kommt einer Selbsthistorisierung gleich, die sich jedoch nicht darin erschöpft, einen nostalgischen Rückblick auf die Meilensteine der Film- und Seriengeschichte zu werfen, sondern auch die Bedingungen der künstlerischen Produktion reflektiert – und das liegt nicht zuletzt an der Omnipräsenz des Themas Alter(n). Henriette Herwig u.a. argumentieren, dass sich Altersfilme dadurch auszeichnen, dass sie Genres neu codieren (vgl. Herwig u.a. 2016: 15). Aufgrund der Marginalisierung des Alters in zahlreichen Filmgenres zwinge die Besetzung der genretypischen Rollen mit alten Figuren zur Neuverhandlung der generischen Merkmale und Konventionen. So machen Herwig u.a. für David Lynchs Straight Story (1999) eine Subversion des Road Movies geltend, insofern hier die Filmhandlung auf einen 73-jährigen Protagonisten zugeschnitten wird, der die genretypische Reise auf einem Rasenmäher unternimmt (vgl. Herwig u.a. 2016: 16). In diesem Sinne soll in dem vorliegenden Beitrag der subversive Charakter der Altersfigurationen in Twin Peaks: The Return beleuchtet werden, wobei jedoch weniger die generische Dimension der Serie zu betrachten ist. Vielmehr möchte ich nachweisen, dass in Twin Peaks 3 die kulturellen Stereo- und Archetypen der alten Weisen als Antwort auf Probleme populär-seriellen Erzählens konzipiert sind. Lynch hat sich, obschon er vornehmlich als visionärer Filmemacher und Vertreter des Avantgarde-Kinos in Erscheinung getreten ist, immer wieder begeistert von den narrativen Möglichkeiten der Fernsehserie gezeigt: »In a continuing story, not knowing where this is all taking you is thrilling. Seeing and discovering the way is a thrill. That’s why I like the idea of TV, to go on a continuing who-knows-where story.« (Lynch 2005: 281) Lynch schätzt die Offenheit und Unabgeschlossenheit des seriellen Formats, weil es zum einen Raum für Improvisationen, Assoziationen und spontane Einfälle bietet, zum anderen seiner Ästhetik des Unheimlichen, Phantastischen und Surrealen entgegenkommt. In Twin Peaks: The Return loten Lynch und Frost nun die Möglichkeiten, aber auch Grenzen populär-seriellen Erzählens aus und legen mit dem Diskurs des Alterslobes Leerstellen der zeitgenössischen Serienkultur frei.

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Im Folgenden zitiert mit der Sigle TP und der Angabe von Staffel- und Episodennummer.

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1.

Serielles Erzählen und populäre Serialität

Unter dem Begriff der Serie, Serialität bzw. des seriellen Erzählens sind künstlerische Formen zu verstehen, die durch »die Aneinanderreihung von Elementen und/oder durch mehr als zwei Wiederholungen« (Blättler 2003: 503) zustande kommen. Serien können also das Ergebnis einer Präsentation oder Anordnung sein, die bereits existierende Elemente zueinander in Beziehung setzt, oder eine künstlerische Produktionspraxis bezeichnen, die der Logik der Wiederholung folgt. Auch wenn Serialität heutzutage oft mit Populärkultur gleichgesetzt wird, gilt es, zu differenzieren. Serien stellen keine Erfindung der populären Massenkultur des 20. Jahrhunderts dar: »Seriell erzählt wird vermutlich, seitdem überhaupt erzählt wird.« (Fröhlich 2018: 6) Nichtsdestotrotz lässt sich eine historisch gewachsene Affinität zwischen serieller Form und populärkultureller Produktionsweise feststellen. So gewinnt die Serie »ihre eigentliche, überragende Bedeutung« erst in den »zeitbasierten Medien« der industriellen Populärkultur (Kino, Fernsehen, Radio), haben diese doch die Normierung der formalen Eigenschaften seriellen Erzählens (Einhaltung eines genau fixierten zeitlichen Umfangs, Rahmung durch einen Vor- und Abspann u.a.) maßgeblich befördert (Hickethier 2003: 398). Dabei konnte die Serie überhaupt zu einer zentralen Produktionspraxis der Populärkultur avancieren, weil dieser die Logik der Wiederholung inhärent ist. Die industrielle Populärkultur untersteht dem Gebot des Neuen, ist »grundsätzlich eine Bejahung der Vergänglichkeit, der Vorläufigkeit aller Kulturgüter und eine Negation der ewigen oder auch nur lang dauernden Werte«, wobei die »daraus erwachsende kulturelle Inkohärenz und Instabilität kompensiert [werden muss] durch die Wiederholung, das kulturelle Recycling oder Revival« (Engell 2004: 192). Die Serie als Kunst der Wiederholung ist also gewissermaßen prädestiniert für die industrielle Populärkultur, die eine Kultur der Wiederholung darstellt. Gerade aufgrund ihres Wiederholungscharakters sehen sich serielle Formen bis heute dem Vorwurf der Trivialität ausgesetzt. Bereits Umberto Eco erklärt das Spannungsfeld von Wiederholung und Innovation zum Grundproblem der seriellen Produktion, stellt dabei aber klar, dass Originalität und Serialität sich keineswegs ausschließen müssen: »die Serie [steht] nicht notwendig im Gegensatz zur Innovation« (Eco 1988: 169). Freilich besteht die Herausforderung serieller Künste darin, »Reproduktion als Innovation zu betreiben« (Jahn-Sudmann/Kelleter 2012: 207), dem künstlerischen und gegebenenfalls ökonomischen Innovationsdruck gerecht zu werden und dabei gleichzeitig wiedererkennbar zu bleiben. In der seriellen Kunst haben sich dementsprechend unterschiedliche Verfahren der innovativen Reproduktion entwickelt, so etwa die serielle Reihung, Variation, Permutation, Progression, Rotation oder Reversion (vgl. van Lil 2001; Blättler 2003: 504). Für serielle Produkte der populären Kultur machen Andreas Jahn-Sudmann und Frank Kelleter vor allem die Überbietung, also die »wiederholte Intensivierung erfolgreich etablierter Distinktionsmerkmale«, als zentrales Reproduktionsprinzip geltend: »Erzähltechnisch kann das heißen, dass man dieselbe Geschichte noch einmal, aber in gesteigerter (und somit potenziell neuer) Form präsentiert, etwa mit mehr Figuren oder sichtbar höheren Produktionskosten oder spektakuläreren Spezialeffekten.« (Jahn-Sudmann/Kelleter 2012: 207, H. i. O.) So hat sich im Kontext des Quality TVs die Steigerung von narrativer Komplexität als ein

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bewährtes Mittel der intra- und interseriellen Überbietung und Erneuerung etabliert (vgl. Rothemund 2013; Klein 2012; Mittell 2012). Nicht genug zu betonen ist, dass Innovation im populär-seriellen Kontext eben nicht das radikal Neue im avantgardistischen Sinne meint, sondern das Ergebnis der Variation ästhetischer und narrativer Parameter darstellt, durch die sich die Identitätsbildung sowie intra- und interserielle Profilierung vollzieht. In Fernsehserien steht die Amplifikation der seriellen Reihe deshalb für gewöhnlich im Zeichen der Rückversicherung der Diegese; auch dort, wo serielle Parameter variiert werden, muss das Produkt seinen Wiedererkennungswert behaupten. Insofern handelt es sich bei Strategien der Intensivierung, Überbietung und anderweitigen Innovation um Ausdifferenzierungen und Neuperspektivierungen der Diegese, die das serielle Weltmodell bestätigen, indem sie es – bestenfalls – konsistent weiterentwickeln. Aufgrund dieser »rekursive[n] Dynamik« (Jahn-Sudmann/Kelleter 2012: 207, H. i. O.) neigen Serien zur Etablierung eines zirkulären Zeitmodells. Am eindringlichsten zeigt sich der statisch-zirkuläre Charakter der seriellen Variation im Fall von Episodenserien (series); diese zeichnen sich dadurch aus, dass am Ende jeder Folge der narrative Ursprungszustand wiederhergestellt wird: »Ein Mörder mag gefasst sein, doch das Böse bleibt bestehen und steht pünktlich zum Sendebeginn der nächsten Folge wieder bereit, um die Protagonisten zu beschäftigen. Ob man das Ganze als Kette von Erfolgen oder eher als Treten auf der Stelle ansieht, ist eine Frage der Perspektive.« (Ruchatz 2012: 84) Jede episoden- oder staffelweise Variation und gegebenenfalls Überbietung des Verbrechens erzählt von der Wiederkehr des Verbrechens, die das eigentliche Thema der Krimi-Serie bezeichnet. Gleichermaßen lässt sich aber auch für klassische Fortsetzungsserien geltend machen, dass die Variationen der (größtenteils privat-familiären) Konflikte ein Modell von Welt installieren, das »die Komplexität der Probleme zum Credo« (Krah 2010: 99) erhebt. Die syntagmatische Verkettung serieller Einheiten stellt ein Voranschreiten der Handlung in Rechnung, das durch die (intensivierte) Wiederholung serieller Muster Gefahr läuft, gesprengt zu werden. Denn wenn sich nur noch das Gleiche in überbietender Form ereignet, werden die seriellen Elemente untereinander austauschbar und ihre lineare Abfolge dadurch obsolet; Veränderungen in der Zeit lassen sich dann nur noch graduell durch das Maß der Überbietung feststellen. Folglich weisen also sowohl Episoden- als auch Fortsetzungsserien ebenso wie serielle Mischformen eine zirkuläre Dynamik auf, der das Gebot der Innovation und Überbietung nicht entgegen-, sondern tendenziell zuarbeitet. Mit Jochen Venus lässt sich die serielle Tendenz zur Zirkularität als zeitliche Dimension der populärkulturellen Ästhetik ›spektakulärer Selbstreferenz‹ lesen. Venus argumentiert, dass sich populäre Kulturen durch die Produktion einer »möglichst aufmerksamkeitsträchtigen Sichtbarkeit« (2013: 62) auszeichnen, die in erster Linie auf sich selbst verweist und eben nicht ein Korrelat in der außerbildlichen Wirklichkeit meint. Diese »Selbstreferenz populärer Kulturen konstituiert (und stimuliert!) – und zwar gemäß ihres ästhetischen Prinzips – ein selbstähnliches Formenrepertoire«, das zur Serienbildung neigt: Wann immer populäre Kulturen einen Aufmerksamkeitserfolg erzielen, kristallisiert an diesem Erfolg sofort ein Konvolut ähnlicher Produkte. Jedes Faszinosum geht un-

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mittelbar in Serie, strahlt aus, metastasiert und bezieht immer mehr Rezipienten in die spezifische Form spektakulärer Selbstreferenz ein. Auf diese Weise emergieren Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels. (Venus 2013: 67) Die Überlegungen von Venus und Jahn-Sudmann/Kelleter lassen sich an dieser Stelle zusammenführen: Der Hang zum Spektakel und Spektakulären versetzt populäre Kulturen in den Modus der Überbietung; populäre Artefakte reproduzieren sich selbst, indem sie ›metastasieren‹ und Replikate ihrer selbst hervorbringen, die ›höher, schneller, weiter‹ als das Original sind. Dabei ist der spektakulären Selbstreferenz populärer Kulturen prinzipiell kein Ende gesetzt, zeichnen sich doch serielle Künste durch eine (relative) Offenheit und Unabgeschlossenheit aus. In der Fernseh- und Serienforschung sind dahin gehend »indefinites Andauern« (Engell 2012: 197), der »›Zwang‹ zur Fortsetzung« (Schleich/Nesselhauf 2016: 141), die »Vermeidung« (Niepold 2016: 86) und der »Aufschub eines endgültigen Endes« (Kelleter 2012: 12) als Charakteristika seriellen Erzählens ausgewiesen worden. Ein auf Unendlichkeit angelegtes Erzählen kommt dabei besonders in Genres zum Tragen, deren Weltmodell eine epistemologische Unfassbarkeit in Rechnung stellt. Hannes Niepold führt aus, dass »durch diese eingeschränkte Fass- und Überschaubarkeit serialer Erzählungen […] eine besondere Eignung zur Darstellung des Phantastischen« (Niepold 2016: 85) besteht. Auch Krimiserien in der Tradition des Film- und Neo-Noirs wie True Detective (2014-2015; 2019) finden in der Offenheit der seriellen Form die Möglichkeit, die Komplexität und Undurchdringlichkeit des modernen Verbrechens zu erzählen (vgl. Husser 2021), und loten die mit der Ästhetik der Offenheit einhergehende »Form von Tragik [aus], die eben nicht die Tragik des Endes ist, sondern die Tragik des Nicht-Endes, die Tragik des Unendlichen« (Binotto/Pfister 2015: 59). Wenn also im Folgenden dargelegt werden soll, dass in Twin Peaks: The Return die Bedingungen der seriellen Fortsetzung reflektiert werden, so ist stets mit zu bedenken, dass diese intra- und metaseriellen Auseinandersetzungen eine populärkulturelle Dimension aufweisen und als Selbstpositionierungen der Kultserie zu lesen sind.

2.

Twin Peaks: The Return – Abgründe der Überbietung5

Fast ein Vierteljahrhundert nach der Absetzung der bereits bei ihrer Erstausstrahlung 1990-1991 zum Kult avancierten Crime-Mystery-Horror6 -Serie Twin Peaks haben David Lynch und Mark Frost 2017 die Geschichte um den Mord an Laura Palmer zurückgebracht – genauso, wie es die Figur Laura Palmer in der letzten Folge der zweiten Staffel prophezeit: »Iʼll see you again in 25 years.« (TP, US 1990-1991) Die Wiederaufnahme der Serie ist dabei weitgehend der Logik der Überbietung verpflichtet: Figuren, Raum und Zeit werden vervielfältigt, stilistische Merkmale der ersten beiden Staffeln (zum Beispiel das retardierende Erzählen) intensiviert. Diese Innovationen werden in Twin Peaks: 5 6

Die Ausführungen in diesem Kapitel des Beitrags orientieren sich an meinem Aufsatz zur Komplexität des Bösen in Twin Peaks: The Return, vgl. Husser (2019). Neben Elementen der Kriminalgeschichte und des Mystery-Genres vereinigt Twin Peaks auch Merkmale der Soap Opera und der Komödie. Zur Genrediskussion siehe auch Liebrand (2012).

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The Return nun allerdings in der Diegese zum Problem, insofern die Strategie der Überbietung auch die Ordnung der erzählten Welt betrifft und damit den Grundkonflikt der Serie vertieft. In Twin Peaks 1 und 2 wird ein dualistisches Weltbild entworfen, das durch den Widerstreit zwischen Gut und Böse geprägt ist. Dieser Widerstreit trägt existenziell-psychologische Züge, weist aber auch eine mythisch-metaphysische Dimension auf. So sind die extradimensionalen Räume der Black und White Lodge zum einen als Projektionen von Agent Coopers innerem Zwiespalt angelegt, der am Ende der zweiten Staffel tatsächlich zur Identitätsspaltung der Figur in den ›guten‹ Cooper und seinen bösen Doppelgänger Mr. C. führt; die Black und White Lodge werden auf der anderen Seite aber auch kontextualisiert als Mythologeme lokaler Legenden der Ureinwohner*innen und damit als Orte, die einer alternativen Zeit- und Wirklichkeitsdimension zuzuordnen sind und nicht zuletzt vom US-Militär und FBI im Rahmen des Blue-Book-7 bzw. Blue-Rose-Projekts erforscht werden. Auch die dritte Staffel ist wieder thematisch von dem Konflikt zwischen Gut und Böse geprägt, wie sich an einer allegorisch-metareflexiv angelegten Sequenz aus der 13. Folge ablesen lässt: Sarah Palmer sieht in ihrem Wohnzimmer einem Boxkampf auf dem Fernsehgerät zu, bei dem ein Boxer in einer weißen Shorts und ein Boxer in einer schwarzen Shorts aufeinandertreffen und der Boxer in der weißen Shorts zu Boden geht, woraufhin die etwa 30 Sekunden lange Szene wieder von Neuem abgespielt wird. Während der Boxkampf in Endlosschleife vonstattengeht, laufen Sarah Palmers Bewegungen linear ab. Im Bild finden sich also zwei Zeitordnungen ein, die die Kopräsenz von zwei Wirklichkeitsordnungen reflektieren. Das elektrische Knacken, das die Wiederholung des Boxkampfes einläutet, zeugt von der Anwesenheit einer anderen, medial sichtbar gemachten Zeit- und Wirklichkeitsdimension, die neben der Gegenwart persistiert und sich durch die Wiederholung des Immergleichen auszeichnet. Was wiederkehrt, ist dabei nicht nur der Kampf zwischen dem weißen und schwarzen Boxer, die hier auf die White und Black Lodge, auf das Prinzip des Guten und des Bösen verweisen, sondern auch die Niederlage des weißen Boxers, der in immer neuen Anläufen den Wettkampf mit seinem Gegner sucht. Der Grundkonflikt von Twin Peaks ist also serieller Art, was auch in dem medialen Arrangement (Fernsehgerät) widergespiegelt wird: Die Serie erzählt nicht nur die Geschichte einer Wiederholung, der stets wiederkehrende Konflikt zwischen Gut und Böse ermöglicht überhaupt erst die serielle Narration. Lynch und Frost konnten Twin Peaks in der dritten Staffel zurückbringen, weil das Thema der Serie die Wiederholung ist. Dabei zeigt sich in der Wiederholung – wie die Boxkampf-Sequenz in nuce zur Schau stellt – die Übermacht des Bösen, das das Gute immer wieder zu Boden zwingt. Dieses Ungleichgewicht zwischen Gut und Böse wird in Twin Peaks: The Return immer wieder durchgespielt: Der der Sphäre des Guten zugeordnete Feuerwehrmann reagiert – wie sein Name sagt – auf die vom Bösen gestiftete Zerstörung, das in der Serie mit dem Motivkomplex des Feuers, der Elektrizität und Atomkraft assoziiert ist (vgl. Husser 2019: 236-239); die Erschaffung von Laura Palmer ist eine Antwort auf die Erschaffung 7

Die Serie nimmt hier Bezug auf das vom Geheimdienst der US-Luftwaffe zwischen 1952 und 1970 durchgeführte Project Blue Book, das zur Sammlung und Auswertung von mutmaßlichen UFOSichtungen eingerichtet wurde.

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des Dämons ›Bob‹ infolge eines Atombombentests. Schließlich bringt auch das offene Ende der dritten Staffel, das im Sinne des Phantastischen mehr Fragen aufwirft denn beantwortet, die Uneinholbarkeit des Bösen zum Ausdruck: Laura nimmt eine zentrale Stellung – wenn auch nicht klar ist, welche – im Kampf gegen das Böse ein, sodass Coopers Bemühungen in Staffel 3 maßgeblich auf ihre Rettung zielen. So kann er zwar ihre Ermordung 1989, mit der das Seriengeschehen in der ersten Staffel eingeläutet worden ist, durch eine Zeitreise in die Vergangenheit verhindern, doch verschwindet Laura wieder und wird in einem Paralleluniversum als Carrie Page untergebracht. Der FBI-Agent kann sie dort 25 Jahre später aufspüren, allerdings geht sein Plan, Laura alias Carrie mit ihrer Mutter – die offensichtlich von der »extreme negative force« (TP, 3.17, US 2017) Judy besetzt wird – in Twin Peaks zusammenzuführen, nicht auf, weil auch er sich in einem Paralleluniversum wiederfindet. Der sonst souveräne, scharfsinnige und zuverlässige Cooper wirkt am Ende von Twin Peaks: The Return desorientiert und hat die Kontrolle über Geschehen, Zeit und Raum verloren. Dabei wird ersichtlich, dass diese Niederlage Coopers, die eine Fortführung der Anstrengungen in Rechnung stellt, durch das Wirken unbekannter dunkler Mächte herbeigeführt worden ist; Cooper kommt in der letzten Szene dem Boxer in der weißen Shorts gleich, der von einem Bösen, das sich seinem Verständnishorizont entzieht, übermannt worden ist. Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, wie in Twin Peaks: The Return die Komplexität des Bösen durch ein Erzählen in Szene gesetzt wird, das Leerstellen und Unsicherheiten stiftet und so nicht nur Aufklärung – sowohl von Seiten der Figuren als auch der Rezipient*innen – unterbindet, sondern zur Disposition stellt, ob Wissen über das Böse überhaupt möglich ist (vgl. Husser 2019). Im Vergleich zu den Staffeln 1 und 2 ist das Böse in Twin Peaks: The Return umfassender, kosmischer und dadurch intransparenter und undurchdringlicher gestaltet: Der innere Konflikt des Hauptprotagonisten ist in Twin Peaks 3 zu einem Widerstreit von überindividueller Tragweite angewachsen, der aufgrund der Nicht-Identifizierbarkeit der Antagonist*innen, ihrer Intentionen und Funktionen undurchsichtig bleibt. Ist der Diskurs des Moralisch-Okkulten in Staffel 1 und 2 vornehmlich auf Cooper zugeschnitten, wird in Twin Peaks: The Return mit der Pluralisierung von Figuren, Handlung, Raum und Zeit der serielle Grundkonflikt narrativ ausgeweitet und vertieft, was für die Darstellung und Konzeption des Bösen weitreichende Folgen hat: Aus dem domestic horror ist ein cosmic horror geworden, der allerdings nicht aus der Erfahrung der Bedeutungslosigkeit des menschlichen Daseins erwächst, sondern aus der Unsicherheit hinsichtlich der Bedeutung des Bösen. Diese Komplexität des Bösen ist das Ergebnis der seriellen Wiederholungsdynamik, die dem Gesetz der Überbietung folgt. Das populärkulturelle Reproduktionsprinzip der Innovation durch Überbietung schlägt in Twin Peaks 3 auf die diegetische Ebene durch, wo es als Problem thematisch wird. Dabei folgt der im Zeichen der Differenz stehende Ausbau der Diegese einer sozialkritischen Agenda: Lynch und Frost zeigen sich in Twin Peaks: The Return als Seismographen der amerikanischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die von Drogen, Armut, Arbeitslosigkeit, Waffen-/Gewalt, fehlenden sozialen Infrastrukturen, einem desolaten Gesundheitssystem usw. bestimmt wird und in der Fortschritt nur noch im Bereich der Technik denkbar ist. Dabei sind die Sphäre des Übernatürlichen und des Weltlichen aufs Engste miteinander verknüpft, das metaphysische Böse weist eine Wechselwir-

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kung mit der Menschheits- und Technikgeschichte auf: Die Entstehung des zentralen Antagonisten der ersten beiden Staffeln, des Dämons ›Bob‹, wird auf den 16. Juli 1945 datiert; bei der ersten militärischen Nutzung der Atomkraft im Rahmen des Trinity Tests wird im Sinne der Dialektik der Aufklärung mit Bob ein mythisch-archaisches Böses in die Welt gesetzt, das sich der Kontrolle des Menschen entzieht (vgl. Husser 2019: 245-249). Twin Peaks: The Return setzt die weltlich-lineare Zeitordnung in Beziehung zur zyklischen Zeit des Mythos und führt vor, dass technischer Fortschritt einen moralischen Rückschritt bedeuten, dass Moderne jederzeit in Mythos umschlagen kann. In dieser ›Verdüsterung‹ einer bereits die Nacht- und Schattenseiten der menschlichen Existenz erkundenden Erzählung zeigt sich das ambivalente Verhältnis von Twin Peaks: The Return zur populären Serienpraxis. Moritz Baßler führt aus, dass für die Entstehung von Kultserien und Serienkulten, also »Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels« im Sinne von Venus (2013: 67), die Inhalte von sekundärer Bedeutung sind: »In Serien, auch literarischen, ist die Diegese die eigentliche Geschäftsidee, die eigentliche Marke, und nicht länger bloß Funktion einer Narration.« (Baßler 2018: 11; vgl. Baßler 2015) Die Rezipient*innen populärer Serien interessierten sich für den spektakulären Ausbau, die ›Metastase‹ der Erzählwelten, weniger für die einzelnen Handlungsstränge und Ent- bzw. Verwicklungen der Figuren; der Wert der seriellen Diegese liege vor allem in der »temporären Bewohnbarkeit ihrer Strukturen« (Baßler 2018: 12). Für Twin Peaks: The Return lässt sich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen feststellen, dass Lynch und Frost zwar die spektakuläre, dem Prinzip der Überbietung folgende Ausweitung der Diegese betreiben, damit allerdings die Erzählwelt entstellen und unkenntlich, gewissermaßen ›unwohnlich‹ machen. Dezidiert wird in Staffel 3 die Unmöglichkeit, zum seriellen Ausgangszustand zurückzukehren, ausgestellt und eine nostalgische Rezeptionshaltung so immer wieder durchkreuzt. In der Dougie-Handlung kommt das serielle Spiel mit der Erweckung und Enttäuschung von nostalgischen Erwartungen paradigmatisch zur Darstellung: Hatte sich die Twin Peaks-Fangemeinde auf die Wiederkehr des sympathisch-genialen Agenten Cooper gefreut, muss sie sich nun den Großteil der dritten Staffel mit seinem katatonischen Alter Ego Dougie Jones begnügen. Lynch und Frost erinnern die Zuschauer*innen daran, was die Identität von Agent Cooper konstituiert, indem sie Dougie Kaffee, Kirschkuchen, eine Polizeimarke, eine Eule u.a. vorsetzen, jedoch vermögen diese Elemente nicht die Verwandlung von Dougie zu Cooper zu initiieren. Für Serien gilt, dass sie sich durch »eine hohe Selbstähnlichkeit« (Baßler 2015: 38) auszeichnen. In der ersten Folge bzw. Staffel wird etabliert, welche narrativen und/oder ästhetischstilistischen Elemente in Serie gehen. Wenn nun Lynch und Frost in Twin Peaks: The Return kultisch gewordene Figuren und Handlungslinien der ersten beiden Staffeln marginalisieren bzw. weglassen, stören sie die ›Anschlussfähigkeit‹ (vgl. Kleiner 2012: 16) der populären Kommunikation und forcieren eine Neuverhandlung der konstitutiven Merkmale der Serie, bei der – so die These – Figurationen der Altersweisheit eine repräsentative Rolle zukommt.

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3.

Modelle der Altersweisheit I – Alter(n) als Kontinuum

Der 25 Jahre umfassende Abstand zwischen der zweiten und der dritten Twin PeaksStaffel macht sich allgegenwärtig bemerkbar: Die Kommunikations- und Informationstechnologien haben sich weiterentwickelt, die sozialen Schieflagen haben sich verschärft – und vor allem sind die Schauspieler*innen sichtlich gealtert. Diese deutlichen Einschreibungen der Zeit in die Körper der Figuren sind Zeichen eines linear verlaufenden Alterungsprozesses, der einen Gegensatz zu der seriellen Logik der Wiederholung bezeichnet, werden allerdings als Gegenentwurf nicht ausgelotet. Twin Peaks 3 zeigt das Alter eben nicht als einen steten Reifungs- und Entwicklungszusammenhang, als das Anhäufen und Aufbereiten von Erfahrungen, durch die man zu einem besonnenen alten Menschen wird – und das hat zweierlei Gründe. Zum einen steht die Produktionspause von einem Vierteljahrhundert dem Rückgriff auf lineare Modelle des Alterns entgegen, zum anderen hat das lineare Zeitmodell im Weltentwurf von Twin Peaks diegetisch einen schweren Stand: Als auf Wiederholung verpflichtete Kunstform bringt das serielle Erzählen immer schon Strukturen der Zirkularität hervor, die mit linearen Erzähllogiken konkurrieren; weil in Twin Peaks das reguläre und das phantastische Realitätssystem miteinander verwoben sind, gerät der weltliche Fortschritt stets in den Sog des sich wiederholenden und somit unentrinnbaren Bösen (so wie in der Boxkampf-Sequenz oder in der Schlussszene angezeigt), womit auch das Erzählen von Alter(n) als linearprogressiver Zusammenhang durchkreuzt wird. So werden denn auch in Twin Peaks: The Return Altersbilder entworfen, die auf dem Prinzip der Wiederholung fußen; Altern wird als Entfaltung des Paradigmas im Syntagma der Zeit zur Darstellung gebracht: Jerry Horne war als Mann in mittleren Jahren in den ersten beiden Staffeln vor allem als triebhafte, nach dem Primat des Genusses handelnde und moralisch fragwürdige Figur in Erscheinung getreten, die eine Vorliebe für französische Brotspezialitäten und exotische Frauen hat. Jerrys Darstellung in Twin Peaks 3 beruht nun auf dem Prinzip der Wiederholung durch Similarität, was vor allem komische Effekte nach sich zieht: Seine orale Fixierung auf Sandwiches ist übergegangen auf den Konsum von Cannabis; nach dem Konsum einer besonders starken Dosis des Rauschmittels wandert Jerry als Prototyp des lächerlichen Alten desorientiert durch die Wälder von Washington. Auch die Figur des Dr. Jacoby ist nach diesem Muster konzipiert: Lynch und Frost greifen ihre charakterlichen Merkmale, Eigenheiten und Spleens aus Staffel 1 und 2 auf und bringen diese in Staffel 3 in übersteigerter und komischer Form zur Darstellung. Der exzentrisch-alternative Psychiater ist nun politischer Aktivist und als Dr. Amp Moderator eines eigenen Podcasts, in dem er in verschwörungstheoretischer Manier zu anti-autoritärem Verhalten aufruft. Während die Darstellung des Alterns als Wiederkehr des Ähnlichen – man ist der gleiche Mensch, nur auf eine andere Art und Weise – komische Effekte zeitigt, steht die Wiederkehr des Gleichen im Zeichen des Tragischen: War bereits Shelly in den ersten beiden Staffeln Opfer eines gewalttätigen Ehemanns, für den sie die Schule abgebrochen und sich in prekären Lebensverhältnissen eingerichtet hatte, so lebt ihre Tochter Becky mit ihrem drogensüchtigen Ehemann Steven, der sie ebenfalls regelmäßig misshandelt, in einem Trailer-Park. Allerdings wiederholt nicht nur Becky die Fehler ihrer Mutter, Shelly selbst ist nach der Trennung von ihrem zweiten Ehemann Bobby Briggs

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wieder unwissentlich mit einem Drogenhändler liiert, der die Bevölkerung von Twin Peaks – so auch ihre Tochter und ihren Schwiegersohn – mit Rauschmitteln versorgt. Tragisch ist dabei allerdings nicht nur die Wiederkehr der Gewalt, sondern auch ihre Steigerung: Shellys Ehemann hatte in der zweiten Staffel einen Mordanschlag auf sie verübt, Becky ist vermutlich von Steven im Rausch umgebracht worden. Das Erzählen des Alter(n)s im Modus der Wiederholung vermag also sowohl komische als auch tragische Effekte zu zeitigen – subversives Potenzial entfaltet das Alter(n) in Twin Peaks: The Return aber erst dort, wo die serielle Dialektik von zyklischer und linearer Zeit durchkreuzt wird, so etwa im Zeitmodell des Kontinuums, dem repräsentativ die Figuren Norma Jennings und Gordon Cole zugeordnet werden können. Norma ist in den ersten beiden Staffeln die Besitzerin des Double R Diners, das sie mit Liebe fürs Detail führt und das nicht zuletzt aufgrund des hausgemachten Kirschkuchens und des vorzüglichen Kaffees ein regionales Ansehen genießt. Auch 25 Jahre später ist das Double R das Herzstück von Twin Peaks, Treffpunkt von Einheimischen und Reisenden, in der Zwischenzeit hat die nun etwa 70-jährige Norma aber auch ein Franchise-Unternehmen mit sechs Double-R-Filialen gegründet. Als ihr Geschäftspartner vorschlägt, aus Gründen der Profitmaximierung weniger qualitative Zutaten zur Herstellung der Backwaren zu verwenden und den Namen des Diners zu ändern, winkt Norma ab: »[…] in Twin Peaks itʼs been the Double R for 50 years.« (TP, 3.13, US 2017) Norma weigert sich, die Kommerzialisierung und Modernisierung mit zu vollziehen, verkauft ihre Anteile am Franchise-Unternehmen und möchte sich von nun an um ihre Stammkundschaft in Twin Peaks kümmern: »I have a wonderful family. And I want to take care of them.« (TP, 3.15, US 2017) Mit ihrer Entscheidung gegen die betriebswirtschaftliche Innovation und für Tradition und Beständigkeit bewahrt Norma den Raum vor dem Eindringen der Zeit; das Double R wird als idyllischer Ort konserviert, in dem die Zeit zum Stillstand gebracht worden ist, der sich gegen den Fortschritt, aber eben auch gegen den Regress und die schlechte Unendlichkeit versperrt. Das im Stil der 1950er-Jahre8 gehaltene Interieur des Diners verweist bereits auf das zeitlich Enthobene dieser Mikrowelt, die als ein Bollwerk gegen die Zumutungen der sowohl zyklischen als auch linearen Zeit erscheint. Eine weitere Figur des hohen Alters, die Kontinuität verkörpert, ist der von Lynch selbst gespielte Gordon Cole, ein FBI-Direktor in seinen Siebzigern. Gordon ist gleichfalls bereits in den ersten beiden Staffeln als anachronistische Figur in Erscheinung getreten: Als Mann mittleren Alters ist er auf das Tragen eines Hörgeräts angewiesen; sein dementsprechend lautes, schrulliges Auftreten verleiht dem damals 40-jährigen Züge eines alten Mannes. Auch der Name Gordon Cole verweist auf eine andere, vergangene Zeit, ist er doch dem Film-Noir-Klassiker Sunset Boulevard aus dem Jahr 1950

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Tatsächlich greifen die ersten beiden Staffeln – etwa mit der Auswahl der Musik-Titel oder der Figur des James Hurley, die an James Dean angelegt ist – auf die populäre Ästhetik der 1950er Jahre zurück. In Twin Peaks: The Return werden die Reminiszenzen an diese vermeintlich heile Welt von Lynchs Kindheit allerdings nur noch parodistisch (so in der Stilisierung von Wally Brando zu Marlon Brandos Figur in The Wild One) zitiert, was auch damit einhergeht, dass die 1950er Jahre in der dritten Staffel als Jahrzehnt der atomaren Aufrüstung neu codiert werden. Eigens in Normas Diner können die positiven Aspekte der Vergangenheit konserviert werden.

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entnommen. In der dritten Staffel ist Gordon noch immer der etwas verschrobene, aber stets aufmerksame und feinfühlige FBI-Direktor, der zwar äußerlich sichtlich gealtert ist, aber sich sonst kaum verändert hat und sogar im hohen Alter noch schöne, deutlich jüngere Frauen für sich einzunehmen vermag. Die Konzeption der Gordon-Figur fügt sich in die Reihe der mitunter agilen, vor allem aber gutmütigen und weisen alten Männer9 ein, in die auch Bushnell Mullins, Carl Rodd, Hawk und Sherif Truman einzuordnen sind. Diese Figuren vertreten Werte der Bodenständigkeit, Professionalität, Fürsorge und des Respekts und sind mit einem integralen und intuitiven, kurzum ›weisheitlichen‹ Wissen (vgl. Gunreben 2016: 46-57) ausgestattet. Mit Blick auf Gordon wird diese Weisheit und Tugendhaftigkeit als ein Rückgriff auf althergebrachte, zum Teil auch überholte Umgangsformen ausgewiesen: Als die Stabschefin des FBI, Denise Bryson, Cole gegenüber andeutet, dieser würde die Kollegin Tammy Preston (be-)fördern, weil er ein romantisches Interesse an der jungen attraktiven Frau hat, entgegnet dieser: »Iʼm old-school, Denise, you know that.« (TP, 3.4, US 2017) Gordon erinnert Denise daran, dass er sich als ehemaliger Vorgesetzter trotz ihrer damaligen Eskapaden beim Drogendezernat stets für sie eingesetzt und sie auch vor Anfeindungen, denen sie sich angesichts ihrer Transgeschlechtlichkeit ausgesetzt sah, in Schutz genommen hat, weil er ihr Talent sah – und dass es sich nicht anders mit Tammy verhält, für die er gleichfalls eine Mentor-Funktion übernimmt wie zuvor schon für Denise und Agent Cooper. Diese Professionalität wird als Alterstugend markiert – nicht in dem Sinne, dass sie nur an das hohe Alter gebunden ist – Gordon war ja bereits als Mann in mittleren Jahren dezidiert als gutmütiger Vorgesetzter gezeichnet –, sondern insofern sie ›old-school‹ ist und aus einer anderen Zeit stammt, deren Tradierung den Alten zufällt. Der Konnex von Alter und Kontinuität und seine positive Codierung kommen auch in der Darstellung der White Lodge zum Tragen. Die White Lodge bezeichnet die räumliche Manifestation des metaphysischen Guten und wird in Twin Peaks: The Return von dem Feuerwehrmann und Señorita Dido bewohnt. Augenfällig ist, dass die Szenen in der White Lodge monochrom gehalten sind. Das Schwarz-Weiß-Bild ordnet diesen Raum einer anderen Zeit(-dimension) zu, wobei der Eindruck der Antiquiertheit zusätzlich durch das Interieur verstärkt wird: Der Phonograph, die Art-Déco-Kinokulisse ebenso wie Señorita Didos Kleidung sind dem frühen 20. Jahrhundert zuzuordnen. Die White Lodge wird als zeitliche Enklave, als ein aus der Zeit gefallener Raum inszeniert. Während das Böse in Twin Peaks: The Return mit Technik und Fortschritt in Verbindung gebracht wird, ist das Prinzip des Guten durch Kontinuität und Unzeitgemäßheit definiert; auch die behäbigen, langsamen Bewegungen des Feuerwehrmanns spiegeln den Entschleunigungsmodus, in dem sich die White Lodge befindet, wider und wecken nicht zuletzt Assoziationen einer altersbedingten Fragilität. Damit weisen die Protagonist*innen der White Lodge in ihrem zeitlichen Enthoben-Sein Verbindungen zu den alten Figuren des regulären Realitätssystems auf, die so als lebensweltliche Vertreter*innen des metaphysischen Guten zutage treten. Das Alter wird zur Projektionsfläche von Beständigkeit und Tradition, die alten Figuren zu Statthalter*innen einer 9

Margaret Lanterman ist ebenfalls dem Kreis der alten weisen Figuren zuzuordnen, die jedoch aufgrund der Krebserkrankung der Schauspielerin, die auch diegetisch verarbeitet wird, als Gegenpol zu der Agilität der alten Männer, vor allem Cole und Bushnell, angelegt ist.

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vergangenen Zeit, deren Werte sie in die Gegenwart hinüberretten. Diese Altersbilder greifen auf den aufklärerischen Diskurs des Alters als soziale Leistung zurück, die für die Gemeinschaft bzw. Gesellschaft zu erbringen ist (vgl. Göckenjan 2007: 129): Norma stellt ihr Leben in den Dienst der Twin-Peaks-Gemeinde; Gordon ist Förderer einer jungen talentierten Frau, für deren sexuelle Reize er zwar empfänglich ist, denen er aus Professionalitätsgründen jedoch nicht erliegt. Im Vergleich zu anderen populärkulturellen Imaginationen der Mentorschaft steht in Twin Peaks: The Return allerdings nicht die junge Generation im Zentrum der Aufmerksamkeit – schon weil sich ein narratives Zentrum der Serie durch die Multiplikation von Figuren, Raum und Zeit nicht ausmachen lässt. Vielmehr setzt die dritte Staffel das Alter als sozial und kulturell bedeutsame Lebensphase in Szene, macht zugleich jedoch auch die Bedrohung und die Prekarität des durch das Alter repräsentierten Wertekanons zum Thema. Gerade aufgrund ihrer Anbindung an alte, mitunter gebrechliche und auch – man denke an Margaret Lanterman – sterbende Figuren erweisen sich die Werte der alten Ordnung als höchst anfällig und davon bedroht, von der Zeit erfasst und ausgehöhlt zu werden.

4.

Modelle der Altersweisheit II – Alter(n) als Bruch

Der seriellen Überbietungsdynamik wird in Twin Peaks 3 das zeitliche Modell des Kontinuums gegenübergestellt und vornehmlich an älteren Protagonist*innen realisiert. Diese entgehen der unheilvollen Dialektik von Fortschritt und Wiederholung, indem sie an ihren Wertvorstellungen bedingungslos festhalten und Integrität an den Tag legen. Beständigkeit und Standfestigkeit erscheinen jedoch nicht als einzige Darstellungsweisen der Altersweisheit. Lynch und Frost gestehen ihren alten und alternden Figuren auch Veränderung und Entwicklung zu, die jedoch nicht als allmählicher Reifungsprozess vonstattengehen, sondern sich im Modus des Bruchs ereignen. Exemplarisch eruieren lässt sich das Modell des Alter(n)s als Bruch an Benjamin Horne, Nadine Hurley und Bobby Briggs. Benjamin Hornes Wandlung vom Dandy und skrupellosen Geschäftsmann zum verdienten Mitglied der Gesellschaft vollzieht sich bereits in der zweiten Staffel. Nach den Enthüllungen um den Mord an Laura Palmer gerät Ben in eine psychische Krise: Er leidet an der Wahnvorstellung, Konföderierten-General Robert E. Lee zu sein, und verschanzt sich mit einem Miniaturmodell der Schlacht von Gettysburg in seinem Büro. Dr. Jacoby vermag diese Psychose als »emotional setback« (TP, 2.14, US 1990-1991) zu identifizieren und therapiert Horne mit einem historischen Reenactment des Bürgerkrieges, im Zuge dessen Ben sein Selbstwertgefühl zurückgewinnt. Die psychisch-emotionale Krise wird dabei zur Chance. Nach überstandener Psychose entscheidet sich Horne dafür, seine Verfehlungen wiedergutzumachen: »I have been wrong all these years. I am trying to make up for it.« (TP, 2.18, US 1990-1991) 25 Jahre später kann man die Folgen dieser ›Bekehrung‹ sehen: Ben Horne ist zum ehrenvollen, verantwortungsvollen Mann geworden, der Frauen mit Respekt begegnet und sein Geld dazu nutzt, Unterprivilegierten in der Not finanziell zur Seite zu stehen. Auch an Nadine Hurleys Sinneswandel ist Dr. Jacoby beteiligt. Nadine wird in Staffel 1 als neurotisch-zwanghafte, suizidale Frau von Ed vorgestellt. Ihr Unglück besteht darin zu wissen, dass Ed immer noch an seiner High School-Liebe Norma hängt, aber

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aus Schuldgefühl bei Nadine bleibt. Wie Ben Horne erleidet auch Nadine in der zweiten Twin Peaks-Staffel eine Psychose infolge eines Gedächtnisverlusts. In der Wahnvorstellung, ein Teenager zu sein, trennt sie sich von ihrem Ehemann und geht eine Beziehung mit dem High School-Schüler Mike ein. Doch dieser Zustand ist nicht von langer Dauer: Nach einer Kopfverletzung gewinnt Nadine ihre Erinnerungen und fällt in ihre alten Gewohnheiten und Verhaltensweisen zurück. Ein endgültiger Bruch mit ihrer Vergangenheit und ihrem selbst-/verletzenden Verhalten gelingt Nadine erst in Twin Peaks: The Return. Als treue Zuhörerin von Dr. Jacobys/Dr. Amps Podcast gelangt sie zu der Erkenntnis, dass sie Ed gegenüber eine manipulative »selfish bitch« war und wahre Liebe darin besteht: »giving the other what makes them happy« (TP, 3.15, US 2017). Dieser plötzliche Sinneswandel ist als Erleuchtung in Szene gesetzt; angestoßen durch Jacobys Schimpftiraden und Aufrufe zum selbstbestimmten Handeln entscheidet sich Nadine im gesetzten Alter dazu, einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen und neu anzufangen, womit sie auch die Weichen für einen Neuanfang von Norma und Ed stellt. Während die biographischen Wendepunkte von Ben Horne und Nadine Hurley von der Serie ausgeleuchtet werden, wird Bobby Briggs Wandel vom jugendlichen Delinquenten zum Polizisten nicht gezeigt. Bobby tritt in Staffel 3 unmittelbar als verantwortungsvoller, ernster und sensibler Mann in mittleren Jahren in Erscheinung. Sein Vater hatte ihm zwar in Staffel 2 eine Zukunft in »deep harmony and joy« (TP, 2.1, US 1990-1991) vorhergesagt, doch die Serie spart aus, wie sich sein Sinneswandel vollzogen hat, und hebt mit dieser Leerstelle den eruptiven Charakter von Bobbys Veränderung hervor. Im Universum von Twin Peaks verkörpern alle drei Figuren das Prinzip der Hoffnung, insofern ihnen ein Bruch mit der Wiederholung, eine Entscheidung für ein selbstloses Dasein, gelingt. Im Hinblick auf Ben, Bobby und Nadine wird das Altern als ein potenziell offenes Geschehen gestaltet, das selbst im fortgeschrittenen Lebensstadium (siehe Nadine) Möglichkeiten zur Umkehr bereithält. Im Vergleich der beiden Modelle des Alter(n)s zeigt sich, dass in diesen unterschiedliche Elemente der Weisheitstopik im Hinblick auf den Gegenstand der Weisheit und den Modus ihrer Erlangung (vgl. Gunreben 2016: 57-70) zitiert werden: Im Modell des Bruchs erscheint Altersweisheit als Selbsterkenntnis, also als »subjektive […] Weisheit« (Gunreben 2016: 59), die durch psychische Krisen evoziert und dem Subjekt im Modus der Erleuchtung zuteilwird, während das Modell des Kontinuums das Konzept der transzendenten Weisheit (Gordon, Margaret Lanterman, Hawk) bzw. des Lebenswissens (Norma, Bushnell) aktualisiert. Diese Form der Altersweisheit überkommt den Menschen im Alter nicht einfach, sondern ist das Ergebnis einer gelungenen Lebensführung. Die Vorstellung, Weisheit ließe sich einüben, geht auf die antike Philosophie zurück, die mit dem Stoizismus-Kynismus auf der einen und dem Epikureismus auf der anderen Seite zwei Systeme der Weisheitsexerzitien hervorgebracht hat (vgl. Gunreben 2016: 63-66), die auch in Twin Peaks: The Return im Modell des Alter(n)s als Kontinuum aufgerufen werden. Während Normas Altersweisheit im stoischen Sinne das Ergebnis eines Lebens in Entsagung und Affektkontrolle – im Hinblick auf Ed – ist, vertritt Gordon als ein den weltlichen Genüssen zugewandter, heiterer, dabei aber stets sich im gerechten und menschenfreundlichen Verhalten übender Mann die epikureische Variante der Altersweisheit. Diesen Unterschieden zum Trotz wird das Alter(n) sowohl

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im Modell des Kontinuums als auch im Modell des Bruchs zur Projektionsfläche des Guten – zu einer Daseinsweise, die sich der populärkulturellen Logik der Überbietung entzieht.

5.

Modelle der Altersweisheit III – (Selbst-)/Ironie

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Lynch und Frost in der dritten Staffel von Twin Peaks auf aus der Antike und Aufklärung stammende Topoi der Altersweisheit zurückgreifen, mit denen ein Gegenpol zur populär-seriellen Logik der Überbietung konstruiert wird. Altersweisheit wird in Verbindung zum metaphysischen und weltlichen Guten gesetzt, wobei genau diese moralische Stilisierung des Alters immer wieder ironisch gebrochen wird. Am augenfälligsten zeigt sich der ironische Subtext in den Figurationen der Altersweisheit als Bruch: Bereits Benjamin Hornes Bekehrung zum Guten in Staffel 2 ist ironisch in Szene gesetzt, wenn der geläuterte Geschäftsmann die Zigarre gegen eine Karotte eintauscht und eine Kampagne zur Rettung einer bedrohten Wiesel-Art initiiert, mit der er zunächst weiterhin Geschäftszwecke verfolgt. Erst in Staffel 3 dürfen sich die Zuschauer*innen von der nachhaltigen Veränderung des ehemaligen Dandys und Bordellbesitzers überzeugen. Auch Nadines plötzlicher Sinneswandel, der durch Dr. Jacobys/Dr. Amps Guru-haft vorgetragene Aufrufe zur Selbstermächtigung angeregt wird, weist Ironisierungstendenzen auf, liest sich dieser doch mit den klischeehaften und abgegriffenen Formulierungen »giving the other what makes them happy« zugleich als Parodie auf Selbstoptimierungsdiskurse westlicher Wellness-Kulturen. Genauso kommt in den Darstellungen von Norma Jennings und Gordon Cole Ironie zum Tragen. Wenn Gordon den Vorwurf, er wäre im Alter ›soft‹ geworden, schelmisch mit der Aussage erwidert: »Not where it counts, buddy« (TP, 3.17, US 2017), wird mit dem Bild des potenten und mit seiner Potenz strotzenden alten Mannes das Modell des Alter(n)s als Kontinuum ad absurdum geführt. Liebe im Alter wird in Staffel 3 auch in Normas und Eds durch Nadines Wandlung ermöglichter Vereinigung zum Thema gemacht, wobei die Inszenierung ihrer Zusammenkunft vor Pathos und Kitsch nicht zurückschreckt: Die Unterlegung der Szene durch eine Live-Version von Otis Reddings klassischer Soul-Ballade Iʼve Been Loving You Too Long und der Ausklang der Szene mit der Einstellung eines strahlend blauen Himmels markieren die Vereinigung der Jahrzehnte unglücklich Verliebten als ein klischeehaftes, sich aus dem Archiv der Populärkultur bedienendes und daher immer schon selbstreferentielles Bild, dem eine Differenz von Fiktion und Wirklichkeit eingeschrieben ist. Der ironische Subtext, mit dem die seriellen Figurationen der Altersweisheit unterlegt werden, weist eine selbstreflexive Dimension auf: Einerseits wird die Idee einer altersbedingten Weisheit ironisiert und damit relativiert, wodurch auf der anderen Seite Ironie selbst als eine Form der Altersweisheit zutage tritt. Indem Lynch in Twin Peaks: The Return, seinem Alterswerk, seinen Status als alter weiser Künstler ironisiert, bestimmt er (Selbst-)/Ironie, also die Freiheit, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, zum Altersprivileg. Überhaupt erfolgt die Verhandlung der seriellen Parameter im Modus der Ironie. Erinnert sei an dieser Stelle an Paul de Mans Überlegungen zur Ironie, die er an Friedrich Schlegels ästhetisch-philosophischen Fragmenten entwickelt. Für de Man ist Iro-

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nie nicht nur eine Figur der Unverständlichkeit, vielmehr kristallisiert sich in der Ironie das Problem des Verstehens, weshalb ihm diese als »ästhetische[…] Trope par excellence« (Wirth 2017: 17) gilt: »what is at stake in irony is the possibility of understanding, the possibility of reading, the readability of texts, the possibility of deciding on a meaning or on a multiple set of meanings or on a controlled polysemy of meanings« (de Man 1996: 167). Ironie produziert Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit und erzeugt so einen »›Verstehens-Schwindel‹« (Wirth 2017: 17), in den auch die Stilgemeinschaft von Twin Peaks gerät. Wie oben dargestellt, enttäuschen Lynch und Frost bei der Fortsetzung der Diegese nostalgische Rezeptionsbedürfnisse, indem sie zentrale Figuren und Handlungsstränge der ersten beiden Staffeln marginalisieren bzw. ganz weglassen und eine erzählte Welt präsentieren, die in ihrer Komplexität nicht den erwarteten Grad an populärkultureller Selbstähnlichkeit aufweist. In der Neuverhandlung der Merkmale der Serie erscheinen eben nicht die kultisch Verehrten, Agent Cooper oder die fiktive Kleinstadt in Washington, als konstitutiv für die Diegese, sondern die Unverständlichkeit, die mitunter im Modus der Ironie zum Ausdruck kommt, wird als äquivalenzbildendes Element von Twin Peaks ausgewiesen. Lynch und Frost gelingt in Twin Peaks: The Return etwas, woran zeitgenössische Serien-Revivals immer wieder scheitern: Die Kultserie bleibt sich selbst treu, indem sie ästhetisch und narrativ neue Wege einschlägt und so die populärkulturelle Anschlussfähigkeit, die reibungslose Rückkehr in die erzählte Welt, unterbindet. Dabei untersteht Twin Peaks 3 der populärkulturellen Logik und bedient das Bedürfnis nach spektakulärer Innovation und Überbietung, macht diese Reproduktionsmechanismen in der Diegese allerdings zum Problem. Die Fortsetzung setzt nicht nur darauf, in inter- und intraserieller Hinsicht ›höher, schneller, weiter‹ zu sein, sondern distanziert sich auch vom populärkulturellen Modell der ›Metastase‹ und setzt mit der Inszenierung von Kontinua, Brüchen und Ironisierungen für die Serienlandschaft ungewohnte ästhetische Akzente. Diese Kontrapunkte werden von Lynch und Frost an Figurationen der Altersweisheit verwirklicht, die damit zum Modell eines kritischen Umgangs mit populärkultureller Serialität avanciert, wobei die inhaltlichen Bestimmungen der Altersweisheit als Bodenständigkeit, Wohltätigkeit, Altruismus und (Selbst-)/Ironie einen kultur- und sozialkritischen Impuls der Serie erkennen lassen. Im selbstreflexiven Zusammenspiel von Wiederholung und Bruch, Überbietung und Stillstand, Pathos und Ironie wird so der populärkulturelle Zwischenstatus von Twin Peaks: The Return – die Partizipation und der Abstand der Serie von der zeitgenössischen Serienkultur – zum Ausdruck gebracht.

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»Jeder wehrt sich gegen die Zeit«: Zum Thema Alter im Comic Dietrich Grünewald

1.

Zur Natur des Alterns

»Sie leiden am sogenannten Multipathologischen Syndrom!«, teilt der Arzt in Gerhard Mesters Karikatur einer verstörten älteren Dame mit, »…im Volksmund auch ›Alter‹ genannt.« – »Oh mein Gott!! Ist das heilbar?« (Polanski 2016: 23), reagiert die Dame und hält entsetzt die Hand vor den Mund. Natürlich ist das Alter weder eine Krankheit noch heilbar. Es gehört zum Menschen, steckt gewissermaßen von Anbeginn in ihm, wie eine Zeichnung von Istavan Lehoczki veranschaulicht, in der ein junger Mann sich als Greis im Wasser spiegelt (vgl. Lipinski/Sandberg 1980: 523). Diese Postkarte (Abb. 1), die auf dem bekannten Vexierbild von Edwin Boring beruht, verschmilzt das Motiv einer alten und einer jungen Frau zu einer Person, zu einer unlösbaren Einheit. Je nach Fixierung sehen wir das alte oder das junge Gesicht. Auch die Künstlerin Annegret Soltau thematisiert das in ihrem Generationenbild von 1994 generativ – mit Tochter, Mutter und Großmutter (vgl. Dehne 1999: 151): Mittels ›Fotovernähung‹1 zeigt sie, dass im Jungen partiell schon das Alte, im Alten aber auch noch das Junge steckt. Altern und die damit einhergehenden Beschwerden gehören zur Natur des Menschen, wie es die textfreie Bildgeschichte von Martina Walther (2015) zeigt. Eine Bildgeschichte von 1520 demonstriert das bereits: In der Holzschnitt-Bildfolge aus Antwerpen entwickelt sich von Panel zu Panel ein junger Mensch zu einem alten, gebrechlichen Greis, der schließlich auf dem Totenbett endet (vgl. Shahar 2005: 96f.). Das Alter und unsere Einstellung zu ihm werden in zahlreichen Werken der Bildenden Kunst thematisiert (vgl. Brock 1998; Ullrich 1999; Lempke 2017; Thane 2005). Da spiegeln sich Würde und Weisheit eines geachteten Alters in Ernst Henselers Bildnis des Dichters Heinrich August Hoffmann von Fallersleben (1898).2 Aber auch negative Einschätzungen finden sich. Abwertenden Spott vermittelt die antike Statue der Trunkenen Alten (220 v. Chr.)3 , 1 2 3

›Fotovernähung‹ ist eine von der Künstlerin Annegret Soltau entwickelte Technik zur Verbindung von Fotographien. Öl/Leinwand, Niedersächsisches Landesmuseum, Hannover. Kopie nach griechischem Vorbild (um 220 v. Chr.), Marmor (Brockhaus 1996: 110).

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Abb. 1: Deutsche Postkarte (1880)

eine alte Frau mit Falten, Trinkkrug im Schoß, offensichtlich betrunken, mit verzerrtem Gesicht und offenem Mund. Gregor Erharts Allegorie der Vergänglichkeit (um 1500)4 präsentiert zunächst den jungen schönen Menschen von vorne; dreht man die Plastik um, zeigt sich ein hässlicher, verfallener alter Körper. Was passiert, wenn wir alt und gebrechlich werden? Viele Menschen haben Angst vor dem Altwerden. Die Hilflosigkeit, mit der wir Menschen diesen Prozess hinnehmen müssen, und die Ungewissheit, wie sich die Lebenssituation im Alter beim jeweiligen Individuum entwickeln mag, finden dabei ein entlastendes Ventil in der Satire. Indem man sich über das Altern lustig macht, überwindet man die bedrohliche Lähmung, die von seiner Zwangsläufigkeit ausgeht. »Niemand welkt so schön wie du!«, schmeichelt ein alter Charmeur einer doch konsterniert dreinschauenden älteren Dame in Marie Marcks’ Zeichnung (Polanski 2016: 83). 4

Holz, gefasst, Kunsthistorisches Museum, Wien.

»Jeder wehrt sich gegen die Zeit«

Drastischer ist Horst Pohl. Dem Sensenmann kann die alte Dame mit Krückstock nur höhnisch lachend zurufen: »Tod? Hahaha! Was kann denn noch Schlimmeres kommen als das Alter?« (Polanski 2016: 36). Die Alten selbst, aber auch die für ihre Pflege verantwortlichen Kinder sehen einem langen Alterungsprozess mit Grausen entgegen: »Mit etwas Glück werden sie noch 100 Jahre alt«, meint der Arzt zur alten Dame im Pflegebett. »Ach du Scheiße!« (Kleinert/Schwalm 2014: 110), reagieren sowohl sie als auch das junge Ehepaar (wohl Tochter und Ehemann), das sie gerade besucht. Als ›stehende Figuren‹, also Comic-Serienfiguren, die wie Micky Maus oder die Peanuts im gezeigten Zustand ›eingefroren‹ sind – was nicht nur ihren Charakter, sondern auch ihr Alter betrifft –, gibt es auch alte Menschen in einer Reihe von Comic-Serien. Weißes, straff sitzendes Haar, leicht gebeugte Körperhaltung und altmodische, schlichte Kleidung markieren visuell die alte Madame Albertine in Benni Bärenstark (Peyo 1980). Auch ›die gute alte‹ Oma Duck in den Donald-Duck-Geschichten hat weiße Haare und trägt eine Brille, bleibt aber immer geistig wie körperlich agil (vgl. Gans 1972: 38-40; W. Lepenies 1997).5 Falten, weißes Haar und Bart kennzeichnen signalhaft den alten Mann als den betagten Weisen, zum Beispiel in der Comic-Serie El Mercenario (vgl. Segrelles 1984: 41-43). Mit einem Schuss Ironie versehen, treten die Alten in der Asterix-Serie auf. Miraculix, ebenso mit weißem Haar und Bart ausgestattet, begegnet uns als hochgeachteter Druide, der den Zaubertrank zuzubereiten und kluge Ratschläge zu geben weiß. Miraculix wird nicht älter, er wird nicht krank, nicht senil. Ebenso wenig der zweite Alte im Dorf, Methusalix. 93 Jahre hat er auf dem Buckel, ist dennoch trinkfest und vital – trotz Krückstock, der mehr Attribut denn Gehhilfe ist (vgl. Goscinny/Uderzo 1968). Denkt man die Serienfiguren einmal so, dass sie doch dem Alterungsprozess unterworfen wären, kann das nur ironisch ausfallen. So stellt Karoline Schreiber den inzwischen 70 Jahre alten Papageien Globi als tattrigen Greis vor, wie er vom Junior zum Altenheim geführt wird (vgl. Strapazin 2003: 55). Tischler und Vielmeister präsentieren die altgewordenen Peanuts und Superman mit satirisch-bitterem Akzent: Luzie zieht Charly Brown nun statt des Footballs den Rollstuhl weg, so dass er zu Boden fällt, und Superman kann Pistolenkugeln weder mit dem Brustkorb abwehren – stattdessen hat er einen Schmerbauch – noch mit den Zähnen auffangen (Superman: »Welche Zähne?«) (vgl. Tischler/Vielmeister 1986: 29, 30). Den altersbedingten körperlichen Verfall will nicht jeder hinnehmen. Die einst strahlend schöne Lady Ilsa Strangway in der Comic-Serie Dracula ist im Alter noch rüstig und agil, aber sie klagt: »Ich war einst die schönste Frau ihrer Zeit. Und nun frisst die Zeit diese Schönheit auf. Das nehme ich nicht hin!« (Wolfman/Colan 2020: 75) Doch weder Medizin noch Magie können ihr die jugendliche Schönheit zurückgeben. Da kommt sie auf die Idee, vom Vampir Dracula gebissen zu werden. »Ich will jung sein! Und ich tue alles dafür! – Selbst wenn ich werden muss wie du … ein Vampir!« (Wolfman/Colan 2020: 80) Doch die Hoffnung, dass der Biss Draculas ihr den jugendlichen Körper zurückgeben würde, erfüllt sich nicht. Denn der Vampirbiss verwandelt das Opfer zwar auch in einen unsterblichen Vampir, doch der bleibt in dem körperlichen Zustand, in dem »er war, als er ein Vampir wurde!« Und das trifft 5

Weitere alte Akteure aus dem Entenhausen-Kosmos stellt Grote (1997) vor.

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auch auf Lady Standway zu, die erbittert erkennen muss: »Ich bin immer noch alt!« (Wolfman/Colan 2020: 95) Prinz Eisenherz von Hal Foster gehört zu den wenigen Serien, in denen der Protagonist nicht auf einen Lebenszeitpunkt festgelegt ist, sondern allmählich älter und erfahrener wird. Das geschieht allerdings kaum merklich von Episode zu Episode. In Band 3 der Werkausgabe, Ritter der Tafelrunde, begegnet Eisenherz einem Greis, der personifizierten Zeit. Eisenherz versucht mit dem Alten zu kämpfen, doch der besiegt ihn und zeigt ihm, wie er als alter Mann sein wird: abgemagert, hohlwangig, weißhaarig – ein »Schatten des einst so stolzen Prinzen«. Eisenherz zieht daraus den Schluss, die Zeit, in der er jung und agil ist, zu schätzen und auszukosten (vgl. Foster 1998: 25-27). Und so wird im Weiteren der Serie der Alterungsprozess verdrängt und in seiner Konsequenz ausgeschlossen. Weniger in Comic-Serien, wohl aber in abgeschlossenen Geschichten finden sich auf dem aktuellen Comic-Markt zahlreiche Werke, die sich dem Thema Altern dann doch in seiner ganzen Komplexität stellen. Ein prägnantes Beispiel ist das Album Bäche und Flüsse von Pascal Rabaté (2009).6 Da hier verschiedene Aspekte des Altwerdens aufscheinen, soll dieser Comic im Folgenden als Leitlinie dienen. Zehn Aspekte, die das Altwerden/Altsein beschreiben, meine ich ausmachen zu können. Sie seien im Folgenden vorgestellt. Dabei wird zu Vergleich und Verstärkung auf andere Beispiele verwiesen.

2.

Lebenssinn im Alter

Humorvoll entschärft Rabaté die thematische Schwere der Geschichte. Der Cartoonhafte Zeichenstil und witzige Episoden lassen den Comic unterhaltsam und zugleich lehrreich wirken. Es geht darum, wie man sein Leben im Alter sinnvoll meistern kann. Emile ist Rentner; seine Frau ist vor einiger Zeit gestorben. Hier klingt der erste Punkt an: Der Lebenssinn im Alter. Was tun, wenn man aus dem Arbeitsleben plötzlich in den Zustand des Rentnerdaseins katapultiert wird? Man kann, wie Emile, entspannt mit einem Freund am Wasser sitzen und angeln (vgl. Rabaté 2009: 5). Man kann sich treiben lassen, kann faulenzen, mit Pantoffeln an den Füßen im bequemen Sessel Zeitung lesen (vgl. Loriot 2008: 54) oder dösend in der Hängematte liegen (vgl. Lupano/Cauuet: 2020, Bd. 4: 42). Das ist sicher nicht falsch. Aber es besteht die Gefahr, dass man mürrisch wird wie Herr Wilson in Hank Ketchams Serie Dennis. »Wie alt war Herr Wilson, als er so ein Brummbär wurde?« (Ketcham 2019), fragt der kleine Dennis Wilsons Frau, deren Gatte mit verbissen-mürrischer Miene im Sessel sitzt und Zeitung liest. Vielleicht weil man insgeheim unzufrieden ist, sich ohne eine sinnvolle Beschäftigung unausgefüllt fühlt? Hobbys können ein Ausweg sein. Ein Cartoon von Uli Stein zeigt einen Anfangsrentner, der sich noch nicht so recht entscheiden kann: Er sitzt auf einem Fahrrad im Wasser, hört per Ohrhörer klassische Musik, liest ein Buch und angelt mit einer Säge (vgl. 2019: 14f.). Viele Rentner*innen – zu erinnern sei an Loriots Filmkomödie Pappa ante portas von 1991 – fallen jedoch in eine kaum ertragbare Leere. Und manche, wie der Protagonist in Rocas Bildroman, klammern sich an ihren früheren Beruf, spielen die 6

Zu Rabaté vgl. Behringer (2012); Ries (2018).

»Jeder wehrt sich gegen die Zeit«

internalisierten dort erlebten Situationen nach und nerven damit Sohn und Schwiegertochter (vgl. 2013: 8).

3.

Lebensort im Alter

Emile ist rüstig. Er lebt allein in seinem Haus, hat neben dem Angeln aber keine rechte Aufgabe. Meist füllt er seine Zeit mit Rätselspielen aus dem Fernsehen aus (vgl. Rabaté 2009: 36). Doch er hat auch ein Stammlokal, in dem er Freunde trifft. Wie er dort erzählt, lädt er hin und wieder seinen Sohn mit Familie zu sich zum Essen ein, wo er dann die gefangenen Fische serviert (vgl. Rabaté 2009: 13). Emile hat also Glück. Viele andere Menschen können nicht mehr alleine leben; sie benötigen Hilfe. Aber oft haben ihre Angehörigen keine Möglichkeit, sie bei sich aufzunehmen. Wohin also? Ein Cartoon von Lothar Otto zeigt einen drastischen Weg: Der alte Mensch wird schlicht in der »Senioren-Klappe« des Pflegeheimes entsorgt (vgl. Mueller 2003: 95). Den Weg gehen auch Sohn und Schwiegertochter von Rocas Protagonisten: Sie schieben den Vater in ein Seniorenheim ab, und die jungen Leute machen auch gleich klar, dass sie nur wenig Zeit haben, ihn dort zu besuchen (vgl. 2013: 10). Im Bildroman von Joyce Farmer erkennen die Eltern selbst, dass sie nicht mehr länger alleine bleiben können. Aber sie sind so an ihr Zuhause gewöhnt, dass sie große Angst vor einem Umzug ins Altersheim haben (vgl. 2015: 10, 38). Können wir nicht über was andres reden? Meine Eltern und ich heißt die Graphic Novel von Roz Chast. In dieser ergreifenden Geschichte erkennt die Tochter mit Erschrecken, dass die Eltern nicht mehr alleine sein können. Was tun? Sie kann sie nicht bei sich aufnehmen. Also ins Altersheim. Das ist eine schwierige Entscheidung und macht vielen Kindern ein schlechtes Gewissen. Denn nicht selten wird das Altersheim als eine Art Gefängnis empfunden (vgl. Chast 2015: 144). Die Bildromane von Farmer und Chast sind biografisch; beide Autorinnen erzählen aus eigener Erfahrung. Und beide versuchen, das tragische Geschehen durch eine humorvolle bis sarkastische Sicht zu mildern, für sich entlastend und für die Rezipient*innen erträglich zu machen, ohne die Ernsthaftigkeit der Situation zu verharmlosen. Auch Sheree Domingo erzählt in ihrem Comic aus dem eigenen Leben.7 Ihre Mutter, geboren auf den Philippinen, arbeitet als Pflegerin in einem Altenheim in Deutschland. Während der Sommerferien nimmt sie ihre Tochter mit zur Arbeit, damit sie nicht alleine ist. Sheree lernt den Alltag im Heim kennen, sieht, wieviel Mühe sich das Personal gibt, oft aber viel zu wenig Zeit hat. Das Leben der alten Menschen im Heim hat seine Schwierigkeiten. Manche der Insassen fühlen sich vernachlässigt, klagen darüber, dass sie keinen Besuch bekommen (vgl. Domingo 2019: 37).

7

Der Comic erhielt 2016 den Preis der Berthold Leibinger Stiftung.

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4.

Die Nähe zum Tod

Emiles Freund Egmond stirbt und die Freunde geben ihm die letzte Ehre (vgl. Rabaté 2009: 20). Die Trauerfeier macht die Nähe des Alters zum Tod bewusster. Die Karikatur von Denis Metz veranschaulicht diesen Aspekt sehr drastisch: »Sie haben Ihr Ziel erreicht« (Kleinert/Schwalm 2014: 78), verkündet das Navy am Rollator, als die alte Dame den Friedhof betritt. Wenn Menschen aus dem Familien- oder nahen Freundeskreis sterben, lässt das die Ahnung von der eigenen Sterblichkeit intensiver werden. Die Einschläge – wie es lapidar heißt – kommen näher. So heißt das erste Kapitel des Bildromans Das unabwendbare Altern der Gefühle bezeichnend auch »Der Feind im Spiegel« (Zidrou/de Jongh 2019: 9-36). Es schildert, wie die selbst in die Jahre gekommene Mediterranee, die über neun Monate hinweg das Sterben ihrer Mutter begleitet hat, nach deren Tod im Gegenüber ihres Spiegelbildes erkennt, dass auch sie nicht mehr jung ist (vgl. Zidrou/de Jongh 2019: 36). Eher verstört erlebt sie, wie eine Mutter ihr kleines Kind auffordert, ihr, der alten Frau, den Platz im Bus zu überlassen (vgl. Zidrou/de Jongh 2019: 21). Und sichtbar verstört und betroffen nimmt auch der altgewordene Freundeskreis in der Alben-Reihe Die alten Knacker an der Beerdigung einer der ihren teil (vgl. Lupano/Cauuet 2015, Bd. 1: 7).

5.

Krankheit und Altenpflege

Leider geht dem Tod bei vielen Menschen eine lange Leidenszeit voraus. Auch Emiles Frau ist an Krebs erkrankt und daran gestorben. Ohne dass das näher ausgeführt wird, lässt die Szene spüren (das Panel zeigt erinnernd die kranke kahlköpfige Frau im Bett mit dem Tropf an der Seite), dass Emile sie gepflegt und begleitet hat. Wenn er an sie denkt, überwältigt ihn die Trauer – und zugleich spürt er, wie er diese Leidenszeit mehr und mehr verdrängt (vgl. Rabaté 2009: 48f.). Das Schicksal, im Alter krank und auf Pflege angewiesen zu sein, wird schon in frühen Bildgeschichten mahnend thematisiert. Hier ein Beispiel aus dem 17. Jahrhundert: die letzten 30 Lebensjahre von Isaak und seiner Frau (Abb. 2). Conrad Mayer zeigt, wie die beiden mit 70 noch rüstig am Feuer sitzen, mit 80 hören sie Lesungen aus der Bibel. Doch dann werden sie hilflos und von den Kindern gepflegt, schließlich sind sie bettlägerig und warten auf den Tod. Viele alte Menschen erkranken an Alzheimer. Das Schicksal, das Bewusstsein zu verlieren, im Vergessen zu versinken, wird von einigen Comics aufgegriffen. Im Strapazin-Themenheft Alter versuchen Lina Müller und Luca Schenardi (2015) zu visualisieren, wie Erinnerung und Wahnvorstellung das Kopf-Leben in »Alzheimer Land« bestimmen mögen. Partikel reeller Eindrücke vermischen sich mit Erinnerungs- und Vorstellungsbildern und bekannten Medienmotiven zu fantastischen Bildmotiven: psychotische Symptome, Halluzinationen. Auch Rocas Bild-Roman greift das Thema auf. Sein Titel ist signifikant: Kopf in den Wolken. Wie oben schon erwähnt, wird Vater Emilio ins Altersheim abgeschoben. Immer stärker macht sich bemerkbar, dass er an Alzheimer erkrankt ist. Anschaulich zeigt Roca, wie die Krankheit Wahrnehmung und Bewusstsein zerstört (Abb. 3). Den Zimmergenossen Miguel, den er als neuen Freund im Seniorenheim gefunden und mit dem

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Abb. 2: Conrad Mayer: »Die letzten 30 Lebensjahre von Issak und seiner Frau« (1675)

er viele Gespräche geführt hat, nimmt er plötzlich nicht mehr als Persönlichkeit wahr, er erkennt ihn nicht mehr. Alzheimer-Erkrankung wird vor allem für die Angehörigen zum schmerzlichen Problem; auch für Enkelkinder, die erleben müssen, wie Oma oder Opa sie nicht mehr erkennen. Kindern diese Krankheit und ihre Auswirkungen anschaulich zu erklären, unternimmt ein Comic, der von der belgischen Alzheimer-Gesellschaft initiiert wurde. Keine Macht für Al Tsoy Ma heißt die Geschichte (Lambert/Henry 2013).8 Die Eltern müssen ihrem Sohn Tom erklären, dass der Opa an Alzheimer erkrankt ist. Für den Jungen ist das nur schwer zu verstehen. Zusammen mit Opa hat Tom immer gerne Raumfahrer gespielt. In ihrer Fantasie haben sie dabei Außerirdische getroffen und mit ihnen gekämpft. Tom stellt sich nun vor, dass der außerirdische Bösewicht Al Tsoy Ma von seinem Opa Besitz ergriffen hat und ihn unter seine Kontrolle bekommen will. Um Opa zu retten, will Tom den Bösen besiegen. Dazu klettert er in die Waschmaschinentrommel, um durch die Rotation klein wie ein Bonbon zu werden. Opa soll ihn dann herunterschlucken, so dass er in ihm Al Tsoy Ma bekämpfen und besiegen kann.

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Die deutsche Übersetzung (Ines Kremer) wird von der deutschen Alzheimer-Gesellschaft unterstützt. Ein Informationstext mit Hilfskontakten ist in den Anhang des Comics gestellt.

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Abb. 3: Paco Roca: »Kopf in den Wolken« (2013)

Tom droht aber in der Waschmaschine zu ertrinken. Trotz der Erkrankung spürt Opa, dass Tom in Gefahr ist, öffnet die Maschine rechtzeitig und rettet seinen Enkel. Die Geschichte endet mit Zeichnungen, die Tom anfertigt. Er hat erkannt, dass er Al Tsoy Ma nicht zerstören kann. Aber Tom weiß: »Opa ist vielleicht nicht mehr der Alte. Aber er hat mich immer noch lieb. – Das wird uns beiden helfen, mit Al Tsoy Ma klarzukommen!« In Toms Zeichnung heben Opa und er lachend die Arme hoch, während Al Tsoy Ma am Boden liegt (vgl. Lambert/Henry 2013, letzte Seite). Im Vorwort schreibt Sabine Henry, Präsidentin der Belgischen Alzheimer-Gesellschaft: »Die Geschichte von Tom, der für seinen Großvater kämpft, so gut er kann, berührt mich. Es ist eine Geschichte vom Leben mit Alzheimer, schmerzlich und trotzdem voller Kraft. Sie tut gut und gibt Zuversicht.« (Lambert/Henry 2013: [5])

6.

Selbsttötung

Emile hat Glück; er ist noch rüstig und nicht krank. Aber die Trauer um seine verstorbene Frau, das schmerzliche Alleinsein nimmt ihn sehr mit. Er schaut auf ihre Fotografie und beschließt: »Ich komme, meine Schöne, ich bin bald bei dir…« (Rabaté 2009: 49). Der Gedanke an Selbstmord wird auch in anderen Comics angesprochen. Zum Beispiel in der Alben-Reihe Die alten Knacker (Les Vieux Fourneaux) von Wilfrid Lupano und Paul

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Cauuet (2015-2019). Bisher sind fünf Bände erschienen. Sie erzählen – spannend wie witzig in Episoden und Karikatur-nahem Zeichenstil – eine romanhafte, turbulente Fortsetzungsgeschichte um eine Gruppe altgewordener Freunde. Antoine trauert um seine verstorbene Frau Lucette. Nur seine schwangere Enkelin Sophie, die ihn an Lucette erinnert, hält ihn davon ab, sich das Leben zu nehmen. »Eins kann ich euch sagen, Freunde, wenn Sophie nicht da wäre, würde ich eine Kelle Garan-Servier-Bonbons mit einem Liter Birnenschnaps schlucken und mich schnurstracks zu meiner Lucette begeben.« (Lupano/Cauuet 2015, Bd. 1: 20) Im schon angesprochenen Comic von Sheree Domingo trifft das kleine Mädchen im Park des Altersheimes auf eine Frau, die es zunächst für tot hält. Das ist sie allerdings nicht – wenngleich, wie sie sagt, es ihr am liebsten wäre. »Ach, wäre das schön!« Auch sie trauert; ihr Mann ist erst vor kurzem verstorben (vgl. Domingo 2019: 70). Neben dem Wunsch, dem geliebten verstorbenen Partner oder der Partnerin zu folgen, gibt es auch andere Gründe für einen Suizid. Posy Simmonds erzählt die Geschichte einer ins Alter gekommenen Kunsthändlerin, die man des Betrugs überführt hat. Gesellschaftlich geächtet, plant sie minutiös, wie und wo sie Suizid begehen will. Allerdings hat sie auch Zweifel: »Aber hab ich den Mumm, das auch durchzuziehen?« (Simmonds 2019: 24). Veränderte Umstände und vor allem ihre Nichte, die sich bei ihr einquartiert, verhindern dann den Suizid. Von einem tatsächlichen Suizid erzählt der spanische Bildroman Die Kunst zu fliegen (vgl. Altarriba/Kim 2012). Altarriba konstruiert erinnernd die Geschichte seines Vaters, der den Bürgerkrieg und die Franco-Diktatur erlebte. Als gealterter Mann sprang der Vater aus dem vierten Stock eines Seniorenheims in den Tod. Die Selbsttötung – den eigentlichen Sprung und sein Ende muss der Betrachter selbst imaginieren – steht am Anfang der Geschichte (Abb. 4), gewissermaßen als Resultat und Schlussstrich unter einem als vergeblich empfundenen Leben voller Rückschläge, das der Sohn auf den folgenden 193 Seiten reflektierend rekapituliert (vgl. Möller, 2013).9

7.

Erinnerungen

Emile lebt mit seinen Erinnerungen. Er denkt daran, wie er als Kind während des Krieges von seinen Eltern in Sicherheit gebracht wurde. Diese Erinnerung wird so wichtig, dass er beschließt, bevor er sich das Leben nimmt, noch einmal diesen Ort aufzusuchen. Und so steigt er in sein kleines Auto und macht sich auf die Reise (vgl. Rabaté 2009: 50-54). Seine Kneipenfreunde denken über seine Fahrt nach: Warum ist er wohl da ’runtergefahren? – Er fährt nie weg! – Ich meine mich zu erinnern, dass er während des Krieges da unten war… – Seine Eltern hatten ihn bei einer Familie im unbesetzten Gebiet untergebracht. – Dann wäre das so ’ne Art Pilgerreise… Tja, das ist nicht sehr beruhigend… Pilgerreisen in dem Alter riechen ziemlich nach Friedhof. (Rabaté 2009: 57) 9

Der Folgeband Der gebrochene Flügel (Altarriba/Kim 2019) erzählt dann erinnernd die Geschichte der Ehefrau, der Mutter des Autors. Wie sensibel das Thema ist, zeigt das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Februar 2020, das jedem Menschen das Recht auf einen selbstbestimmten würdevollen Tod zuspricht.

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Abb. 4: Altarriba/Kim: »Die Kunst zu fliegen« (2012)

Auch die Protagonisten in der Serie Die alten Knacker haben ihre Erinnerungen. Sie sind lebendig und wichtig, füllen Träume, werden wiederholt erzählt und erklären manche aktuelle Situation. Der Zeichner nutzt gestalterische Besonderheiten wie Denkblasen und veränderte Farbgebung, um diese Erinnerungen sichtbar in das Geschehen zu integrieren (vgl. Lupano/Cauuet 2015, Bd. 1: 21). Während Emile und die ›alten Knacker‹ zwischen ihren Erinnerungen und der aktuellen Lebenswirklichkeit zu unterscheiden wissen, gelingt das Doña Rosario nicht. Auch sie ist eine Bewohnerin des Altenheimes, in das Rocas Protagonist Emilio eingewiesen wurde. Miguel stellt ihm Doña Rosario vor. Als er sie begrüßt, antwortet sie: »Fahren Sie auch nach Istanbul?« Sie erinnert sich an eine Reise mit dem Orientexpress, die sie wohl als junge Frau unternommen hat. Dieses Erlebnis ist so mächtig, dass die alte Dame ihre aktuelle Lebenswirklichkeit verdrängt und sich ganz in die Erinnerung flüchtet. Der Betrachter wird in diese Erinnerung visuell mitgenommen: Wir sehen ein Panel, in dem ein Zug mit dampfender Lokomotive eine Brücke überquert; sehen eine junge hübsche Frau im Zugabteil sitzen (vgl. Roca 2013: 18). So sieht sich – die Realität vergessend – Doña Rosario selbst; sie wähnt sich auf dieser Reise, lebt sie im Kopf,

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Abb. 5: Paco Roca: »Kopf in den Wolken« (2013)

während Miguel und Emilio wie der Betrachter sie als alte Dame mit Brille und weißem Haar wahrnehmen – in vergleichbarer Pose, aber im Rollstuhl im Altersheim (Abb. 5).

8.

Das Verhältnis von Jung und Alt

Am Ort seiner Erinnerung angekommen, trifft Emile auf eine Gruppe junger Leute, die in dem alten Haus leben, das ihm noch genauso vorkommt wie damals. Sie führen wohl ein lockeres Kommunenleben. Schon die erste Begegnung irritiert Emile: Überrascht sieht er eine nackte Amazone auf einem Pferd – glaubt seinen Augen nicht und wähnt zu sterben (vgl. Rabaté 2009: 59). Als er die Augen öffnet, schaut er einem langhaarigen bärtigen Jüngling ins Gesicht. »Jesus?!«, stammelt Emile – doch der junge Mann stellt sich lächelnd als Christian vor. Emile ist also nicht gestorben, trifft nicht im Himmel auf Christus, sondern auf einen irdischen Christian. Der und die junge Dame haben zunächst Angst, er benötige einen Arzt. »Nein, es geht schon, mir war nur ein bisschen flau.« – »Ich hatte schon Angst, es läge an mir… Ältere Leute und nackte Haut…« (Rabaté 2009: 60). Emile ist vor Scham leicht rot geworden, schiebt aber seinen Anfall auf den Blutdruck. Er erzählt, dass er hier als Kind lebte und das Haus noch ein letztes Mal sehen möchte (vgl. Rabaté 2009: 60). Gerade ist den jungen Leuten das Wasser abgestellt worden. Emile kann helfen, denn er weiß, wo damals ein Brunnen gegraben wurde. Der existiert immer noch und hilft der Gruppe aus der Bedrängnis (vgl. Rabaté 2009: 61). Aus Dank wird Emile eingeladen. Bis in die Nacht hinein wird getrunken, gesungen, getanzt. Und die junge Dame – jetzt mit Hose und Pancho bekleidet – schwenkt Emile tüchtig herum (vgl. Rabaté 2009: 67). Die Episode spricht das Verhältnis von Jung und Alt an. Dank ihrer offenen Lebensphilosophie haben die Kommunarden kein Problem, den alten Mann zu integrieren. Auch Emiles Sohn und seine Schwiegertochter kümmern sich um ihn und wollen ihn mit auf ihre Urlaubsreise nehmen (vgl. Rabaté 2009: 41). Allerdings werden solche Angebote nicht immer auch gerne angenommen. Emile jedenfalls lehnt dankend ab. Er hat inzwischen eine Frau getroffen, die er gerne näher

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kennen lernen will. Hat Emile eigene Interessen und damit einen triftigen Grund, so lehnen andere alte Menschen die Hilfe von Jungen ab, weil sie sich bevormundet fühlen, wie es Roz Chast schildert: »Wir können für uns selber sorgen!« – »Reg deine Mutter nicht so auf!« (2015: 24). Trotzig beharren ihre Eltern auf Eigenständigkeit, obwohl sie spüren, dass sie Hilfe benötigen. Im Gegensatz dazu propagiert eine Reihe von Bildgeschichten, die sich an Kinder wenden, ein positives Miteinander von Großvätern/Großmüttern und Enkelkindern. In Philip Waechters Geschichte fischen Enkel und Opa in einem Ruderboot auf dem See. Für die Rezipierenden kommentiert der ich-erzählende Enkel: »Wenn ich groß bin, wäre ich gerne wie mein Opa. Ich weiß, dass er ganz toll ist. Mein Opa ist mein bester Freund.« (Waechter 2003: 2f.) Während die Eltern arbeiten, kümmern sich die Großeltern liebevoll um die Enkelkinder (Jianghong 2009). Opas machen jeden Jux mit, kochen Lieblingsessen, sind die besten Spielkameraden und nehmen auch so manche Ungeschicklichkeit mit Folgen – wie die Kaffeespritzer, die der Enkel aus der Kanne pustet – hin, ohne böse zu werden (vgl. Schmidt/Ranke 1976). Oma verlebt mit den Enkeln ein turbulentes Wochenende im Waldhaus und weiß in Bedrängnis Trost zu spenden und Zuversicht zu vermitteln (vgl. Boonen/Melvin 2016). Jutta Bauer erzählt in einer märchenhaften Geschichte von Opa und seinem Schutzengel. Der hat Opa ein Leben lang begleitet und beschützt, wie er seinem Enkelsohn erzählt, als er im Hospiz liegt. Aus so vielen gefährlichen Situationen, in die er als Kind geraten ist, die er als junger Mann im Krieg bestehen musste, hat er ihn gerettet. Als Opa stirbt, ›erbt‹ sein Enkel den Beschützer, wie die Betrachter*innen sehen können: Der Schutzengel schwebt aus der Hospiz-Tür und folgt ihm nach (vgl. Bauer 2001: letzte Doppelseite). Aber das Verhältnis von Jung und Alt ist keineswegs immer harmonisch. In Rabatés Geschichte wird das angedeutet, wenn die Kinder von Emiles Freund Edmond nach dessen Tod entdecken, dass er als Hobby Aktmalerei betrieben hat. Es zeugt davon, dass sie wohl wenig Kontakt zu ihm hatten, wenn sie jetzt hoch überrascht und ebenso entrüstet sind und nichts Besseres zu tun haben, als die Bilder zu verbrennen – während Emile bemüht ist, das ein oder andere Erinnerungsstück heimlich zu retten (vgl. Rabaté 2009: 28). Dass das Verhältnis von Jung und Alt angespannt, ja aggressiv sein kann, verdeutlicht eine bissige Zeichnung Tomi Ungerers: Ein frecher Junge kokelt den langen Bart eines blinden alten Mannes an, der wutentbrannt seinen Stock schwingt (vgl. 1999: 15). Und in der Serie Die alten Knacker macht sich die Enkelin Antoines richtig Luft. Angesichts der Klimakatastrophe und anderer unhaltbarer Zustände explodiert sie und wirft der älteren Generation Schuld und totales Versagen vor: »Ihr seid inkonsequent, rückschrittlich, bigott, ihr wählt rechts, ihr habt den Planeten geopfert, die Dritte Welt ausgehungert […] Historisch gesehen seid ihr die schlimmste Generation in der Geschichte der Menschheit!« (Lupano/Cauuet 2015, Bd. 1: 38). Der Comic nimmt vorweg, was die junge schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg in ihrer emotionalen Rede beim UN-Klimagipfel in New York im September 2019 den Staats- und Regierungschefs vorhielt. Erregt und engagiert forderte sie mehr Einsatz beim Schutz des Klimas und warf ihnen vor, ihre Generation im Stich zu lassen.

»Jeder wehrt sich gegen die Zeit«

9.

Sexualität im Alter

Emile dagegen erlebt die jungen Leute als aufgeschlossen und hilfsbereit. Sie sind in vielem überraschend unkompliziert. So haben sie kein Problem damit, nackt baden zu gehen und den alten Herrn zu animieren mitzumachen. Der geniert sich, spielt dann aber doch mit, wobei er überrascht – und diskret verbergend – feststellt, dass er auch im Alter durchaus noch sexuell zu erregen ist (vgl. Rabaté 2009: 74). Und als er sich in einem Wohnwagen schlafen legt, träumt er sich ein sexuelles Abenteuer: »Ich bin noch ganz rüstig… Ja, die Natur meint es gut mit mir.« Und dabei bleibt es nicht. Die junge Dame, die mit ihm getanzt hatte und der der Wohnwagen gehört, besucht ihn. »Ich hab Lust auf dich!« Obwohl Emile entgegnet: »Ich bin alt…«, bleibt sie. Der Betrachter sieht nur skizzenhaft bzw. gar nicht, was dann im Wohnwagen geschieht, weiß es aber wohl zu imaginieren (vgl. Rabaté 2009: 79). Am nächsten Morgen tritt Emile ins Freie. Seine Pose ist eindeutig: Er grinst über das ganze Gesicht, hält sich selbstbewusst die Hände vor die Brust… Was für eine Nacht hat er erlebt! (vgl. Rabaté 2009: 80) Rabaté bringt hier ein vielfach tabuisiertes Thema ins Spiel: Alter und Sexualität. Emile selbst ist überrascht und irritiert, als ihm Edmond sein Hobby Aktmalerei offenbart (vgl. Rabaté 2009: 16). Der stimulierenden Wirkung solcher Bilder kann er sich nicht erwehren. Da geht es ihm wie den beiden Greisen, die die badende Susanna beobachten,10 oder den lüsternen alten Männern, die Thomas Rowlandson (um 1815) bissigironisch vorführt, wie sie Aktbilder im Printshop begaffen (vgl. Neyer 2001: 55). Angesichts der Aktbilder merkt Emile, dass ihn das Thema Sexualität mehr beschäftigt, als er dachte. Regelrecht zwanghaft wird das, als er eine Frau kennenlernt, die einmal Modell für Edmond gesessen hat. Emil besucht sie mit einem Strauß Rosen. Dezent wird in den Bildern angedeutet, dass auch die Dame nicht abgeneigt ist, die Beziehung zu intensivieren: Bevor sie den Tee bringt, schminkt sie sich im Bad die Lippen (vgl. Rabaté 2009: 46). Die beiden plaudern nett miteinander. Rabaté zeigt dann – zunächst für die Betrachter*innen verwirrend, bis sie merken, dass der Zeichner den subjektiven Vorstellungsblick Emiles, seine Einbildung, aufgreift – die Dame, wie sie Emile gegenüber im Sessel sitzt und Tee trinkt, aber plötzlich völlig nackt ist (Abb. 6). Als Emile auch noch den Maler-Freund Edmond imaginiert und sich vorstellt, wie der – selbst im Adamskostüm – der Dame von hinten an den Busen fasst, bricht er das Gedankenspiel ab. Emile verdrängt den latenten Wunsch nach sexueller Aktivität. Er beendet das sich anbahnende Kennenlernen und flieht aufs Land. Dort freilich erlebt er das oben geschilderte unerwartete sexuelle Abenteuer mit der jungen Kommunardin. Er merkt: Sexualität ist keineswegs aus seinem Leben verschwunden. Auf dem Nachhauseweg ist er beschwingt und singt laut. Alle Suizidgedanken sind verflogen. Plötzlich wird sein Wagen von einem anderen gerammt. Sein kleines rotes Auto kippt und schlittert in einen Bach. Emile kommt im Krankenhausbett wieder zu sich (vgl. Rabaté 2009: 81f.). Den Unfall hat Lyse, eine Frau in seinem Alter, verursacht. Das schlechte Gewissen drängt sie, Emile im Krankenhaus zu besuchten (vgl. Rabaté 2009: 82f.). Beide merken: Sie sind sich sehr 10

Das biblische Motiv wurde häufig gemalt, zum Beispiel von Guido Reni: Susanna und die beiden Alten (1620/25), Auckland Gallery.

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Abb. 6: Pascal Rabaté: »Bäche und Flüsse« (2009)

sympathisch, und als Emile wieder gesund ist, lädt sie ihn zu sich ein. Nach dem Essen kommt es dazu, dass sie miteinander schlafen. Das Liebesspiel findet im Dunkeln statt – wohl dem Alter und seinen Spuren geschuldet (vgl. Rabaté 2009: 86-88). Dass mit dem Altwerden und dem zwar langsamen, doch stetigen Verfall des Körpers auch sexuelle Probleme auftreten, wird dem alten Menschen schmerzhaft bewusst

»Jeder wehrt sich gegen die Zeit«

(vgl. König 2017). Im realen Leben wie in Comic-Geschichten wird nicht selten die alt – und damit unattraktiv – gewordene Frau gegen eine hübsche junge ausgetauscht – wie im Comic Die Frau des Magiers ein Magier seine altgewordene Geliebte skrupellos fallen lässt und stattdessen ihre junge Tochter an sich bindet (vgl. Boucq/Charyn 2015: 22). Dazu passt das Thema des ungleichen Liebespaares. In Hans Baldung Griens Gemälde Ungleiches Liebespaar (1528)11 kauft sich der lüsterne Alte die junge Frau. Metusalix in den Asterix-Comics scheint dagegen glücklich mit seiner schönen jungen Frau, muss ihr aber auch jeden Wunsch erfüllen (vgl. Goscinny/Uderzo 1978: 25). Rowlandson dagegen macht sich über das Verhältnis alter Mann/junge Frau lustig: Während der Tod dem alten Mann den letzten Wein eingießt, bändelt seine junge Frau mit dem Liebhaber an (vgl. Wunderlich 2001). Von satirischer Kritik wie dieser abgesehen, galt es aber bis ins 20. Jahrhundert als gesellschaftlich akzeptierbar, wenn (aufgrund der festgelegten Rolle der Frau als rechtlich wie finanziell abhängiger ›Hausfrau‹) ältere Männer junge Frauen heirateten. Dem umgekehrten Fall dagegen wurde meist Hohn und Spott entgegengebracht. So zeigt eine flämische Karikatur von Peter Paul Rubens Die alte Kokotte, wie sich die Kokotte vor dem Spiegel herausputzt. Die Darstellung lässt keinen Zweifel an der negativ-spöttischen Wertung. (vgl. Fuchs 1906: Beilage: 376) Auch Honoré Daumier macht sich über die ältliche Dame lustig, die kokett den Handkuss des jungen Gymnasiasten entgegennimmt (vgl. Fuchs 1906: Beilage: 232). Selbst in unserer Zeit ist eine vorurteilsfreie Einstellung gegenüber Paarbildungen – gleich welchen Alters, Altersunterschieds oder Geschlechts – noch immer nicht Allgemeingut. Die Problematik greift der schon genannte Bildroman von Zidrou/de Jongh (2019) auf. Mediterranee, die einst ein begehrenswertes Fotomodell war, beklagt ihren altersbedingten körperlichen Verfall. Das belastet sie besonders, als sie sich in den Rentner und ehemaligen Möbelpacker Ulysses verliebt, der zufälligerweise ein altes Magazin mit ihrem Titelbild, das sie nackt in verführerischer Pose zeigt, aufbewahrt hat. Den körperlichen Verfall zeigen der Vergleich von Titelbild und Spiegelbild und symbolisch ein schrumpelig gewordener Apfel (vgl. Zidrou/de Jongh 2019: 72-76). Als Ausweg aus diesem Verfallsprozess haben sich die Menschen den magischen Jungbrunnen erträumt, in den man alt und hässlich eintaucht, um dann verjüngt und verschönt herauszukommen (vgl. Folkerts 1997) – wie das schon Lucas Cranach in einem Gemälde Der Jungbrunnen (1546)12 zeigte. Philip Schaufelberger greift das Thema in seiner textfreien Bildgeschichte Die Feuchtgebieterin (2013) auf. Hier benötigt die reiche alte Dame offensichtlich ein kleines Kind aus den Slums als Katalysator (Schaufelberger 2013). Hans Traxler spielt mit dem Motiv: Der genaue Blick zeigt allerdings, dass es in seiner Zeichnung nur Zufall ist, dass eine alte Dame ins Schwimmbecken hineinsteigt und am anderen Rand eine schlanke, körperbetonte junge herauskommt (vgl. Mueller 2003: 125). Das schon erwähnte Strapazin-Themenheft bringt das Jungbrunnen-Motiv auf dem Titelblatt (121/2015). Trotz der Unzufriedenheit der Frau mit ihrem Aussehen finden Mediterranee und Ulysses zueinander. Sie benötigen den Jungbrunnen nicht.

11 12

Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe. Öl/Holz, Staatliche Museen, Berlin.

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Ihre Liebe trotzt allen Altersproblemen (vgl. Zidrou/de Jongh 2019: 97). Satirisch provokant zelebriert Jean-Marc Reiser die Liebe mit 70. In seiner Kurzgeschichte zeigt er das gealterte Liebespaar beim Sexspiel in allen Variationen – allerdings zum Entsetzen der Kinder, die den Liebesakt heimlich mitansehen und sich ekeln (Reiser 1988: 33). Sohn und Schwiegertochter von Ulysses sind zwar irritiert, aber sie verstehen und akzeptieren die neue Liebe ihres Vaters (vgl. Zidrou/de Jongh 2019: 124). Auch Emile und Lyse genießen ihre Leidenschaft, akzeptieren ihr Alter und was es mit sich bringt. Am Morgen nach der Liebesnacht – nun im Hellen – sehen wir beide im Bett. Emile streichelt Lyse, die noch die Augen geschlossen hat, jetzt aber wach wird. »Was machst du da?« – »Ich erkunde dich, ich zähle deine Falten und streichle sie mit meinen Händen voller Altersflecken.« Wieder finden sie zueinander – und die Altersmerkmale sind kein Hindernis, wie es Rabaté (vgl. 2009: 89) ironisch in einem eingeschobenen Panel andeutet, das eine Krücke und ein künstliches Gebiss im Glas zeigt.

10.

Die neuen agilen Alten

Das Verhalten von Emile und Lyse zeugt von Selbstbewusstsein – und das kennzeichnet einen Aspekt, der in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat: die neuen agilen und selbstbewussten Alten. Rabaté greift das auf, wenn Emile und Lyse im Krankenhaus sich so gar nicht an die alterskonformen Regeln halten. Ein alter Opa in Filzpantoffeln schwebt der rüstigen Lyse als Gefährte nicht vor. Aber Emile hat aus seiner Begegnung mit den Kommunarden gelernt und bietet ihr schelmisch einen Joint an. Es ist dann das Pflegepersonal, das sich moralisch empört (vgl. Rabaté 2009: 84). Die nicht-konformen Alten – das ist schon Ausgang der 1980er Jahre ein Thema, das von Bilderbuch-Bildgeschichten aufgegriffen wurde. In Oma hat schwarze Haare (vgl. Hoffmann/Burroughes 1988) entspricht Oma so gar nicht dem tradierten Erscheinungsbild, das nicht nur Bilderbücher gepflegt haben. Sie sieht nicht altbacken, nicht altmodisch aus – sie wirkt vielmehr chic und flott; und sie macht vieles originell anders, steht selbstbewusst im Leben. Den Verlauf des Lebens spiegelt das traditionelle Bild von den Lebensstufen (vgl. Jahnke 1997). Es beginnt mit dem Baby in der Wiege, zeigt auf der ersten Stufe das spielende Kind, dann den jungen Mann mit einer jungen Frau, weiterhin die Familie mit Kind, auf höchster Stufe den wohl erfolgreichen Herrn in besten Jahren, bis dann die Stufen abfallen, er mit Stock, dann mit weißem Haar, gebrechlich, schließlich eingefallen im Sessel sitzend gezeigt wird, bis der Grabstein seinen Tod kündet (vgl. Jahnke 1997). 1954 hat Saul Steinberg dieses Bild modifiziert. Auch er zeigt die Lebensstufen vom Kind bis zum erfolgreichen Geschäftsmann. Doch dann folgt nur noch eine Stufe – und auf der sieht man nicht den todgeweihten Alten, sondern einen rüstigen Rentner, der sich anschickt, das arbeitsfreie Leben im Strandparadies zu genießen (Abb. 7). Zahllose Cartoons greifen das auf. Gerhard Glück zeigt, wie die Alten ihre Easy-Rider-Träume wahrmachen – zur Vorsicht auf einem Motorrad mit Stützrädern (vgl. Kleinert/Schwalm 2012: 21). Und Rainer Ehrt dreht konventionelles Rollenverhalten um: Die Alten sind sportlich fit und aktiv, die Jungen hocken träge auf der Parkbank (vgl. Polanski 2016: 112). Und die Alten sind auch hoch politisch. In der Serie Die alten

»Jeder wehrt sich gegen die Zeit«

Abb. 7: Saul Steinberg: ohne Titel (1954)

Knacker beweisen sie nicht nur soziale Haltung, sondern nutzen auch originell-fantasievollen Witz bei ihren radikalen öffentlichen Protestaktionen. So demonstrieren sie – in Banker-Anzügen, mit Zylinder und Zigarre – vor der Schweizer Bank in einem Gummi-Rettungsboot und setzen sich vehement und provokativ für die Aufnahme von Flüchtlingen ein (vgl. Lupano/Cauuet 2019, Bd. 5: 4). Solche fantasievollen Aktionen sind keinesfalls nur eine Comic-Erfindung – nein, sie spiegeln, was durchaus in unserer Gesellschaft passiert. Die »Omas for Future« stehen der Schülerbewegung im Klimakampf zur Seite.13 Aber auch bei kleineren regionalen, für die Menschen ebenso wichtigen Problemen verhalten sich viele Alte nicht länger brav und ruhig: So setzen sie sich zum Beispiel öffentlich lautstark für den Erhalt einer Dorfschule ein, die man schließen will: »Wir sind alt, wir sind laut, weil man uns die Schule klaut!« (Sossdorf 2020: 33)14

11.

Das Leben genießen

Es geht darum, auch im Alter ein sinnvolles Leben zu erfahren. Emiles Freund Edmond bringt es auf den Punkt: Er will, solange es ihm vergönnt ist, das Leben genießen. »Es gibt keine Gegenwart, nur die Zukunft vergeht!« (Rabaté 2009: 18) ist sein Lebensmotto. Glücklich im Alter sein propagiert auch eine Broschüre (vgl. Karayusuf 2019). Und das will den Titel des Beitrages, »Jeder wehrt sich gegen die Zeit«, der sich dem Prinz-EisenherzAlbum verdankt, modifizieren: Man darf sich weder gegen das Alter auflehnen noch

13 14

Oliver Schepps: Foto der Woche. In: Gießener Allgemeine (23.03.2019), S. 24. Vgl. auch Jaeggi (1996).

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sich duldend aufgeben, sondern sollte es annehmen und – soweit das körperliche und geistige Gesundheit erlauben – das Beste daraus machen. Und so endet auch mit ironischem Akzent Rabatés Comic. Die Szene zu Beginn der Geschichte hat eine neue Qualität bekommen. Emile sitzt nun mit Lyse angelnd am See. »Gilt die Wette eigentlich noch?«, fragt Lyse. »Na klar!«, entgegnet Emile. Dann – drei relativ gleiche Panel, die die beiden angelnd zeigen, signalisieren eine zeitliche Spanne – äußert sie: »Vier Fische sind vielleicht etwas viel, oder?« – »Dann drei!« – »Ich rekapituliere: Wer zuerst drei Fische gefangen hat, darf sich vom anderen wünschen, was er will, sexuell gesehen.« – »Sagen wir, zwei.« (Rabaté 2009: 94) Carpe Diem.

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»Jeder wehrt sich gegen die Zeit«

der geht, 2016, 3. Aufl., 2019; Bd. 4. Die Zauberin, 2017, 2. Aufl., 2020; Bd. 5. Reif fürs Asyl, 2019. Mueller, Andreas J. (Hg.): Der Nabel der Welt: Die Biennale der satirischen Zeichnung. Passage: Leipzig, 2003. Müller, Lina/Schenardi, Luca: Deep in the Alzheimer Land. In: Strapazin 121/4 (2015), S. 5362. Peyo: Benni Bärenstark. Bd. 2: Madame Albertine. Carlsen: Reinbek, 1980. Polanski, Franziska (Hg.): Das Alter in der Karikatur. Implizit: Heidelberg, 2016. Rabaté, Pascal: Bäche und Flüsse. Reprodukt: Berlin, 2009. Reiser, Jean-Marc: Die Liebe mit Siebzig. In: Ders.: Phantasien. Semmel-Verlach: Kiel, 1988, S. 33. Roca, Paco: Kopf in den Wolken. Reprodukt: Berlin, 2013. Schaufelberger, Philip: Die Feuchtgebieterin. In: Strapazin 111 (2013), S. 15-20. Schmidt, Friedel/Ranke, Waltraut: Ich und Opa. Stalling: Oldenburg, 1976. Segrelles, Vincente: El Mercenario: Die Prüfung. In: Comicspiegel 8 (1984), S. 37-45. Simmonds, Posy: Cassandra Darke. Reprodukt: Berlin, 2019. Stein, Uli: Im Ruhestand! Lappan: Oldenburg, 2019. Strapazin 121/4 (2015), Themenheft: Alter, Älterwerden, Altsein. Tischler, Hans/Vielmeister, Frank: Wenn die Comic-Helden so alt wären, wie sie eigentlich sein müssten. MAD 211 (1986), S. 29-31. Ungerer, Tomi: Brandale: Cartoon. In: SPIEGEL special 2 (1999), S. 15. Waechter, Philip: Die Geschichte meines Opas. Beltz & Gelberg: Weinheim, 2003. Walther, Martina: Die Reifung. In: Strapazin 121/4 (2015), S. 5-13. Wolfman, Marv/Colan, Gene: Tomb of Dracula [1972]. In: Dies.: Die Gruft von Dracula, übersetzt von Michael Strittmatter/Marc-Oliver Frisch. Panini: Stuttgart, 2020, S. 57-97. Zidrou/de Jongh, Aimé: Das unabwendbare Altern der Gefühle. Splitter: Bielefeld, 2019.

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Grote, Johnny A.: Who’s Who in Entenhausen. Ehapa: Stuttgart, 1997. Grünewald, Dietrich: Falten und graues Haar: Alte Menschen im Bild. In: JuLit 4 (1995), S. 65-79. Grünewald, Dietrich: Jung und Alt – Dialog der Generationen. In: Kunst + Unterricht 236 (1999), S. 4-8. Jaeggi, Eva: Viel zu jung, um alt zu sein: Das neue Lebensgefühl ab 60. Rowohlt: Reinbek, 1996. Jahnke, Karsten: In zehn Schritten von Null auf Hundert: Lebenstreppendarstellungen im 19. Jahrhundert. In: Annette Lepenies (Hg.): Alt & Jung. Das Abenteuer der Generationen. AK Deutsches Hygiene Museum Dresden. Stroemfeld: Basel/Frankfurt a.M., 1997, S. 129-134. Karayusuf, Edi (Hg.): Glücklich im Alter: Gesundheit & Leben. Berlin, 2019 (inpact, Beilage im STERN). Krappmann, Lothar (Hg.): Alt und Jung: Spannungen und Solidarität zwischen den Generationen. Campus Verlag: Frankfurt a.M., 1997. Lempke, Katja/Mattheis, Lisa Felicitas (Hg.): Silberglanz: Von der Kunst des Alters. AK Landesmuseum Hannover/Niedersächsisches Landesmuseum. Sandstein Verlag: Dresden, 2017. Lepenies, Annette (Hg.): Alt & Jung: Das Abenteuer der Generationen. AK Deutsches Hygiene Museum Dresden. Stroemfeld: Basel/Frankfurt a.M., 1997. Lepenies, Wolf: Generationenbeziehungen in Entenhausen. In: Annette Lepenies (Hg.): Alt & Jung: Das Abenteuer der Generationen. AK Deutsches Hygiene Museum Dresden. Stroemfeld: Basel/Frankfurt a.M., 1997, S. 103-111. Neyer, Hans Joachim (Hg.): Thomas Rowlandson: Grazie, Galanterie, Groteske – englische Bildsatire zwischen Rokoko und Romantik. AK Wilhelm Busch-Museum: Hannover, 2001. Ries, Gregor: Pascal Rabaté. In: Comixene 129 (2018), S. 50-53. Schepps, Oliver: Foto der Woche. In: Gießener Allgemeine (23.03.2019), S. 24. Seckel, Al: Große Meister der optischen Illusionen. Bd. 1. Tosa: Wien, 2004. Shahar, Shulamith: Mittelalter und Renaissance: Ein soziales Netz entsteht. In: Pat Thane (Hg.): Das Alter: Eine Kulturgeschichte. Primus Verlag: Darmstadt, 2005, S. 71111. Sossdorf, Rüdiger: Launsbach kämpft für die »nau Schul«. In: Gießener Allgemeine (12.02.2020), S. 33. Thane, Pat (Hg.): Das Alter: Eine Kulturgeschichte. Übers. von Dirk Oetzmann/Horst M. Langer. Primus Verlag: Darmstadt, 2005. Ullrich, Bettina: Das Alter in der Kunst: Die Darstellung des alten Menschen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Athena: Oberhausen, 1999. Wunderlich, Uli: Der Tanz in den Tod: Totentänze vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Eulen Verlag: Freiburg i.Br., 2001.

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»Jeder wehrt sich gegen die Zeit«

Abbildungen • •

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Abb. 1: Deutsche Postkarte (1880). In: Al Seckel: Große Meister der optischen Illusion. Bd. 1. tosa: Wien, 2004, S. 14. Abb. 2: Conrad Mayer: Die letzten 30 Lebensjahre von Issak und seiner Frau (1675). In: Pat Thane (Hg): Das Alter: Eine Kulturgeschichte. Primus Verlag: Darmstadt, 2005, S. 118f. Abb. 3: Paco Roca: Kopf in den Wolken. Reprodukt: Berlin, 2013, S. 96. Abb. 4: Antonio Altarriba/Kim: Die Kunst zu fliegen. avant: Berlin, 2012, S. 7. Abb. 5: Paco Roca: Kopf in den Wolken. Reprodukt: Berlin, 2013, S. 19. Abb. 6: Pascal Rabaté: Bäche und Flüsse. Reprodukt: Berlin, 2009, S. 47. Abb. 7: Saul Steinberg: ohne Titel (1954). In: Pat Thane (Hg): Das Alter: Eine Kulturgeschichte. Primus Verlag: Darmstadt, 2005, S. 276.

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»Ich bleibe hier«: Alter(n)sdarstellung und –konzepte in Thomas von Steinaeckers und Barbara Yelins Comic Der Sommer ihres Lebens Ursula Klingenböck

Fade out. In der Schlussvignette des Comics verblasst mit einem Kindheitssommer bzw. mit der Erinnerung an diesen auch ein Leben: Das trotzige »Ich bleibe hier!« (von Steinaecker/Yelin 2017: 75), mit dem sich Gerda Wendt der Heimreise von einem Camping-Urlaub und der Wiedereingliederung in den Alltag zu entziehen sucht, kann aufgrund eines für den Comic charakteristischen überblendenden Erzählens zugleich als Weigerung der knapp 85-jährigen Frau gelesen werden, nach einem Herzinfarkt ins Leben zurückzukehren. Der folgende Beitrag nähert sich dem Thema ›Alter(n) in der Populärkultur‹ am Beispiel von Thomas von Steinaeckers und Barbara Yelins Comic Der Sommer ihres Lebens (2015/16 im Webformat und 2017 als Buchpublikation). Ausgehend von Timur Vermes’ Diagnose, wonach »die alternde Gesellschaft […] im Comic angekommen« (2015) sei, ist zunächst nach Gegenwartscomics zum Thema Alter(n) und ihrer Aufarbeitung durch die Wissenschaft zu fragen. Daran anschließend soll die immer noch verbreitete Korrelierung des Genres Comic mit einem Populären kritisch betrachtet und für den Sommer ihres Lebens modelliert werden. Besondere Bedeutung wird dabei der Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Der Sommer ihres Lebens zukommen. Für die darauffolgende Analyse wird Alter(n) als polyseme Kategorie verstanden: als intrinsisches (biologisches) Merkmal wie als Zuschreibung, als individuelles wie als typisches Phänomen, als Zustand wie als Prozess. Das Thema ›Alter(n)‹ interessiert zunächst in seiner Beziehung zu narrativen Mustern, insbesondere zu Formen des Life-Writings. Der Hauptteil des Beitrags fokussiert auf Konzeptionen des Alter(n)s, deren zeitliche und räumliche Figurationen sowie deren sprachliche und visuelle Codierungen im Intermedium (vgl. Packard 2016: 56) Comic: auf die physischen und psychischen Faktoren, auf die sozialen und kulturellen Dimensionen und nicht zuletzt auf die politischen Implikationen eines ›westlich‹ codierten Alter(n)s. Der Sommer ihres Lebens ist somit nicht nur als Forum der (Re-)Produktion von Vorstellungen und Typisierungen des Alter(n)s zu lesen,

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Ursula Klingenböck

sondern auch darauf zu befragen, welche theoretischen Konzeptionen des Alter(n)s der Comic aufgreift und inwieweit er sich in aktuellen Alter(n)sdiskursen positioniert. Der methodische Zugang orientiert sich an der Multidimensionalität des Gegenstandes: Ist die text-bildwissenschaftliche Untersuchung von Alter(n)scomics zum einen durch soziologische (vgl. van Dyck 2015) wie kulturwissenschaftliche (vgl. Zimmermann u.a. 2016) Fragestellungen grundiert, wird sie zum anderen durch Aspekte von ›Geschlecht‹ (vgl. Reitinger 2018) bzw. ›Körper‹ (vgl. Keller/Meuser 2017; Denninger 2018) und ›Behinderung/Pflegebedürftigkeit‹ (vgl. Büscher/Dorin 2014) sowie deren intersektionelle Verschränkungen (vgl. Höppner 2011) perspektiviert.

1.

»Das richtige Thema für Sprechblasen?«1 – Alter(n), Comic und ein Populäres

Während der konventionelle serielle Comic gerade durch die Abwesenheit von Alter(n)sprozessen gekennzeichnet ist,2 zeigt sich das Phänomen des Alter(n)s im gegenwärtigen grafischen Erzählen in zwei Varianten: als wesentlich strukturelles Moment wie beispielsweise in Formen des (dokumentarischen wie fiktionalen) LifeWritings und als zentrale inhaltliche Dimension im so genannten ›Alter(n)scomic‹, der das Alter(n) in seinen Erscheinungsformen, Bedingungen und Problemkonstellationen selbst zum Gegenstand der Darstellung macht. Die (neue) Fusion von Alter(n) und Comic wird über die Dichotomie von Stoff und Form bzw. Format abgehandelt und als durchaus ungewöhnlich und riskant beschrieben: für Autor*innen, weil der Gegenstand für den Comic »zu groß« sei, für Verlage, weil sich das unschöne Thema (vgl. Vermes 2015) Alter(n), Sterben und Tod (angeblich) nicht verkaufe. Abgesehen davon, dass die Argumentation aufgrund fragwürdiger Zuschreibungen, die den Comic als ›leichte‹ Form der Unterhaltung und das Alter(n) als Tabu konsolidieren, problematisch ist, beweisen zahlreiche Beispiele allein aus den letzten Jahren das Gegenteil: Für den deutschsprachigen Comic sind das u.a. Ralf Königs Herbst in der Hose (2017), Peter Butschkows Was geht’n im Alter so ab, Alter? (2018), der Sammelband Olderix (2017) sowie das Themenheft ›Alter‹ des deutsch-schweizerischen Comic-Magazins Strapazin (4/2015).3 Mit der wachsenden Anzahl von Alter(n)scomics scheint auch eine neue Qualität der Auseinandersetzung verbunden, die das Alter(n) in seinen vielfältigen Dimensionen thematisiert und reflektiert. Ein sehr subtiles Beispiel von Alter(n) im Comic ist Der Sommer ihres Lebens von Thomas Steinaecker und Barbara Yelin. Die 2017 erschienene Buchpublikation wurde – und man möchte hier gerne sagen: zu Recht – von der Kritik intensiv und ausschließlich positiv rezipiert (zum Beispiel Präauer 2016;

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Vermes (2015). Superhelden altern in der Regel nicht. Zu einer (neuen) Akzeptanz des Alter(n)s im Helden-Genre vgl. Jones/Batchelor (2015), wobei der Comic dort nur peripher berücksichtigt wird. Nicht-deutschsprachige Beispiele wären Joyce Farmers Special Exits: A Graphic Memoir (2010), Judith Vanistendaels Toen David zijn stem verloor (2012), Roz Chasts Can’t We Talk About Something More Pleasant (2014), Zidrous und Aimée de Jonghs L’Obsolescence Programmée de nos Sentiments (2018). Von einem Comic-Trend ›Alter(n)‹ würde ich – anders als für Life-Writing – dennoch nicht sprechen.

»Ich bleibe hier«

Haas 2017; Vermes 2015 und 2017; Schlüter 2017; Platthaus 2018). In der Literaturwissenschaft ist er mit einem Beitrag der Verfasserin (Klingenböck 2018) angekommen. Eine breit angelegte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Alter(n) im Comic steht noch aus; die meisten Beiträge arbeiten ein konkretes Beispiel (Hoffmann 2010; Müller 2013; u.a.) oder mehrere (Czerwiec/Huang 2017; Haverkamp 2014; Neumann 2015; Polanski 2016; u.a.), nach unterschiedlichen Kriterien zusammengestellte Beispiele grafischen Erzählens ab; die themenrelevante Herausgeberschrift Aging Heroes. Growing Old in Popular Culture (Jones/Batchelor 2015) fokussiert auf Theater, Film und Comic. Die Korrelierung des Comics mit einem Populären,4 wie sie mit Bezug auf den Sommer ihres Lebens sowohl bei Vermes (2015) als auch bei Jones/Batchelor (2015) explizit hergestellt wird, ist einerseits historisch gewachsen. Aufgrund der massenmedialen Verbreitung von Comics, der Kopplung an ein kindliches oder kindhaftes Publikum, der Zuschreibung von sprachlichem Reduktionismus und struktureller Einfachheit, vielleicht auch eines moralisch Verwerflichen, wurde das Erzählen in Bildern jahrzehntelang (und weitgehend unreflektiert) als ›populäre‹ Form verstanden (kritisch dazu vgl. Stein 2009: 205; Ditschke u.a. 2009). Andererseits steht sie im Kontext eines aktuellen Interesses an der Kategorie des Populären.5 Ein – im Übrigen erst zu definierendes – ›Populäres‹ hat Konjunktur in unterschiedlichen Domänen, eine Neujustierung zeichnet sich insbesondere für die Implikationen von Wertung ab: Während populäre Kunst lange Zeit mit einem ›verminderten Anforderungsgrad‹ korreliert und bestenfalls als das ›Andere‹ einer ›seriösen‹ Kunst mitgedacht wurde (Kühn 2017: 44f.), rückt sie nun selbst in den Fokus. Insbesondere aufgrund einer repräsentativen Funktion (Göttlich u.a. 2010: 10f.) des Populären werden hegemoniale Mechanismen von Exklusion und (Ab-)Wertung, wie sie in der gebräuchlichen Dichotomie von High Art und Low Art deutlich werden, zusehends aufgebrochen. Den folgenden Überlegungen liegt ein quantitativer wie qualitativer Begriff des Populären zugrunde: Als ›populär‹ wird dasjenige bezeichnet, was viele erreicht und was viele mögen. Wenn also dieser Beitrag den Sommer ihres Lebens in den Kontext populärer Kultur stellt, dann rechtfertigt sich das ausdrücklich nicht über eine in der Form des Comics angeblich per se angelegte Popularität, sondern über die spezifischen Aspekte seiner Entstehung, Verbreitung und Rezeption.

2.

Der Sommer ihres Lebens – Entstehung, Publikation, Medialität

Der Sommer ihres Lebens ist eine Koproduktion des Journalisten, Schriftstellers und Regisseurs Thomas von Steinaecker (Text) und der Comiczeichnerin und -autorin Barbara

4 5

Verlässliche Informationen zu einem komplexen Phänomen finden sich bei Kühn/Troschitz (2017) sowie Hecken/Kleiner (2017). U.a. Kunst/Ästhetik, Geschichte, Medien, Gesellschaft, Politik. Einen Überblick geben die Arbeitsbereiche und Publikationen der Forschungsstelle »Populäre Kulturen« der Universität Siegen.

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Yelin (Zeichnungen und Lettering).6 Konzipiert wurde er als Strip mit zwei Zeilen zu je maximal sechs Panels im ›klassischen‹ Comic-Format der Zeitung (von Steinaecker 2014)7 und damit für ein Medium populärer Massenkommunikation.8 Die Zeitungsfassung des Sommers wurde nicht gedruckt; stattdessen erscheint die für das neue Format adaptierte Fortsetzungsgeschichte um Gerda Wendt ab Herbst 2015 (also sehr zeitnah) als Webcomic in fünfzehn Episoden auf Hundertvierzehn.de (von Steinaecker/Yelin 2015/16), dem literarischen Online-Magazin des S. Fischer-Verlags, wo sie auch nach wie vor abrufbar ist. 2017 wird der neuerlich umgearbeitete Sommer ihres Lebens in einer Hardcover-Ausgabe bei Reprodukt in Berlin verlegt. Für die Buchpublikation wurden strukturelle und inhaltliche Änderungen vorgenommen, insbesondere wurden eine Eingangs- und eine Schlusssequenz sowie Opening-Panels ergänzt, welche die aktuelle Episode raum-zeitlich situieren und motivieren, die Architektur an die festen Vorgaben von Seitenformat und -zahl angepasst, Redeinhalte weggelassen, hinzugefügt oder in ihren sprachlichen Merkmalen verändert. Der Sommer ihres Lebens dokumentiert bzw. performiert in der Addition bzw. im Übereinanderlegen verschiedener Zeichentechniken und -stile einen Arbeitsprozess, den Yelin (2017) über die Metaphern der »Suche« und der »Schichtarbeit« beschreibt: Bleistiftskizzen werden mit schwarzem Buntstift akzentuiert und aquarellartig coloriert, ausgeprägte Licht-Schatten-Effekte erzeugen räumliche Tiefe, Transparenz und den scheinbar ungenauen, leichten Duktus des Buches. Die Narration und damit die Konzeptionen des Alter(n)s werden von der primären Version (dem Comic-Strip) zur sekundären (dem Webcomic) und tertiären (dem BuchComic/dem Comic-Buch) mehrfach modifiziert. Für den (nicht realisierten) ZeitungsStrip fasst Thomas von Steinaecker den Plot wie folgt zusammen: »Eine alte Frau liest Zeitung und bricht dabei sterbend zusammen« (von Steinaecker 2014). Der Sturz vom Sessel erfolgt in Zeitlupe und wird von Flashbacks begleitet, wie sie aus Nahtoderfahrungen bekannt sind. Erst in der 15. und letzten Episode wird Gerda tot auf dem Boden aufschlagen. Die Buchfassung behält mit der hochbetagten Protagonistin, dem Schauplatz, dem Kontext von Heim und Pflege, der Untergliederung in 15 Abschnitte, dem Motiv der Erinnerung und dem Tod der Protagonistin wesentliche inhaltliche und strukturelle Momente des narrativen Settings bei. Nicht übernommen werden die extrem verkürzte erzählte Zeit und ein damit einhergehendes zeitdehnendes Erzählen, das durch die periodische Erscheinungsweise – die raum-zeitliche ›Sperrung‹ der einzelnen Episoden und die damit einhergehende Partikularisierung der Narration – zusätzlich verstärkt wird. Die Handlung der Druckfassung von Der Sommer ihres Lebens erstreckt sich über mehrere Wochen bzw. Monate: Zu Anfang ist das Laub der Bäume

6

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Für bio-bibliografische Angaben vgl. den (v.a. in den bibliografischen Teilen aktuellen) Artikel des KLG (Reichmann 2013/2017/2018) zum Autor bzw. die Homepage der Comic-Zeichnerin (Yelin 2020). Dort sind auch E-Mail-Wechsel, Skizzen und Überarbeitungen sowie Zeichentechnik und gemeinsamer Arbeitsprozess dokumentiert. Die Frankfurter Rundschau und der Tagesspiegel, für die Yelin 2012 bzw. 2016 gezeichnet hat, halten im jeweiligen Publikationszeitraum bei jeweils ca. 110.000 verkauften Exemplaren pro Quartal (IVW 2020).

»Ich bleibe hier«

›grün‹,9 gegen Ende – der Wechsel der Jahreszeiten wird mit Gerdas biologischem Alterungsprozess parallel geführt – verfärben sich die Blätter und fallen von den Bäumen (von Steinaecker/Yelin 2017: 53-55). Das episodische Erzählen bleibt zwar erhalten, wird aber durch die Organisation ›Buch‹ einem Gesamtkonzept, zu dem auch der Eindruck von Geschlossenheit zählt, unterstellt. Erreicht wird diese u.a. durch kohäsionssteigernde Strategien wie die Verknüpfung einzelner Kapitel und die zweifache Rahmung. Im Peritext bzw. an der Schnittstelle von Peritext und Text platziert, setzt sie jeweils ein (Leit-)Motiv der Geschichte bzw. greift sie dieses wieder auf. Die doppelseitigen Bilder des Sternenhimmels, wie sie auf den Umschlagseiten zwei bzw. drei (und der jeweils zugehörigen rechten bzw. linken Seite) zu sehen sind, kehren in den Beobachtungen des Nachthimmels durch Gerda und ihren Vater sowie durch Gerda und Jörg (von Steinaecker/Yelin 2017: 16f. sowie 62) wieder. Die Bildsequenz des Vorsatzblattes, die eine singende, pickende, sitzende, hüpfende Amsel zeigt, kehrt in der Erzählung im Motiv des singenden Vogels, der Gerda Wendts Alltag im Heim begleitet, wieder (von Steinaecker/Yelin 2017: 23, 35) und wird in den beiden Nachsatzblättern fortgeführt und geschlossen: Die Amsel fliegt mit einem Vogelschwarm auf und davon.

3.

Alter(n)sdarstellung und -konzepte in Der Sommer ihres Lebens

3.1

Alter(n) und Life Writing

Für Comic-Strip, Web-Comic und Buch-Comic/Comic-Buch des Sommers bilden Formen des Life-Writings, insbesondere Biografie und Autobiografie, das Dispositiv. Für beide ist das Leben in seiner zeitlichen Gerichtetheit, wie sie auch in der Metapher vom Lebenslauf Ausdruck findet, zentral. Eigen- oder fremdfokussiert, in der Rückschau und über Erinnerung zur Gänze oder in Teilen (re-)konstruiert, ist die Geschichte vom Leben auch immer eine Geschichte vom Alter(n). Der Sommer ihres Lebens berichtet – in der Fokalisierung durch und mit der Stimme der Protagonistin – die fiktive Lebensgeschichte der knapp 85-jährigen Gerda Wendt von der Kindheit bis zum Tod anhand charakteristischer Abschnitte. In seiner wesentlich chronologischen10 Darstellung der hochbegabten, in der Peergroup verlachten Gerda, vom Studium der Chemie, der Etablierung in einer von Männern dominierten akademischen Community, vom Konflikt zwischen Karriere und Beziehung, von der Entscheidung für eine Familie, der Untreue des Partners und der Scheidung, der Rückkehr in den Beruf und schließlich der Gegenwart im Pflegeheim, folgt der Comic nicht nur biografischen Mustern. Die

9 10

Hier nicht als exakter Farbwert, sondern in seiner metaphorischen Qualität zu verstehen. Die Chronologie wird in den beiden letzten Kapiteln durchbrochen: Kapitel XIV. »Ronnie« greift auf die Zeit während des Studiums zurück, Kapitel XV. »Das Ende eines Sommers« auf einen Campingurlaub mit den Eltern. Die Kapitel XI. »Von heute auf morgen« und XIII. »Lichtgeschwindigkeit« fallen insofern aus der Linearität der Lebensgeschichte heraus, als auf der Bildebene kein Rückblick erfolgt und ausschließlich die Gegenwart des Heimes erzählt wird. Eine Problematisierung des chronologischen Entwurfs von Lebensgeschichte(n) erfolgt für die Jahre der Eheschließung bis zur Scheidung durch die Doppelseite 50/51.

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Erzählung von Bildung, Erwerbstätigkeit, Familie und Ruhestand entspricht dem Lebensphasenmodell, wie es von Laslett (1995: 35, 277f.) entworfen und von anderen Autor*innen (u.a. von Abels u.a. 2008; Höpflinger 2017) weiter modelliert wurde, wobei das junge Alter (gute Gesundheit, hohe Selbständigkeit) im Sommer ausgespart bleibt. Als erzähltes Jetzt fungiert das durch gesundheitliche Beeinträchtigungen, Hilfe- und Pflegebedarf sowie Nähe zum Tod gekennzeichnete hohe Alter der Protagonistin. Anders als in der Konzeptfassung wird es auch selbst zum Gegenstand der Darstellung und der Reflexion. Gerade in der Schilderung des Alter(n)s erreicht der Comic, der durch die Verwendung von Versatzstücken aus der (privilegierten) Frauenbiografie (zu Biografie und Geschlecht vgl. Gregor/Ruby 2018) über die Erzählung eines individuellen Lebens hinausgeht, Modellcharakter. Am Beispiel von Gerda Wendt erzählt der Sommer die sukzessive und partielle Emanzipation von sozialen und strukturellen Zwängen, die erst am (eigenen) Alter(n) scheitert. In der Verschränkung von sexistischen und ageistischen (McNamara/Williamson 2019) Momenten sowie deren Durchbrechung führt der Comic das Alter(n) bzw. das Sprechen von ihm aus intersektioneller Perspektive vor. Geschlechterstereotypen und -rollen werden insbesondere in den Kontexten von Bildung, Profession und Familie und damit am Beispiel der ersten beiden, über die Erinnerung aufgerufenen Lebensphasen Gerda Wendts verhandelt. Zeichen einer – im Übrigen nicht per se mit fortgeschrittenen Lebensjahren gekoppelten (Kimball 2017) – Altersdiskriminierung finden sich dagegen in der erlebten Gegenwart der hochaltrigen Protagonistin. Deutlich wird sie u.a. in der Verteilung von Zeit und Zuwendung bzw. der daraus resultierenden Abhängigkeit von Pflegenden (von Steinaecker/Yelin 2017: 53, 55), im Sprechen über die Betroffenen in deren Gegenwart, ohne diese allerdings miteinzubeziehen (von Steinaecker/Yelin 2017: 73), in Entscheidungen, die über die Bewohner*innen hinweg getroffen werden und durch die auch Fähigkeit aberkannt und Hilflosigkeit ›erlernt‹ wird (von Steinaecker/Yelin 2017: 39, 69), im Vor-Augen-Führen von Schwächen (von Steinaecker/Yelin 2017: 13) sowie im Nicht-ernst-Nehmen einer Situation durch (vielleicht sogar gut gemeinte) Scherzchen (von Steinaecker/Yelin 2017: 49). Neben einer Mikro-Geschichte des Alter(n)s, wie sie (hier) durch die Abfolge von Lebensphasen modelliert und für Gerda Wendt entwickelt wird, erzählt der Comic mit dem Alter von Erde und Universum auch eine bzw. mehrere Makro-Geschichten und setzt sie in ein explizites Verhältnis zueinander. Mit 0,0000002 bzw. 0,00000007 Prozent schlägt ein Menschenalter von »aufgerundet« (von Steinaecker/Yelin 2017: 57) 85 Jahren – die durchschnittliche statistische Lebenserwartung für Frauen in Europa,11 mit der Gerda in ihrem Gedankenexperiment auch ihr eigenes Leben enden lässt12 – darin nur minimal an. Was die erd- und universalgeschichtliche Dimension in eindrücklichen Zahlen vorführt – nämlich die Geringfügigkeit eines, aber auch des menschlichen Lebens in einem Zeitkontinuum –,13 wird durch einen Vergleich innerhalb der Gattung

11 12 13

Das durchschnittliche Lebensalter von Frauen wird von der WKO für das Jahr 2018 mit 84,6 Jahren angegeben. »Wenn es so weit ist…« bzw. ich »werde […] gewesen sein«, von Steinaecker/Yelin (2017: 57, 58f.). Das biologische Alter wird in Jahren und somit über temporale Parameter gemessen, im Prozess des Alterns materialisiert sich die physikalisch unhaltbare Vorstellung vom ›Fortschreiten‹/›Vergehen‹ von Zeit.

»Ich bleibe hier«

›Homo‹ bestätigt: Das Individuum (Gerda) verhält sich zur Gesamtbevölkerung der Erde wie 1 : 112 Milliarden.

3.2

Zeiten und Räume des Alter(n)s

Für die Gattung des Life-Writings und deren wesentliche Operation des Erinnerns ist das Alter(n) konstitutiv (zu Biografie und Alter vgl. Aner/Richter 2018). Als Erwerb und Vorrat von erzählbarer Zeit macht es eine Narration, in deren Zentrum das Vergangene steht, erst möglich. Wie auch die Konzeptfassung arbeitet das Comic-Buch mit zwei temporalen Ebenen, einem Jetzt und einem in der Analepse erzählten ›Früher‹. Filmische Techniken, insbesondere Schnitt und Blende,14 bringen aktuelles und vergangenes (Er-)Leben in ein komplexes Verhältnis zueinander. Eine Bewegung zwischen den Zeiten, wie sie der Physikerin nach den Regeln bzw. Hypothesen der allgemeinen und speziellen Relativitätstheorie, zum Beispiel die Zeitverzögerung des Sternenlichts und das Tachyonen-Experiment (von Steinaecker/Yelin 2017: 17, 46f.)15 , geläufig ist, wird zum einen durch äußere Reize initiiert: Zahlen, welche die Stockwerke benennen und die Topologie des Altersheims erschließen, kehren in erinnerten Kinderreimen und der Klassifikation von Gerdas schulischen Leistungen (von Steinaecker/Yelin 2017: 11) wieder, das Zwitschern der Vögel, das durch das offene Fenster dringt, wird in der Leitmusik von Gerdas Adoleszenz (dem Beatles-Song Blackbird) wieder gefunden (von Steinaecker/Yelin 2017: 24, 34).16 Himmelskörper, insbesondere das Bild des Großen Bären, sind sowohl der alten Frau als auch dem Kind Gerda Gegenstand der Betrachtung. Die Technik ihrer Bildkonstitution – die »einzelnen Punkte« zu verbinden, um das »Ganze« sehen zu können (von Steinaecker/Yelin 2017: 17, 62), sprich: die einzelnen Phasen des menschlichen Lebens retrospektiv und in ihren chronologischen und kausalen Zusammenhängen zu betrachten – erschließt auch die auf ihr beruhende Lebenserzählung (Mahr 2016: 102) und stellt nicht zuletzt eine Lesestrategie für den Comic bereit. Andererseits erfolgt das Aufrufen der Vergangenheit auch durch eine bewusste Willensanstrengung: Obwohl die Erinnerung schmerzt, »will« Gerda »jetzt wieder öfter an früher denken« (von Steinaecker/Yelin 2017: 9) und sich mit der Vergangenheit konfrontieren. Das Erinnern ist im Sommer ihres Lebens mehrfach funktionalisiert. Abgesehen von einer genrespezifischen konzeptuellen Notwendigkeit des Erzählens vom Leben und seiner Geschichte, ermöglicht es der Protagonistin, sich einem tristen Hier und Jetzt zumindest zeitweilig zu entziehen. Zur eskapistischen Funktion kommt eine zweite, identitätssichernde (Brockmeier 1999). In einem Alltag, der als Vorwegnahme des physischen Todes erlebt und auch so benannt wird (»Oft denke ich, ich bin bereits tot«, von Steinaecker/Yelin 2017: 7), dient die Praktik des Erinnerns der Wahrnehmung und damit der Vergewisserung ihres (lebendigen) Selbst: »Ich spüre dann…/…ich lebe

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15 16

Abblende: Gerdas Verschwinden im Horizont (von Steinaecker/Yelin 2017: 75); Aufblende: Gerdas ›Auftritt‹ als Heraustreten aus dem Dunkel (von Steinaecker/Yelin 2017: 7); Überblendung: die junge Gerda vor dem Pflegeheim, das sie als Hochaltrige bewohnt (von Steinaecker/Yelin 2017: 21). Das hypothetische Tachyon-Antitelefon beruht auf einem Gedankenexperiment Albert Einsteins. Erinnerung wird nicht ausgelöst von (Familien-)Fotos, die zwar zahlreich vorhanden sind, aber nicht zum Gegenstand von Gerdas Wahrnehmung werden (von Steinaecker/Yelin 2017: 61f.).

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noch« (von Steinaecker/Yelin 2017: 9). Vergegenwärtigt wird das vergangene Geschehen über mentale Repräsentationen wie Erinnerungen, Träume und Imaginationen. In der Erinnerung werden die (Mess-)Einheiten der Zeit und ihre Relationen außer Kraft gesetzt: »Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben« (von Steinaecker/Yelin 2017: 6). Das Erzählen ist im Sommer ihres Lebens konstant perspektiviert durch die Protagonistin, welche – über ihre szenische Präsenz- und Akteursfunktion hinaus – in den Gedanken wiedergebenden Blocktexten als Ich-Erzählerin und Kommentatorin fungiert. Visualisiert werden die Zeitebenen und ihr unterschiedlicher Realitätsstatus über farbliche Codierungen: Unter der Annahme eines imaginären Kipp-Punkts vom ›NichtAlter‹ zum (hohen) Alter markieren positiv semantisierte, warme Farben ein erinnertes oder geträumtes ›Früher‹, kalte und negativ konnotierte Farben ein erlebtes und mit der Gegenwart der Protagonistin in eins fallendes ›Später‹. Der Wechsel der Zeitebenen unterliegt auch über die Farbtemperatur hinaus einer Dramaturgie des Kontrasts: zwischen Hell und Dunkel, zwischen Komplementärfarben (Simultankontraste) sowie zwischen Farben an sich (v.a. Rein/Trüb- sowie Bunt/Unbunt-Kontraste). Indem sie unterschiedliche Räume bezeichnen, fungieren die Leitfarben auch als Lokalfarben. Den wechselnden Handlungsräumen der erinnerten Vergangenheit steht der konstante Schauplatz der erlebten Gegenwart gegenüber: das Pflegeheim,17 in dem Gerda untergebracht ist und das nicht nur zu ihrem ›Jetzt‹, sondern auch zu ihrem ›Hier‹ wird. Kapitel II. »Haus mit schwarzen Zimmern« kontextualisiert das Pflegeheim über die Anspielung auf die Lexemmetapher aus der Astrophysik (zugleich Gerdas Profession) über die Qualität von Dunkelheit und Leere und damit negativ – als abgeschlossenen Raum, in den Materie zwar hinein, aus dem sie aber nicht mehr hinaus gelangen kann, als ›toten‹ oder auch todbringenden Raum. Über das Phänomen des Schwarzen Loches (vgl. auch dessen Visualisierung, von Steinaecker/Yelin 2017: 13) stellt Der Sommer ihres Lebens auch die Frage nach der Zeit (Was war davor/Vergangenheit und was wird danach sein/Zukunft?) und nach dem Raum (Was liegt innerhalb und außerhalb?). Das Pflegeheim ist als Managed Care Area durch Eigenverwaltung, Institutionalisierung, ›Kollektivierung‹ und, als deren Effekt, Homogenisierung gekennzeichnet. Es überwiegen Räume gemeinsamer Nutzung (Speisesaal, Fernsehraum, Gänge, Garten als quasi ›öffentliche‹ Flächen innerhalb der Quasi-›Privatheit‹ des Pflegeheimes), als einziges Rückzugsgebiet bleibt das (immerhin allein bewohnte) Zimmer. Konzipiert ist das Pflegeheim als anderer Raum und als Raum des Anderen. Der Zu- und Austritt sowie das Zusammenleben folgen einer strengen Strukturierung, die regelmäßige Taktung durch gleichbleibende und immer wiederkehrende, ritualisierte (Tages-)Abläufe (Essen, Schlafen, Körperpflege, Fernsehen, Spaziergang, ärztliche Versorgung) und eigene Regeln machen die Parallelwelt des Pflegeheims überschaubar, um nicht zu sagen: kontrollierbar. Über die binäre Konstruktion von Innen und Außen ist es von umliegenden Räumen hermetisch geschieden, was auch in der wiederholten Totalen auf das Gebäude aus der Zentralperspektive (von Steinaecker/Yelin 2017: 7, 21, 61) sowie

17

Analog zur neuen Literaturgattung des »Pflegeheimromans« (Seidler 2010: 347; Herwig 2014: 235) kann Der Sommer ihres Lebens als »Pflegeheimcomic« bezeichnet werden.

»Ich bleibe hier«

auf Gerdas Zimmer aus starker Obersicht (von Steinaecker/Yelin 2017: 24, 42, 69) deutlich wird. Ein Verlassen des Areals, zu dem als Erweiterung des Gebäudes auch der anstaltseigene Garten gehört, ist nicht möglich. Der ›Ausgang‹ aus dem Pflegeheim wird – auch abgesehen von den bereits erwähnten Erinnerungen – lediglich virtuell möglich: Als Scharniere von einem ebenso beengten wie beengenden zu einem symbolisch freien und befreienden Raum fungieren Fenster (von Steinaecker/Yelin 2017: 7, 23, 61f.), Medien der Reproduktion (von Steinaecker/Yelin 2017: 61f.) und Kommunikation (von Steinaecker/Yelin 2017: 29, 53). Die Wahrnehmung von Welt bleibt in von Steinaeckers/Yelins Comic aufgrund des Blickmanagements, vor allem der Rahmung, wie sie Fotografie, Fernseh- und Tablet-Bildschirm zeigen, ausschnitthaft und vermittelt. Mit der Separierung betreibt das Seniorenwohnhaus auch (s)eine eigene Marginalisierung: Das Pflegeheim ist als Heterotopie im Sinne Foucaults (1992: 34-46) konzipiert; indem es für eine Gesellschaft und deren Bestand funktionalisiert wird, die NichtKonformes zu ihrem eigenen ›Schutz‹ aussortiert, indem sie es unsichtbar macht, kann sie als Krisen- bzw. Abweichungsheterotopie gelesen werden, wie sie Foucault am Beispiel von Gefängnis und Psychiatrie entworfen hat. Welche gesellschafts- und machtpolitische Relevanz diesem »Kurzschluss von Alter und Alterität« (Mehlmann/Ruby 2010: 26) für gegenwärtiges Alter(n) zukommt, soll im Folgenden exemplarisch am Sommer ihres Lebens untersucht werden.

3.3

Aspekte des Alter(n)s

Die Analyse des ›Alter(n)s‹ in von Steinaeckers/Yelins Comic folgt einer durch die Komplexität des Phänomens ›Alter(n)‹ und die Polysemie des Alter(n)sbegriffs indizierten, pragmatischen Zweiteilung. Zum einen fokussiert sie auf das Alter(n) des einzelnen Menschen in seinen physischen/physiologischen und psychischen/psychologischen Komponenten; zum anderen nimmt sie ein über das Individuum hinausgehendes, durch soziale, kulturelle und politische Kontexte geformtes Alter(n) in den Blick. Für beide sollen die Semantik bzw. die Semantisierungen des Alter(n)s in ihren sprachlichen bzw. schriftlichen und ikonischen (von Körper und Körperzeichen, von Attributen u.a.) Codierungen untersucht werden.

3.3.1

Physische/physiologische und psychische/psychologische Aspekte

Das hohe Alter trägt im Sommer ihres Lebens ästhetische18 und pathologische Züge, die in erster Linie über organische Merkmale kommuniziert werden: Gerdas Körper, der im Zuge von Pflegehandlungen auch teilnackt gezeigt wird, den sie anfänglich zu verbergen sucht und für den sie sich schämt, ist schlaff, faltig und in seinen Proportionen verrückt. Aufgrund eines allgemeinen Schwächezustands und eingeschränkter Bewegungsmöglichkeiten bedarf sie pflegerischer, später auch medizinischer und notfallmedizinischer Versorgung. Das Alter wird als (aktueller) Zustand gezeigt, es ist aber auch ein gerichteter und unabwendbarer Prozess, an dessen Ende der physische Tod steht. Während die Protagonistin stetig an Körperkraft und -beherrschung verliert, nimmt 18

Auf den in mehrfacher Hinsicht inkorrekten Begriff der Anti-Ästhetik wird hier bewusst verzichtet (vgl. Denninger 2018).

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ihre Hilfsbedürftigkeit kontinuierlich zu. Die Progression des Alters wird vor allem an der Inanspruchnahme von personeller Unterstützung und Hilfsmitteln deutlich. Immer weniger kann sie den stets gleichen, die Pflegehandlungen begleitenden Anweisungen der Pflegenden – stereotyp etwa die Aufforderung, die Arme höher zu heben (von Steinaecker/Yelin 2017: 15, 39, 69) – Folge leisten. Geht Gerda zunächst am Rollator, ist sie mit der Verordnung eines Rollstuhls19 auf das Geschoben-Werden angewiesen und dem Abgestellt-Werden (von Steinaecker/Yelin 2017: 53) ausgesetzt. Das Pflegebett tritt an die Stelle des gewohnten ›normalen‹ Bettes. Mit der Abnahme der Körperfunktionen geht auch eine kognitive Einschränkung einher. Eine Orientierung in der Topografie des Gebäudes wie in der Zeit fällt schwer, und die kleinen Vergesslichkeiten des Alltags lösen Angst vor einem Verlust des Selbst aus (von Steinaecker/Yelin 2017: 42). Demenz wird im Sommer ihres Lebens weniger an Gerda als am Beispiel zweier anderer Heimbewohner dargestellt: dem für die Handlung weiter nicht relevanten Hermann, dessen Kommentare von den übrigen Fernsehenden mit Hinweis auf »Alzheimer« (von Steinaecker/Yelin 2017: 29) abgewertet werden, und Jörg. Dieser hat Sprachfindungsschwierigkeiten und Erinnerungslücken (von Steinaecker/Yelin 2017: 54f.), seine Weltsicht unterscheidet sich von der anderer und es macht ihm Probleme, Menschen zu erkennen und zuzuordnen: So sieht er etwa in Gerda seine Tochter Hannchen (von Steinaecker/Yelin 2017: 61f.). Jörgs kognitives Potenzial schwankt ebenso wie sein Bewusstsein von der und sein Umgang mit der Krankheit, auch wenn er durch (Selbst-)Ironisierung wie »Das [i.e. die Fake-Bushaltestellen am Gelände, U.K.] ist doch nur für die Demenzkranken« (von Steinaecker/Yelin 2017: 55) bzw.: »Ich vergesse Sachen…/Schon vergessen?« (von Steinaecker/Yelin 2017: 54) Distanz zu gewinnen versucht. Alles in allem zeigt sich in der Community der Hochaltrigen eine Reflexion des kognitiven, nicht aber des körperlichen Status, wobei das Festhalten an einem traditionellen (Descarte’schen), an die Denk- und Urteilsfähigkeit gebundenen Menschenbild (Herwig 2015) zu einer negativen Haltung gegenüber verminderten Gedächtnisleistungen führt.

3.3.2

Soziale, kulturelle und politische Aspekte des Alter(n)s

Körperliche und kognitive Einschränkungen werden – neben den strukturellen und institutionellen Bedingungen des Pflegeheims – in direkten Zusammenhang mit dem Verlust von sozialen Qualitäten gebracht. Für Nicht-Heimbewohner*innen ist das Pflegeheim ein Raum des Transits: Das namenlose und wesentlich auf seine Funktion reduzierte Pflegepersonal wechselt turnusmäßig, die seltenen Besucher*innen betreten das Gebäude nur, um es möglichst schnell wieder zu verlassen (von Steinaecker/Yelin 2017: 7, 54). Vom rollenspezifischen Gehen(-Können) und Bleiben(-Müssen), an dem die Entscheidungs- und Selbstbestimmungsmacht bzw. deren Verlust illustriert werden, handelt auch der Einstieg in die Erzählung (von Steinaecker/Yelin 2017: 7), der eine Verabschiedungsszene darstellt. Der räumlichen Enge der zweckgerichteten Lebensgemeinschaft entspricht eine soziale, aus der aber keine Nähe zu entstehen vermag. Bis auf Kollektiverlebnisse wie Essen und Fernsehen – bezeichnenderweise wird jedes Mal bis zur offenbar ›altersadäquaten‹ Arztserie durchgezappt, die quasi in einer 19

Der auferlegte Übergang wird als schwierig markiert und stellt eine Zäsur in Gerdas Leben/Alter(n) dar.

»Ich bleibe hier«

Endlosschleife läuft (von Steinaecker/Yelin 2017: 29, 36) – gehen sie grußlos aneinander vorbei (von Steinaecker/Yelin 2017: 8) und sitzen allein auf ihren Parkbänken (von Steinaecker/Yelin 2017: 54). Gerdas sozialer Kontakt beschränkt sich auf Jörg: Gleich zu Beginn des Buches eingeführt, tritt er erst wieder in Kapitel XI. »Von heute auf morgen« auf. Anders als die Protagonistin wird er schwach profiliert: Als »Opa«, der in der Wahrnehmung seines Enkels »komisch« (von Steinaecker/Yelin 2017: 8) riecht, ist er lediglich über seine Generationenzugehörigkeit und ein Verwandtschaftsverhältnis charakterisiert; einen Nachnamen trägt er nicht. Obwohl sie einander nicht kennen, wirken gemeinsame, für die Gruppe der Heimbewohner*innen spezifische Erfahrungen – hier: die stereotypen Ausreden sowie das Bedauern der Familie, nicht auf Besuch kommen zu können –20 identitätsbildend: Gerda erkennt in der Geschichte Jörgs ihre eigene (von Steinaecker/Yelin 2017: 54). Als Effekt einer sozialen Praxis ›Alter(n)‹, zu der auch die Vergemeinschaftung in organisierten Wohnformen gehört, wird eine individuelle Erfahrung zu einer kollektiven, das Alter(n) wird damit typisiert. Doch anders als üblich ermöglicht die Zugehörigkeit zur Gruppe der Heimbewohner*innen keine Inklusion: Emotionale und soziale Bindungen zu anderen Mitgliedern werden nicht aufgebaut. Der Sommer ihres Lebens spricht damit auch einen Ursache-Wirkungszusammenhang von Einsamkeit und Krankheitsverlauf an, wie er in aktuellen Alter(n)sstudien diskutiert wird (Luhmann/Bücker 2019: 33-40). Die Erzählung oszilliert zwischen einem positiv besetzten, selbst gewählten und vollzogenen, Individualismus ermöglichenden Alleinsein und einer negativ besetzten, erzwungenen und in die Vereinzelung führenden Einsamkeit. Beide Erfahrungen werden für unterschiedliche Lebensphasen erzählt: Während die Exklusion der jugendlichen und adoleszenten Gerda in den Kontexten von Bildung und Erwerbstätigkeit über den Faktor ›Geschlecht‹ geführt wird (hier: in Kombination mit einer mathematischen und naturwissenschaftlichen Begabung und damit in einer – wie auch die wissenschaftliche Community – als ›männlich‹ markierten Domäne),21 erfolgt die Ausgrenzung der Pensionistin Gerda über den ebenfalls als soziales Konstrukt vorgestellten Faktor ›Alter‹. Zu den im Comic geschilderten Praktiken des Allein-Seins, vielleicht auch Einsamkeitspraktiken, gehören der Blick oder auch das Horchen aus dem Fenster, das von einem monotonen Quietschgeräusch begleitete Gehen am Rollator (von Steinaecker/Yelin 2017: 11, 13) und das Musikhören,22 aber auch das durch sie ausgelöste Erinnern. Ist Gerda für sich, überhört oder verweigert sie die Ansprache (von Steinaecker/Yelin 2017: 8). Zum einen ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte Teil der Trauerarbeit um sich selbst, zum anderen spiegelt sie das aktuelle Befinden wider und erhält damit Bedeutung für die Konstruktion und Bewältigung von Gegenwart. 20 21

22

Ein Konflikt der Generationen wird durch die schweigende/(er-)leidende Akzeptanz der Elternteile weder für Gerdas noch für Jörgs Familie thematisiert. Für den Schulkontext zum Beispiel in Äußerungen des Lehrers – »Wollt ihr euch immer wieder von einem Mädel in Mathematik schlagen lassen?« – sowie eines Mitschülers/einer Mitschülerin »Psst…/…die ist ja gar kein richtiges Mädel« (von Steinaecker/Yelin 2017: 11) deutlich. Mit dem Radio – es läuft das leitmotivische Wouldn’t It Be Nice der Beach Boys, das über den Wunsch des Älterseins (»Wouldn’t it be nice/if we were older«) die Visionen von Zusammenleben und Heirat entwirft – werden auch die Erinnerungen Gerdas abgestellt, wird das Alleinsein Gerdas mit sich und ihrer Lebensgeschichte beendet.

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Ursula Klingenböck

3.3.3

Sterben und Tod

Der titelgebende Sommer ihres Lebens bezeichnet einen konkreten, durch einen gemeinsamen Camping-Urlaub mit den Eltern besonders valorisierten Sommer aus Gerdas Kindheit; er steht aber auch metaphorisch für die (erinnerte), bei allen Krisen von Produktivität und Zugewinn (insbesondere berufliche und gesellschaftliche Akzeptanz, individuelles Partner- und Familienglück) als Hoch-Zeit gekennzeichnete Phase von Adoleszenz und Erwachsenenalter der Protagonistin. Im Rückblick über 14 Episoden entwickelt, geht Gerda Wendts Leben im 15. und letzten Kapitel – für das Konzept der Lebenserzählung konsequent und, um das narrative Paradox, den eigenen Tod zu erzählen, zu vermeiden – mit einem Wechsel des Erzählens von der Homo- zur Heterodiegese zu Ende. Es ist weder ein unzeitiger noch ein unerwarteter Tod: Die durchschnittliche Lebenserwartung ist mit dem chronologischen bzw. kalendarischen Alter von (fast) 85 Jahren erreicht, das aus der Erinnerung und Reflexion ihres Lebens gewonnene Gefühl, das Leben gelebt und sich von ihm verabschiedet zu haben, lässt Gerda vorbereitet sterben. Der Tod wird in diesem Comic weitgehend wertfrei erzählt: Er nimmt nichts – das Alter wird, einem Klischee der Alter(n)sdarstellung folgend, als genügsam, weitgehend wunschlos und angepasst geschildert –, und er gibt nichts – etwa im Sinne einer Befreiung oder Erlösung von etwas. Als irreversibles Ende des Organismus erfüllt er die bereits zitierte Prolepse des Erzählanfangs (von Steinaecker/Yelin 2017: 7), das durch die vorausgehende Abschiedsszene mit sozialer Deprivation und/oder psychogenen Faktoren korrelierte subjektive Todesempfinden Gerdas. Bis auf seine amtliche Feststellung, die in der Wiedergabe der Formel »Gerda Wendt, Zeitpunkt des…« (von Steinaecker/Yelin 2017: 73) das Ereignis des Todes ausspart und damit tabuisiert, werden keine Reaktionen (zum Beispiel Äußerungen des Bedauerns oder Praktiken der Trauer) auf Gerdas Tod dargestellt. Gerda ist, um ihr eigenes Rechenexperiment fortzusetzen, eine von ungefähr 940.000 Toten, die Deutschland pro Jahr verzeichnet (Statista 2020). Und sie gehört zu jenen geschätzten 650.000 bis 700.000, die im Krankenhaus oder in einer Pflegeeinrichtung sterben (Klie 2016). Gerda stirbt einen nach landläufiger Auffassung ›schönen‹ bzw. ›guten Tod‹: einen natürlichen Tod ohne körperlichen Schmerz, ohne Angst, ohne Leiden. Während die akustischen Signale des EKGs zunächst unregelmäßig sind, langsamer werden und schließlich in einen Dauerton münden, hat Gerda den Schauplatz längst verlassen: Über die Vision vom idealen (und wohl auch idealisierten) Sommer ihrer Kindheit, die als Brückenvorstellung für eine andere, ›gute‹ Welt fungiert, tauscht sie ihr gegenwärtiges Dasein mit einem ›unendlichen Sommer‹. Der Übergang vom Leben zum Tod erfolgt langsam und unspektakulär; da ist kein Widersetzen, da ist ein Nachgeben, ein Annehmen und ein Folgeleisten, wie es, dem Narrativ von der Altersmilde entsprechend, auch das Leben der hochaltrigen Gerda kennzeichnet. Was Gerda verweigert, ist eine Rückkehr ins Leben. Insofern gilt das »Nein« (von Steinaecker/Yelin 2017: 73), mit dem das Kind eine Umkehr ablehnt, auch für Gerda Wendt, die just im Moment des Todes jene Entscheidungs- und Handlungsmacht23 zurückgewinnt, die ihr in den vergangenen Jahren abhandengekommen ist. Wie einst das erzieherische Ultimatum des Vaters 23

Patientenautonomie am Lebensende ist – auch wenn es sich, wie hier, nicht um eine aktive Herbeiführung und Gestaltung des Todes handelt – ein wesentlicher Aspekt in aktuellen ethischen

»Ich bleibe hier«

– »Ich zähle jetzt bis drei […]!« (von Steinaecker/Yelin 2017: 72) – bleiben jetzt die Wiederbelebungsmaßnahmen des Ärzteteams wirkungslos (von Steinaecker/Yelin 2017: 75). Die transzendentale Perspektive eines ›ewigen‹ Sommers erhält ihre Entsprechung im (inneren) Rahmen: Die in dessen erstem Teil etablierte und in der Erzählung leitmotivisch präsente Amsel (von Steinaecker/Yelin 2017: 23, 53)24 fliegt (singend) neben Jörg auf und schließt sich einem Vogelschwarm an, der sich rasch entfernt und dem der Zurückbleibende mit einer Geste des Grußes oder auch des Halten-Wollens nachschaut.

4.

Alter(n)sbilder und Alter(s)theorien – Fazit

Ein durch den Tod terminiertes Alter(n) wird im Sommer ihres Lebens sowohl naturalistisch als auch kulturalistisch konzipiert: Zum einen wird es als von der Natur vorgegebenes, im Wesen des Menschen grundgelegtes Phänomen, zum anderen als soziales Konstrukt erzählt. Die Darstellung seiner Merkmale und Zuschreibungen bedient sich unterschiedlicher Alter(n)skonzepte und -narrative. Als Form (fiktiven) Life Writings folgt der Sommer der Lebenslauf- bzw. -phasentheorie, die das hohe Alter als Ruhestand und als letzten Lebensabschnitt vor dem Tod definiert. Das Alter wird als kalendarisches oder chronologisches vorgestellt, das die Lebensjahre zählt, als biologisches oder physiologisches, das sich aus der Abfolge von Wachstum, Reife, Abbau und ›Verfall‹ ergibt, sowie als funktionales Alter, das die Einschränkungen an Durchschnittswerten misst (Mahr 2016: 144f.). In einem Konzept von Entwicklung, das sowohl den Zugewinn als auch den Verlust von Fähigkeiten umfasst, dominieren für das ›vierte‹ Alter die Defizite. Zwar ermöglicht die Distanz des Blickes, vielleicht auch die sprichwörtliche ›Weisheit‹ des Alters der Protagonistin eine besonnene Gesamtsicht auf ihr früheres Leben – so beurteilt sie die konfliktreiche und in der Scheidung endende Phase von Partnerschaft und Familie letztendlich mit einem »Remis« (von Steinaecker/Yelin 2017: 50f.) – sowie einen gelassenen Umgang mit ihrem gegenwärtigen Dasein und mit ihrem Sterben (von Steinaecker/Yelin 2017: 71-73). Darüber hinaus wird das hohe Alter in seinen physischen, psychischen und sozialen Aspekten und deren Verschränkungen grundsätzlich als Abweichung von einem als ›normal‹ vorgestellten und als Norm gesetzten Leben beschrieben. Über subtile Modi der Bewertung und implizite Handlungsaufforderungen verhält sich die Geschichte auch zu bestehenden, westlich codierten Alter(n)snormen und -praktiken, zu denen wesentlich die institutionalisierte Unterbringung hochaltriger Menschen in Alten- und Pflegeheimen gehört. Die damit forcierten oder zumindest in Kauf genommenen Effekte wie Separierung, Marginalisierung und Diskriminierung alter(nder) Menschen und damit des Phänomens ›Alter(n)‹ als solches rücken damit fast ausschließlich als strukturelle Probleme in den Blick. In Steinaeckers/Yelins Zeit- und Kulturbild des Alter(n)s gibt es weder explizite Vorwürfe noch Schuldzuweisungen, weder Instruktionen noch Moralisierungen; der

24

und medizinischen Diskursen, zum Beispiel Wittwer u.a. (2010: 221-224 sowie 229-242); Anderheiden/Eckart (2012: 511-524, 539-554, 555-576). Inwieweit die Amsel als Glückssymbol, der Vogel als Symbol für die Seele (des/r Verstorbenen) und deren Freiheit verstanden werden kann, sei dahingestellt.

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Comic hält aber auch keine Lösungen parat. Mit dem als friktionsfrei geschilderten Alltag Gerdas erzählt der Sommer ihres Lebens ein mit den Alter(n)svorstellungen und -erwartungen, wie sie von anderen (d.h. nicht Hochaltrigen) gemacht werden, konformes und in diesem Sinn gesellschaftlich ›erwünschtes‹ Alter(n). Indem er dieses zeigt und zur Disposition stellt, beansprucht der Comic auch eine politische Dimension, die ihn für allgemeine und spezielle (kulturelle wie wissenschaftliche) Diskurse zum Alter(n) interessant und, so bleibt zu hoffen, auch wirksam werden lässt.

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Ursula Klingenböck

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Sind Hexen wirklich alte Frauen?  Überlegungen zum Figurenmodell der ›alten Hexe‹ Sigrid Belzer-Kielhorn

In der Literatur tauchen alte Frauen häufig in stereotyper Form auf: Es gibt das Figurenmodell (Seidler 2010) der ›Patriarchin‹, der ›Großmutter‹, der ›Gesellschafterin‹, der ›alten Jungfer‹ oder der ›armen Verwandten‹. In diesen Ausführungen möchte ich mich mit der Frage auseinandersetzen, ob die Hexen aus Grimms Kinder- und Hausmärchen überhaupt ein Figurenmodell des weiblichen Alters darstellen. Um eine Antwort zu finden, werde ich zunächst auf die Kennzeichen weiblicher Alterskonzepte in der Literatur eingehen. Im Weiteren werde ich untersuchen, ob diese Kennzeichen auch bei den Repräsentationen der Hexen eine Rolle spielen, und fragen, ob die Hexen überhaupt in die Kategorie alter Frauenfiguren gehören.

1.

Merkmale weiblicher Alterskonzepte

Es gibt einige Merkmale, die für Altersrepräsentationen kennzeichnend sind und die in den Altersbeschreibungen leitmotivisch auftauchen können (vgl. Belzer-Kielhorn 2017). Die Erinnerung zum Beispiel ist ein ganz entscheidendes Motiv, wenn eine alte Frau beschrieben wird. Dabei geht es immer um die Zusammenhänge zwischen ihrer Identität im Alter und den Erinnerungen aus dem bisher gelebten Leben. Eine alte Frau hat in der Regel eine ganze Reihe von Leben gelebt, die alle prägend für ihr Dasein im Alter sind. Sie war ein Kind, ein junges Mädchen, vielleicht eine Braut und eine Geliebte. Sie muss aber auch Mutter oder Stiefmutter gewesen sein, bevor sie Großmutter werden konnte. Auch außerhalb der Familie kann sie sich engagiert haben: als Vorgesetzte, als Helferin, als Intrigantin. Dabei können die Erinnerungen unterschiedlich tief in das Altersleben eingreifen. Es kommt sogar vor, dass die Erinnerungen eine Frau erst alt werden lassen. Das geschieht dann, wenn sie sich zunehmend in den Erinnerungen verliert und ihr gegenwärtiges Leben eigentlich nur noch marginal wahrnimmt. Ein zweites Merkmal ist die Wirkmächtigkeit von Imaginationen im weiblichen Alter. Diese können bewirken, dass die Eigen- und die Fremdwahrnehmungen sich als Irrtümer erweisen. Nicht selten kommt es zu beträchtlichen Diskrepanzen zwischen

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Sigrid Belzer-Kielhorn

dem Bild, das eine alte Frau von sich hat, und dem, welches ihre Umgebung von ihr hat. Das gilt beispielsweise für die Figur der Jenny in Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel (1892) und für die Figuren der Varja und der Babulja in Anton Čechovs Erzählungen Eine langweilige Geschichte (1889) und Die Braut (1903). Des Weiteren präsentiert die Literatur weibliches Alter als eine relative Position im Leben der Figuren, die in einem erzählenden Text je nach Fokalisierung mal als uralt und mal als kaum alt wahrgenommen werden. Das Altsein ist je nach Blickwinkel anders zu betrachten. Ein alter Mann wird die Frauenfigur, die ihm begegnet, als alt einstufen, wenn er nur das Äußere sieht. Verliebt er sich in sie, wird sie für ihn jung und begehrenswert und selbst die dicke Schminke um die Augen wird nicht mehr als verzweifelter Versuch gewertet, das Alter zu vertuschen, wie es Günter Grass in seiner Erzählung Unkenrufe (1992) beschreibt. Auch das Verhältnis von Norm und Abnorm in der Lebensgestaltung spielt eine große Rolle. Bertolt Brecht zeigt in seiner berühmten Erzählung Die unwürdige Greisin (1949), wie schwer Angehörige sich damit tun, wenn eine alte Frau mit Altersnormen bricht und geschlechtsspezifischen Erwartungen an altersgerechtes Verhalten nicht mehr entspricht (vgl. Herwig 2014: 8). Ähnliche Verhaltensmuster hatte schon Hedwig Dohm 1894 schon in ihrer Novelle Werde, die du bist beschrieben, doch erst durch Brechts Text wurde der Figurentyp der ›unwürdigen Greisin‹ kanonisiert. Seine Erzählung wurde zum Vorbild für eine Reihe von Werken der Nachkriegsliteratur bis hinein in feministische Texte, beispielsweise Charlotte Wolffs Roman Flickwerk (An Older Love, 1976). Alterskonzepte der Literatur sind auch gekennzeichnet durch das Bewusstsein, an einer Grenze zu leben, die jederzeit durch den Tod überschritten werden kann. Oft ist es eine unheilbare Krankheit, die diese Grenze markiert. Auch wenn die alte Frau sich mit ihrem ideellen oder materiellen Vermächtnis auseinandersetzt, zeigt sich die Endlichkeit des Lebens. Diese Erkenntnis kann das Handeln entscheidend bestimmen. Als letztes Merkmal literarischer Alterskonzepte soll hier die Spiegelung durch die Töchter oder durch fremde junge Frauen genannt werden. Diese tritt in beiden Richtungen auf: von der alten Frau zur jungen und umgekehrt. In der vorrevolutionären russischen Literatur kommt dieses Strukturmerkmal oft vor und kann auch als Metapher fungieren; es symbolisiert einerseits die überlebten Strukturen des zaristischen Regimes und andererseits die ›Morgenröte‹ einer zukünftigen neuen Zeit, so in Iwan Turgenjews Väter und Söhne (1862). Die genannten Altersmerkmale zielen nicht auf psychische Eigenarten bestimmter Individuen oder Gruppen. Individuelle Dispositionen sollen hier weniger fokussiert werden als soziale Lagen innerhalb einer Familie oder eines gesellschaftlichen Umfelds, die durch das Alter bedingt sind. Unter dieser Prämisse ist der Vergleich mit den Hexen sinnvoll, denn diese werden den Leser*innen und Hörer*innen – wie alle anderen Figuren der Märchen – holzschnittartig und überindividuell präsentiert. Zudem sind die durch mündliche und schriftliche Überlieferungsträger tradierten Erzähltexte auch geprägt durch die historischen Hexenverfolgungen (vgl. Levack 2009), die der Sammlertätigkeit der Brüder Grimm vorausgingen.

Sind Hexen wirklich alte Frauen? 

2.

Die Hexenfiguren der Brüder Grimm: alt/weiblich oder alterslos/geschlechtslos?

»Die böse Stiefmutter aber war eine Hexe und hatte wohl gesehen, wie die beiden Kinder fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen, und hatte alle Brunnen im Walde verwünscht.« Diese Charakterisierung einer Stiefmutter findet sich im Märchen Brüderchen und Schwesterchen in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (Bd. I, 2010: 77f.). Die Kinder haben hier keine Mutter mehr.1 Sie sind von zu Hause weggegangen, weil sie die Aggressionen der Stiefmutter nicht mehr ertragen. Sie werden von ihr geschlagen und aus Geiz überlässt sie ihnen nur die letzten Essensreste. Nach der Flucht der Kinder kann die Stiefmutter ihren übernatürlichen Einfluss nur noch insoweit geltend machen, als sie das Brüderchen in ein Rehkalb verwandelt, welches dem Schwesterchen einen mächtigen König als Gemahl zuführt. Der Zauber der Stiefmutter ist zunächst gebrochen, doch bald erfährt sie vom Glück der Geschwister und aus Neid und Missgunst versucht sie, dem König die eigene hässliche einäugige Tochter als Gemahlin unterzuschieben. Als Hexe kann sie für diese Zauberaktionen ihre Gestalt wechseln. Sie ist eine dissoziative Persönlichkeit: Einerseits erscheint sie als Stiefmutter zweier Kinder, denen sie aus Bosheit das Leben schwer macht; andererseits ist sie auch die Hexe mit einer ungeheuerlichen Tochter, deren Einäugigkeit hier nicht als körperliche Behinderung zu sehen ist, sondern als Zeichen dämonischer Kräfte. »Die Einäugigkeit erinnert an den einäugigen Riesen Polyphem der griechischen Mythologie, ein Kyklop, der Menschenfleisch isst, im Christentum zählt sie zu den Attributen des Teufels.« (Herwig 2022) Mutter und Tochter verbindet die grenzenlose Bösartigkeit. Als ältere Frau hat die Mutter ihre eigene Geschichte, geprägt von mindestens zwei heterosexuellen Beziehungen und der Aufzucht von drei Kindern. Ihr zweiter Teil ist die mit Zaubermacht ausgestattete Hexe, die alters- und geschlechtslos auftritt. Sie gewinnt im Verlauf des Märchens die Oberhand, während die böse Stiefmutter immer weiter in den Hintergrund tritt. Die Kinder sind schon zu Beginn des Märchens aus ihrer miesen Obhut entwichen; mit der Hexe müssen sie sich allerdings noch längere Zeit auseinandersetzen. Zum Schluss wird das Böse getilgt. Zur Strafe wird die Hexe verbrannt und löst damit den Zauber, der über dem Brüderchen liegt, auf: Aus dem Rehkalb wird wieder ein Mensch. In dem Märchen Das Rätsel (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 139-142) geht es um einen Königssohn, der sich mit einer Hexe messen muss: Sie braut todbringende Getränke, die sie aus Bosheit an alle verteilt, die ihr begegnen. Äußere Attribute des Alters bringt sie durchaus mit: Lehnstuhl, rote Augen und eine schnarrende Stimme. Sie geht an ihrem eigenen Gift zugrunde, ihre Zaubermacht reicht nicht aus zur eigenen Rettung. Weder Alter noch Geschlecht haben eine Bedeutung für den Fortgang der Märchenhandlung, vielmehr handelt es sich um eine geschlechtsneutrale Figur. Selbst die Stieftochter warnt vor den Zauberkräften, es gibt demnach keine familiäre Solidarität im Hexenhaus, aus der sich die Geschichte der Hexe ableiten ließe.

1

Nach psychologischer Märchendeutung ist der böse Teil der Mutter auf die Hexe/Stiefmutter übergegangen (Bettelheim 2010: 79-87). Dieser Aspekt spielt für meine Überlegungen keine Rolle.

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Das Märchen Die sechs Schwäne (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 241-247) hat eine besondere Figurenkonstellation, denn es treten gleich vier teilweise zauberkundige Frauen auf: Ein König trifft im Wald auf »eine alte Frau mit wackelndem Kopfe, die auf ihn zu kam; das war aber eine Hexe« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 242). Sie erpresst ihn und er muss die schöne Hexentochter heiraten, die »von ihrer Mutter die Hexenkünste gelernt hatte« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 243) und dann zur bösen Stiefmutter seiner Kinder wird. Die dritte wundertätige Frau ist »eine weise Frau« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 242), die dem König hilft, seine Kinder vor der Stiefmutter zu retten. Seine Tochter, die dank ihres großen Durchhaltevermögens die Brüder rettet und einen König zum Gemahl bekommt, wird von ihrer Schwiegermutter gequält, bis zum Schluss jeder Zauber gelöst ist und die böse Schwiegermutter ihrer gerechten Strafe zugeführt wird.2 Die Figur der Hexe ist ein Stereotyp, welches sich dupliziert in der Figur der Tochter, die zwar äußerlich konträr in Erscheinung tritt, aber ebenso böse und zauberkundig wie die Mutter ist. Die Attribute ›jung‹ und ›alt‹ stehen nicht im Kontrast zueinander: Die Intention von Mutter und Tochter ist es, den Menschen zu schaden, und sie erreichen ihre Ziele mit Hilfe von übernatürlichen Handlungen. Im Gegensatz dazu scheint die ›weise Frau‹ (vgl. Früh 2012) den Menschen nur gut sein zu wollen. Die Zauberkraft, über die sie ebenfalls verfügt, wird zum Wohl der Menschen eingesetzt. Weisheit und moralisch gutes Handeln sind demnach eng verknüpft. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Hexe nicht weise sein kann. Im Dornröschen-Märchen (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 247f.) ist es die dreizehnte Patin, die das Böse für die Königsfamilie will: Sie rächt sich bitter am Königshaus und vor allem an der Prinzessin, weil sie sich zurückgesetzt sieht. Ihr Fluch wird durch eine andere Patin, eine weise Frau, nachträglich abgeschwächt. Eine Hexe mit eingeschränkter Hexenmacht kommt im Märchen Fundevogel (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 251-253) vor. Es ist die kannibalische Köchin des Försters, die dem angenommenen Knaben mit dem sprechenden Namen »Fundevogel« nach dem Leben trachtet. Erst am Ende des Märchens, als sie ihre gerechte Strafe erhält, wird sie »alte Hexe« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 253) genannt. Als ›amputierte‹ Hexe mit schwachen Zauberkräften ist sie stets auf Helfer angewiesen. Die eigentliche Zauberin ist das junge Lenchen, die Tochter des Försters. Sie setzt ihre Kräfte allerdings zum Guten ein, nämlich zur Rettung ihres Geliebten. Die Hexe muss sich der jungen Frau unterordnen, sie erreicht ihre grauenvollen Ziele nicht und erleidet den Tod. Sie wird durchgängig über ihre abgrundtiefe Bosheit definiert, nicht über ihr Alter. Dieses Attribut wird ihr von außen zugeschrieben, und zwar unabhängig vom Geschlecht. Das Märchen Der Krautesel (Brüder Grimm, Bd. 2, 1980: 164-171) handelt von verschiedenen Hexenintrigen gegen einen Jäger, der sich allerdings letzten Endes durchsetzen kann. Ausgelöst werden die Intrigen durch »ein altes häßliches Mütterchen« (Brüder Grimm, Bd. 2, 1980: 164), das auch als »weise Frau« bezeichnet wird. Wie die weise Frau im Märchen Die sechs Schwäne will sie dem Jäger Gutes tun. Mit Hilfe ihrer Zauberkräfte wird der Jäger reich und ist so in der Lage, sich gegen die Hexe durchzusetzen und die schöne Hexentochter für sich zu gewinnen. Beide Zauberinnen unter2

Die Hinrichtung der Hexe ist die Strafe für böse Taten, kein Senizid im von Pousset (2018) definierten Sinn.

Sind Hexen wirklich alte Frauen? 

scheiden sich lediglich dadurch, dass die eine dem Jäger Gutes tut und die andere ihn verderben will. Beide sind alt und man könnte annehmen, dass sie durch gegenseitige Spiegelungen individuelle Züge erhalten. Dies ist aber nicht der Fall: Zwei Kräfte, die gute und die böse, wirken auf den Jäger ein. Die gute Macht gewinnt, wie es im Märchen zu erwarten ist. Die beiden Kräfte sind nicht an Individuen gebunden, sondern personifizierte Funktionen, die das Leben des Jägers begleiten. Frau Trude im gleichnamigen Märchen (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 218) wandelt ihre Gestalt ununterbrochen, um letztlich als der leibhaftige Teufel aufzutreten und ein Mädchen in einen Holzblock zu verwandeln. In diesem kurzen didaktischen Märchen wird das Attribut ›alt‹ nicht erwähnt: »Die Frau Trude ist eine böse Frau, die gottlose Dinge treibt« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 218). Sie sagt über sich selbst, dass der »Teufel mit feurigem Kopf«, den das Mädchen gesehen hat, die »Hexe in ihrem rechten Schmuck« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 218) sei. In diesem Märchen tritt die Hexe nicht so auf, wie man sie aus Bildern und dämonologischen Texten kennt: als Beischläferin des Teufels. Hier ist sie eine Inkarnation des Teufels. Wenn man von dieser Annahme ausgeht, spielt ihre Weiblichkeit keine Rolle, sie ist das Zufallsprodukt einer möglichen Metamorphose. Die Fremdwahrnehmung der Figur basiert auf Furcht und Abscheu, während über die Eigenwahrnehmung nichts verlautet. Dass weibliche Hexen in Teufelsgestalt in der Kulturgeschichte immer auch eine sexuelle Konnotation haben, bleibt in den Sammlungen der Brüder Grimms unberücksichtigt, sodass die Hexenbeschreibungen geschlechtsneutral ausfallen, wenn man von einzelnen Kleidungsstücken wie etwa dem Rock absieht. Entsexualisierung, Verdrängung des Erotischen sowie Sublimierung der körperlichen Liebe können als Kennzeichen der Märchensammlung der Brüder Grimm gelten.3 In vielen Märchen übernimmt die Schwiegermutter den Part der bösen, missgünstigen Frau, sie kann auch eine Hexe sein, das ist aber nicht zwingend. Oft ist sie eine alternde Frau, die mit ihrem Alter nicht umgehen kann und aus Neid auf die junge Frau dazu getrieben wird, diese zu verleumden, um ihre Hinrichtung zu erreichen. Es ist möglich, dass sie der jungen Frau die Mutterrolle neidet oder das Eheglück oder die jugendliche Schönheit (vgl. Herwig 2022). Sie kann oft auch die Gradlinigkeit und Ehrlichkeit der jungen Frau nicht respektieren, wenn es beispielsweise darum geht, einen Zauber zu lösen. Im Märchen Die zwölf Brüder (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 69-75) ist die Mutter des Königs »eine böse Frau« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 74) die ihre Schwiegertochter drangsaliert und verleumdet; sie wird auch »die Alte« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 74) genannt, verfügt zwar nicht über Zauberkräfte, erreicht ihr Ziel aber durch geschickte Argumentation. Im Gegensatz zu anderen Fällen, bei denen es zu einer Überlagerung von menschlichen und übermenschlichen Eigenschaften kommt, wird hier der Bereich des Menschenmöglichen nicht überschritten. »Die Alte hatte sich nur so freundlich angestellt, sie war aber eine böse Hexe, die den Kindern auflauerte, und hatte das Brothäuslein bloß gebaut, um sie herbeizulo-

3

Da die frühesten Rezensionen bemängelt hatten, dass Vieles »nicht kindgemäß« sei, wurde offen Sexuelles wegretuschiert und insbesondere Wilhelm Grimm bemühte sich zunehmend um den Einbau von im Volk verbreiteten Redensarten und »eine volks- und kindertümliche Sprache« (Rölleke 2004: 85f.; vgl. Uther 2008: 497f., 504-517).

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cken. Wenn eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag.« (Brüder Grimm Bd. 1, 2010: 101f.) Die kannibalische Hexe aus Hänsel und Gretel (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 96-104) entspricht auch im Äußeren dem Hexenbild: »eine steinalte Frau, die sich auf eine Krücke stützte, kam heraus geschlichen« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 101), neben ihrer Sehschwäche hat sie einen ausgeprägten Geruchssinn, »eine feine Witterung, wie die Tiere« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 102). Diese Animalität ist ein Beleg dafür, dass es eben nicht das Alter ist, das die Hexe ausmacht; vielmehr verfügt sie neben ihrer Zauberkraft auch über tierische Eigenschaften, die die menschlichen überlagern und die Boshaftigkeit unterstreichen. Animalität kommt zwar auch bei Repräsentationen von menschlichen alten Frauen vor, beispielsweise in Eduard von Keyserlings Roman Wellen (1911): »in den trüben Augen der alten Frau entzündeten sich grünliche Funken wie in den Augen böser Hunde« (2004: 117); viel häufiger als mit Tiermerkmalen werden alte Frauenfiguren aber mit Zeichen der Vermännlichung ausgestattet wie beispielsweise mit Gesichtsbehaarung. So tritt die Großmutter in Anton Čechovs Erzählung Die Braut (1903) auf: »Die Großmutter, oder wie man sie im Haus nannte, Babulja, eine sehr dicke und hässliche Frau mit dichten Brauen und einem Bärtchen auf der Oberlippe…« (Čechov, 1976: 354). Das Märchen Die weiße und die schwarze Braut (Brüder Grimm, Bd. 2, 1980: 218-222) präsentiert eine alte Frau, die so boshaft ist, dass sie samt ihrer Tochter von Gott verwünscht wird, der den Frauen im Gewand eines armen alten Mannes begegnet ist, von ihr und ihrer Tochter aber verkannt wurde. Die Stieftochter hingegen zeigt sich ihm gegenüber hilfsbereit und wird dafür von Gott gesegnet. Mit Hilfe intriganter »Hexenkünste« (Brüder Grimm, Bd. 2, 1980: 220) versucht die Mutter nun ihrer von Gott geschwärzten Tochter das Glück der Ehe mit dem König zukommen zu lassen, welches der weißen Stieftochter zusteht. War sie anfangs nur eine böse Frau, wird sie zunehmend mehr zur Hexe. Damit verliert sie die individuellen Züge, die sie zu Beginn vielleicht noch gehabt hat. Im Märchen Jorinde und Joringel (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 349-351) taucht die Bezeichnung ›Hexe‹ nicht auf, aber es kommt eine »Erzzauberin« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 249) vor, die in ihrem Aussehen wie in ihren Handlungen dem Klischee der Hexe entspricht: »eine alte krumme Frau […], gelb und mager: große rote Augen, krumme Nase, die mit der Spitze ans Kinn reichte« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 350). Sie hat zwar keine Vergangenheit, doch scheint sie von dem Wunsch getrieben, möglichst alle Jungfrauen auszurotten, indem sie diese in Vögel verwandelt. Am Beispiel Jorindes wird deutlich, dass es ihr dabei darum geht, gelingendes Liebesleben bei den jungen Frauen zu verhindern. Hier könnte man fragen, durch welche widrigen Ereignisse sie wohl dazu gekommen ist. Doch sind nur Spekulationen möglich, weil dazu nichts gesagt wird. Auch die Tatsache, dass sie tagsüber als Katze und Nachteule lebt, gibt keinen Aufschluss über eine individuelle Geschichte. Alter und Geschlecht sind auch hier nur zufällige Zuschreibungen. In Schneeweißchen und Rosenrot (Brüder Grimm, Bd. 2, 1980: 265-272) ist der böse Zauberer allein durch das grammatische Geschlecht männlich, ansonsten zeigt auch er hexenhafte Züge: Er ist ein »Zwerg mit einem alten verwelkten Gesicht«, hat »rote feurige Augen« und ein »aschgraues Gesicht«, nur der »ellenlange[.], schneeweiße[.] Bart« (Brüder Grimm, Bd. 2, 1980: 268) lässt an ein männliches Wesen denken. Trotz-

Sind Hexen wirklich alte Frauen? 

dem scheint die Geschlechtszuordnung unwichtig. Ob das biologische Geschlecht des Zwergs weiblich, männlich oder beides ist, spielt keine Rolle. Auch das Alter ist nicht entscheidend: Unabhängig von ihm setzt der Zwerg den beiden Mädchen zu. Auch in Rumpelstilzchen (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 274-276) betreibt ein »kleines Männchen« (Brüder Grimm, Bd. 1, 2010: 274) das dämonische Geschäft. Obgleich das Geschlecht der Gestalt gewechselt hat, sind die Handlungen mit denen der Hexen identisch: Die dunklen Mächte werden eingesetzt, um jüngeren, glücklicheren, reicheren Menschen zu schaden. Das Geschlecht der dämonischen Figur ist bedeutungslos. Über sein Lied erfährt man, wie das »Rumpelstilzchen« sich selbst wahrnimmt: Voller Selbstvertrauen bzw. Selbstüberschätzung erwartet es das Gelingen seiner schändlichen Pläne. Ganz selten kommt es vor, dass die böse Kreatur, sei es die Hexe oder der Zauberer, wie hier ihre Eigenwahrnehmung preisgibt. In dem Märchen Das blaue Licht (Brüder Grimm, Bd. 2, 1980: 144-148) ist es ebenfalls »ein kleines schwarzes Männchen« (Brüder Grimm, Bd. 2, 1980: 145), das dem Protagonisten, einem Soldaten, immer wieder zu Diensten ist. Es ist in der Lage, die Hexe, die der Soldat überlisten konnte, an den Galgen zu bringen. Hier wird also die Hexenmacht durch eine stärkere Macht gebrochen. Das Märchen Der Teufel und seine Großmutter (Brüder Grimm, Bd. 2, 1980: 176-179) fällt, was die Hexendarstellung betrifft, aus dem Rahmen, denn das Märchen hat eine bemerkenswerte Figurenkonstellation: Es gibt zwei alte Frauen, eine alte und eine uralte. Hexen werden sie nicht genannt, obgleich beide Zauberinnen sind. Drei desertierte Soldaten verkaufen sich für Geld an den Teufel und werden letztendlich von den beiden alten Frauen gerettet. Das Stereotyp der bösen Hexe wird verlassen zugunsten einer seltenen Altersdarstellung: Die alten Frauen sind so machtvoll, dass sie den Seelenkauf des Teufels verhindern können. Eine verweist auf die andere, was bedeutet, dass es zwischen ihnen Verbindungen gibt. Die Großmutter des Teufels hat eine wichtige Funktion im Familienverbund: Sie sorgt für das leibliche Wohl des Teufels und genießt sein ungebrochenes Vertrauen. Inwieweit sie sich dieses erarbeitet hat, bleibt ungesagt. Es wäre sicher lohnend, das Figurenmodell der Teufelsgroßmutter kulturgeschichtlich näher zu untersuchen, was im Rahmen dieses Beitrags aber nicht mehr geleistet werden kann.

3.

Resümee

Sind die Hexen der Kinder- und Hausmärchen ›alte Frauen‹, passen sie überhaupt in diese Kategorie? Sicherlich erfüllen die Hexen der Grimm’schen Märchen äußerlich die Kriterien, die mit der literarischen Repräsentation der Physiognomie alter Frauen verbunden sind. Sie haben einen knochigen Körperbau, gehen oder humpeln gebückt, ihre Haut ist voller Runzeln, die Nase ragt riesig groß und krumm aus dem Gesicht, der Mund ist oft zahnlos. Diese äußeren Merkmale sind allerdings belanglos und zufällig, wenn man bedenkt, dass jede Hexe ihren Körper jederzeit verwandeln kann: in eine junge schöne Frau, in eine Eule, eine Katze oder ein anderes Wesen. Wenn man die Hexenfiguren unter dieser Bedingung deutet, sind sowohl die Bezeichnung ›Frau‹ als auch die Attribuierung ›alt‹ leere Schablonen, denen die Substanz fehlt. Sie sind willkürlich und werden immer wieder durch andere Bezeichnungen ersetzt. Es gibt ein Manko in der Hexenexistenz der Grimm’schen Märchen, welche ihre Bewertung als ›alte Frau‹

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verbietet: Die Hexen verfügen über keine Geschichte, es fehlt ihnen eine persönlichkeitsbildende Vergangenheit. Denn ein ganz entscheidendes Beschreibungsmerkmal alter Frauenfiguren ist ihre Geschichte. Menschliche Frauenfiguren verfügen über eine Vergangenheit, die für ihr Alter prägend ist, an die ihr Altersleben anschließt und die sie in den Kontrast oder in die Kontinuität setzt zu all dem, was sie einmal gewesen sind. Ereignisse aus der Vergangenheit machen die Gegenwart oft erst möglich oder plausibel. Hexen hingegen bringen nur Dinge aus ihrer Vergangenheit mit, sie haben sich bereichert, wie das Beispiel Hänsel und Gretel (Brüder Grimm, Bd. 1, 1980: 96-104) zeigt: Nach dem Tod der Hexe finden die Kinder im Hexenhaus eine Menge Gold und Edelsteine. Die Hexe ist ein Figurentypus, dem durch die misogyne patriarchalische Überlieferungstradition der Stempel ›alte Frau‹ aufgedrückt worden ist. Doch die Hexe ist keine Frauengestalt, denn dazu fehlt ihr die Verbindung zur Vergangenheit. Wie der Zauberer, der Gnom oder der Zwerg ist sie ein im Grunde geschlechtsloser Dämon.4 Ebenso verfehlt ist das Attribut ›alt‹. Das Alter mit seinen hässlichen, abstoßenden Begleiterscheinungen unterstreicht die Bösartigkeit, ist aber nicht das Resultat eines gelebten Lebens. Mit der fehlenden Geschichte fehlt der Hexe auch die Korrelation zur jüngeren Generation. Das gilt auch, wenn die Hexe Mutter ist, denn die Tochter ist nur die Verdopplung ihrer selbst, ein Mittel zum Zweck der Intrige, der Manipulation und des Betrugs. Für die Hexe gibt es auch keine Zukunft, als übernatürliches Wesen fällt sie aus der Zeitlichkeit heraus. Wie der Teufel ist sie eine Inkarnation des Bösen, das am Ende verschwinden muss, damit das Gute siegt.

Quellenverzeichnis Primärtexte Brecht, Bertolt: Die unwürdige Greisin. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 11. Suhrkamp: Zürich, 1976, S. 315-320. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hg. von Heinz Rölleke. 3 Bde. Bd. 1, 2010, Bd. 2, 1980, Bd. 3, 2010. Reclam: Stuttgart, 1980/2020. Čechov, Anton: Die Braut [1903]. In: Ders.: Die Dame mit dem Hündchen. Hg. und mit Anmerkungen von Peter Urban. Übers. von Gerhard Dick und Hertha von Schulz. Diogenes: Zürich, 1976, S. 351-375. Čechov, Anton: Eine langweilige Geschichte [1889]. In: Ders.: Kleine Romane I. Übers. von Ada Knipper und Gerhard Dick. Diogenes: Zürich 1976, S. 7-82. Dohm, Hedwig: werde, die du bist [1894]. 3. Aufl., ALA Verlag: Neunkirch, 1988. Fontane, Theodor: Frau Jenny Treibel [1892]. In: Ders.: Das erzählerische Werk. Große Brandenburger Ausgabe. Bd. 14. Hg. von Tobias Witt. Aufbau Verlag: Berlin, 2005, S. 5223.

4

Den an weibliche Fruchtbarkeit, Geburt, Wochenbett und Tod gebundenen Lilith-Mythos lasse ich hier bewusst außer Acht. Vgl. Herwig (2022).

Sind Hexen wirklich alte Frauen? 

Grass, Günter: Unkenrufe [1992]. In: Ders.: Werke. Göttinger Ausgabe. Bd. 7. Steidl: Göttingen 2007, S. 637-875. Keyserling, Eduard von: Wellen [1911]. Roman. Süddeutsche Zeitung: München, 2004. Turgenjew, Iwan S.: Väter und Söhne [1862]. Übers. von Annelore Nitschke. Artemis & Winkler: Düsseldorf, 2008. Wolff, Charlotte: Flickwerk [An Older Love, 1976]. Übers. von Gerlinde Kowitzke. Frauenoffensive: München, 1977.

Sekundärliteratur Ackermann, Erich (Hg.): Die sieben Schwäne: Märchen des Mittelalters. Fischer: Frankfurt a.M., 1986. Belzer-Kielhorn, Sigrid: Die alte Frau in der Literatur: Weibliche Alterskonzepte in der deutschsprachigen und russischen Prosa des späten 19. Jahrhunderts. transcript: Bielefeld, 2017. Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. 36. Aufl., Deutscher Taschenbuch Verlag: München, 2020. Früh, Sigrid (Hg.): Märchen von Hexen und weisen Frauen. Königsfurt Urania: Krummwisch, 2012. Herwig, Henriette: Alter(n), Gerontozid und Infantizid in den Märchen der Brüder Grimm. In: Dies./Raimund Pousset (Hg.): Senizid. Interdisziplinäre Perspektiven. Springer: Wiesbaden, 2022 [im Druck, Manuskript eingesehen]. Herwig, Henriette: Für eine neue Kultur der Integration des Alters. In: Dies. (Hg.): Merkwürdige Alte: Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s. transcript: Bielefeld, 2014, S. 7-33. Levack, Brian P.: Hexenjagd. Die Geschichte der Hexenverfolgungen in Europa. C. H. Beck: München, 2009. Pousset, Raimund: Senizid und Altentötung. Ein überfälliger Diskurs. Springer: Wiesbaden, 2018. Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm: Eine Einführung. Reclam: Stuttgart, 2004. Scherf, Walter: Die Hexe im Zaubermärchen. In: Richard van Dülmen (Hg.): Hexenwelten: Magie und Imagination vom 16.-20. Jahrhundert. Fischer: Frankfurt a.M., 1993, S. 219-252. Seidler, Miriam: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Narr: Tübingen, 2010. Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm: Entstehung – Wirkung – Interpretation. de Gruyter: Berlin, 2008.

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›Alter Schwede!‹ Literarische Altersbilder im Kriminalroman Helge Nowak

Plötzlich überkam ihn ein furchtbarer Schrecken. Sein Gedächtnis ließ ihn wieder im Stich. Er wusste nicht, wer das Mädchen war, das auf ihn zurannte. Er hatte sie [seine Enkelin Klara] schon einmal gesehen, aber wie sie hieß und was sie hier tat, er hatte keine Ahnung. Es war, als würde es vollkommen still. Als verschwänden die Farben und ließen ihm etwas in Schwarz und Weiß zurück.   Der Schatten hatte sich vertieft. Und langsam sollte Kurt Wallander in einem Dunkel verschwinden, das ihn einige Jahre später in das leere Universum entließ, das Alzheimer heißt. Danach ist nichts mehr. Die Erzählung von Kurt Wallander geht unwiderruflich zu Ende. Die Jahre, die er noch zu leben hat, vielleicht zehn, vielleicht mehr, sind seine eigene Zeit, seine und [seiner Tochter] Lindas, seine und Klaras, keines anderen Menschen Zeit. (Mankell 2010: Epilog.588)1 Mit diesen Worten beendete Henning Mankell nach zwölf Bänden seine erfolgreiche Serie von Kriminalromanen und Novellen um den schwedischen Kommissar Kurt Wallander. Frisch pensioniert, aber über die Jahre hinweg gealtert und zunehmend von Selbstzweifeln begleitet, muss Wallander sich nun einem Feind im Schatten2 stellen, nämlich der auf ihren Ausbruch wartenden Alzheimer-Krankheit. – Alter Schwede! Die Zeiten, in denen andere pensionierte Kriminalisten wie Hercule Poirot oder Alte Jungfern wie Miss Marple über Jahrzehnte hinweg ohne jeden weiteren Alterungsprozess ihren Ermittlungen nachgingen, sind ganz offenbar vorbei. Schon seit einigen Jahren wird – von

1

2

Primärwerke werden in der Regel mit Angabe von Kapitel (bzw. hier von Epilog) und Seitenzahl angeführt. Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag am 01.06.2017 im Donnerstags-Kolleg des Zentrums Seniorenstudium in Zusammenarbeit mit der Münchener Volkshochschule. Rebecca Ehrenwirth und Anna Katharina Thurn danke ich für deren Unterstützung. So lautet der deutsche Titel dieses erstmals 2009 veröffentlichten Schlusspunkts der Reihe.

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Helge Nowak

der Literaturwissenschaft weitestgehend unbeachtet3 – auch der Kriminalroman von Henning Mankell und von anderen dazu benutzt, realistischere literarische Altersfiguren und Altersbilder zu zeichnen. Neben alternden Schweden und Schotten als Hauptfiguren wie Henning Mankells Kommissar Wallander und Ian Rankins Inspektor John Rebus sollen hier auch relevante deutschsprachige oder finnische Kriminalromane näher betrachtet werden – u.a. gerade dann, wenn ihre Autoren die Ermittlungen ins Seniorenheim verlegen.

1.

Das Altersbild bei Agatha Christie

Denkt man an bekannte Altersfiguren aus dem ›Goldenen Zeitalter‹ des Kriminalromans (zwischen den beiden Weltkriegen), dann fällt einem sofort Agatha Christies Miss Marple ein. Beginnen wir also mit ihr und mit Jane Marples allererstem Auftritt in Der Dienstagabend-Club (The Tuesday Night Club), der Titelgeschichte einer Reihe von 13 kurzen Erzählungen, welche zwischen 1927 und 1931 zuerst in britischen und dann in USamerikanischen Monatszeitschriften erschienen waren. Einleitend wird sie dort so beschrieben: Miss Marple trug ein in der Taille eng zusammengerafftes Kleid aus schwarzem Brokat, und Brabanter Spitzen fielen in Kaskaden über ihren Busen. Sie hatte schwarze Spitzenhandschuhe ohne Finger an, und ein schwarzes Spitzenhäubchen thronte auf dem kunstvoll aufgetürmten schneeweißen Haar. Sie strickte etwas aus weicher weißer Wolle. Ihre blauen Augen, die so gütig und freundlich dreinschauten, glitten mit sanftem Wohlgefallen über ihren Neffen und seine Gäste. (Christie 2008a: 5) Zusammen mit der kongenialen Illustration, die Gilbert Wilkinson 1927 zur Zeitschriftenveröffentlichung von Der Dienstagabend-Club beisteuerte, konstituierte sich so das Bild von Christies Meisterdetektivin, die deshalb bekanntlich im Film zum Beispiel von Angela Lansbury werkgetreuer als von der umwerfenden Margaret Rutherford getroffen wurde. Einmal derart umrissen, hat Agatha Christie (1890-1976) offenbar jedoch das Interesse an einer weitergehenden äußeren Ausgestaltung ihrer Amateurdetektivin als Altersfigur verloren. Die anderen Geschichten in Der Dienstagabend-Club, aber beispielsweise auch Mord im Pfarrhaus (The Murder at the Vicarage, der erste Roman um Miss Marple, 1930) oder Ruhe unsanft: Miss Marples letzter Fall (Sleeping Murder, 1976) kamen ohne 3

Sekundärliteratur zum Thema ist spärlich. Neben dem kurzen Aufsatz von Hepworth (1993) zu englischsprachigen Kriminalromanen aus dem Zeitraum 1971-92 und dem Sammelband von Herwig (2014c) ist hier insbesondere die germanistische Dissertation von Seidler (2010) zu nennen, die neben einer theoretischen Annäherung an Altersfiguren u.a. noch Textanalysen deutschsprachiger Romanliteratur zwischen 1997 und 2007 bietet. Dabei geht sie u.a. auf »Alter und Krankheit« (Kap. II.7) sowie auf ›Pflegeheimromane‹ ein (Kap. II.6), und dabei am Rande gelegentlich auch auf solche, welche mit einer Kriminalhandlung verbunden sind (vgl. Seidler 2010: 316, 320, 331). Bei Freiburg und Kretzschmar (2012) sowie bei Belzer-Kielhorn (2017) ist der einleitende Forschungsbericht von Interesse; ansonsten wird das hier verfolgte Thema nicht berührt. Zur Repräsentation von Demenz vgl. Herwig (2016).

›Alter Schwede!‹

Abb. 1: Illustration by Gilbert Wilkinson of Miss Marple from the December 1927 issue of »The Royal Magazine« and the first-known image of the character

ähnlich detaillierte Erzählerporträts aus. Diese waren aber auch nicht weiter erforderlich, denn als Altersfigur hatte Agatha Christie Miss Marple in allen gerade genannten Kriminalerzählungen auch so bereits in dreifacher Weise prägnant charakterisiert – und hat dies in weiteren Romanen und Erzählungen beibehalten. Als erstes rufen die Autorin und ihre Figuren das Stereotyp der ›alten Jungfer‹ auf (vgl. Christie 2014: 9.72, 10.80), deren gesellschaftliche Außenseiterrolle Christie (zweitens) noch dadurch verstärkt, dass sie Miss Marple betont altmodisch einkleidet – nämlich am Ende der Roaring Twenties noch ganz im Habit der Viktorianischen Zeit (siehe oben). Kein Wunder, dass Tante Jane auf ihren Neffen Raymond West wie ein »herrliches Prachtstück aus einer vergangenen Zeit« wirkt (Christie 2015: 2.24). In markantem Kontrast zu ihrer insgesamt »ein wenig altmodisch wirkenden« Art (Christie 2008b: 124, vgl. auch Christie 2014: 32.270) steht aber (drittens) die Altersweisheit und der hellwache Verstand der alten Dame. Ihre abgeklärte Weltsicht (vgl. Christie 2014: 2.22, 16.141) leitet diese immer wieder daraus her, dass sie in St. Mary Mead wie in einem Mikrokosmos bereits ausreichend Abgründen der menschlichen Natur begegnet sei, denn »die menschliche Natur ist überall ziemlich gleich, und natürlich hat man in einem Dorf bessere Gelegenheit, sie aus der Nähe zu studieren«.4 Aus solch langjährigen Beobachtungen, ebenso wie aus dem alltäglichen Klatsch und Tratsch (vgl. Christie 2008b: 131; 2014: 2.22) und aus 4

Christie (2008b: 67). Vgl. Christie (2008b: 7f., 53, 78, 107-112, 181) und siehe auch Christie (2014: 26.230f.). Zur ausführlicheren Auseinandersetzung sowohl mit Der Dienstagabend-Club und Mord im Pfarrhaus als auch mit der dazu vorliegenden deutschsprachigen Sekundärliteratur vgl. Rettmann (2014, 107-116).

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Kriminalromanen (vgl. Christie 2014: 26.232, 30.258) als weiteren Informationsquellen, speist sich Miss Marples kriminalistischer Spürsinn und ihre Intuition (vgl. Christie 2014: 11.91). Ein Viertes kommt als Paradox noch hinzu, und damit unterscheidet Christies betagte Amateurdetektivin sich ganz wesentlich von Kommissaren an der Altersgrenze wie Mankells Wallander: Miss Marple erfreut sich nämlich durch sämtliche Kriminalerzählungen hindurch einer ebenso fragilen wie stabilen Gesundheit. Trotz ihres immer schon fortgeschrittenen Alters bleibt Miss Marple von den Begleiterscheinungen des Alterns weitestgehend verschont, und letztlich auch vom Tod. In dem bereits in den 1940ern verfassten, aber erst posthum veröffentlichten Roman Ruhe unsanft klagt Miss Marple gegenüber Dr. Haydock zwar über verschiedene Krankheitssymptome, nur um sich gleich darauf selbst »eine robuste Konstitution« (Christie 2015: 5.40) zu bescheinigen, die ihr der Hausarzt prompt bestätigt: »Für Ihr Alter und trotz ihrer täuschend zerbrechlichen Erscheinung sind sie bemerkenswert gut auf dem Damm.« (5.40) Zu diesem Zeitpunkt sticht Miss Marples Gesundheit im Alter noch deutlich ab vom Rheumaleiden ihrer Freundin Mrs. Bantry (5.45), welches Miss Marple offenbar erst später erreicht (vgl. Christie 1977: 1.8). Aber selbst in Karibische Affäre (A Caribbean Mystery), dem 1964 veröffentlichten, neunten Miss Marple-Roman, ist die alte Dame schon wenige Monate nach »einer bösen Lungenentzündung« (1.7) wieder so fit, dass sie sich zur Rekonvaleszenz einen Karibikaufenthalt mitsamt Flugreisen zumuten kann – und im Urlaub nebenbei und wie selbstverständlich eine Mordserie aufklärt. Nicht nur was ihre Reisetauglichkeit angeht, sondern auch in ihrer erfolgreich durchgestandenen Konfrontation mit nachlassender Gesundheit, Altern und Tod sticht Miss Marple Christies Gegenpart aus: Hercule Poirot mit den kleinen grauen Zellen und mit dem nervösen Magen, dem er allenfalls Zugreisen (wie bekanntermaßen im Orientexpress) zumuten will. Nun hat der Pensionär Poirot sogar noch eine längere literarische Spur als Miss Marple hinterlassen: wenn es denn stimmt, dass Agatha Christie Das fehlende Glied in der Kette (The Mysterious Affair at Styles, 1920), ihren ersten Roman über den zu diesem Zeitpunkt bereits pensionierten belgischen Polizeioffizier und Privatdetektiv, schon 1916 als Krankenschwester im Ersten Weltkrieg verfasste, dann vergingen also noch nahezu sechs Jahrzehnte, bis mit Poirots Rückkehr nach Styles an seinem Lebensende 1975 in Curtain für ihn der Vorhang fiel. Schon allein deshalb kann man allerdings von der Autorin über solche Zeitspannen hinweg ernsthaft keine realistische Entwicklung von Poirot als Altersfigur erwarten. Christie hat dies auch gar nicht angestrebt, was sich erneut darin zeigt, dass sie den Schlusspunkt für Poirot ebenfalls bereits dreißig Jahre früher setzte: auch seinen ›letzten Fall‹ verfasste sie nämlich schon in den 1940er Jahren, um ihn wie geplant erst an ihrem Lebensende zu veröffentlichen. Paradoxerweise kam es dennoch erst in Hercule Poirots letzter Fall (so der Untertitel von Vorhang, vgl. Christie 1976) – und nach bis dato 33 Romanen und 50 Kurzgeschichten mit ihm als Pensionärsfigur – zu einer ultimativen Auseinandersetzung des nunmehr deutlich gealterten, aber weiterhin eitlen Detektivs mit seinen mal mehr, mal weniger gravierenden Gebrechen, von Haarausfall über Herzschwäche bis hin zum eigenen Tod. Dass Christie ihren körperlich angeschlagenen Detektiv nun in einen Rollstuhl setzt und ihn dazu mit einem neuen Diener als Betreuer umgibt, dient gleichwohl weniger einer psychologisch tiefer gehenden Ausgestaltung von Poi-

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rot zum Altersbild, als einmal mehr vorrangig der Handlungsführung, welche gerade durch Poirots Gebrechlichkeit mit ungewohnt neuen, überraschenden Wendungen aufwarten kann. Tatsächlich blieb Vorhang zwar nicht Poirots letzter Fall, aber gewissermaßen dennoch das letzte Wort in dieser Angelegenheit. In Die Monogramm-Morde (The Monogram Murders, 2014), in Der offene Sarg (Closed Casket, 2016), in Das Geheimnis der vier Briefe (The Mystery of Three Quarters, 2018) und in The Killings at Kingfisher Hill (2020) hauchte Sophie Hannah5 erstmals nach Agatha Christies Tod (1976), aber mit Billigung von deren Erben, Hercule Poirot wieder neues Leben ein, und orientierte sich dabei werkgetreu an Christies Außensicht auf den Privatier und Privatdetektiv sowie an Christies gerade beschriebenen Prioritäten. Mit ihren eigenen Poirot-Romanen setzte Hannah gleichfalls auf einen komplexen Plot mit überraschenden Wendungen, nun inmitten von historischem Lokalkolorit. Dabei umging Hannah schon rein zeitlich gesehen die Thematisierung von Poirots Altern, denn bei ihr tritt er als noch vergleichsweise ›jüngerer‹ Pensionär und Privatdetektiv auf. Poirots weitere Kriminalfälle von fremder Hand versetzte Hannah in das London und in den irischen Freistaat der Jahre 1929/30, chronologisch also in die frühe Phase von Christies Kanon. Hannahs unterschwellige Ironie scheint vorrangig bei Poirots nicht enden wollenden Monologen vor den versammelten Verdächtigen durch, wenn der Detektiv nicht nur eine, sondern nacheinander eine ganze Reihe sich widersprechender Auflösungen der Monogramm-Morde darbietet. Das ist jedoch nicht ursächlich mit Begleitumständen des Alterns verbunden, sondern ebenfalls leicht ironisch (und eventuell als augenzwinkerndes Zugeständnis an experimentellere Darstellungsformen als diejenigen von Agatha Christie) zu betrachten. Hannahs Bestreben ist eindeutig mehr auf Pastiche als auf Parodie, und ganz wie bei Christie mehr auf Plot denn auf Psychologisierung ausgerichtet gewesen.

2.

Friedrich Dürrenmatt: der (pensionierte) Kommissär geht um

In Agatha Christies Miss-Marple-Geschichten fiel die ›gesellschaftliche Altersrolle‹ der unverheirateten Seniorin mit den mal mehr, mal weniger schmeichelhaften, ›literarischen Altersmodellen‹ der ›Altersweisen‹, der ›alten Jungfer‹ und des ›alten Klatschweibs‹ zusammen.6 Bei den Hercule Poirot-Erzählungen verbarg die britische Autorin die geniale Scharfsinnigkeit ihres als Privatdetektiv tätigen, pensionierten Polizisten bis zu einem gewissen Grade hinter der exzentrischen Fassade eines zum eitlen Gockel 5 6

Sophie Hannah ist eine 1971 geborene britische Dichterin und erfolgreiche Verfasserin von Psychothrillern. Zur hier verwendeten Begrifflichkeit und Typologie vgl. Seidler (2010: 63-78) mit ihrer kommentierten Liste vom Rentner/Pensionär über den Lustgreis bis zum/zur geizigen Alten. Vgl. außerdem Freiburg (2012, bes.: 187-189) und Herwig (2014b: 7f.), beide mit weiterem Verweis. Ich übernehme gelegentlich Seidlers Unterscheidung zwischen einer ›gesellschaftlichen Altersrolle‹ und dem ›literarischen Altersmodell‹ oder Stereotyp, spreche ansonsten (wie auch Seidler 2010: 74-75) ganz allgemein von einer ›Altersfigur‹, und reserviere ›Altersbild‹ für eine markante literarische Ausgestaltung von individuellen Alterungsprozessen oder für die Ansprache von Idee und Praxis institutioneller Altenpflege in einer alternden Gesellschaft.

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oder Pfau gewordenen Junggesellen, und nutzte das literarische Stereotyp des komischen Alten zusätzlich noch zu humorvollen Intermezzi innerhalb ihrer Rätsel-Krimis. Als der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921-90) Anfang der 1950er Jahre seinen Kommissär Hans Bärlach von der Berner Kriminalpolizei in zwei Kurzromanen ermitteln ließ, hatte dieser mit Poirot nur noch die ›gesellschaftlichen Altersrollen‹ gemein: zu Beginn der zweiten Kriminalerzählung geht der krebskranke Bärlach nämlich ebenfalls in Pension, und wie Poirot als Junggeselle. Beim ›literarischen Altersmodell‹ für Kommissär Bärlach orientierte sich Dürrenmatt dagegen nicht länger am klassischen Typ des genialen Meisterdetektivs, der mit gefühlskalt temperierter Rationalität ausgefallene murder mysteries löst, sondern an den seit den 1930er Jahren international dazu vorgestellten Alternativen. Dürrenmatts Kommissär Bärlach ermittelt ganz ähnlich wie die hard-boiled (›hartgesotten‹) genannten, US-amerikanischen Privatdetektive Sam Spade oder Philip Marlowe in den Geschichten von Dashiell Hammett oder Raymond Chandler, nämlich als »einsamer Wolf« (Schlink 1996) und als einer der letzten Streiter für das Ideal der Gerechtigkeit in einer korrumpierten Umwelt, innerhalb wie außerhalb des Polizeidienstes.7 Resümieren wir kurz noch einmal Bärlachs Persönlichkeitsprofil: neben kriminalistischem Scharfsinn zählen Unbeugsamkeit und Mut zu seinen hervorstechendsten Eigenschaften. Bärlach hat sie schon damals, 1933 bewiesen, als er als Leiter der Frankfurter Kriminalpolizei einen hohen Beamten des neuen NSDAP-Regimes ohrfeigte, und in den ausgehenden Vierzigern beweist er sie erneut. Ungeniert ignoriert Bärlach seinen Berner Vorgesetzten, den Untersuchungsrichter Dr. Lucius Lutz mitsamt seinen ›modernen‹ Methoden (vgl. Dürrenmatt 1992: 1.8, 2.13-15), und begegnet seinen Widersachern weiterhin mit unerschütterlicher Ruhe und Festigkeit (vgl. 1992: Kap. 20). Wie Bärlachs ruhiger, undurchdringlicher und klarer Blick zeigt (vgl. 17.97), triumphiert die Willenskraft des geistig wachen Kommissärs immer noch über seine körperlichen Schmerzen. Ebenso im Stillen jedoch verfolgt der bis zur Schweigsamkeit wortkarge Kommissär seine Pläne, und lässt sich dabei nicht in die Karten schauen. In Der Richter und sein Henker (1950/51) führt der alte und kranke Bärlach am Ende seiner Dienstzeit und vor Ablauf seiner Lebensuhr so noch zwei Mörder ihrer gerechten Strafe zu – oder was Bärlach unter gerechter Strafe versteht. Einer der Mörder namens Gastmann verkehrt als Mann von Welt nicht nur unter Schweizer Künstlern, Politikern und Industriellen, sondern ging bereits vor vier Jahrzehnten mit dem jungen Bärlach die zynische Wette ein, dass er ein perfektes Verbrechen begehen könne, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Mit der erfolgreichen Ausführung jener Mordtat düpierte Gastmann den Kriminalkommissar und dessen Wertordnung, was Bärlach diesem ausgesprochenen Nihilisten ein Leben lang nicht vergessen hat. Gastmann kann sich u.a. deswegen sicher vor Strafverfolgung fühlen, weil er einen Schweizer Nationalrat (Abgeordneten) als Anwalt hat, der in die Polizeiarbeit hineinregiert. Der zweite

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Sam Spade, Privatdetektiv in San Francisco und Protagonist in Der Malteser Falke (The Maltese Falcon, 1930) von Dashiell Hammett (1894-1961), wurde in John Hustons Verfilmung (1941) von Humphrey Bogart dargestellt. Wenige Jahre später (1946) verkörperte Bogart auch Philip Marlowe, den AntiHelden in einer mit Der tiefe Schlaf (The Big Sleep, 1939) einsetzenden und bis 1959 von Raymond Chandler (1888-1959) fortgeschriebenen Reihe von Romanen und Kurzgeschichten.

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anhängige Mord unterstreicht solch eine Korrumpierung des Polizeidienstes noch zusätzlich, denn einer von Bärlachs Assistenten, den er zur Beschattung Gastmanns abgeordnet hatte, wurde von einem anderen Assistenten namens Tschanz aus niederen Motiven umgebracht. Schon in diesem ersten Fall geht der schwer magenkranke Bärlach körperlich an seine Grenzen, wenn er bei einem opulenten Gastmahl mit Tschanz wie ein Gesunder so kräftig zulangt, dass er Tschanz aus der Reserve lockt und sein Geständnis erwirkt. Dann sendet er Tschanz als Henker aus, um Gastmann zu richten – paradoxerweise jedoch scheinbar für den zweiten Mord, den Gastmann in Wirklichkeit gar nicht begangen hat und den der eigentliche Mörder Tschanz so zu vertuschen sucht. Die alttestamentarischen Züge von Dürrenmatts erstem Kriminalroman, in welchem der alte und todkranke Kommissär sich zum unerbittlichen Richter und Rächer aufschwingt, kontrastieren deutlich mit Dürrenmatts grundsätzlichen Zweifeln an der Moral der Gesellschaft wie des Kriminalromans, wo sich ›Gerechtigkeit‹ von einem unbeugsamen Einzelnen nur gegen die Amtshierarchie, lediglich am Rande der Legalität, und bloß auf Umwegen bewerkstelligen lässt. In Der Verdacht (1951/52), Dürrenmatts zweitem Kriminalroman mit Kommissär Bärlach, wurde eine solche Gesamtanlage noch weiter vertieft. Nach einer lebensnotwendigen Krebsoperation stößt der Kommissär noch im Krankenhaus und nur wenige Jahre nach Kriegsende auf die Spur eines verbrecherischen KZ-Arztes, der unmenschliche Operationen ohne Narkose an KZ-Häftlingen wie dem riesenhaften Juden Gulliver durchgeführt hat, einem Bekannten Bärlachs aus der Unterwelt. Nachdem Bärlachs Verdacht, dass jener untergetauchte KZ-Arzt Nehle sich unter dem Namen Fritz Emmenberger als Leiter der exklusiven Privatklinik »Sonnenstein« auf dem Zürichberg eine neue Identität schuf, bereits einen Journalisten das Leben gekostet hat, wirft Bärlach zusätzlich noch sein eigenes in die Waagschale, um seinen Verdacht zu erhärten. Der bis aufs Skelett abgemagerte Bärlach legt sich dem skrupellosen Chirurgen persönlich unters Messer, um jenen ans Messer zu liefern. In ihren Gesprächen vor und in dem Operationssaal loten der desillusioniert-skeptische, aber keineswegs lebensmüde Kommissär und sein wiederum nihilistischer Gegenspieler die moralischen Schranken der menschlichen Willensfreiheit aus – einschließlich des freien Willens zum Verbrechen (vgl. Dürrenmatt 1961: 97f.). Als Kräftemessen mit lange ungewissem Ausgang wird der Roman so zum packenden Psycho-Duell und Psychothriller. Damit ließ es Dürrenmatt jedoch nicht bewenden. Wie nur wenigen Leser*innen bekannt sein wird, schloss sich mit Der Pensionierte (1995) ein fünfter und letzter Kriminalroman des Autors gewissermaßen nahtlos an die beiden ersten an. Zwischen 1969 und 1979 schrieb Dürrenmatt die 16 Kapitel von Der Pensionierte, ohne den Roman zu beenden.8 Auch in diesem gleichfalls heterodiegetisch aus der dritten Person erzählten »Fragment eines Kriminalromans« liegt der Fokus wieder auf ›dem Kommissär‹: Polizeihauptmann Gottlieb Höchstettler – der von sich selbst nur mit dem rangniederen Titel ›Kommissär‹ spricht – hätte bereits Ende der 1950er Jahre der Nachfolger von Bärlachs Chef Dr. Lucius Lutz werden können, wäre nicht auch Höchstettlers zweite Ehe geschieden worden. Der Karriereknick lässt den Berner Kommissär unbeeindruckt. Als

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Das teilte Peter Rüedi mit (1997: 112-119).

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kurz vor seiner Pensionierung im 60. Lebensjahr noch einmal die Chance zur Beförderung winkt, wird gerade seine siebte Ehe geschieden, und es wird wieder nichts, denn weiterhin regieren scheinbar moralisch gefestigte Politiker in den Polizeidienst hinein: »›oben ohne‹ haben wir für unsere öffentlichen Schwimmbäder toleriert«, sagt ein Nationalrat zum Berner Polizeichef, »aber ein Kommandant, der sich siebenmal hat scheiden lassen –« (Dürrenmatt 1997: 1.12). Seinen beständig unbeständigen Hang zur Weiblichkeit, welcher als Auftakt des Romans Der Pensionierte dessen tragikomische Gesamtnote erklingen lässt, erklärt der Kommissär einem Gerichtspräsidenten mit einer »Berufsdeformation. […] Ich handle als Polizist aus lauter Gewohnheit gesetzlich, und damit in punkto Weiber in Richtung Ehe. Es ist ein Jammer: Meine Ehen waren blödsinnige Gesetzeserfüllungen aus Routine.« (Dürrenmatt 1997: 2.18f.) Der Gerichtspräsident und Scheidungsrichter lebt dagegen sein sexuelles Verlangen – besser verborgen vor der Schweizer Öffentlichkeit – in Hamburg aus. Abgesehen von seiner speziellen Gesetzestreue ist Höchstettler ein Wiedergänger seines Kollegen Bärlach – so sehr, dass auch der Autor Dürrenmatt im Manuskript einmal versehentlich beider Namen vertauschte.9 Wie Bärlach, so kann auch Kommissär Höchstettler ebenso schweigsam wie verschwiegen auftreten, nicht nur in seinen Ehen (vgl. Dürrenmatt 1997: 2.15-19). Ähnlich eigenwillig hält er es mit dem Gesetz, doch ganz abgesehen von alkoholisierten Autofahrten eher als gnädiger denn als unerbittlicher Richter. Dieser Kommissär hat nämlich »immer jeden zehnten meiner Verbrecher in eine besondere Kasse getan, in meine Ungerechtigkeitskasse« (Dürrenmatt 1997: 6.34), und sie trotz ihrer Vergehen laufen lassen. Er folgt dabei seiner eigenen Moral und lässt Gnade vor – ihm als Unrecht erscheinendem – Recht walten, womit Dürrenmatt sich Georges Simenons Pariser Kommissar Maigret zum Vorbild nahm (und damit eine weitere, seit den Dreißigern aufgetretene Alternative zu Miss Marple und Poirot).10 Frisch pensioniert, macht sich Kommissär Höchstettler auf den Weg, seine »unerledigten Fälle« (Dürrenmatt 1997: 8.41) zu besuchen, aus Neugier was wohl aus den gnädig Davongekommenen geworden sein mag. Damit nimmt dieses späte Romanfragment einen eher episodischen Charakter an: In den Kapiteln aus Dürrenmatts Feder fehlt die aus den frühen Bärlach-Kriminalromanen gewohnte, ebenso lebensphilosophische wie lebensbedrohliche Auseinandersetzung mit einem zynischen Antagonisten, und damit auch ein Spannungshöhepunkt. Erste Station ist ein Gastwirtsehepaar, welches seinen Gasthof niederbrannte, um sich über einen Versicherungsbetrug eine neue, einträglichere Existenz aufzubauen. Unter den weiteren, nicht erledigten Fällen ist das Einbrecherduo Feller und Keller, das sich auf den Raub und das Aufbrechen von Geldschränken spezialisiert hatte. Feller und Keller stiftet der Kommissär zu einem nächtlichen Einbruch an, bei dem die Einbrecher nur peanuts erbeuten – weil sie, anders als der Kom-

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Vgl. Schlink (1996) zu den Ähnlichkeiten der Kommissäre und Rüedi (1997: 111) zur Namensverwechslung. Zum Vergleich von Dürrenmatts Kriminalromanen sowohl mit den ebenso psychologisch ausgefeilten Maigret-Romanen (ab 1931) des Belgiers Georges Simenon (1903-89) als auch mit der hardboiled detective fiction von Hammett und Chandler siehe Beissmann (1973) und Arnold (1992, bes.: 151). Ihnen lag das hier besprochene Romanfragment jedoch noch nicht vor.

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missär, das Vermögen übersehen, welches lose in die Taschen eines neben dem Safe hängenden Arbeitsmantels gesteckt war. Die eigenwillige Moral des Kommissärs besteht auch in dieser Episode ihren Test: Sie deckt zwar seine Anstiftung zum Einbruch, verbietet ihm jedoch, das zufällig entdeckte Vermögen an sich zu nehmen. Sein privates Glück findet Höchstettler ohnehin anderswo. Als Kellnerin im Gasthof und als Mitbewohnerin bei Feller begegnet dem Kommissär nämlich ein weiteres seiner Schäfchen, die attraktive Clair, gegen die früher als Gelegenheitsprostituierte wegen Beischlafdiebstahls ermittelt wurde.11 Das Mädchen und der Kommissär: Als Gegenleistung für seine frühere ›Anständigkeit‹ ihr gegenüber schenkt Clair dem Kommissär jetzt eine Nacht mit ihr und damit einen seltenen Moment der Erfüllung.12 Die sich anschließende Episode konfrontiert die eigenwillige Moral des Kommissärs mit der Doppelmoral seiner ›scheinheiligen‹ Nachfolger Wanzenried und Rüfenacht (vgl. Dürrenmatt 1997: 3.22 sowie Kap. 15-16) samt der des Berner Polizeichefs und Regierungsrats Gümlinger. So wollen diese Drei noch nachträglich einen Kunstmaler strafrechtlich belangen, über den der Pensionierte weiter schützend seine Hand hält. Das eine Vergehen des Kunstmalers bestand darin, aus Protest gegen den realen und denkmalgeschützten, aber sowohl dem Kunstmaler als auch dem Kommissär als antisemitisch erscheinenden Berner Kindlifresserbrunnen zu urinieren; das andere darin, sich mit einem 13-jährigen Mädchen auf Intimitäten eingelassen zu haben. Weil es sich bei dieser Lolita, wie der Kommissär weiß, um Gümlingers eigene Tochter handelt, kann der Pensionierte den Kunstmaler über eine sachte Erpressung des Polizeichefs noch einmal herausholen. Bei Gümlingers Mitbewerber um die freiwerdende Position eines Bundesrats (Ministers) fehlen ihm dazu allem Anschein nach jedoch die Mittel. Ronald von Rubigen ist aus Sicht des Kommissärs »unser bester Regierungsrat« (Dürrenmatt 1997: 15.69), doch ausgerechnet diesem verheirateten Familienvater wurden in einem Polizeiprotokoll strafbare homosexuelle Beziehungen zu einem italienischen Gastarbeiter (also einem Nicht-Schweizer!) unterstellt. Obwohl der Kommissär das Original des inkriminierenden Protokolls verschwinden ließ, konnte Gümlinger seinen Rivalen mit einer Kopie des Protokolls erpressen und Regierungsrat von Rubigen aus dem Feld schlagen, eventuell sogar in den Selbstmord treiben. Im zynischen Kontrahenten des pensionierten Kommissärs ist eine Scheinheiligkeit, Doppelmoral, ja: Amoralität personifiziert, die sich bis in höchste gesellschaftliche Kreise und staatliche Stellen erstreckt. An dieser Stelle brach Dürrenmatts Roman nach 16 Kapiteln offensichtlich unbeendet ab. Nach Dürrenmatts Tod brachte der Diogenes Verlag die überlieferten Fassungen von Der Pensionierte zuerst 1995 in einer Faksimile-Ausgabe heraus, und zwei Jahre später

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Prostitution selbst ist seit 1942 in der Schweiz nicht mehr strafbar. Im gleichen Jahr wurde auch die Homosexualität legalisiert (von der später die Rede ist), aber ein Schutzalter von 20 Jahren eingeführt, was 1990 auf 16 Jahre gesenkt wurde und unter Umständen gar keine Anwendung mehr findet. Vgl. 14.61-15.63. – Mit Claude Sautets zur selben Zeit entstandenen, französischen Spielfilm Das Mädchen und der Kommissar (Max et les ferrailleurs, 1971) hat Der Pensionierte über eine solche Figurenkonstellation hinaus wenig gemeinsam.

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ein weiteres Mal, zusammen mit einem von der Wochenzeitung Die Weltwoche in Auftrag gegebenen, »mögliche[n] Schluss« von Urs Widmer. Dürrenmatts »Fragment eines Kriminalromans« hat sein Schweizer Kollege Widmer um ein letztes Viertel ergänzt. Er wahrte dabei die heterodiegetische Erzählperspektive mit Fokus auf dem Kommissär, brachte aber nach einem Zeitsprung von elf Jahren (in denen Höchstettler mit Clair ein spätes Glück widerfuhr) die episodische Geschichte mit dem bereits eingeführten Personal zum Schluss. Dabei bemühte sich Widmer nur, Dürrenmatts Gesamtanlage der Erzählung gerecht zu werden, strebte jedoch offenkundig keine Nachahmung im Einzelnen an. Nicht nur in der gelegentlich drastischen Wortwahl wird so zusätzlich ein eigener Unterton hörbar: So erscheint bei Widmer dem Kommissär das Berner Polizeipräsidium, der Ringhof, im Rückblick als ein »Saustall«, und einzelne der von ihm laufengelassenen Delinquenten auch als »richtige Säue« (Widmer 1997: 78, 88; vgl. Schlink 1996). Vielmehr noch gilt das für den ironischen und satirischen Tonfall in Widmers Schlussteil, ohne dass Widmer darüber hinaus anstrebte, Dürrenmatt zu parodieren. Widmer verstärkte nur die, aus Hammetts und Chandlers hard-boiled detective fiction ebenso wie aus Simenons Maigret-Romanen herrührende Tendenz zur Kritik der öffentlichen (Doppel)Moral. Zugleich ließ Widmer sich aber die von Dürrenmatt in seinem Fragment eröffnete Gelegenheit nicht nehmen, ähnlich wie zum Beispiel in Der Richter und sein Henker auch diesmal wieder einen ›Schriftsteller‹ als metaliterarische Figur innerhalb der Kriminalhandlung auftreten zu lassen (vgl. Schlink 1996). Schon bei dem dort auftretenden ›Schriftsteller‹, welcher Gastmann als Nihilisten analysierte, zu seiner Bekümmerung aber selbst prinzipiell nicht als Mordverdächtiger taugte, handelte es sich um ein selbstironisches Porträt des Autors Dürrenmatt, der die Schriftstellerfigur in Maximilian Schells Verfilmung des Romans 1975 dann auch folgerichtig selbst verkörperte. Nach zehn Jahren Arbeit an Der Pensionierte steuerte der am Ende des Entwurfs bald sechzigjährige Dürrenmatt über eine vom Kommissär unwillig angehörte Radiosendung nun auch hier noch ein weiteres ironisches und metaliterarisches Selbstporträt bei, und zwar als Altersbild besonderer Art. Bei seiner Rückkehr zum Kriminalroman (!) habe dieser Schriftsteller nämlich erkannt, die Hauptschwierigkeit beim endgültigen Niederschreiben sei die gewesen, daß er nach den zehn Jahren, die seit der Konzeption und der ersten Fassung vergangen seien, inzwischen das Alter seines Haupthelden erreicht habe, so daß sich für ihn, den Autor, immer mehr das Problem stelle, was mache der Hauptheld denn eigentlich aus dem Rest seines Lebens. Die Kultur im Radio sollte man verbieten, dachte der Kommissär und schaltete ab (Dürrenmatt 1997: 3.26f.). Wenn sich Kommissär und ›Schriftsteller‹ am humorvollen Happy Ending von Urs Widmers Fortsetzung später auch persönlich begegnen, dann handelt es sich dabei ganz eindeutig um eine liebevolle Reminiszenz an den Kollegen Dürrenmatt als süffisanten Weinkenner, der sich noch gut an seine Romanfiguren erinnert und sie alle zum endgültigen Abschied voneinander gastfreundlich bewirtet – unterschiedslos, die Eigenwilligen ebenso wie die Scheinheiligen (vgl. Widmer 1997: 95f.). Nicht allen Kritikern war eine solch versöhnliche Abschiedsszene recht: Gemessen an Dürrenmatts frühen Kriminalromanen, erschien Bernhard Schlink ein solch »heiterer«, »schöner Schluß« zu »leicht«. Hatte Schlink in der Einleitung zu seiner hellsich-

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tigen Rezension für die FAZ noch auf die Ähnlichkeiten der Kommissäre Bärlach und Höchstettler abgehoben, so beleuchtete er abschließend die Änderungen im Altersbild: Nur auf den ersten Blick ist Höchstettler noch der alte Bärlach. [… Aber er] brennt nicht mehr für die Gerechtigkeit, ist kein Besessener mehr, kein Verzweifelter. Er spielt seine kleinen Spielchen und hat seine kleinen Späßchen. Der pensionierte Bärlach geht ins Krankenbett bei Dr. Emmenberger, um diesen zu überführen – ein Spiel um Leben und Tod. Der pensionierte Höchstettler geht mit Clair ins Bett. (Schlink 1996: B5) Ungeachtet solcher Kritik musste Schlink jedoch zugestehen, »Widmers Schluß paßt zu Dürrenmatts Fragment«, denn »[s]eine Leichtigkeit fügt sich so gut zu Dürrenmatts Fragment, daß auch dieses sich als leicht offenbart.« (Schlink 1996: B5) Viereinhalb Jahrzehnte nach Erscheinen von Der Richter und sein Henker beklagte der Satiriker Gerhard Henschel in einer Glosse für die taz dann allerdings den für ihn aus stilistischen Gründen völlig unerklärlichen »Triumphzug ohnegleichen« von Dürrenmatts Roman »durch tausende von Mittelstufenklassenzimmern« – und nahm dies zum Anlass für eine »Wiederbegegnung mit einer vergreisten Romanfigur«. Dazu hat Henschels Erzähler den »moribunden Kommissär« Bärlach in einem Berner Altenheim aufgespürt, um mit ihm dort ein allerletztes Interview zu führen (Henschel 2006: 20), bevor dann auch hier der – allerdings unsentimentale – endgültige Abschied naht.

3.

Die üblichen Verdächtigen: Altersgrenze und Altersbild in Romanserien

Wenn andere Kriminalschriftsteller ihre eigenen Romanzyklen um in die Jahre gekommene Ermittler innerhalb wie außerhalb des Polizeidienstes konzipierten, dann haben sie sich (wiewohl unabhängig von Dürrenmatt, so doch ähnlich wie er) ebenfalls den Kommissar Maigret mit seinem individuellen Gerechtigkeitssinn zum Vorbild genommen; gewiss auch die ›hartgesottenen‹, einsamen Privatdetektive seit den Dreißigerjahren; und zusätzlich noch police procedurals, welche seit den Fünfzigern stärker um Ermittlerteams statt um einzelne Kommissare kreisen.13 Wurden mit solchen von einer breiten Leserschaft geschätzten Reihen und Figuren ähnlich prägnante, literarische Altersbilder vorgestellt? Den Auftakt unserer kleinen Spurensuche macht Kommissar Martin Beck aus Stockholm, bekannt aus dem zwischen 1965 und 1975 veröffentlichten, zehnbändigen Romanzyklus von Maj Sjöwall (*1935) und Per Wahlöö (1926-75) sowie aus mittlerweile drei darauf basierenden Verfilmungen. Für ihren Roman om ett brott (Roman über ein Verbrechen, 1968) orientierte sich das Autorengespann an den anglo-amerikanischen police procedurals, fokussiert sich also nicht auf Kommissar Beck allein. Neben seinem beruflichen Aufstieg zum Leiter der Stockholmer Reichsmordkommission muss Martin Beck bei Sjöwall/Wahlöö (die selbst Schreibtisch und Bett teilten) mit den Folgen einer unglücklichen und dann geschiedenen Ehe zurechtkommen. Bis er im achten von zehn Bänden mit Rhea Nielsen eine neue Beziehung eingeht, lebt Martin Beck allein, 13

Bekannt gemacht wurden police procedurals u.a. durch die mit Cop Hater (1956) einsetzende Reihe von Ed McBain (Salvatore Lombrino, 1926-2005) um das 87. Polizeirevier in New York.

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mit gutem Kontakt zu seiner Tochter, aber seinem Sohn entfremdet. Auf ein für sich allein besonders hervorzuhebendes Altersbild zielt die als gesellschaftskritisches police procedural konzipierte Romanreihe nicht ab. In der sich zunehmend von den Stoffen des Romanzyklus entfernenden Fernsehserie Kommissar Beck (einer schwedisch-deutschen Koproduktion aus den Jahren 1997-2015) wird Beck dagegen noch stärker in den Mittelpunkt gerückt und durchlebt in seiner Lebensmitte eine tiefe berufliche und private Krise. Mit seiner 13-bändigen Reihe um Detective (Chief) Inspector Morse in Oxford, welche ebenfalls erfolgreich für das Fernsehen verfilmt wurde (ITV, 1987-2000), kreierte der Brite Colin Dexter (1930-2017) eine Kultfigur, die über den Romanzyklus hinweg altert, woran Morse sein zunehmend schütteres Haar erinnert. In Der letzte Bus nach Woodstock (Last Bus to Woodstock, 1975) ist Morse noch keine fünfzig; im letzten Band der Reihe, der bezeichnenderweise unter dem Titel Und kurz ist unser Leben (The Remorseful Day, 1999) erschien, zwingen sein Alkoholkonsum und die von Morse ignorierte Diabetes den Chief Inspector aufs Sterbebett. Morse ist eine markante Persönlichkeit: Der hochintelligente Fan von Kreuzworträtseln und klassischer Musik ist zwar zu jeder Tageszeit für ein Pint und eine weitere hypothetische Lösung eines Mordfalls zu haben, lebt aber allein und kann ebenso gentlemanlike wie knarzig sein. Wenn ihm sein persönliches Gerechtigkeitsgefühl sagt, dass eine der Tatverdächtigen nur geringe Schuld auf sich geladen hat und er sie überdies attraktiv findet, dann kann Morse schon einmal dafür sorgen, dass ihre Haftstrafe gering ausfällt – bevor der Junggeselle anschließend mit ihr eine romantische Affäre beginnt, wie mit Ruth Rawlinson in Eine Messe für all die Toten (2001; Service of All the Dead, 1979). Ansonsten hat dieser Typ ›einsamer Wolf‹ aber nur eine dauerhafte Beziehung unterhalten, nämlich die berufliche zu seinem Sergeant Lewis, und bei aller kauzigen Individualität entsteht auch hier im engeren Sinne kein markantes Altersbild. Detective Inspector John Rebus aus Edinburgh ist ein weiterer Ermittler vom Typ ›einsamer Wolf‹. Mit Rebus hat der Schotte Ian Rankin vor drei Jahrzehnten einen sich heutzutage sehr großer Popularität erfreuenden Protagonisten einer vielbändigen Romanserie geschaffen – von Kurzgeschichten abgesehen, ist mit Ein Haus voller Lügen (2019; In a House of Lies, 2018) gerade der 22. Band der Reihe erschienen, welche ebenfalls erfolgreich verfilmt und zu Hörspielen und Hörbüchern verarbeitet wurde.14 Seine Romanfigur Rebus ließ Rankin von den Anfängen mit vierzig in Verborgene Muster (2000; Knots and Crosses, 1987) bis zu seiner Pensionierung mit sechzig Jahren am Ende von Ein Rest von Schuld (2008; Exit Music, 2007) in Echtzeit altern, um ihn dann gemäß dem geltenden Reglement in Pension zu schicken. Auf das absehbare Dienstzeitende von Rebus hin hatte der Autor ihm ab dem Roman Puppenstiel (2002; The Falls, 2001) mit Siobhan Clarke eine deutlich jüngere Detective Sergeant (und Engländerin) als Kollegin zur Seite gestellt, und damit ab dem Zeitpunkt, als John Rebus Mitte fünfzig geworden war, zugleich eine potenzielle neue Serienheldin und Nachfolgerin aufgebaut.15 Nach Rebus’

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Neben der Verfilmung von Scottish Television (STV/ITV 2000-07) und von Hörspielen der BBC (1999, 2003-16) existieren auch zahlreiche Hörbuchfassungen. Ähnliches hatte Henning Mankell mit Kurt Wallanders Tochter Linda im Sinn gehabt, als er diese in Vor dem Frost (2003; Innan Frosten, 2002) an prominenter Stelle an der Seite ihres Vaters ermitteln

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Ausscheiden führte Rankin in Ein reines Gewissen (2010; The Complaints, 2009) zusätzlich noch Inspector Malcolm Fox ein, der ebenfalls in Edinburgh, zuerst aber unabhängig von Rebus und Clarke in einer eigenen neuen Reihe ermittelte. Nach nur fünf Jahren Intermezzo kreuzten sich dann die Wege der Drei. Ob auf Drängen der Fangemeinde (wie einst bei Conan Doyles Sherlock Holmes) oder aus Rankins eigenem Antrieb: in Mädchengrab (Rankin 2014a; Standing in Another Man’s Grave, 2012) wurde John Rebus reaktiviert. In den sich anschließenden Romanen der Reihe, die von Rebus’ (Un-)Ruhestand handeln, trat er wieder zusammen mit Clarke und nun auch gemeinsam mit Fox auf. Ungeachtet von Rebus’ Pensionierung veränderte sich der Gesamtcharakter der Reihe vom Moment an, da Rebus als einer von mehreren Ermittlern nicht länger allein im Zentrum der Verbrechensaufklärung stand, stärker hin zum police procedural, und mit Zeitgestaltung und Spannungsbogen orientierte sich Rankin zusätzlich noch am Thriller. Ganz offensichtlich verfolgte Ian Rankin nach Rebus’ Abschied 2007 und Wiederkehr 2012 keinen langfristigen Plan und kein konsistentes Altersbild, sondern entwickelte die Rebus-Reihe vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Schottland Band für Band weiter. So sind die gelegentlich eingestreuten Verweise auf das politische Zeitgeschehen – wie etwa das Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands 2014 oder einzelne führende Politiker – immer auf dem Stand der Zeit (vgl. Rankin 2016 und 2017). Die zuletzt erschienenen Romane berücksichtigen darüber hinaus die reale Reorganisation und Zentralisierung der schottischen Polizei im Jahr 2013.16 Nur kurz nach seiner Verabschiedung nimmt Rebus in Mädchengrab (2012; Rankin 2014a) zunächst als zivile Hilfskraft in der Cold Case Unit seine Arbeit wieder auf, um im (Un-)Ruhestand unerledigte Fälle zu bearbeiten – verglichen mit Dürrenmatts Kommissär Höchstettler allerdings im anderen, echten Sinne. Dabei trifft Rebus auf Inspector Malcolm Fox: dieser beinharte Ermittler in der Antikorruptionseinheit Complaints soll Rebus vor seiner Wiedereinstellung durchleuchten und hegt schon als trockener Alkoholiker anfänglich wenig Sympathie für ihn. Die für Rankins Kriminalromane wohl wesentlichste kontextuelle Veränderung ist das Hinausschieben der Altersgrenze im Polizeidienst auf 65 Jahre. Das eröffnet dem Autor nämlich die Gelegenheit, seinen Pensionär Rebus zeitweilig sogar wieder in den regulären Dienst zu rekrutieren. In Schlafende Hunde (Rankin 2014b; Saints of the Shadow Bible, 2013) lässt Rebus sogar die Herabstufung zum Detective Sergeant zu, um bis zum endgültigen Eintritt seines Pensionsalters am Ende dieses Romans wieder regulär bei der Mordkommission arbeiten zu können – von nun an allerdings mit seiner ehemaligen Assistentin Siobhan Clarke als Detective Inspector und Chefin, also unter Umkeh-

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ließ. Dieser erste Band einer ›Linda Wallander Reihe‹, wo die Geschehnisse aus ihrem Blickwinkel heraus erzählt werden, blieb allerdings auch der einzige und letzte. In diesem Jahr ging die Rankins Leser*innen vertraute Lothian and Borders Police mit ihrem Hauptquartier in Edinburghs Fettes Avenue zusammen mit Rebus’ Polizeirevier St. Leonards in der nun zentralisierten Police Scotland auf. Den lokalen Kriminalkommissariaten kommt seither nur noch eine unterstützende Rolle zu. Sie ermitteln nicht länger selbständig, da Police Scotland nun eine eigene Abteilung für Schwerstkriminalität und mit dem Scottish Crime Campus in Gartcosh bei Glasgow auch eine eigene neue Elite-Ausbildungsstätte unterhält, zu der Malcolm Fox versetzt wird (vgl. Rankin 2016: 1.15, 1.21; 2017: 2.29f., 3.48).

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rung ihrer früheren Rangfolge. Vor Hierarchien ist Rebus jedoch weiterhin nicht bange, schon weil er (wie auch die Kommissäre Bärlach und Höchstettler) seine Vorgesetzten gerne ignoriert. Wie sieht es dagegen mit Rebus’ Privatleben aus? Wie die schwedischen Kommissare Beck und Wallander lebt der Schotte in Scheidung, mit sporadischem, aber gutem Kontakt zu seiner Tochter Samantha. Nach der Geburt ihres ersten Kindes (aus künstlicher Befruchtung, vgl. Rankin 2014a: Kap. 31 und 65) hat Samantha ihren Vater zuletzt zum Großvater gemacht – ohne dass er diese neue ›gesellschaftliche Altersrolle‹ aktiv aufnähme, geschweige denn in ihr aufginge (vgl. Rankin 2017). Weiterhin wissen Rankins Leser*innen, dass Rebus wie Chief Inspector Morse und Kommissar Wallander ein Musikliebhaber, anders als sie jedoch kein Klassik-Fan ist, sondern ein ausgesprochen sachkundiger Sammler von Rock-LPs seit den 1960ern.17 Wie jene beiden hat auch der Kettenraucher Rebus außerdem gerne und (zu) oft dem Alkohol zugesprochen, und hat Dienstbesprechungen schon am Mittag oder am Feierabend in seine Edinburgher Stammkneipe, die Oxford Bar verlegt.18 Mit all solchen Facetten von Rebus’ Charakter wird jedoch – ähnlich wie bei Chief Inspector Morse – selbst nach drei Jahrzehnten der Reihe kein spezifisches Altersbild verbunden, will man es nicht in Rebus’ Dienst rund um die Uhr im Ruhestand erkennen und in seiner offenkundigen Weigerung, sich ein Dienstende auch nur ansatzweise vorzustellen (vgl. Rankin 2014b: 4.80). Nur selten wird in die im Wesentlichen aus der Außenperspektive erzählten Bände der Reihe eine längere Innenansicht des Protagonisten eingeschoben (oder die einer anderen Figur, vgl. Rankin 2016: Kap. 42). Wenigstens bis zum Roman Schlafende Hunde (Rankin 2014b) rempelt, raucht, hustet und trinkt Rebus weiter regelmäßig in der Oxford Bar – quasi unverändert, also alterslos. In den letzten Romanen sind allerdings einzelne Änderungen zu verzeichnen. Wenngleich John Rebus grundsätzlich in seiner ›hartgesottenen‹ Anlage statisch verharrt, wird er als Altersfigur von seinem Schöpfer doch im Detail modifiziert. So lässt Rankin nach eigenem Eingeständnis seit Rebus’ Reaktivierung dessen Lebensuhr nun langsamer laufen, so dass John Rebus in Schlafende Hunde (Rankin 2014b) erst mit Mitte sechzig endgültig pensioniert wird. Doch arbeitet er als ›Zivilist‹ im (Un-)Ruhestand nahtlos weiter als willkommener ›Ratgeber‹ der Polizei (vgl. Rankin 2016), oder er greift ungebeten – von sich aus – einen ungelösten Mordfall auf (vgl. Rankin 2017). Im zwei Jahre nach Schlafende Hunde herausgebrachten Nachfolgeroman Das Gesetz des Sterbens (2016, Even Dogs in the Wild, 2015) ist seit Rebus’ Pensionierung allerdings erst ein Monat vergangen – der alte Rebus wäre eigentlich inzwischen nahezu siebzig. Mit dem Verlangsamen bzw. Anhalten der Lebensuhr seines Protagonisten reagiert Rankin auf ein typisches Dilemma solcherart realistischer Romanzyklen, in denen die Kommissare so lange in Echtzeit altern, bis sie nicht länger glaubwürdig dem

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Rebus’ (und Rankins) Liebhaberei spiegelt sich zum Beispiel auch in den Romantiteln der letzten Bände, welche Songs der schottischen Rockband The Associates (»Even Dogs in the Wild«, 1980) und des britischen Gitarristen John Martyn (»I’d Rather Be the Devil«, 1973) entlehnt wurden. Vgl. Rankin und Müntefering (2016). Vgl. Rankin (2014a: Kap. 33 und 58, außerdem Kap. 3, 11, 12) sowie Rankin (2014b: Kap. 5, 6, 19, 25). Vgl. daneben noch Rankin und Müntefering (2016).

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aktiven Dienst angehören können. Deshalb fungieren sie beispielsweise weiterhin (wie John Rebus) inoffiziell als Berater, praktisch aber (und ähnlich wie Poirot) als Privatdetektive.19 In den letzten drei Romanen gibt der Mittsechziger außerdem – bislang unvorstellbar – aus Angst vor Lungenkrebs das Rauchen auf und reduziert auch seinen Alkoholkonsum (mit wenigen Ausnahmen) fast ganz. Wenngleich nicht in dem ebenso ausgeprägten wie einprägsamen Maße wie die Kommissare Bärlach und Wallander, so stößt John Rebus neuerdings ebenfalls gesundheitlich an seine Grenzen. Vielleicht steigert sich deswegen noch die Aufsässigkeit des schottischen Raubeins gegenüber Vorgesetzen, Kollegen und Parkwächtern.20 Als Ausgleich für seinen Ausstieg aus der Sucht wird der ›hartgesottene‹ Edinburgher Ermittler von seinem Autor (in den drei zuletzt erschienenen Romanen) mit zwei neuen emotionalen Bezugspunkten ausgestattet. Als ständiger neuer Mitbewohner läuft Rebus ein Hund zu, den er auf den Namen Brillo tauft.21 Zusätzlich, allerdings sporadischer, kommt noch Rebus’ neue Geliebte hinzu, die Pathologin Professor Deborah Quant, die ihn nach eigenen Worten anfangs »[n]ur zum Essen und Trinken« zuhause aufsucht (Rankin 2016: 7.82). In Ein kalter Ort zum Sterben (2017; Rather Be the Devil, 2016) ist von jener offenbar harmonischen Liaison, die nun auch sexueller Natur zu sein scheint, dennoch weiterhin nur am Rande die Rede, nämlich lediglich expositionsartig am Romanbeginn. Wenn Rebus und Quant sich später dienstlich über den Weg laufen, unterlassen sie jede Art von Liebesbezeugung (vgl. Rankin 2017). So gesehen ist die neue Liebe von Rebus für die Entwicklung der Handlung sowie der Haupt- bzw. Altersfigur nicht wesentlich. Dazu bleibt der Schotte (ähnlich wie etwa sein Kollege Morse in Oxford) nach wie vor viel zu sehr als Einzelgänger konzipiert. Auch mit seiner wesentlich jüngeren Kollegin Siobhan Clarke hat ihn trotz abendlicher Besprechungen in Rebus’ Wohnung oder im Hotelzimmer immer nur eine beruflich erfolgreiche Partnerschaft im Team, aber keine Liebesromanze verbunden. John Rebus ist mit seinem Beruf verheiratet, und er tut alles, um weiter ermitteln zu können. Und so gibt Rebus bereitwillig sofort alle anderen Vorhaben für die neuen Ermittlungen auf, als Clarke und Fox nur einen Monat nach Eintritt seines Ruhestands wieder bei ihm um Rat nachsuchen (vgl. Rankin 2016: 3.32, 11.129). Einen Urlaub vom

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Vgl. den informativen und detailreichen Überblicksartikel von Alter (2011), der mit »The (Really) Long Goodbye« im Titel auf Raymond Chandlers The Long Goodbye (1953; Der lange Abschied, 1954) anspielt. Alter führt als einen mit Rebus vergleichbaren Pensionär und ›Berater‹ Ruth Rendells Inspector Wexford in The Vault (2011) an. Demgegenüber hätten Autoren wie Patricia Cornwell (bei der Forensikerin Dr. Kay Scarpetta), Sue Grafton (bei der Privatdetektivin Kinsey Millhone) oder Lee Child (beim ehemaligen Militärpolizisten Jack Reacher) rechtzeitig früher und dauerhaft die Lebensuhr angehalten. Andernfalls müssten Leser*innen gerade des 21. Romans Ein kalter Ort zum Sterben Rebus’ konstante Regelverstöße – vom ständigen Falschparken bis hin zum Urinieren gegen die Haustür eines Mordverdächtigen (vgl. Rankin 2017: 25.441f.) – für eine unmotivierte und übertriebene Dynamisierung der Figur halten. Anders als sein schwedischer Kollege Wallander, mit dem ihn u.a. der Hund im Alter verbindet, lässt sich der Schotte anfangs nur zögerlich auf das Tier ein (vgl. Rankin 2016: Kap. 10ff.). Erst nachdem Rebus den ihm zugelaufenen Streuner erfolglos weiterzugeben versucht hat, behält er ihn und tauft ihn, gewohnt bärbeißig, auf den Markennamen eines Stahlwolle-Schwamms.

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Ermittlungsdienst hatte Rebus – ähnlich wie Wallander – ohnehin praktisch nie gemacht, und sich auch bezeichnenderweise nie um einen Reisepass gekümmert (vgl. Rankin 2014a: 7.67). Unter den veränderten Rahmenbedingungen und mit wenigen Änderungen am eigenen Profil ermittelt Rebus faktisch wie in alten Tagen weiter auf eigene Faust. Durchgängig überwindet er alle Einlass-Schranken und taucht wie selbstverständlich in den Diensträumen auf, gelegentlich unter Verwendung der Visitenkarten von Malcolm Fox als ›Türöffner‹ (vgl. Rankin 2017). Rebus’ Ermittlungsarbeit wird nun jedoch komplettiert von Handlungssträngen, die eigens um Siobhan Clarke und Malcolm Fox kreisen. Hier – und nicht bei der Ausgestaltung der Altersfigur John Rebus zu einem stimmigen Altersbild – liegen die markanten Veränderungen bei der Figurenzeichnung in Rankins letzten Romanen. Die neue Figurenkonstellation aus Rebus, Clarke und Fox verändert auch die mit ihr verbundene Sympathielenkung: Wie in einer Ehe ›kracht‹ es auch einmal im Dreiecksverhältnis mit Clarke und Fox. Nachdem die ehrgeizige Clarke zuletzt an Rebus vorbeigezogen und zeitweilig sogar zu seiner Chefin geworden ist, tritt sie nicht nur hart und kompromisslos gegenüber ihren Vorgesetzten auf, auch die Harmonie mit Rebus wird teilweise gestört. Dafür gibt der Autor über das offenbar auf Dauer angelegte Liebesverhältnis von Rebus und Quant hinaus auch noch an anderer Stelle zaghaft der Romantik mehr Raum. Während Rebus und Clarke freundschaftliche Nähe, aber keine Affäre verband, so scheint sich eine solche anfänglich zwischen Clarke und Fox anzubahnen (vgl. Rankin 2016 1.14, 5.55), zerbricht dann aber an Clarkes Eifersucht auf Fox’ Karrierefortschritt. Dafür rauft sich Rebus mit Fox zusammen, der während seiner Zeit in der Antikorruptionseinheit zuerst allein (in The Complaints, 2009) und dann zusammen mit Rebus auftrat, und mit ihm haderte. Bevor Rebus und Fox in Schlafende Hunde (Rankin 2014b) von Kontrahenten zu echten Kollegen bei der Mordkommission werden, gibt der Autor Fox noch wiederholt Gelegenheit, Rebus als Ermittler der ›alten Schule‹ bzw. vom ›alten Eisen‹ und als ›gefährdete Spezies‹ zu charakterisieren – also als Dinosaurier vom Dienst (vgl. Rankin 2014a: 16.129f., 62.445-47). Bei genauerem Hinsehen ist Rebus’ anfänglicher Antagonist aber ambivalenter angelegt als zuerst gedacht. Inzwischen hat Rankin nämlich Fox als dynamische Figur vom unsympathischen Pedanten zum verlässlichen Kollegen aus gebrochenen familiären Verhältnissen entwickelt, sodass Fox zuletzt mehr noch mit Rebus als mit Clarke ein gut funktionierendes Team bildet. So tauschen Rebus und Fox immer wieder untereinander ihre Eindrücke und persönlichen Erlebnisse aus, auch was Fox’ Schwierigkeiten mit seinem kriminellen Vater Mitch und mit seiner suchtabhängigen Schwester Jude anlangt (vgl. Rankin 2016 und 2017). Hintergrund für solche Verstrickungen und für die Ermittlungen bleiben Edinburgh und Schottland in den Fängen von Korruption und organisierter Kriminalität.22 Bei der 22

Vgl. dazu beispielsweise schon Im Namen der Toten, den 16. Band der Reihe (Rankin 2007), mit seiner Darstellung des Weltwirtschaftsgipfels im schottischen Gleneagles sowie der Demonstrationen und Bombenanschläge in London Anfang Juli 2005. In Das Gesetz des Sterbens erstreckt sich ein Ring von Männern in gehobener sozialer Stellung, die in einem Kinderheim Jungen sexuell missbrauchen, bis hin zum ehemaligen schottischen Chief Constable (vgl. Rankin 2016, Kap. 23-26). Der in eine Glasgower Gang eingeschleuste, interne Ermittler spielt sein eigenes Doppelspiel, worin er von seiner Geliebten, die ebenfalls im Polizeidienst arbeitet, schlagkräftig unterstützt wird (vgl.

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Gestaltung seiner Altersfigur wie beim Gesellschaftsbild hat sich der Autor Ian Rankin als einer der Hauptvertreter des vom Buchhandel angepriesenen Tartan Noir an den Vorgaben der hard-boiled detective fiction und des roman noir orientiert – ähnlich wie vor ihm beispielsweise schon Dürrenmatt. Und ganz wie Dürrenmatts Kommissäre und auch Simenons Kommissar Maigret verbindet auch John Rebus sein Dienstverständnis mit einer sehr individuellen, immer aber an letzter, wahrer Gerechtigkeit orientierten Auffassung von Recht und Moral.23 Diese erlaubt es ihm beispielsweise, einen des Mordes Verdächtigen von Angehörigen des Opfers malträtieren zu lassen, um sein Geständnis zu erwirken. Die dafür angeheuerten Angehörigen lässt Rebus nach ihrer Vergeltungstat von Strafe unbehelligt – und zwar mit dem spitzfindigen Argument, er arbeite im Ruhestand gerade nur noch als Zivilist.24 Zwei andere Mordverdächtige werden individuell unterschiedlich angefasst. Den skrupellosen Kenny Arnott unterzieht Rebus noch im Krankenbett und ohne Rücksicht auf die Folgen einem harten Verhör (vgl. Rankin 2017: Kap. 22); während er bei Bryan Holroyd, dem Täter aus geraubter Unschuld, am Ende fünfe gerade sein lässt – nicht ohne jedoch – in einer der seltenen Innenansichten dieser Altersfigur – wie folgt über die Grenzen seiner persönlichen Rechtsauslegung zu sinnieren: Was spielte es schon für eine Rolle, ob Bryan Holroyd diejenigen ermordete, die ihn missbraucht hatten, ebenso wie deren Helfershelfer? Aber irgendwie konnte es ihm doch nicht egal sein. Das war immer schon so gewesen und würde auch immer so bleiben. Nicht wegen der Opfer oder der Täter, sondern wegen Rebus selbst: Wenn das alles egal war, dann war er selbst es auch. (Rankin 2016: 35.394) Kontrastfiguren verstärken den Eindruck von Rebus’ privater Moral. Neben dem undurchsichtigen Gangster Morris Gerald ›Big Ger‹ Cafferty – der mit Rebus in einem derart symbiotischen Verhältnis steht, das ebenso an Conan Doyles Professor Moriarty wie an die vielen Doppelgänger-Figuren in der schottischen Literatur denken lässt – sind dies vor allem Rebus’ Kollegen im Polizeidienst, nämlich die vorschriftstreue Siobhan Clarke sowie der unbestechliche Malcolm Fox. Als Altersfigur tritt John Rebus hinter diese beiden Kollegen neuerdings stärker zurück. Nach der Dynamisierung in der Figurenzeichnung in Rankins letzten drei Romanen bleibt es aber spannend zu sehen, ob und wie er seine Figuren weiter entwickeln wird. Zwei weitere, aktuelle und relevante Beispiele vom deutschen Buchmarkt belegen ebenfalls, dass Altersfiguren in Kriminalromanzyklen gegenwärtig Konjunktur haben.

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Kap. 8, 15, 17, 41). Zusätzlich durchzieht sowohl diesen als auch den Nachfolgeroman Ein kalter Ort zum Sterben (Rankin 2017) ein Krieg zwischen den rivalisierenden Gangs von ›Big Ger‹ Cafferty und Darryl Christie aus Edinburgh sowie Joe und Dennis Stark aus Glasgow. Vgl. Rankins entsprechende Interview-Äußerung angesichts seiner jüngsten Romanveröffentlichung: »When I started writing the Rebus books I was a big fan of the American private eye story and I always envisaged Rebus as a kind of private eye within the police. He’s not going to work well as part of a team, he’s going to want to be out doing his own thing, sometimes bending the rules as far as he can.« (Rankin und Beckerman 2018) Vgl. Rankin (2014a: Kap. 69) und vgl. ähnlich Rankin (2014b: Epilog).

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In Böse Leute (2016), ihrem ersten Kriminalroman, hat die auf Sylt geborene Erfolgsautorin ›Dora Heldt‹ (Bärbel Schmidt) Romantik, Rentenalter und Regionalkolorit auf Trivialromanniveau miteinander verbunden. Ein Quartett aus Hobby-Kriminalisten der Generation 60plus um den pensionierten Polizeichef vom Revier Westerland ermittelt in einer Einbruchsserie auf Sylt, bei der wenig gestohlen, aber viel Furcht verbreitet und auch eine Hausbesitzerin getötet wird, die ›Lustgreisin‹ im Kaufrausch Jutta Holler. Bezeichnenderweise wird Dora Heldts dünne Kriminalhandlung gleich mit vier Liebeshandlungen verbunden, die alle mit ähnlich holzschnittartig gezeichneten Figuren ausstaffiert werden. Die Suche nach einem diskutablen Altersbild führt deshalb hier in die Irre,25 und daran ändert auch Dora Heldts Fortsetzungsband um das Rentnerquartett Wir sind die Guten (2017) nichts. Um dieselbe Zeit hat der vielfach preisgekrönte Münchener Kriminalschriftsteller Friedrich Ani – neben seiner seit 1998 laufenden Reihe um den Detektiv Tabor Süden – einen neuen Romanzyklus aufgelegt, der künstlerisch und von der psychologischen Zeichnung der alternden Hauptfigur ebenso wie der Nebenfiguren deutlich anspruchsvoller als der Reihenauftakt von Dora Heldt ist. In Der namenlose Tag (2015) recherchiert Anis pensionierter Hauptkommissar Jakob Franck kurz nach seinem Wechsel in den Ruhestand einen auf den Tag des Mauerfalls 1989 zurückreichenden, letztlich jedoch nicht zufriedenstellend geklärten Tod einer Teenagerin durch Erhängen, auf den ein Jahr später noch der Selbstmord der Mutter folgte. Das Familienschicksal wird begleitet von Gerüchten über Sex mit Minderjährigen, vielleicht sogar inzestuösen Verhältnissen. Friedrich Ani erzählt diese Kriminalgeschichte oft genug parallel und sehr abwechslungsreich über viele intern miteinander zu Teilhandlungen verknüpfte Kapitel, über Rückblenden sowie über Wechsel zwischen Außen- und Innenperspektive. Im Auftrag des Vaters des toten Mädchens ermittelt Jakob Franck zwar als Pensionär wie Poirot, praktisch aber doch wie einer der ›hartgesottenen‹ Privatdetektive. Auch für Anis Figurenzeichnung und Gesellschaftsbild stehen letztlich also wieder – wie schon bei Dürrenmatt und Rankin – hard-boiled detective fiction und roman noir Pate. Weil Ani sich aber mehr auf die mit dem Kriminalfall verbundenen Figuren und deren Motive als auf seinen gealterten Ermittler konzentriert, entsteht im ersten Band seiner neuen Reihe noch kein Altersbild, das konzeptionell über die hier schon angesprochenen Beispiele hinausweisen würde. Ein beiläufiger Hinweis auf Francks ersten Fall nach der Pensionierung stellt in Ermordung des Glücks (vgl. Ani 2017: 4.66) die innere Chronologie der Reihe her. Im zweiten Band belässt es Ani zur äußerlichen Charakterisierung von Jakob Franck bei einer

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Bei Onno Thiele (einem der Ermittler im Rentenalter) und seiner Freundin Helga (einem der Raubopfer) geht es bei der Liebe im Alter taktvoller zu. Sina Holler steht ihrer Mutter dagegen wenig nach, nur dass hier beim Handel von Geld gegen Lusterfüllung die Geschlechterverhältnisse verkehrt werden. Bei anderen Figuren wie dem jüngeren Polizistenpärchen Robert Jensen und Maren Thiele (Onnos Tochter) entsteht die romantische Verwicklung weniger aus dem Dienstverhältnis als aus dem Altersunterschied, genauer aus der hier über die Liebe entscheidenden Frage, ob der männliche Partner in der Beziehung zehn Jahre jünger sein darf. – Zu »Liebe und Sexualität in Altersrepräsentationen der Gegenwart« vor Heldts Roman vgl. Seidler (2014), die damit über ihre einschlägige Dissertation (Seidler 2010) hinausweist.

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spärlichen Anzahl mehr oder weniger unveränderlicher Kennzeichen. Was die Physiognomie angeht, wird Franck vorrangig als »alt und grau« beschrieben (Ani 2017: 1.10, 14.199). Der »alte Herr Franck« erscheint anderen Romanfiguren nicht nur wegen seiner kurzen grauen Haare als »graue Gestalt« (14.199). Auch Franck selbst sieht beim kritischen Blick in den Spiegel sein eigenes, alt gewordenes Gesicht und hatte Mühe, die Kerben der Zeit zu ertragen; die nicht von Schlaflosigkeit oder Alkoholkonsum, sondern vermutlich von bloßer Lebensanstrengung herrührenden Augenringe; die buschigen, den Blick verdunkelnden Brauen; seinen schmalen Mund, dem es an Verschmitztheit mangelte; seine Schultern, deren krumme Haltung sein teures, eigentlich perfekt sitzendes, dunkelblaues Leinenhemd unförmig aussehen ließ; seine windige Haarpracht (Ani 2017: 9.146). Und das ist seine ausführlichste Charakterisierung im zweiten Roman. In der Vorstellungskraft der Leser*innen wird Franck ansonsten durch den durchgängigen, nahezu stereotypen Hinweis auf seine gepflegte Lederjacke und seine lederne Umhängetasche verankert. Diese mit Ermittlungsakten gefüllte Tasche verweist auf die sich dem peniblen Aktenstudium verdankende Detailkenntnis von Franck. Kehrseite solch gründlicher Vorbereitung ist die öfters aufflackernde Ungeduld des Ex-Kommissars. Ob er die Hände gelegentlich vor dem Bauch faltet oder noch öfter hinter dem Rücken verschränkt, immer fällt Franck jedoch trotz innerer Anspannung gerade durch seine ›ausdruckslose‹, verschlossene, versteinerte Miene und seinen ›verkümmerten Blick‹ auf (vgl. Ani 2017: 1.10 und 25, 5.73, 12.177, 14.200). Diese schemenhafte Umrisszeichnung wird von Ani unterschiedlich koloriert durch schon aus Der namenlose Tag bekannte oder in Ermordung des Glücks neu hinzukommende Hinweise auf das durchaus komplexe Gefühlsleben und die Gewohnheiten des »Mann[s] mit der ledernen Umhängetasche« (Ani 2017: 1.14). Kontakt mit den aktiven Kollegen unterhält der nach 32 Dienstjahren als Leiter der Mordkommission in den Ruhestand entlassene Hauptkommissar über seinen Nachfolger André Block und die im zweiten Band neu eingeführte Hauptkommissarin Elena Holland. Die drei führen eine gleichberechtigte Beziehung, die einen offenen Austausch untereinander erlaubt. Zum primus inter pares wird der stets gut vorbereitete Münchener Pensionär durch seine Fähigkeit, intensiv zuzuhören und, wenn es ihm sein immer waches Misstrauen gebietet, dort nachzuhaken, wo die Sonderkommission Aussagen ad acta gelegt oder völlig ignoriert hat. Die Franck eigene Methode der Einfühlung in das aktenkundige Material wird genauer beschrieben: Franck selbst versteht sie als ›Gedankenfühligkeit‹ auf der Suche nach dem versteckten oder übersehenen Detail, das er wiederum als »das Fossil« bezeichnet (Ani 2017: 15.219, 221, 238, 16.251 und 17.281). Nicht nur durch jene Szenen, in denen der kollegiale Austausch in Münchener Wirtshäusern beschrieben wird, vielmehr auch durch solche, die das komplexe Verhältnis von Jakob Franck zu seiner Ex-Ehefrau schildern, wird die im ersten Band der Reihe vorgestellte Altersfigur vom Typ ›einsamer Wolf‹ zurechtgestutzt und insgesamt differenzierter angelegt. Von Online Poker, das sich Jakob Franck als ein erstes und bezeichnenderweise wenig kommunikatives Hobby für seinen Ruhestand ausgesucht hatte, ist im zweiten Band nicht länger die Rede; ausführlicher dagegen schon von Francks gescheiterter Ehe mit Marion Siedler. Sie zerbrach nach neun Jahren an der

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Tatsache, dass auch dieser Ermittler letztlich nur mit seinem Beruf verheiratet sowie als Ehemann unaufmerksam und verschlossen gewesen ist. Seit der Scheidung sind im ersten wie im zweiten Band 20 Jahre verstrichen (auch in Anis Reihe ist also, ähnlich wie bei Rankins Rebus, ein Verlangsamen bzw. Anhalten der Lebensuhr bei der Altersfigur des Ermittlers zu konstatieren), doch über diese zwei Jahrzehnte hinweg haben sich die geschiedenen Eheleute einen nachehelichen Zusammenhalt bewahrt, der den Austausch über Ermittlungsverfahren erlaubt und bei gemeinsamen Filmabenden beim Wein Nähe, ja: sogar etwas wie Liebe zulässt, obwohl Marion Siedler in einer neuen Beziehung lebt.26 Sie ist auch eine der wenigen, die von der Ermordung von Jakob Francks jüngerer, fünfzehnjähriger Schwester Lina wissen. Einzelne, im zweiten Band mitgeteilte Erinnerungsfetzen – das Überbringen der Todesnachricht durch einen Polizisten oder die Aufklärung der Mordtat und die Verhaftung des Täters aufgrund einer Zeugenaussage – lassen Francks als ›Ermordung des Glücks‹ erlebtes Kindheitstrauma nicht nur als Ursache für die wiederkehrende Verdüsterung seines Gemüts erahnen – bei der er wochenlang »wie ein verstoßener Apostel« in der Welt umherirren kann (Ani 2017: 13.197) –, sondern auch als Motivation für seine spätere Arbeit bei der Kriminalpolizei. Dort ist er nicht nur durch seine besonders intensive Befragung von Zeugen aus der Reihe gefallen, sondern auch dadurch, dass er nach wie vor freiwillig die Aufgabe übernimmt, Hinterbliebenen eine Todesnachricht zu überbringen. Schließlich zeigt sich an dem Mordfall in Francks Familie schlaglichtartig das für Anis Reihe auch anderswo charakteristische Moment der Zufälligkeit in der Art, wie Verbrechen begangen, gestanden oder (nicht) aufgeklärt werden. Als Epilog zu Ermordung des Glücks leistet sich Friedrich Ani eine Szene mit zwei Münchener Mordopfern im Himmel, und gestattet sich mit dem allerletzten Satz des Romans eine Schluss-Pointe, die gleichermaßen als cliff-hanger wie als Vorausdeutung auf das spätere Ende der Romanreihe gelesen werden kann (und hier nicht verraten werden soll). Man darf gespannt sein, was zukünftig davon, von der Ermordung von Francks Schwester oder von den vier im Roman skizzierten und bei Francks Pensionierung noch immer unaufgeklärten Mordfällen breiter ausgeführt werden wird. Für die ersten beiden Bände der Reihe bleibt festzuhalten, dass Anis Altersfigur seines pensionierten Ermittlers – trotz der geschilderten, verschiedenartigen Ausmalung – prinzipiell auch weiterhin auf eine schemenhafte Umrisszeichnung beschränkt bleibt, die dem Autor einerseits noch ebenso viele Freiheiten bei der zukünftigen Ausgestaltung wie den Leser*innen bei deren geistiger Umsetzung lässt. Andererseits begegnet uns mit Jakob Franck nach wie vor und einmal mehr ein seit seiner Scheidung vor zwanzig Jahren ohne feste Bindung lebender, beziehungsloser und vereinsamter älterer Mann als Ermittler.

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Vgl. Ani (2017: Kap. 1, 16 und 20). Als Vergleichsfiguren für das schillernde Verhältnis der beiden vormaligen Münchener Eheleute kommen einem der (allerdings durchgängig im Polizeidienst aktive) Essener Kriminalhauptkommissar Heinz Haferkamp und seine von ihm geschiedene Ehefrau Ingrid in den Sinn, die zwischen 1974 und 1980 über 20 vom Westdeutschen Rundfunk für die ARD produzierte Folgen der Fernsehserie Tatort hinweg von Hansjörg Felmy und Karin Eickelbaum verkörpert wurden.

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Altersangst und Alzheimer-Krankheit bei Henning Mankell

Das eindrucksvollste, weil facettenreichste Altersbild in dieser Kategorie der Ermittler gerade im oder noch kurz vor dem Ruhestand stammt vom schwedischen Schriftsteller Henning Mankell. Beginnend mit Mörder ohne Gesicht (1993; Mördare utan ansikte, 1991), legte Mankell seine Romane und Erzählungen um Kriminalkommissar Kurt Wallander als einen fortlaufenden Entwicklungsroman an, bei dem die einzelnen Fälle eng mit der Biographie und dem Psychogramm des Ermittlers im südschwedischen Ystad verzahnt sind. Wie schon Kommissar Martin Beck aus dem Romanzyklus von Sjöwall/Wahlöö, so ist auch Kurt Wallander ein ambivalenter Held in einer Midlife-Crisis. Als Aufklärer ist er eigenwillig, wagemutig und erfolgreich, doch privat mangelt es ihm an Glück und Zufriedenheit. Als ›einsamer Wolf‹ – seit Jahren geschieden und ohne dauerhafte neue Liebe, in sich gekehrt und zum Grübeln neigend – verbinden Wallander wechselhafte und zeitweise gespannte persönliche Beziehungen sowohl mit seinem eigensinnigen Vater als auch mit seiner erwachsenen Tochter Linda. Der Tod des Vaters im Laufe der Reihe sowie Lindas Weg in den Polizistenberuf und ihre Mutterschaft zählen zu Mankells eigener Ausgestaltung der bei Sjöwall und Wahlöö vorgefundenen Figurenkonstellation. In Mord im Herbst, seinem vorletzten, 2004 erschienenen Kriminalroman um Kommissar Wallander, lässt Henning Mankell diesen im Oktober 2002 ein Verbrechen aufklären, das mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Kurz nachdem Wallander den 86-jährigen Täter schließlich in einem Altersheim gefunden hat, entgeht er nur knapp der tödlichen Bedrohung durch den noch rüstigen alten Mann. Das skizzenhafte Altersbild jener vor langer Zeit zum Mörder gewordenen Figur, die am Lebensende noch von ihrer Tat eingeholt wird,27 bleibt den Leser*innen allerdings weniger nachhaltig in Erinnerung als die Amtsmüdigkeit und die Selbstzweifel des Kriminalkommissars. Kurz vor seiner Altersgrenze, nach dreißig Dienstjahren als Polizist und ohne nennenswertes Privatleben, stellt sich Wallander einmal mehr die Sinnfrage seines Tuns. Noch fühlt er sich – trotz Diabetes – körperlich recht gesund, sehnt sich aber nach dem Auszug aus seiner Stadtwohnung in der Mariagatan in ein Haus auf dem Lande und nach einem Hund. Zu Beginn des nächsten und letzten Romans ist es dann so weit: Im 55. Lebensjahr kann Kurt Wallander sich im Herbst 2003 seine beiden sehnlichen Wünsche erfüllen – aber er ist nicht mehr der Alte. Als angeschlagene Altersfigur in Der Feind im Schatten (Den orolige mannen, 2009) ist Mankells Kommissar einem Fernsehpublikum auch über seine Verkörperungen erst durch den schwedischen Schauspieler Krister Henriksson (2013) und dann durch den britischen Mimen Kenneth Branagh (2015/16) weiter vor

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Als weiteres Beispiel für einen Fall, in dem es sich nicht beim Detektiv, sondern bei der Mörderin um eine Altersfigur mit Erinnerungswert handelt, siehe die Folge Alter schützt vor Morden nicht aus der US-amerikanischen Fernsehserie Columbo (ARD 1980; Try and Catch Me, NBC 21.11.1977). Darin erhält die Schauspielerin Ruth Gordon nach ihrem Auftritt als Maude im Film Harold and Maude (US 1971) einmal mehr die Gelegenheit zum eindrucksvollen Porträt einer exzentrischen Altersfigur – diesmal einer Kriminalschriftstellerin.

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Augen, zumal die entsprechenden Verfilmungen im deutschen Fernsehen häufig wieder ausgestrahlt worden sind.28 An dieser Stelle richtet sich der Blick aber nicht auf jene Verfilmungen, sondern auf Mankells umfangreiche, fast 600 Seiten umfassende Romanvorlage. Der Feind im Schatten baut auf zwei Handlungssträngen auf, von denen der eine – der sich mit dem nachlassenden Gesundheitszustand und dem bevorstehenden Ruhestand des schwedischen Ermittlers auseinandersetzt – mindestens ebenso wichtig genommen wird wie die bis in den Kalten Krieg der 1980er Jahre zurückreichende Kriminalgeschichte um Geheimdienste, U-Boote, ›Maulwürfe‹ (Doppelagenten), Mord und Selbstmord. Hier interessiert besonders Mankells komplexes und überzeugendes Altersbild von Kurt Wallander. Spätestens mit Mitte fünfzig ist er der langen Liste von Toten – Gewaltopfern wie Selbstmördern – in seinem Berufsleben müde geworden. Von nun an tastet er sich gedanklich, nach Hauskauf und Hund, zu neuen Zielen für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Polizeidienst vor: »Hierher bin ich gekommen, dachte er. Ich habe einen Aufbruch gewagt, habe mir sogar einen Hund angeschafft. Die Frage ist nur, wohin ich von hier aus gehe.« (1.23) Als Tochter Linda ihn im August 2007 – also nicht lange vor seinem 60. Geburtstag – zum Großvater macht, erfüllt auch dies den oft missmutigen, weil am Sinn seines Tuns zweifelnden Kommissar mit neuem Lebensmut. Doch als er einmal mehr seinen Urlaub für den Beruf opfert (diesmal um das rätselhafte Verschwinden von Lindas adeligen Schwiegereltern aufzuklären), wird Kurt Wallander schmerzlich deutlich, dass sein persönlicher Wappenspruch »auf Biegen oder Brechen« (Mankell 2010: 15.217) nun nicht mehr so ohne Weiteres aufrecht zu erhalten ist. Wallanders Wagemut steht auch bei dieser letzten Ermittlung außer Frage. Doch der einsame ›alte Wolf‹ stößt gesundheitlich an seine Grenzen und erfährt, dass er kürzertreten muss. In einem Brief an seinen Kollegen Ytterberg bekennt Wallander auch vor sich selbst, dass er sich nicht länger Illusionen über sein Alter machen darf: Zum ersten Mal erkenne ich meine Grenzen, was das Alter und meine Kräfte anbelangt, schloss er seinen Brief. Früher ist es mir nie so gegangen. Ich bin nicht mehr vierzig und muss mich also

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Die erste Verfilmung von Mankells Erzählungen durch das staatliche schwedische Fernsehen (SVT, 1994-2007) mit Rolf Lassgård in der Titelrolle endete nach neun Folgen und noch vor Erscheinen der beiden letzten Romane in Schweden. Deshalb handelte es sich dort beim abschließenden Fernsehfilm Wallanders letzter Fall (schwedische Erstausstrahlung 28.11.2007) um eine Verfilmung von Die Pyramide (Pyramiden, 1999) aus »Wallanders erster Fall« und weitere Erzählungen (2002). Am Drehbuch waren neben Mankell noch Michael Hjorth und Hans Rosenfeldt beteiligt, die als Autorengespann ab 2011 mit einer eigenen Reihe von Kriminalromanen um den Polizeipsychologen Sebastian Bergman ebenfalls einen Publikumserfolg landeten. Die sich ab 2008 anschließende, 12-teilige britische Fernsehserie Wallander mit Kenneth Branagh endete dagegen mit Der Feind im Schatten (ARD 2015; The Troubled Man, BBC 2016). Sie fand ihr Gegenstück in der abschließenden, dritten Staffel von Mankells Wallander mit Krister Henriksson in der Titelrolle. Diese schwedischdeutsche Koproduktion fußt auf weiteren Originaldrehbüchern des Autors und wuchs so zwischen 2005 und 2013 auf 32 Folgen an. Die beiden Haupthandlungsstränge des letzten Romans wurden auf zwei, vom privaten schwedischen Fernsehsender TV4 erstmals im Januar und Juli 2013 ausgestrahlte Folgen verteilt: Die Kriminalhandlung erschien in Folge 27 (Den orolige mannen/Der Feind im Schatten), während sich die 32. und letzte Folge (Sorgfågeln/Abschied) auf das private Schicksal Wallanders konzentrierte.

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damit abfinden, dass die Zeit, die vergangen ist, nicht wiederkommt. Ich glaube, ich teile die Illusion mit den meisten Menschen, dass es trotz allem möglich ist, zweimal in den gleichen Fluss zu steigen. (Mankell 2010: 19.272f., H. i. O.) Über den Rest des Romans hinweg breitet Mankell nicht nur detailliert Wallanders angeschlagenen Gesundheitszustand aus, sondern bietet seinen Leser*innen vielmehr noch ein komplexes Psychogramm seines Ermittlers. Das Loslösen einer Zahnplombe kann bei Wallander bereits Anlass für eine kritische Nabelschau werden: »Irritiert dachte er, dass sein Körper immer mehr zerfiel. Ein Teil nach dem anderen wurde losgeschüttelt. Wenn die wichtigsten Teile zu funktionieren aufhörten, würde eines Tages alles vorbei sein.« (Mankell 2010: 25.263) Es ist jedoch nicht allein die – nicht ganz fernliegende – Aussicht, ein zahnloser Greis zu werden, welche Wallander beeinträchtigt und bedrückt. Eine schlaflose Nacht genügt, Altersangst und Todesfurcht aufleben zu lassen – und Wallander denkt oft an den Tod, so wie in dieser Selbstbespiegelung: Seit dem Tag, an dem er als junger Polizist von einem Messerstecher nur ein paar armselige Zentimeter vom Herzen getroffen worden war, hatte der Tod ihn durchs Leben begleitet. Jeden Morgen sah er ihn im Spiegel. Aber jetzt war er ihm plötzlich ganz nah gekommen. Er war sechzig Jahre alt, Diabetiker, mit leichtem Übergewicht, er vernachlässigte seine Gesundheit, bewegte sich zu wenig, trank zu viel, aß ungesund und hielt sich nicht an feste Zeiten. (Mankell 2010: 21.302) Eine Anamnese seiner körperlichen Befindlichkeit könnte in der Tat mit seiner Diabetes beginnen, welche schon in vorangegangenen Romanen erwähnt worden war. Verglichen mit Colin Dexters Chief Inspector Morse in Oxford tritt sein schwedischer Kollege Wallander nicht nur als ähnlich introvertierter, einsamer Ermittler mit einer Vorliebe für klassische Musik auf, sondern ignoriert gleichfalls seine Zuckerkrankheit und spricht weiterhin dem Alkohol zu. Und so sind Wallanders Blutzuckerwerte mal viel zu hoch, ein anderes Mal hingegen so niedrig, dass er einen Insulinschock erleidet und knapp dem Tode entrinnt. Verglichen damit ist der Bruch eines Handgelenks ein Klacks. Später muss Wallander nämlich während seiner Ermittlungen auf eigene Faust befürchten, bei vollem Bewusstsein einen Herzinfarkt zu erleiden, worin er sich jedoch zu seinem Glück täuscht. Gegen Ende des Romans schluckt der sechzigjährige Wallander nicht weniger als sieben verschiedene Tabletten, für seinen Diabetes, seinen Blutdruck und seinen Cholesterinspiegel. Es gefiel ihm nicht, es war wie eine Niederlage. […] Jeden Tag führe ich meinem Körper eine Unzahl chemischer Substanzen zu, über die ich im Grunde nichts weiß, dachte er. Ich glaube meinen Ärzten und der Pharmaindustrie, ohne ihre Verordnungen in Frage zu stellen (Mankell 2010: 35.497). Eindrucksvoller noch als das so immer weiter vervollständigte Diagramm von Wallanders zunehmender körperlicher Beeinträchtigung gelingt Henning Mankell das Psychogramm seines von Einsamkeit, Altersängsten und Todesfurcht geplagten Ermittlers. Das neue Heim mit Hund ist letztlich dennoch nicht geeignet, die Schatten auf Wallanders Gemüt dauerhaft zu vertreiben. So nimmt Wallanders befreundeter Kollege Martinsson die eigenen grüblerischen Zweifel am Polizistenberuf zum Anlass, mit noch nicht einmal fünfzig Jahren die Frühpensionierung und ein neues Leben danach

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anzustreben. Der um zehn Jahre ältere Wallander kann dagegen seine Abneigung gegen das vorzeitige Ausscheiden nicht überwinden, befürchtet er doch mit gewissem Recht, dadurch noch mehr zu vereinsamen, zumal Pläne für ausgedehnte Wanderurlaube schon bald misslingen. Immer wieder überfällt ihn ein Gefühl der Verlassenheit. Im dritten und letzten Akt seines persönlichen Lebensschauspiels angekommen, erwartet Wallander deshalb nicht mehr von seinem Lebensabend, »als dass das Alter sich um ihn herabsenkt[.]« wie ein Bühnenvorhang (Mankell 2010: 5.79) – man denke an Agatha Christies Vorhang. Als Agnostiker sieht Wallander dabei von der ersten Romanseite an dem Tode ohne tröstlichen Glauben an ein Leben danach entgegen. Solche Anflüge von Altersangst und Todesfurcht – verbunden mit Erinnerungen daran, wie er in seinem ersten Fall nur knapp eine Messerstecherei überlebt hatte, aber auch daran, in der weiteren Ausübung seines Berufs selbst zwei Menschen zu Tode gebracht zu haben – begleiten den in sich gekehrten Kriminalkommissar dann durch den ganzen weiteren Roman.29 Dabei hegt er eine Befürchtung, welche alle anderen überragt: »Mehr als irgendetwas anderes fürchtete er sich vor einem Alter, das nur ein Warten auf das Ende war, eine Zeit, in der es nicht mehr möglich war, sein normales Leben zu leben.« (Mankell 2010: 24.349) Dass es am Ende dennoch so kommt, schließt Mankell für seinen Ermittler jedoch nicht aus. Der wahre und für Wallander letztlich unbesiegbare »Feind im Schatten« ist nämlich seine auf ihren Ausbruch wartende Alzheimer-Krankheit. Von ihr ist im letzten Roman der Reihe erstmals die Rede. Die Alzheimer-Thematik hat sich insgesamt erst seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre literarisch niedergeschlagen.30 In Der Feind im Schatten nimmt alles seinen Anfang damit, dass Wallander nach einem seiner einsamen Zechabende beim Aufbruch aus dem Lokal seine Dienstwaffe dort vergisst und auch später keine Erklärung dafür hat, wie es dazu kam: »Es war, als hätte ein anderer an seiner Stelle gehandelt und dann seine Erinnerung ausgeschaltet, damit er nicht wusste, was passiert war.« (Mankell 2010: 3.54) Als Nächstes beginnt er Besorgungszettel zu schreiben, nur um dann entweder diese oder seine Brieftasche beim Einkauf zu vergessen. Noch beruhigt ihn seine Ärztin auf die Nachfrage, ob es sich um ein Frühstadium der Alzheimer-Krankheit handele, doch die Anzeichen mehren sich: Schon bald betreffen die Erinnerungslücken – oder »dieser Schatten in meinem Kopf«, wie er es nennt (Mankell 2010: 14.214) – nicht nur einen Zahnarzttermin, sondern laufende Kriminalfälle und machen ihm Angst. Auch mitten im Alltag mehren sich solche Ausfälle des Kurzzeitgedächtnisses, etwa wenn Wallander – das ist inzwischen bereits ein Topos – vergisst, die Herdplatten auszuschalten, und beinahe sein neues Heim in Brand setzt.31 29 30

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Vgl. Mankell (2010: 1.18, 5.84f., 19.271, 21.302; siehe zusätzlich 26.373, 29.419 und Epilog.587). Aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nennt Seidler (2010: Kap. II.7.2) als erste Beispiele Frau Suhls Flucht ins Ungewisse von Leonore Suhl (1996) sowie Martin Suters Small World (1999). Kretzschmar (2012) ergänzt dies insbesondere um die Besprechung von Arno Geigers Der alte König in seinem Exil (2011), der nur wenig später als Mankells Der Feind im Schatten erschien. Zu zwei einschlägigen Beispielen aus der französischen Gegenwartsliteratur, nämlich Je ne sortie pas de ma nuit von Annie Ernaux (1997) und On n’est pas là pour disparâitre von Olivia Rosenthal (2007), vgl. Friedrich und Keilhauer (2012). Vgl. Mankell (2010: 22.308, 27.385f. und 389f., 34.483f. und 494, 39.549, Epilog.582).

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In für das Krankheitsbild typischer Weise bleibt das Langzeitgedächtnis von solchen Lücken relativ unberührt. Im letzten Band der Reihe lässt Mankell durch Begegnungen oder Erinnerungen vielfach frühere Momente und Wendepunkte im Leben des Kriminalkommissars vor den Leser*innen Revue passieren. Der Besuch seines Elternhauses weckt bei Wallander – ungeachtet der Tatsache, dass es inzwischen von arabischen Einwanderern bewohnt wird – Erinnerungen an seine dort verbrachte Kindheit. Weiter erinnert er sich noch gut an seine Schulklasse und an das Erlebnis, als er als Junge um 1962 herum als Blumenbote dem schwedischen Ministerpräsidenten Tage Erlander begegnete. Auch der Tod der Mutter ist Wallander ebenso im Gedächtnis haften geblieben wie der Vorsatz, seinem Vater nicht im Missmut nachzueifern und nicht ebenfalls ein »verbitterter alter Mann« zu werden (Mankell 2010: 5.78f., vgl. Epilog.587). Immer wieder kommen Erinnerungen an die seit Langem geschiedene Ehe mit Mona hoch, nicht zuletzt bei Wallanders Wiedersehen mit seiner Ex-Frau kurz vor deren Gang in die Entzugsklinik. Wehmut, aber auch eine Art von Erfüllung kommen schließlich beim Abschiedsbesuch der todkranken Baiba Liepa auf. Von der großen Liebe seines Lebens zu dieser Lettin hatte der zweite Roman der Reihe, Hunde von Riga (1993; Hundarna i Riga, 1992), erzählt. Baibas Abschiedsbesuch bei Wallander in Der Feind im Schatten gibt dem Kriminalkommissar die ersehnte Gelegenheit, sie und seine Tochter Linda noch miteinander bekannt zu machen und diesen Glücksmoment zu genießen, bevor Baiba Liepa wenig später bei einem Autounfall stirbt. Durch Wallanders mit vielen weiteren Erinnerungen befrachtete Reise nach Riga zur Teilnahme am Begräbnis schließt sich dann für ihn ein Kreis. Auf diese Weise verschafft Henning Mankell seinem einsamen Kommissar noch ein Gefühl der Erfüllung, bevor er ihn dann im Epilog des Romans in die Schattenwelt des Vergessens entlässt: Der Schatten hatte sich vertieft. Und langsam sollte Kurt Wallander in einem Dunkel verschwinden, das ihn einige Jahre später in das leere Universum entließ, das Alzheimer heißt. Danach ist nichts mehr. Die Erzählung von Kurt Wallander geht unwiderruflich zu Ende. Die Jahre, die er noch zu leben hat, vielleicht zehn, vielleicht mehr, sind seine eigene Zeit, seine und [seiner Tochter] Lindas, seine und Klaras, keines anderen Menschen Zeit. (Mankell 2010: Epilog.588)32

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Noch im gleichen Veröffentlichungsjahr 2009 unterstrich Henning Mankell diesen Abschied ebenso wie die von ihm gewählte und für Alzheimer-Erzählungen charakteristische Metapher vom Weg in Dämmerung oder Dunkelheit (vgl. Seidler 2010: 407), als er Mord im Herbst, den nun vorletzten Band der Serie, mit einem Nachwort des Autors versah, das ebenso metafiktional wie kompromisslos endete: »Jetzt ist jedenfalls meine Geschichte über Kurt Wallander zu Ende. Wallander hat das Pensionsalter erreicht und wandert in seinem Land der Dämmerung umher, mit seinem schwarzen Hund, der Jussi heißt. Wie lange er noch hier auf Erden wandeln wird, weiß ich nicht. Das muss er schon selbst entscheiden.« (Mankell 2013b: 135)

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Sex and crime im Altenheim

Einen ganz anderen Zugang auf die letzte Lebensphase nehmen solche Kriminalromane, welche in einer Seniorenresidenz oder einem Pflegeheim angesiedelt sind. Der noch ans Krankenhaus erinnernde Typ des Altenheims ist erst seit Mitte der 1980er Jahre von den heutigen Seniorenresidenzen oder Pflegeheimen abgelöst worden (vgl. Seidler 2010: 318-326). Als literarischer Schauplatz handelt es sich zwar immer noch weitgehend um eine terra incognita, jedoch mit Potenzial in Verbindung mit einem Kriminalroman: Der Romantyp Pflegeheimroman ist weitgehend unbekannt und es stellt sich die Frage, inwieweit ein in erster Linie mit körperlichem und geistigem Verfall assoziierter Ort das Leserinteresse wecken kann. […] Kriminalromane können sich die Atmosphäre des Ortes zunutze machen. Da in der Institution Pflegeheim das Sterben zum Alltag gehört, ist der Ort prädestiniert, um einen Mord zu vertuschen. (Seidler 2010: 316, 348)33 Die Zahl der im Pflegeheim angesiedelten Kriminalromane bleibt noch überschaubar, wächst aber stetig und mit immer größerer Variationsbreite. Sehen wir einmal von Gerhard Henschels schon erwähnter, satirischer Spurensuche nach Kommissär Bärlach in einem Berner Altersheim ab, dann stellt der zusätzlich noch als »Ostsee-Krimi« untertitelte Roman Massaker im Altersheim (2006) von Udo Gümpel aus Eutin wohl das kurioseste, entgegen seines reißerischen Titels aber auch das harmloseste Beispiel dar. Interessanter ist da schon Es tut fast gar nicht weh (2005), ein Jugendbuch aus der Feder von Harald Parigger. Der Fokus der 1998 angesiedelten Erzählung liegt hier allerdings nicht auf einer Altersfigur, sondern auf der Altenpflegerin Angela Kiefer, welche nicht an den natürlichen Tod von zwei Bewohnerinnen von »Haus Sonnenblick« glaubt. Pariggers Altersbild ist nicht medizinisch, sondern historisch grundiert. Den Konnex von Kriminalhandlung und Pflegeheimthematik erweitert der vormalige Leiter der Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit in München in diesem wie in vielen seiner anderen Jugendbücher nämlich noch typischerweise um einen historisch lehrhaften Bezug: Ähnlich wie bei Dürrenmatts Kriminalroman Der Verdacht, der Angela in die Hände kommt, führen auch Angelas Ermittlungen bei Parigger zurück zu den Verbrechen von KZ-Ärzten vor mehr als einem halben Jahrhundert. Neuerdings sind noch das deutsch-französische Multitalent Dominique Horwitz, Marlies Ferber aus Westfalen, Lisa Lercher aus Österreich sowie Minna Lindgren aus Finnland zum Kreis der Autoren von Pflegeheimromanen hinzugestoßen. Bei Tod in Weimar (2015), dem Romandebut des Schauspielers und Chansonniers Dominique Horwitz, kommt zu einer zeitgeschichtlichen noch eine kulturhistorische und regionale Facette hinzu, etwa wenn der Ex-Schauspieler Roman Kaminski als Gästeführer und

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Neben Parigger (2005) erwähnt Seidler nur noch einen weiteren Pflegeheimroman, der auch mit einer Kriminalhandlung verbunden worden ist: The Hearing Trumpet (1974) von Leonora Carrington, eine surrealistische Erzählung mit einem Mordfall und nach Seidler (2010: 316) das erste Beispiel für den Pflegeheimroman überhaupt. Herwig (2014b: 22) nennt weitere Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur, vgl. auch Herwig (2014a: 229-249) und (2016: 177-192). Zum Komplex »Silver Sex« und »Körperliche Nähe im Pflegeheimroman« vgl. Seidler (2014: 137-42), zum sozioökonomischen Strukturwandel des ›globalen Gesundheitsmarkts‹ vgl. Kunow (2012: 65-71).

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Droschkenkutscher den Touristen Weimar zeigt.34 Kaminski ist jedoch nur ein weiterer dieser älteren, einsamen und eigenbrötlerischen Ermittler mit Stammkneipe, aber ohne feste Liebesbeziehung. Weniger die Altersfigur des Ermittlers als vielmehr der zum Altersbild werdende Tatort sind hier von Interesse. Schauplatz der Ermittlung wird die »Villa Gründgens«, ein Seniorenheim für ehemalige – aber deutlich extrovertiertere – Schauspieler wie Kaminski, die bei den Proben für eine Schiller-Aufführung reihenweise der Tod ereilt. »Eine nette Gesellschaft. Irgendwie hatte sich Kaminski ein Altersheim etwas anders vorgestellt. Jedenfalls nicht wie die Seniorenversion einer Theaterkantine.« (Horwitz 2018: 35)35 So ungewöhnliche Seniorenheime werden auch bei den anderen genannten Autoren immer häufiger zum Tatort. Marlies Ferber ist wie Lisa Lercher Mitglied in »Das Syndikat – Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur«.36 Ferbers Operation Eaglehurst (2012) war der Auftakt zu der nach vier Teilen inzwischen abgeschlossenen Reihe Null-Null-Siebzig, in deren Mittelpunkt der 70-jährige britische Ex-Geheimagent James Gerald und seine drei Jahre jüngere Ermittlungspartnerin Sheila Humphrey stehen. Im ersten Band begab sich Gerald zeitweilig als verdeckter Ermittler in die Seniorenresidenz »Eaglehurst« im südenglischen Hastings, um das mysteriöse Ableben zweier anderer Ex-Mitarbeiter des Secret Intelligence Service in diesem Altenwohn- und Pflegeheim aufzudecken. Da »Eaglehurst« nur im ersten Band der Reihe als Schauplatz fungiert, darf man von Autorin und Reihe keine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Pflegeheimproblematik erwarten: Mit der Seniorenresidenz wird vielmehr das countryhouse murder mystery, also der britische Landhauskrimi variiert. Ferber, eine bekennende Liebhaberin alles Englischen einschließlich der Miss-Marple-Erzählungen, spart auch sonst nicht mit humorvollen Anspielungen auf die britische Kriminalliteratur.37 Ähnlich humorvoll gerät dann auch das Altersbild in ihren Kriminalromanen. Wenn der pensionierte Agent und Junggeselle mit den grauen Schläfen schon auf eine Gehhilfe angewiesen ist, dann sind Rollator, Spezialarmbanduhr und Scheckkartenkamera von ›0070‹ wenigstens ansatzweise ähnlich technologisch hochgerüstet wie bei 007. James Gerald ist auch ansonsten kommunikationstechnisch up to date, und Sheila Humphrey kann sich – eher wie ein Bond Girl als wie Miss Marple – auch mit 67 Jahren noch anstandslos weiterhin im Minirock zeigen, was seinen Eindruck auf James Gerald nicht

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Für Zeit Online »ist dieses Buch viel mehr als ein Kriminalroman , es ist eine zärtliche Liebesgeschichte und eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Stadt« (Anon, 2015). Kaminski und weitere Figuren treten im Folgeband Chanson d’Amour (2018) wieder auf. Ferbers vierteilige Reihe Null-Null-Siebzig um die betagten Ex-Geheimdienstmitarbeiter James Gerald und Sheila Humphrey umfasst neben Operation Eaglehurst (2012) noch die Bände Agent an Bord (2013), Mord in Hangzhou (2014) sowie Truthahn, Mord und Christmas Pudding (2015). So erinnern der Ort Hastings an Hercule Poirots Ermittlungspartner, der Nachname von Inspektor Rupert Ruthersford an die Miss-Marple-Darstellerin Margaret Rutherford, und der Reihentitel Null-Null-Siebzig sowie Geralds Vorname James an Ian Flemings James-Bond-Romane. Außerdem spielt Ferbers vierter Band Truthahn, Mord und Christmas Pudding auf »The Adventure of the Christmas Pudding« and a Selection of Entrées an (1960), die einzige von Christies Kurzgeschichtensammlungen, in denen sowohl Hercule Poirot als auch Miss Marple auftreten. Zu Ferbers eindeutig von Agatha Christie herrührender Schreibmotivation vgl. das Nachwort zum ersten Roman »How it began« (Ferber 2012: 267f.).

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verfehlt. »[D]ie Fälle von ›0070‹ sind spannende Krimis, sie verhandeln aber auch die Rolle des alten Menschen in unserer Gesellschaft, und zwar nicht aus der Opferperspektive heraus« (Willer 2015). Das gilt selbst, wenn Erpressung in Zusammenhang mit Sterbehilfe hier ein Teil der Kriminalhandlung wird. Das von Lisa Lercher38 gezeichnete Altersbild umfasst ebenso aktive Senioren, aber auch betagte Opfer von Fremdbestimmung. Bei Mord im besten Alter (2013) handelt es sich um den sechsten Kriminalroman der Autorin; er hält allerdings nicht, was der Titel verspricht, denn das ›beste Alter‹ wird in ihm gerade nicht breit thematisiert. Dafür hat Lercher einen teils ernsthaften, teils grotesken Plot um sex and crime im Altenheim konstruiert. In der privaten Seniorenresidenz »Haus Waldesruh« in der Nähe von Wien werden Heimbewohner*innen vom Zivildienstleistenden rau angefasst und dazu noch von Direktor Schönwies sowie seinem Notar Ranner zu dubiosen Schenkungen gedrängt. Außerdem häufen sich Diebstähle in den Zweibettzimmern und unerklärliche Todesfälle unter den Heimbewohner*innen. Die Sozialarbeiterin Ria quartiert deshalb ihren eigenbrötlerischen, hier nur ›Moser‹ genannten Vater als verdeckten Ermittler im Heim ein, wobei er von Maja Berg unterstützt wird. Die Witwe eines Kunstmalers ist zur Rekonvaleszenz nach einem Unfall im Heim, doch will der geldgierige Neffe des Malers sie entmündigen lassen, um sich das Erbe zu erschleichen. Der Fokus liegt hauptsächlich auf diesen beiden Figuren, Maja Berg und Moser, die schon bald mehr über die marode finanzielle Lage und andere Schattenseiten von »Haus Waldesruh« herausfinden. Über einen Wechsel in der Fokalisierung und der Gedankendarstellung erfahren zwar die Leser*innen, aber nicht die beiden Ermittler, außerdem mehr über die Geldnöte und nachlassenden Skrupel von Schwester Erika. Zusätzlich wird in Lerchers Pflegeheimroman das Tabuthema Sex im Alter über zwei unterschiedliche Bilder offen angesprochen. Das von Direktor Schönwies für die Bewohner*innen eingerichtete »Wohlfühlzimmer« soll symbolisch für einen Freiraum zum Ausleben sexueller Bedürfnisse der Heimbewohner*innen stehen. In Wirklichkeit ist es aber ebenso eng mit kriminellen sexuellen Übergriffen im Heim verbunden wie das verborgene »Herrenzimmer«, was wiederum über Wechsel in der Fokalisierung und ausgedehnte Gedankenberichte mitgeteilt wird. Auch die in Helsinki geborene Journalistin und Sachbuchautorin Minna Lindgren benutzt ihre Pflegeheimromane erfolgreich für eine so realistische wie kritische Sicht auf den Lebensabend. Nachdem ihre Trilogie um das Altenwohn- und Pflegeheim »Abendhain« in Helsinki (2013-2015) in Finnland reüssierte, sind Übersetzungen der Trilogie in zahlreichen anderen europäischen Ländern erschienen: von Dänemark und Tschechien über Großbritannien, Frankreich und Italien bis nach Spanien, und seit 2016 auch in Deutschland. Die Titel der ersten deutschen Übersetzung lauten: Rotwein für drei alte Damen; oder, Warum starb der junge Koch? (2016), Whisky für drei alte Damen; oder, Wer geht denn hier am Stock? (2016) und Sherry für drei alte Damen; oder, Wer macht das Licht aus? (2017). Die drei über 90-jährigen, befreundeten Witwen Siiri Kettunen, Irma Lännenleimu und Anna-Liisa Petäjä teilen die Leidenschaft für Kartenspiel 38

Lisa Lercher, die in Erziehungswissenschaft promovierte Autorin, hat in der Informationsstelle gegen Gewalt des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser gearbeitet und neben ihren Kriminalromanen Fachpublikationen zum Thema Gewalt in der Familie veröffentlicht.

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und Rotwein, die Freude an Straßenbahnfahrten durch Helsinki und die Lust an der Aufklärung der sich im ersten Band der Trilogie häufenden Merkwürdigkeiten und Widersprüchlichkeiten in »Abendhain«. Während dessen Renovierung ›entkommen‹ sie dem Heim und gründen eine ambulant betreute Alten-Wohngemeinschaft, um im abschließenden Band der Trilogie in die nun digitaltechnisch aufgerüstete Altenpflege zurückzukehren. Im ersten Band wird die Freundschaft der drei kauzigen 90-Jährigen am deutlichsten mit einer Kriminalhandlung verknüpft, weshalb hier auch nur von diesem Band die Rede sein soll. Nachdem Tero, der junge Koch in »Abendhain«, aus ungeklärten Gründen starb – man munkelt von Selbstmord durch Erhängen –, verschwindet unmittelbar darauf sein Freund Pasi, ohne so zur Aufklärung von Teros Tod beitragen zu können. Der Sozialarbeiter Pasi war mit den finanziellen Angelegenheiten derjenigen Heimbewohner*innen betraut gewesen, welche soziale Unterstützung erhielten. Mika Korhonen, ein weiterer junger Freund Teros, steuert zu den ohnehin kursierenden Gerüchten noch bei, dass Tero ohne Grund sterben musste, dass vor Teros Tod aber in »Abendhain« Ermittlungen von Kontrolleuren stattgefunden hätten und dass dort ein dubioser Umgang mit Medikamenten wie mit den Heimbewohner*innen herrsche. Auch wenn Mika selbst seine Eigenheiten und unbekannten Seiten hat – der frühere Koch und Kollege Teros fährt nach seiner Freistellung aus betrieblichen Gründen nun im MotorradrockerOutfit Taxi –, geben ihm die drei alten Damen einen Vertrauensvorschuss, Siiri macht ihn sogar zu ihrem Treuhänder.39 Weitere mysteriöse Vorfälle ereignen sich. Irma fällt auf, dass für Serviceleistungen weit überhöhte Preise verlangt und ohne große Umstände direkt bei den Bewohner*innen abgebucht werden. Der Freund von Siiris Urenkelin bestätigt Siiri in laufender Folge solche finanziellen Machenschaften.40 Siiris und Irmas Beschwerden bei der Heimleitung wie bei Behörden bleiben unbearbeitet: Die Heimleiterin Sinikka Sundström leiht zwar ihr Ohr, verfolgt jedoch die Beschwerde nicht weiter und vertuscht die Vorgänge sogar. Das kann sie sich zum einen erlauben, weil sie mit dem Leiter des Qualitätsmanagements von »Abendhain« verheiratet ist, und zum anderen, weil sie Entscheidungen in der Sache an die rigorose Stationsschwester Virpi Hiukkonen delegiert, welche – statt aufzuklären – die drei alten Damen durch ihren Mann Erkki, den Hausmeister des Altenwohnheims, beschatten lässt. Bald nachdem die drei rüstigen 90-Jährigen nun mit Mika auf eigene Faust zu ermitteln begonnen haben, fällt Irma aus, denn ihre Medikation wurde so erweitert und erhöht, dass sie in zunehmende Verwirrtheit und fast schon eine beginnende Demenz abgleitet, weswegen sie auf die geschlossene Abteilung verlegt wird. Ihr Zimmer wird in ihrer Abwesenheit durchsucht, ihr Ordner mit den Patientenunterlagen zeitweilig entwendet, und in die Krankenakte werden falsche und für Irma nachteilige Informationen eingetragen, um ihre Beschwerden bei Behörden zu unterlaufen.41 Auch Siiris Medikation wird so verändert, dass ihre Vergesslichkeit zunimmt.

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Zu Mika vgl. Kap. 14, 22-23, 30, 37, 49 und 55, und zum ›roman noir‹ den einschlägigen WikipediaArtikel (Anon, 2020, mit weiterem Verweis). Vgl. Lindgren (2016: 1.12f., 2.16f., 17.101, 29.147, 37.186f., 49.241ff.). Vgl. Lindgren (2016: Kap. 11, 13-14, 17, 19, 22, 25, 28-29).

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Die Leser*innen werden mit fortschreitender Handlung genauso verwirrt wie die betagten Damen, sodass man sich fragt: »Was passiert wirklich, was ist Einbildung oder wird am Ende gar die eine oder andere Dame schlicht paranoid?« (Kijanski 2016) Der Tod des jungen Kochs Tero als unmittelbarer Anlass für die Ermittlungen gerät in der Tat bald aus dem Blickfeld und wird auch nicht restlos aufgeklärt. Weitere Todesfälle kommen hinzu.42 Siiris Sicht einer Verschwörung des Personals gegen die Heimbewohner*innen erhält nämlich noch dadurch Nahrung, dass zwei männlichen Mitbewohnern und Kriegsveteranen ganz ähnlich mitgespielt wird, aber mit fatalen Folgen. Nachdem Reino Lukkanen den drei alten Damen beim Kartenspiel ganz aufgeregt davon berichtet hat, dass sein an beiden Beinen amputierter Zimmernachbar Olavi Raudanheimo in der Dusche von einem männlichen Pfleger vergewaltigt worden sei, ordnet die Stationsschwester Virpi sofort die Verlegung jener beiden Kriegsveteranen auf die Demenzstation sowie die Erhöhung ihrer Medikation an, während die Heimleiterin auch diesmal den Vorfall bestreitet und vertuscht. Nicht lange, und Reino ist nicht mehr ansprechbar, während Olavi aus seinem Gefühl der Erniedrigung heraus die Nahrungsaufnahme verweigert. Bald schon zählen beide Kriegsveteranen zu den nächsten ›Toten der Woche‹.43 Auch angesichts von Irmas sich verschlechterndem Zustand auf der geschlossenen Station verstärken Siiri und Anna-Liisa daraufhin ihre Anstrengungen, und es gelingt ihnen am Ende, trotz Siiris Vergesslichkeit und gegen alle Widerstände von Heimleiterin und Stationsschwester, Licht ins Dunkel der dubiosen Machenschaften, Beschattungen, Verschwörungen und Vertuschungen in »Abendhain« zu bringen. Ein Vergleich der drei alten Damen mit Agatha Christies betagten Detektiven Hercule Poirot und Miss Marple bietet sich an, zumal Lindgrens Trio sich erst durch das Ansehen einer Folge der Fernsehserie Hercule Poirot stärkt, bevor es sich an die Ermittlung begibt (vgl. Lindgren 2016: 2.16).44 Die Kauzigkeit und Unerschrockenheit teilt Minna Lindgrens Trio von Ermittlerinnen in der Tat in groben Zügen mit Christies Hobbydetektivin, und dass Lindgren »neben einem dezent kriminellen Plot mit viel Humor und unfreiwilliger Situationskomik« aufwartet (Kijanski 2016), ist dem Roman um einen sich anbahnenden »Club der Hundertjährigen« (Lindgren 2016: 1.7) nicht abzusprechen. Das zeigen etwa die Episode um den Besuch einer falschen Beerdigung oder 42

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Dies ist gewiss ein Grund, warum der Münchener Goldmann Verlag für die zweite deutsche Taschenbuchausgabe 2017 den veränderten Titel Der Todesfall der Woche: Drei alte Ladies ermitteln in Helsinki wählte. Vgl. Lindgren (2016: Kap. 4, 7, 9-10, 16, 21, 24, 26-27). Minna Lindgrens Literaturagentur führt u.a. Agatha Christies altersweise Detektivin an, wenn sie für Lindgrens Trilogie mit dem Spruch wirbt: »If you enjoy the whodunits of Miss Marple, the sharp quips of Downton Abbey or the playfulness of the bestselling The 100-Year-Old Man Who Climbed out of the Window and Disappeared, you will fall in love with The Sunset Grove Trilogy.« (Elina Ahlback, 2014) Die Agentur bezieht sich dabei auf den schwedischen Erfolgsroman Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand von Jonas Jonasson (Hundraåringen som klev ut genom fönstret och försvann, 2009; dt. Übers. 2011) sowie auf die britische Fernsehserie Downton Abbey (ITV, 2010-15). Im Londoner Taschenbuchverlag Pan Macmillan erscheint Lindgrens Trilogie unter dem Reihentitel The Lavender Ladies Detective Agency, mit deutlicher Anspielung an die in Deutschland ebenfalls populäre Romanserie The No. 1 Ladies’ Detective Agency, in welcher Alexander McCall Smith die schwarzafrikanische Privatdetektivin Precious Ramotswe in gewisser Anlehnung an Miss Marple in Botswana ermitteln lässt.

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die humorvolle Behandlung des Tabuthemas Sexualität im Alter.45 Nicht zu vergessen sei die Eheschließung einer der drei alten Damen mit einem der Heimbewohner, der ihr während des gemeinsamen Gehirn-Joggings näher gekommen war, womit Lindgren augenzwinkernd-ironisch die Konvention des Happy Ending aufruft. Und wie schon im deutschen Titel angekündigt, so fließt auch der Rotwein bei den drei alten Damen den ganzen Roman hindurch in Strömen. Dennoch muss betont werden, dass Minna Lindgrens Erzählabsicht insgesamt in eine andere Richtung weist. Sie besteht offensichtlich nicht allein im Porträt der drei alten Damen, je für sich oder als Trio vereint. Vielmehr malt Lindgren ihr Altersbild auf der ganz großen Leinwand, und ganz deutlich im Stil des kritischen sozialen Realismus, so wie er auch für andere skandinavische Krimiserien wie jene von Sjöwall/Wahlöö oder von Mankell veranschlagt wird. Und was das von Korruption und Verschwörung durchzogene Altersheim als einen Mikrokosmos der Gesellschaft angeht, so lauert dahinter bei Lindgren weniger das isolierte Landhaus als Schauplatz eines verrätselten Agatha-Christie-Krimis – wie bei Marlies Ferbers Seniorenresidenz »Eaglehurst« – als das düstere Gesellschaftsbild der amerikanischen hard-boiled detective fiction eines Dashiell Hammett oder Raymond Chandler, oder des französischen roman noir (vgl. Anon, 2017). Während Lindgrens Kriminalhandlung abläuft, streut die Autorin systematisch kritische Seitenblicke auf die Realität der finnischen Altenpflege ein, so dass sich etwa der erste Band der Trilogie als bittere und ernüchternde Abrechnung mit den Schattenseiten einer alternden Gesellschaft liest. Wenn sich die 94-jährige Siiri gegen die ärztliche Empfehlung für das Einpflanzen eines Herzschrittmachers ausspricht, dann wird hier zugleich explizit der Konflikt zwischen einer technologisch verstandenen ärztlichen Versorgung und einem lebenswerten Altersabend thematisiert. Im Roman erhöht die Verordnung aufwendigerer Pflegeeinheiten den privaten Eigenanteil an den monatlichen Kosten. Dafür fehlt durch kostspielige medizinische Neuerungen dann das Geld an anderer Stelle, so dass sich die Wartelisten für notwendige Operationen bei alten Menschen über Gebühr verlängern, oder den Alten – anders als Kindern – auch nur Hörgeräte für ein Ohr statt für beide Ohren zugestanden werden. Solch ein Blick auf den Aspekt der Wirtschaftlichkeit ist nach Seidler (2010: 327) kennzeichnend für den Pflegeheimroman. Weitere der in Lindgrens Roman explizit aufgeführten Sparmaßnahmen sind deshalb (erstens) die kostengünstigere Bezahlung etwa von Ehepartnern als Pflegekraft für ihre Angehörigen im Pflegeheim, allerdings (zweitens) nur bis zum 90. Lebensjahr und nicht darüber hinaus, (drittens) dann eine ›gute Pflegeanbindung‹ durch die Verlagerung gleich ganz vom Heim in die häusliche Pflege, oder (viertens) eine Auslagerung der Pflege und Kostendämpfung über Kreuzfahrtreisen in Nachbarländer. Außerdem versucht die Stadtverwaltung – so berichtet Irmas Tochter – über ein Punktesystem plus die Herabstufung einzelner Demenzpatienten in eine niedrigere Dringlichkeitsstufe den städtischen Sozialetat zu schonen. Auch die Pflegequalität selbst in Heim und Krankenhaus wird im Roman laufend thematisiert. Aus Personalmangel herrscht im Krankenhaus zum Beispiel eine aus der Not geborene – aber von den alten Patienten als Erniedrigung empfundene – Windelpflicht. Auch in »Abendhain« herrscht personell keine Kontinuität: Das schlecht be45

Vgl. Lindgren (2016: 6.38f. und 21.115) sowie Seidler (2010: 329f.).

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zahlte Pflegepersonal wechselt für die Patienten sehr häufig, nicht zuletzt aufgrund von Erschöpfung durch die angeordneten Doppelschichten. Ersatz erfolgt – wieder aus rein finanziellen Motiven – durch unausgebildete Kräfte wie Arbeitslose oder Flüchtlinge, welche sich eventuell gar nicht in Finnisch verständigen können. Es kommt sogar zur Vergewaltigung eines alten Mannes. Als exemplarisch ist die kritische Schilderung der Zustände auf der geschlossenen Abteilung für Demenzpatienten in »Abendhain« zu verstehen. Die Station firmiert euphemistisch als »Gruppenheim«; für das Pflegepersonal sind die Bewohner*innen auf dieser Station jedoch nur mehr Nummern. Die Medikation zielt vorrangig auf deren Ruhigstellung ab, durch Stimmungsaufheller am Morgen bzw. Schlafmittel frühzeitig zur Nacht. Dagegen bewirkt ein Absetzen der verordneten Medikamente oft sogar – wie bei Irma – eine Besserung des Allgemeinzustandes der Betroffenen. Es fehlt eine übergeordnete Kontrollinstanz, »die überwacht, dass die Dinge zumindest halbwegs vernünftig laufen«, wie die Romanfigur Siiri meint (Lindgren 2016: 25.133), und zwar sowohl im Gesundheitssystem als auch im damit verbundenen Rechtswesen. Wo aber solche Kontrolle fehlt, da können alte Menschen schnell falsch versorgt, finanziell geschädigt, ihrer Würde beraubt, ja letzten Endes zu Unrecht entmündigt werden.

6.

Resümee

Wie steht es nun, am Ende unseres Rundblicks, mit den literarischen Altersbildern im Kriminalroman? Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: •









Ganz allgemein gesprochen, sind ›Altersfiguren‹ im Kriminalroman prinzipiell nichts Neues, sondern uns als Protagonist*innen aus dem Goldenen Zeitalter der murder mysteries oder Rätselkrimis noch in guter Erinnerung. Darüber hinaus sind solche altbekannten Altersfiguren wie die von Agatha Christie nach Jahrzehnten immer noch sehr präsent. Hercule Poirot wurde erst kürzlich in vier Romanen von Sophie Hannah reanimiert, während Miss Marple weiterhin Autorinnen wie Marlies Ferber (2012: 267f.), Literaturagenten wie Elina Ahlback (2014) oder Kritikern wie Mike Hepworth (1993: 35) als Bezugsfigur mit Wiedererkennungswert dient. Ein spezifisches ›Altersbild‹ im Sinne einer markanten literarischen Darstellung des individuellen Umgangs mit Alterungsprozessen oder mit Begleiterscheinungen des Alterns war und ist mit solchen Altersfiguren aber nicht verbunden. Überraschenderweise trifft ein solches Urteil auch auf viele der seither erschienenen langjährigen Romanzyklen zu. Deren eigenbrötlerische Protagonisten wie zum Beispiel Kommissar Beck, Chief Inspector Morse oder Detective Sergeant bzw. Inspector Rebus altern zwar über die Jahre hinweg ebenso wie ihre Leser*innen. Altersspezifisch betrachtet sind sie aber dennoch keine dynamischen Figuren, denn auch sie bleiben im Wesentlichen von den unangenehmen Begleiterscheinungen des Alterns verschont. Unter den männlichen Ermittlern insbesondere in solchen Romanzyklen wie denen über Inspector Morse dominiert das literarische Altersstereotyp ›einsamer Wolf‹:

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Mal sind sie als Junggeselle beziehungsarm, mal nach Scheidung (und trotz Kindern). Aber solche Einsamkeit im Alter hat gleichfalls weniger mit einem ausgeprägten Altersbild zu tun denn vielmehr mit der Gattungsentwicklung des Kriminalromans seit den 1930er Jahren, weg vom britischen Rätselkrimi. Dürrenmatts Mix aus amerikanischen und französischen Vorgaben der 1930er Jahre bei der Charakterzeichnung und beim Gesellschaftsbild in seinen Kriminalromanen machte bald schon Schule. Auch heute noch finden sich unter den alternden Ermittlern viele einsame Streiter und Außenseiter innerhalb einer korrumpierten Gesellschaft, welche den Missetätern gegenüber mal ›hartgesotten‹, mal gnädig auftreten können. Sie selbst bleiben aber grundsätzlich rechtschaffen, auch wenn sie selbst Recht schaffen. In solch einem Rahmen präsentiert sich Dürrenmatts Kommissär Bärlach auch im Rückblick noch als eine Ausnahmeerscheinung, mit der ein spezifisches ›Altenbild‹ verbunden ist: Dem Kommissär sind seine Leiden sehr bewusst. Trotzdem setzt er die ihm verbliebene, deutlich eingeschränkte Lebenskraft immer wieder dazu ein, vor der Justiz bislang davon gekommene Mörder einer (seiner?) gerechten Strafe zuzuführen. Wo die Justiz beide Augen zumacht, und Gott offenbar ebenso wegschaut, ›vergelt’s‹ der Kommissär, noch im Angesicht des eigenen Todes. Eine versöhnliche Variante dazu hatte Dürrenmatt aber ebenfalls in petto, als er – unwissentlich gemeinsam mit Urs Widmer – in Der Pensionierte eine ›gesellschaftliche Altersrolle‹ in ein gnädiges ›Altersbild‹ verwandelte. Dieser Kommissär ist manchen Missetätern gegenüber gnädig, deren Fälle er unerledigt lässt; weniger gnädig dagegen gegenüber Vorgesetzten und Nachfolgern, auch gegenüber der Gesellschaft allgemein. Im letzten Band seines Wallander-Zyklus hat Mankell einen kongenialen Nachfolger vorgestellt, mit dem er ein ganz eigenes, markantes Altersbild verbunden hat. Wenn Mankell Wallanders Kampf nicht nur gegen den äußeren, sondern auch gegen den inneren »Feind im Schatten« einprägsam ausmalt, wird der Krimi fast zur Krankenakte – und bleibt dennoch spannend. Wirklich neu ist die zunehmende Zahl solcher Pflegeheim-Kriminalromane, welche sich mit Idee und Praxis der institutionalisierten Altenpflege inmitten einer alternden Gesellschaft auseinandersetzen, und auch deren Variationsbreite. Mal erklingt nämlich zu solch einem Altersbild eine komische Note (wie bei Horwitz, 2018), mal wird Kritik am Umgang mit Heimbewohner*innen laut (wie bei Lercher, 2013), und gelegentlich ertönt beides im Wechsel (wie bei Lindgren, 2016). Und das Ende des Pflegeheim-Kriminalromans ist angesichts einer alternden Gesellschaft noch nicht in Sicht. Bei dem Bestseller Der Donnerstagsmordclub (The Thursday Murder Club, 2020) von Richard Osman dürfte es sich um die jüngste, aber nicht die letzte einschlägige Neuerscheinung handeln – schon allein deswegen nicht, weil dieser rekordverdächtige Erstlingskriminalroman des britischen Quizmasters zugleich als Auftakt einer Seniorenheim-Serie angekündigt worden ist.

So führt der Bogen von Osmans Der Donnerstagsmordclub über ein Jahrhundert hinweg zurück zum ersten Auftritt von Miss Marple in Der Dienstagabend-Club (1927). Welche Altersbilder lassen sich systematisch erfassen? Als ein Fazit ihrer Dissertation hat Miriam

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Seidler darauf aufmerksam gemacht, dass neben einer Vielzahl von typischen Altersfiguren bloß zwei zentrale Alterskonzepte hervorstechen, nämlich »das Alter als Erfolgsgeschichte und das Alter als Prozess der Degeneration und des Verlustes« (Seidler 2010: 441). Sie bestätigte damit im Allgemeinen eine zuvor schon von Hepworth speziell am Altersbild in der Kriminalliteratur vor ca. 1990 gemachte Beobachtung.46 Wie verhalten sich die hier im Einzelnen vorgestellten Altersbilder im Kriminalroman zu solch einer vereinfachten Gegenüberstellung? Das ist für den Kriminalroman nicht pauschal zu beantworten. Als eindrucksvollste, individualisierte Altersbilder kommen sowohl Dürrenmatts Kommissäre als auch Mankells Kommissar Wallander – trotz ernster und sich noch verstärkender körperlicher Degeneration – erfolgreich an ihr Ziel. Das gilt in anderem Sinne auch für Inspector bzw. Sergeant Rebus nach seinem Karriereknick im hinausgeschobenen Ruhestand. Und es gilt erst recht – und darin mag auch ein gewisser Trost liegen – für die zahlreicher gewordenen Pflegeheim-Kriminalromane: Sie alle warten, ohne Degenerationen und Verluste zu beschönigen, am Ende der Kriminalhandlung mit einer erfolgreichen Lösung auf und mit dem Sieg ihrer Haupt- und Ermittlerfiguren über den Tod. Wenn das kein Happy Ending ist.

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46

Vgl. Hepworth (1993: 32f.): »As a form of general entertainment, crime fiction communicates images of ageing and old age which serve two purposes. First, it reproduces and reinforces traditional stereotypes of old age as, for example, a stage of physical and mental frailty; and secondly, it also provides us with alternative ›positive‹ images of old age.« Vgl. Herwig (2014b: 11).

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Abb. 1: Illustration of Miss Marple by Gilbert Wilkinson from the December 1927 issue of The Royal Magazine. (20.05.2021, https://en.wikipedia.org/wiki/Miss_Marpl e).

»Ich war ein Sack voller vergammelnder Träume«:  Altersbilder in Rocko Schamonis Fünf Löcher im Himmel Simone Saftig

Im Jahre 2007 bringt Rocko Schamoni mit der Popband Little Machine ein Album heraus, auf dem das erste Lied Leben heißt sterben lernen heißt. Der Titel lässt zunächst ein pessimistisches Bild vermuten, was durch den eröffnenden Chorus verstärkt wird: »Leben, Leben heißt sterben lernen/Leben heißt sich entfernen/Leben heißt aufzugeben/das Leben« (Schamoni 2007). Schamoni modifiziert das Zitat des französischen Philosophen Michel de Montaigne »Philosophieren heißt sterben lernen« und transportiert diesen intertextuellen Verweis auf Montaignes Auseinandersetzung mit dem Tod in einen popkulturellen Kontext. Montaigne plädiert in seinem Essay jedoch nicht dafür, in Anbetracht der eigenen Endlichkeit zu resignieren, sondern den Tod beim Namen zu nennen, sich an ihn zu gewöhnen und so die Angst vor dem Sterben zu verlieren. Er behauptet: »Sterben zu wissen entläßt uns aus jedem Joch und Zwang« (Montaigne 1998: 48). Und so fordert auch Schamoni am Schluss der ersten Strophe den Mut zur Entgrenzung: »Die Welt ist winzig klein/Und all die Meere/Sind doch unendlich groß/Drum leg die Leinen los.« Doch nicht nur die Thematik des Sterbens als Teil des Lebens findet sich in Schamonis musikalischem Œuvre wieder, auch die Auseinandersetzung mit dem Alter(n) an sich wird in seinen Liedern thematisiert. Das Lied Angela adressiert er an eine alternde Angela Merkel und hinterfragt ihre Lebensentscheidungen und deren Auswirkung auf ihre Person: »Und wenn du dich im Spiegel betrachtest/Und wenn du deine Falten verachtest/und wenn du dran denkst/wie dein Leben war« (Schamoni 2015). Eine weitere Figur der Öffentlichkeit wird auf seinem aktuellen Album besungen: In Mark Hollis wird der gleichnamige verstorbene Musiker als alter Eremit beschrieben, dessen Existenz gesellschaftlich bereits in Vergessenheit geraten ist, der jedoch im Herzen seiner Fans weiterlebt: »Er war sehr berühmt/Das ist lange her/Heute glauben alle/Er lebt schon lang nicht mehr/Ich hab nach ihm gesucht/Und ich hab ihn gefunden/Ganz tief in meiner Brust/Dreht er seine Runden.« (Schamoni 2019a) Schamonis Musik für Jugendliche wirkt in Anbetracht des fortschreitenden Alters des Liedermachers ironisch und melancholisch zugleich und lässt darauf schließen, dass die Reflexion des Alters in seinen Mittfünfzigern an Relevanz gewinnt. Schon der Albumtitel lässt eine Retrospek-

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tive auf das Leben, die vermeintliche Freiheit der Jugend, und die mit der verstrichenen Zeit einhergehende Vergegenwärtigung von Verfallserscheinungen im alternden Stadium erahnen.1 Dieses Paradigma spiegelt sich auch im Musiktitel Die Freiheit, sie wird alt in deinen Haaren wider: »Die Jugend, sie zerfließt in deinem Blick/Im Spiegel kannst Du sehen, wer wir waren/Schau nicht zurück.« (Schamoni 2019) Im gesellschaftlichen Diskurs spielen Phänomene des Alter(n)s mittlerweile eine wichtige Rolle und sie werden in den Wissenschaften interdisziplinär ausgehandelt (Pott 2007: 153). Das Älterwerden ist schließlich eine biologische Tatsache, mit der sich jedes Individuum konfrontiert sieht und die Wandel impliziert: »Mit dem Älterwerden sind neue Lebenssituationen- und aufgaben verbunden, Altern fordert bislang wenig vertraute bzw. geübte Auseinandersetzungs- und Anpassungsprozesse, Alltag und Lebenswelt richten sich neu aus.« (Riedel 2013: 49) Gerade diese Tatsache, die Universalität des Prozesses und die damit einhergehenden Möglichkeiten und Grenzen machen die Thematik so attraktiv für die populärkulturelle Auseinandersetzung, welche die Reflexion des Alter(n)s somit in den alltäglichen Rezeptionshabitus integriert. Aus Sicht der Cultural Studies sind es gerade die popkulturellen Formate, die »als Verhandlungsort von Werten und Bedeutungen« (Kühn/Troschitz 2017: 12) einer Gesellschaft fungieren. Dies scheint besonders deswegen relevant, weil nach wie vor kulturelle Altersstereotype vorherrschen: »Demnach gelten alte Menschen generell immer noch als schwach und hilfsbedürftig, als passiv und leidend, gebrechlich und anfällig, als leicht vergesslich bis verwirrt.« (Schenk 2011: 29) Diese stereotypen Vorstellungen klammern die Lebensrealitäten vieler alter Menschen aus, die aktiv und gesund sind, ihre Freiheiten im Alter flexibel nutzen, jünger aussehen und sich jünger fühlen. Altersbilder sind individuell auszuhandeln und können je nach Umfeld stark divergieren: »Das Urteil über das Alter von Menschen ist also von Kontexten abhängig, lokal, historisch, politisch und kulturell variabel, personen-, berufs- und situationsspezifisch.« (Herwig 2014: 10) Ebendiese Varianz an Altersbildern schlägt sich auch in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Alter(n) nieder. Neuhaus spricht diesbezüglich von einer Relativität des Alter(n)s in der Gegenwartsliteratur, die insbesondere die Gegenüberstellung von Jugendlichkeit und Alter in Frage stelle, da bisweilen junge Figuren als alt und alte Figuren als jung dargestellt würden (2010: 43).

1.

Paul als resignierter alter Mann

Nicht nur in seiner Musik, auch in seiner literarischen Arbeit setzt sich der Musiker, Entertainer und Autor Rocko Schamoni mit Alter(n) und Sterben auseinander. Mit Fünf Löcher im Himmel (2014) konzipiert er eine Geschichte, deren Protagonist sich in einer besonderen Konfliktsituation des Alters wiederfindet, die durch drei wesentliche Komponenten determiniert wird: das Bewegungsmoment als dynamisches Gegenkonzept

1

In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur zu Musik für Jugendliche kommentiert Schamoni, dass für ihn das Abschiednehmen als »Konterpart« zur Jugend immer bedeutsamer werde (Müller 2019).

»Ich war ein Sack voller vergammelnder Träume«

zur Stagnation im Alter, die Erinnerung als identitätsstiftendes Merkmal und konstitutive Stellschraube für das Zeitempfinden sowie die kriminelle Aktivität als Gegenpol zur Resignation und Reaktion auf die Perspektivlosigkeit im Alter. Der Protagonist des Romans Paul ist 67 Jahre alt und wird mit einer Lebenssituation am Rande der Gesellschaft konfrontiert, die sich aufgrund seines fortgeschrittenen Alters als Kalamität erweist. Doch während Schamoni in Die Freiheit, sie wird alt in deinen Haaren mit »Schau nicht zurück« für den berühmten Blick nach vorne plädiert, ist es in Fünf Löcher im Himmel gerade die Retrospektive des Protagonisten, die den Handlungsverlauf bestimmt. Pauls Ausgangslage erweist sich bereits zu Beginn der Geschichte als desolat: Er verliert seine Wohnung und damit seine bürgerliche Existenz. Er lebt alleine, arbeitet nicht (mehr) und findet unter seinen wenigen Besitztümern nur mehr zwei für ihn wertvolle Gegenstände wieder: seine mit fünf Patronen geladene Pistole und sein altes Tagebuch. Die Romanhandlung wird immer wieder von den früheren Tagebucheinträgen Pauls unterbrochen, der durch die Rezeption seiner Texte eine wichtige Episode seiner Adoleszenz reproduziert: eine Phase, in der er gleichzeitig in seine Mitschülerin Katharina Himmelfahrt und seine Lehrerin Frau Zucker verliebt war: »Am liebsten hätte ich beide geküsst. […] Ich weiß grad nicht, welche von beiden ich besser finde.« (Schamoni 2014: 55, H. i. O.) Dieser Lebensabschnitt hängt wesentlich mit zwei Erfahrungswerten zusammen: Seine ersten Liebes- und Sexualerfahrungen korrelieren mit der Inszenierung des Schultheaterstücks, einer Adaption von Goethes Die Leiden des jungen Werthers, in der Katharina Lotte spielt, er die Rolle des Albert übernimmt und sich in direkter Konkurrenz zu Franz Keil als Werther sieht. Die Kommunikation mit Katharina wird maßgeblich durch den geheimen Briefwechsel über ein altes Rohr charakterisiert, was die Romanze für den jungen Paul ganz besonders macht. Außerdem schreibt er über eine sexuelle Begegnung mit einer Frau im dunklen Theatersaal, die er für Frau Zucker hält, nur wenige Tage später hat er Sex mit Katharina im See. Dabei changieren die Liebkosungen mit Katharina stets zwischen Realität und Spiel, was Paul in ein regelrechtes Gefühlschaos treibt und ihn bei den Theaterproben immer häufiger mit Franz Keil aneinandergeraten lässt. Als sich bei der Premiere herausstellt, dass Werthers Pistole geladen war und Franz Keil dem inszenierten Kopfschuss erliegt, wird Paul für den Täter gehalten und sitzt sieben Jahre im Gefängnis ein. 50 Jahre später verliert er seinen Wohnsitz und reagiert hierauf zunächst mit einem Einbruch in eine nahegelegene Schrebergartenanlage. Das Motiv der Kriminalität als Reaktion auf die Perspektivlosigkeit und die damit einhergehende Gleichgültigkeit zieht sich fortan durch den gesamten Roman; so wird seine Reise wesentlich von kriminellen Aktivitäten bestimmt. Was Paul selbst als einziges Mittel zum Überleben suggeriert, evoziert in ihm gleichzeitig ein Gefühl der Lebendigkeit und verstärkt das Gefühl der Freiheit, das ihm der folgende Road Trip in seine Heimatstätte verleiht. Ermöglicht wird dieser Road Trip durch die Bekanntschaft mit Pocke, der einen zweiten Entwurf des vermeintlich gescheiterten Alten repräsentiert: Seit der Pächter die Miete für seine Kneipe erhöht hat, kann Pocke die Kosten nicht mehr stemmen. Mit der Schließung der Kneipe geht nicht nur das Ende eines existenziellen Kapitels in seinem Leben einher, sondern ebenso der Wegfall eines wichtigen sozialen Raums für einsame Alternde, die in der Kneipe ihren Lebensmittelpunkt gefunden hatten. So konstatiert Pocke an seinem letzten Arbeitstag: »Und die da alle, die bleiben ab jetzt zu Hause und trinken sich

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zu Tode! Wo sollen die sonst hin? Die gehen doch nirgendwo sonst mehr hin. Weißt du, dieses Land ist zerbrochen, es will seine Schwachen nicht mehr.« (Schamoni 2014: 35) Der Kneipier begibt sich auf Weltreise, doch auch diese ist zum Scheitern verurteilt: Nach nur wenigen Tagen verliert der ehemalige Gastwirt seine kompletten Ersparnisse beim Pokern. Zuerst nur in Begleitung von einem Wellensittich namens Wolfgang, dann gemeinsam mit Pocke begibt sich Paul in verschiedene Konfliktsituationen mit der Gesellschaft, an deren Rande er sich selbst verortet, und stellt in Anbetracht seiner Vergangenheit wesentliche Fragen an sein Leben und seine Existenz als alternder Mann: »Pauls Zeit war ebenfalls fast um. Er würde den Rest dazu verwenden, sich um seine unbeantworteten Fragen zu kümmern.« (Schamoni 2014: 83) Es sind Fragen nach der Irreversibilität von Zeit, nach Identität und Integrität, Resignation und Rebellion im Alter und nach der Wahrheit über die Vergangenheit. Diese Fragen erlauben es, über die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Roman exemplarisch Rückschlüsse auf künstlerische Entwürfe von Altersbildern zu ziehen. Im Fokus sollen hierbei im Wesentlichen die folgenden Fragen stehen: Inwiefern ist das Bewegungsmoment substanziell für Pauls Selbstfindung? Welche subjektive Bedeutsamkeit wird der Erinnerung zuteil? Welche Rolle übernimmt das Zeitverständnis im Kontext der eigenen Identität im Alter? Welche Bedeutung kommt dem Narrativ der Kriminalität zu?

2.

Aufbruch zum Rest des Lebens

Im Feuilleton und in medialen Buchankündigungen wird Schamonis Roman häufig als »Road Novel« angepriesen.2 Die Gattungsbezeichnung ›Road Novel‹ erfolge, so Špela Virant, häufig intuitiv und die Grenzen des Genres seien längst nicht klar definiert (2019: 635). In einer Annäherung an eine Begriffsbestimmung konstatiert sie jedoch verschiedene Merkmale, die als gattungstypisch gelten könnten, obgleich die Gattung a priori als dynamisch und die Grenzen als fließend angesehen werden müssten: Handlungsorte seien die Straße sowie die inneren Räumlichkeiten eines Fahrzeugs, motivisch gestalte sich die ›Road Novel‹ durch die Themen des Unterwegs-Seins sowie des Strebens nach Freiheit und die Figuren seien häufig Außenseiter, charakterisiert durch Rastlosigkeit und Neugierde: »Getrieben werden sie nicht zu einer Reise von Punkt zu Punkt, sondern zur Bewegung selbst, die nicht zweckorientiert ist und sich der bürgerlichen Sinnkonzeption und der kapitalistischen Profitmaximierung widersetzt.« (Virant 2019: 649) Anna Stemmann akzentuiert ferner die Motivation der Protagonist*innen und betont das Merkmal der »Selbstsuche und -bestimmung der Figuren mit einer (motorisierten) Reisebewegung durch den Raum« (2019: 34). Hierbei sei gerade der Grund für den Auf-

2

Vgl. hierzu das NDR-Kulturjournal: Rocko Schamoni schießt hoch hinaus und Jenny Hochs Besprechung in Die Zeit vom 9. Oktober 2014: Ein Humorist macht Ernst.

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bruch wesentlich, da dieser essenziell für die Bestimmung der Funktion von Bewegung sei.3 Dieses narrative Potenzial wird auch in Hinblick auf Fünf Löcher im Himmel ausgeschöpft. Ausschlaggebend für Pauls Reise sind zwei Aspekte: die Entwurzelung durch den Verlust des Wohnsitzes und die neugewonnene Mobilität durch den alten Sportwagen, den Pocke ihm überlässt. Erst durch das Auto ist es Paul möglich, den dysfunktionalen Raum (Stemmann 2019) zu verlassen; es generiert zum einen das Gefühl von Freiheit (»He, Wolfgang? Jetzt geht’s los, jetzt nehmen wir uns die Welt«, Schamoni 2014: 55) und fungiert zum anderen als Aufenthaltsort, als Zuhause (»›Willkommen zu Hause‹, murmelte Paul und stellte den Rückspiegel ein.« Schamoni 2014: 55). Zwar ist der Aufbruch weniger als intendierter Freiheitsschlag aus einengenden Strukturen, sondern vielmehr als Zusammenspiel von Zufall, Obdachlosigkeit und Spontaneität aufgrund von Erinnerung konzipiert. Dennoch erweist sich die Kombination aus Bewegungsmoment auf der einen und Retrospektive auf der anderen Seite als leitendes Prinzip für die Selbstsuche Pauls. Dies manifestiert sich schon zu Beginn der Romanhandlung. Paul setzt sich nach der Zwangsräumung seiner Wohnung zunächst zu Fuß in Bewegung: »Straße für Straße lief er hinunter und Viertel für Viertel« (Schamoni 2014: 9). Der Obdachlosigkeit setzt Paul also Dynamik entgegen, die bereits einen Tag später durch die Festlegung eines Ziels und die neu gewonnene Mobilität von der Planlosigkeit in einer konkreten Aktivität mündet. Die geplante Reise zu seiner Jugendliebe vermittelt neuen Lebensmut, das Unterwegs-Sein neues Selbstbewusstsein: »Das Leder des Sitzes umfing ihn knatschend, der kurze Schaltknüppel lag in seiner rechten Hand, und im Rückspiegel sah Paul sich lächeln. Er glitt durch die Straßen der Großstadt und fühlte sich gut, autark, stark, er fühlte sich ermächtigt.« (Schamoni 2014: 56) Der Aufbruch ist für Paul Initialzündung einer späten Rebellion, die als Kontrastprogramm zu seinem vorherigen Leben konzipiert ist: Das Land breitete sich um ihn herum aus, und ihm fiel auf, wie lange er die Stadt nicht mehr verlassen hatte. Wie lange er in seiner Wohnung gesessen und darauf gewartet hatte, dass sich irgendwas ändern würde, dass das Leben endlich aufhörte, gleich zu bleiben, oder besser noch ein anderes würde. Warum er selber nicht mehr in das Geschehen eingegriffen hatte, vermochte er nicht zu sagen, es war einfach alles immer langsamer geworden und irgendwann komplett stehen geblieben. Bis die Freunde, dann die Post und schließlich das Geld ausblieben. Von aller Welt vergessen. […] Und jetzt war er hier und fühlte sich auf einmal lebendiger als in den gesamten letzten zwanzig Jahren, in denen so gut wie nichts passiert war außer dem Warten auf einen Wink des Schicksals. (Schamoni 2014: 57) Diese Passage macht deutlich, inwiefern Pauls bisheriger Lebensmittelpunkt als dysfunktional und der Road Trip als Mittel zur Sinnkonzeption und Selbstfindung identifiziert werden können. Es ist die Bewegung selbst, die nicht nur Pauls Reise, sondern seiner ganzen Existenz einen Zweck zu verleihen scheint. Sein Resümieren zeigt, dass 3

Stemmann (2019: 34) bezieht ihre Analyse hierbei zwar vorwiegend auf Räume der Adoleszenz, verweist jedoch darauf, dass das Genre nicht zwangsläufig an das Narrativ der Adoleszenz geknüpft sei.

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sein Leben vor allem durch Stagnation und Einsamkeit geprägt war. Bilanzieren ältere Menschen ihr Leben und die eigenen Leistungen, so kann der enttäuschende Eindruck entstehen, »das Leben nicht genügend genutzt zu haben und das Empfinden, daran nichts mehr ändern zu können«; stellt sich eine »negative Lebensbilanz« ein, so führt das »häufig zu Altersresignation, die mit depressiven Tendenzen und/oder einer Suizidgefährdung verbunden sein kann« (Ruhland 2006: 126, H. i. O.). Um eine solch negative Sicht auf das eigene Leben in eine optimistische Perspektive umzuwandeln, ist es vonnöten, die existenzielle Bilanz entwicklungsorientiert zu betrachten: »Das bisher gelebte und noch zu lebende Leben des älteren Menschen wird auf seine Ressourcen und Möglichkeiten hin untersucht.« (Ruhland 2006: 126) Genau dieses Potenzial erkennt Paul in seinem Road Trip.4

3.

Erinnerung und Identität

Dass Paul in seine alte Heimat fährt, verbindet das Bewegungsmoment motivisch mit der Dimension der Vergangenheit. Gleichzeitig wird durch den Blick in die Jugend ein dialektisches Verhältnis von Zukunft und Vergangenheit geschaffen: Obwohl Paul seine Lebensbilanz als negativ bewertet, findet er dennoch in der Erinnerung an seine Jugend eine Perspektive für die entwicklungsorientierte Zukunft, deren Synthese nach Pauls Formel Katharina Himmelfahrt heißt. Als er schließlich abfahrbereit im Auto, seiner neuen »Wohnung« (Schamoni 2014: 46), sitzt, fragt er den Wellensittich: »Wolfgang, […] ich könnte dir meine Heimat zeigen. Was hältst du davon? […] Und wie wäre es, wenn wir meine Jugendfreundin Katharina besuchen würden? Vielleicht lebt sie ja noch. Vielleicht würde sie sich sogar freuen, wenn wir beide vorbeikämen. Oder?« (Schamoni 2014: 56) Überdies stellt der Aufbruch für Paul eine Möglichkeit dar, der bürgerlichen Sinnkonzeption und Profitmaximierung seiner Mitmenschen zu entkommen. Immer wieder bezeichnet er die Menschen in seinem Umfeld als »Maschinen… nichts als Maschinen, ausführende, stumpfe Automaten […]. Von nichts ’ne Ahnung, an nichts Interesse, kein Gefühl, kein gar nichts… Maschinen…« (Schamoni 2014: 8). Paul nimmt das Leben, das Miteinander, die bürgerlichen Existenzen als mechanisierte Inszenierung wahr, in der er keine Rolle spielen will: »Maschinen. […] Alles nur Maschinen. Ich will 4

Alte Protagonist*innen, die der Stagnation Bewegung entgegensetzen und sich auf Reisen in die Vergangenheit begeben, findet man auch in einigen Road Movies wieder. In dem deutschen Spielfilm Frau Ella (2013) begibt sich die 87-jährige Protagonistin Ella mit ihrem jungen Begleiter Sascha auf eine Reise nach Paris, um ihre Jugendliebe, den amerikanischen Soldaten Jason zu finden. In der deutsch-schweizerischen Tragikomödie Wer hat eigentlich die Liebe erfunden? (2018) bricht die an Alzheimer erkrankte Protagonistin mit ihren familiären Pflichten, um alleine einen Road Trip an die Nordseeküste zu unternehmen. Die französisch-italienische Produktion The Leisure Seeker (dt. Das Leuchten der Erinnerung, 2017) erzählt von einem seit 50 Jahren verheirateten Paar, das in Anbetracht steigender Alterserscheinungen mit einem Oldtimer-Wohnmobil auf eine Abenteuerreise zum ehemaligen Wohnsitz Hemingways aufbricht. Diese Beispiele zeigen, dass sich die Form der ›Road Novel‹ und des Road Movies, die häufig vor allem mit Narrativen der Adoleszenz assoziiert werden, auch auf die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Altern übertragen lassen und hier vor allem als Ausbruch aus jahrzehntelangen Gewohnheiten und/oder als Abenteuer im Anblick der noch verbleibenden Lebenszeit erzählt werden.

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nicht in euren Autos sitzen. Ich will nicht in euren Büros arbeiten. Ich will nicht in euren Familien leben.« (Schamoni 2014: 26) Besonders diese Einstellung wird als Konstante seines Lebens markiert: Auch im Tagebuch finden sich immer wieder Einträge, in denen Paul seine Umwelt als inszeniert und unecht bezeichnet: »Björn Z. schreibt in allen Fächern Einsen. […] Er ist eine Maschine. Sie alle sind Maschinen – um mich zu testen? […] Ich hasse dieses Schminken, das ist doch alles verlogen, diese ganzen bescheuerten Rollenspiele. Das ist alles Maskerade!« (Schamoni 2014: 16, H. i. O.) Das Gefühl, anders zu sein, anders zu denken und als einzig Authentischer zwischen Fremdgeleiteten zu leben, begleitet Paul schon seit seiner Jugend: »Manchmal frage ich mich, ob das Ganze vielleicht nur ein Test ist mit mir als Testfigur. Und alle anderen Lebewesen sind Maschinen. Um zu testen, ob so etwas Absurdes wie ich überhaupt überleben kann. […] Ich bin ein Bioexperiment von denen.« (Schamoni 2014: 89, H. i. O.) Die Rezeption seiner früheren Gedanken lässt ihn erneut über dieses Gefühl sinnieren: Wenn hier noch ein paar andere wie ich wären, aus Fleisch und Blut, mit einer Seele. Aber so? Mit nur Maschinen um mich herum? Vielleicht bringe ich mich um, um denen einen Strich durch ihre perfide Rechnung zu machen! Ich will kein Test sein! Ich wünschte, alles wäre echt. Komisch, dachte sich Paul, das Gefühl hatte er immer noch. Dass alles nicht echt war. Dass alle anderen Maschinen sein könnten. Dass alles nur ein Test war. Ein Test, der jederzeit aufhören könnte. Oder abgebrochen würde. […] Weil aus ihm, Paul Z., nichts geworden war, das die Hoffnung der Höheren gerechtfertigt hatte. […] Dass er dieses Gefühl immer noch hatte, ließ ihn sich fragen, ob er nicht ein psychisches Problem hatte. Ob er nicht vielleicht Autist wäre. (Schamoni 2014: 91f., H. i. O.) Das Freiheitsgefühl, das durch seinen Road Trip evoziert wird, wird auf der anderen Seite immer wieder von Selbstzweifeln und Sinnsuche durchzogen. Diese Gedanken reflektiert er besonders dann, wenn die Bewegung aussetzt, er im Bungalow, Hotel oder auf einem Parkplatz sitzt. Hierbei ist es vor allem die Konfrontation mit seinen jugendlichen Hoffnungen und Ängsten, die ihn zu einer negativen Bilanzierung seines Lebens anregt: Paul verbrachte Tage in dem Bungalow. Saß am Wohnzimmertisch und las in seinem Tagebuch oder lief um ihn herum und dachte über sein Leben nach. Über die Wege, die er hatte beschreiten müssen und gegen die er sich nicht hatte wehren können. Immer wieder hatte er gehofft, er würde es irgendwann anders machen können, als es ihm angelegt war, aber dann war es doch genauso gekommen, wie er es nicht gewollt hatte. Die Ketten, an denen bereits sein Vater gelegen hatte, schienen auch für ihn gemacht worden zu sein. (Schamoni 2014: 83) Das genau wollte sein junges Ich vermeiden: den Alkoholismus seines Vaters. Schon der junge Paul ist einsam, da sein Vater durch die Sucht nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Er teilt seine Gedanken mit dem Tagebuch, nicht aber mit einer Bezugsperson. Immer wieder konfrontiert sich Paul in seiner Jugend mit dem Schicksal des Vaters, was sein Selbstkonzept stark beeinflusst: »Bin so durch die Straßen gelaufen und habe nachgedacht. Darüber, ob ich wohl genauso werden muss wie er.« (Schamoni 2014: 73, H. i. O.)

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Der Vergleich seiner jugendlichen Vorstellungen mit seiner Identität im Alter lässt Paul in einen Dialog mit seinem jungen Ich treten, mit dessen Erwartungen und Hoffnungen, lässt ihn sich aber auch als alten Mann fühlen: Ich frage mich immer wieder, wer das hier wohl mal lesen wird. Schreibt man Tagebücher tatsächlich nur für sich selber? […] Die ganzen Genies, die Tagebücher hinterlassen haben, die wussten doch ganz genau, was sie da taten […]. Ich rechne das gleich mit rein, dass das hier auch jemand anderes lesen wird, vielleicht auch ein größeres Publikum, kommt ganz drauf an, was aus mir wird. (Schamoni 2014: 99f., H. i. O.) Der junge Paul steht am Anfang seines Lebens und hält in seinem Tagebuch das Gefühl fest, dass ihm alle Chancen offenstehen. Bei der Rezeption als alter Mann konstatiert er schließlich, dass er der einzige Leser bleiben wird, da er in seinem Leben keine dieser Möglichkeiten realisiert hat. Sein junges Ich hat die Vision einer erfolgreichen Zukunft: Ich hoffe, du bist so geworden, wie ich es mir jetzt wünsche. […] Körperlich nicht abgewrackt, sondern zumindest halbwegs trainiert. Natürlich belesen und schlau und mit guter Sprache. Die Frauen laufen dir hinterher, aber du brauchst keine feste. Du wirst hoffentlich einen coolen Beruf haben, vielleicht was mit Kunst und Musik […]. Und ich könnte mir vorstellen, dass du ein Motorrad fährst oder einen alten schicken Sportwagen. (Schamoni 2014: 101f., H. i. O.) An dieser Vorstellung gemessen ist der alte Paul gescheitert, doch er begegnet seinem jungen Ich mit Selbstironie: »›Na ja, das meiste ist nicht eingetreten.‹, sagte Paul, ›aber in diesem Punkt darf ich dich beruhigen.‹« (Schamoni 2014: 101) In den Tagebuchpassagen spiegelt sich auf der einen Seite seine jugendliche Naivität wider, auf der anderen Seite findet er charakteristische Gedankengänge wieder, die sein Leben im Alter noch prägen. So bestätigt Paul die Hoffnung seines jungen Ichs, nicht zu viele Worte zu verschwenden und nicht den Drogen verfallen zu sein (Schamoni 2014: 102). Im Gegensatz zu früher ist Paul jedoch im Alter in der Lage, die schwierige Situation seines Vaters als Kind zweier Nationalsozialisten zu reflektieren, und kommt zu dem Schluss: »Du solltest ihm verzeihen.« (Schamoni 2014: 102) Im letzten Abschnitt dieser dialogischen Rezeption des Tagebuchtextes zeigt sich die Gegenüberstellung von jungen Alten und alten Jungen, die Neuhaus konstatiert: Ich hoffe sehr, dass ich die Kraft habe, dich so werden zu lassen, wie ich es mir jetzt vorstelle. Dass ich stärker bin als das Schicksal […], als äußere Einflüsse und schlechte Bedingungen. Mit dir werde ich den Beweis antreten, dass man als Mensch Herr seines eigenen Schicksals ist! (Schamoni 2014: 103, H. i. O.) Darauf reagiert der gealterte Paul mit Amüsement: »Hahahahahaha! Grad wirkt es so, als wäre ich dein Kind und als hättest du mich erzeugt. Dabei ist es genau umgekehrt, du bist siebzehn, und ich bin siebenundsechzig – das ist wirklich bizarr!« (Schamoni 2014: 103) Durch die dialogische Struktur, die direkte Anrede des zukünftigen Ichs, wird hier die Kontrastierung von jugendlichen Hoffnungen und Resignation im Alter stilistisch deutlich. Die Hoffnung, das Scheitern des Vaters durch eigenen Erfolg zu kompensieren, mündet schließlich in Pauls Umkehrung der Rollenzuschreibung. Pauls Auseinandersetzung mit seinen früheren Tagebucheinträgen lässt sich vor dem Hintergrund des »Adoleszenzeffekts« (Habermas 2005: 689) interpretieren. Aleida

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Assmann versteht das individuelle Erinnern als Mittel zur Selbstdeutung und Selbstbestimmung; die eigene Lebensgeschichte ermögliche so die Konfiguration eines formativen Selbstbildes, das als Orientierung für das eigene Handeln fungiere (2010: 134). Im Zusammenhang mit der Frage nach wichtigen Ereignissen und lebendiger Erinnerung werde im höheren Alter häufig die Adoleszenz erinnert, da in dieser Phase die Visionen eines späteren Lebens aufgestellt würden: »Wer bin ich? Wofür lohnt es sich zu leben?« (Habermas 2005: 690) seien die Fragen, die man in der Jugend festlege und derer man sich schließlich mit Blick auf die eigene Lebensgeschichte erinnere. Weil diese Lebensphase häufig mit wichtigen Wendepunkten einhergeht, »bieten Erinnerungen aus der Adoleszenz vielleicht mehr Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage nach der Identität einer Person als Erinnerungen aus früheren oder späteren Lebensaltern.« (Habermas 2005: 690) Es sind ebendiese Reflexionen über die eigene Identität und deren Zukunft, die Paul in seinem Tagebuch notiert. Durch die Rezeption des Tagebuchs kann der gealterte Paul Differenzen und Äquivalenzen der früheren Erwartungen in Anbetracht der tatsächlichen Lebensbiografie feststellen. Dieser Rückblick kann zur Reorganisation des eigenen Lebens führen, schließlich auch dazu, Vergangenes besser zu verstehen und versöhnlich zu akzeptieren (Butler 1963: 68). So lernt auch Paul mit Hilfe seiner Tagebucheinträge, im Alter seinem Vater zu verzeihen.

4.

Zeit und Verfall

In Anbetracht seiner Lebensbilanz reflektiert Paul immer wieder die Relativität von Zeit. Er stellt zum Teil Fragen über das Wesen und die Auswirkung des Alter(n)s, die in der Philosophie schon seit Jahrtausenden gestellt werden (Mahr 2016: 39). Um sich einer Beantwortung solcher Fragen anzunähern, knüpfen »Philosophen in ihrer Reflexion über das Alter(n) an alltägliche Verhaltensweisen, teilweise auch an persönliche Erfahrungen an« (Mahr 2016: 40) und stellen diese in einen ethischen Kontext mit der Frage nach dem guten Leben. Mit dieser Herangehensweise widmet sich auch Jean Améry in seinen Essays Über das Altern: Revolte und Resignation der Auseinandersetzung mit dem »Dasein und Zeitvergehen« (1968: 13). Dass Zeitgefühl und Zeitverständnis wesentlich vom eigenen Alter abhängen, illustriert Améry durch die Gegenüberstellung von Jung und Alt: »Die Zeitstrecken oder Zeitmassen sind relativ, nicht nur zur intersubjektiven physikalischen Zeit, die ohnehin für uns keinen Sinn ergibt, sondern auch zueinander« (1968: 21); es sei der Alternde, der sich jener Zeitstrukturen bewusst werde: »Alt sein oder auch nur altern sich spüren, heißt: Zeit haben im Körper und in dem, was man so Seele nennen mag, der Kürze halber. Jung sein, das ist: den Körper hinauswerfen in die Zeit, die keine Zeit ist, sondern Leben, Welt und Raum.« (1968: 26) Dass sich Pauls Leben dem Ende entgegen neigt, kommentiert er an mehreren Stellen im Roman: »Und ich habe das Leben nicht mehr vor mir, im Gegenteil, es ist fast vorbei.« (Schamoni 2014: 114) Erst der Alte, so Améry, erkenne das zeitliche Kontinuum, in dem Gegenwart und Zukunft ihren Zeitcharakter verlieren und von der Vergangenheit eingeholt würden: »[E]r ist ganz Zeit, denn an die Welt und das Zukommende glaubt er nicht mehr so recht.« (1968: 25) Es sind diese Gedanken, die auch Paul befallen, wenn er über seine Zukunft

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sinniert und resigniert feststellt: »Die paar Tage oder Wochen, bis das Spiel rum ist…« (Schamoni 2014: 114) Das relative Zeitempfinden, das Améry postuliert, schlägt sich auch in den Tagebucheinträgen von Paul nieder. Amérys These, dass erst der Alte das Raum-ZeitKontinuum verstehe, manifestiert sich vor allem in der Gegenüberstellung mit den Gedanken aus Pauls Jugend. Als junger Mensch, dessen Leben noch vor ihm liegt, nimmt er den Verlauf der Zeit als besonders langsam wahr: Jetzt möchte ich auch, dass sie schneller vergeht! Zeit totschlagen – guter Begriff! Täterprofil: Zeittotschläger. […] Habe mit dem Schraubenzieher die Küchenuhr aufgemacht und einen Test gestartet. Vollkommen irres Ergebnis: Man kann die Zeiger bewegen! […] Ärgerlicher Nebeneffekt: Die Welt reagiert nicht auf die Manipulation. […] Etwas im Raum-Zeit-Gefüge stimmt da nicht! Jemand muss die Zeit reparieren. Ach, geht ja nicht. Die ist ja totgeschlagen. […] Wenn ich das Leben so vor mir sehe, die Möglichkeiten und die endlose Zeit dort, die so unglaublich langsam vergeht, dann kommt sie mir vor wie eine riesige unüberschaubare Landschaft, die ich nie durchwandern kann, diese Größe macht mir Angst, und die Langsamkeit der Zeit lässt mich erschauern. (Schamoni 2014: 135f., H. i. O.) Dass das langsame Zeitvergehen im Tagebuch des jungen Paul subjektiv so stark akzentuiert wird, unterstreicht kontrastiv die Zeit im Alter, die als knapp bemessen und dadurch als schnell vergehend und besonders wertvoll empfunden wird, so wenn der alte Paul von ein »paar […] Wochen« spricht und damit die Endlichkeit seines Lebens in den Blick nimmt: Haha, dachte Paul, du wirst dich noch wundern, wenn du erst ich sein wirst. Von der anderen Seite sieht es nämlich genau anders aus: Das Leben ist ein kleiner Hügel, ein Haufen, ein Klecks, ein winzig kleiner Punkt im Nichts. Die Zeit läuft unglaublich schnell, und der Zeitraum des Lebens ist so kurz, so verschwindend klein und kurz, dass man danach nur erschreckt auflachen kann. Was? Das war schon alles? (Schamoni 2014: 136) Pauls Überlegungen sind charakterisiert durch die Subjektivität des Zeitempfindens eines jeden Individuums während einer Lebensspanne: Er war in eine Zeitblase eingetreten, in der sich die Dinge von einem gewissen Moment an nicht mehr weiterentwickelt hatten. Es gibt keine einheitliche Zeit, dachte sich Paul. […] Es gibt eine Zeit für jeden Einzelnen. Für jeden Gegenstand und jedes Lebewesen. Unendlich viele unterschiedliche Zeiten. Die Lebewesen erleben ihre eigene Zeit als das vorbeiziehende Leben. Die Zeit bemisst den Zustand des Körpers, in dem man sich bewegt. Wenn die Zeit abgelaufen ist, ist der Körper kaputt. Dafür ist Zeit da. Um den Zustand des Transporters anzuzeigen. (Schamoni 2014: 82f.) Dieser »Zustand des Transporters« begegnet Paul vor allem im eigenen Spiegelbild. Als »mirror-gazing« bezeichnet Butler (1963: 68) das Phänomen, bei dem sich alte Menschen in Anbetracht ihres Spiegelbilds mit dem bevorstehenden Lebensende und den verpassten Chancen der Vergangenheit konfrontiert sehen. Immer wieder erkennt auch Paul im Spiegelbild die eigenen Verfallserscheinungen. Erstmals vergewissert er sich nach dem Betrachten des alten Klassenfotos der Spuren der seither vergangenen Zeit:

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»Dann betrachtete er sein Gesicht im Spiegel. Alt. Graue, lange, ungepflegte Haare, Schlupflider, Falten in den Augenwinkeln, großporige Haut, überall Bartstoppeln. Das ganze Gesicht irgendwie wie ein verwildertes Beet.« (Schamoni 2014: 22) Das Motiv des Spiegelbildes als Reflexion des Alterns zieht sich fortan durch den Roman: Im fahlen Morgenlicht ging er ins Badezimmer und sah sich lange und nachdenklich im Spiegel an. Waren das noch die gleichen Atome und Moleküle, die sich schon vor fünfzig Jahren angeschaut hatten? Oder waren all die kleinsten Bauteile ausgetauscht worden, und nur grobe Gitterstruktur war erhalten geblieben? (Schamoni 2014: 47) Bei diesem Blick in den Spiegel fragt Paul nach dem Zusammenhang von äußerer Alterserscheinung und innerlichem Wandel. Die Suche nach der eigenen Identität im Spiegelbild manifestiert sich auch im folgenden Abschnitt und erinnert an den eingangs zitierten Vers aus Die Jugend, sie wird alt in deinen Haaren: »Im Spiegel kannst du sehen, wer wir waren«: Er wusch seinen Kopf und sah sich erneut im Spiegel an: Er erkannte jugendliche Reste wieder, die seit Jahren wie Inseln im Ozean des Gesichts versunken gewesen waren. Etwas von ganz früher aber war an ihm erhalten geblieben, er – wie er sich eigentlich empfand – war noch nicht ganz verschwunden, unter wucherndem Zeitfleisch verwachsen. (Schamoni 2014: 48) Der Topos, das Selbst im Spiegelbild zu erkennen, ist in Kunst und Literatur weit verbreitet (Prinz 2009: 118). Der Blick in den Spiegel als literarisches Motiv fungiert für viele Figuren als Möglichkeit, die »Selbstentwicklung imaginier- und visualisierbar« (Dahms 2012: 27) zu machen, und erlaubt so psychologische und soziologische Rückschlüsse auf die Begegnung mit dem Selbst. Das gedankliche Reflektieren des Selbst im Altersprozess wird auch in Fünf Löcher im Himmel aufgegriffen. So wird nicht nur das optische Analogon Pauls, sondern in erster Linie die Erkenntnis des Alterns im wahrsten Sinne widergespiegelt: »Das Bild, das er von sich gespeichert hatte, stammte von irgendwann aus seinen mittleren Jahren, er war damals in den Zustand der Zeitlosigkeit eingetreten. Jeder Spiegel bewies ihm aber, dass das nicht stimmte und dass seine Erdengestalt allmählich verfiel.« (Schamoni 2014: 148) Während Paul zunächst noch Spuren der Jugendlichkeit in seinem Spiegelbild entdeckt, stellt sich später eine Antiklimax der Subjektbegegnung ein. Erkennt er zunächst »sich« und wird durch die Verwendung des Pronomens eine Identifikation – wenn auch als alternder Mann – konnotiert, so distanziert sich Paul im Laufe des Romans immer mehr von seinem eigenen Spiegelbild: Gedankenverloren blickte er in eine Schaufensterscheibe. Dort stand ein alter Mann, mit hängenden Schultern, in beigen Seniorenkleidern und halblangen Hosen, Sandalen mit weißen Socken […]. Wer war dieser Mann mit dem hoffnungslosen Gesicht, den grauen Bartstoppeln, mit den herabhängenden Mundwinkeln und der faltigen Haut am Hals? […] Er musste bei der Gestalt aus der Geisterbahn, die er im Spiegel der Schaufensterscheibe sah, lächeln. Das bin nicht ich. Schon lange nicht mehr. Das ist nur noch der Rest von mir. Aber hier drinnen bin noch ich. Ganz der Alte. (Schamoni 2014: 147-149)

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In Pauls mentaler Selbsteinschätzung entsteht also eine Diskrepanz zwischen Spiegelbild und Selbstbild, biologischem und gefühltem Alter. Grund dafür kann neben der fehlenden Vergegenwärtigung des Alterns als innerer und äußerer Prozess auch eine fehlende soziale Spiegelung sein. Die Fremdeinschätzung und damit die soziale Spiegelung als Dialektik von Spiegel und Gespiegelt-Werden (Prinz 2009: 121) bleibt in Pauls Leben größtenteils aus, da er vor seinem Aufbruch in die alte Heimat zurückgezogen und einsam lebt. Was ihm jedoch besonders wichtig erscheint, ist die Feststellung der charakterlichen Kontinuität, die er unabhängig von äußerlichen Veränderungen als gleichbleibend einstuft. Hatte der junge Paul angesichts der Fülle der Zeit Angst vor Stillstand, so erkennt der alte Paul rückblickend genau ihn als Konstante seines Lebens. Er hat sich zurückgezogen, seine Zeit nicht genutzt. Ein wesentliches Merkmal der Relation von Alter und Zeit sei nach Améry der »Wunsch nach Zeitumkehr« (1968: 30, H. i. O.). Der alternde Mensch, so Améry, bereue das, was er getan und das, was er nicht getan hat. Er müsse sich mit der unausweichlichen Tatsache auseinandersetzen, dass die verstrichene Zeit irreversibel sei: »Aber jetzt ist es zu spät; der Sinn seines Lebens, ein Unsinn, wenn er’s genau besieht, ist schon aufgesammelt in ihm als Zeitmasse, das Wirkliche hat das Mögliche von einst überspült […]. Er bereut, daß er saumselig war.« (1968: 30) Auch in Pauls Fall sind es vor allem die Versäumnisse, die er im Alter bereut. So kommentiert er im Dialog mit Pocke: »Du musst etwas riskieren, wenn du willst, dass es dir gut geht. Wenn du nicht nur zusehen willst« und antwortet auf Pockes Frage, woher er das wisse: »Weil ich die letzten zwanzig Jahre immer nur zugesehen habe. Oder nicht mal das. Ich habe einfach nur abgewartet. Dass irgendwann irgendwas passiert. Ich war ein Sack voller vergammelnder Träume, verstehst du? Und jetzt reicht’s mir!« (Schamoni 2014: 117) Angesichts der Irreversibilität des Vergangenen sucht Paul nun im Alter die Möglichkeit der Revolution und dabei greift er zu illegalen Mitteln.

5.

Aufbruch, Regelbruch, Einbruch: Paul als Spätkrimineller

»Ich habe nichts mehr, was ich verteidigen könnte. Ich könnte höchstens zulassen, dass man mich früher oder später in irgendeine Art Heim verfrachtet, wo auf niedrigstem Niveau für alles gesorgt wird. Aber so weit ist es noch nicht, da werd ich lieber kriminell.« (Schamoni 2014: 118) Mit dieser Aussage legitimiert Paul vor Pocke den Rückgriff auf unlautere Mittel. Ein kriminelles Potenzial tritt bereits zu Beginn seiner Reise zu Tage und nimmt im Laufe des Romans immer größere Dimensionen an. Schon der Start des Road Trips hat eine illegale Grundlage: Paul besitzt keinen Führerschein (Schamoni 2014: 45). Fortan ist eine Klimax seiner Delinquenz festzustellen, die mit dem Ignorieren roter Ampeln (Schamoni 2014: 57) beginnt und schließlich in den Banküberfall (Schamoni 2014: 157f.) mündet. Bereits kleinere Verkehrsdelikte rufen in Paul ein Gefühl der Lebendig- und Gesetzlosigkeit hervor: »Auch die nächste rote Ampel an einer Landstraßenkreuzung überfuhr er, dabei lachte er sich im Rückspiegel an.« (Schamoni 2014: 58) Unterstützt wird dieses Gefühl durch das ständige Mitführen seiner Pistole. So fragt er sich, als die Polizei neben ihm hält zwar: »Was würde er tun, wenn sie ihn anhielten?«, beantwortet sich diese Frage jedoch sogleich mit: »Im Handschuhfach lag die Pistole.«

»Ich war ein Sack voller vergammelnder Träume«

(Schamoni 2014: 56) Als Paul im nächsten Schritt tankt ohne zu bezahlen, bedeutet dieser Diebstahl eine Grenzüberschreitung, die für ihn mit einem substanziellen inneren Wandel einhergeht: »Ab jetzt würde alles anders sein, dachte er« (Schamoni 2014: 59). Dieser psychologische Sinneswandel schlägt sich kurz darauf in der Provokation der Heranwachsenden nieder, die Paul in der Gaststätte antrifft. Die Konfrontation fungiert hierbei als Gegenentwurf zu Pauls erster Begegnung mit mehreren Jugendlichen, die ihn kurz nach dem Wohnungsverlust mit dem Spruch »Yo, Opa, was geht ab, du Scheißfotze?« (Schamoni 2014: 27) provozierten. Während Paul bei dieser ersten Auseinandersetzung »mit gesenktem Kopf aus dem Weg« (Schamoni 2014: 27) ging, setzt er sich bei dem erneuten Konflikt mit Jugendlichen entschieden zur Wehr. Der Junge, der Paul im Gasthof mit den Worten provoziert: »So, Opa, jetzt heißt es: ausziehen!« (Schamoni 2014: 64), wird von Paul schließlich mit der Pistole bedroht und gezwungen, in den Teich zu steigen und nach seiner Mutter zu schreien (Schamoni 2014: 67). Diese Gegenwehr – Paul bezeichnet die Jugendlichen als »Gegner« (Schamoni 2014: 66) – lässt auch auf eine konfliktreiche Beziehung zur (eigenen) Jugend schließen. Der spätere Einbruch und der Banküberfall stellen die Höhepunkte der kriminellen Machenschaften Pauls dar. Der Einbruch in den Waffenladen und die anschließende Verfolgungsjagd lösen in ihm zunächst Glücksgefühle aus: Paul drückte das Gaspedal durch […], das berauschte ihn, und ohne eine Ahnung zu haben, wohin der Weg ihn führen würde, folgte er den Windungen und Kurven des Feldwegs […], etwas Elementares lag in der Situation, etwas, das ihn ganz ausfüllte und das er so schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er griff mit der rechten Hand zwischen die Waffen neben sich und überlegte, ob er stoppen und sich dem Kampf stellen sollte. (Schamoni 2014: 94f.) Dass die gestohlenen Waffen sich schließlich als Attrappen entpuppen, antizipiert hierbei bereits das zwangsläufige Scheitern seiner kriminellen Handlungen, was sich in seinem letzten Coup endgültig bestätigt. Auffällig ist hierbei, dass das Scheitern des Banküberfalls durch einen alten Mann ausgelöst wird. Der Mann im Fenster, der auf Paul und Pocke schießt, nimmt hierbei eine ambigue Funktion ein: Zum einen kann er als soziales Spiegelbild Pauls interpretiert werden: Nur kurz wischte Pauls Blick zurück und fiel auf die starren Augen eines Mannes in seinem Alter, der ihn beobachtete, ausdruckslos, unbeweglich und steif, blass und grau, der vielleicht […] stundenlang dort stand und die Straße beobachtete […], der sonst nichts mehr zu tun hatte, als immer nur zu starren, auf den immer gleichen Ausschnitt der Welt. (Schamoni 2014: 157) Auch dieser Alte ist von Altersarmut betroffen, da er nur eine »schmale Rente« (Schamoni 2014: 177) erhält und zurückgezogen lebt. Der fremde alte Mann kann als Figuration des Zeittotschlägers verstanden werden, den Paul bereits als Jugendlicher in seinem Tagebuch erfindet und den er in der Resignationsphase seines Lebens selbst verkörperte. Zum anderen fungiert der Mann ebenso wie das Rohr auf dem Schulhof als verbindendes Element zwischen Vergangenheit und Gegenwart, als Erinnerung, die sich in der Realität reflektiert. Als Paul den fremden Alten aufsucht, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen und seinen Namen erfährt, stellt er fest: »Franz. Noch ein Franz. Einer

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am Anfang, einer am Ende« (Schamoni 2014: 181), was ihn endgültig handlungsunfähig stimmt. Dass alte Figuren aufgrund ihrer sozialen Lage straffällig werden, ist ein Topos, der sich nicht nur bei Schamoni wiederfindet, sondern vor allem im Film immer wieder identifiziert werden kann. Als Beispiel kann hierfür die Komödie Going in Style (dt. Die Rentner-Gang, US 1979) dienen, die 2017 (dt. Abgang mit Stil, US) als Remake produziert wurde und von den drei Rentnern Joe, Willie und Al erzählt, die als Reaktion auf ihre Altersarmut einen Banküberfall planen: »Es ist ein stumpfsinniges Leben – als Joe beschließt, etwas Radikales zu machen, um die Monotonie zu unterbrechen: Warum nicht eine Bank ausrauben? Keiner der drei hat eine kriminelle Vergangenheit, aber allein die Planung erfüllt die drei mit Optimismus.« (Wulff 2015: 52) Ebenso wie in Fünf Löcher im Himmel werden hier also alte Männer gezeichnet, die aus zwei Gründen straffällig werden: um der finanziellen Misere zu entkommen und ein Abenteuer zu erleben, das den Aufbruch aus der Resignation bedeutet. Ein deutsches Pendant, das die drei Rentnerinnen Carla, Lilli und Meta in den Mittelpunkt stellt, ist der Spielfilm Jetzt oder nie – Zeit ist Geld (D 2000). Weil die Ersparnisse der drei Frauen geklaut werden, entschließen sich die Protagonistinnen in Anbetracht der ablaufenden Lebenszeit dazu, ihr Geld ebenfalls durch einen Banküberfall zurückzubekommen. Der Mut zur Kriminalität wird in Anbetracht der Kürze der eigenen verbleibenden Lebensdauer freigesetzt. Auch Earl, der neunzigjährige Protagonist von Clint Eastwoods Drama The Mule (US 2018) verfällt aus finanzieller Not der Kriminalität: Seine Lilienzucht geht insolvent, weswegen er den gefährlichen Job als Kurier für ein Drogenkartell annimmt. Ein Film, der die Alterskriminalität auf Grundlage einer wahren Begebenheit thematisiert ist King of Thieves (dt. Ein letzter Job, UK 2018). Erzählt wird die Geschichte einer Rentnergruppe, die einen Tresorraum in Londons Gold- und Juwelenviertel knackt. Im Gegensatz zu den anderen Protagonist*innen blickt diese Gruppe jedoch bereits auf eine kriminelle Vergangenheit zurück. Einen biographischen Hintergrund hat auch der Film The Old Man & the Gun (dt. Ein Gauner & Gentleman, US 2018), der den betagten Bankräuber Forrest Tucker in den Mittelpunkt stellt. In den Filmen werden sowohl alterskriminelle als auch spätkriminelle Protagonist*innen in den Mittelpunkt der Handlung gestellt. Während in der Kriminologie unter Alterskriminalität alle Straffälligen über 60 Jahren subsumiert werden, meint Spätkriminalität die über 60-jährigen Ersttäter*innen; hiernach falle die Spätkriminalität häufig in erster Linie mit veränderten Lebensbedingungen im Alter zusammen (Keßler 2005: 9). Vor diesem Hintergrund nimmt Paul eine gesonderte Rolle ein: Außer dem Besitz der Pistole deutet nichts darauf hin, dass er zuvor straffällig gewesen ist. Seine Delinquenz kann in diesem Sinne also als Spätkriminalität eingestuft werden. Dennoch stimmt diese Einstufung nicht mit seiner gesellschaftlichen Zuschreibung überein, schließlich wurde er als Jugendlicher für den Tod von Keil verantwortlich gemacht und musste sieben Jahre seines jungen Lebens unschuldig im Gefängnis verbringen. Das hat vermutlich gravierenden Einfluss auf seine Identität: Durch die Festnahme als vermeintlicher Mörder wurde er nicht nur während einer wichtigen Periode der persönlichen Entwicklung eingesperrt, sondern vor allem mit dem Stigma des Täters belastet. Vermutlich eilt Paul bei der Suche nach der »Wahrheit« nicht nur einer verlorenen Liebe nach, sondern ebenso dem Grund für seine ungerechte

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Verhaftung. Die Wahrheit offenbart sich ihm im letzten vermeintlichen Liebesbrief Katharinas, den er auf dem ehemaligen Schulhof findet. Das Rohr, das in seiner Jugend Postfach der geheimen Liebe zwischen ihm und Katharina war, wird nun zum wesentlichen Medium im Raum-Zeit-Kontinuum: Der letzte Brief von Katharina beinhaltet ihr Geständnis des Mordes an Franz Keil und somit den Beweis für Pauls Unschuld. Die unterschiedlichen Zeitebenen, die durch die Romanstruktur formal voneinander getrennt werden, werden so durch die inhaltliche Zusammenführung von Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden. Mit der Gewissheit über Katharinas Schuld an Franz’ Tod und der eigenen Schuld an Pockes Trauma erlischt für den Protagonisten die entwicklungsorientierte Perspektive eines letzten positiven Lebensabschnitts durch das Wiedersehen mit Katharina. Paul hat seine Wahrheit gefunden und beendet seine kurze kriminelle Karriere, ohne das ihm als 17-Jähriger auferlegte Stigma des Mörders zu erfüllen: Mit den fünf Patronenkugeln in seiner geladenen Pistole schießt er schließlich fünf Löcher in den Himmel, bevor er mit Pocke den Suizid begeht, den er bereits 50 Jahre zuvor in seinem Tagebuch andeutet: »Ich denke immer wieder daran, mich umzubringen, dann würden alle schon sehen, wie es wäre, wenn ich weg wäre.« (Schamoni 2014: 19, vgl. 91, H. i. O.) Sein Ende unterstreicht den tragischen Charakter dieses Romans eines Autors, der sonst vor allem für komödiantische Erzählungen bekannt ist.

6.

Schlussbemerkungen

Wesentlich für die im Roman vermittelten Altersbilder ist der Dualismus von Adoleszenz und Alter. Gerade durch den Kontrast zwischen der Erinnerung an die Jugend und der Bilanzierung des Lebens im Alter erscheint die verbleibende Lebenszeit als kurz, werden die äußeren Alterserscheinungen akzentuiert. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Wandel von Lebensumständen kein typisches Merkmal des Alters darstellt, sondern vielmehr als Konstante des Lebens gesehen werden muss. Der Vergleich mit seinem jungen Ich offenbart auch die charakterliche Kontinuität eines Individuums, jene Eigenschaften, die unabhängig vom Alter bestehen. Vielleicht stellt Paul die für ihn wichtigste Frage in seinem letzten Telefonat mit Katharina: »Ich habe mich beim Lesen des Tagebuchs die ganze Zeit gefragt, was ihr in mir gesehen habt. Du und Frau Zucker«, die Katharina so beantwortet: »Es war deine Verletzlichkeit. […] Du hast Schwäche gezeigt« (Schamoni 2014: 176). Als Antiheld reflektiert der junge Paul sein Außenseitertum, seine Unsicherheiten, seine Schwächen, Visionen und Zukunftsängste. Als alter Mann reflektiert er sein Leben im Hinblick auf gesellschaftliche Ideale und die eigene Endlichkeit und erfährt erst kurz vor seinem Tod, dass ihn gerade seine Sensibilität und der Mut zur Schwäche auszeichnen, den er durch das kriminelle Aufbegehren im Alter schließlich kompromittiert hat. Der »Mann mit dem hoffnungslosen Gesicht« (Schamoni 2014: 147) überprüft nach seinem letzten großen Scheitern das verbleibende Leben noch einmal auf seine restlichen Ressourcen hin und erachtet diese als nicht ausreichend für die Planung einer Zukunft.

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Quellenverzeichnis Filme Frau Ella (D 2013), Regie: Markus Goller. Going in Style (dt. Die Rentner-Gang, US 1979), Regie: Martin Brest. Going in Style (dt. Abgang mit Stil, US 2017), Regie: Zach Braff. Jetzt oder nie – Zeit ist Geld (D 2000), Regie: Lars Büchel. King of Thieves (dt. Ein letzter Job, UK 2018), Regie: James Marsh. The Leisure Seeker (dt. Das Leuchten der Erinnerung, F/I 2017), Regie: Paolo Virzì. The Mule (US 2018), Regie: Clint Eastwood. The Old Man & the Gun (dt. Ein Gauner & Gentleman, US 2018), Regie: David Lowery. Wer hat eigentlich die Liebe erfunden? (D/CH 2018), Regie: Kerstin Polte.

Primärtexte Améry, Jean: Über das Altern: Revolte und Resignation. Klett-Cotta: Stuttgart, 1968. Montaigne de, Michel: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Eichborn: Frankfurt a.M., 1998. Schamoni, Rocko: Fünf Löcher im Himmel. Piper: München, 2014.

Musik Schamoni, Rocko: Leben heißt sterben lernen. Auf: Ders.: Rocko Schamoni & Little Machine, Trikont, 2007. Schamoni, Rocko: Angela. Auf: Ders.: Die Vergessenen, Staatsakt, 2015. Schamoni, Rocko: Mark Hollis. Auf: Ders.: Musik für Jugendliche, Tapete Records, 2019a. Schamoni, Rocko: Die Freiheit, sie wird alt in deinen Haaren. Auf: Ders.: Musik für Jugendliche, Tapete Records, 2019b.

Sekundärliteratur Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. C. H. Beck: München, 2010. Butler, Robert N.: The Life Review: An Interpretation of Reminiscence in the Aged. In: Psychiatry 26 (1963), S. 65-76. Dahms, Christiane: Spiegelszenen in Literatur und Malerei. Synchron: Heidelberg, 2012. Habermas, Tilmann: Autobiographisches Erinnern. In: Sigrun-Heide Filipp/Ursula M. Staudinger (Hg.): Entwicklungspsychologie des mittleren und höheren Erwachsenenalters. Hogrefe: Göttingen, 2005, S. 683-713. Herwig, Henriette: Für eine neue Kultur der Integration des Alters. In: Dies. (Hg.): Merkwürdige Alte: Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s. transcript: Bielefeld, 2014, S. 7-33. Keßler, Isabel: Straffälligkeit im Alter: Erscheinungsformen und Ausmaße. LIT: Münster, 2005.

»Ich war ein Sack voller vergammelnder Träume«

Kühn, Thomas/Troschitz, Robert: Populärkultur und Wissenschaft. In: Dies. (Hg.): Populärkultur: Perspektiven und Analysen. transcript: Bielefeld, 2017, S. 9-16. Mahr, Christiane: Alter und Altern: Eine begriffliche Klärung mit Blick auf die gegenwärtige wissenschaftliche Debatte. transcript: Bielefeld, 2016. Neuhaus, Stefan: Die jungen Alten und die alten Jungen: Von der Relativität des Alter(n)s in der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Martin Hellström/Edgar Platen (Hg.): Alter und Altern: Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Iudicium: München, 2010, S. 38-52. Pott, Hans-Georg: Alter als kulturelle Konstruktion: Diskursanalytische und philosophisch-kritische Beobachtungen. In: Heiner Fangerau u.a. (Hg.): Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s. Akademie: Berlin, 2007, S. 153-163. Prinz, Wolfgang: Selbst im Spiegel: Kognitive Mechanismen und soziale Praktiken der Selbst- Konstitution. In: Josef Ehmer/Otfried Höfe (Hg.): Bilder des Alterns im Wandel: Historische, interkulturelle, theoretische und aktuelle Perspektiven. Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina: Halle, 2009, S. 117-137. Riedel, Annette: Pflegeprofessionelle Beratung älterer Menschen. In: Martina Hasseler u.a. (Hg.): Gerontologische Pflegeforschung: Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven für die Praxis. Kohlhammer: Stuttgart, 2013, S. 44-58. Ruhland, Renate: Sinnsuche und Sinnfindung im Alter als geragogische Herausforderung. LIT: Berlin/Münster, 2006. Schenk, Herrad: Vorhang auf für die neuen Alten! Vom allmählichen Wandel unseres kulturellen Altersbildes. In: Carolin Kollewe/Elmar Schenkel (Hg.): Alter: unbekannt: Über die Vielfalt des Älterwerdens: Internationale Perspektiven. transcript: Bielefeld, 2011, S. 27-39. Stemmann, Anna: Räume der Adoleszenz: Deutschsprachige Jugendliteratur der Gegenwart in topographischer Perspektive. Metzler: Frankfurt a.M., 2019. Virant, Špela: Road Novel: Zur gattungstheoretischen Begriffsbestimmung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 49 (2019), S. 633-651. Wulff, Hans J.: Alte Leute sind gefährlich: Sie haben nichts mehr zu verlieren! Alterskriminalität im Film. In: Medien & Altern 6 (2015), S. 49-63.

Internetquellen Hoch, Jenny: Ein Humorist macht Ernst. In: Die Zeit (09.10.2014). (26.02.2021, https:// www.zeit.de/2014/42/rocko-schamoni-fuenf-loecher-im-himmel). Müller, Andreas: Album Musik für Jugendliche: Rocko Schamoni auf den Spuren von Manfred Krug. (17.03.2021, https://www.deutschlandfunkkultur.de/album-musikfuer-jugendliche-rocko-schamoni-auf-den-spuren.2177.de.html?dram:article_id=4 57907). NDR-Kulturjournal: Rocko Schamoni schießt hoch hinaus. (26.02.2021, https://www.n dr.de/kultur/buch/der-norden-liest-rocko-schamoni,oldenburg936.html).

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Die Sprache des Alters: Zur altersspezifischen Semantisierung des Dialekts im Mundarthörspiel Matthias C. Hänselmann

Das Mundarthörspiel wurde nach 1970, als es immer stärker zu einer Abkehr vom sogenannten ›literarischen Hörspiel‹ kam, wiederholt als das eigentliche Hörspiel bezeichnet, denn »gerade weil der Dialekt wesentlich Sprechsprache ist und nicht Schriftsprache, steht er dem Hörspiel näher als irgendeiner anderen literarischen Gattung außer dem Schauspiel« (Schütt 1976: 6f.)1 , sodass das Hörspiel nach essenzialistischer Auffassung seinem Charakter eines fingierten Figurendialogs immer dann am besten gerecht wird, wenn es sich an der gesprochenen, idiomatisch eingefärbten oder ganz mundartlichen Sprache orientiert. Obwohl hier die »Mundart direkte Aussage über Zeitgenossen ebenso wie direkteren Zugang zum Zeitgenossen« (Schiler 1971: 49)2 ermöglicht, war und ist die allgemeine Beachtung, die dem Dialekthörspiel geschenkt wurde und wird, verhältnismäßig gering3 und gleichzeitig sind die Vorbehalte ihm gegenüber relativ groß. Dabei hat es sich in seiner inzwischen gut 90-jährigen Geschichte im deutschsprachigen Sendegebiet äußerst wandlungs- und entwicklungsfähig gezeigt. Immer neue Formen der narrativen, semiotischen, argumentativen, sprachkritischen u.a. Zweckbestimmung des Dialekts wurden ausgebildet und verschiedene Prinzipien etablierten sich, nach denen sich die regional-sozial spezifischen Sprachmuster der

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Vgl. entsprechend auch Karst (1984: 284): »Erst das Gesprochene macht die Mundart zur Mundart, so jedenfalls will es das Wort. Gleiches gilt für das Medium Radio und dessen ›originäre‹ Kunstform, das Hörspiel. In diesen Voraussetzungen finden Mundart und Hörfunk beinahe ideal zusammen«. Vgl. auch die Einschätzung von Schütt (1977: 34): »Aber die Entwicklung scheint langfristig dahin zu gehen, das Dialekthörspiel nicht so sehr als selbständige Gattung zu verstehen, sondern den Dialekt als alltägliche sprachliche Erscheinung auch im Hörspiel zu verwenden.« Vgl. Karst (1984: 265): »Nicht nur in den breitangelegten Theorien […], sondern auch in den gelegentlichen Artikeln der Tageszeitungen und Zeitschriften zum ›Wesen des Funks‹ oder des Hörspiels erfährt Mundart keine Erwähnung. (Dies gilt bis heute; in den vorliegenden hörspielgeschichtlichen Publikationen tritt Mundart allenfalls als Fußnote der Chronisten auf, nicht aber als Gegenstand eigener Überlegungen.)«

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diversen Mundarten, die auf phonologischer, morphologischer, lexikalischer und syntaktischer Ebene von der Standardsprache abweichen, zur Bedeutungserzeugung in der radiophonen Kunst verwenden lassen.4 In diesem Beitrag soll hinführend ein kurzer Überblick über die wichtigsten Formen der Funktionalisierung des Dialekts im Hörspiel gegeben werden, ehe – unter Bezugnahme auf die Möglichkeit der (stereotypischen) Semantisierung der (dialektalen) Sprache – ein verhältnismäßig junges Phänomen in den Blick genommen wird, nämlich die Korrelation von ›hohem Alter‹ und ›dialektaler Ausdrucksweise‹, das abschließend in einer knappen Studie anhand zweier Mundarthörspiele beispielhaft veranschaulicht wird.

1.

Funktionen des Dialekts im Hörspiel

Die gezielte Verwendung eines Dialekts oder auch von idiomatischen Spracheinfärbungen als semantisch relevante Differenzkategorie im Hörspiel gibt es bereits relativ lange. Schon 1930 wurde etwa bei der Umsetzung von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz unter dem Titel Die Geschichte vom Franz Biberkopf durch die Reichs-RundfunkGesellschaft ein Hauptinteresse auf die Figurcharakterisierung durch unterschiedliche dialektale Einschläge und milieuspezifische Sprechweisen gelegt. Schon hier findet sich damit das späterhin häufig genutzte Verfahren, Figuren akustisch durch ihre dia- bzw. soziolektale Ausdrucksweise einem bestimmten regionalen Raum und/oder einer bestimmten sozialen Schicht zuzuordnen, wobei zudem eine sprachideologische Konzeption der Mundart durch ihre Verknüpfung mit den Aspekten von Ursprünglichkeit, Originalität und Authentizität im Hintergrund erkennbar ist.5 Für die Mundart war das Hörspiel Vehikel heimatlicher und sprachpflegerischer Belange, für das Hörspiel und den Rundfunk wiederum Mundart Vehikel der Demonstration von Bodenständigkeit, Volksnähe und Regionalbezug. Statt Anlaß und Gegenstand programmatischer ästhetischer Auseinandersetzungen zu sein, war Dialekt unmittelbar oder indirekt Grundlage einer Diskussion um das Verhältnis von […] Region und Nation. (Karst 1984: 266) Dieses Prinzip wurde während des Zweiten Weltkriegs in propagandistischer Form radikalisiert und für die Blut-und-Boden-Ideologie des NS-Regimes instrumentalisiert, indem etwa in Hans Ehrkes niederdeutschem Hörspiel Batalljon 18 zum »Aufzeigen des

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Dabei betonte schon Schiler (1971: 50), dass sich die »Sprache des Mundarthörspiels […] nicht an einem bestimmten lokalen Dialekt [orientiert], noch legt sie philologische Maßstäbe an eine angeblich reine und unverfälschte Mundart. Sie muß allgemein verständlich, konkret und anschaulich sein«, »die Mundart kann, ja muß von Stück zu Stück und innerhalb eines Stückes je nach Autor, Raum und Umwelt, nach Alter, Herkunft und sozialer Stellung der einzelnen Rollen sehr stark variieren«. Zum Prinzip des ›fremden Wortes‹ schon Lotman (1975: 98): »Unverständliche Wörter werden von uns als Zeugnis der Originalität der Wiedergabe fremden Lebens wahrgenommen, sie übertragen das Kolorit dieses fremden Lebens.«

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›Deutschen Wesens in seiner unalltäglichen Alltäglichkeit‹ selbst angesichts des Krieges […] dem Dialekt […] eine politische Funktion [zugewiesen wurde], die sie in der Geschichte der Dialektliteratur, und hier speziell des Dialekthörspiels, eben auch hat« (Döhl 1992: 17f.).6 Im Großen und Ganzen erhielt das Mundarthörspiel dabei jedoch keine neuen Impulse – im Gegenteil stand es durch seine Tendenz einer (sprachlich bedingten) Partikularisierung den nationalsozialistischen Bestrebungen zur zentralistischen Machtkonzentration und zur »Gleichschaltung« in letzter Hinsicht sogar im Weg (vgl. Karst 1984: 268 und 274). In der direkten Nachkriegszeit, in der eine grundsätzliche Distanzhaltung gegenüber den völkisch instrumentalisierten Vorläufern (Karst 1984: 296)7 bzw. den rein amüsierenden Ausprägungen des Mundartstücks vorherrschte und ein definitiver »(Neu)Anfang« (Karst 1984: 295) gemacht werden musste, dominierten vor allem Dialekthörspielserien (vgl. Schütt 1977: 19-33; Krug 2008: 68), die weiterhin meist klar unterhaltungsorientiert8 waren und den Gebrauch von Mundarten primär zur Figuren- und Milieucharakterisierung sowie zur Schaffung eines bestimmten Lokalkolorits nutzten. Das dabei erzeugte und gepflegte Konstrukt einer nostalgischverklärten, im Grunde weltfremden Alltagswelt wurde jedoch allmählich seit den 1960er-Jahren einer zunehmenden Kritik unterzogen, wobei für die Integration zeitgemäßer Themen, durchaus auch aus dem Bereich von science fiction, plädiert wurde. So erhob beispielsweise Kurt Marti bereits 1964 seine Stimme gegen diese Form der stereotypisch erstarrten, »verkitschten« Hörspielgestaltung und trat für die Umsetzung moderner oder auch postmoderner Erzählungen ein, denn eine »solche Thematik wäre gewiss aktueller als die ›Wäckerli-Welt‹ eines Schweizer Dorfpolizisten und jene selbstgefällige Bodenständigkeit, die sich ›volkstümlich‹ gibt und das Volk doch nur mit einem falschen Selbstbildnis betrügt« (Marti 2010: 25).9 Seither wird immer wieder »der nur klischeehafte ›vertraute‹ Klang einer bäuerlich idyllischen Scheinwelt« (Bühren 2001: 221; vgl. Schiler 1971: 49f.) manchen Dialekthörspiels moniert. Spätestens mit den medienrevolutionären Bestrebungen seit Ende der 1960er-Jahre, in denen das Interesse an unkonventionellen, unverbrauchten oder auch nur in Bezug auf die traditionelle Hörspielpraxis ungewöhnlichen Ausdrucksformen mit der Hochschätzung für den O-Ton im Umfeld des sogenannten Neuen Hörspiels koinzidierte,10

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Vgl. zum betreffenden Hörspiel auch Döhl (1992: 13-18, 118f.), Hörburger (1975: 210-212), Bichel (1983: 469f.) und die besonderen Ausführungen zum Dialekthörspiel während der NS-Zeit in Schütt (1977: 16-19) und Karst (1984: 252-278). Allerdings lässt sich nach Bühren (2001: 220f.) ein grundsätzlicher Fortbestand entsprechender bzw. verwandter Ideologie zumindest noch im plattdeutschen Hörspiel der Nachkriegszeit feststellen. Nach Schiler (1971: 50) »versteht [es] sich von selbst, daß Mundarthörspiel primär Unterhaltungsfunktion hat«, auch wenn er betont, dass es dennoch auch »zum Nachdenken, zum Revidieren von Denk- und Verhaltensklischees anregt (und das muß es!)«. Marti spielt hier auf die von Arthur Welti 1949/50 in 16 Folgen für den SRF produzierte Hörspielserie um den Schweizer Dorfpolizisten Gottfried Wäckerli an. Entsprechend forderte auch Schiler (1971: 50), »der Stoff des Mundartspiels muß heutiger Umwelt entsprechen«. Schütt (1977: 33f.) etwa stellte die Glaubwürdigkeit der Darstellung regionalspezifischer sozialer Probleme unter Einbezug dialektaler O-Töne in den Vordergrund.

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kam es teilweise zu einer stärkeren Hinwendung zum Dialekt.11 Nicht nur anfangs wurden die Anwendung der Verfahren und die Ausweitung der Ambitionen des Neuen Hörspiels auf das Mundarthörspiel jedoch durchaus noch problematisch gesehen, da befürchtet wurde, dass dadurch »für das Dialekthörspiel sicher eine Abnahme der Hörerzahlen die Folge wäre« (Fluck 1983: 1658; vgl. Bühren 2001: 223).12 Der Anreiz, dem traditionellen »literarischen« Hörspiel durch die »Abwendung von der Perfektion und Geschlossenheit des künstlerischen Produkts, die Hinwendung zum Alltäglichen« (Vowinckel 1995: 218), ein Pendant mit sprechtechnisch unverbildeten Stimmen entgegenzusetzen und »mit dem literarisch verhältnismäßig unverbrauchten Sprachklang zu experimentieren und zu spielen« (Schütt 1977: 32), führte gleichwohl zu einer gewissen Verstärkung von dialektalen und umgangssprachlichen Zügen im Neuen Hörspiel. Gerade der klar politische, teils agitatorische Impetus des Neuen Hörspiels bewirkte zugleich eine grundsätzliche Transformation bzw. – da auch die Linie des traditionellen Mundarthörspiels weitergeführt wurde – Erweiterung des bisherigen radiophonen Dialektgebrauchs, da nun auch Themen mit zeit- und gesellschaftskritischem Akzent [in den] Vordergrund dieser neueren Dialekthörspielproduktion [gerieten]. Sie orientiert sich am dialektalen Original-Hörspiel, das sich im Dialekt auf spezifische Möglichkeiten der Sprache berufen kann. Diese Sprache erscheint in einer Vielzahl von Beziehungen und Nutzungsmöglichkeiten, wird auch thematisch motiviert und kann sich darauf stützen, daß Dialekt primär eine mündliche Äußerungsform, also ›gesprochene Sprache‹ ist (Fluck 1983: 1658). Entsprechend wurde zunächst auch der dem Dialekt zuschreibbare Charakter des Unverstellten und seine scheinbare Fähigkeit, die »alltägliche Wirklichkeit, die spürbare Authentizität« (Šebestová 2008: 125) zu generieren, gegenüber der als buchstabensteif empfundenen Hochsprache bevorzugt. Die Funktionen, zu denen im Weiteren Mundartliches im Hörspiel eingesetzt wurde, differenzierten sich jedoch alsbald erheblich aus. Neben die Aktualisierung von latent gegebenen Sondersemantisierungen bestimmter Dialekte – Bayerisch für »Gemütlichkeit«, Berner »Behäbigkeit«, der »Frohsinn« des Kölschen (Karst 1984: 308), Sächsisch als »der schlimmste aller deutschen Dialekte« (Siebenhaar 2011: 91) u.a. – und die daran geknüpfte Möglichkeit der emotionalen Rezeptionslenkung13 trat der auf Alltagskonversationen gestützte Versuch, über den Dialekt verschiedene soziale Schichten heraus zu präparieren.14 Zudem lassen sich

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Vgl. etwa Feinäugle (1975: 51; Kleinschreibung im Original): »Dass die tendenz zum dokumentarischen, zum realistischen wirklichkeitsausschnitt auch im ›neuen hörspiel‹ zur einbeziehung umgangssprachlicher und dialektaler elemente führt, sei nur erwähnt.« Dagegen konnte schon Schiler (1971: 49) belegen, dass das »Mundarthörspiel […] einen altersmäßig und soziologisch sehr breit gefächerten, relativ großen Hörerkreis erreicht, keinesfalls nur ›heimatliebende‹, ›ländliche‹, ›immobile‹ oder ›überalterte‹ Minderheiten«. So erwähnt Feinäugle (1975: 50; Kleinschreibung im Original) die Möglichkeit, »sympathie oder ablehnung mit der sprache der jeweiligen person zu verknüpfen«. Vgl. Lermen (1983: 228) mit Bezug auf die Dialektverwendung in den Hörspielen von Ludwig Harig.

Die Sprache des Alters

durch den Mundartgebrauch sprachpsychologische Akzentuierungen vornehmen,15 es kann die Wirkungsweise ganz konkreter, realer Machtstrukturen in einem bestimmten ländlichen Raum aufgezeigt werden16 oder es wird – auf Basis der Dichotomie von Dialekt und dem als »Amtssprache« fungierenden Hochdeutsch – ein Spiel getrieben mit den an die jeweilige Sprachvariante gekoppelten Konzepten, Konstrukten, Handlungsnormen und Erwartungshaltungen sozialer Rollen (vgl. Gethmann 1974: 277). »Mundart und Hochsprache […] als Repräsentanten gegensätzlicher kulturell-politischer Positionen« (Keckeis 1973: 63)17 können zudem – an unterschiedliche Figuren geknüpft – quasi personifiziert und in dieser Form gegeneinander verhandelt werden.18 Nach demselben Prinzip lassen sich jedoch nicht nur Figurengruppen voneinander absetzen, sondern auch Funktionsweisen von sprachinduzierten Ausgrenzungsmechanismen darstellen und narrativ analysieren. Das Hörspiel mit seinem Primat des Akustischen ermöglicht es so, die Konzentration auf den gewaltsamen Aspekt der Sprache zu lenken, wobei gerade der Dialekt als Mittel verwendet werden kann, um Fremd- und Feindbilder zu konstruieren und besonders auch die »Rolle des Außenseiters […], der einen anderen Dialekt spricht, andere Lebensgewohnheiten hat, andere Ansprüche an das Leben stellt als die Einheimischen« (Lermen 1983: 237, H. i. O.). Das Bemühen um eine sprachpolitische Kritik an der phrasenhaften, diskriminierenden oder subtil gewaltsamen Umgangssprache lenkte das Interesse der Hörspielschaffenden auch auf diesen Aspekt ihrer Arbeit,19 wobei der Dialekt mitunter sogar als »eine Form von Sprachlosigkeit«20 eingesetzt und speziell die unterstellte Ausdrucksarmut der Mundart in den Vordergrund getrieben wurde. Zuletzt wurden das Diktum, die Aura und das Selbstverständnis vorgeblich dialektaler Authentizität selbst in Frage gestellt, parodiert und dekon-

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»Bei einem Hörspiel über ausländische Arbeiter ist die Möglichkeit, die besondere Aussprache und Sprachgestik der zu Worte kommenden Personen wiederzugeben, nicht unwichtig. Nicht nur bekommt das Stück eine größere Plastizität und Farbigkeit, eine größere Un-mittelbarkeit [sic!], sondern an bestimmten Charakteristika der Sprache und Aussprache läßt sich Inhaltliches aufzeigen. Das gilt […] auch für die Deutschen, und dabei nicht nur für bestimmte Wörter, Floskeln oder Sprachmuster […], sondern auch für die Dialektfärbung. Die Tatsache, daß der eine Deutsche, der eindringlicher als andere gegen alles zu Felde zieht, was ihm fremd ist, gegen Ausländer, Kommunisten, Juden, Neger und den Teufel selbst, sächsisch spricht, läßt ihn als einen ›Vertriebenen‹ erkennen, als jemanden, der aus einer neuen Realität, in der er sich nicht heimisch fühlte, geflohen ist. Er liefert mit dem, was er sagt, schon allein durch die Art, wie er es sagt, die Begründung, warum er es sagt.« (Lombardi/Dicks 1974: 65). Dies geschieht etwa in Mitwicker Land von J. Monika Walther (vgl. Bühren 2001: 226f.). Die zitierte Äußerung bezieht sich auf das von Rainer Werner Fassbinder nach dem Text von Johann Wolfgang von Goethe inszenierte Hörspiel Iphigenie auf Tauris. Vgl. Huwiler (2005: 176), die darauf hinweist, dass häufig »die dialektalen Unterschiede […] im Hörspiel gerade eine zusätzliche Bedeutungsfunktion zur Unterscheidung der klassenspezifischen Zugehörigkeit der Figuren übernehmen«. Auch nach Koller (2007: 376) dient mitunter der Dialekt im »Hörspiel zur soziokulturellen Verortung und ist Klassensprache«. »Mit unterschiedlicher Absicht werden auch Mundart und Umgangssprache in neue Hörspiele einbezogen. Diese Sprachsorten stehen für eine andere kulturell-politische Position oder üben Kritik an der floskelhaften Sprache des Alltags.« (Lermen 1983: 323). Schütt (1977: 32f.) mit Bezug auf Bernd Schroeders Hannes – oder: Mann blifft Mann.

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struiert.21 So findet sich ein parodistisch gebrauchter Fantasiedialekt, der sich an der österreichischen Mundart orientiert, schon zentral in Gert Jonkes Damals vor Graz.22 Nicht parodistisch, sondern im Bemühen, durch einen aus jiddischen und schlesischen Elementen konstruierten Kunstdialekt einen sprachlichen Zugang und eine Ausdrucksmöglichkeit zu finden für die Reflexion über den eigenen, als Soldat im Zweiten Weltkrieg umgekommenen Vater, verwendete Walter Kempowski 1980 in Moin Vaddr läbt das Dialektale und machte dabei auch auf die (unzuverlässigen) Zusammenhänge von Sprache, Realität und Erinnerung aufmerksam. Besonders Elfriede Jelinek funktionalisiert dagegen bis heute den Widerspruch zwischen einem authentischen Dialekt und seiner künstlichen bzw. falschen, fehlerhaften Aussprache und macht dadurch einerseits »das angeblich Ursprüngliche als das Künstliche deutlich«, denn der »Dialekt verliert [auf diese Weise] die mit ihm gemeinhin assoziierte Ursprünglichkeit und Natürlichkeit. Er klingt so, als würde ein Norddeutscher bayerische Mundartdichtung vortragen«; und sie zeigt andererseits auch, »wie sich diese mit dem Etikett ›natürlich‹ markierte Sprache besonders gut als Transportmittel für rechte Ideologie anbietet« (Koller 2007: 377, 379 und 380).

2.

Die (stereotypische) Semantisierung der Sprache

An diesem kurzen Überblick über gängige Zweckbestimmungen und -verwendungen der Mundart im Hörspiel dürfte Folgendes klar geworden sein: Wo immer Dialekt eingesetzt wird, ergibt sich zwangsläufig ein Moment der Differenz, da jeder Dialekt – je nach Bewertungshaltung – als Abweichung, Variante oder Verstoß gegen das im Hintergrund stehende standardsprachliche System gesehen werden kann und damit – je nach der Selbstpositionierung des Hörspielschaffenden innerhalb dieser Demarkationen – als »das Eigene« bzw. als »das Andere« erscheint. Wo es Differenzen gibt, können diese durch die Applikation weiterer semantischer Kategorien zu weltbildprägenden, wertetragenden Dichotomien ausgebaut werden, anhand derer sich die dargestellte Welt einer Erzählung narrativ strukturieren lässt. Selbst wenn die Vorstellung einer unmittelbaren, natürlichen, authentischen Ausdrucksmöglichkeit durch die (Selbst-)Aussprache in einer bestimmten Mundart inzwischen problematisiert und zum Teil auch als ideologisches Konstrukt in und durch das Hörspiel offengelegt wurde, bestimmt diese Auffassung den Einsatz und die Zweckbestimmung von Dialekten im Hörfunk nach wie vor.23 Diese Sichtweise findet ihren Niederschlag auch in entsprechenden Rezeptionsmustern, die von der Mundartverwendung rückschließen auf das (scheinbar) »authentische Erlebnis (das mundartliche Dia21

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Aufgrund der Bestrebung zur Standardisierung des Dialekts im Dienst breiterer Rezipierbarkeit hatten sich Mundartsendungen ohnehin per se wiederholt mit der Kritik auseinanderzusetzen, sie seien »unecht« (vgl. Karst 1984: 294-303). Zu diesem Stück vgl. Bräutigam (2005: 92). Zum Verständnis von Dialektfärbung als Authentizitätsmerkmal siehe etwa den Hinweis von Härtel/Kaspar (2004: 143), dass »die Programmreformen der BBC, von WDR 3 oder dem Deutschlandradio Berlin als zentrale Punkte Stimmen-Castings, in denen ›Authentizität‹, Dialektfärbung und Natürlichkeit gesucht werden«, beinhalteten.

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lektsprechen […] betont den Realismus)« (Bräutigam 2005: 183)24 . Auf Basis einer Differenzierung zwischen Dialekt und Standardsprache erfolgt also – bewusst oder unbewusst – ein Rückgriff auf Sprachstereotype, die sich zu semantischen Paradigmen organisieren und im narrativen Zusammenhang eines Hörspiels für die Ausbildung bestimmter Argumentationslinien verwenden lassen. Der Gebrauch einer Mundart ist schon durch den kontextuellen (standardsprachlichen) Rahmen des regulären Programms im Radio immer markiert. Dazu tritt innerhalb eines Hörspiels die bereits angesprochene Möglichkeit, durch eine unterschiedliche idiomatische Behandlung der Figuren den Dialekt als Markierung zu verwenden. Als markierter und insofern auffälliger Aspekt hat Mundart daher das Potenzial, als Differenzkriterium funktionalisiert zu werden, und sie kann durch eine zusätzliche spezifische Semantisierung etwa der dialektsprechenden Figur zu einem semantischen Paradigma erweitert werden. Um dieses Textverfahren möglichst schlüssig und verständlich zu organisieren, wird meist auf gängige Mundartstereotype zurückgegriffen (vgl. auch Hänselmann 2020: 345-353). Dialekt erscheint unter diesem verallgemeinernden Blickwinkel als konkrete, nicht an Regelzwang gebundene, intime, ungebildete Sprache. Ein Dialektautor kann sich dieser Stereotypen bedienen (Parallelisierung), etwa indem er in der Bauernsprache vom bäuerlichen Dorfleben handelt, oder er kann gegen sie verstossen (Abweichung), etwa indem er ein philosophisches Gedicht im Dialekt oder konkrete Dialektlyrik schreibt. Obwohl die Abweichung das ästhetisch wirksamere Verfahren ist, halten fast alle Theoretiker die Parallelisierung für die einzig zulässige Technik literarischer Dialektverwendung. (Schmid-Cadalbert 2007: 347) An die rein dialektsprachbezogenen Stereotype gliedern sich gemeinhin dialektliteraturspezifische an, die einerseits besonders narrative Klischees wie etwa die Figurentypen bzw. Typenfiguren, die Handlungswelt, den Problemkreis u.a. betreffen und andererseits auch abstrakt-semantische Kategorien umfassen wie die »Kunstlosigkeit und Einfachheit«, den »frische[n] Zug nach Natur und Natürlichkeit«, den »Reiz des heimatlichen Erdgeruchs, des Jugendlandkräftigen« (Heer 1889: 2, 3 und 9)25 und damit auch Konzepte wie Ursprünglichkeit, Tradition, Konservierung sowie seit einiger Zeit: Alter. All die genannten Aspekte verbinden sich meist zu einem stereotyp-semantischen Cluster, das es ermöglicht, komplexe ideologische Argumentationsstrukturen ökonomischdicht zu halten, indem es genügt, allein ein Konzept aus dem Gesamtparadigma anzuführen und zu explizieren, um dieses Paradigma als Ganzes latent wachzurufen.

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Mit Bezug auf Peter Steinbachs Hell genug – und trotzdem stockfinster. Neben der Funktionalisierung der durchweg positiven Zuschreibungen an den Dialekt, die in diesem Zusammenhang im Vordergrund stehen, ist es natürlich auch möglich, traditionell pejorative Dialektsemantisierungen zu nutzen, etwa zur Charakterisierung des ungebildeten (Bauern-)Tölpels wie es bspw. Huwiler (2005: 274) in Wolfgang Hildesheimers Das Atelierfest an der Figur des dialektsprechenden Glasers feststellt.

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3.

Die Verknüpfung von Dialekt und Alter

Während die meisten der genannten Zuschreibungen an die Mundart(dichtung) bereits seit mehreren Jahrhunderten geläufig sind, ist die Verknüpfung von Dialekt und Alter relativ jung. Zwar ist diese Verbindung an sich schon im Konzept der »Urwüchsigkeit« und etwa dem Umstand, dass »der (heute feststellbare) Dialekt älter als die Standardsprache« (Stellmacher 2016: 436) ist, grundgelegt; sie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aber deutlich schärfer konturiert durch die Entwicklung, dass die Mundarten bei der heutigen jungen Generation tendenziell aus dem Gebrauch kommen. Schon Jochen Schütt bemerkte als »unübersehbares Kennzeichen des Dialekts […], daß er in höherem Maße von älteren als von jüngeren Menschen verwendet wird« (Schütt 1977: 3)26 , woraus sich in den vergangenen Jahren im Hörspiel die besagte spezifische Zuordnung des Dialekts zu alten Figuren und eine entsprechende altersbezogene Semantisierung und Funktionalisierung etabliert hat. So findet sich im Bereich aktueller dialektaler Hörspiele ein semantischer Nexus zwischen den Paradigmen »Alter, Mundartsprechen und Werteverkörperung« gegenüber »Jugend, standardsprachlichem Sprechen und Wertevergessenheit«, der in verschiedenen narrativen Hörspielen auf ähnliche Weise zur Bedeutungserzeugung eingesetzt wird. Zentral ist dabei, dass einerseits Figuren, die in betreffenden Hörspielen durch eine dialektale Sprechweise charakterisiert sind, oft im doppelten Sinne eher »konservative« Ideen wie beispielsweise Bodenständigkeit, Heimat- und Naturverbundenheit vertreten, dass diese Figuren andererseits aber samt ihrer positiven Semantik durch den Dialekt gleichzeitig als einer »guten alten Zeit« entstammend sowie als »alt« gekennzeichnet werden, wodurch letztlich eine auch sprachlich getragene Kritik an der vergangenheitsvergessenen Gegenwart kommuniziert wird. Alter wird in diesen dialektalen Hörspielen so zu einem zugleich positiven wie tragischen Moment – eine Semantisierung, die in dieser Konstellation eine gewisse Besonderheit für das Medium des Hörspiels darstellt. Der beschriebene Komplex soll im Folgenden beispielhaft an einem reinen Dialekthörspiel aus dem Jahr 2018 und an einem sprachhybriden Hörspiel

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»Insgesamt kann die ältere Informantengeneration hinsichtlich ihrer Dialektkompetenz und ihres Sprachverhaltens als dialektkompetenter bzw. dialektaler eingestuft werden als die jüngere Generation. Dialektale Wandelprozesse, die sich in der älteren Generation nur in Ansätzen zeigen, liegen in der jüngeren Generation ausgeprägter vor. Ebenso können aus den Sprachdaten altersspezifische Aspekte der Standardsprachkompetenzen und der standardsprachlichen Normorientierung abgeleitet werden. Es ist die jüngere Generation, die insgesamt gesehen standardkonformeres Sprachverhalten zeigt und ein ausgeprägteres Wissen um die standardsprachliche Norm offen legt.« (Lenz 2003: 182) – Auch wenn Berroth (2001: 208) allgemein dafür plädiert, »zu einer neuen, nicht-statischen Definition von Dialekt zu gelangen, die der Dynamik der Sprachform Rechnung trägt und die Charakteristika der Variabilität und des Wandels miteinbezieht«, wobei sie hierunter auch die Aufnahme neuer Begriffe versteht, muss auch sie bezüglich der jüngeren Mundartsprecher »die starke Variabilität ihrer Sprache und den Unterschied zur Sprechweise der älteren Generation« und deren – wenn man sie statisch betrachtet – »gültige Dialektnorm« (2001: 203) konstatieren, wobei sie gleichzeitig bemerkt, dass der jüngeren Generation bis 30 Jahre nur noch die Hälfte des Dialektwortschatzes der älteren Generation für Mitteilung zur Verfügung steht (vgl. 2001: 195).

Die Sprache des Alters

von 2019, in dem dialektale neben standardsprachlichen Aspekten stehen, aufgezeigt werden.

4.

Felix Mitterer: Märzengrund (ORF 2018)

Das 2018 vom Österreichischen Rundfunk produzierte Hörspiel Märzengrund ist eine unter der Regie von Martin Sailer entstandene radiophone Umsetzung des gleichnamigen Theaterstücks von Felix Mitterer. In der Mundart des Zillertals behandelt es die reale Geschichte von Simon »Siml« Koch, der im Hörspiel den Namen Elias trägt und seit seiner frühen Kindheit durch seine offenbare Hochbegabung auffiel. Elias ist als zweites Kind neben seiner Schwester Erika und als einziger männlicher Nachkomme zum Erben des väterlichen Hofs ausersehen und besucht als Klassenbester unter anderem die Volksschule und die anschließenden landwirtschaftlichen Fachschulen. Nach zwei Jahren in der Fachschule Rotholz wird Elias jedoch depressiv – eventuell auch infolge seiner unglücklichen Liebe zur »Moid« (= Maria), zu der ihm der Kontakt von seiner Mutter verwehrt wird – und nachhause geschickt, wo er alsbald einen Suizidversuch unternimmt. Auf die Nachfrage seiner Schwester, was mit ihm los sei, antwortet er »I mag in der Welt nimmer leben. […] I mag mi nit abrichten lassen« (Mitterer 2018: 4f.). Daraufhin wird Elias zur – methodisch fragwürdigen und letztlich erfolglosen – psychiatrischen Behandlung nach Innsbruck geschickt, jedoch in nach wie vor schlechtem Gemütszustand wieder nachhause geholt, wo er sich ausbittet, auf die elterliche Hochalm im Märzengrund in den Zillertaler Alpen ziehen zu dürfen. An diesem zwanglosen Ort mitten in der Natur, den er seit der Kindheit kennt, bessert sich seine Verfassung rasch. Im Gegensatz zu seiner Schwester Erika, die sich klar der Dorfgemeinschaft, der damit verknüpften Zivilisation und den Menschen insgesamt zuordnet und in der Natur vor allem die gefährlichen Aspekte (Kreuzottern, Füchse, Gewitter u.a.) fürchtet, schätzt Elias besonders die Freiheit, die ihm das Leben in der hochalpinen Abgeschiedenheit bietet. Auch fürchtet und vermisst er dort nichts – im Gegenteil scheinen ihn die Kühe und Ziegen zu begrüßen und er kann die Rufe der Wildtiere (Murmeltiere, Steinadler u.a.) so gut nachahmen, dass diese zu ihm in Beziehung treten, bald seine Nähe suchen und schließlich friedlich mit ihm koexistieren. Seine Rückkehr in den Märzengrund beschreibt Elias entsprechend als Weg aus »der Höll in’ Himmel auffi, ins Paradies« (Mitterer 2018: 6). Zur Verbitterung seines Vaters, der in der Folge den Kontakt zu ihm abbricht, entscheidet sich Elias, das Hoferbe auszuschlagen, um ganz allein im Märzengrund zu leben, wo ihn, da er im Grunde nichts mehr benötigt und im Einklang mit der Natur lebt, auch seine Mutter und seine Schwester kaum noch aufsuchen. Nur ab und zu wird er von seinem Onkel Hubert besucht, der Jäger ist und ihm im Winter gelegentlich Vorräte bringt. Auch nach 28 Jahren Aufenthalt in der Einsamkeit auf dem Berg und selbst, als sein Vater sich erhängt hat, steigt Elias nicht hinab ins Tal. In seltenen Gesprächen vor allem mit seiner Mutter, die manchmal zu ihm hinaufkommt, offenbart er seine Gründe mit den Vorbehalten, die er gegenüber der modernen Gesellschaft hegt, deren Mitglieder eine solide Beziehung sowohl zur Heimat als auch zur Natur verloren haben, die die Natur und traditionellen Landwirtschaftsbe-

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triebe industriell ausbeutet und die von aggressivem Besitzstreben und kapitalistischer Gewinnmaximierung geprägt ist. Der Märzengrund ist für ihn Rückzugsort vor einer von sich selbst und der Natur entfremdeten Menschheit27 – und zugleich Utopie. Rehe, Füchse, Vögel, Hasen, sogar Eichhörnchen und Ringelnattern kann er sich vertraut machen und als er ähnliche »kriegerische« Auseinandersetzungen, wie er sie von den Menschen her kennt, zwischen verschiedenen Ameisenvölkern beobachtet, versucht Elias nach gleichsam romantischem Vorbild,28 seine Vorstellung vom Paradies auch in der Natur umzusetzen und etwa Tierfrieden zwischen dem zahmen Fuchs und der zahmen Ringelnatter in seiner Hütte zu stiften. Dabei steht der gealterte Elias mit seinen Wertvorstellungen durchaus im Einklang mit jenen seiner Mutter, die ebenfalls so etwas wie die »ältere Generation« repräsentiert. Mit ihr verwundert er sich über den achtlosen pervertierten Umgang der Menschen mit der Natur29 und stimmt mit ihr auch in der Ansicht überein, dass die ganze Welt von »Räuberei und Gwalt und Kriag« (Mitterer 2018: 18) dominiert wird. Im Grunde bejaht er auch das von seiner Mutter zunächst allein fortgeführte, traditionelle und achtsame Handwerk der Bergbauern, obwohl er es für sich selbst ausschließt, weil er jeden Alleinbesitz ablehnt und nur von dem leben möchte, was er wirklich benötigt und direkt aus der Natur sammeln kann (vgl. Mitterer 2018: 18). Seine radikale Konsumverweigerung geht sogar so weit, dass er die Kleidung, die ihm seine Mutter bringt, mit den Worten »I mag nix Neis, i will nix Neis« (Mitterer 2018:16) ablehnt, in denen zugleich eine Wertkopplung von »alt« und »gut« gegenüber »neu« und »schlecht« implizit ist. Diesem Wertekanon steht die Welt am Fuße des Berges gegenüber, für die Elias »der Wilde vom Märzengrund«, der »Spinner« (Mitterer 2018: 19) ist und die im Hörspiel durch die Figur der Erika repräsentiert wird. Erika ist es, die die Ansichten der modernen Gesellschaft vertritt, sich als Lehrerin ebenfalls dem elterlichen Beruf entzieht, »woaß Gott wohin« (Mitterer 2018: 17) heiratet, wie die Mutter ihren Fortgang aus der Heimat umschreibt, und letztlich, da ihr vom Vater der Gesamtbesitz zugeschrieben wurde, Grund und Boden als Bauland an die Gemeinde und die örtlichen Hoteliers verkauft. Sie ist es zudem, die ihren Bruder, nachdem dieser schon 40 Jahre im Märzengrund gelebt hat, gewaltsam von der Alm bringen lässt, als Elias aufgrund eines Prostatakarzinoms einen extremen Harnverhalt hat. Gegen seinen Willen wird er auf ihr Geheiß ins Krankenhaus gebracht, erhält einen Katheter und wird anschließend in einem Heim untergebracht, wo er sich in der Aussicht, nie wieder in den Märzengrund zu

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Vgl. etwa seine Aussage: »die ganzen Touristen, die Wanderer, da bleib i liaber oben auf der Schacht« (Mitterer 2018: 9). Zum Konzept der von Novalis als »Zukunftslehre« bezeichneten Auffassung, dass die Natur vom Menschen moralisch gemacht, vergeistigt und damit letztlich zur Aufführung eines Goldenen Zeitalters erlöst werden könne, vgl. Kluckhohn (1953: 29). Auf die Aussage seiner Mutter: »Koaner brockt mehr die Äpfel, die Leut lassen sie unterm Baam verfaulen. Weils ja so schöne und billige Äpfel im Supermarkt gibt« antwortet er etwa: »I woaß es wohl. Is scho lang so. Arme Leut. Wissen nimmer, was schmeckt. Wissen nimmer, wia’s schmeckt. Wer die Moosbeeren im Supermarkt kafft, woaß nit, wia sie schmecken. Nur, wer sie selber brockt, woaß es.« (Mitterer 2018: 16) Das Präteritum der Figurenrede impliziert dabei, dass es ehemals eine andersartige, bessere Zeit gab, ehe die Prozesse der Dekadenz eingesetzt und den heutigen Zustand herbeigeführt haben.

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kommen, das Leben nimmt, indem er sich an seinen Schuhbändeln im Kleiderschrank erhängt. In diesem letzten Bild des Hörspiels, dem nur noch eine Art Transzendenzvision von Elias folgt, verdichten sich abschließend die zentralen Konfliktlinien des Hörspiels: die Sehnsucht nach Freiheit, Identität und Einklang mit einer intakten, als Heimat empfundenen Natur gegenüber der Realität einer von Zwang, Enge und kapitalistischer Entfremdung gekennzeichneten unmenschlichen Gesellschaft.30 Insofern lässt sich das Hörspiel auch als eine sozialkritische Parabel verstehen über die Ausbeutung und Zerstörung der Natur sowie den Verlust humanistischer Werte, wobei jene, die nicht an diesem Prozess teilhaben wollen und an der veränderten Welt leiden, selbst an den gewandelten Umständen zerbrechen, da die gesellschaftlichen Strukturen sie in Verhältnisse zwingen, die ihnen nicht entsprechen. So bleibt für die Eltern von Elias anfangs nur die Wahl, ihren Sohn in die Psychiatrie oder auf die Alm zu lassen. Später, nach seiner Behandlung im Krankenhaus, muss Elias sich selbst zwischen Psychiatrie und Altersheim entscheiden. Dieser Wahl entzieht er sich, indem er sich – in einer letzten autonomen Entscheidung – zur Selbsttötung entschließt. Die Verwendung des Dialekts ist dabei nicht nur atmosphärisch authentisch, da er durch den Schauplatz, das Milieu und die Figuren (bäuerliches Umfeld, Einsiedler) motiviert wird, sondern er macht die Figur des Elias und seine Problematik auch insofern glaubhaft, als diese »verschwindende« Sprache mit der verschwindenden Lebenswelt und dem verschwindenden Natur- und menschlichen Feingefühl korreliert wird.31

5.

Wolfgang Seesko: Mittagsstunde (RB 2019)

Im zweiten Beispiel sind die Werteparadigmen nicht ganz so klar dichotom verteilt wie bei Felix Mitterer, dagegen ist jedoch die Zuordnung von dialektaler bzw. standardsprachlicher Sprechweise und höherem bzw. geringerem Lebensalter umso deutlicher. Das wird dadurch erreicht, dass in Wolfgang Seeskos Mittagsstunde, der Hörspieladaption des gleichnamigen Romans von Dörte Hansen, eine Sprachmischung gewählt wird und nur einzelne Figuren, nämlich primär die alten Bewohner des »aussterbenden« nordfriesischen Örtchens Brinkebüll, Holsteiner Platt sprechen, während die junge Generation sich auf Hochdeutsch artikuliert. Ingwer Feddersen, um den sich als Orientierungsfigur und Erzähler das Geschehen gruppiert, nimmt dabei eine Zwischenstellung ein, was mit seiner Rolle innerhalb der Geschichte zusammenhängt. Er ist der uneheliche Sohn von Marret Feddersen, einer wunderlichen, von vielen für verrückt erklärten Frau, und wurde nach deren plötzlichem Verschwinden von seinen Großeltern, 30

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Dabei wird die Entfremdung von der Natur auch durch eine Entfremdung von einem idealistischen Konzept von Menschlichkeit parallelisiert, die sich in einem inhumanen, von Gewalt, Zwang und Bevormundung bestimmten Umgang mit den Kranken (psychiatrische Behandlung im Käfig oder noch schlimmer) und Alten (Verwahrung im Altenheim) manifestiert. Insofern erfüllt dieses Hörspiel auch das, was schon Schiler (1971: 49) von einem künstlerisch gelungenen Dialekthörspiel forderte, dass eben »Regionales und mundartlich Eingefärbtes nicht dem ›Lokalkolorit‹ [dient], sondern der Konkretisierung einer nachprüfbaren und genau fixierbaren Umwelt, von der die dargestellte Figur mit geprägt ist«.

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den Gastwirtsleuten Ella und Sönke, großgezogen. Auf Empfehlung des Dorfschullehrers und gegen den Willen seines Ziehvaters, der ihm gerne den Gasthof überlassen hätte, verließ er Brinkebüll, studierte und promovierte in Archäologie und lebt, wie er es formuliert, zusammen mit Ragnhild und Claudius ein »unsortiertes Wohngemeinschaftsleben mit zwei Männern und einer Frau« (Seesko 2019: 7) – und das schon seit 25 Jahren. Da seine Großeltern Zeichen von Altersschwäche zeigen, Ella eine aggressive Demenz entwickelt, Sönke – »93 Jahre alt, Arthrose und auf einem Auge blind« (Seesko 2019: 19) – teils depressiv-nörglerisch und gebrechlich wird, kehrt Ingwer nach Brinkebüll zurück, um sich in einem Sabbatical um seine Zieheltern zu kümmern und eventuell auch seine Midlife-Crisis zu bewältigen. Dieser Einteilung der Handlungsräume entspricht die Verteilung der semantischen Felder. An den durch die Stadt Kiel repräsentierten Raum der Stadt sind moderne oder, wenn man so will, unkonventionelle Werte geknüpft, die sich sowohl in Gestalt der asymmetrischen WG-Koexistenz niederschlagen als auch im Milieu des studierten, ungebundenen Archäologen Ingwer mit seinen Anklängen an eine akademische Bohème. Es ist der Lebensbereich der Jungen, die Selbstentfaltung und Entwicklung anstreben und dabei auf herkömmliche Prinzipien von Ordnung, Kontinuität und Sicherheit verzichten. Zugleich ist dieser Raum einer des Hochdeutschen, wobei die daran angeknüpfte Artikulationsweise überdies auch immer technisch medialisiert erscheint. Nicht nur, dass Ingwers Mitbewohnerin Ragnhild und Mitbewohner Claudius genauso wie dessen Institutsmitarbeiter Dahlmann durchweg Standardsprache sprechen, wenn sie sich nach ihm und den Gründen seines plötzlichen Aufbruchs erkundigen, – ihre Mitteilungen werden zugleich immer in Form von Mailbox-Inhalten präsentiert, die durch eine entsprechende Verzerrung wiedergegeben und dadurch deutlich in einen mit Modernität korrelierten technisch-apparativen Rahmen gestellt werden. Brinkebüll, das kleine Dorf auf dem Land, ist dagegen ein Ort des Sterbens, sowohl, was die dort Wohnenden anbelangt, als auch, was das Dorf als solches betrifft. Schon 1965 kamen – ausdrücklich als »jung« (Seesko 2019: 21) apostrophierte – Landvermesser, in deren schließlich angefertigten Flurkarten und Plänen […] es das alte Brinkebüll nicht mehr [gab], es war auf dem Papier schon ausradiert, berichtigt und begradigt, das ganze Enge, Schiefe und Beschränkte, das Verwinkelte und Zugewachsene, das Umständliche musste weg. Und die vielen kleinen Felder, die wie Kraut und Rüben durcheinanderlagen, mussten zu ein paar großen Flächen umgelegt werden (Seesko 2019: 27). Zugleich sind die Werte, die von den Bewohner*innen hier vertreten werden, eindeutig traditionell-konservativ, was sich besonders im Unverständnis von Sönke Feddersen für die Berufswahl seines Enkels Ingwer artikuliert, durch die Letzterer nicht nur die Erbschaft des Gasthofs, sondern auch die mit diesem verbundene Familientradition ausschlägt. Die Archäologie ist für Sönke auf jeden Fall keineswegs auch nur »[w]at halfweegs Normales« (Seesko 2019: 17).32 Dass Sönke und die anderen Bewohner*innen 32

Vgl. auch die Äußerung Sönkes: »Foffteihn Hektar Land un ’n Kroog liggen laten, un lever Steen un tweie Pötte utbuddeln«, die mit folgender Überlegung von Ingwer als Erzähler parallelisiert wird: »Niemand hat ihn je gefragt, mit fünfzehn, ob er Gastwirt werden wollte. Ob ihm das wohl Freude

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Brinkebülls Platt sprechen, erscheint, da es an keiner Stelle extra thematisiert wird, in gleicher Weise als Selbstverständlichkeit wie der Umstand, dass man hier auf dem Land am Althergebrachten festhält. Doch es ist eben ein altes,33 überaltertes und letztlich sterbendes Dorf – was am Ende des Hörspiels dadurch versinnbildlicht wird, dass Sönke einschläft und nicht mehr aufwacht, während Ingwer zum Song Don’t let it bring you down von Neil Young wieder abfährt. Ingwer ist ein Grenzgänger zwischen Stadt und Land. Ähnlich, wie er meist Hochdeutsch spricht – und zwar durchweg in seiner Funktion als Erzähler – und nur in den Unterhaltungen mit seinen Zieheltern oder anderen Bewohner*innen des Dorfes ins Niederdeutsche verfällt, vermischen sich bei ihm auch die Wertesysteme. Er steht zwischen den Welten, zwischen den Lebensaltern und zwischen den Sprachen. Selbst nicht mehr ganz jung, kann er sich nicht mehr recht mit seinem bisherigen Kieler Studentenlebensstil anfreunden und ist zugleich auch, wie er es formuliert, »der Hässlichkeit des Brinkebüller Saals nicht mehr gewachsen« (Seesko 2019: 19). Gleichzeitig ist er quasi noch zu jung, um doch noch dauerhaft nach Brinkebüll zurückzukehren. Dabei klärt das Hörspiel seine Beziehung zu seiner niederdeutschen Muttersprache zwar nicht explizit, doch wird zumindest durch die Ambivalenz in seiner Figurenzeichnung sowie durch sein Schwanken zwischen den Sprachen der Eindruck erweckt, dass sie ihm wie etwas aus einer alten, im Grunde der Vergangenheit angehörenden Welt noch anhaftet, von der er sich aus Nostalgie nicht restlos trennen kann – sein Beruf als Archäologe ist insofern sicher nicht zufällig. In Dörte Hansens Buch (2018: 259f.) heißt es dagegen explizit: »Sein Plattdeutsch kam ihm vor wie eine Taschenuhr, geerbt von Sönke Feddersen, sie passte nicht mehr richtig in die Zeit, ging aber noch.«

6.

Resümee

Die Verwendung einer bestimmten Mundart im Kontext des Rundfunks besitzt seit jeher eine gewisse Sonderstellung, da hier gemeinhin eine standardsprachliche Ausdrucksweise als Norm gegeben ist. Wird ein Dialekt in einem Hörspiel verwendet – wobei prinzipiell zu unterscheiden ist zwischen reinen und hybriden Dialekthörspielen sowie bei den Letztgenannten, auf welcher diegetischen Ebene (besonders Figuren vs. Erzählinstanz) es zum Dialekteinsatz kommt –, ist er entsprechend auffällig und erscheint durch programmkontextuelle bzw. innertextuelle Differenzen als markierte Sprache. Diese prinzipielle Auffälligkeit des Dialekts lässt sich insofern narrativ nutzen, als an ihn bestimmte, stereotyp vorgeprägte Semantiken angebunden werden können. Der Dialekt selbst fungiert als zum Teil äußerst komplexes Sprachzeichen, mit dem

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bringen würde, ihn erfüllen, glücklich machen: Kröger sein und Bauer nebenbei, so wie sein Vater und sein Großvater. Es spielte keine Rolle, was man wollte. Man erbte es, man heulte nicht, man machte es.« (Seesko 2019: 17). Beachtlich ist auch die Lexemhäufung im Abschlussmonolog von Ingwer in diesem Hörspiel: »Zeitalter fangen an und enden, so einfach ist das. […] Zerschrammtes Altmoränenland braucht keinen Ingwer Feddersen, braucht keinen. Der Wind ist immer noch der alte. […] Auch diesem alten Wind ist es egal, was Menschen tun, ob sie bleiben oder weiterwandern.« (Seesko 2019: 89).

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über die eigentlichen Mitteilungsinhalte hinaus Argumentationen entfaltet und Problemzusammenhänge verhandelt werden können. Diese benötigen oft keine explizite Thematisierung mehr, um semiotisch wirksam zu sein. Neben den eher konventionellen Semantiken des Dialekts wie ›Naturnähe‹, ›Ursprünglichkeit‹, ›Authentizität‹ oder ›Traditionalität‹ findet sich vor allem in neueren Hörspielen die besondere Verknüpfung des Dialekts mit ›Alter‹ sowie oft auch mit ›alt(hergebracht)en Werten‹. Dies manifestiert sich bei Hörspielen in der Regel in alten, dialektsprechenden Menschen, die ihre traditionellen, oft natur- und heimatverbundenen Wertvorstellungen zu verteidigen versuchen gegen eine moderne, natur- und traditionsvergessene Welt, in der die Hochsprache zugleich den allgemeinen Standard darstellt. Meist scheitern diese Figuren allerdings in ihrem Bemühen tragisch, denn wie für ihre autochthone Sprache kann die neue Zeit auch kein Verständnis mehr für ihre althergebrachten Werte aufbringen, sodass ihre Werte wie ihr Sprachschatz mit ihnen aus der Zeit kommen und letztlich verschwinden.  

Quellenverzeichnis Hörspiele Batalljon 18 (DRA 1932; Autor: Hans Ehrke, Regie: unbekannt). Damals vor Graz (WDR 1970; Autor: Gert F. Jonke, Regie: Heinz Hostnig). Das Atelierfest (NWDR 1955; Autor: Wolfgang Hildesheimer, Regie: Fritz Schröder-Jahn). Die Geschichte vom Franz Biberkopf (RRG 1930; Autor: Alfred Döblin, Regie: Alfred Braun, Max Bing). Hannes – oder: Mann blifft Mann (Radio Bremen, NDR 1976; Autor: Bernd Schroeder, Regie: Curt Timm). Hell genug – und trotzdem stockfinster (WDR 1981; Autor: Peter Steinbach, Regie: Bernd Lau). Iphigenie auf Tauris (WDR 1971; Autor: Johann Wolfgang von Goethe, Rainer Werner Fassbinder, Regie: Rainer Werner Fassbinder). Märzengrund (ORF 2018; Autor: Felix Mitterer, Regie: Martin Sailer). Mittagsstunde. Nach Motiven des gleichnamigen Romans von Dörte Hansen (RB 2019; Autor: Wolfgang Seesko, Regie: Wolfgang Seesko). Mitwicker Land (WDR 1993; Autor: J. Monika Walther, Regie: Georg Bühren). Moin Vaddr läbt (HR 1980; Autor: Walter Kempowski, Regie: Horst H. Vollmer). Polizischt Wäckerli (SRF 1949/50; Autor: Arthur Welti, Regie: Arthur Welti).

Primärtexte Hansen, Dörte: Mittagsstunde. 7. Aufl., Penguin: München, 2018. Mitterer, Felix: Märzengrund. Hörspiel. [Sendemanuskript]. Österreichischer Rundfunk: Wien, 2018. Seesko, Wolfgang: Mittagsstunde. Hörspiel nach Motiven des gleichnamigen Romans von Dörte Hansen. [Sendemanuskript]. Radio Bremen: Bremen, 2019.

Die Sprache des Alters

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Kulturwissenschaft Michael Thompson

Mülltheorie Über die Schaffung und Vernichtung von Werten April 2021, 324 S., kart., Dispersionsbindung, 57 SW-Abbildungen 27,00 € (DE), 978-3-8376-5224-6 E-Book: PDF: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5224-0 EPUB: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5224-6

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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan

Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: PDF: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur und Kritik (Jg. 10, 2/2021) September 2021, 176 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-5394-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-5394-0

Marcus Hahn, Frederic Ponten (Hg.)

Deutschland-Analysen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2020 2020, 240 S., kart., Dispersionsbindung, 23 Farbabbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-4954-3 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4954-7

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