Niemals alt!: So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung [1. Aufl.] 9783839413364

Jetzt auf Deutsch: der Bestseller »Ending Aging: The Rejuvenation Breakthroughs That Could Reverse Human Aging in Our Li

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Niemals alt!: So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung [1. Aufl.]
 9783839413364

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Erster Teil
1. Der Heureka!-Moment
2. Aufwachen – Altern tötet!
3. Das Altern entmystifi zieren
4. Die Verjüngung durchführen
Zweiter Teil
5. Kernschmelze der zellulären Kraftwerke
6. Abkoppelung vom Netz
7. Die biologischen Müllverbrennungsanlagen aufrüsten
8. Die zellulären Spinnweben entfernen
9. Die AGE-Fesseln sprengen
10. Die Zombies zur Ruhe betten
11. Neue Zellen für alte
12. Nukleäre Mutationen und der endgültige Sieg über Krebs
Dritter Teil
13. Ans Ziel gelangen: Der Krieg gegen das Altern
14. Der Weg in eine alterungslose Zukunft
15. Kriegsanleihen für den Feldzug gegen das Altern
Nachwort
Glossar

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Aubrey de Grey, Michael Rae Niemals alt!

Der Alternsforscher Aubrey de Grey (Dr.) ist Mitbegründer der SENS-Stiftung, die Forschungsvorhaben zur Bekämpfung des Alterns fördert, und Herausgeber der Fachzeitschrift »Rejuvenation Research«. Michael Rae ist Forschungsassistent von Aubrey de Grey und Mitglied der Calorie Restriction Society.

Aubrey de Grey, Michael Rae

Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung

Die in diesem Band vorgestellte Forschungsarbeit zur Alterungsbekämpfung wird durch die SENS Foundation maßgeblich unterstützt. Informationen dazu finden Sie auf der Web-Seite: www.sens.org.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Julia Auck, Jena; Janina Remmert, Detmold Übersetzung aus dem Englischen: Patrick Burgermeister und Melanie Grundmann Bildredaktion: Nicolai Kilian Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel ISBN 978-3-8376-1336-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Erster Teil 1. Der Heureka!-Moment | 11 2. Aufwachen – Altern tötet! | 15 3. Das Altern entmystifizieren | 25 4. Die Verjüngung durchführen | 41 Zweiter Teil 5. Kernschmelze der zellulären Kraftwerke | 57 6. Abkoppelung vom Netz | 83 7. Die biologischen Müllverbrennungsanlagen aufrüsten | 105 8. Die zellulären Spinnweben entfernen | 135 9. Die AGE-Fesseln sprengen | 165 10. Die Zombies zur Ruhe betten | 201 11. Neue Zellen für alte | 241 12. Nukleäre Mutationen und der endgültige Sieg über Krebs | 279 Dritter Teil 13. Ans Ziel gelangen: Der Krieg gegen das Altern | 315 14. Der Weg in eine alterungslose Zukunft | 327 15. Kriegsanleihen für den Feldzug gegen das Altern | 337 Nachwort | 341 Glossar | 379

Vor wort

Die in diesem Buch beschriebene biomedizinische Revolution ist noch einige Zeit entfernt – einige Jahrzehnte mindestens, vielleicht mehr. Warum, mögen Sie sich nun fragen, sollten Sie sich jetzt damit beschäftigen? Die Antwort ist einfach: Wenn Sie erst einmal wissen, was ich Ihnen zu sagen habe, möchten Sie, dass es früher passiert, und einige von Ihnen wird dieser Wunsch zum Handeln motivieren. Je mehr Menschen wissen, was im Kampf gegen unseren ältesten Feind, das Altern, bereits vorhersehbar ist, umso vertretbarer wird es, sich als leidenschaftlicher Gegner des Alterns zu »outen«. Und schließlich wird es inakzeptabel sein, dies nicht zu tun. Wir stehen dieser Revolution noch nicht nahe genug, um die Zeit ihres Anbruchs genau bestimmen zu können, aber wir sind so nahe, dass unsere heutigen Taten (oder Untätigkeiten …) den Zeitpunkt beeinflussen, an dem das Altern besiegt sein wird. Tatsächlich befinden wir uns nunmehr seit einigen Jahren an diesem Punkt. Nun könnte man argumentieren, dass ich dieses Buch früher hätte schreiben sollen. Und vielleicht stimmt das – doch es gibt ein Gegenargument: Mit jedem Jahr, das vergangen ist, seit ich die hier beschriebenen Schlüsselkonzepte entwickelt habe, hat die Wissenschaft neue Erkenntnisse gewonnen. Jede Etappe dieses Fortschritts hat die Behauptung gestützt, dass das gesamte Vorhaben erfolgreich sein wird, sodass das Buch heute überzeugender ist, als es vor ein oder zwei Jahren hätte sein können. Tatsächlich ist es so, dass es meinen Plan zur Bekämpfung des Alterns ohne die sorgfältigen Bemühungen vieler Wissenschaftler innerhalb und außerhalb der Biogerontologie nicht gäbe. Ein anderer Grund, dass dieses Buch erst jetzt geschrieben wurde, ist der herkömmliche: Bücher schreiben sich nicht von selbst und ich habe jede freie Minute mit anderen Arbeiten zugebracht, um die Anti-Aging-Mission voranzutreiben. Ohne die unermüdliche Arbeit meines Forschungsassistenten Michael Rae, der einen großen Teil des Jahres 2006 damit zubrachte, hielten Sie dieses Buch jetzt nicht in Ihren Händen: Ihm gebühren größtenteils die Lorbeeren für den zweiten Teil dieses Buches. Michael ist nicht der einzige Mensch, ohne den dieses Buch nicht entstanden wäre. Vielen Dank an Peter Ulrich für die sorgfältige Arbeit an der faszinierenden Geschichte geduldiger Forschung, inspirierten Denkens und wissenschaftlicher Zufälle, die hinter der Entwicklung von Alagebrium steht. Eventuelle Missver-

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ständnisse seiner Geschichte sind Michael zuzuschreiben. Besonderer Dank gebührt unserem Grafi kteam, das die Illustrationen erstellt hat: Bram Thijssen, Bryan English, Benjamin Martin, Tyler Chesley, Zachary Bos, Hoyt Smith und ihr Gruppenleiter Jeff Hall. Darüber hinaus bekamen Michael und ich hervorragende redaktionelle Unterstützung von den ehrenamtlichen Mitarbeitern der SENS-Stiftung, Reason, Anne Corwin und David Fisher. Unser Agent John Brockman und sein Team arbeiteten angestrengt daran, das Buch für die weltweite Veröffentlichung zu lektorieren, und unser Herausgeber bei St. Martin’s, Phil Revzin, lieferte ebenfalls wertvolle redaktionelle Anregungen. Und schließlich beruht die Arbeit an diesem Buch, wie alle meine Beiträge zum Kampf gegen das Altern, entschieden auf der unerschütterlichen intellektuellen und emotionalen Unterstützung meiner geliebten Frau Adelaide Carpenter. Ich hoffe, dass dieses Buch viele Leser finden wird. Wenn dem so ist, werden die meisten Leser keine Biologen und mit Sicherheit keine Biogerontologen sein. Andere werden sich auf diesen Gebieten auskennen. Diesen möchte ich von Anfang an Folgendes klar machen: Indem ich SENS – »Strategies for Engineered Negligible Senescence« (Strategien zur technischen Seneszenz-Minimierung; Seneszenz: Altern, alt werden [Anm. d. Ü.]) – einem breiten Publikum vorstelle, ist es mir nicht möglich, auf jedes wissenschaftliche Detail einzugehen, und Sie werden sicherlich Aspekte von SENS bemerken, die fehlerhaft wirkten, wenn das hier Geschriebene alles wäre, was dazu gesagt werden könnte. Ich erinnere Sie an dieser Stelle daran, dass dieses Buch nicht alles enthält, was SENS ausmacht. Wenn Ihnen etwas auff ällt, was ein offensichtlicher Widerspruch zu dem zu sein scheint, was ich sage, konsultieren Sie bitte meine akademischen Publikationen (und vorzugsweise auch mich persönlich), bevor Sie das Buch weglegen. Das oben Stehende bezieht sich natürlich nur auf »Unterlassungsfehler«. Alle inhaltlichen Fehler liegen ganz allein in meiner Verantwortung.

Erster Teil

1. Der Heureka!-Moment

Marriott Hotel, Manhattan Beach, Kalifornien 25. Juni 2000 4 Uhr morgens Es war vier Uhr morgens in Kalifornien, aber mein Körper erinnerte mich unermüdlich daran, dass es in Cambridge Mittag war. Der Interkontinentalflug und ein Tag voller Diskussionen mit einigen der einflussreichsten Personen der Biogerontologie auf einem Brainstorming-Workshop zur Bekämpfung der Alterung hatten mich erschöpft. Der Evolutionsbiologe Michael Rose war da, ebenso die Kalorienrestriktionsforscher Richard Weindruch und George Roth, der Nanotechnologe Robert Freitas und einige andere. Aber ich konnte nicht schlafen: Das Ungleichgewicht zwischen biologischen und geografischen Uhren wurde noch von meiner Enttäuschung übertroffen, keinen echten Fortschritt hinsichtlich eines konkreten, realistischen Anti-Aging-Planes gemacht zu haben. Während ich döste und grübelte, drängte sich mir eine Frage zur Natur des Stoff wechsels und des Alterns auf und ließ mich nicht mehr los. In meinem stillen Ärger stand ich auf, strich mit den Fingern über meinen Bart und begann durch den Raum zu schreiten, das Dilemma in meinem Kopf er- und abwägend. Der »normale« Stoff wechsel ist ein einziges Chaos, und die stürmischen Debatten in der Biogerontologie zeigen, wie schwer es ist, Zusammenhänge aufzudecken: Welche Stoff wechselstörungen sind Ursachen des Alterns und welche sind die Folgen (oder sekundäre Ursachen), die einfach verschwinden würden, wenn die eigentlichen primären Ursachen behoben würden? Wie könnten wir in einem so komplexen, kaum verstandenen System eindeutige Verbesserungen bewirken? Würde nicht jede bedeutsame Veränderung im Stoff wechsel wie der Flügelschlag eines Schmetterlings sein, imstande, später in der Kausalkette große, unerwünschte Stürme zu verursachen? Dann machte sich ein zweiter Gedanke bemerkbar – zunächst ganz unauff ällig, nur eine Ahnung. Das wirkliche Problem war nicht, welcher Stoff wechselprozess im Körper Alterungsschäden verursacht, sondern der Schaden selbst. 40-Jährige haben aufgrund von Unterschieden in ihrer Molekular- und Zellstruktur weniger gesunde Jahre vor sich als 20-Jährige, und nicht wegen der Mechanismen, die diese Unterschiede verursachen. Inwieweit könnte ich die möglichen Ursachen des Alterns eingrenzen, wenn ich mich auf den molekularen Schaden selbst beschränke? Nun, dachte ich mir, es kann nicht schaden, eine Liste anzulegen …

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Da gibt es zunächst mal Krebs verursachende Mutationen in unserem Erbgut. Dann gibt es Glykation, die Verformung von Proteinen durch Glukose. Es gibt die verschiedenen Arten von Müll, die sich außerhalb der Zelle ansammeln (»extrazelluläre Aggregate«): Beta-Amyloid, das weniger bekannte Transthyretin und eventuell andere Substanzen der gleichen Gruppe. Es gibt zudem das ungesunde Zeug, das sich innerhalb der Zelle bildet (»intrazelluläre Aggregate«), wie etwa Lipofuszin. Es gibt zelluläre Seneszenz, das »Altern« einzelner Zellen, das einen Wachstumsstopp verursacht und sie chemische Signale produzieren lässt, die ihre Nachbarn gefährden. Und es gibt die Abnutzung des Stammzellreservoirs, das für die Heilung und Erhaltung des Gewebes notwendig ist. Natürlich gibt es noch die mitochondrialen Mutationen, die die zelluläre Biochemie durch erhöhten oxidativen Stress zu zerstören scheinen. Ich war einige Jahre lang optimistisch, dass Wissenschaftler das Problem lösen könnten, indem sie mitochondriale DNA aus ihrer anfälligen Lage am »Tatort«, inmitten der freie Radikale generierenden Mitochondrien, in den Luftschutzbunker des Zellkerns kopieren, wo DNA-Schäden weitaus seltener vorkommen. Wenn wir nur für all die anderen Dinge solche Lösungen hätten, überlegte ich, könnten wir den »Schmetterlingseffekt« der Eingriffe in die grundlegenden Stoff wechselprozesse vergessen und uns einfach nur auf den Schaden selbst konzentrieren. Hmm. Nun, dachte ich, warum eigentlich nicht? Ich blickte erneut auf meine Liste. Protein-Glykation? Ein Biotech-Startup führte bereits klinische Studien mit einem Medikament durch, das die funktionsbehindernden Fesseln der Proteine, die diesen Prozess verursachen, nachweislich aufbricht. Die extrazellulären Aggregate? Auch hier hatten Tierversuche bereits gezeigt, dass sich der Schaden einfach beheben lässt – in diesem Fall durch eine Impfung gegen die Amyloid-Ablagerung und Immunzellen, die das Zeug verschlingen. Zumindest in der Theorie gab es eine Unmenge an Möglichkeiten, zelluläre Seneszenz zu bekämpfen, obwohl ich nicht sicher war, welche sich am Ende durchsetzen würde. Jeder, der im letzten Jahr eine Zeitung gelesen hatte, wusste, dass Wissenschaftler fleißig daran arbeiten, den Verlust von Stammzellen auszugleichen: im Labor gezüchtete Stammzellen, die als verjüngende Zelltherapie entwickelt werden. Lipofuszin? An diesem Punkt meiner Übersicht bekam ich das Gefühl, tatsächlich auf etwas gestoßen zu sein, denn nur ein Jahr zuvor hatte ich einen Weg gefunden, Lipofuszin zu eliminieren, was bereits das enthusiastische Interesse einiger Top-Wissenschaftler auf diesem Gebiet hervorgerufen hatte. Ich schüttelte keine radikal neuen Ideen zur Krebsforschung aus dem Ärmel; da musste man sich (zumindest zum jetzigen Zeitpunkt) auf die Ideen anderer Menschen verlassen. Aber das war in Ordnung: Schließlich waren bereits enorme Anstrengungen diesbezüglich im Gange. Und was andere von Kernmutationen herrührende Probleme betraf, war ich letztens zu der zugegebenermaßen nicht eingängigen Schlussfolgerung gelangt, dass sie in der Tat keine wichtige Ursache altersbedingter zellulärer Fehlfunktionen wären. Ich ging immer wieder meine Liste durch und dabei wuchs meine Überzeugung, dass es keine eindeutige Ausnahme gab. Die Kombination meiner eigenen Idee, intrazellulären Müll wie Lipofuszin zu eliminieren; die Idee, mitochondriale Mutationen

1. D ER H EUREK A !-M OMENT | 13 schadlos zu machen, die ich seit einigen Jahren mit mir herumtrug; und die zahlreichen anderen Therapien, an denen weltweit andere Forscher arbeiteten, um Glykation, Amyloid-Anhäufung, Zellsterben, vergreisende Zellen und Krebs zu bekämpfen – es schien, als wäre dies tatsächlich eine nahezu vollständige Liste. Nicht unbedingt absolut vollständig – es gibt sicher noch andere Dinge, die im Körper schiefgehen –, aber mit großer Wahrscheinlichkeit umfassend genug, um Menschen, die bereits im mittleren Alter sind, wenn wir mit der Behandlung beginnen, ein paar Jahrzehnte mehr Leben zu schenken. Und das war mit Sicherheit ein vielversprechenderer erster Schritt als alles, was am gestrigen Tag oder auf den vielen anderen Konferenzen und in den Artikeln geäußert wurde, die ich in den letzten Jahren verschlungen hatte. Jahrelang haben meine Kollegen und ich das Altern untersucht, wie Historiker den Ersten Weltkrieg »untersuchen«: als eine nahezu hoff nungslos komplexe historische Tragödie, über die jeder Theorien entwickelt und argumentiert, an der jedoch absolut nichts geändert werden könnte. Vielleicht gehemmt durch den tief verwurzelten Glauben, das Altern sei »natürlich« und »unvermeidlich«, haben sich Biogerontologen vom Rest der biomedizinischen Gemeinschaft abgesetzt, da sie sich von der Komplexität des von ihnen beobachteten Phänomens übermäßig einschüchtern ließen. In dieser Nacht fegte ich diese ganze Komplexität beiseite und enthüllte durch die komplette Neudefinition des Problems eine neue Simplizität. Ins Altern eingreifen, erkannte ich, setzt kein absolutes Verständnis der Unzahl interagierender Prozesse voraus, die zu den Alterungsschäden beitragen. Um Therapien zu entwickeln, braucht man nur den Alterungsschaden selbst zu verstehen: die molekularen und zellulären Verletzungen, die die Struktur und Funktion des Körpergewebes schädigen. Sobald ich diese einfache Wahrheit erkannt hatte, wurde mir klar, dass wir echten Therapieund Heilungsmaßnahmen, die das Altern als biomedizinisches Problem behandeln, viel näher sind, als es den Anschein hat. Auf einem Notizblock skizzierte ich die molekularen und zellulären Veränderungen, die ich sicher als wichtige Ziele der neuen Klasse von Anti-Aging-Therapien auflisten konnte und die ich bald SENS, »Strategies for Engineered Negligible Senescence« (Strategien zur technischen Seneszenz-Minimierung [Anm. d. Ü.]) nennen sollte. Jede von ihnen vermehrt sich im Alter und trägt so zum pathologischen Verfall des Körpers bei. Soweit ich sagen konnte, war die Liste komplett, aber ich würde sie meinen Kollegen präsentieren, um zu sehen, was sie noch hinzuzufügen hätten. Ich stürzte vor dem Frühstück die Treppen hinunter, um meine hingekritzelten Notizen auf einen Flipchart im Besprechungsraum zu schreiben. Ich konnte es kaum erwarten, meinen geschätzten Kollegen meine neue Synthese zu präsentieren. Doch ich war mir ehrlich gesagt absolut bewusst, dass diese erste Anhörung nur mit fassungslosen Blicken begrüßt werden würde. Der Paradigmenwechsel war einfach zu enorm.

2. Aufwachen – Altern tötet!

Wie viele Leben glauben Sie, in Ihrem Leben retten zu können? Das ist keine Fangfrage. Doch um es noch präziser zu machen, werde ich sie etwas anders stellen. Wenn wir davon sprechen, Leben zu retten, meinen wir, den Nutznießern unserer Taten die Möglichkeit zu geben, länger zu leben, als es sonst möglich gewesen wäre. Aber wenn wir genauer danach fragen, wie wichtig es ist, ein Leben zu retten, werden wir nicht jedes Leben als gleichwertig erachten. Wird beispielsweise ein 80-Jähriger vor dem Ertrinken gerettet, mag ihm das einige Jahre mehr geben, bevor er an einer anderen Ursache stirbt. Rettet man dagegen ein Kind vor dem Ertrinken, so schenkt man ihm wahrscheinlich 70 oder mehr Jahre an zusätzlichem Leben. Wir können auch die Lebensqualität der Menschen, deren Leben wir retten, in Betracht ziehen – in erster Linie ihre Gesundheit. Hier ist nun also meine neu formulierte Frage:

Wie viele gesunde, jugendliche Jahre glauben Sie während Ihres Lebens insgesamt anderen Menschen schenken zu können? Der letztendliche Zweck dieses Buches ist es, Ihnen aufzuzeigen, dass Sie viel mehr Lebensjahre erreichen können, als Sie momentan vielleicht glauben. Und zwar dermaßen viele, dass Sie sich jetzt entscheiden sollten, ob Sie dies tun wollen. Sie können Ihren Teil dazu beitragen, den Sieg über das Altern schneller herbeizuführen. Wie Sie im Detail helfen können – durch Spenden von Geld oder Zeit an die SENSStiftung oder das SENS-Forschungsfinanzierungsprogramm – wird in Kapitel 15 dargestellt. In diesem Kapitel beschränke ich mich darauf zu erläutern, welche humanitären Auswirkungen diese Maßnahmen erreichen können. Ich beginne mit einigen Zahlen. Circa 150.000 Menschen sterben weltweit pro Tag – das sind fast zwei pro Sekunde – und rund zwei Drittel von diesen sterben am Altern. Das sind 100.000 Menschen, 30 World Trade Center oder sechs KatrinaWirbelstürme, jeden Tag. In der industrialisierten Welt werden rund 90 Prozent der Todesfälle dem Altern zugeschrieben – das bedeutet, dass auf jede Person, die an anderen Ursachen stirbt, seien es Morde, Verkehrsunfälle, AIDS oder sonstiges, rund zehn Menschen kommen, die am Altern sterben. 1

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Und es ist noch schlimmer. Blicken Sie noch einmal auf meine neu formulierte Frage und Sie werden einige Adjektive erkennen: »gesund« und »jugendlich«. Viele Menschen begehen den »Tithonus-Fehler«, wenn sie an Lebensverlängerung denken. Dieser besteht in der Annahme, dass wir, wenn wir über den Kampf gegen das Altern sprechen, nur an die Verlängerung der düsteren Jahre des Abbaus und der Krankheit denken, mit denen das Leben der meisten Menschen derzeit endet.2 Tatsächlich triff t das Gegenteil zu: Der Sieg über das Altern wird die Beseitigung dieser Phase mit sich bringen, indem sie in unbestimmte Ferne gerückt wird, sodass die Menschen sie niemals erreichen werden. Es wird ganz einfach keinen Bevölkerungsanteil mehr geben, der aufgrund des Alters schwach und gebrechlich ist. Es wird in diesem Buch also nicht nur um die Verlängerung des Lebens gehen: Es geht um die Beseitigung des nahezu unermesslichen Ausmaßes an Leiden, das uns das Altern momentan auferlegt und an denen natürlich nicht nur die Älteren selbst leiden, sondern auch ihre Angehörigen und Betreuer. Und dann ist da noch der Nebeneffekt der finanziellen Einsparungen, die die Beseitigung des Alterns der Gesellschaft bringen würde: Es ist allgemein bekannt, dass der durchschnittliche Bürger der industrialisierten Länder in seinem letzten Lebensjahr das Gesundheitswesen mehr in Anspruch nimmt als im gesamten Zeitraum davor, unabhängig vom Alter zum Zeitpunkt des Todes. Das sind Billionen Euro pro Jahr. In diesem Buch werde ich die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen meiner Vorstellung erläutern, dass wir das Altern als Todesursache vermutlich noch in diesem Jahrhundert ausschließen können – und eventuell bereits innerhalb weniger Jahrzehnte, bald genug also, dass die meisten heute lebenden Menschen davon profitieren können. Aber zunächst muss ich Ihre Aufmerksamkeit gewinnen – nicht nur im Sinne der Unterhaltung, in dem Sie vielleicht eine gute Geschichte lesen, sondern im Sinne der Erkenntnis, dass dies eine gute Sache sein wird, sobald und wenn dies möglich ist. Ich bin lange genug in diesem Geschäft, um zu wissen, dass es nicht genügt, das Ausmaß des zu beseitigenden Leidens und die Anzahl der zu rettenden Leben zu beschreiben, um die meisten Menschen davon zu überzeugen, dass der Sieg über das Altern gut wäre. Also hoffe ich, dass Sie mir verzeihen, wenn ich in diesem Kapitel geradeheraus und unverblümt spreche, bis ich zur Wissenschaft und Technologie komme, die den Rest übernehmen werden.

Warum habe ich dieses Buch geschrieben? Ich bin Wissenschaftler und Technologe, und in einer perfekten Welt würde ich ausschließlich an den wissenschaftlichen und technologischen Details meines Lebenszieles, der Bekämpfung des Alterns, arbeiten. Ich würde nicht viel Zeit damit verbringen, Interviews zu geben oder Vorträge zu halten – oder sogar Bücher zu schreiben. Aber es gibt da etwas in den Einstellungen der Menschen dem Altern gegenüber, was mich meine Prioritäten derzeit verschieben lässt. Ich nenne es die Pro-Aging-Trance. Ich werde meine Diskussion der Pro-Aging-Trance mit einem Vergleich beginnen: Hier in Großbritannien gibt es, wie in der gesamten westlichen Welt, eine an Heftigkeit zunehmende Kampagne gegen das Rauchen. Auf allen Zigarettenschach-

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teln prangen Gesundheitswarnungen. Nicht etwa kleine unauff ällige Gesundheitswarnungen in wissenschaftlich behutsamer Sprache, sondern Warnungen der direktesten und schonungslosesten Art. Die einfachste und kürzeste besteht aus nur vier Worten, üblicherweise schwarz auf weißem Hintergrund:

Rauchen kann tödlich sein Und langsam aber sicher wird Rauchen immer unpopulärer. Rauchen gerät in gesellschaftlichen Misskredit, genauso wie zuvor Autofahren unter Alkoholeinfluss. Es ist jedoch ein langer, steiniger Weg. Nicht nur weil Rauchen süchtig macht, sondern auch weil Jugendliche weiterhin mit dem Rauchen beginnen, trotz des sozialen Stigmas, das ihm zunehmend anhaftet. Es ist der letzte Punkt, der kontinuierliche Zuwachs neuer junger Abhängiger, auf den ich mich hier konzentrieren werde. Ich habe das Rauchen nicht als Vergleich gewählt, um die Raucher unter meinen Lesern zu verurteilen – absolut nicht. Nein, meine Absicht ist viel weniger kontrovers, denn die Kampagne, Jugendliche davor zu schützen, mit dem Rauchen zu beginnen, wird von nahezu allen Erwachsenen unterstützt, ob Raucher oder nicht. Der Grund, warum ich dies hier erwähne, ist Aktualität: Dieser Kampf wird noch geführt, somit können wir die Widersprüche in unseren Einstellungen, sowohl als Individuen wie auch als Gesellschaft, die den Kampf so schwer zu gewinnen machen, aus nächster Nähe untersuchen. Bei konkreten Krankheiten gibt es keinen Diskussionsbedarf: Je mehr wir unternehmen können, um sie zu bekämpfen, umso besser. Aber beim Rauchen ist die Gesellschaft selbst auf eine Art und Weise abhängig, die sie ihrer Vernunft neuen jungen Abhängigen gegenüber beraubt, obgleich es einige derselben Krankheiten verursacht. Jeden Tag begegnen wir dem brutalen Widerspruch, dass Zigaretten offen beworben und verkauft werden dürfen und wie sie das Leben derer, die in ihren Bann geraten, zerstören und verkürzen. Und ich behaupte, mit dem Altern ist es genau das Gleiche. Es gibt zwei mögliche Gründe, warum Rauchen an Popularität und öffentlicher Akzeptanz verliert. Einer ist, dass es viele Menschen als unangenehm empfinden – sie mögen den Geruch nicht (oder, in intimerem Kontext, den Geschmack). Aber es fällt schwer zu glauben, dass dies die Hauptursache für die erst kürzlich stattgefundene veränderte Einstellung dem Rauchen gegenüber ist, denn der Tabak von heute ist sicherlich nicht unangenehmer als der von vor 1 oder 200 Jahren. Somit sollte klar sein, dass der hauptsächliche Grund, dass so viele Menschen das Rauchen jetzt missbilligen, in seinem anderen Nachteil liegt, der vor einem halben Jahrhundert nicht groß gewürdigt wurde: Es schadet Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung tatsächlich. Vor allem erhöht es das Risiko massiv, an tödlichem Lungenkrebs zu erkranken, was nicht nur Ihr Leben verkürzt, sondern Ihre letzten Jahre auch echt elend macht. Mein Ziel mit diesem Buch ist es, wie mit all meiner öffentlichen Arbeit, einen ähnlichen Wandel der öffentlichen Meinung dem Altern gegenüber hervorzurufen. Mir ist seit vielen Jahren bewusst, dass die meisten Menschen über das Altern anders denken als über Krebs, Diabetes oder Herzkrankheiten. Sie sind absolut dafür,

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solche Krankheiten so schnell wie möglich abzuschaffen, aber die Vorstellung, das Altern zu beseitigen – echte jugendliche körperliche und mentale Funktionen auf unbestimmte Zeit aufrechtzuerhalten – provoziert eine Lawine von Ängsten und Vorbehalten. Doch da, wo es am meisten darauf ankommt, ist das Altern wie das Rauchen: Es schadet Ihnen sehr. Es verkürzt Ihre Lebenszeit (eine Einschätzung über das Ausmaß lesen Sie in Kapitel 14), es verdüstert üblicherweise die letzten Jahre Ihres Lebens und es macht diese auch für Ihre Angehörigen recht schmerzhaft. Lassen Sie uns nun also etwas näher betrachten, warum das Altern so leidenschaftlich verteidigt wird.

Die Motivation der Pro-Aging-Trance Lassen Sie mich zuallererst betonen, dass ich mir bewusst bin, dass es eine immense Kluft gibt zwischen der Einstellung, die die Menschen gegenüber einem moderaten Hinauszögern des Alterns haben und gegenüber dem Thema dieses Buches, der echten Abschaff ung des Alterns als Ursache von Gebrechen und Tod. Die Anti-Aging-Industrie ist riesig, trotz der (sagen wir mal) höchst variablen Fähigkeit ihrer Produkte, das zu halten, was sie versprechen. Das kann nur daran liegen, dass die Menschen nicht sehr glücklich darüber sind, dem eigenen Verfall zuzusehen oder dabei beobachtet zu werden. Und doch versetzt die Aussicht, irgendwann in der Lage zu sein, das Altern so gut zu bekämpfen wie derzeit die meisten Infektionskrankheiten – mit anderen Worten, das Altern im Wesentlichen als Todesursache zu beseitigen –, die meisten Menschen in Panik: Ihre unmittelbare (und, darauf muss ich hinweisen, oftmals überzogene) Reaktion ist es, das Phantom der unkontrollierbaren Überbevölkerung heraufzubeschwören oder des ewig lebenden Diktators oder einer allein nutznießenden reichen Elite oder Dutzende anderer Bedenken. Ich sage nun nicht, dass diese Einwände falsch wären – nicht im Geringsten. Wir sollten sie in der Tat als zu vermeidende Gefahren betrachten, denen wir mit sorgfältiger Zukunftsplanung zuvorkommen. Nein, nicht das Aufkommen dieser Einwände schockiert mich, sondern die Art und Weise, auf die sie vorgebracht werden. Ganz rationale und in anderen Bereichen diskussionsfreudige Menschen begegnen der Bekämpfung des Alterns mit einer Argumentationsresistenz, die jeder Beschreibung trotzt. Die Bestimmtheit, mit der die Menschen das Thema wechseln, die Unterhaltung zu einem Austausch von Bonmots degradieren oder den Alterungsgegner einfach nur als verblendeten Einfaltspinsel darstellen wollen, muss man gesehen haben, um sie zu glauben. Sie fragen sich vielleicht, ob ich vergessen habe, dass ich hier über Sie spreche. Seien Sie sich darüber im Klaren, dass ich Sie absolut nicht geißle, denn meine bisherigen Bemerkungen beschäftigen sich lediglich mit der Logik, warum das Altern bekämpft werden sollte, und im Leben geht es nicht allein um Logik. Es gibt einen ganz einfachen Grund, warum die Menschen das Altern so sehr verteidigen – ein mittlerweile hinfälliger Grund, der aber bis vor kurzem absolut vernünftig war. Bis vor kurzem hatte niemand eine schlüssige Vorstellung von der Bekämpfung des Alterns, sodass es praktisch unausweichlich war. Und wenn jemand mit einem so

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grauenvollen Schicksal wie dem Altern konfrontiert ist, gegen das man absolut nichts unternehmen kann, weder für sich noch für andere, ergibt es in psychologischer Hinsicht absolut Sinn, sich nicht damit zu beschäftigen – sozusagen damit Frieden zu schließen –, anstatt sein kurzes, miserables Leben lang daran zu denken. Man zahlt nur einen geringen Preis, um diesen Geisteszustand aufrechtzuerhalten, denn man muss angesichts des Themas bloß allen Anschein von Rationalität aufgeben – und verfällt unvermeidlich in peinlich unvernünftige konversationelle Taktiken, um diese Irrationalität zu unterstützen.

Ein Wor t zur SENS-Skepsis Dieses Buch ist eine Beschreibung von SENS (»Strategies for Engineered Negligible Senescence« – Strategien zur technischen Seneszenz-Minimierung), meinem »Projektplan« zur Alterungsbekämpfung. Ich gehe davon aus, dass es für die meisten Leser die erste Begegnung mit SENS sein wird, andere wiederum werden schon mal davon gehört haben. Besonders, wenn Sie sich schon länger für die Verlängerung des Lebens interessieren, ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie über die Massenmedien bereits mit Berichten über SENS in Berührung gekommen sind. Wenn dem so ist, werden Sie wissen, dass viele hoch anerkannte Gerontologen SENS Beifall gespendet haben, während andere starke Kritik – sogar Spott – übten. Bislang habe ich in diesem Kapitel nur die Mängel in den Argumenten angesprochen, die den Menschen den Eindruck vermitteln, die Alterungsbekämpfung sei nicht wünschenswert. Doch um sicherzugehen, dass Sie dieses Buch wirklich aufmerksam lesen und darüber hinaus anschließend etwas unternehmen werden, um den Anti-Aging-Plan zu unterstützen, muss ich Ihnen auch verständlich machen, dass die Bekämpfung des Alterns auch tatsächlich machbar ist. Darum gebe ich nun einen kurzen Bericht zum aktuellen Stand der Debatte um die Erfolgswahrscheinlichkeiten von SENS. Ich muss Ihnen zunächst zu verstehen geben, dass es üblich ist, dass radikale neue Konzepte, die viel Aufmerksamkeit bekommen, eine starke Zweiteilung der Experten provozieren. Oftmals sind die etablierten Kritiker absolut im Recht und die neue Idee ist tatsächlich irrig. Sehr häufig verpassen – ja vermeiden – es die Kritiker jedoch, sich ein detailliertes Verständnis dessen anzueignen, was sie kritisieren, und werden mehr von Eigennutz als von wissenschaftlichen Argumenten gelenkt. Wenn Sie kein Wissenschaftler sind, mag Ihnen dies als ungerechte Kritik erscheinen, aber die intellektuellen und emotionalen Anstrengungen, die erfahrene Wissenschaftler in ihre Überzeugungen investiert haben, sind ein mächtiger Gegenspieler Ihrer Objektivität: Alle Wissenschaftler erkennen dieses Problem privat, wenn nicht sogar öffentlich, an. Einige der weltweit bedeutendsten Wissenschaftler haben dies über die Jahre einprägsam formuliert. Der Physiker Max Planck bemerkte beispielsweise vor mehr als 80 Jahren, dass »die Wissenschaft von Beerdigung zu Beerdigung voranschreitet« und der Biologe J.B.S. Haldane schrieb, dass es »vier Phasen der Akzeptanz gibt: (i) Das ist wertloser Unsinn, (ii) das ist eine interessante, aber abartige Ansicht, (iii) das ist wahr, aber absolut unwichtig, (iv) das habe ich schon immer gesagt«.3

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Seit ich mich mit dem Altern beschäftige, um seinen Niedergang zu beschleunigen, und nicht um reich und berühmt zu werden, bin ich extrem darauf bedacht, alle größeren Lücken (falls tatsächlich vorhanden) in SENS zu identifizieren, um ohne Verzögerung zum Reißbrett zurückkehren zu können. Aus diesem Grund spreche ich ständig mit meinen größten biogerontologischen Kritikern über SENS. Ich gelange unweigerlich zu der Ansicht, dass sie meiner Schlussfolgerung (dass SENS das Altern wirksam bekämpfen kann) tatsächlich begegnen, ohne die Argumentation hinter dieser Schlussfolgerung zu analysieren. Ich bin mir aber natürlich bewusst, dass auch ich selbst in dieser Angelegenheit vielleicht nicht objektiv sein kann. Aus diesem Grund und weil die Geschwindigkeit der Umsetzung von SENS sehr stark von seiner öffentlichen und akademischen Akzeptanz abhängt, habe ich in den letzten Jahren hart daran gearbeitet, vorurteilsfreie Beweise hinsichtlich der Plausibilität von SENS zu erbringen. 2006 gelang mir dies ganz entscheidend mit der Hilfe des berühmten Magazins MIT Technology Review (TR). Nachdem 2005 eine eher negative Darstellung von SENS erschienen war, erkannte TR, dass die etablierten Gerontologen, auf deren Meinungen der Artikel fundierte, nicht bereit waren, ihre Beurteilungen wissenschaftlich detailliert zu belegen. TR ging dann bewundernswerterweise das Risiko eines beachtlichen Gesichtsverlusts ein, indem es einen Wettbewerb organisierte, um die Angelegenheit zu klären. 4 Um den SENS-Wettbewerb zu gewinnen, musste eine Einzelperson oder eine Gruppe anerkannter Biologen eine Kritik zu SENS schreiben, die ich nicht zur Zufriedenstellung einer Expertenjury widerlegen konnte. Die Expertenjury musste natürlich nachweisbar unparteiisch sein, ohne jegliche Verbindung zu mir oder meinen Kritikern, gleichzeitig jedoch versiert in Biotechnologie. Es gelang TR, eine hervorragende fünf-Personen-Jury zusammenzustellen, darunter die Biotech-Koryphäe Craig Venter. TR lobte einen Preis von 10.000 US-Dollar aus, und die Methuselah Foundation trug denselben Betrag bei. Eine Gruppe von neun höchst anerkannten Biogerontologen reichte bereitwillig einen Beitrag ein, ebenso wie zwei weitere unabhängige Wissenschaftler. Die Jury entschied einstimmig und nachdrücklich, dass alle drei Beiträge entscheidend am Beweis scheiterten, dass SENS keinen Versuch wert sei. Nun versuche ich sicher nicht zu sagen, dies sei ein Beweis dafür, dass SENS in der Tat den Sieg über das Altern bringen wird. Es gibt nur eine Möglichkeit, das zu beantworten: SENS durchzuführen und zu sehen, was passiert. Aber meine Kritiker stellten die stärkere Behauptung auf, SENS sei derart unplausibel, dass es keine Veranlassung gebe, diesen Versuch zu wagen. Diese Behauptung wurde vom SENS-Wettbewerb unbestreitbar widerlegt. Wenn Sie also jemanden finden, der immer noch bereit ist zu sagen, SENS sei Fantasterei, insbesondere jemanden, der behauptet, auf diesem Gebiet über Expertenwissen zu verfügen, werden Sie wissen – wie TR mittlerweile weiß –, dass es weit weniger verlässlich ist, solche Menschen danach zu fragen, was sie über SENS denken, als danach, was sie über SENS wissen. Und nachdem Sie dieses Buch gelesen haben – besonders Teil 2 –, werden Sie in der Lage sein, Ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.

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Beweismaterial zusammentragen, Kapitel für Kapitel Ich bin eine Kämpfernatur. Ich würde mich niemals mit dem Altern abfinden, wie verloren die Schlacht auch aussehen mag. Das ist aber nicht jedermanns Sache, und das respektiere ich. Folglich hätte ich dieses Buch wohl nicht geschrieben, wenn ich glaubte, wir wären noch zu weit davon entfernt, das Altern erfolgreich zu bekämpfen, als dass die heute lebenden Menschen noch davon profitieren könnten. Im nächsten Kapitel werde ich beschreiben, warum das Altern im Prinzip ebenso zugänglich für Modulation und letztendlich Eliminierung ist wie bestimmte Krankheiten, und wie eine unangemessene Betrachtungsweise des Alterns die meisten Gerontologen dazu gebracht hat, mögliche therapeutische Ansätze zu bevorzugen, die meiner Meinung nach keinen Erfolg versprechen. Kapitel 4 gibt dann einen Überblick über meinen Plan zur Bekämpfung des Alterns innerhalb weniger Jahrzehnte (wenn alles gut geht). Dies schließt den ersten Teil des Buches ab. Im zweiten Teil, von Kapitel 5 bis 12, werden die einzelnen Komponenten dieses Plans sorgfältig ausgearbeitet. Das Buch schließt mit Teil 3, einem Trio von Kapiteln, das sich mit der von mir prognostizierten Antwort der Gesellschaft auf die ersten Labor-Erfolge in circa einem Jahrzehnt beschäftigt, wie die Fortschritte der nächsten Jahrzehnte zunehmend optimiert werden und das Altern dauerhaft ferngehalten wird, und wie Sie bereits jetzt helfen können, diesen Feldzug zu beschleunigen. In diesem letzten Abschnitt ist etwas unauff ällig verborgen, von dem ich sichergehen will, dass Sie es nicht missverstehen: ein provisorischer Zeitrahmen. Ich gehe davon aus, dass wir – wenn genügend Forschungsgelder zur Verfügung stehen – eine 50-prozentige Chance haben, in den nächsten 25 bis 30 Jahren eine Technologie zu entwickeln, die – unter vernünftigen Annahmen bezüglich der Geschwindigkeit darauf folgender Verbesserungen dieser Technologie – es uns erlauben wird, Menschen jeden Alters davor zu bewahren, am Altern zu sterben, äquivalent zu den Wirkungen der heutigen anti-retroviralen Therapien gegen HIV. Es gibt jedoch drei große Vorbehalte gegenüber dieser Aussage. Der erste ist, dass es nur eine 50-prozentige Chance ist. Jede technologische Voraussage, die so weit wie 25 bis 30 Jahre in die Zukunft reicht, ist notwendigerweise äußerst spekulativ, und wenn Sie mich fragen würden, wann ich glaube, dass wir eine 90-prozentige Wahrscheinlichkeit haben, das Altern zu besiegen, wäre ich noch nicht einmal bereit, auf 100 Jahre zu tippen. Aber ich denke, eine 50-prozentige Chance ist absolut einen Versuch wert – Sie nicht? Der zweite Vorbehalt ist, dass das Altern durch die ersten Versionen dieser Technologie noch nicht vollkommen besiegt sein wird. Wir müssen sie ständig und in angemessener Frist weiter verbessern, um das Altern dauerhaft auf Distanz zu halten. Alle damit zusammenhängenden Details werde ich in Kapitel 14 erläutern. Der dritte Vorbehalt ist aber vielleicht der wichtigste: die Angemessenheit der Forschungsgelder. Ich habe die SENS-Stiftung mitbegründet, um diesem Problem zu begegnen. Derzeit wird die Geschwindigkeit der meisten Forschungswege, die wir verfolgen müssen, um das Altern angemessen zu bekämpfen, durch die Finanzierung beschränkt. Wenn Sie helfen können, dies zu ändern – indem Sie selbst Geld spenden oder Freunde dazu animieren oder indem sie über das Thema schreiben

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oder berichten – verändern Sie die Geschwindigkeit, mit der das Altern besiegt wird, genauso, wie wenn Sie selbst daran forschten. Es gibt einen kritischen Finanzierungsaspekt, den ich an dieser Stelle hervorheben muss: die zentrale Rolle relativ kleiner Geldbeträge an diesem frühen Punkt des Feldzugs. Ich habe mich in diesem Kapitel ausführlich über den Unwillen der Menschen beschwert, das Altern als den Fluch zu betrachten, der es ist, und ich hoffe, dass ich diese Einstellung durch meine öffentlichen Aktivitäten verändere. Mir ist realistischerweise jedoch klar, dass die meisten Menschen ihre Pro-AgingTrance noch für einige Zeit aufrechterhalten werden, und das wird die Verfügbarkeit öffentlicher und Industriegelder zur Erforschung der Lebensverlängerung deutlich beschränken. Das wird sich meiner Meinung nach erst dann wirklich ändern, wenn die globale Pro-Aging-Trance wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Dies wird passieren, wenn Mäuse mittleren Alters genügend robust verjüngt werden, sodass ihre verbleibende gesunde Lebenszeit stark verlängert wird. Diesen Meilenstein nenne ich »Robust Mouse Rejuvenation« (robuste Mausverjüngung) oder RMR. Die dafür notwendigen finanziellen Mittel sind gering im Vergleich zu denen, die benötigt werden, um beim Menschen das gleiche Ergebnis zu erzielen. Doch wenn die Menschheit als Ganzes diesen Versuch unterstützt und bereit ist, mit ihren Steuern dafür zu zahlen, wird es genügend Finanzierungsmittel geben. Da die private Philanthropie die einzig wesentliche Finanzierungsquelle für solch eine Arbeit darstellt, ist ihr Ausmaß heute so entscheidend. Ich werde dies in Kapitel 13 weiter vertiefen. Ich habe in diesem Kapitel erklärt, warum das Altern verteidigt wird, aber ich habe nicht viel darüber gesagt, wie dies geschieht – über die geläufigen Einwände gegenüber der Aussicht einer unbegrenzten Lebensverlängerung. In vielen meiner Aufsätze und öffentlichen Vorträge und auf meiner Website5 begegne ich den zahlreich aufkommenden Fragen, die sich damit beschäftigen, wie die Gesellschaft sich in einer Welt, die das Altern überwunden hat, verändern würde, und insbesondere, wie wir den Wandel dorthin meistern würden. Dieses Buch geht nicht im Einzelnen auf diese Fragen ein. Ich habe mich dazu entschlossen, hier nur über die Praktikabilität fundamentaler Lebensverlängerung zu berichten. Ich hoffe, dass Sie am Ende ein recht gutes Verständnis haben werden, dass der echte Sieg über das Altern ein machbares Ziel ist. Ob es auch ein wünschenswertes Ziel ist, ist eine Frage, die Sie dann ernsthafter erwägen können – sogar, wenn ich so sagen darf, verantwortungsvoller und gewissenhafter –, als wenn Sie noch immer glaubten, es handle sich dabei um Science-Fiction.

Anmerkungen 1 Es gibt viele verschiedene Quellen über die Anzahl von Todesfällen aufgrund verschiedener Ursachen und in verschiedenen Regionen der Welt. Eine recht präzise, der die von mir angeführten Zahlen entnommen sind, ist: Lopez A.D./Mathers C.D./Ezzati M./Jamison D.T./Murray C.J.: Global and regional burden of disease and risk factors, 2001: systematic analysis of population health data. Lancet 2006, 367 (9524): 1747-1757.

2. A UF WACHEN − A LTERN

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2 Der Name »Tithonus-Fehler« leitet sich aus der griechischen Mythologie her. Die Göttin Eos verliebte sich in den Krieger Tithonus und bat ihren Vater Zeus darum, jenem Unsterblichkeit zu verleihen. Zeus tat dies, doch alles endete in Tränen, da Eos vergessen hatte, Zeus auch darum zu bitten, Tithonus ewige Jugend zu geben. Tithonus wurde schwach und gebrechlich, bis ihn Eos schließlich in einen Grashüpfer (laut Wikipedia in eine Zikade) verwandeln musste. Das Überleben dieses Mythos über so viele Jahrhunderte zeigt trotz der offensichtlichen Willkür seiner Grundannahme sehr deutlich, wie beruhigend die Menschen die Annahme finden, dass der Sieg über das Altern doch keine so gute Sache zu sein scheint. 3 Haldane, J.B.S.: Journal of Genetics, vol. 58 (1963) 4 Das mit dem SENS-Wettbewerb zusammenhängende Material – die Originalartikel über mich und SENS der Technology Review, die Wettbewerbsbedingungen, die Beiträge, meine Widerlegungen, die Urteile der Jury und die erbosten Meinungsverschiedenheiten nach diesem Urteil von Seiten der Autoren des ursprünglichen Beitrags – sind auf der Website des TR unter http://www.technologyreview.com/ sens/index.aspx nachzulesen. Wenn Sie Zugriff auf das Heft haben, interessiert es Sie vielleicht zu wissen, dass die Originalartikel in der Februarausgabe 2005 erschienen sind und das Ergebnis in der Ausgabe Juli 2006. 5 Der größte Teil meiner Website ist an Laien gerichtet, um so vielen Menschen wie möglich zu dienen. Meine wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind dort ebenfalls in gedruckter Form zu finden. Die Seite deckt die in diesem Buch beschriebene Wissenschaft ab (doch nicht annähernd so exakt wie dieses Buch, also wenn Sie daran denken, es wieder ins Regal zu stellen, tun Sie es nicht!) und den gesellschaftlichen Kontext.

3. Das Altern entmystifizieren

Das Altern hält uns in einem psychologischen Würgegriff, seitdem wir uns seiner Existenz bewusst sind, und dieser Würgegriff bleibt bis heute ungebrochen. Ich habe in Kapitel 2 besprochen, wie sich dies auf unsere Bereitschaft auswirkt, rational über die Schrecken des Alterns nachzudenken. Ich habe auch erklärt, warum diese Irrationalität eine berechtigte psychologische Basis hatte, solange es keine Hoff nung gab, das Altern zu bekämpfen, und auch, warum sie nun ein so gewaltiges Hindernis darstellt. Es gibt jedoch eine Komplikation. Ich erzählte Ihnen, dass wir kürzlich den Punkt erreicht haben, an dem wir beginnen können, Therapien gegen das Altern rational zu entwickeln. Der Rest dieses Buches ist zum größten Teil eine Beschreibung der von mir bevorzugten Vorgehensweise an diese Therapieansätze. Doch um sicherzustellen, dass Sie diesen Bericht unvoreingenommen lesen können, muss ich zunächst einen besonders heimtückischen Aspekt der Pro-Aging-Trance aus dem Weg räumen: die Tatsache, dass die meisten Menschen tief in ihrem Herzen bereits wissen, dass es möglich ist, das Altern letztendlich zu besiegen. Warum ist das ein Problem? Tatsächlich könnten Sie auf den ersten Blick denken, dass dies meine Arbeit erleichtern müsste, denn es bedeutet doch sicherlich, dass die Pro-Aging-Trance nicht sehr tief geht. Unglücklicherweise funktionieren anhaltende Selbsttäuschungen nicht so. So verständlich es ist, sich angesichts der Wünschbarkeit des Alterns irrational zu zeigen, um seinen Frieden damit zu schließen, so verständlich ist es auch, sich angesichts der Machbarkeit der Bekämpfung des Alterns irrational zu zeigen, solange die Möglichkeit zu seiner baldigen Bekämpfung gering bleibt. Wenn Sie auch nur glauben, dass es vielleicht eine einprozentige Wahrscheinlichkeit gibt, das Altern während Ihres Lebens zu besiegen (oder während der Lebenszeit eines Menschens, den Sie lieben), wird dieser Funke Hoffnung an Ihrem Verstand nagen und Ihre Pro-Aging-Trance unangenehm zerbrechlich werden lassen, egal wie sehr Sie daran gearbeitet haben, sich davon zu überzeugen, dass das Altern doch keine so schlechte Sache sei. Wenn Sie jedoch absolut überzeugt davon sind, das Altern sei unabänderlich, dann können Sie hingegen ruhiger schlafen. Der Kern dessen, was ich gerade sagte, ist die Aussage »solange die Möglichkeit zu seiner baldigen Bekämpfung gering bleibt«. Sobald diese Möglichkeit beachtlich wird, tun Sie besser daran, ihre Wahrscheinlichkeit weiter zu erhöhen – natürlich nicht nur die tatsächliche Arbeit im Labor, sondern auch die, andere (nicht zuletzt

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jene mit Einfluss auf die Vergabe von Forschungsgeldern) zu bewegen, zu beeinflussen und ihnen dabei zu helfen, aus ihrer Pro-Aging-Trance zu erwachen. Wenn umgekehrt der Sieg über das Altern, egal was Sie tun, äußerst unwahrscheinlich bleibt, mag die resultierende Kosten-Nutzen-Balance der Aufgabe Ihrer Behaglichkeit in die andere Richtung kippen: zugunsten derselben Irrationalität bezüglich der Existenz einer solchen Möglichkeit wie dem Für und Wider des Alterns. Deswegen werde ich in diesem Kapitel beschreiben, was das Altern in der Praxis bedeutet, um es zu entmystifizieren. Dadurch möchte ich Ihnen zeigen, dass die allgemeine Annahme, das Altern sei ein Phänomen, das anderen Erkrankungen in nichts gleiche und nicht einmal theoretisch in Reichweite medizinischer Technologie liege, mit den etablierten Tatsachen nicht zu vereinbaren ist. So hoffe ich, Sie am Ende des Kapitels in die unbehagliche Position gebracht zu haben, noch immer (für Ihren eigenen Seelenfrieden) glauben zu wollen, das Altern sei unabänderlich und es folglich nicht wert, sich deswegen zu sorgen, dies jedoch nicht länger glauben zu können. Von da an wird meine Aufgabe die recht einfache sein zu erklären, warum unsere Chancen, das Altern zu besiegen, in der vorhersehbaren Zukunft nicht nur ungleich Null sind, sondern hoch genug, um zu rechtfertigen, dass ich Ihre ProAging-Trance durchbrochen habe. »Rechtfertigen«, denn sobald es Ihre Pro-AgingTrance nicht mehr gibt, können Sie – ja, Sie – darauf Einfluss nehmen, wie schnell das Altern besiegt sein wird. Die Befriedigung, die Sie daraus ziehen werden, wird jede andere Behaglichkeit weit überwiegen, die Sie in Ihrer vorherigen Gewissheit, das Altern könne niemals besiegt werden, gefunden hatten.

Die trügerische Grenze zwischen Alterung und Krankheit Früher starben die Menschen am Altern, doch wenn man den Sterbeurkunden glaubt, geschieht das heute kaum noch. Der Ausdruck »natürliche Todesursache« war der akzeptierte Begriff für die Ursache des Todes, wenn dieser in hohem Alter und in Abwesenheit einer klar definierten Pathologie eintrat. Heutzutage gilt das jedoch als nicht genügend aufschlussreich und Untersuchungsrichter und dergleichen werden zu konkreteren Aussagen angehalten. 1 Wir wissen jedoch alle, dass eine recht große Anzahl von Menschen auf diese Weise stirbt – nicht an einem Herzinfarkt, nicht an Lungenentzündung oder Grippe, nicht an Krebs, noch nicht einmal an einem Schlaganfall, sondern ganz friedlich, oftmals im Schlaf, weil ihr Herz einfach zu schlagen aufhört. Diese relativ glücklichen Menschen sterben unbestreitbar am Altern. Dies bringt mich zum ersten von vielen Malen in diesem Buch in die unangenehme Lage, eine ernsthafte Verzerrung der Fakten offenzulegen, die – oftmals unbewusst – von einer großen Anzahl erfahrener Forscher auf dem Gebiet der Biogerontologie (der Wissenschaft, die das Altern untersucht) begangen wurde. Diese Verzerrung ist mittlerweile als schrecklicher Fehler anerkannt, aber die desaströsen Folgen für dieses Forschungsfeld sind noch immer spürbar und werden es wohl für viele Jahre bleiben. Während der 1950er, 60er und 70er Jahre, als die Gerontologie sich zu einer anerkannten biologischen Disziplin entwickelte, setzte sich eine Rheto-

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rik durch, die besagte, dass die Gebrechen des Alterns als zwei getrennte Phänomene betrachtet werden sollten: altersbedingte Krankheiten einerseits und andererseits »das Altern selbst«. Diese Unterscheidung wurde öffentlich verteidigt, hauptsächlich, weil jeder altert, während keine altersbedingte Krankheit universell ist. Die Motivation für diese Unterscheidung war andererseits rein pragmatisch: Indem sie ihre Wissenschaft intellektuell umzäunten, hoff ten Gerontologen, sie auch finanziell abzugrenzen. Und sie haben sie eingezäunt, namentlich mit der Gründung (als Präsident Richard Nixon gerade nicht groß Acht gab, wie es heißt) des National Institute of Aging.2 So weit, so gut. Aber es ist noch nicht gut genug. Alle Gerontologen wissen sehr wohl, dass es kein Zufall ist, dass altersbedingte Krankheiten mit dem Altern zusammenhängen: Sie treten in fortgeschrittenem Alter auf, weil sie die Folgen des Alterns sind oder (um es anders auszudrücken), weil das Altern nicht mehr und nicht weniger ist als die kollektiven frühen Stadien der verschiedenen altersbedingten Krankheiten. Das wussten die Gerontologen damals auch schon. Folglich hätten sie damals auch sehen müssen, dass sie sich selbst ein immenses Hindernis für die Zukunft auf bauten, als sie die kurzlebige Phrase »Altern ist keine Krankheit« herausposaunten, nämlich die Antwort der politischen Entscheidungsträger: Wenn es keine Krankheit ist, warum sollten wir Geld ausgeben, um es zu bekämpfen? Diese Gegenreaktion liegt einige Jahrzehnte zurück und es gibt keine Anzeichen für ihre Beendigung. Heute weisen Gerontologen immer wieder darauf hin, dass schon das geringste Hinauszögern des Alterns viel mehr gesundheitliche Vorteile schaffen würde als selbst die entscheidendsten Durchbrüche gegen bestimmte Krankheiten. Doch ihre Zahlmeister verstehen es partout nicht.3 Ich behaupte, dass es in erster Linie die fehlerhafte Rhetorik der Gerontologen ist, welche der irregeleiteten Strategie früherer Jahrzehnte entsprang, die einen derart tief verwurzelten Widerstand gegenüber der einfachen, offensichtlichen und (innerhalb des Fachgebiets) universell anerkannten Wahrheit über den potentiellen Wert des Hinauszögerns des Alterns hervorrief. Ich habe Ihnen gerade erzählt, dass altersbedingte Krankheiten lediglich Folgen des Alterns sind, und nun werde ich Ihnen erklären, woher wir das wissen. Dabei werde ich Ihnen auch erklären, warum das Altern eine solche Bandbreite an Geschwindigkeiten aufweist – innerhalb eines Menschen, zwischen mehreren Menschen ebenso, wie zwischen verschiedenen Spezies.

Warum das Altern keinen Zeitgeber braucht Die Tatsache, dass eine recht große Anzahl von Menschen an natürlichen Ursachen statt an einer bestimmten Krankheit stirbt, mag zunächst den Anschein erwecken, das Altern sei ein von Krankheiten unabhängiger Prozess: etwas, was die Anfälligkeit der Menschen für Krankheiten erhöht (sodass Krankheiten unter alten Menschen häufiger vorkommen), was uns aber auch selbst tötet, wenn ihm keine Krankheit zuvorkommt. Das stimmt nur zum Teil. Ältere Menschen sind tatsächlich anfälliger für Infektionskrankheiten, denn ein Aspekt des Alterns ist der Niedergang des Immun-

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systems. Dennoch haben die meisten Alterskrankheiten, wenn überhaupt, nur eine geringe infektiöse Komponente: Sie sind zum größten Teil oder gänzlich intrinsisch. Krebs zum Beispiel: Einige wenige Krebsarten treffen junge Menschen, aber die meisten treten nie bei Menschen unter 40 auf (ausgenommen Menschen mit äußerst seltenen angeborenen DNA-Reparaturmängeln). Einige Krebsarten werden durch Virusinfektionen verursacht – am bekanntesten ist der Gebärmutterhalskrebs, der durch das humane Papillomvirus verursacht wird. Doch die hauptsächlichen Ursachen von Krebs sind ganz einfach Mutationen in unseren Chromosomen, die sich über die Zeit ansammeln. Mutationen sind unausweichlich: Sie sind ein unserer Biologie inhärenter Nebeneffekt. Sie geschehen meistens dann, wenn die DNA unserer Chromosomen im Prozess der Zellteilung reproduziert wird. Daher ist die Ansammlung von Mutationen ein Teil des Alterungsprozesses, und Krebs ist in erster Linie eine Folge des Alterns – oder, wenn Sie so wollen, ein Teil der Spätstadien des Alterns. Das klingt ziemlich einfach, nicht wahr? Und dennoch gibt es die weitverbreitete Annahme – die sogar einige Biologen teilen –, das Altern sei irgendein geheimnisvolles Phänomen, das sich qualitativ von jeder Krankheit unterscheidet: etwas, das sich bisher der biologischen Aufklärung entzogen hat und sich demzufolge vielleicht für immer entziehen wird. Es gibt einige Hauptgründe für diese Annahme, die ich daher kurz beschreibe und anschließend erklären werde, warum diese falsch sind. Der erste besagt, dass sich der Alterungsprozess sehr viel langsamer abspielt als konkrete Krankheiten. Und zwar so langsam, dass sein Fortschreiten kaum wahrnehmbar ist, während die schnellere Entwicklung von Krankheiten wie Krebs oder Diabetes viel bewusster wahrgenommen wird. Dies ist ein auff älliger Unterschied, aber in der Tat absolut zu erwarten, denn das Altern ist eine Abwärtsspirale. Je älter wir werden, desto mehr nimmt unsere Fähigkeit zur Eigenreparatur ab und desto weniger ist unser Körper in der Lage, das Altern aufzuhalten. Folglich altern wir immer schneller. Daher ist zu erwarten, dass die Spätphasen des Alterns (die Krankheiten) schneller voranschreiten als die frühen Phasen. Was die Menschen am Altern auch verwirrt, ist, dass es bei verschiedenen Spezies in unterschiedlicher Geschwindigkeit auftritt, aber mit einer ziemlich ähnlichen Geschwindigkeit bei allen Vertretern einer gegebenen Spezies. Dies könnte den Gedanken an eine Art innere Uhr hervorrufen, die den Prozess steuert und bei den verschiedenen Spezies auf unterschiedliche Geschwindigkeiten eingestellt ist. Die Schlussfolgerung ist, dass diese Uhr irgendwie immun gegenüber biomedizinischen Eingriffen ist, denn eine Veränderung der Geschwindigkeit würde uns unsere Menschlichkeit nehmen. Aus zwei Gründen stimmt aber auch das nicht. Zunächst könnten wir, selbst wenn es eine solche Uhr gäbe, prinzipiell die Spätstadien des Alterns hinauszögern, ohne die Geschwindigkeit der Uhr selbst zu verändern – ich werde dies weiter unten näher ausführen. Zweitens, wenn es eine solche Uhr gäbe, warum sollte sie nicht doch für biomedizinische Eingriffe empfänglich sein? Dass Organismen der gleichen Art gleich schnell zu altern scheinen, ist lediglich eine der Folgen ihrer genetischen Ähnlichkeit. Es sagt nichts darüber aus, was durch biomedizinische Technologie verändert werden kann oder nicht. Der vielleicht am weitesten verbreitete Grund für die Vorstellung einer »Alterungsuhr« ist die Tatsache, dass die zahlreichen Folgen des Alterns (einschließlich

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altersbedingter Krankheiten) bei verschiedenen Individuen einer Art alle mehr oder weniger im gleichen Alter auftreten. Dies muss in der Tat bedeuten, dass es eine zentrale Alterungsuhr gibt, die lange genug geschlagen hat, um diese Krankheiten hervorzurufen, nicht wahr? Nein – und dafür gibt es erneut zwei Hauptgründe. Zunächst ist dies genau das, was man erwarten würde, wenn die Schwächen des hohen Alters nur die Endstadien eines vielfältigen Verfallsprozesses wären, zumindest solange das System eine Schlüsseleigenschaft aufweist: ein hohes Maß gegenseitiger Abhängigkeiten der verschiedenen Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Wenn unser ganzes Leben lang viele Dinge unbemerkt schiefgehen und ihre Anhäufung auf sie selbst und auf andere zurückwirkt, um sie zu beschleunigen, gehen sie notwendigerweise alle mehr oder weniger gleich schnell vonstatten und alle werden ungefähr zum selben Zeitpunkt »kritisch« (d.h. sie brechen aus in klinisch identifizierbare Krankheiten). Diese gegenseitige Abhängigkeit ist im Alterungsprozess unzweifelhaft vorhanden. Wenn wir zweitens einen Moment an die evolutionäre Grundlage des Alterns denken, können wir leicht erkennen, dass – selbst ohne viele Abhängigkeiten zwischen den Ereignisketten, die zu den verschiedenen Alterskrankheiten führen – wir immer noch erwarten würden, dass sie ungefähr im gleichen Alter eintreten. Denn wenn wir Gene hätten, die vor einer bestimmten Todesursache so gut schützten, dass wir alle zuvor an einer anderen Ursache stürben, wären diese Gene vom evolutionären Selektionsprozess nicht geschützt und würden, von einer Generation zur nächsten, zufällige, leichte Mutationen ansammeln. Im Laufe der Evolution würde die Qualität dieser Gene daher bis zu dem Punkt absinken, wo die Krankheit, gegen die sie schützen, gleichzeitig mit allen anderen altersbedingten Krankheiten auftreten würde. Ein anderer häufiger, aber falscher Grund für die Annahme, das Altern sei etwas Besonderes, ist der Glaube, es sei »universal« – es passiert jedem. Nun ja: Wenn Sie lange genug leben, werden Sie die Zeichen des Alterns aufweisen. Aber das ist nur eine logische Folge meines früheren Arguments über Geschwindigkeiten – das Altern verläuft im Vergleich zu altersbedingten Krankheiten sehr langsam. Weil altersbedingte Krankheiten von der Diagnostizierbarkeit bis zum Tod doch recht schnell vonstatten gehen, sterben viele Menschen an einer solchen Krankheit, bevor die anderen auftreten, oder zumindest während diese noch in einem zu frühen Stadium sind, als dass sie diagnostiziert werden könnten. Doch wenn diese Menschen nicht an der Krankheit gelitten hätten, die sie tötete, hätten sie lange genug gelebt, um an anderen zu erkranken. Tatsächlich sind alle Alterskrankheiten universell in dem Sinn, in dem die Frage gestellt werden sollte: Sie werden sie definitiv bekommen, wenn Sie nicht zuvor etwas anderem erliegen. Dieses Kapitel abschließend hoffe ich, Sie überzeugt zu haben, dass das Altern nichts von Natur aus Geheimnisvolles ist, das sich unserem Verständnis entzieht. Es gibt keine tickende Zeitbombe – nur die Anhäufung von Schäden. Das Altern des Körpers ist lediglich eine Frage der Wartung, wie das Altern eines Autos oder eines Hauses. Und natürlich haben wir Autos, die 100 Jahre alt sind und (zumindest in Europa!) 1000-jährige Gebäude, die noch immer so gut funktionieren wie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung – obwohl sie nicht dafür gebaut wurden, auch nur einen Bruchteil dieser Zeit zu überdauern. Zumindest gibt das Beispiel von Autos und

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Häusern genug Anlass für einen vorsichtigen Optimismus, dass das Altern durch eine ausreichend gründliche und häufige Wartung auf unbestimmte Zeit hinausgezögert werden kann.

Die Schlussfolgerung, die sogar die meisten E xper ten übersehen Alles, was ich oben erklärt habe, ist Biogerontologen – die Leute, die das Altern untersuchen – wohlbekannt. Wenn man sich jedoch anschaut, wie sich die meisten Biogerontologen daran machen, das Altern hinauszuzögern, könnte man denken, sie wüssten nichts davon. Menschen, die daran arbeiten, bestimmte Krankheiten zu bekämpfen, untersuchen den Verlauf der Krankheit und überlegen, wie sie diesen unterbrechen können. In der Gerontologie hingegen besteht der vorherrschende modus operandi zur Entwicklung von Eingriffen darin, verschieden schnell alternde Organismen zu vergleichen – verschiedene Arten oder Individuen der gleichen Spezies unter verschiedenen Bedingungen – und Möglichkeiten zu entwickeln, diese Unterschiede zu kopieren oder extrapolieren, um so das Altern zu verlangsamen. Dies ist im Grunde eine a-priori-Kapitulation, da nicht einmal versucht wird, den Alterungsprozess aufzugliedern und anzuhalten; stattdessen behandelt man ihn vielmehr wie eine Blackbox. Das ist besonders überraschend, wenn man berücksichtigt, dass Biogerontologen sicherlich hart daran arbeiten, den Alterungsprozess zu analysieren, um ihn zu verstehen – jedoch nicht, um ihn zu bekämpfen. (Unglücklicherweise bedingen diese beiden Ziele zwei verschiedene Arten der Analyse.) Der vielversprechendste Weg, das Altern hinauszuzögern, liegt vielmehr darin, seine zugrunde liegenden Prozesse zu unterbrechen, wie wir es auch bei konkreten Krankheiten tun. Da das Altern nur eine Anhäufung von Schäden ist, sollten wir daher nach Wegen suchen, diese Anhäufung zu verringern. Ich werde in den nächsten Kapiteln näher darauf eingehen.

Warum es einfacher ist, die Alterung zu reparieren als ähnlich komplexe Maschinen Widmen wir uns nun einem anderen, oft angeführten Grund für das Festhalten am Glauben, das Altern sei von Natur aus für biomedizinische Eingriffe unzugänglich. Wenn das Altern lediglich ein Schaden ist und der Körper nur eine komplexe Maschine, könnte man argumentieren, dass zur Verringerung von Alterungsschäden die gleichen Prinzipien angewandt werden können wie zur Verringerung von Schäden an Maschinen. Manche Menschen weisen jedoch darauf hin, dass der Körper über eine Reihe von Reparatur- und Instandhaltungs-Prozessen verfügt, die Maschinen grundsätzlich nicht haben, und deshalb seien wir gar keine Maschinen. Daher behaupten sie, die Wartbarkeit von Maschinen sei keine Basis für die Überzeugung, dass der Körper im Prinzip ähnlich gewartet werden kann. Nun, denken Sie bitte einen Moment über diese Logik nach. Wir haben eine eingebaute Reparatur- und Wartungsmaschinerie. Warum nur sollte es dann schwieriger

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sein, unsere Körper in einem guten Arbeitszustand zu erhalten? Das Gegenteil ist ganz eindeutig der Fall: Wenn unsere Körper den größten Teil der Arbeit automatisch erledigen, bleibt weniger für uns mit biomedizinischer Technologie zu tun. Lassen Sie mich betonen, dass ich nicht sage, dies sei eine einfache Aufgabe. Der Körper ist viel komplizierter als jede vom Menschen gefertigte Maschine. Darüber hinaus haben wir ihn nicht entworfen, also müssen wir von seiner Funktionsweise her rückwärts arbeiten, um ihn so gut zu verstehen, dass wir ihn instand halten können. Doch das ändert die oben genannte Logik nicht: Unsere natürlichen, angeborenen Fähigkeiten zur Eigenreparatur sind unsere Verbündeten im Anti-Aging-Feldzug, nicht unsere Feinde.

Aufgeschobenes Altern im Labor: Nicht länger bloß Theorie Mittlerweile habe ich vielleicht einige Leser überzeugt, dass das Altern in der Tat kein mystisches Phänomen außerhalb der Reichweite von, nun ja, Sterblichen ist. Ich bin mir jedoch sehr wohl bewusst, dass viele Menschen theoretische Argumente nur mäßig überzeugend finden, selbst wenn diese Argumente stichhaltig scheinen. Solche Menschen – Sie, vielleicht – vertrauen einer Aussage insgesamt mehr, wenn sie durch harte Fakten gestützt wird. Sie werden daher erfreut sein zu hören, dass Wissenschaftler seit einigen Jahrzehnten Wege gefunden haben, das Leben verschiedener Organismen im Labor zu verlängern. Und das Beste daran ist, dass sie dies weder getan haben, indem sie die Phase abnehmender Vitalität am Lebensende dieser Organismen verlängerten, noch (im Großen und Ganzen) durch eine Verlängerung der Kindheitsphase, sondern indem sie die Periode größter Gesundheit und Stärke zwischen Reife und Gebrechlichkeit ausdehnten. Eine äußerst robuste Technik zur Lebensverlängerung wurde vor mehr als 20 Jahren von einem jungen kanadischen Wissenschaftler namens Michael Rose entdeckt, derzeit Professor an der Universität von Kalifornien in Irvine. Rose ist Evolutionsbiologe und hatte schon damals gründliche Kenntnisse darüber, wie die Evolution die Langlebigkeit einer Spezies für ihre ökologische Nische optimiert. Er erkannte die Möglichkeit, länger lebende Organismen zu züchten, etwa im Stile der Howard-Familie in Robert Heinleins Lazaru-Long-Büchern, indem sie über viele Generationen beobachtet werden und nur die langlebigsten (genau genommen eigentlich die am längsten fruchtbaren) zur nächsten Generation beitragen dürfen. Es würde viel mehr Generationen brauchen als bei Heinlein, aber Rose arbeitete mit Fruchtfliegen, die nur eine Woche nach ihrer Empfängnis geschlechtsreif werden. Und es funktionierte auf spektakuläre Weise: Rose erreichte schließlich eine durchschnittliche Lebensdauer, die doppelt so lang war wie die der Ausgangspopulation. 4 So beeindruckend dieser Ansatz auch war, hatte er doch eine fundamentale und ziemlich wichtige Einschränkung – eine Einschränkung, die Ihnen wohl nicht entgangen ist: Sie würden nicht davon profitieren, erst Ihre Ur-Ur-Ur- … Urenkel. Rose wusste das natürlich auch und hat in letzter Zeit daran gearbeitet, die genetische und folglich molekulare Grundlage dieser Lebensverlängerung zu erforschen, mit Sicht auf zukünftige Therapien für diejenigen von uns, die das Unglück haben, bereits

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jetzt zu leben. Doch alles, was er bis jetzt hat, sind langlebige entfernte Verwandte von kurzlebigen Fliegen. Glücklicherweise haben andere Erfolge der Lebensverlängerung im Labor nicht dieselben Nachteile. Der erste und bekannteste Weg zur Verzögerung des Alterns im Labor wurde damals in den 1930ern von einem Wissenschaftler namens Clive McCay entdeckt, der mit Labormäusen arbeitete.5 Man nennt es Kalorienrestriktion (KR) – manchmal auch Nahrungsrestriktion oder Energierestriktion. Es ist ein außergewöhnlich einfaches Konzept: Gibt man Nagern (oder vielen anderen Tieren) etwas weniger zu essen als sie möchten, tendieren sie dazu, länger zu leben, als wenn sie soviel essen können, wie sie wollen. Dies liegt nicht einfach daran, dass diese Tiere dazu neigen, zu viel zu essen, wenn sie die Gelegenheit dazu haben, und infolgedessen übergewichtig werden. Tiere, die »vernünftig essen« und ein konstantes Körpergewicht halten, leben immer noch weniger lange als diejenigen, die weniger Futter erhalten. Der nächste Forscher (Rose nicht eingerechnet), der die Hinauszögerung des Alterns einen großen Schritt voranbrachte, war ein Genetiker, der mit einem dritten, fast ebenso häufig untersuchten Modellorganismus arbeitete: dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans. Sein Name ist Tom Johnson. Er war streng genommen nicht der Entdecker des Phänomens, das ich nun beschreiben werde – diese Ehre gebührt einem seiner Kollegen –, aber er stand einige Jahre an der Spitze dieser Forschung und verkörperte sie, sodass ich mich zunächst ihm widmen werde. Johnson und seine Kollegen erforschten und entdeckten eine Mutation in einem einzigen, bekannten Gen, das für sich alleine – ganz ohne den anhaltenden Selektionsdruck, den Rose anwendete – mindestens 50 Prozent zur jugendlichen erwachsenen Lebensspanne seiner Würmer hinzufügte.6 Das war ein immenser Durchbruch, denn einzelne Gene können im Reagenzglas modifiziert und dem Körper dann durch Gentherapie hinzugefügt werden: entweder als Keimbahn-Gentherapie, die auch die Nachkommen des Empfängers betrifft oder als somatische Gentherapie, die sich nur auf den behandelten Organismus selbst auswirkt. Die somatische Gentherapie für den Menschen steckt noch in den Kinderschuhen, aber man ist allgemein zuversichtlich, dass die Technologie eines Tages funktioniert. Die humane Keimbahn-Gentherapie ruft ethische Bedenken hervor (obwohl es technische Ansätze gibt, diese zu vermeiden). Doch von der Machbarkeit her ist das Hinauszögern des Alterns durch eine einzige, gezielte genetische Veränderung der klinischen Anwendbarkeit erheblich näher als etwas, was durch eine Selektion über mehrere Generationen erreicht wurde und eine unbekannte Zahl an Genen beeinflusst. Vielleicht deswegen, und zum Teil aufgrund der verwendeten Untersuchungsmethoden, lösten Johnsons Ergebnisse einen massiven Schub an Versuchen aus, genetische Veränderungen in Tiermodellen zu identifizieren, die ihre Alterung hinauszögern. Dieser Schub brauchte mehrere Jahre, um in Schwung zu kommen, doch als ein zweites Labor (das von Cynthia Kenyon an der Universität von Kalifornien in San Francisco) eine Mutation in einem anderen Gen identifizierte, ebenfalls in Fadenwürmern, die deren Leben sogar noch mehr verlängerte als Johnsons Mutation, wurde das Thema eines der spannendsten in der Biologie.7 Kenyon und andere führende Biogerontologen konnten seitdem fast alle ihre besten Arbeiten in den anerkanntesten Fachzeitschriften veröffentlichen – Zeitschriften, in denen Wissenschaftler der meisten Gebiete während ihrer ganzen Karriere nur wenige Male publizieren können, wenn sie Glück haben.

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Johnsons und Kenyons Mutationen betrafen verschiedene Gene, aber diese Gene nehmen weitgehend an den gleichen Stoff wechselprozessen teil. Sie beeinflussen insbesondere einen alternativen Entwicklungsverlauf, den normale, nicht mutierte Fadenwürmer einschlagen können und der als Dauerpfad bezeichnet wird. Folgt eine Fadenwurmlarve dem Dauerpfad, unterbricht diese ihre Entwicklung über einen Zeitraum, der viel länger dauern kann als die gesamte Lebensspanne eines Fadenwurms, der den normalen Entwicklungsverlauf nimmt. Sie fragen sich nun vielleicht, was diese Entscheidung auslöst? Und was setzt die Entwicklung wieder in Gang und führt sie zum normalen Fadenwurm-Erwachsenen? Nun, zufälligerweise ist es so, dass Hunger der gewöhnliche Auslöser zum Betreten des Dauerpfads ist und dass die Wiederaufnahme der Entwicklung durch das Vorhandensein von Nahrung stimuliert wird. Mit anderen Worten ist der Dauerpfad der Fadenwürmer lediglich die extreme Version der Reaktion von Nagern auf Kalorienrestriktion. Seit Johnsons und Kenyons Durchbrüchen wurden viele andere Mutanten mit verlängerten Lebensspannen entdeckt – nicht nur in Fadenwürmern, sondern auch in Fruchtfliegen und Mäusen. Fast alle diese Mutationen unterbrechen ebenfalls die genetische Maschinerie, die die Wahrnehmung oder die Verstoff wechslung der Nahrung vermittelt. Allgemein vermitteln diese Mutationen eine Verzögerung des Alterns, die maximal derjenigen entspricht, die durch simple Kalorienrestriktion erreichbar ist.8 In den letzten Jahren erschienen einige wenige Publikationen über Lebensverlängerung bei Mäusen durch reduzierten oxidativen Stress, 9 doch ich bin derzeit vorsichtig, was die Reproduzierbarkeit dieser Studien betriff t, denn eine enorme Anzahl anderer Laborversuche, die das Ziel verfolgten, das Altern von Mäusen auf diese Art hinauszuzögern, schlugen fehl. An diesem Punkt habe ich nun ein recht überzeugendes, doppelt schlagendes Argument, dass es den Versuch wert ist, das Altern auf die Probe zu stellen. Einerseits sollten wir prinzipiell in der Lage sein, das Altern in beträchtlichem Maße hinauszuzögern. Außerdem haben wir dies im Labor bereits getan. Dies ist sicher ein guter Grund zu Optimismus, dass wir dies in nicht allzu ferner Zukunft auch klinisch tun können. Oder nicht? Nun, ich hätte dieses Buch wohl kaum geschrieben, wenn das nicht in der Tat meine letztendliche Schlussfolgerung wäre. Doch das entscheidende Wort hier ist »letztendlich«. Bevor ich dieses Kapitel beende, muss ich erklären, warum Kalorienrestriktion und seine genetische Nachbildung letztlich nicht auf den aussichtsreichsten Weg führen, das menschliche Altern zu bekämpfen.

Kalorienrestriktion und seine Nachbildung: Eine trügerische Hoffnung Kennen Sie Perfektionisten? Ich kenne welche – und kannte sie schon immer, denn meine Mutter ist eine. Ohne meine Mutter hätte ich es sicherlich nicht so weit gebracht und das verdanke ich sowohl ihrem Einfluss als auch ihrer harten Arbeit und Entschlossenheit, mir

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den besten Start ins Leben zu verschaffen. Doch in gewisser Hinsicht diente mir ihr Einfluss auf mich als schlechtes Beispiel, und ihr Perfektionismus ist vielleicht das extremste davon. Ich denke, dass er sie auf vielerlei Weise davon abgehalten hat, das zu erreichen, was ihr möglich gewesen wäre, und so habe ich mir nie erlaubt, ein Perfektionist zu werden – und ich habe es ganz bestimmt nie bereut. Was ist schlecht am Perfektionismus? Wir alle kennen sein Hauptproblem: Perfektionismus braucht Zeit. Die meisten Menschen wollen Dinge erledigt sehen und es gibt viele Situationen, in denen es genügt, eine Sache schnell und oberflächlich abzuhandeln, denn die Vorteile des »schnell« überwiegen die Nachteile des »oberflächlich«. Es gibt natürlich auch andere Umstände, bei denen dieses Verhältnis umgekehrt ist – wo ein gewissenhafteres Vorgehen vorzuziehen ist. Demzufolge ist das Ideal, über eine gute Intuition und Urteilsvermögen zu verfügen, wie viel Liebe zum Detail in einem gegebenen Fall angemessen ist. Sie denken vielleicht, die beiden obigen Abschnitte seien ein bemerkenswert dramatischer Exkurs. Lassen Sie sich daher überraschen, indem ich meine Gedankenkette in nur einem Satz zurück zur Kalorienrestriktion und ihren Limitierungen bringe. Die lebensverlängernde Antwort auf Nahrungsentzug ist nicht mehr und nicht weniger als Ausdruck der genetisch programmierten Intuition eines Organismus bezüglich des angemessenen Maßes an Detailliebe, das er hinsichtlich seiner alltäglichen molekularen und zellulären Funktionsfähigkeit ausüben sollte – und weil sie nur das ist, ist sie einer wesentlichen Verbesserung durch absehbare biomedizinische Technologien nicht zugänglich. Eine ausführlichere Darstellung ist angebracht und hier kommt sie: Ich habe früher in diesem Kapitel erklärt, dass es in den meisten Spezies keine Gene für das Altern gibt, aus dem einfachen Grund, dass Gene nur überleben, wenn sie genug Nutzen bringen (und damit ausreichend selektiven Druck für ihr Überleben genießen), um den konstanten Fluss zufälliger Mutationen auszugleichen, die alle Gene im Laufe der Evolution erleiden, und weil ein Gen keinen Nutzen bringen kann, wenn es lediglich einen Prozess vermittelt, der ohnehin passieren würde. Die einzigen Spezies, bei denen das Altern aktiv vom genetischen Apparat getrieben wird, sind diejenigen (wie der Lachs), die einen Grund haben, schnell zu altern und zu sterben – etwas, was einer Maschine, die zuvor über lange Zeit gut funktionierte, üblicherweise nicht passiert. Langsames Altern, wie wir es bei nahezu allen Spezies beobachten, ist der Normalfall. Demzufolge können Gene, die dies verursachen, nicht überleben. Wofür wir hingegen ganz bestimmt Gene haben, ist die Palette an interagierenden Prozessen, die uns alle aus einer einzigen Zelle in einen fruchtbaren Erwachsenen verwandeln und die unsere Vitalität und Fruchtbarkeit bis in ein Alter aufrechterhalten, in dem wir (in freier Wildbahn) sehr wahrscheinlich Hunger, Raubtieren und so weiter erlegen wären. Was hat das aber nun mit Perfektionismus zu tun? Nun, der Grund, dass wir Gene haben, die uns so lange aufrechterhalten, bis wir sehr wahrscheinlich getötet werden, ist, dass wir umso mehr Zeit haben, um Nachkommen zu zeugen, je länger unser fruchtbares Leben anhält. Umso größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Gene an zukünftige Generationen weitergegeben werden. Aber was ist mit dem anderen Ende unseres fruchtbaren Lebens – dem Anfang? Das Gleiche triff t zu: Je früher wir die Geschlechtsreife erlangen, desto mehr Zeit

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steht uns zur Verfügung, vor unserem Tod Nachkommen zu zeugen. Doch hier liegt das Problem: Der Anfang und das Ende des fruchtbaren Lebens sind nicht voneinander unabhängig. Die Entwicklung von einer Zelle zu einem fruchtbaren Erwachsenen ist einer der komplexesten Prozesse überhaupt, und es kommt dabei immer wieder zu Fehlern. Sie sehen vielleicht jetzt das Licht am Ende dieses logischen Tunnels: Der Organismus hat die Wahl, seine Entwicklung schnell und oberflächlich zu vollziehen, was zu früher Fruchtbarkeit, aber einer nachlässigen Konstruktion führt, oder mehr Perfektionismus, was die geschlechtliche Reife hinauszögert, aber letztendlich eine Maschine kreiert, die reibungsloser funktioniert. Ein nachlässig gebautes Tier wird im Durchschnitt weniger lang leben – teilweise weil es sich vielleicht gegenüber Feinden, Hunger und so weiter schlechter verteidigen kann, aber auch, weil ihm der molekulare und zelluläre Schaden, der durch seinen Frühstart zur Reife begründet wurde, einen Vorsprung im Alterungsprozess gegeben hat. Es gibt reichlich Beweise, dass dies nicht nur eine plausible Idee, sondern tatsächlich in der Natur zu beobachten ist: Vergleicht man zum Beispiel verschiedene Spezies der gleichen Größe, ist diejenige, die später zur Reife kommt, in der Regel die langlebigere. Nun aber: Was hat das mit Kalorienrestriktion, Dauerpfaden und den damit zusammenhängenden genetischen Manipulationen zu tun, die ich zuvor in diesem Kapitel behandelt habe? Nun, es ist eigentlich ganz einfach. Bei einer Hungersnot gibt es zwei große Probleme bezüglich der Weitergabe unserer Gene. Zum ersten kostet eine Schwangerschaft viel Energie, die natürlich von der Nahrung kommt. Und zweitens: Sollte es gelingen, während einer Hungersnot Nachkommen zu gebären, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit verhungern, bevor sie selbst Nachkommen zeugen können. Das ist für das Überleben der Gene nicht besser, als wenn sie erst gar keine Nachkommen gehabt hätten. Folglich ist der Vorteil (hinsichtlich des genetischen Erbes) einer schnellen Reife während einer Hungersnot geringer als bei reichlich vorhandener Nahrung. Doch warten Sie: Der Nachteil schneller Reife, nämlich die erhöhte Todesgefahr, die aus der nachlässigen Konstruktion resultiert, ist unverändert! Tatsächlich kann diese Gefahr in einigen Fällen erhöht sein: Wenn die Dauer einer Hungersnot einen Großteil der Lebensspanne einer Spezies einnimmt, wird der Zeitraum am Lebensende, wenn die gut konstruierten, spät alternden Tiere die einzigen sind, die noch Nachkommen zeugen können, der einzige Zeitraum sein, in dem erfolgreiche Fortpflanzung stattfinden kann. In diesem Fall wird der Vorteil einer besseren Konstruktion (d.h. die Nachteile einer nachlässigen Konstruktion) in einer Hungersnot dieser Dauer größer sein, als wenn während des ganzen Lebens reichlich Nahrung vorhanden ist. Somit verschiebt der Hunger die goldene Mitte in Richtung eines gewissenhafteren Entwicklungsprozesses. Und da Hungersnöte unvorhersehbare Ereignisse sind, die in unregelmäßigen Abständen auftreten, kann die Evolution das ideale Ausmaß an Perfektionismus einer Spezies nicht von vornherein festlegen: Jeder einzelne Organismus muss fähig sein, auf seine Situation zu reagieren. Darüber hinaus waren Hungersnöte schon immer so, seit Organismen angefangen haben, andere Organismen zu fressen. Somit ist es keine Überraschung, dass wir überall, wohin wir in der Natur auch schauen, feststellen, dass die genetische Apparatur auf eine Hungersnot in einem frühen Lebensstadium mit einer Wachstumsverlangsamung oder einem -stopp reagiert.

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Sie wissen vielleicht, dass Nahrungsentzug im Erwachsenenalter oftmals den gleichen Effekt, in milderem Ausmaß, hat – ein Phänomen, das durch das, was ich Ihnen soeben erzählt habe, scheinbar nicht erklärt wird. Tatsächlich mag es keine solch klaren evolutionären Gründe geben, warum Kalorienrestriktion im Erwachsenenalter das Altern überhaupt hinauszögert. Das ist aber auch nicht nötig, denn genetische Programme, die für einen Zeitpunkt oder eine Situation existieren, werden oft unnötigerweise in ähnlichen Situationen aktiviert. Wenn Sie beispielsweise jemanden erschrecken, löst das einen kleinen Adrenalinschub aus, eigentlich eine Reaktion, mit der eine Flucht aus lebensgefährlichen Situationen erleichtert werden soll. Schließlich muss ich noch erklären, warum die von mir hier dargelegte Logik impliziert, dass eine Manipulation dieser auf Nahrungsmangel reagierenden Prozesse nicht der vielversprechendste Weg ist, das menschliche Altern hinauszuzögern. Ich habe dafür drei Gründe. Erstens zeigt das Ausmaß der Lebensverlängerung, die bislang bei verschiedenen Spezies erreicht wurde, ein entmutigendes Muster: Es funktioniert in kurzlebigen Spezies viel besser als in langlebigen. Fadenwürmer können, wie ich oben bemerkt habe, mehrere Male so lang leben wie normalerweise, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt in ihrer Entwicklung Hunger erleiden; ebenso Fruchtfliegen. Mäuse und Ratten bringen es dagegen nur auf etwa 40 Prozent Lebensverlängerung. Dieses Muster brachte mich vor einigen Jahren auf die Frage, ob Menschen nicht noch weniger darauf ansprechen und ich erkannte schnell, dass es tatsächlich einen einfachen evolutionären Grund gibt, das zu erwarten. 10 Er ist eine Konsequenz der Tatsache, dass die Dauer einer Hungersnot von der Umwelt bestimmt wird und von der natürlichen Geschwindigkeit des Alterns der Spezies unabhängig ist. Zweitens verursacht die durch Nahrungsknappheit erzeugte Anpassung des Stoffwechsels lediglich eine Verlangsamung der Anhäufung von molekularem und zellulärem Schaden und keine Reparatur des bereits bestehenden Schadens. Ich habe Ihnen bereits erzählt, dass der »Heureka-Schlüsselmoment« meiner Entwicklung von SENS der war, in dem ich realisierte, dass die Reparatur der durch das Altern verursachten Schäden (bevor diese zu Krankheiten werden) einfacher sein könnte als deren Vermeidung. Doch selbst wenn man diese Erkenntnis beiseite lässt, ist Reparatur zwangsläufig besser, ganz einfach weil jede machbare Therapie (ob um Schäden zu reparieren oder um sie zu vermeiden) nur unvollständig sein wird. Will heißen: Reparaturtherapien werden einige, aber nicht alle Schäden korrigieren und Präventionstherapien werden die Ansammlung von Schäden verlangsamen, aber nicht anhalten. Warum bedeutet das, dass Reparatur vorzuziehen ist? Die Logik ist recht simpel. Falls wir, vereinfacht gesagt, eine Person mittleren Alters nehmen und die Geschwindigkeit ihres Alterungsprozesses halbieren, verdoppeln wir so ihre verbleibende Lebenszeit. Doch damit verlängern wir die gesamte Lebensdauer vielleicht nur um 20 Prozent. Wenden wir jedoch eine Therapie an, die die aufgelaufenen Schäden halbiert, und tun dies regelmäßig für den Rest ihres Lebens, so verdoppeln wir fast die gesamte Lebensdauer derselben Person (denn der angesammelte Schaden wird nur aus den Schäden bestehen, die unsere Therapie nicht beheben kann). Das bedeutet, dass wir ihre restliche Lebensdauer (von der ersten Therapieanwendung an gerechnet) vervier- oder sogar verfünffachen können! Präventionsansätze stecken ihre Ziele eben schlicht nicht hoch genug.

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Doch es gibt noch einen dritten, und ich würde sagen, den entscheidenden Grund, warum ich denke, dass Sensoren der Nahrungsfülle nicht der beste Ansatzpunkt für biomedizinische Eingriffe in den Alterungsprozess sind. Es ist deshalb so unglaublich einfach, die Lebensspanne derart vieler Organismen durch diesen Trick zu verlängern, weil er eine evolutionär entwickelte Antwort auf Umweltbedingungen darstellt. Der Mechanismus, der diese Antwort steuert, ist wie der Rest unserer Biologie unglaublich komplex und kaum verstanden. Wir können ihn aber trotz dieser Komplexität leicht manipulieren, weil seine erste Stufe – die Wahrnehmung der Verfügbarkeit von Nahrung – einfach ist. Sie müssen ebenso wenig wissen, wie Ihr Computer funktioniert, um ihn an- und auszuschalten, wie wir den Prozess zu verstehen brauchen, wie ein Nahrungsmangel in die Anpassung einer Unzahl interagierender Stoff wechselpfade übersetzt wird, um diesen Prozess an- und abzuschalten. Und genau darin liegt das K.O.-Problem. Sie müssen vielleicht nicht verstehen, wie ihr Computer funktioniert, um ihn ein- und auszuschalten, aber um ihn dazu zu bringen, Dinge zu tun, für die er nicht bereits die Hard- und Software enthält, müssen Sie einiges mehr verstehen. Und wenn die neue Funktionalität Software benötigt, die noch nicht geschrieben wurde oder nicht installiert werden kann, müssen Sie noch viel mehr wissen, und zwar genug, um diese Software selbst zu schreiben. So gesehen ist der menschliche Körper wie ein Computer, auf dem keine neue Software installiert werden kann. Er ist sehr vielseitig, aber diese Vielseitigkeit kann nicht durch die gleichen Methoden erweitert werden, die lediglich die bestehende Vielseitigkeit ausreizen. Demzufolge können wir sicher sein, dass durch die Manipulation der auf Nahrungsmangel reagierenden Prozesse nur ein begrenztes Maß der Lebensverlängerung erreicht werden kann – ob durch Kalorienrestriktion selbst oder durch Medikamente, die dem Körper vortäuschen zu verhungern, oder durch genetische Veränderungen, die denselben Schalter betätigen. Wie ich vor einigen Abschnitten erläuterte, denke ich, dass die Obergrenze dieser Methode sehr bescheiden ist, vielleicht nur zwei bis drei zusätzliche Jahre. Manche meiner Kollegen glauben, dass es bis zu 20 oder 30 Jahre sein könnten – aber es bleibt eine Obergrenze. Es wird uns nie möglich sein, dieses begrenzte Maß an Lebensverlängerung auf diese Weise auszudehnen, wie sehr wir es auch versuchen.

Nicht gut genug – Aber besser als nichts Ich möchte dieses Kapitel dennoch positiv beenden. Obwohl mittels der Prozesse, die Nahrungsknappheit wahrnehmen, das Leben nur um ein fi xes Höchstmaß verlängert werden kann und obwohl dies ein eher geringer Betrag sein dürfte, ist das immer noch besser als nichts! Zudem wissen wir ganz allgemein aus Laborexperimenten zur Lebensverlängerung, dass Tiere mit einem leicht lebensverkürzenden genetischen Problem von der Therapie oder Kur stärker profitieren als von Natur aus langlebigere Individuen. Sehr wahrscheinlich triff t das auch auf Kalorienrestriktion beim Menschen zu. Das bedeutet, dass die Anwendung von KR (oder die Einnahme sicherer KR-imitierender Medikamente, sobald und wenn diese verfügbar werden) eine gute Versicherung gegen unbekannte, erblich bedingte Anfälligkeiten

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sein könnte. Aus diesen Gründen unterstütze ich die Arbeit vieler meiner Kollegen in der Biogerontologie, die das Größtmögliche aus diesem Weg zur Lebensverlängerung herausholen, ausdrücklich. Zum Schluss möchte ich Sie noch einmal dezidiert zum Thema dieses Kapitels zurückbringen. Das Altern war einmal ein wahrhaft mysteriöses Phänomen, doch diese Zeiten sind vorbei. Wir können nun über das Altern des menschlichen Körpers in der gleichen Weise und mit der gleichen Selbstverständlichkeit diskutieren wie über das Altern und den Verfall einfacher Maschinen. Wir wissen, warum verschiedene Organismen verschieden schnell altern, ob das aufgrund unterschiedlicher Gene oder verschiedener Umgebung geschieht. Wir wissen, dass unsere Gene in unserem Kampf gegen das Altern unsere Verbündeten sind, nicht unsere Feinde – dass sie existieren, um das Altern hinauszuzögern, nicht um es zu verursachen, und wir altern nur, weil diese lebenserhaltenden genetischen Pfade nicht allumfassend sind. Nun – können Sie immer noch behaupten, ohne mit der Wimper zu zucken, das Altern sei zu geheimnisvoll, um es auf die Probe zu stellen? Sie können sich vielleicht in Ihrem Bemühen, Ihre Pro-Aging-Trance aufrechtzuerhalten, noch an einem letzten Strohhalm festklammern: Sie sagen sich vielleicht, der Teufel stecke im Detail – Details, die ich noch nicht geliefert habe. Diesen Strohhalm werde ich in Kapitel 4 kappen.

Anmerkungen 1

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Dies wurde hervorragend von Leonard Hayflick in seinem 1994 erschienenen Buch How and why we age (Wie und warum wir altern, Ballantine, New York, 377ff. [Anm. d. Ü.]) herausgearbeitet. Hayflicks Buch rief eine Art Prozession erfahrener Biogerontologen hervor, die über ihre Forschung schrieben und sich dabei an ein weites Publikum wandten. (Natürlich werden Sie in keinem dieser Bücher einen Plan zur Bekämpfung des Alterns finden.) 1972 legte Nixon, aufgrund der Lobby-Arbeit von Regierungsbeamten und anderen NIH Instituten, angesichts des ersten Gesetzentwurfes zur Gründung des NIA ein Veto ein. Das Gesetz passierte beim zweiten Versuch, da Nixon durch die Watergate-Aff äre weniger empfänglich für Lobby-Arbeit war. Die Feindseligkeit dieser Ära gegenüber der Biogerontologie ruft in mir ein starkes Déjà-vu-Gefühl hervor. Während dieses Buch geschrieben wird, unternehmen vier meiner Kollegen unter dem eingängigen Namen »The Longevity Dividend« (Die Langlebigkeits-Dividende [Anm. d. Ü.]) eine neue Offensive, um US-Politikern diese Sache verständlich zu machen. Ich begrüßte ihre Hartnäckigkeit wahrhaftig und schloss mich enthusiastisch ungefähr 100 Kollegen an, diesen Schritt öffentlich zu befürworten – doch um ehrlich zu sein, grenzte es an ein Wunder, wenn diese neue Initiative erfolgreicher sein sollte als die, in deren frustrierende Fußstapfen sie tritt. Rose, M.R.: Can human aging be postponed? Sci Am 1999, 281 (6): 106-111. McCay, C.M./Crowell, M.F./Maynard, L.A.: The effect of retarded growth upon the length of life span and upon the ultimate body size. J Nutr 1935; 10: 63-79.

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Friedman, D.B./Johnson, T.E.: A mutation in the age-1 gene in Caenorhabditis elegans lengthens life and reduces hermaphrodite fertility. Genetics 1988, 118(1): 7586. 7 Kenyon, C./Chang, J./Gensch, E./Rudner, A./Tabtiang, R.: A C. elegans mutant that lives twice as long as wild type. Nature 1993, 366 (6454): 461-464. 8 Es gibt mittlerweile eine zweistellige Anzahl solcher Untersuchungen. 9 Migliaccio, E./Giorgio, M./Mele, S./Pelicci, G./Reboldi, P./Pandolfi, P.P./Lanfrancone, L./Pelicci, P.G.: The p66shc adaptor protein controls oxidative stress response and life span in mammals. Nature 1999, 402 (6759): 309-313. 10 De Grey, A.D.N.J.: The unfortunate influence of the weather on the rate of aging: why human caloric restriction or its emulation may only extend life expectancy by 2-3 years. Gerontology 2005, 51 (2): 73-82. 6

4. Die Verjüngung durchführen

Lassen Sie uns kurz zusammenfassen, was ich Ihnen bisher über das Altern erzählt habe. Kurz zusammengefasst ist es das Folgende: • Das Altern schadet uns massiv, wie gern wir diese Tatsache auch vergessen möchten. • Das Altern ist kein Mysterium und wir können es im Labor bereits weit hinauszögern. • Die Methoden, die im Labor so erfolgreich waren, scheinen für Menschen jedoch nicht vielversprechend zu sein. In diesem Kapitel werde ich auf den »Heureka-Moment«, von dem ich im ersten Kapitel berichtete, näher eingehen. Ich werde – noch immer in groben, aber doch detaillierteren Zügen – zeigen, worin jede Art von Schaden auf molekularer und/ oder zellulärer Ebene besteht und auch die groben Umrisse davon, wie man diesem Schaden meiner Meinung nach begegnen kann.

Eine Warnung: Warum Vorsorge normaler weise besser ist als Nachsorge In Kapitel 3 erzählte ich Ihnen zwei ermutigende Dinge zum Kampf gegen das Altern: Zuerst, dass es sich im Prinzip nicht von der Bekämpfung der Alterung von menschengemachten Maschinen wie Autos unterscheidet und zweitens, dass wir bereits wissen, wie das Altern in beträchtlichem Ausmaß im Labor hinausgezögert werden kann. Doch dann erklärte ich, dass der zweite dieser Anlässe zur Freude im Grunde nur von sehr begrenztem biomedizinischen Nutzen sein wird. Nun machen Sie sich auf etwas gefasst, denn ich werde nun ausführen, wieso auch die erste dieser guten Nachrichten nicht so einfach ist, wie es scheint. Ich werde mit einem eher ernüchternden Gedanken über Autos beginnen. Warum werden so wenige von ihnen bis zu einem Alter erhalten, das weit über dem liegt, für welches sie entwickelt wurden, obwohl wir alle wissen, dass dies möglich ist? Es gibt zwei Antworten, eine ist beruhigenderweise nicht auf die Analogie mit dem menschlichen Altern anwendbar, die andere dagegen sehr. Die nicht vergleichbare Antwort lautet: Weil ihre Besitzer die Möglichkeit haben, sich ein neues Auto zu

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kaufen. Das besagt lediglich, dass die Wahrscheinlichkeit, ob Sie Geld und Zeit investieren, um ein altes und zerfallendes Modell aufrechtzuerhalten, davon abhängt, wie sehr Sie es lieben. Normalerweise würden Sie sich wohl dafür entscheiden, Ihr Auto zu verschrotten, sobald es auszufallen beginnt, weil Sie ohnehin keine starke Bindung zu ihm haben. Doch wenn Ihre Mutter anfängt auszufallen und die Möglichkeit besteht (auch wenn der Preis happig ist), sie wiederherzurichten, würde die Sache anders aussehen. Die andere Antwort ist die problematische: Die meisten Menschen schieben den ernsthaften Unterhalt ihres Autos auf, bis es zu spät ist. Es ist offensichtlich, dass umso mehr Arbeit nötig wird, je größer der Schaden ist, den eine Maschine erlitten hat. Überdies wird die Technologie, die zur Behebung des Schadens notwendig ist, immer anspruchsvoller. Wenn ein Auto wirklich aus dem letzten Loch pfeift, braucht es enorm viel Wartung, um es wieder in einen voll funktionsfähigen Zustand zu versetzen – zum Beispiel durch den Ersatz vieler Einzelteile. Und im Gegensatz zum Fürsorge-Argument von oben ist diese Situation hinsichtlich des menschlichen Körpers absolut die gleiche. Die Menschen, die dies am besten wissen, sind diejenigen, die sich nicht mit den biologischen, sondern den medizinischen Aspekten der Alterung beschäftigen: die Geriater. Geriater versuchen denjenigen Menschen zu helfen, deren Alterung einen Punkt erreicht hat, an dem körperliche oder mentale Funktionen bereits spürbar beeinträchtigt sind. Sie tun ihr Bestes, bestehende medizinische Technologien anzuwenden, um den weiteren Verfall und den schlussendlichen Tod ihrer Patienten hinauszuzögern. Doch dieser Kampf ist aussichtslos, wie nicht nur sie, sondern auch wir wissen. Der Schaden ist bereits außer Kontrolle geraten: Er verstärkt sich selbst und beschleunigt dadurch das Auftreten weiterer Schäden, die zudem immer zahlreicher und vielfältiger werden. Die Geriater können lediglich auf eine bescheidene Verbesserung der Lebensqualität der letzten Jahre ihrer Patienten hoffen und eventuell den Tod um ein paar Monate bis zu einem Jahr hinauszögern. Es ist die uralte Regel: Vorsorge ist besser als Nachsorge.

Aber nur normaler weise … Belassen wir es aber nicht dabei. Die Geriatrie ist der Gerontologie in einer Sache voraus, und darauf habe ich weiter oben hingewiesen: Geriater benutzen existierende medizinische Technologien. Warum können sie das und Gerontologen nicht? Wenn man darüber nachdenkt, ist die Antwort einfach: Um ein schon bestehendes Problem zu lösen, muss man nicht wissen, wie es entstanden ist. Ein Automechaniker, der ein Ersatzteil einbaut, muss nicht wissen, welche Art von Korrosion die Kraftstoffleitung verschlissen hat oder wie groß der Stein war, der die Windschutzscheibe zerschlagen hat. Gleichermaßen braucht der Geriater nichts über die Chemie freier Radikale oder den Cholesterin-Stoff wechsel zu wissen, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes zu behandeln. Im Gegensatz dazu erfordert die Prävention von Korrosion oder kaputten Windschutzscheiben eine sorgfältige Analyse der Spätfolgen der Salzung von Winterstraßen und der mangelhaften Schuttbeseitigung auf Autobahnen. In gleicher Weise müssen Gerontologen viel über die extrem subtilen

4. D IE V ERJÜNGUNG

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und womöglich schwer zu entdeckenden Kausalketten von Ereignissen wissen, um »Vorsorge ist besser als Nachsorge« in die Praxis umzusetzen. Wir haben hier also zwei verschiedene Ansätze, um das Altern hinauszuzögern, eine präventive und eine kurative. Bei beiden Ansätzen habe ich ein Problem erläutert, das sie zu wenig aussichtsreichen Wegen macht, und schließlich habe ich darauf hingewiesen, dass in beiden Fällen das Problem des einen Verfahrens nicht vom anderen geteilt wird – dem Altern vorzubeugen ist rechtzeitig, aber zu komplex, und die altersbedingten Krankheiten zu heilen ist einfach genug, erfolgt aber zu spät. Nun, was sagt uns das über mögliche Vorgehensweisen?

Die schlechteste beider Welten oder die Beste? Gut, ich werde Ihnen verraten, was es mir an diesem frühen Morgen in Kalifornien sagte. Die Diskussionen während der offenen Sitzungen am runden Tisch dieses Tages hatten sich auf die verschiedenen Theorien des Alterns und die Möglichkeiten, diese zu beweisen oder zu widerlegen, konzentriert. Das bedeutete vor allem die vielen Stoff wechselwege durchzugehen, die vielleicht zur Entwicklung von Alterungsschäden beitragen. Ich hatte dargelegt, dass die Produktion freier Radikale seitens der Mitochondrien – die winzigen »Kraftwerke«, die aus der Nahrung Energie gewinnen und sie in ATP umwandeln, eine für die Zelle direkt verwendbare Form von Energie – einen großen Anteil am Alterungsprozess hat. Das war etwas, das viele meiner Kollegen vermutet hatten, aber ich hatte es kürzlich in einen neuen Rahmen gefasst, der einige ungeklärte Beobachtungen auf dem Gebiet unter einen Hut brachte. Ich war überzeugt von meinem Modell, da dies zu jener Zeit mein Spezialgebiet innerhalb der Gerontologie war: Eine Abhandlung in Buchform darüber hatte mir meinen Doktorgrad verschaff t.1 Aber was mir wichtiger war, es suggerierte eine biomedizinische Lösung für das, was ich für eine Hauptursache von Alterungsschäden hielt: Durch eine komplexe, aber absehbare Gentherapie könnte die Verbindung zwischen mitochondrialen freien Radikalen und Pathologie gekappt werden, ohne in die normale Energie produzierende Tätigkeit der Mitochondrien einzugreifen. (Ich werde weiter unten etwas und in Kapitel 6 viel mehr dazu sagen.) Ich war zum Schluss gekommen, dass mein mitochondrialer Gentherapie-Vorschlag im besten Fall auch die Geschwindigkeit des menschlichen Alterns, die den meisten anderen Ursachen zuzuschreiben ist, um circa 50 Prozent verlangsamen könnte (und ich betone könnte). Das wäre ein kolossaler Durchbruch, da er zu einer ebenso starken Verlängerung der gesunden Lebensspanne führen würde wie die stärkste Kalorienrestriktion (selbst im optimistischsten KR-Szenario), aber ohne ihre Nebenwirkungen. Doch ich hatte bezüglich dieser Einschätzung keinerlei Gewissheit, und in diesen frühen Morgenstunden, allein in einem Hotelzimmer, war ich noch weniger sicher als sonst, denn ich wurde den ganzen Tag daran erinnert, wie viele Dinge in einem alternden Körper schiefgehen. Viele dieser Probleme konnten zumindest teilweise den Folgen der heimtückischen, altersbedingten Erhöhung von oxidativem Stress zugeschrieben werden – dem Ungleichgewicht zwischen den Subs-

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tanzen im Körper, die dazu tendieren, Elektronen chemisch zu »benötigen« und Substanzen, die diese chemisch anbieten »wollen«. Ich glaubte, mein mitochondrialer Gentherapie-Vorschlag würde diesen Anstieg im Alter nahezu beseitigen, doch ich konnte nicht sicher sein, inwieweit der Rest des Alterungsprozesses ohne zusätzliche, gezielte Therapien voranschreiten würde – noch wie diese Therapien aussehen könnten. Es gab zahlreiche Anwärter: • Für das Immunsystem unentbehrliche Entzündungsenzyme können, besonders wenn es viele davon gibt, auch Cholesterin oxidieren und zu atherosklerotischen Plaques beitragen. • Die Abhängigkeit unseres Körpers von Kohlenhydraten als Kraftstoffquelle setzt uns der reaktiven Chemie von Glukose aus, was das »Verkleben« (Glykation) von Zellproteinen verursacht. • Beta-Amyloid, ein aggregierendes Protein, bildet die Basis der »senilen Plaques« im Gehirn von Alzheimer-Patienten. Es ist das Resultat einer abnormalen Spaltung eines normalen Vorläuferproteins im Gehirn. • Der Prozess der Zellteilung verkürzt allmählich die Telomere jeder folgenden Zellgeneration. Das sind die schützenden Kappen auf der DNA-Doppelhelix, die die gleiche Funktion haben wie die Plastikkappen am Ende unserer Schnürsenkel: Sie hindern die Chromosomen am »Ausfransen«. (Lesen Sie in den Kapiteln 10 und 12 mehr darüber.) • Es treten Mutationen in der genetischen Datenbank der Zelle auf, wenn der DNAreplizierende Mechanismus des Körpers während des notwendigen Kopiervorgangs des DNA-»Handbuchs« für die neue Zelle »Tippfehler« macht. • Das Anzapfen der Stammzellreservoirs (die ursprünglichen, unspezialisierten Zellen, die der Körper zur Reserve bereit hält und die er zu spezialisierten Zelltypen ausbildet, wenn durch Verletzungen oder Krankheiten verloren gegangene Zellen ersetzt werden müssen) erschöpft allmählich die über ein ganzes Leben gesehen limitierte Quelle an jugendlicher zellulärer Verstärkung. Das Problem hatte mich gefangen genommen – und es war nicht nur Neugier, die mich vom Schlafen abhielt. Während viele meiner Kollegen Biogerontologie um des Verstehens willen studierten, betrachtete ich das Altern als die humanitäre Krise, die es ist, und der tägliche Tribut zehntausender Toter tönte in meinen Ohren. Meine erste Lauf bahn als Forscher auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz aufgebend, setzte ich mir nicht nur zum Lebensziel, der Morbidität und Mortalität altersbedingter Krankheiten die Spitze zu brechen, sondern der ganzen Horrorvorstellung ein Ende zu bereiten. Ich widmete mich den »Strategien zur technischen SeneszenzMinimierung«, wie ich das Ziel in meiner Dissertation erstmals nannte. Doch mein innerer Dialog führte an diesem Morgen zu Frustration und sogar einer gewissen Verzweiflung. Wenn eine echte medizinische Kontrolle des Alterns erforderte, alle diese potentiell schädlichen Stoff wechselprozesse einzeln zu korrigieren, käme ein echter Fortschritt in der Anti-Aging-Medizin tatsächlich einem Kampf gegen die Hydra gleich: Für jeden abgeschlagenen Kopf tauchen viele neue auf. Der normale Stoff wechsel ist ein derart komplexes, fein abgestimmtes Netz von Reaktionen, dass ein einziger Eingriff das ganze Netzwerk durcheinanderbringt und meist

4. D IE V ERJÜNGUNG

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neue Probleme hervorruft oder den Effekt des Eingriffes zunichte macht, indem ein ausgleichender Stoff wechselprozess ausgelöst wird. Chronische Entzündungen sind beispielsweise eine Ursache von Zellschäden. Behindert man die Entzündung jedoch, beeinträchtigt man unter Umständen die Immunabwehr gegen Krankheitserreger. Ebenso verursachen freie Radikale – ein Nebenprodukt Ihres Stoff wechsels – langfristig oxidativen Stress und Schäden. Fahren wir aber die Antioxidantien hoch, um uns gegen freie Radikale zu schützen, helfen wir vielleicht Krebszellen, sich gegen chemotherapeutische Medikamente zu verteidigen. Dieser Prozess dynamischer Stoff wechselanpassung ist im Alterungsprozess tatsächlich zu beobachten. Es gibt einige Veränderungen im Alter, die selbst keinen Schaden darstellen, obwohl sie einige pathologische Folgen haben können. Um es anders auszudrücken: Sie sammeln sich nicht in den Zellen und im Gewebe des Körpers an, sondern stellen eine Veränderung im Gleichgewicht zwischen Bildung und Abbau der beteiligten Moleküle dar. Es schien wahrscheinlich, dass solche Veränderungen, egal wie schädlich für die jugendliche Funktionsweise des Körpers, Folge von etwas anderem sind. Das hieße, die Entdeckung und Korrektur dieses »anderen« würde die irregeleiteten Folgeveränderungen korrigieren und damit die Frage nach ihrem indirekten Beitrag zum Alterungsprozess hinfällig werden lassen. Zum Beispiel lässt die Fähigkeit der Zelle, auf viele Hormone und andere Signalmoleküle zu reagieren, im Alter nach. Aber wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, scheint uns die Logik der Evolution zu diktieren, dass dieses Nachlassen nicht vorprogrammiert ist. Daher muss es Folge eines Art Schadens sein. Vielleicht verlieren die Zellmembranen ihre Fluidität und beeinträchtigen so die Fähigkeit von Rezeptor-Molekülen, ihre Form zu ändern, um Signale weiterzuleiten. Vielleicht wird die Maschinerie geschädigt, die diese Rezeptor-Moleküle produziert. Was es auch ist, die Identifi zierung des Schadens selbst würde die direkten Ursachen des Schadens, und damit des Alterns, eingrenzen. Während ich darüber nachdachte, schien es mir, als gäbe es weit weniger Schadensformen als Schaden verursachende Prozesse – beispielsweise Unmengen verschiedener Mutagene und »prä-mutagenen« Veränderungen der DNA, aber nur zwei Arten von Mutationen: Chromosomale und mitochondriale. Nun, sinnierte ich, das ist doch ein Gedanke – wie viele Formen von Alterungsschäden gibt es eigentlich? Und gibt es für die anderen ähnlich erfolgversprechende Lösungsansätze? Wie ich soeben erwähnte, kommt es in unseren Chromosomen zu Mutationen. Diese Art von Schaden verursacht Krebs. Ich hatte (damals – siehe dazu aber Kapitel 12) keine neuen Vorschläge zu diesem Thema auf Lager und war (zumindest fürs Erste) auf Ideen anderer Leute angewiesen. Doch es gab keinen Mangel an solchen Ideen: Die Krebsforschung gehört zu den größten Gebieten der Biomedizin. Welche anderen Probleme könnten aus nukleären (die Chromosomen im Zellkern betreffenden) Mutationen entstehen? Es wurde weithin angenommen, dass sie ein wesentlicher Grund von altersbedingten zellulären Fehlfunktionen wären, aber ich hatte seit einiger Zeit ein Gegenargument in meinem Kopf hin und her gewälzt – ein Argument, das mich recht sicher machte, dass Mutationen, die für Krebs irrelevant sind, im Verlauf einer derzeit normalen Lebensspanne für das Altern unbedeutend

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seien. Sicher, eine nichtkanzeröse Mutation in einer Zelle würde diese einzelne Zelle wohl dysfunktional werden lassen, aber könnte sie das Gewebe als Ganzes wirklich substantiell beeinflussen? Klar, wenn sich jede Zelle im Gewebe falsch verhielte, hätte die Person Probleme – aber das kann nicht der Fall sein. Warum nicht? Nun, wäre es für eine durchschnittliche Zelle so einfach, sich eine Mutation zuzuziehen, würde jeder Mensch bis zum Erwachsenenalter von Krebs durchlöchert sein, denn für einen lebensbedrohenden Tumor braucht es nur eine einzige kanzeröse Zelle, die unkontrolliert wachsen kann. Das legt nahe, dass nahezu alle Zellen genetisch intakt bleiben, bis eine Person in die Vierziger kommt, und dass die große Mehrheit der Zellen während einer »normalen« Lebensspanne intakt bleibt. In anderen Worten: Um zu verhindern, dass wir vor der Pubertät an Krebs sterben, muss unser DNA-Reparaturmechanismus so gut sein, dass Mutationen, die für Krebs nicht relevant sind, einfach zu selten vorkommen, um eine Rolle zu spielen. Besser noch: Die exakt gleiche Logik schien anwendbar auf das, was der Biogerontologe Robin Holliday treffend als »Epimutationen« bezeichnet hatte – keine Veränderungen der DNASequenz selbst, sondern der Struktur der jeweiligen Basen oder der Proteine, um die sich die Doppelhelix normalerweise wickelt. Epimutationen können großen Schaden verursachen, weil sie die Häufigkeit verändern, mit der Gene in Proteine übersetzt werden. Ebenso wie echte Mutationen können Epimutationen aber sowohl Krebs als auch andere Probleme verursachen. Folglich ist die Schlussfolgerung »Krebs ist ein größeres Problem als alle anderen« auch auf Epimutationen anwendbar. Ich werde Ihnen in Kapitel 12 mehr zu diesem Gedankengang erzählen. Zusätzlich zu chromosomalen Mutationen gibt es mitochondriale Mutationen, die eine wichtige Rolle bei dem von freien Radikalen verursachten Problem sein könnten. (Mitochondrien sind die einzigen Zellkomponenten, die ihre eigene DNA enthalten, unabhängig von unseren Chromosomen.) Glücklicherweise, so dachte ich, glaube ich bereits eine machbare Lösung bezüglich mitochondrialer Mutationen zu kennen. Meine Lösung war ganz anders als die problematischen Ansätze, die von anderen Forschern vorgeschlagen wurden, und sie schien mir viel schlagkräftiger. Sie verließ sich nicht auf eine aufgemotzte Antioxidans-Abwehr, eine Idee, die nicht nur von Vitaminverkäufern, sondern sogar von einigen Biotech-Unternehmen immer noch verfolgt wurde (trotz der Tatsache, dass Biogerontologie-Spezialisten vor langer Zeit schon zu dem Schluss gekommen waren, dass Antioxidantien eine Sackgasse sind, nachdem diese wieder und wieder daran gescheitert sind, das Altern auch nur ein Jota zu beeinflussen.2 Ein besseres Beispiel dafür, dass unsere Ambivalenz dem Altern gegenüber nur oberflächlich ist, lässt sich nur schwer finden.) Freie Radikale sind einfach zu reaktiv, um wirksam mit Vitaminen abgefangen zu werden, oder sogar mit den neuen freien Radikalfängern, die damals aus den Pharmalabors kamen (mit Namen wie MnTBAP und EUK-134, synthetischen Versionen des antioxidativen Enzyms Superoxid-Dismutase). Und wenn sie nicht zu reaktiv sind, können sie zu notwendig sein – es ist vor kurzem klar geworden, dass das Abfangen allzu vieler freier Radikale dem Körper neue Sorgen bereiten würde. Nachdem der Mensch Jahrtausende lang ihrer reaktiven Chemie ausgesetzt war, hatte die Evolution gelernt, freie Radikale als Signalmoleküle zu nutzen,3 sodass es dem Zellstoff wechsel nicht nützen, sondern sogar schaden würde, wenn das Ausmaß an freien Radikalen, dem

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die Zelle ausgesetzt ist, unbarmherzig unterdrückt würde. Der Körper könnte als Antwort auf antioxidative Nahrungsergänzungen sogar seine natürliche antioxidative Verteidigung kompensatorisch zügeln. Den Versuch, die Produktion freier Radikale zu reduzieren, betrachteten viele meiner Kollegen als besten Weg, um Alterungsschäden zu verlangsamen. Doch es tatsächlich zu realisieren, ohne die Fähigkeit des Körpers, die vielen Pflichten des Lebens weiter zu erfüllen, ernsthaft zu beeinträchtigen, wäre (aus den soeben genannten Gründen) äußerst schwierig. Nicht nur das: Die meisten freien Radikale werden in den Mitochondrien während der Herstellung von ATP aus der mit der Nahrung aufgenommenen Energie gebildet, und bastelt man an diesem zentralen Bestandteil des Stoff wechsels herum, ruft man zwangsläufig Nebenwirkungen hervor. Wie ich einige Absätze zuvor angedeutet habe, hatte ich bereits vorgeschlagen, diese problematischen Ansätze mittels einer Strategie zu vermeiden, auf die ich in Kapitel 6 detailliert eingehen werde. Kurz gesagt geht es darum, den Stoff wechsel normal weiterarbeiten zu lassen – zu akzeptieren, dass freie Radikale erzeugt und einige Biomoleküle beschädigt werden –, aber die Verbindung zwischen freien Radikalen und oxidativem Stress an ihrem Nexus zu durchtrennen. In meiner Dissertation hatte ich argumentiert, dass (im Gegensatz zur damals vorherrschenden Auffassung) mitochondriale freie Radikale keinen systemweiten Anstieg an oxidativem Stress im Alter auslösen, indem sie dem Rest der Zelle direkt schaden. Stattdessen führt der Schaden, den sie an der mitochondrialen DNA verursachen, zu einem fehlangepassten Zustand des Mitochondriums, der oxidativen Stress über die Zelle hinaus ausbreitet. Dies bedeutete, so hatte ich argumentiert, dass Wissenschaftler das Problem mitochondrialer Mutationen lösen könnten, indem sie mitochondriale DNA weg von ihrem gefährdeten Platz, dem »Tatort« inmitten der freie Radikale produzierenden Mitochondrien, in den Luftschutzbunker des Zellkerns kopieren, wo DNA-Schäden viel seltener vorkommen. Die Proteine, für die sie den Bauplan enthalten, müssten so konstruiert sein, dass sie die Zelle dazu veranlassen, sie in die Mitochondrien zu transportieren. Das dazu erforderliche Verfahren ist jedoch seit einiger Zeit zum größten Teil verstanden. In diesem Szenario würden die Zellkernkopien als »Sicherheitskopie« für die mitochondriale DNA fungieren: Die Mitochondrien könnten normal funktionieren, selbst wenn ihre DNA beschädigt würde, und könnten so dem Organismus als Ganzes keinen langfristigen Schaden zufügen. Es würden immer noch Mitochondrien beschädigt, doch würden diese nicht in den fehlangepassten Zustand geraten, den ich soeben erwähnt habe, und würden damit nicht das schleichende, zerstörerische Abgleiten zu oxidativem Stress im restlichen Körper bewirken. Gut, zwei erledigt (chromosomale und mitochondriale Mutationen), wie viele kommen noch? Da ist noch die Glykation, die Verformung von Proteinen durch Glukose. Nun, das schien relativ einfach, da in dem Bereich bekannt war, dass eine junge Biotech-Firma namens Alteon bereits klinische Studien mit einer Verbindung namens ALT-711 durchführte, die die durch Glykation verursachte Proteinvernetzung rückgängig zu machen schien. Der Effekt war zwar gering, aber bedeutsam: Die Verbindung hatte eine begrenzte Fähigkeit, die Elastizität teilweise wiederherzustellen, die durch Glykation im Laufe des Alterungsprozesses im Herz und in den

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Blutgefäßen verloren geht, und weckte auch Hoffnungen bezüglich Nierenschäden bei Diabetikern. Es war der Machbarkeitsbeweis, dass es grundsätzlich möglich ist, die Bildung von Proteinvernetzungen zu erlauben, ohne in den Glukose-Stoffwechsel einzugreifen und dabei die pathologischen Folgen zu vermeiden, indem der Schaden nach seinem Auftreten rückgängig gemacht wird. (Dies ist, wie Sie sehen werden, ein wichtiges und wiederkehrendes Motiv – greife nicht in den Prozess ein, sondern repariere oder beseitige den aufgelaufenen Schaden.) In Kapitel 9 finden Sie noch viel mehr Details zum Problem der Glykation. Was noch? Es gibt verschiedene Arten von Müll, die sich außerhalb der Zelle ansammeln: Beta-Amyloid, das weniger bekannte Transthyretin und womöglich andere Substanzen dieser Art. Auch hier zeigten vor kurzem erfolgte Studien der Privatwirtschaft – dieses Mal die eines irischen Unternehmens namens Elan –, dass das Problem aktiv beseitigt werden konnte, in diesem Fall, indem Mäuse gegen die Amyloid-Plaques geimpft wurden und man ihre Immunzellen den Müll verschlingen ließ. Das Konzept hatte im Labor so rasche Erfolge gezeigt, dass es bereits kurz vor klinischen Tests stand. Werde ich Ihnen später im Buch mehr darüber erzählen? Darauf können Sie wetten – siehe Kapitel 8. Wir müssen auch das ungesunde Zeug wie Lipofuszin angehen, das sich innerhalb der Zelle aufbaut. An dem Punkt wurde ich ziemlich enthusiastisch, denn nur ein Jahr zuvor – im Juni 1999 in Dresden – schlug ich einen neuen Ansatz zur Beseitigung dieser Stoffe vor, der die Identifi kation und den Einsatz von Enzymen aus Bodenbakterien vorsah. (Dies war ein klassischer Fall von jemandem, der nicht in seine eigenen Versuche versunken und daher in der Lage ist, Ideen aus sehr entfernten Disziplinen zusammenzubringen, um einen neuen Ansatz zu einem bestehendem Problem zu finden – ein entscheidendes Element modernen wissenschaftlichen Fortschritts, das leider in vielen Gebieten der Medizin und Biologie vernachlässigt wird.) Das Konzept, Bodenbakterien zu nutzen, um langlebiges organisches Material abzubauen, gab es schon seit Jahrzehnten, aber nicht in der Gerontologie oder gar anderen biomedizinischen Gebieten. Sie war vielmehr ein Standbein der Umweltsanierung, wo sie als »Bioremediation« bekannt ist. In der Gerontologie hatte niemand wirklich davon gehört und schon gar nicht ihr biomedizinisches Potential erkannt. Wenn Sie neugierig geworden sind, müssen Sie sich nur bis Kapitel 7 gedulden. Ein anderer Punkt, der auf die Liste gehört, ist zelluläre Seneszenz, das »Altern« individueller Zellen. Seneszenz bedeutet hier einen Zustand angehaltenen Wachstums, in dem die Zelle chemische Signale produziert, die ihre Nachbarn gefährden. Zumindest theoretisch gibt es eine Unmenge an Möglichkeiten, mit zellulärer Seneszenz fertig zu werden, doch ich war nicht sicher, welche sich letztlich durchsetzen würde. Seneszente Zellen exprimieren charakteristische Marker-Proteine, die ihre gezielte Anpeilung für eine selektive Vernichtung erlauben sollten. Andererseits ist es vielleicht möglich, die normale Funktionalität seneszenter Zellen wiederherzustellen, sobald Wissenschaftler den Schaden oder die Genexpressions-Veränderungen aufgeklärt haben, die diese Zellen in ihrem abnormen, arretierten Zustand festhalten. Dies war natürlich alles noch spekulativ, aber Judith Campisi in Berkeley und andere waren dem Phänomen schon dicht auf den Fersen. Kapitel 11 wird alles erklären.

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Es gibt zudem den Schwund von Zellen, die sich nicht teilen wie etwa Neuronen oder Herzzellen, die normalerweise nicht ersetzt werden, wenn sie absterben, und auch die paradoxere Erschöpfung der Stammzellreservoirs, die für die Gewebeheilung und -aufrechterhaltung notwendig sind. Jeder, der in den letzten paar Jahren Zeitung gelesen hat, weiß, dass Wissenschaftler fleißig an einem Verfahren arbeiten, um mit dem altersbedingten Verlust von Zellen, einschließlich Stammzellen, klarzukommen: nämlich mehr dieser Stammzellen im Labor zu züchten und sie als verjüngende Zelltherapie zu verabreichen. Es gab verschiedene realisierbare Methoden, jede vermutlich für andere Leiden geeignet. Eine bestand darin, bereits im Patienten vorhandene, adulte Stammzellen zu entnehmen, sie zu vermehren und sie dann wieder in den Patienten einzubringen. Eine andere sah vor, einige der wandlungsfähigeren embryonalen Stammzellen zu sammeln, die weltweit bereits in Fertilitätskliniken darauf warteten, als medizinisches Abfallprodukt entsorgt zu werden. Das komplexeste Verfahren war der »Kerntransfer«, bei dem alte, spezialisierte Zellen eines Menschen durch die Gegenwart einer weiblichen Eizelle und einen kurzen Stromschlag wieder in junge, wandlungsfähige Stammzellen verwandelt werden können. In Tiermodellen haben Forscher schon gezeigt, dass diese Zellen dazu genutzt werden können, altersbedingte Krankheiten und Verletzungen zu heilen. Es gab zudem allen Grund zur Annahme, dass die gleichen Methoden – sobald sie perfektioniert sind – dazu genutzt werden könnten, Zellen zu ersetzen, die durch altersbedingten Verfall verloren gingen. Was noch? Hmm … Mir fielen keine weiteren Schadensarten mehr ein, so sehr ich auch darüber nachdachte! Es gab ein paar andere Beispiele von molekularen Veränderungen, die sich im Laufe des Lebens ansammeln, aber ich hatte Grund zur Annahme, dass sie zur selben Kategorie gehörten wie chromosomale Mutationen, die nicht Krebs verursachen: Sie könnten vielleicht schädlich sein, wenn wir Hunderte von Jahren lebten, aber im Verlauf einer normalen Lebensspanne sind sie höchstwahrscheinlich harmlos. Ansonsten schien alles, was ich während meiner fünfjährigen Forschung und auf Konferenzen gelernt hatte, abgedeckt. 4 Ich hielt einen Moment inne und artikulierte die Logik, die ich in diesen letzten Stunden entwickelte hatte. Im Kern ging es um eine einfache Frage: Wenn die Geriatrie scheitert, weil Vorsorge besser ist als Nachsorge, und wenn die Gerontologie scheitert, weil unser Verständnis des Stoff wechsels so beschränkt ist, könnte dann ein dazwischen liegender Ansatz das Beste beider Welten vereinen? Wäre es möglich, Schaden zu reparieren, nachdem er erfolgte (und so zu vermeiden, die detaillierten Ursachen des Schadens verstehen zu müssen), aber bevor er außer Kontrolle gerät (und damit auch den aussichtslosen Kampf der Geriatrie zu vermeiden)? Siehe Abbildung 1.

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Abbildung 1: Der »Ingenieursansatz«, den ich im Juni 2000 als eine intermediäre, das Beste beider Welten vereinende Alternative zur Gerontologie und Geriatrie, als Strategie um das Altern zu bekämpfen, entwickelt habe.

Gerontologie

Stoffwechsel

Ingenieursprinzip

Schäden

Geriatrie

Pathologie

Ich konnte diese Frage nur dann bejahen, falls ich eine bestimmte, äußerst kühne Behauptung aufstellen konnte: dass alle diese Zwischenprodukte, diese direkten Nebenwirkungen des Stoff wechsels, die sich während eines Lebens im Körper ansammeln, entweder (a) für die Pathologie des hohen Alters nicht relevant sind (wie ich es für Mutationen, die keinen Krebs verursachen, annahm) oder (b) durch absehbare Therapien repariert oder unbedenklich gemacht werden können. Falls einige repariert werden könnten und andere definitiv harmlos wären oder harmlos gemacht werden könnten, manche aber weder in die eine noch in die andere Kategorie fielen, würde der Plan scheitern. Wie jede Maschine ist der Körper nur so stark wie sein schwächstes Glied, daher wird partielle Wartung nur wenig oder keinen Effekt auf die Langlebigkeit haben. Doch ich ging wieder und wieder durch meine Liste, und während ich dies tat, wuchs in mir die Überzeugung, dass es keine eindeutige Ausnahme gab. Die Kombination meiner eigenen Idee, intrazellulären Müll zu beseitigen, die Idee, die ich seit einigen Jahren verfocht, um mitochondriale Mutationen unschädlich zu machen, und die zahlreichen anderen Therapien, an denen weltweit gearbeitet wird, um Glykation, Amyloid-Anhäufung, Zellverlust, seneszente Zellen und Krebs zu behandeln … das war wahrhaftig eine abschließende Liste. Abbildung 2 zeigt meine Aufzählung der Probleme und der Lösungsansätze, die den derzeitigen Stand von SENS (»Strategies for Engineered Negligible Senescence« – Strategien zur technischen Seneszenz-Minimierung) darstellen. Wie oben erwähnt, können gut und gerne andere Probleme auftauchen, falls wir alle hier erwähnten erfolgreich bekämpfen und dadurch viel länger leben. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass meine Liste sehr wohl umfassend genug sein könnte, um Menschen, die bereits in mittlerem Alter sind, wenn wir mit den Behandlungen beginnen, einige Jahrzehnte zusätzliche Lebenszeit zu verleihen. Und das war gewiss ein deutlich vielversprechenderer erster Schritt als alles, was meine Kollegen am Tag zuvor besprochen hatten oder was in den vielen Konferenzen und Artikeln vorkam, die ich in den letzten paar Jahren verschlungen hatte.

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Abbildung 2: Die sieben Bestandteile von SENS.

Schaden

Könnte beseitigt oder unschädlich gemacht werden durch

Details s. Kapitel

Zellverlust, Zellschwund

Hauptsächlich Zelltherapie

11

Müll außerhalb der Zellen

Phagozytose durch Stimulation des Immunsystems

8

Querverbindungen außerhalb der Zellen

Moleküle/Enzyme, die Glykationsprodukte spalten

9

Seneszente Zellen

Suizid-Gene, Stimulation des Immunsystems

10

Mitochondriale Mutationen

Allotopische Expression von 13 Proteinen

5, 6

Müll innerhalb der Zellen

Transgene mikrobielle Enzyme

7

[Epi-]Mutationen im Zellkern (nur Krebs zählt)

Gendeletion von Telomerase/ ALT und regelmäßiger Ersatz von Stammzellen

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Die kalifornische Sonne hob sich und mit ihr auch meine Stimmung. Es war klar, dass immense technische Hürden überwunden werden müssten, damit die von mir konzipierten Therapien auch in der Realität Leben retteten. Dessen ungehindert wurde mir klar, dass mein Gedankengang das Potential hatte, die groben Züge einer Revolution in der Biogerontologie zu umreißen – und hoffentlich, zu gegebener Zeit, für die Zukunft des menschlichen Lebens. Sich anhäufenden Schaden zu reparieren (oder ihn im Fall mitochondrialer Mutationen zu vermeiden), war ein echter Mittelweg, der das Beste der beiden traditionellen Ansätze, der Gerontologie und der Geriatrie, verband. Er konzentrierte sich auf ein schwaches Bindeglied in der Folge von Ereignissen, die vom Stoff wechsel zur Pathologie führte: früh genug in dieser Kette, um die Abwärtsspirale zu vermeiden, die Geriater immer einem von vornherein verlorenen Kampf aussetzte, und dennoch spät genug, um die Störung des Stoffwechsels zu vermeiden, die die »über-präventive« Methode der Gerontologie zum Scheitern verurteilte. Diese Idee würde von meinen früheren IT-Kollegen, ja sogar von fast allen Ingenieuren mühelos verstanden. In der Technik ist es üblich, Technologien zu entwerfen, bevor ein komplettes theoretisches Verständnis der zugrundeliegenden Physik erreicht ist. Techniker nutzten Elektrizität, supraleitende Magnete und sogar Kernenergie (in Form von Waffen), lange bevor sie eine konsistente theoretische Erklärung der Kräfte hatten, derer sie sich bedienten. Selbst in der Medizin ist der wirksame Einsatz von Behandlungen unserem mechanistischen Verständnis von ihnen historisch oftmals lange vorausgegangen. Salicylate aus Weidenrinde wurden seit Jahrhunderten gegen Entzündungen eingesetzt, und dem Bayer-Chemiker Felix Hoffmann gelang es sogar, diese natürlichen Präparate so zu verändern, dass sie ge-

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nießbarer wurden und den Magen weniger belasten. Dennoch wurde der molekulare Wirkmechanismus des neuen Wundermittels (Aspirin) erst sieben Jahrzehnte später verstanden. Natürlich kann man sogar noch wirksamere Medikamente oftmals gezielt entwickeln, sobald die Schlüsselenzyme und -gene, auf die sie womöglich einwirken, sequenziert sind – aber diese Detailtiefe war nicht notwendig, um mit der Entwicklung wirksamer Medikamente loszulegen. Diese Neuausrichtung macht einen schwindlig – doch sobald man sie akzeptiert hat, so realisierte ich, wurde das ganze Vorhaben plötzlich lenkbar und der einzuschlagende Weg klar. Man kann den Gedanken ablegen, das Problem der Alterung zu lösen sei hoffnungslos komplex und theoretisch und damit beginnen, es frontal anzugreifen, als technische Herausforderung, die bewältigt werden muss. »Technische Verfahren zur Seneszenz-Minimierung«, ein Ausdruck, den ich vorher spontan genutzt hatte, stellte sich plötzlich als präzisest mögliche Beschreibung der vor uns liegenden Aufgabe dar.5 Ich erkannte, dass man über das Problem sogar in der Art und Weise nachdenken konnte, wie wir »Altern« in anderen physikalischen Strukturen wie Häusern oder Autos vermeiden. Wie ich in Kapitel 2 erläutert habe, hindern die Prioritäten der Evolution nahezu alle Organismen daran, ohne Altern unbegrenzt zu leben: Mutationen in den beteiligten Genen würden nicht durch Selektion beseitigt, wenn der nicht alternde Organismus von einem Feind gefressen wird oder sonstwie in lediglich einem Bruchteil der »Ewigkeit« untergeht. Das ist ähnlich wie bei Autos, die mit dem Ziel entwickelt werden, den gegensätzlichen Prioritäten von Haltbarkeit und niedrigen Kosten in einer für den Konsumenten akzeptablen Mitte gerecht zu werden. Somit sind unsere Körper – wie unsere anderen Fortbewegungsmittel – konzipiert, um eine biologische »Garantiezeit« zu überleben: Sie sind robust genug und zu ausreichender Selbstreparatur fähig, um so lange optimal zu funktionieren, wie sie unter normalen Umständen in der Wildnis überleben würden, aber nicht länger. Doch natürlich können die einzelnen Halter von Autos oder Körpern Prioritäten haben, die sich erheblich von denen der Autobauer oder unserer »egoistischen Gene« unterscheiden. Wenn Sie wollen, dass ein Auto viel länger hält als von den Herstellern billiger Autos typischerweise beabsichtigt, haben Sie zwei Möglichkeiten. Die erste ist, von vornherein ein besseres Auto zu kaufen: Kaufen Sie sich einen Mercedes statt eines Fiats. Das ist alles schön und gut, wenn es um Autos geht, aber es ist keine Option für diejenigen von uns, die nur die Gene haben, mit denen wir geboren wurden. Und natürlich wird auch ein Mercedes irgendwann kaputt gehen, nur ein paar Jahre später als ein günstigeres Modell. Deswegen wählen wir die andere Option, wenn wir ein Auto für eine außergewöhnlich lange Zeit fahren wollen: Wir reparieren die auftretenden Schäden. Ob es ein armer Arbeiter ist, der seinen antiken VW-Käfer aufrecht erhält, weil es das einzige Auto ist, das er sich jemals wird leisten können, oder ein wohlhabender Sammler, der einen alten MG aus reiner Liebe repariert – wir alle wissen, dass ein Auto bei ausreichender Pflege mehr oder weniger unbegrenzt genutzt werden kann. Wir müssen die Autos nicht in klimatisierten Garagen von den Straßen fernhalten und wir sind nicht auf das neueste Benzingemisch angewiesen: Wir reparieren abgenutzte Teile ganz einfach, sobald sie beginnen nachzulassen. Wie ich damals erkannte, und wie

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ich in den nächsten Kapiteln beschreiben werde, ist die Analogie zum Menschen (auf Zell-, Gewebe- und Organ-Ebene) auffallend exakt.

Der Teufel steckt im Detail Am Ende von Kapitel 3 erklärte ich, dass der Zweck dieses Kapitels darin bestehe, die letzte Hoffnung der Menschen zu beseitigen, ihre Pro-Aging-Trance aufrechtzuerhalten: die Hoffnung, dass meine atemlose Begeisterung angesichts der jüngsten Entwicklung des Alterns vom Mysterium zum Beeinflussbaren nur substanzloses Gerede sein könnte. Ich hoffe, das erreicht zu haben – aber ich bin oft genug auf die Pro-Aging-Trance gestoßen, um zu wissen, dass sie manchmal sehr schwer zu durchbrechen ist. Deswegen werde ich, für den größten Teil des Rests dieses Buches, tief in die feinen wissenschaftlichen Details der sieben SENS-Kategorien und ihrer Gegenmittel eintauchen. Ich weiß, dass die meisten Leser dieses Buches keine Wissenschaftler sind und dies einschüchternd wirken mag. Aber Michael Rae und ich haben uns sehr bemüht, bahnbrechende Wissenschaft im zweiten Teil in einer Art und Weise darzulegen, die für jeden gebildeten Laien verständlich ist, der bereit ist, sich die Zeit für eine sorgfältige Lektüre zu nehmen. Ich fordere Sie deshalb auf, einzutauchen und die Details über die Schadensarten zu lernen, die das Altern ausmachen und die absehbaren Technologien, die – darauf vertraue ich – es uns ermöglichen werden, diese Schäden umfassend genug zu reparieren oder zu vermeiden, um altersbedingten körperlichen und geistigen Verfall für unbegrenzte Zeit zu vermeiden.

Anmerkungen 1

De Grey, A.D.N.J.: The mitochondrial free radical theory of aging. 1999, Austin, TX: Landes Bioscience. 2 Barja, G.: Rate of generation of oxidative stress-related damage and animal longevity. Free Radic Biol Med 2002, 33 (9): 1167-1172. 3 Rhee, S.G.: Redox signaling: hydrogen peroxide as intracellular messenger. Exp Mol Med 1999, 31 (2): 53-59. 4 Eigentlich beinhalteten meine frühen Darstellungen von SENS auch altersbedingte Veränderungen im Immunsystem und im endokrinen (hormonellen) System als eigenständige Reparaturposten. Sie sind nicht länger angeführt, da beide aus Veränderungen resultieren, die unter anderen SENS-Punkten abgehandelt werden. Die Schwächung des Immunsystems resultiert letztlich aus einem Mangel an bestimmten Zellarten, die in unserer Immunabwehr Schlüsselrollen spielen und die Überfülle an Immunzellen, die nicht mehr optimal arbeiten. Endokrine Veränderungen sind ähnlich: Von manchen Zellarten haben wir zu viel, besonders Fettzellen am Bauch, und von anderen zu wenig (wie im weiblichen Eierstock). Einige wichtige endokrine Zellen werden zudem vom intrazellularen Müll, der sie verlangsamt, behindert.

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5 Ich benutzte den Ausdruck »technische Bekämpfung des Alterns« in meinem 1999 erschienenen Buch (s. Endnote i), das zum größten Teil 1998 geschrieben wurde. Ich habe ihm das Wort »Verfahren« in dem Artikel, der aus dem Workshop entstanden war, den ich nur drei Monate nach meiner Kalifornien-Offenbarung geführt hatte, vorangestellt: De Grey, A.D.N.J./Ames, B.N./Andersen, J.K./ Bartke, A./Campisi, J./Heward, C.B./McCarter, R.J.M./Stock, G.: Time to talk SENS: critiquing the immutability of human aging. Ann N Y Acad Sci 2002, 959: 452-462. Das Akronym »SENS« erschien auch erstmalig in der Überschrift dieses Artikels.

Zweiter Teil

5. Kernschmelze der zellulären Kraftwerke

Die Zellbestandteile – »Organellen« – namens Mitochondrien spielen gemeinsam mit den reaktiven Molekülen, die man freie Radikale nennt, eine wichtige Rolle im Alterungsprozess. Als ich Mitte der 90er Jahre dieses Gebiet betrat, war deren Rolle jedoch nicht klar definiert; Beweismaterial und Interpretationen waren widersprüchlich und harrten einer Synthese. Als Antwort darauf entwickelte ich eine mittlerweile allgemein anerkannte mitochondriale Theorie des Alterns durch freie Radikale. Lesen Sie weiter: Um das Altern zu verstehen, muss ich kurz die Arbeitsweise unserer Zellen illustrieren.

In Kapitel 4 erklärte ich, dass es sieben Kategorien von sich lebenslang anhäufenden Schäden gibt, mit denen wir uns befassen müssen, falls wir ihre Ursachen – die Lebensprozesse selbst – von ihren Konsequenzen, der Pathologie des Alterns, entkoppeln und diese dadurch verhindern wollen. Sechs dieser sieben Kategorien bilden das Thema je eines Kapitels in diesem zweiten Buchteil – die Kapitel 7 bis 12. Die erste Klasse jedoch, mitochondriale Mutationen, wird zwei Kapitel beanspruchen. Das liegt daran, dass wir zuerst die komplizierte Frage beantworten müssen, ob mitochondriale Mutationen im Alterungsprozess überhaupt eine Rolle spielen, um zu wissen, ob wir uns um sie sorgen müssen. Wie ich in Kapitel 4 kurz erwähnte, beinhaltet SENS keinen Plan, Kernmutationen anzugehen, es sei denn, sie verursachen Krebs. Mutationen, die nicht Krebs verursachen, sammeln sich nämlich nicht schnell genug an, um während einer normalen Lebensspanne relevant zu sein. (Ich werde die Gründe dafür in Kapitel 12 expliziter erklären.) Viele Gerontologen argumentieren in Bezug auf mitochondriale Mutationen ähnlich. Ich bin anderer Meinung, daher muss ich Ihnen erklären, weshalb. Für jede der sechs anderen Schadenskategorien von SENS gibt es hingegen keinen Widerspruch: Mindestens eine der Hauptpathologien des Alterns wird offensichtlich durch die jeweilige Form der Schädigung verursacht oder beschleunigt. Daher benötigen diese sechs Kategorien nur jeweils ein Kapitel, das sich auf Lösungsansätze konzentriert, und eine relativ kurze Erläuterung, warum es überhaupt ein Problem zu lösen gibt.

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Freie Radikale: Das Wichtigste in Kürze Fast jeder hat heutzutage schon von freien Radikalen gehört. In der Regenbogenpresse – und vor allem in Artikeln, die die neuesten »Antioxidans«-Nahrungsergänzungsmittel anpreisen – wird ihre Beteiligung am Alterungsprozess so oft und mit solch einer Überzeugung behauptet, dass man denken könnte, die Sache sei glasklar. Wie wir jedoch sehen werden, ist die exakte Rolle der freien Radikale im Alterungsprozess – und der beste Ansatz, wie mit den Folgeproblemen umzugehen ist – viel komplizierter und kontroverser, als uns die Presse glauben lässt. Freie Radikale sind in der Biologie zumeist 1 sauerstoff basierte Moleküle, denen ein einzelnes Elektron fehlt. Elektronen sind geladene Teilchen, die den zentralen Kern eines Atoms umkreisen und dies in genau definierten Abständen vom Kern, den sogenannten Orbitalen. Es liegt in der Natur der Moleküle, dass sie nur dann chemisch stabil sind, wenn Elektronen jeweils zu zweit ein Orbital besetzen: Ein Orbital mit nur einem einzigen Elektron ist instabil. Wenn also ein Molekül ein Elektron eines solchen Zwillingspaares verliert, wird es chemisch reaktiv, bis es wieder ein Elektron gewinnt. Normalerweise erhält das freie Radikal seine Stabilität zurück, wenn es dem nächstbesten, stabilen Molekül ein Elektron entreißt – dadurch verliert aber dieses zweite Molekül seine chemische Stabilität und es wird versuchen, diese durch einen weiteren Elektronenraub wiederzuerlangen: eine Kettenreaktion. Einige außergewöhnliche Moleküle – Antioxidantien – überlisten diese Logik und sind sogar mit einem ungepaarten Elektron relativ stabil. Diese Moleküle können Kettenreaktionen freier Radikale abfangen. Bevor ihnen dies jedoch gelingt, wüten freie Radikale durch unseren Körper wie biochemische Vandalen und verwüsten jedes essentielle Biomolekül, das ihnen über den Weg läuft: die Strukturproteine, die unsere Gewebe ausmachen, die Lipidmembranen, die unsere Zellen unterteilen und ihre verschiedenen Funktionen ermöglichen, den DNA-Code, der den Bauplan für alle von der Zelle benötigten Enzyme und Proteine enthält, und so weiter. In der Biologie ergibt sich die Funktion aus der Struktur und daher wird die Fähigkeit dieser Moleküle, den Stoff wechsel zu unterstützen und uns zusammenzuhalten, beeinträchtigt, sobald sie durch diesen Prozess chemisch deformiert werden. Das ist natürlich nicht gut für uns – und leider unumgänglich. Freie Radikale sind Teil des Lebens. Artikel in der Regenbogenpresse erwecken oft den Eindruck, dass freie Radikale vor allem von Umweltverschmutzung oder Giftstoffen infolge ungesunder Ernährung herrühren. Tatsache ist, dass die überwiegende Mehrheit aller freien Radikale, denen Ihr Körper ausgesetzt ist, von Ihren eigenen Zellen generiert wird – in den Mitochondrien, unseren Zell-»Kraftwerken«. Mitochondrien sind eine von mehreren Arten von »Organellen«, in sich geschlossene Zellkomponenten, die außerhalb des Zellkerns existieren. Jede Zelle enthält hunderte bis tausende Mitochondrien. Von Menschen gebaute Kraftwerke benutzen Energie, die in einer unpraktischen Form gespeichert ist – etwa Kohle, Erdgas, die starke Kernkraft, die Atome zusammenhält, oder Wind –, und wandeln sie in eine nutzbarere Form wie Elektrizität um, die wir für unsere Kaffeemaschinen oder Computer verwenden können. Auf dieselbe Weise wandeln Mitochondrien eine schwer nutzbare Energieform (die chemische Energie,

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die in Zucker oder anderen Nahrungsmolekülen versteckt ist) in eine praktischere um: Adenosintriphosphat oder ATP, die »universelle Energiewährung«, die unsere Zellen benutzen, um die essentiellen biochemischen Reaktionen zu gewährleisten, die uns am Leben erhalten. Mitochondrien produzieren den Großteil ihrer zellulären Energie durch fast dieselben Prinzipien, die auch ein Elektrizität generierender Wasserdamm benutzt – einschließlich der Turbinen (siehe Abb. 1). Abbildung 1: Die F0/F1-ATP-Synthase.

Durch eine Reihe von vorbereitenden biochemischen Reaktionen (die jeweils eine kleine Energiemenge erzeugen) wird Energie aus der Nahrung in Form von Elektronen auf ein Trägermolekül namens NAD+ (und ein ähnliches namens FAD) übertragen. Diese Elektronen werden dazu verwendet, eine Reihe von »Pumpen« anzutreiben, die man Elektronentransportkette (ETK) nennt. Die ETK füllt das Protonen-»Reservoir« auf, das vom mitochondrialen »Damm« (der mitochondrialen inneren Membran) zurückgehalten wird. Der Protonenstau hinter dem »Damm« erzeugt eine elektrochemische Kraft, die die Protonen auf die andere Seite der inneren Mitochondrienmembran »hinunter«treibt, so wie Wasser hinter einem Damm durch die Schwerkraft nach unten getrieben wird. So wie ein Wasserdamm den Wasserdurchfluss ausnutzt, um eine Turbine anzutreiben, so enthält auch die innere Membran eine eigene Turbine namens »Komplex V« (oder »F0/F1-ATP-Synthase«), die durch den Protonenfluss angetrieben wird. Aufgrund des Protonenflusses durch die Turbine des Komplex V beginnt diese zu rotieren. Diese Bewegung wird benutzt, um einem Trägermolekül (Adenosindiphosphat oder ADP) ein zusätzliches Phosphat-Ion hinzuzufügen und es so in ATP zu verwandeln. Im Gegensatz zu einem Wasserdamm ist die Nutzung von chemischer Energie aus der Nahrung zur ATP-Gewinnung jedoch eine chemische Reaktion. Wie die Ver-

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brennung von Kohle oder Holz benötigt die Aufladung von ADP zu ATP Sauerstoff, weshalb wir atmen müssen, um das ganze System am Laufen zu halten: Sauerstoff ist letzten Endes das Endlager für all die Elektronen, die aus der Nahrung stammen und durch die Protonenpumpen der ETK geleitet werden. Der ganze Kreislauf wird daher oxidative Phosphorylierung (OXPHOS) genannt. Während Wasserdämme (im Großen und Ganzen) umweltfreundlich sind, sind Mitochondrien in einem grundlegenden Aspekt eher wie konventionelle Kraftquellen. Wie Kohle- oder Kernkraftwerke produzieren Mitochondrien giftige Abfallprodukte bei der Umwandlung einer Energieform in die andere. Während die Protonenpumpen der ETK Elektronen von einem Komplex zum nächsten weiterreichen, geht ihnen ab und zu eines durch die Lappen. In so einem Fall wird das Elektron normalerweise von einem Sauerstoffmolekül aufgenommen, das sich plötzlich mit einem überzähligen, ungepaarten Elektron wiederfindet. (Wie ich vorhin erwähnte, ist Sauerstoff auch das Endlager für korrekt prozessierte Elektronen – dabei erhält aber jedes Sauerstoffmolekül vier Elektronen, nicht nur eines, es entstehen also keine ungepaarten Elektronen.) Ein einzelnes zusätzliches Elektron verwandelt gutmütigen Sauerstoff hingegen in ein besonders wichtiges freies Radikal, das Superoxid. Da Ihre Mitochondrien Tag und Nacht pausenlos ATP produzieren, ist die andauernde Superoxidgenerierung wie ein konstanter Fluss schwach radioaktiven Abfalls, der aus Ihrem lokalen Reaktor entweicht. Als Wissenschaftler einst herausfanden, dass Mitochondrien die Hauptquelle von freien Radikalen im Körper sind, war auch rasch klar, dass diese Organellen auch ihre Hauptopfer sind. Freie Radikale sind so tollwütig reaktiv, dass sie nie weit reisen, sondern das erstbeste Ziel attackieren – und die Mitochondrien selbst liegen direkt am Nullpunkt. Zudem gibt es in den Mitochondrien haufenweise verwundbare Angriffsziele für diese Radikale. Die freien Radikale in den Mitochondrien entstehen in nächster Nähe zu genau den Membranen und Proteinen, von denen die ATP-Produktion abhängt, und auch in unmittelbarer Nähe der mitochondrialen DNA. Sie fragen, was das ist? Nun, während andere Zellbestandteile all ihre Proteine in der zentralen Datenbank des Zellkerns verschlüsselt wissen, haben Mitochondrien ihre eigene DNA für 13 der Protonen pumpenden, ATP generierenden Proteine in ihren Membranen.2 Wird diese DNA erheblich beschädigt, geht die mitochondriale Maschinerie schief. Leider ist es offensichtlich, dass die mitochondriale DNA ziemlich viel selbst verantworteten Schaden erleidet. Sie erhält bis zu 100-fach mehr initiale oxidative »Treffer« als die zentrale, nukleäre DNA und erleidet im Laufe des Alterns deutlich mehr tatsächliche, bleibende Mutationen. Beginnend mit einer klassischen Publikation des Chemikers Denham Harman3 (der bereits die Ehre hatte, der Vater der ursprünglichen »freien Radikaltheorie des Alterns« zu sein) im Jahre 1972 trugen Forscher diese Fakten mit einer Auswahl von experimentellen Resultaten zusammen und schlugen mehrere Varianten einer »mitochondrialen freien Radikaltheorie des Alterns« vor. Fassen wir die experimentellen Daten kurz zusammen. 4 Zunächst sind da die Belege der vergleichenden Biologie. Organismen, die im Vergleich zu etwa gleich großen Tieren mit ähnlicher Körpertemperatur langsamer altern, akkumulieren durch freie Radikale verursachte mitochondriale Schäden auch

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durchwegs langsamer. Sie produzieren weniger freie Radikale in ihren Mitochondrien, haben mitochondriale Membranen, die weniger anfällig für Schäden durch freie Radikale sind, und freilich akkumulieren sie weniger Schäden in ihrer mitochondrialen DNA. Kalorienrestriktion – der einzige bisher bekannte nicht genetische Eingriff, der den Alterungsprozess in Säugetieren verlangsamt – verbessert all diese Parameter: Er vermindert die Produktion mitochondrialer freier Radikale, verstärkt ihre Membranen gegen den Angriff freier Radikale und reduziert vor allem die altersbedingte Anhäufung mitochondrialer DNA-Mutationen – die irreversible Entfernung oder Überschreibung von »Buchstaben« in der genetischen Gebrauchsanweisung. Zum gleichen Schluss kann man auch aus der entgegengesetzten Richtung kommen: KR verlangsamt das Altern, hat jedoch keinen einheitlichen Effekt auf die Pegel der meisten selbst produzierten Antioxidans-Enzyme. Die Enzyme, die in den 1980ern diesbezüglich vor allem untersucht wurden, waren solche, die insbesondere anderswo in der Zelle vorkamen, nicht in den Mitochondrien. Dies wiederum legt nahe, dass Schäden durch freie Radikale außerhalb der Mitochondrien keine wichtige Alterungsursache sind, da das Altern tatsächlich verlangsamt werden kann (durch KR), ohne diese Schäden direkt anzugehen. Springen wir kurz zeitlich nach vorne, ins Jahr 2005. In diesem Jahr kam der bislang direkteste Beweis hierzu ans Licht. Es ging dabei um Mäuse, die Gene aufwiesen, mit denen sie in genau definierten Körperteilen eine erhöhte Menge eines antioxidativen Enzyms (Katalase) produzierten.5 Der Nutzen der erhöhten Katalase war gering bis null, um die Kern-DNA zu schützen – wo die genetischen Anleitungen für die gesamte Zelle sitzen und die ihre Stoff wechselaktivität bestimmen, mit Ausnahme der Teile, die die Mitochondrien selbst kodieren. Zudem ergab sich auch kein Nutzen, wenn man die Katalase in Organellen namens Peroxisomen erhöhte. Diese sind an der Herstellung von Hydrogenperoxid (das Molekül, das Katalase entgiftet) beteiligt und daher bereits voll mit Katalase ausgestattet. Eine Erhöhung der Katalase in den Mitochondrien dieser Tiere hingegen reduzierte die Entstehung von Deletionen in ihrer mitochondrialen DNA und erhöhte ihre maximale Lebensspanne um 20 Prozent – der erste eindeutige Fall eines genetischen Eingriffs, der einen Effekt auf diese Schlüsselgröße der Alterung in Säugetieren zeigte. Vor einem Jahrzehnt, als ich mich zum ersten Mal mit oxidativem Schaden in den Mitochondrien beschäftigte, lösten diese Mäuse in den Augen ihrer Erschaffer nicht mehr als ein Blinzeln aus. Schon damals schien es jedoch unanfechtbar, dass durch freie Radikale verursachte Mitochondrienschäden eine Hauptursache des Alterns waren. Die Frage war: Was verband das eine mit dem anderen? Die Frage mag dämlich klingen, bedenkt man die Schädlichkeit freier Radikale. Es stellte sich jedoch als schwierig heraus, eine schlüssige, detaillierte und mechanistische Erklärung dieser Verbindung zu entwickeln. Die von der Rolle der mitochondrialen freien Radikale im Alterungsprozess überzeugten Wissenschaftler beginnen alle mit der unleugbaren Beobachtung, dass von den Mitochondrien ausgespuckte freie Radikale die Membranen und Proteine beschädigen, die nicht nur für die ATPProduktion nötig sind, sondern auch Mutationen in der mitochondrialen DNA verursachen, die für genau diese Proteine kodieren. Jede derartige Theorie muss jedoch erklären können, wie ein solcher, selbst verursachter Schaden zum fortschreitenden,

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den ganzen Körper betreffenden Zerfall beiträgt, der die biologische Alterung ausmacht. Bis vor kurzem haben fast all diese Theorien das Vorhandensein einer Art von mitochondrialem »Teufelskreis« postuliert, durch den sich die Produktion freier Radikale und der bioenergetische Zerfall selbst beschleunigen.6 In diesen sehr intuitiven Modellen wird das Mitochondrium als eine Art hydroelektrischer Damm dargestellt, dessen Turbinen durch die Kräfte, die tagtäglich auf sie einwirken, mit der Zeit rosten, sich abnutzen und zerfallen. Durch die Schäden, die die freien Radikale ihren Membranen, Proteinen und DNA zufügen, würden Mitochondrien in allen Körperzellen sukzessive ihre Fähigkeit verlieren, Protonen zu pumpen und die Kette der »heißen Kartoffeln« der ATP-Synthese mit dem Alter unter Kontrolle zu halten. Dies würde zu ineffizienter Energieumwandlung und erhöhter Produktion freier Radikale führen, da immer mehr Elektronen den immer defekteren Transportkomplexen entweichen würden. Dadurch würde ein »Teufelskreis« in Gang gesetzt, da immer mehr abtrünnige Elektronen die mitochondrialen Bestandteile beschädigen würden, was wiederum zu noch ineffizienterer, schmutzigerer Energieumwandlung führen würde und so weiter: eine Abwärtsspirale, die die Zelle letztendlich mangels Energie verhungern lässt und sie zu einer gefährlichen Mülldeponie macht (siehe Abb. 2). Abbildung 2: Die »Teufelskreistheorie« der Anhäufung mitochondrialer Mutationen. Die Hauptannahme der Theorie ist mit dem Stern markiert: Mitochondriale Mutationen erhöhen die Ausstoßrate an freien Radikalen.

Sehr

fehlerhafte

Atmung

* Noch

mehr

freie Radikale

Noch

mehr

mtDNA-Schäden

In fast allen populären Büchern und Artikeln über die Rolle der Mitochondrien im Alterungsprozess wird eine Version dieses Szenarios wiederholt, aber auch in den meisten wissenschaftlichen Publikationen. Wir haben jedoch seit fast 20 Jahren Datenmaterial, das schlüssig zeigt, dass dies nicht stimmen kann.

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Alles, was Sie wissen, ist falsch Die »Teufelskreistheorie« des mitochondrialen Zerfalls zeichnet ein Bild, das verführerisch einleuchtend erscheint, jedoch mit den vorliegenden Daten nicht kompatibel ist. Während sich viele Wissenschaftler auch heute noch nicht der eklatanten Ungereimtheiten dieser Theorien bewusst sind, haben ein paar wenige Mitochondrienspezialisten und Biogerontologen schon seit Mitte der 90er Jahre auf diese Probleme hingewiesen. Die Voraussagen der »Teufelskreistheorien« wichen derart von den experimentellen Resultaten ab, dass viele dieser Forscher so weit gingen vorzuschlagen, dass die Resultate eine Rolle der mitochondrialen freien Radikale in der Alterung schlichtweg ausschließen – sie vergaßen dabei, dass eine solche Rolle durch einen anderen als den »Teufelskreismechanismus« gegeben sein könnte. Das erste Problem mit zumindest einigen Versionen der »Teufelskreistheorie« wurde tatsächlich schon vor Jahrzehnten aufgezeigt – kurz nachdem Harman seine erste Version der mitochondrialen freien Radikaltheorie vorgeschlagen hatte – durch niemand anderes als Alex Comfort. (Ja, derselbe Alex Comfort, der Freude am Sex schrieb. Er war ein echtes Universalgenie: Er war auch ein kontroverser anarchischer Provokateur, ein Dichter und ein hoch angesehener Biogerontologe.) 1974 wies Comfort darauf hin, dass, während jedes Mitochondrium vorübergehend schrittweise ansteigende Schäden an seinen Proteine und Membranen, aus denen seine ATP-Synthesemaschinerie besteht, durch das andauernde Bombardement der freien Radikale erleiden konnte, keine Theorie etwas taugen konnte, die darauf beruhte, dass diese Schäden mit zunehmendem Alter immer größer wurden. Dies geschieht aus dem einfachen Grund, dass die Zelle genau diese Komponenten andauernd ersetzt und erneuert. Alte Mitochondrien werden periodisch für die Vernichtung in einer anderen Organelle, dem Lysosom, markiert. (Lysosomen sind die zellulären »Müllverbrennungsanlagen«, über die ich in Kapitel 7 ausführlich sprechen werde.) Dann senden die Zellen ein Teilungssignal an die verbleibenden Mitochondrien, um den Verlust an Energiefabriken zu kompensieren. Während der Teilung verdoppelt jedes Mitochondrium seine DNA. Anschließend lässt sich dieser Kern einen neuen »Körper wachsen«, einschließlich makelloser Protonenpumpenproteine und Membranen. Jedes Mitochondrium in Ihren Zellen enthält Membranen und Proteine, die durchschnittlich nur ein paar Wochen alt sind, unabhängig davon, ob Sie 5 oder 50 Jahre alt sind. Daher sind die neuesten und ältesten mitochondrialen Komponenten in sehr alten und sehr jungen Menschen in denselben Verhältnissen vorhanden. Es ist schlichtweg unmöglich, dass das Altern durch einen fortschreitenden degenerativen Verschleiß von Komponenten vorangetrieben wird, die fortwährend erneuert werden. Auf der anderen Seite war dieser Einwand nicht notwendigerweise ein Problem für die beliebteren Versionen der »Teufelskreistheorie«: diejenigen, die behaupten, freie Radikale trieben die Alterung an, indem sie die mitochondriale DNA beschädigten. Obwohl mitochondriale Membranen und Proteine periodisch ersetzt werden, erben alle Mitochondrien ihre DNA direkt von ihren »Eltern«, die ihre eigene DNA originalgetreu kopieren und auf ihre »Kinder« übertragen – und genauso wie ganze Organismen eventuell vorhandene Mutationen in ihrer DNA an ihre Nachkommen

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weitergeben, so erscheinen auch Fehler in den Mitochondrien der »Eltern« in der nächsten Mitochondriengeneration. Falls Mitochondrien mit beschädigter DNA vorzugsweise von Lysosomen abgebaut werden, wird der Effekt wie zuvor sein – der Schaden wird so schnell behoben sein, wie er entstanden ist – und das nahm Comfort an. Falls es jedoch keine bevorzugte Vernichtung von fehlerhaften Mitochondrien gibt, werden sich genetische Schäden anhäufen. Diese Theorien erhielten durch Studien, die in den 1990er Jahren durchgeführt wurden und zeigten, dass alternde Körper tatsächlich Zellen mit mutierten Mitochondrien akkumulieren, einen vordergründigen Plausibilitätsauftrieb. Gleichzeitig schossen dieselben Studien jedoch neue – und noch tödlichere – Löcher in die auf mitochondrialer DNA beruhenden »Teufelskreistheorien«. Zum einen zeigte sich, dass alle mutierten Mitochondrien einer bestimmten Zelle dieselbe Mutation tragen. Das ist exakt das Gegenteil von dem, was der »Teufelskreis« voraussagt. Falls nämlich jedes Mitochondrium individuell als Folge eines sich selbst beschleunigenden Zyklus von oxidativen »Attacken« auf seine DNA zerfällt, würde jedes ein zufälliges, einzigartiges Mutationsprofi l aufweisen. Falls auf dieselbe Weise irgendwann zwei durchgedrehte Bibliothekare – unabhängig voneinander – in ihren Bibliotheken mit automatischen Gewehren Amok liefen, würde man natürlich erwarten, dass ihre Kugeln verschiedene Bücher treffen, auch wenn die Bibliotheken selbst dieselben wären: Eine Kugel hätte den Rücken von Anna Karenina durchschlagen, eine andere wäre genau durchs i-Pünktchen in Die Leiden des jungen Werther gefeuert. Dies ginge zufallsgesteuert so lange weiter, bis den beiden Verrückten die Kugeln ausgehen. Stattdessen beherbergen alle Zellen, die defekte Mitochondrien aufweisen, eine identische DNA-Mutation. Das ist so, als würden alle Bibliothekare im Land zur Arbeit kommen und genau einmal schießen, und zwar ausnahmslos auf Homo Faber. In jedem Mitochondrium kontinuierlich vorkommende Zufallsmutationen können vernünftigerweise nicht dazu führen, dass jedes beschädigte Mitochondrium in einer Zelle den gleichen Fehler in seiner DNA trägt. Ein zufälliger, mutagener Prozess kann die völlige Übernahme einer Zelle durch solche Mitochondrien nicht erklären und auch nicht das Vorhandensein von Zellen, die ausschließlich gesunde Mitochondrien enthalten. Es wird jedoch noch bizarrer, denn es stellt sich heraus, dass die Präsenz mutierter Mitochondrien eine Alles-oder-Nichts-Frage ist. Will heißen: Es ist nicht nur so, dass alle mutierten Mitochondrien in einer bestimmten Zelle genau dieselbe Mutation haben, sondern dass Zellen, die beschädigte Mitochondrien beherbergen, ausschließlich Mutanten enthalten – während die anderen Zellen ausschließlich makellose, frische »Kraftwerke« aufweisen. Doch warten Sie: Es wird noch schräger. Während jede einzelne Zelle voller Mitochondrien mit derselben Mutation ist, tragen Mitochondrien verschiedener Zellen verschiedene Mutationen. Gerade so, als hätten alle Bibliothekare von Berlin in ihren Filialen die Exemplare von Schillers Die Räuber mit Blei voll gepumpt, während ihre Frankfurter Kollegen gleichzeitig eine ähnlich zielstrebige Entschlossenheit an den Tag legen würden, ihre Kollektionen von Homers Odyssee zu säubern. In diesem Fall

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müsste auch der skeptischste Entlarver von Verschwörungstheorien zugeben, dass »zufällige Gewaltakte« keine glaubwürdige Erklärung für diesen Tatort sein können. Zudem zeigte sich, dass auch das Wesen dieser mitochondrialen Mutationen nicht mit der Priorität vereinbar war, die »Teufelskreistheorien« mitochondrial verursachter Alterung beimessen. Man hatte angenommen, dass die den DNA-Bauplänen mitochondrialer Proteine zugefügten Schäden zumeist kleinere Defekte in den Instruktionen für diese Proteine verursachen. Die resultierenden Proteine wären ihrer richtigen Struktur mehr oder weniger ähnlich genug, um überleben zu können, wären aber dysfunktionell und würden mehr Elektronen zu freien Radikalen werden lassen und weniger ATP generieren. Stattdessen fand man heraus, dass die Mutationen, die sich in den Mitochondrien der Zellen anhäuften, zu einem überwältigenden Teil Deletionen großer DNA-Blöcke sind, die die Herstellung von allen mitochondrial kodierten Proteinen völlig stilllegen. Die »Teufelskreistheorie« schlug vor, dass Mitochondrien immer weniger ATP und mehr freie Radikale produzieren, während sie immer mehr DNA-Defekte ansammeln. Nun wurde gezeigt, dass mutierte Mitochondrien im Wesentlichen keine freien Radikale produzieren und dass die Veränderung in jedem Mitochondrium aufgrund eines einzelnen, katastrophalen Ereignisses und nicht aufgrund eines »Todes durch 1000 Stiche« erfolgte.

Lassen wir die Qualität, kommen wir zur Quantität Ein anderer Befund schien jegliche Beteiligung von Mitochondrien, Teufelskreis oder nicht, am Altern auszuschließen: Sehr, sehr wenige Zellen enthalten überhaupt mutierte Mitochondrien. Die überwiegende Mehrheit aller Zellen bleibt bis ins hohe Alter bei perfekter mitochondrialer Gesundheit. Ja, es wurde gezeigt, dass ein winziger Anteil von Zellen älterer Menschen – etwa ein Prozent – durch Mitochondrien übernommen wurde, die alle denselben Defekt in ihrer DNA haben. Doch 99 Prozent aller Zellen waren in Ordnung. Welche Rolle kann ein Prozent der Zellen spielen? Viele Biogerontologen hielten nach diesen Resultaten jede Theorie, die die Bedeutung von mitochondrialem Zerfall für den Alterungsprozess aufzeigen wollte, reif für die Mülltonne. Wenn fast jede Körperzelle gleich viel ATP produziert wie in jungen Tagen und nicht mehr Schäden durch freie Radikale erleidet als in ihrer Jugend, wie kann dann ein kleiner Anteil von Zellen, der zwar energiearm ist, aber dessen Mitochondrien nicht mehr freie Radikale produzieren als ihre Nachbarn – nämlich überhaupt keine –, einen negativen Einfluss auf die Funktion eines Organs oder sogar den Organismus als Ganzem haben? Für diese Wissenschaftler war die mitochondriale freie Radikaltheorie der Alterung tot und begraben. So stellte sich das Gebiet Mitte der 1990er Jahre dar, als ich mir erstmals des unbefriedigenden Status der Alterungsforschung bewusst wurde und beschloss, etwas an der Situation zu ändern. Als ich den konfusen Zustand der mitochondrialen freien Radikaltheorie des Alterns sah, spürte ich, dass die Zeit für eine neue Synthese gekommen war. Einerseits schien das Beweismaterial stark, das eine zentrale Rolle mitochondrialer freier Radikale in der Alterung unterstützt, andererseits konnten

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die üblichen »Teufelskreistheorien« schlicht nicht in Einklang mit den Resultaten gebracht werden. In diese Auseinandersetzung hinein publizierte ich meine ersten formellen wissenschaftlichen Veröffentlichungen 19977 und 19988 und hier habe ich auch meine weithin anerkannten Beiträge zur Biogerontologie geleistet. Meine Hauptbeiträge waren erstens eine Erklärung, wie alternde Zellen Mitochondrien ansammeln, die ein und dieselbe Mutation aufweisen und keine Zufallsverteilung, wie von der »Teufelskreistheorie« postuliert. Zweitens lieferte ich eine Erklärung dafür, wie eine kleine Anzahl von Zellen, die von solchen mutierten Mitochondrien übernommen wurden, den Alterungsprozess des Körpers als Ganzes antreiben kann.

Überleben der Langsamsten Die »Teufelskreistheorie« hatte angenommen, dass jedes Mitochondrium während seines Lebens langsam kleinere, zufällige Mutationen anhäuft. Die Tatsache, dass die Zellen, in denen mutierte Mitochondrien vorkamen, alle dieselbe Mutation aufwiesen – und dass die Mutanten alle gesunden Mitochondrien der Zelle vollständig ersetzt hatten – bewies, dass diese Annahme falsch war. Die einzige vernünftige Alternative schien die »klonale Expansion« zu sein. Das ist die Vorstellung, dass ursprünglich ein einzelnes Mitochondrium kaputt ging und dass seine Nachkommen langsam die ganze Zelle übernommen hatten. Sie erinnern sich: Mitochondrien vermehren sich wie Amöben, indem sie sich in zwei Teile spalten: Das ursprüngliche Mitochondrium fertigt eine Kopie seiner DNA an und bildet dadurch zwei genetisch identische »Klone«. Das bedeutet, dass jeder Klon eine exakte Kopie jeglicher im Original vorhandenen Mutationen mitbekommt. Daher schien es unausweichlich, dass die eigenartigen mitochondrialen Monokulturen der voll mutierten Zellen das Resultat eines einzelnen Mitochondriums waren, das zuerst eine Mutation erwarb, diese an seine Nachkommen weitergab und dessen Abstammungslinie dann irgendwie alle Nachbarn überrunden konnte, bis die normalen Mitochondrien schließlich verdrängt waren. Die Idee, dass Mitochondrien mit mutierter DNA irgendwie eine Schlacht über die Herrschaft einer Zelle gewinnen konnten, klang hingegen ein wenig paradox. Schließlich sprechen wir hier von defekten Mitochondrien, denen ein oder mehrere Brocken DNA durch freie Radikale oder durch Kopierfehler weggesprengt wurden. Natürlich kann alle paar Schaltjahre mal eine nützliche Mutation auftauchen – dies ist schließlich der Grund, weshalb Evolution überhaupt funktioniert –, es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass dies immer und immer wieder geschieht, sodass zufällige Mutationen in Mitochondrien von weit auseinanderliegenden Zellen so vorteilhaft für das Mitochondrium wären, dass sie einen darwinschen »Überlebensvorteil« gegenüber ihren Artgenossen hätten. Zudem war ja bekannt, dass die vorliegenden Mutationen schädlich waren: Sie haben die Fähigkeit des Mitochondriums, oxidative Phosphorylierung zu betreiben, vollständig vernichtet und so den Großteil ihres Beitrags zu zellulärem ATP-Nachschub ausgeschaltet. Der Ansatz der »klonalen Expansion« war zudem schwierig mit der Tatsache zu vereinbaren, dass viele verschiedene Mutationen zu einer speziellen mitochondria-

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len Nachkommenschaft führen, die alle anderen Abstammungslinien in der Zelle ersetzt. Nochmal: Während in einer gegebenen Zelle die mutierten Mitochondrien alle die gleiche, spezifische Mutation aufweisen, enthält eine zweite, andere Zelle oft Mitochondrien mit einer komplett anderen Mutation. Es ging also nicht um eine einzelne, bestimmte Mutation, die den Mutanten einen selektiven Vorteil über ihre Nachbarn verschaff t. Zahlreiche, unabhängig voneinander entstehende Mutationen in einzelnen Mitochondrien in weit auseinander liegenden Zellen führten zum gleichen Wettbewerbsvorteil. Konnte es wirklich sein, fragte ich mich, dass es derart viele vorteilhafte, jedoch voneinander unabhängige Mutationen gab? Diese mannigfaltigen Mutationen haben jedoch etwas gemeinsam. Es sind keine milden Mutationen, die nur ein Protein beschädigen: Sie alle verhindern die Herstellung aller 13 in den Mitochondrien verschlüsselten Proteine. Diese gemeinsame Eigenschaft, so dachte ich, könnte der Schlüssel dazu sein, wie es ihnen gelingt, die Zelle zu übernehmen. Ich begann darüber nachzudenken, was solche Mitochondrien von ihren gesunden Kollegen unterschied. Sie würden natürlich weitaus weniger ATP produzieren: nur die kleine Energiemenge, die in den ersten Reaktionen der Extraktion chemischer Energie aus der Nahrung entsteht. Dies ist ein Bruchteil dessen, was ein funktionierendes System oxidativer Phosphorylierung am laufenden Band produziert. Für die Zelle ist das natürlich ungesund, aber mir wurde bewusst, dass es sich auf das Mitochondrium selbst kaum negativ auswirkte, da es das produzierte ATP normalerweise ohnehin nahezu vollständig exportierte. Während mir also nicht klar war, wie der verminderte Energieausstoß den selektiven Vorteil der Mutanten erklären konnte, sah ich doch, dass er – entgegen dem, was man vielleicht zunächst denken würde – keinen direkten Nachteil im Vergleich zu den anderen Mitochondrien in der Zelle darstellte. Was Mitochondrien ohne Fähigkeit zur oxidativen Phosphorylierung zudem auszeichnete, schien eher vorteilhaft zu sein: Derartige Mitochondrien produzierten keine freien Radikale mehr. Sie erinnern sich, dass Mitochondrien freie Radikale produzieren, wenn Elektronen aus den regulierten Kanälen entweichen, durch die sie Ionen in das »Reservoir« pumpen, das die »Turbinen« der inneren Mitochondrienmembran antreibt. Wenn man keine Elektronen ins Pumpensystem einspeist, weil das ganze System fehlt, gibt es logischerweise auch keine Lecks – und keine freien Radikale. Sich nicht dauernd mit Vandalismus durch freie Radikale beschäftigen zu müssen, klang wie eine gute Sache für das Mitochondrium. Es war jedoch nicht klar, wie genau dies zu einem Wettbewerbsvorteil gegenüber den benachbarten, gesunden Mitochondrien führen könnte. Richtig, seine DNA würde nicht länger bombardiert – andererseits hätte es zu dem Zeitpunkt bereits ein klaffendes Loch in seiner DNA erlitten. Es war auch klar, dass seine innere Mitochondrienmembran nicht länger durch freie Radikale beschädigt würde – aber auch hier sah es nicht so aus, als würde das eine Rolle im Alterungsprozess spielen, weil Mitochondrienmembranen ohnehin konstant abgebaut und ersetzt werden. Dies geschieht entweder durch Replikation oder am Ende ihres kurzen individuellen Lebens, wenn Mitochondrien mit defekten Membranen zur zellulären »Müllverbrennungsanlage« geschickt werden.

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Moment mal, dachte ich. Wie auch andere Forscher, die über diesem Problem gebrütet hatten, versuchte ich mir eine durch die Mutation verursachte Verbesserung der mitochondrialen Funktion vorzustellen – die Entsprechung zu schärferen Zähnen, schnellerem Laufen oder besserer Fruchtbarkeit im mikroskopischen, evolutionären Wettbewerb. Was jedoch, wenn die Hauptsache an der Mutation nicht eine verbesserte Funktionalität ist, sondern dass sie die Entsorgung der Mitochondrien verhindert?

Abfallrecycling in der Zelle Es gibt immer noch viel zu tun, um exakt zu erklären, wie Mitochondrien zum zellulären Abfallentsorgungssystem geschickt werden. Schon zur Zeit von Alex Comforts Kritik an der ursprünglichen freien Radikaltheorie des Alterns jedoch glaubte man weithin, es gebe einen selektiven Prozess, der alte und kaputte Organellen für den Abbau markiert. Dessen konnte man sich jedoch nicht sicher sein. Lange Zeit nahm man an, dass einige Zellkomponenten durch einen permanenten Prozess zufälligen Recyclings umgesetzt würden, bei dem das Lysosom (genau genommen ein Prä-Lysosom namens Autophagosom oder autophage Vakuole) einfach in der Zelle rumtapst und jeden Tag verschiedenste zelluläre Bestandteile zufällig schluckt, sodass früher oder später alles umgesetzt wird. Es ist heute allgemein anerkannt, dass das Lysosom so nicht funktioniert: Das Verschlingen von Proteinen und anderen Zellbestandteilen ist ein sehr zielgerichteter Prozess. Dies ist teilweise schlicht eine effiziente Verwendung knapper Mittel. Stellen Sie sich vor, die Regierung würde Beamte schicken, die ziellos durch wirtschaftlich benachteiligte Stadtteile wandern und willkürlich zu verschrottende Autos auswählen, um zu gewährleisten, dass alte, verfallende Vehikel aus dem Verkehr gezogen werden (zur Verbesserung der Luftqualität, zur Reduktion der Treibhausgase, um nicht länger hässliche, rostige Autos ansehen zu müssen und um den Preis von Recycling-Stahl zu senken). So eine Aktion hätte eine gewisse Wirkung, würde jedoch zu viele voll funktionsfähige Vehikel treffen, um durchführbar zu sein, von den persönlichen Eigentumsrechten ganz zu schweigen. In gewissen Fällen gibt es jedoch noch einen wichtigeren Grund als bloße Effizienz dafür, sicherzustellen, dass bestimmte Organellen verschrottet werden. Gewisse Zellbestandteile können für die Zelle giftig werden, wenn ihr Abbau – sobald sie nicht mehr gebraucht werden – nicht rasch genug erfolgt. Wie der verzauberte Besen in Fantasia, der die Wanne in der Halle des Zauberers so lange mit Wasser füllt, bis sie überläuft und den Raum überflutet, sind auch viele Proteine und Organellen nur für begrenzte Zeit nützlich. Wenn sie ihre Arbeit erledigt haben, müssen sie »entsorgt« werden. In der Zelle bedeutet das, dass sie zur Wiederaufbereitung auseinandergenommen werden. Es kann beispielsweise von entscheidender Bedeutung sein, ein entzündungsförderndes Enzym zu produzieren, um eine Immunreaktion gegen einen eindringenden Krankheitserreger zu lancieren. Dieses Enzym jedoch nach der erfolgreichen Bekämpfung des Eindringlings weiter entzündlich wirken zu lassen, würde zu einem schädlichen, chronischen Entzündungszustand führen, mit

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Nebenwirkungen, wie sie bei Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis oder Lupus vorkommen. Mir schien, dass die Zelle sehr gute Gründe hat, dafür zu sorgen, dass die Mitochondrien zerstört werden, nachdem ihre Membranen von freien Radikalen geschädigt wurden. Bedenken Sie, dass die innere Mitochondrienmembran als »Damm« fungiert, der das Protonenreservoir zurückhält, das die Energie produzierende Turbine des Komplex V antreibt. Löcher in dieser Membran stellen Lecks im Damm dar, die das Reservoir entleeren, da Ionen einfach durch die Löcher sickern, ohne ATP zu bilden. Belege für dieses Grundszenario, dass beschädigte Membranmoleküle Lecks verursachen, wurden bereits in den 1970er Jahren entdeckt.9 Ein »undichtes« Mitochondrium wäre ein ernst zu nehmender Verlust knapper Ressourcen, da die Elektronenkette in einem wütenden, nutzlosen Versuch, das Reservoir wiederaufzufüllen, weiterhin Nahrungsenergie konsumieren würde. Dem Mitochondrium würden weiterhin aus der Nahrung stammende Elektronen verfüttert, um damit Protonen durch die Membran zu pumpen. Diese Ionen würden jedoch genauso schnell, wie sie »hoch«-gepumpt wurden, wieder zurückrinnen, ohne das elektrochemische Reservoir aufzubauen, das nötig ist, um nutzbare Energie für die Zelle herzustellen. Diese Zellen wären der Energie beraubt, da sie die Nährstoffe nicht in ATP umsetzen, sondern letztlich bloß in nutzlose Wärme. Zudem würde die beschädigte innere Membran vielen in ihr enthaltenen Proteinen erlauben, sich loszulösen und sich in den Hauptteil der Zelle zu bewegen. Falls sie weiterhin aktiv wären, könnten diese Teile sehr wohl toxisch für die Zelle sein, wenn sie sich nicht mehr an ihrem vorgesehenen Platz im Mitochondrium befänden. Von daher wäre es für die Zelle von Vorteil, ein System zu haben, das dafür sorgt, dass Mitochondrien, deren Membranen durch ihre eigenen Abfälle beschädigt wurden, zu den Lysosomen und damit zu ihrer Vernichtung abtransportiert werden. Diese Voraussage scheint sich mit der kürzlichen Entdeckung eines speziellen Markierungsproteins erfüllt zu haben, das Hefemitochondrien für den Abtransport zu den Lysosomen »markiert«.10 Wir wissen immer noch nicht mit Sicherheit, wie die Zelle entscheidet, welche Mitochondrien »markiert« werden sollen, aber es wurde nun gezeigt, dass die Bildung von Löchern in der Mitochondrienmembran ein Signal auslöst, welches das Tempo erhöht, mit dem diese Organellen zum Schrottplatz gebracht werden.11 Ich hatte keine Zweifel, dass dies alles nützlich war: Ich bin voll für die Beseitigung von defekten und möglicherweise giftigen Zellbestandteilen, und wie so oft hat die Natur einen raffinierten Weg gefunden, dies zu bewerkstelligen. Ich sah jedoch auch, dass die großen Deletionen in der mitochondrialen DNA ihnen ironischerweise erlauben würden, genau den Mechanismus zu umgehen, den Zellen benutzen, um zu gewährleisten, dass beschädigte Mitochondrien für den Abbau etikettiert werden. Wenn Mitochondrien die Mutationen erleiden, die sich mit dem Alter anhäufen, stellen sie ihre OXPHOS sofort ein – und damit auch die Produktion freier Radikale. Eine verminderte Herstellung freier Radikale wiederum sollte zu weniger Membranschäden durch freie Radikale führen. Vergessen Sie nicht, dass die vorherrschende »Teufelskreistheorie« vorschlug, dass sich mitochondriale Mutationen vermehren,

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indem sie ihre Mitochondrien veranlassen mehr freie Radikale zu generieren als gesunde Mitochondrien. Das, so sah ich nun, war der Punkt, in dem sich die Befürworter der »Teufelskreistheorie« irrten.

Hinter makellosen Membranen versteckt An diesem Punkt realisierte ich sofort, inwiefern die Mutanten einen Vorteil gegenüber ihren gesunden Kontrahenten hatten. Sogar perfekt funktionierende Mitochondrien produzieren beständig einen geringen Strom an freien Radikalen, der membranschädigend ist. Alle paar Wochen erreicht dieser Schaden ein Ausmaß, bei dem die Mitochondrien zur Müllkippe geschickt werden. Dann sendet die Zelle ein Signal für eine neue Runde mitochondrialer Reproduktion aus, um die stillgelegten »Kraftwerke« zu ersetzen. Dieser Prozess merzt jedoch nur Mitochondrien mit beschädigten Membranen aus – das werden überwiegend solche Kraftwerke sein, deren DNA noch gesund genug ist, um den Elektronentransport zu ermöglichen, der ursprünglich zum Schaden durch freie Radikale geführt hatte. Mitochondrien mit intakten Membranen, aber beschädigter DNA würden keine äußeren Zeichen ihrer inneren Verletzungen aufweisen und würden so vom Todesengel verschont. Nachdem eine gewisse Anzahl beschädigter Mitochondrien zu den Lysosomen abgeschleppt wurde, sendet die Zelle ein Teilungssignal an die Mitochondrien. Einige oder alle der verbliebenen Mitochondrien – die genetisch gesunden ebenso wie die mutierten – reproduzieren sich, und weil die Mitochondrien mit großen Deletionen die gegen äußerlich beschädigte Kraftwerke gerichteten Säuberungsaktionen fast immer überleben, kommen sie in den Genuss sich vermehren zu können. Viele der membrangeschädigten – aber genetisch makellosen! – Mitochondrien wurden jedoch bereits entsorgt, bevor sie sich teilen konnten. Dies gibt den Mutanten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den nicht mutierten: Bei jeder Teilung werden immer mehr von ihnen eine Ausmerzung überleben, die ihre genetisch gesunden Konkurrenten zur Abfallentsorgungseinheit geschickt hat. Das ist natürlich genau die Art und Weise, wie Evolution funktioniert. Tiere, die langsamer rennen, ungeschickter bei der Nahrungssuche sind oder schlechtere Augen haben, fallen eher Raubtieren, Belastungen oder Krankheiten zum Opfer und kommen daher nicht dazu, sich zu vermehren und ihre Gene weiterzugeben. Unterdessen bekommt eine ungleich größere Anzahl von besser angepassten Organismen die Chance zu brüten und hinterlässt eine Nachkommenschaft, die ihr genetisches Erbe weiter in die Zukunft trägt. Mit der Zeit dominieren diejenigen Gene in einer Population, die am besten den besonderen Bedrohungen der Umwelt angepasst sind. In der Zelle ist das Lysosom die Bedrohung des mitochondrialen Überlebens – ein »Raubtier«, das dafür sorgen sollte, dass nur die Mitochondrien überleben, die geeignet sind, die zelluläre Energieproduktion gefahrlos sicherzustellen. Was die Mitochondrienmutanten entwickeln (ja, entwickeln) ist im Prinzip eine Tarnung, die sie vor dem Adlerauge des Raubtiers schützt. Dank ihrer unbeschädigten Membranen machen diese hochgradig funktionsunfähigen Mitochondrien auf das zelluläre

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Überwachungssystem einen gesunden Eindruck. Wie die sprichwörtlichen Pharisäer, deren Äußeres rein ist – aber im Inneren sind sie voll von Gefräßigkeit und Bosheit. Ich schlussfolgerte, dass dieses Konzept der »getarnten Mutanten« die erste konsistente, detaillierte Erklärung für die Übernahme der Zelle durch defekte Mitochondrien bot. Ich nannte es »Überleben der Langsamsten« (Survival of the Slowest), weil es postuliert, dass die untätigen (»langsamen«) Mitochondrien einen Selektionsvorteil im darwinschen Überlebenskampf des Zellen-Dschungels genießen (siehe Abb. 3). Abbildung 3: Das Modell »Überleben der Langsamsten« für die Anhäufung mitochondrialer Mutationen. a) L

L

b) L X

X

X

X

X

L

(a) Die vorgeschlagene normale Art des Umsatzes und der Erneuerung nicht mutierter Mitochondrien; Punkte bedeuten Membranschaden. (b) Die klonale Expansion von Mutationen (mit X gekennzeichnet), die durch geringe Schäden durch freie Radikale und langsame Entsorgung durch die Lysosomen (L) entsteht.

Nachdem wir nun aber erklärt haben, wie eine kleine Anzahl von Zellen eine Monokultur defekter Mitochondrien werden kann, bleibt die vielleicht wichtigere Frage – nämlich wie trägt dieser kleine Anteil an Körperzellen zur Alterung des ganzen Körpers bei? Es dauerte nicht lange, bis ich auch dafür eine gute Erklärung fand.

Die Hypothese des »reduktiven Krisenherdes« Die alten »Teufelskreismodelle« mussten sich nicht auf einen zusätzlichen Mechanismus berufen, um zu erklären, wie mitochondriale Mutationen zur Alterung beitragen, weil sie annahmen, dass es mit dem Alter eine Anhäufung von zunehmend defekteren Mitochondrien in vielen Zellen gäbe. Je mehr Mitochondrien per Zufall

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durchdrehen, desto mehr Zellen würden oxidative Schläge erleiden und an ATP verhungern, da die Produktivität der Kraftwerke mit jedem neuen Defekt sinkt. Es war eine nette, einleuchtende Erklärung der Rolle mutierter Mitochondrien im Alterungsprozess des Körpers. Wie wir jedoch gesehen haben, war sie auch eindeutig falsch. Die meisten Zellen in unserem Körper häufen mit dem Alter schlicht keine mutierten Mitochondrien an: Höchstens etwa ein Prozent der Billionen Körperzellen tun dies. Die meisten Zellen und Gewebe erfahren keine verminderte Produktion oder Verfügbarkeit von ATP. Zudem sind die meisten sich ansammelnden, mutierten Mitochondrien weit davon entfernt, ihre Produktion freier Radikale zu erhöhen, sondern produzieren überhaupt keine freien Radikale, weil ihre Radikale produzierenden Elektronentransportketten stillgelegt sind. Es war schwierig zu verstehen, wie so wenige Zellen, die mutierte Mitochondrien enthielten und die ihre Nachbarzellen auf keine offensichtliche Weise schädigten, den Alterungsprozess des Körpers antreiben konnten. Tatsächlich reichten diese Ergebnisse aus, um viele Biogerontologen vom Tod der mitochondrialen freien Radikaltheorie des Alterns sprechen zu lassen. Wie wir jedoch bereits erwähnten, sind die Indizien, dass mitochondriale Mutationen irgendwie zur Alterung beitragen, zu stark, um sie zu verwerfen. Eine wirklich neue Lösung für dieses Rätsel wäre nötig, um die beiden Datensätze miteinander in Einklang zu bringen. Ich erkannte, dass jedwede verbesserte Version der mitochondrialen freien Radikaltheorie des Alterns zwei eng miteinander verbundene Dinge tun müsste. Erstens müsste sie zeigen, dass die wenigen Zellen, die durch diese ausgebrannten, mutierten Mitochondrien übernommen wurden, irgendwie ihre Toxizität über ihre Grenzen hinaus verbreiten. Zweitens müsste sie die Art dieser Toxizität erklären, weil die üblichen Täter – die freien Radikale – anscheinend nicht in Frage kommen, da die Mitochondrien in diesen Zellen die Quelle der normalen Produktion freier Radikale ausgeschaltet haben. Ich versuchte zu verstehen, wie diese durch mutierte Mitochondrien übernommenen Zellen überhaupt überleben. Was war ihre Energiequelle? Ihre Mitochondrien waren nicht nur außerstande, die oxidative Phosphorylierung zu betreiben, die ihre Hausherren mit dem Großteil ihres ATP versorgt, es war gar nicht klar, wie sie überhaupt irgendwelche zelluläre Energie produzieren konnten.

Oberhalb eines blockier ten Damms In normalen Zellen beginnt die Verstoff wechslung von Glukose in der Hauptkammer der Zelle mit einem chemischen Prozess namens Glykolyse. Die Glykolyse generiert eine geringe Menge ATP, ein Abbauprodukt namens Pyruvat und ein paar Elektronen, die in den Mitochondrien OXPHOS betreiben können. Um Elektronen für diesen Zweck in die Mitochondrien einzuschleusen, werden sie auf ein Trägermolekül namens NAD+ geladen. Diese geladene Form von NAD+ nennt man NADH. Das in der Glykolyse gebildete Pyruvat wird ebenfalls in die Mitochondrien gebracht, wo es zu einem weiteren Zwischenprodukt namens Acetyl-CoA abgebaut wird.

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Dieser Prozess setzt weitere Elektronen frei, die wieder zum »Aufl aden« von NAD+ in NADH geerntet werden. Acetyl-CoA wird sodann als Rohstoff für eine komplexe Folge von Reaktionen namens Citratzyklus (auch Krebszyklus oder Tricarbonzyklus genannt) verwendet, die verglichen mit den vorangegangenen Schritten ein Vielfaches an weiteren Elektronen freisetzt (aus denen wieder NADH erzeugt wird). Schließlich wird das gesamte NADH, das durch all diese Prozesse – der Glykolyse, dem Pyruvatabbau zu Acetyl-CoA und dem Citratzyklus – geladen wurde, an die Elektronentransportkette übergeben, die diese Elektronenladung zur Generierung des »Protonenreservoirs« benutzt, das praktisch die gesamte Energieproduktion der Zelle antreibt. Das ist wohlverstandene Biochemie, die in ihren Grundzügen den Studenten im Unterricht der Mittelschule vermittelt wird. All das hängt jedoch davon ab, dass diese Elektronen in den Elektronentransportketten-Mechanismus eingespeist werden können. Was würde geschehen, so fragte ich mich, wenn dieser Mechanismus wie in mitochondrial mutierten Zellen stillgelegt wäre? Mir schien, dass der ganze Prozess zum Stillstand kommen könnte. In jedem Schritt – von der Glykolyse bis zum Citratzyklus – werden Elektronen auf wartende NAD+-»Treibstofftanker« zur Belieferung der Elektronentransportkette geladen. Natürlich gibt es nur ein beschränktes Angebot an NAD+-»Trägern«, die zu NADH aufgeladen werden können, was normalerweise jedoch kein Problem darstellt: Diese Träger sind immer reichlich verfügbar, weil NADH zu NAD+ rückgeführt wird, sobald es seine Elektronenlast an die Elektronentransportmaschine in den Mitochondrien überträgt. Wenn aber dieser natürliche Zielort wegfällt, gibt es für NADH keine offenkundige Möglichkeit, seine Elektronenlast abzuladen. (Sie können sich analog vorstellen, wie es wäre, wenn alle Raffi nerien der Erde stillgelegt würden. Man müsste die weltweiten Ölquellen rasch zudrehen. Da das Öl nirgendwohin zur Weiterverarbeitung geliefert werden könnte, könnten die Öltanker nur einmal beladen werden. Danach stünde ihre Kapazität nicht mehr für Transporte zur Verfügung, und weiterhin Öl zu fördern würde zu einem logistischen Alptraum führen.) Da nun jeder Prozessschritt – Glykolyse, der Zwischenschritt von Pyruvat zu Acetyl-CoA und der Citratzyklus – NAD+ benötigt, würde man auf den ersten Blick erwarten, dass ein NAD+-Mangel dazu führt, dass der ganze Prozess zum Stillstand kommt. Damit hätte die Zelle keine Möglichkeit, Energie zu produzieren, nicht einmal die geringen ATP-Mengen, die aus den ersten Reaktionsschritten entstehen. Tatsächlich konnte ich mir vorstellen, dass mitochondrial mutierte Zellen sogar noch schlimmer dran sein könnten. NAD+ wird neben der Energieproduktion für eine breite Palette von zellulären Funktionen benötigt. Jedes Mal, wenn diese Funktionen NAD+ verwenden, reduzieren sie nicht nur den verfügbaren NAD+-Vorrat, sondern generieren auch weiteres NADH und bringen den Stoff wechsel der Zelle so noch mehr durcheinander. Einige Forscher glauben sogar, dass viele der Diabeteskomplikationen durch ein Übermaß an NADH und einen Mangel an NAD+ verursacht werden, die zu einer Störung der verschiedenen Stoff wechselprozesse führen (das Ungleichgewicht zwischen NAD+ und NADH hat bei Diabetikern jedoch andere Ursachen als der Verlust der OXPHOS-Fähigkeit). Trotzdem überleben jedoch Zellen, die von mutierten Mitochondrien übernommen

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wurden, wie die allmähliche Anhäufung im Alter zeigt. Von irgendwoher müssen sie also ATP bekommen. Als ich dieses Thema erkundete, vermutete man im Allgemeinen, dass die Zellen überleben, indem sie den Citratzyklus ausschalten und sich bei ihrer Energieproduktion gänzlich auf die Glykolyse verlassen. Das passiert während intensiven anaeroben Trainings als kurze Notlösung in den Muskelzellen, wenn diese so hart arbeiten, dass sie den gesamten verfügbaren Sauerstoff aufbrauchen und die oxidative Phosphorylierung nicht mehr aufrechterhalten können. Glykolyse würde die Zelle mit einer kleinen, aber gerade ausreichenden Menge ATP versorgen. Nach dieser Theorie kann sich die Zelle des kleinen Überschusses an NADH mittels eines biochemischen Prozesses entledigen, der Pyruvat in Milchsäure umwandelt – der biochemische Ursprung des »Seitenstechens«, den nicht nur Marathonläufer kennen. Ich realisierte jedoch, dass diese Theorie nicht zu den Fakten passte. Zum einen schien es keinen Anstieg des Milchsäurepegels zu geben. Noch bizarrer jedoch war, dass man in Enzymstudien keinen Stillstand des Citratzyklus beobachten konnte (wie man ihn bei einem Mangel an benötigtem NAD+ vermuten würde). Diese Studien legten den Schluss nahe, dass mitochondrial mutierte Zellen einen hyperaktiven Citratzyklus aufwiesen. Ich fragte mich: Wie konnten sie diesen scheinbar unhaltbaren Prozess aufrechterhalten?

Von den Nullen lernen Ein großer Schritt zum Verständnis dieses Phänomens war die Schaff ung sogenannter ρ0 -Zellen (»rho Null«), deren Mitochondrien gar keine DNA haben. Derartige Zellen sind denjenigen sehr ähnlich, die von mutierten Mitochondrien übernommen wurden, weil die Deletionsmutationen in diesen Mitochondrien jegliche Möglichkeit ausschließen, DNA-Instruktionen in funktionierende Proteine zu übersetzen. Wenn Ihre DNA nicht in brauchbare Entwürfe übersetzt werden kann, kann sie ebenso gut ganz fehlen, genau wie Anweisungen in einer unverständlichen Sprache nutzlos sind, um eine Brücke zu bauen. Mitochondrien mit DNA-Deletionen sind also in der gleichen Lage wie solche, die gar keine mitochondriale DNA haben. Eines der ersten Dinge, welche die mit ρ0 -Zellen arbeitenden Wissenschaftler entdeckten, war, dass diese Zellen tatsächlich schnell sterben – es sei denn, das Nährmedium, das sie umgibt, enthält eine von wenigen Substanzen, die normalerweise nicht in der Flüssigkeit vorhanden sind, welche die Körperzellen umgibt. Faszinierend ist jedoch, dass einige dieser Substanzen nicht in die Zelle eindringen können, was bedeutet, dass sie die kultivierten ρ0 -Zellen von außerhalb der Zelle am Leben erhalten, wie auch immer das geschehen mag. Diese Tatsache erzeugte in meinem Kopf kleine Geistesblitze, da ich nach einer Erklärung suchte, wie Zellen, die durch Klonarmeen von mutierten Mitochondrien übernommen wurden, eine Art Toxizität in den Körper als Ganzes exportieren können. Konnte es sein, dass diese Substanzen ρ0 -Zellen retteten, indem sie ihnen genau dieses Giftzeug abnahmen? Konnte es zudem sein, dass das Giftzeug nichts anderes ist als … Elektronen? Ich sah sofort einen Zusammenhang zwischen dem erwarteten Überschuss an NADH in Zellen, die keine oxidative Phosphorylierung ausüben konnten, und der

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Abhängigkeit von ρ0 -Zellen von der Gegenwart »entgiftender« Substanzen in ihrem Medium. Die mitochondrial mutierten Zellen mussten ein paar Elektronen abwerfen, um etwas NAD+ zurückzugewinnen – und die »rettenden« Substanzen für ρ0 -Zellen waren alles Elektronenakzeptoren, die funktionierten, obwohl sie außerhalb der Zelle blieben. Meine Hypothese: Mitochondrial mutierte Zellen verhindern einen lähmenden Überhang an unbenutzten Elektronen, indem sie sie aus der Zelle exportieren. Dies geschieht durch einen ähnlichen Mechanismus wie demjenigen, der für das Überleben von kultivierten ρ0 -Zellen essentiell ist. Dieser Elektronenexport verbreitet die Toxizität irgendwie auf den restlichen Organismus.

Das Sicherheitsventil Um diese Idee zu einer neuen mitochondrialen freien Radikaltheorie des Alterns zu formulieren, brauchte ich klare Antworten auf drei Fragen. Erstens: Wie liefern diese Zellen Elektronen an Akzeptoren, die sich außerhalb ihrer Membranen befinden? Zweitens: Da die in den ρ0-Studien verwendeten Elektronenakzeptoren normalerweise nicht in Körperflüssigkeiten vorkommen (oder nicht in ausreichenden Mengen): Welche Elektronenakzeptoren stehen den mitochondrial mutierten Körperzellen für diese Aufgabe zur Verfügung? Und drittens: Konnten diese Prozesse eine Erklärung für die systematische Ausbreitung der Toxizität durch den Körper liefern, wie es nötig schien, um zu akzeptieren, dass sie eine wichtige Rolle im Alterungsprozess spielen? Es stellte sich heraus, dass die erste Frage bereits beantwortet war. Seit Jahrzehnten kannte die Wissenschaft einen an der Zellmembran gelegenen, Elektronen exportierenden Mechanismus, den wir heute Plasma-Membran-Redox-System (PMRS) nennen. Während wenig über seinen eigentlichen Zweck im Körper bekannt war, stand seine Grundfunktion fest: Man wusste, dass er Elektronen von NADH innerhalb der Zelle aufnimmt, sie aus der Zelle hinaus transportiert und so NADH zu NAD+ recycelt. Dieser Export erlaubt selbst normalen, gesunden Zellen eine bessere Kontrolle über das Gleichgewicht von chemisch oxidierenden und reduzierenden Faktoren innerhalb ihrer Grenzen. Außerdem können sie so auch die Verfügbarkeit von NAD+ und NADH für die grundlegende zelluläre Biochemie straffer regulieren. Das PMRS macht also genau das, was mitochondrial mutierte Zellen zum Überleben brauchen. Das PMRS stellte sich als fast tadelloser Kandidat für diese Aufgabe heraus. Der PMRS-Forscher Dr. Alfons Lawen von der Universität Monash in Australien hatte (ohne sich der Rolle für die Alterung bewusst zu sein) bis dahin nicht nur bereits gezeigt, dass das PMRS Elektronen an dieselben nicht membran-durchdringungsfähigen Elektronenakzeptoren übergeben kann, die ρ 0 -Zellen das Überleben sichern, sondern dass die Aktivität von PMRS für das Überleben dieser Zellen notwendig ist. Dies bewies nicht nur, dass der Export von Elektronen für das Zellüberleben nötig ist, sondern auch, dass das PMRS der Hafen ist, von dem aus sie den Ozean der sie umgebenden Körperflüssigkeiten erobern können. Die Fähigkeit mitochondrial mutierter Zellen, NADH zurück in NAD+ umzuwandeln, würde es ihnen erlauben, ihre normalen Zellfunktionen auszuüben. Sie würden auch nicht dermaßen mit überzähligen Elektronen überfrachtet, dass ein

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internes Umfeld entsteht, in dem die restliche, überlebenswichtige Zellchemie unmöglich wird. Zudem wurde mir klar, dass dies auch plausibel erklärte, warum diese Zellen einen außergewöhnlich aktiven Citratzyklus haben. Ein heißlaufender Citratzyklus würde der Zelle trotz ausgeschalteter OXPHOS erlauben, die Produktion von wertvollem ATP aus Zuckern zu verdoppeln (und viele andere Stoff wechselwege zu betreiben, an denen der Citratzyklus beteiligt ist). Das PMRS würde dies durch die Wiederverwertung der stark vergrößerten Mengen von NADH ermöglichen und dadurch der Zelle das für die Aufrechterhaltung der Prozesse nötige NAD+ liefern. Die drastisch erhöhte PMRS-Aktivität, die erforderlich ist, um den heißlaufenden Citratzyklus aufrechtzuerhalten, würde jedoch dazu führen, dass die Oberfläche der mitochondrial mutierten Zellen vor exportierten Elektronen nur so strotzt. Sie wäre ein Krisenherd elektrisch »reduzierenden« Drucks (d.h. ein unstabiler Elektronenüberschuss). Die nächste Frage war daher, auf welche Moleküle das PMRS sein Übermaß an Elektronen ablädt. Keiner der Elektronenakzeptoren, die verwendet wurden, um kultivierte ρ0 -Zellen am Leben zu erhalten, war im Körper in ausreichenden Konzentrationen vorhanden. Etwas anderes musste daher diese essentielle Rolle übernehmen. Ein Teil der Last könnte zum Beispiel von Dehydroascorbat aufgenommen werden, dem Abfallprodukt von Vitamin C, das nach der Dämpfung freier Radikale entsteht. Es gab jedoch nicht genug davon, um mit dem gewaltigen »reduktiven Krisenherd« fertig zu werden, den diese Zellen kreieren. An diesem Punkt kam mir ein attraktiver Kandidat in den Sinn, der die losen Enden dieser Geschichte verknüpfen konnte: unser alter janusköpfiger Freund, der Sauerstoff.

Wirf deinen Abfall nicht in meinen Hinterhof … Sauerstoff kann und soll auch überschüssige Elektronen aus seinem Umfeld absorbieren. Wie oben besprochen, erzeugen Mitochondrien während OXPHOS genau auf diese Weise freie Radikale. Ein paar Elektronen gehen der Elektronentransportkette »durch die Lappen« und werden durch den in der umgebenden Flüssigkeit gelösten Sauerstoff aufgenommen. Sauerstoff ist zudem das einzige Molekül, das in den Körperflüssigkeiten in ausreichender Menge vorhanden ist, um das riesige Elektronenleck aufzusaugen, das laut Vorhersage von mitochondrial mutierten Zellen verursacht wird. In einer idealen Welt könnte diese Elektronenaufnahme durch Sauerstoff eine sichere Sache sein: Das PMRS könnte auf jedes Sauerstoff molekül vier Elektronen laden und es so in Wasser umwandeln, genau wie es die Elektronentransportkette mit korrekt verarbeiteten Elektronen tut. Es wäre jedoch sehr gut möglich, dass dem PMRS einige Elektronen durch die Lappen gingen – vielleicht recht viele. Falls dem so ist, würde es an der Oberfläche der mitochondrial mutierten Zellen große Mengen an Superoxidradikalen generieren. Dies hätte schlimme Konsequenzen. Oder vielleicht nicht so schlimme: Man könnte meinen, dass die negativen Folgen größtenteils auf die direkte Umgebung beschränkt blieben. Wie fast alle freien Radikale ist Superoxid hochreaktiv und daher kurzlebig. Es würde entweder von den dortigen Antioxi-

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dantien ausgeschaltet oder es würde mit dem erstbesten Ding reagieren, mit dem es in Kontakt kommt (z.B. mit einer benachbarten Zellmembran) – seine Angriffslust würde dadurch gestillt. Superoxid könnte sicher nicht lange genug ein freies Radikal bleiben, um entfernte Gegenden des Körpers zu erreichen, wie es die mitochondriale freie Radikaltheorie erforderte. Was aber, wenn das durch PMRS gebildete Superoxid nicht Komponenten in der direkten Nachbarschaft der Zelle attackierte, sondern ein anderes Molekül, das dann stabil genug blieb, um im Körper umherzureisen? Es gab einen offensichtlichen Verdächtigen: Serumcholesterin, vor allem die (»schlechten«) LDL-Teilchen – Lipoproteine niedriger Dichte, um genau zu sein –, die ihre Cholesterinladung an Zellen im ganzen Körper liefern. Es war bereits bekannt, dass oxidiertes (und auf anderem Wege verändertes) Cholesterin im Körper vorkommt, und es ist heute allgemein anerkannt, dass es der Hauptübeltäter bei Arteriosklerose ist (ein Thema, auf das wir in Kapitel 7 zurückkommen werden). Ich erkannte, dass es ziemlich plausibel war, dass an der Oberfläche mitochondrial mutierter Zellen entstehendes Superoxid vorbeiziehendes LDL oxidieren könnte. LDL ist nämlich nicht nur allgegenwärtig und daher eine leichte Zielscheibe, sondern die Präsenz von lose gebundenem reaktiven Metall wie Eisenionen würde die potentielle Bösartigkeit von Superoxid vervielfachen. Man könnte meinen, die Anwesenheit von Antioxidantien – wie das in LDL gelöste Vitamin E – verhindere dies, doch die Forschung entdeckte bereits, dass dem nicht so ist. Man findet oxidiertes LDL nicht nur regelmäßig im Körper, Studien mit den präzisesten verfügbaren Fettoxidationstests zeigten zudem, dass Vitamin-E-Nahrungszusätze es nicht schaff ten, diese Fettoxidation im Körper gesunder Menschen zu senken.12 Tatsächlich bedeutet der Mangel an antioxidativen Partnern im unzugänglichen Kern des LDL-Teilchens, dass das Vitamin E im Teilchen die Ausbreitung der freien Radikale in sein Zentrum hinein sogar beschleunigen kann, falls es auf irgendetwas triff t, das ein bisschen stärker ist als das banalste freie Radikal. Dieses Phänomen nennt man »durch Tocopherol vermittelte Peroxidation«13 (Tocopherol ist der chemische Name von Vitamin E). Jetzt sah ich Licht am Ende des Logiktunnels. Die LDL-Oxidation würde sehr plausibel erklären, wie mitochondrial mutierte Zellen oxidativen Stress über den ganzen, alternden Organismus verbreiten können. Obwohl der LDL-Teil von Cholesterin Arteriosklerose fördern kann, wenn er in überhöhten Mengen im Blut vorkommt, erfüllt er doch eine grundlegende Funktion im Körper. Zellen benötigen Cholesterin zum Auf bau ihrer Membranen, und LDL ist der Lieferdienst des Körpers für Cholesterin. Es wird von der Leber (in welcher der Körper eigenes Cholesterin herstellt) und dem Darm (Aufnahme aus der Nahrung) zu allen Zellen gebracht, die es benötigen. Wenn nun aber die Cholesterinlieferung unterwegs von mitochondrial mutierten Zellen oxidiert würde, würde aus LDL ein tödliches Trojanisches Pferd, das eine Giftladung an die Zelle ausliefert, welche die Fracht mit beschädigtem Cholesterin aufnimmt. Damit würden sich Schäden durch freie Radikale in die aufnehmende Zelle fortpflanzen, indem die radikalisierten Fette ihre Toxizität durch die gut verstandenen chemischen Reaktionen weitergeben, die auch dem Ranzigwerden von Fetten zugrunde liegen. Je mehr Zellen mit dem Alter durch mutierte Mitochon-

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drien übernommen werden, desto mehr Zellen würden unbeabsichtigt oxidiertes LDL schlucken, und allmählich würde oxidativer Stress systematisch im ganzen Körper ansteigen (siehe Abb. 4). Abbildung 4: Die Hypothese des »reduktiven Krisenherdes« zur Erklärung der Verstärkung der Toxizität von seltenen, mitochondrial mutierten Zellen. O2

Glucose

AEAr

Atmungskette

NADH

AEA

ATP Alle anderen intrazellulären Prozesse Pi + ADP

Glykolyse PDH-Zyklus Citratzyklus

Eine Zelle mit mutierten Mitochondrien (keine aerobe Atmung) erzeugt reduktiven Stress an ihrer Oberfläche.

NAD+

Superoxid

CO2

Rote Blutkörp.

(zur Leber)

Hämine

Albumin, Hämopexin

EC-SOD GSH-Px

AEA = Antioxidativer Elektronenrezeptor AEAr = Reduzierter AEA

Makrophagen

H2 O LDL (unox.)

LDL (leicht ox.)

LDL (stark ox.)

Die extrazellulären Abwehrkräfte sind zahlreich und vielfältig, aber nicht zu 100% wirksam.

Kupfferzellen O2

Endosom/ Lysosom

Cholesterin für zelluläre Verwertung

**

Riss, Leck

Säuren, lytische Enzyme

Eine Zelle mit gesunden Mitochondrien (aerobisch aktiv) kann an den Lysosomen Schäden und somit mehr allgemeinen Stress erleiden.

Die neue mitochondriale freie Radikaltheorie des Alterns Ich ließ mir das ganze Szenario immer wieder durch den Kopf gehen und überzeugte mich allmählich davon, dass ich tatsächlich ein vollständiges, detailliertes und widerspruchsfreies Szenario entwickelt hatte, um den Zusammenhang zwischen mitochondrialen freien Radikalen und dem Anstieg von oxidativem Stress im ganzen Körper mit dem Alter zu erklären. Das Modell beantwortete all meine Schlüsselfragen und klärte alle scheinbaren Widersprüche, die so viele meiner Kollegen dazu ver-

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anlassten, die mitochondriale freie Radikaltheorie des Alterns gänzlich aufzugeben. Mitochondriale freie Radikale verursachen DNA-Deletionen. Diese mutierten Mitochondrien können keine oxidative Phosphorylierung mehr betreiben und daher reduziert sich ihr Ausstoß an ATP und freien Radikalen drastisch. Weil sie ihre eigenen Membranen nicht mehr andauernd mit freien Radikalen bombardieren, erkennt der Lysosomenapparat der Zelle sie nicht als defekt und verschrottet stattdessen schrittweise die gesunden Kollegen. (Das ist der fehlangepasste evolutionäre Prozess, den ich bereits ein Jahr früher »Überleben der Langsamsten« genannt hatte.) Um weiterhin ATP und andere für ihre Wirtszellen lebensnotwendige Stoff wechselprodukte herzustellen, müssen diese Mitochondrien die Aktivität ihres Citratzyklus aufrechterhalten – dies wird jedoch in Kombination mit den anderen Zellprozessen ohne OXPHOS den Zellvorrat an NAD+ sehr schnell auf brauchen, wenn nicht ein Weg gefunden wird, sie von ihrer Elektronenlast zu erleichtern. Dies wird durch das »Sicherheitsventil« für überschüssige Elektronen an der Zellmembran namens Plasma-Membran-Redox-System erreicht. Das rauschende Dröhnen der Elektronen an der Oberfläche dieser Zellen verwandelt sie in »reduktive Krisenherde«, die einen konstanten Strom von freien Superoxidradikalen ausstoßen. Diese Radikale infizieren vorbeiziehende LDL-Teilchen, die dann zu Zellen im ganzen Körper reisen und so einen systemischen Anstieg von oxidativem Stress im Alter auslösen. Oxidativer Stress verursacht Schäden an Proteinen, Fetten und DNA, treibt Entzündungsprozesse an, stört den Zellstoff wechsel und bringt die Genexpression aus dem Gleichgewicht. Dies kann zweifellos ein zentraler Motor biologischer Alterung sein. Die ganze Theorie ist unschön kompliziert, wie Sie sicher bemerkt haben, und ich wurde mir dessen auch sofort bewusst – aber soweit ich weiß, ist es die einzige Hypothese, die mit sämtlichen Daten übereinstimmt. Ich publizierte die beiden Hauptsäulen der Theorie in rascher Folge in den späten 1990er Jahren, eine detaillierte Präsentation der integrierten Theorie wurde als meine Doktorarbeit in Cambridge akzeptiert und in der Serie »Molecular Biology Intelligence Unit« von Landes Bioscience publiziert. 14 In den folgenden Jahren wurde die Theorie weithin anerkannt und in der wissenschaftlichen Literatur oft zitiert. Trotzdem zitieren die Regenbogenpresse und viele Biogerontologen 15 leider weiterhin die seit langem widerlegten »Teufelskreistheorien«, um die Rolle der Mitochondrien im Alterungsprozess entweder zu unterstützen oder anzufechten, anstatt sich ernsthaft mit dieser detaillierten mechanistischen Darstellung auseinanderzusetzen. Nun kennen Sie meine Ansicht bis ins kleinste Detail, weshalb mitochondriale Mutationen wahrscheinlich ein Hauptantreiber der Alterung von Säugetieren sind und daher in der SENS-Definition als eigene »Schadenskategorie« gelten. Es bleibt die Frage, was man gegen die toxischen Effekte mitochondrial mutierter Zellen tun kann. Die Lösung dieses Problems ist das Thema des nächsten Kapitels.

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Anmerkungen 1

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Ich sträube mich eigentlich gegen diese Terminologie, denn es gibt derart viele Substanzen, die dieser Defi nition genau genommen nicht entsprechen, aber sich wie »freie Radikale« verhalten und oft »freie Radikale« genannt werden – und umgekehrt gibt es Moleküle, die strikt betrachtet freie Radikale, aber überhaupt nicht schädlich sind. Dasselbe gilt für »reactive oxygen species«, ein weiterer populärer Begriff, der von vielen Leuten synonym mit »freien Radikalen« verwendet wird. Reduzierte Eisenionen (Fe2+) beispielsweise tragen stark zur Chemie der »freien Radikale« bei, sind aber weder Moleküle noch auf Sauerstoff basiert und enthalten auch kein ungepaartes Elektron. In meiner Doktorarbeit habe ich versucht meine Kollegen zu überzeugen, den Begriff »Träger einzelner Elektronen« zu übernehmen, um all diese Substanzen abzudecken. Ich setzte mich nicht durch und finde mich (bis jetzt!) mit der gebräuchlichen, wenn auch nachlässigen Konvention ab. Von dieser eigenartigen Tatsache wird angenommen, dass sie ein Überbleibsel aus den frühesten Tagen der Evolution ist, als die Vorfahren der Mitochondrien eigenständige Organismen waren. Sie entwickelten eine gegenseitig nützliche Beziehung mit Zellen, die die Vorfahren aller außer den primitivsten heute lebenden Organismen waren. Wie wir sehen werden, stellt sich das als ziemlich wichtiges Detail heraus. Es hat viel weitreichendere Konsequenzen als andere evolutionäre Überreste, wie etwa die Tatsache, dass Menschen immer noch einen Blinddarm haben. Harman, D.: The biologic clock: the mitochondria? J Am Geriatr Soc 1972, 20 (4): 145-147. Barja, G.: Rate of generation of oxidative stress-related damage and animal longevity. Free Radic Biol Med 2002, 33 (9): 1167-1172. Schriner, S.E./Linford, N.J./Martin, G.M./Treuting, P./Ogburn, C.E./Emond, M./ Coskun, P.E./Ladiges, W./Wolf, N./Van Remmen, H./Wallace, D.C./Rabinovitch, P.S.: Extension of murine life span by overexpression of catalase targeted to mitochondria. Science 2005, 308 (5730): 1909-1911. Schriner, S.E./Linford, N.J.: Extension of mouse lifespan by overexpression of catalase. AGE 2006, 28 (2): 209-218. Bandy, B./Davison, A.J.: Mitochondrial mutations may increase oxidative stress: implications for carcinogenesis and aging? Free Radic Biol Med 1990, 8 (6): 52339. Shigenaga, M.K./Hagen, T.M./Ames, B.N.: Oxidative damage and mitochondrial decay in aging. Proc Natl Acad Sci USA 1994, 91 (23): 10771-10778. De Grey, A.D.N.J.: A proposed refinement of the mitochondrial free radical theory of aging. BioEssays 1997, 19 (2): 161-166. De Grey, A.D.N.J.: A mechanism proposed to explain the rise in oxidative stress during aging. J Anti-Aging Med 1998, 1 (1): 53-66. Van Zutphen, H./Cornwell, D.G.: Some studies on lipid peroxidation in monomolecular and bimolecular lipid fi lms. J Membr Biol 1973, 13: 79-88.

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10 Kissova, I./Deffieu, M./Manon, S./Camougrand, N.: Uth1p is involved in the autophagic degradation of mitochondria. J Biol Chem 2004, 279 (37): 39068-39074. 11 Elmore, S.P./Qian, T./Grissom, S.F./Lemasters, J.J.: The mitochondrial permeability transition initiates autophagy in rat hepatocytes. FASEB J 2001, 15 (12): 22862287. 12 Meagher, E.A./Barry, O.P./Lawson, J.A./Rokach, J./Fitz-Gerald, G.A.: Effects of vitamin E on lipid peroxidation in healthy persons. JAMA 2001, 285 (9): 11781182. 13 Thomas, S.R./Stocker, R.: Molecular action of vitamin E in lipoprotein oxidation: implications for atherosclerosis. Free Radic Biol Med 2000, 28 (12): 1795-1805. 14 De Grey, A.D.N.J.: The mitochondrial free radical theory of aging. 1999, Austin, TX: Landes Bioscience. 15 Zu finden beispielsweise bei Jacobs, H.T.: The mitochondrial theory of aging: dead or alive? Aging Cell 2003, 2 (1): 11-17.

6. Abkoppelung vom Netz

Es gibt genug Anzeichen dafür, dass die Mittel für die meisten heutigen Versuche der Stoffwechselmanipulation zur Schadensreduzierung in den Mitochondrien (und damit des Körpers als Ganzem) nicht zufriedenstellend sind. Glücklicherweise gibt es einen besseren Weg, der für denselben Zeit- und Geldeinsatz weit bessere Resultate verspricht. Es scheint möglich und plausibel zu verhindern, dass sich mitochondriale Schäden im Alter negativ auf uns auswirken – und Wissenschaftler arbeiten bereits an mehreren Alternativen für die ersten Schritte dieses Ansatzes.

Im vorherigen Kapitel habe ich die verflochtenen Mechanismen dargelegt, aufgrund derer mitochondriale DNA-Deletionen ein Hauptmotor der Alterung sein können. Nun muss ich Ihnen erzählen, dass es eigentlich schlichtweg egal ist, ob diese Hypothese stimmt oder nicht. Dieses Argument ist ebenso gut auf die anderen SENS-Eingriffe anwendbar. Es ist für den Ingenieur-Ansatz der Anti-Aging-Medizin so zentral – und so gegen unsere Intuition –, dass ich um Ihre Nachsicht bitten muss, falls ich mich zu oft wiederhole. Wir müssen uns dessen bei der Diskussion dieser Probleme ständig bewusst sein. Wenn es lediglich unsere Absicht wäre, das Altern zu verstehen, dann wäre es absolut notwendig, die speziellen Mechanismen, die zur Anhäufung von Alterungsschäden führen, genau zu analysieren. Dies ist jedoch nicht unsere Absicht. Unsere Absicht ist es, die Konsequenzen des Alterns zu eliminieren: das allmähliche Abgleiten in die Altersschwäche mit nachfolgendem Tod von Zehntausenden von Menschen. Alterung ist eine tödliche Pandemie und obwohl unser Verständnis ihrer Mechanismen immer noch hochgradig unvollständig ist, wissen wir mittlerweile genug, um sie zu beeinflussen. Wir müssen lediglich die Art des Schadens selbst identifizieren – die sich anhäufenden Läsionen, welche die Quelle der altersbedingten Funktionsverluste im Körper sind – und dann den Schaden beheben oder die davon ausgehende Gefahr für unsere Gesundheit und Lebenserwartung eliminieren. Dieses Ziel sollte der zentrale Brennpunkt biogerontologischer Arbeit werden und der Hauptfokus finanzieller Unterstützung im Bereich Biomedizin im Allgemeinen. Das Problem mutierter Mitochondrien ist ein typisches Beispiel. Mitochondriale DNA-Mutationen sind eine Art molekularer Unordnung, welche die biologisch Alten von den biologisch Jungen unterscheidet und es gibt starke Hinweise darauf, dass

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sie schädlich sind. 1 Ob nun also mutierte Mitochondrien ihre Wirtszellen mittels »Überleben der Langsamsten« oder eines anderen Mechanismus übernehmen und ob diese Zellen ihre toxische Wirkung auf den Rest des Körpers durch den Export von Elektronen über das PMRS oder über einen völlig anderen Prozess ausüben, spielt am Ende keine Rolle. Die zu lösende Aufgabe bleibt dieselbe und unser therapeutisches Ziel ist klar: entweder die Mutationen selbst zu reparieren oder sie funktionell unschädlich zu machen. Dieses Kapitel zeigt, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Bevor ich jedoch meine Vorschläge diesbezüglich ausbreite, muss ich zunächst darlegen, wieso die einleuchtend klingenden Lösungen, die viele Biogerontologen vorschlagen würden, eine Verschwendung von Zeit und begrenzten Ressourcen sein dürften.

Man kann einen fahrenden Zug nicht (gefahrlos!) stoppen Ich habe den »über-präventiven« Ansatz, das Altern zu bekämpfen, als den »Gerontologie-Ansatz« bezeichnet, weil ihn vor allem Biogerontologen bevorzugen. Wenn meine Kollegen ernsthaft darüber nachdenken, tatsächlich etwas gegen das Altern zu unternehmen und nicht nur das Verständnis darüber zu verbessern, denken sie instinktiv daran, wie der Stoff wechsel optimiert werden kann. Schließlich ist Alterung das Ergebnis einer Anhäufung von schädlichen Nebenprodukten unseres Stoffwechsels. Natürlich, so denkt man, könnten wir die Belastung des Organismus durch reaktive Nebenprodukte reduzieren sowie die Geschwindigkeit vermindern, mit der unsere Zellen und Gewebe mikroskopische Schäden ansammeln, und dadurch den allmählichen Zerfall unserer Körper verlangsamen, der uns altersschwach und immer verwundbarer für den Todesstoß macht. Wenn wir nur die Prozesse etwas optimieren oder dämpfen könnten. Dieser Ansatz hat eine starke intuitive Anziehungskraft, die zudem konstant von Nahrungsergänzungsmittel-Verkäufern und öffentlichen Gesundheitsbehörden unterstützt und bestärkt wird. Wir werden beständig ermahnt, unseren Lebensstil zu verbessern und präventive Medizin anzuwenden: Sicher ist es sinnvoller, so denken wir, die Ursachen des Alterns und altersbedingter Krankheiten anzugehen, anstatt zu versuchen ein bestehendes molekulares Chaos zu entwirren. Wie wir jedoch im dritten Kapitel gesehen haben, liegen die Ursachen des Alterns in der fundamentalen Chemie unseres Lebens. Unsere Möglichkeiten, vorteilhaft in diese Chemie einzugreifen, sind durch die dem Organismus zugrunde liegende Biologie begrenzt. Ich habe dieses Prinzip im dritten Kapitel illustriert, möchte nun aber den konkreten Fall eines Eingriffs in das Problem mitochondrialer Mutationen betrachten. Der offensichtliche Ansatz alter Schule wäre der Versuch, die Bildung mutierter mitochondrialer DNA zu reduzieren, indem man die Bombardierung der mitochondrialen DNA durch freie Radikale vermindert. Ein solcher Trick wurde mit einem gewissen Erfolg bei Mäusen2 angewandt, die eine zusätzliche Kopie des Antioxidans-Enzyms Katalase gezielt in ihre Mitochondrien erhielten. Katalase baut Hydrogenperoxid (eine Art freies Radikal) zu harmlosem Wasser ab, bevor es ernsthaften molekularen Schaden anrichten kann. Tiere, die das zielgerichtete Katalase-Gen erhielten, erfreu-

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ten sich einer 50-fach erhöhten Enzym-Aktivität in ihren Mitochondrien, was einen Großteil mitochondrialen DNA-Schadens verhindern konnte – einschließlich einiger der Mutationen, die den ganzen zerstörerischen Zerfallsprozess in Gang setzen, den ich im letzten Kapitel beschrieben habe. Verglichen mit den wiederholten, erbärmlichen Misserfolgen, die Lebensspanne mittels antioxidativer Nahrungsmittelzusätze zu verlängern, oder den unklaren3 oder negativen 4 Ergebnissen früherer Versuche, das Gemetzel freier Radikale in Mäusen mit genetischen Eingriffen zurückzuhalten, waren die Ergebnisse ziemlich beeindruckend. Mäuse, die auf die Mitochondrien gerichtete Katalase erhielten, gewannen eine 20-prozentige Verlängerung, nicht nur der durchschnittlichen, sondern der maximalen Lebensdauer – der höchste Standard für alterungsrelevante Daten. Obwohl keine detaillierte Analyse des Niveaus altersbedingter Pathologie dieser Tiere publiziert wurde, wissen wir doch, dass sie weniger altersbezogene Herzdegenerationen und Katarakte erleiden. Wenn dem so ist, wieso sollten wir dann nicht energisch die Entwicklung einer gezielten Erhöhung mitochondrialer Katalase im Menschen anstreben? Nun, teilweise liegt dies an der Überprüf barkeit (und danach an der Entwickelbarkeit in klinischen Versuchen) dieses Eingriffs. Der Ansatz leidet in diesen Punkten an denselben Schwächen wie jede »präventive« Anti-Aging-Medizin. Erstens gibt es keine akute Krankheit, gegen die zusätzliche Katalase als Heilmittel getestet werden könnte, weshalb regulatorische Behörden keine klinischen Versuche erlauben werden, geschweige denn, sie für den Einsatz am Menschen bewilligen. Zweitens sind die nötigen Zeitskalen für den Nachweis der Wirksamkeit gegen Alterung zu teuer und riskant, um sie mit Risikokapital zu finanzieren. Dies bedeutet wohl, dass auf Mitochondrien gerichtete Katalase nie in die Klinik kommen wird, um Leute gesund, jung und am Leben zu erhalten, egal wie stark sich Wissenschaftler oder die Öffentlichkeit dafür einsetzen. Die Interessen derjenigen, die die Macht haben, Entwicklungen zu stoppen oder zu finanzieren, sind hier gegen den Fortschritt vereinigt. Doch auch ohne diese strukturellen Hürden würde ich schlussfolgern, dass es fruchtbarere Böden gibt, auf die man unsere beschränkten Mittel säen kann, um mitochondriale Mutationen anzugehen. Die hochgekurbelte Katalase in diesen Mäusen verringert die Häufigkeit mitochondrialer Mutationen – sie eliminiert oder umgeht sie jedoch nicht. Sie verlangsamt daher die fortschreitende Anhäufung dieser Form von altersbedingtem Schaden, behandelt ihn aber nicht. Ich glaube, das können wir viel besser. Nach meiner Einschätzung der Daten lohnt es sich nicht, unser intellektuelles und finanzielles Kapital für einen Eingriff einzusetzen, der eine 20-prozentige Verlängerung der Lebensspanne (die eine durchschnittliche Person in den Industrieländern in die hohen 90er bringen würde) einbringen könnte. Dieselben Anstrengungen könnte man in die Entwicklung einer Behandlung stecken, die nicht auf die Verhinderung dieses Schadens zielt, sondern ihn harmlos machen würde. Meine Analyse legt nahe, dass eine solche Intervention nicht nur die Geschwindigkeit der Alterungsschäden, die primär durch andere Mechanismen verursacht werden, um die Hälfte reduzieren könnte, sondern – falls mit einer Palette ähnlicher Therapien kombiniert – uns letzten Endes eine unbeschränkte, jugendliche Lebensspanne geben würde. Mehr dazu in Kapitel 14.

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Falls wir die anderen Formen molekularen Schadens, die uns im Alter welken und sterben lassen, eine nach der anderen eliminieren würden, aber die Häufigkeit mitochondrialer Mutationen »nur« in dem Ausmaß verlangsamten, wie in den Mäusen mit der mitochondrialen Katalase beobachtet, könnten wir vor einer Zukunft stehen, die weiter reicht als wir ermessen können. Wenn Medikamente die Verklebung unserer Strukturproteine durch fortgeschrittene Endprodukte der Glykation (AGE genannt, von »Advanced Glycation Endproducts«) rückgängig machen können; wenn durch eine sorgfältige Ausnutzung des Immunsystems der extrazelluläre Abfall aufgeräumt wird, der die Zellfunktionen behindert; wenn schließlich ruhende Zellen, die den Zerfall unseres eigenen Immunsystems verursachen, entfernt werden; dann hätten wir trotz all der anderen verfügbaren, entscheidenden Interventionen des SENS-Programms noch immer Mitochondrien, die mit ihrer eigenen DNA russisches Roulette spielen. Wie langsam sie die Revolvertrommel auch drehen, sie könnten dennoch das schwächste Glied in einer Kette sein, die uns ansonsten eine unbeschränkte, jugendliche Lebensspanne geben könnte. Dieselben Einwände könnten wir auf jeden Anti-Aging-Ansatz anwenden, der darauf abzielt, Alterungsschäden zu vermeiden statt sie wirklich zu beheben. Es gibt jedoch einen spezifischeren Einwand gegen die »Katalase-Lösung«. Das Vertrauen auf eine Extraportion Katalase gegen mitochondriale Mutationen könnte Menschen, deren Körper bereits von all den anderen identifizierten Alterungsschäden bereinigt – oder immunisiert – wurden, sogar schaden. Katalase entgiftet Hydrogenperoxid, welches schädigend wirkt, wenn es aus unsauberer OXPHOS resultiert – was meistens der Fall ist. Die Evolution ist über lange Zeiträume hinweg jedoch ein extrem intelligenter Ingenieur, und sie hat gelernt, aus einer schlechten Arbeit das Beste zu machen, indem sie Hydrogenperoxid für ihre eigenen Zwecke nutzt. Das Zeug wahllos aus den zellulären Kraftwerken auszuspucken bringt natürlich wenig Gutes. Unsere Zellen generieren jedoch ganz bewusst ein gewisses Maß Hydrogenperoxid. Es dient als chemisches Signal, dessen Wirkungsspektrum vom Zuckerstoff wechsel bis zu Zellwachstum und -teilung reicht.5 Wenn man nun also den Hydrogenperoxid-Pegel einer Zelle dämpft – selbst wenn man damit auf die Mitochondrien zielt – könnte es gut sein, dass man das Funktionieren unserer komplexen intrazellulären Maschinerie stört. Eines der dramatischsten Beispiele dieses potentiellen Problems ist die Notwendigkeit, dass Hydrogenperoxid die Mitochondrien erreicht, da es Teil der Signalkette ist, die Apoptose oder »programmierten Zelltod« auslöst. Apoptose ist während der embryonalen Entwicklung als Teil des »Umgestaltungsprozesses« wichtig, der den entstehenden Organismus von überzähligen Zellen säubert, die nur während bestimmter Wachstumsphasen notwendig sind. Seine Hauptrolle im Körper ist jedoch ähnlich wie der Selbstzerstörungsmechanismus von James Bonds Aston Martin oder des Raumschiffs Enterprise: nämlich Ihren Zellen eine Möglichkeit zu geben, sich selbst zu vernichten, falls sie von »feindlichen Kräften« übernommen wurden (z.B. Viren oder Krebs), bevor sie die Integrität des Körpers als Ganzes gefährden können. Wenn die Zellen unseres Immunsystems eine übernommene Zelle erkennen, binden sie an ihre Oberfläche, wodurch ein Signal gesendet wird, das den Mitochondrien mitteilt, sich »in die Luft zu jagen« und damit die Zelle zu zerstören. Hydro-

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genperoxid spielt in diesem Signalsystem eine Rolle und Studien zeigten, dass Antioxidantien – darunter auch Katalase – die korrekte Aktivierung des apoptotischen Programms blockieren können. Die massive Ankurbelung mitochondrialer Katalase-Aktivität, die nötig ist, um diesen Tieren einen partiellen Schutz vor ihren mitochondrialen DNA-Schäden zu geben, hat daher eine düstere Seite. Obwohl es klar ist, dass das Resultat dieser Ankurbelung positiv ist – wie die längere Lebensdauer und verminderte altersbezogene Pathologie zeigen –, würde die Gesamtbilanz von Nutzen und Risiko in einem Organismus, in dem alle anderen Arten von Alterungsschäden eliminiert wurden, aller Wahrscheinlichkeit nach völlig unverhältnismäßig sein. In diesem ansonsten verjüngten Körper wäre eine chronische Fehlregulierung von Signalwegen der Zelle ein hoher Preis für verminderten oxidativen Stress. Schließlich gibt es auch Grund zur Annahme, dass der Katalaseschub, den diese Mäuse erhielten – zu einer Zeit, als die Mäuse noch kleine Embryos waren –, in erwachsenen Organismen vielleicht nicht einmal funktionieren würde. Die Katalase-Gene wurden nur in bestimmten Zelltypen exprimiert und die Wissenschaftler, welche die Studie durchführten, wiesen darauf hin, dass dies das Resultat einer evolutionären Selektion während der Entwicklung im Mutterleib sein könnte. Man glaubt, dass die zusätzliche Katalase in einigen Zellarten nützlich ist, in anderen dagegen schädlich. Dadurch würden Zellen, die viel Enzym exprimieren, tendenziell absterben, falls die Zusatz-Katalase in ihrem Zelltyp schädlich wäre. Andere, das neue Gen nicht exprimierende Zellen desselben Zelltyps würden unterdessen überleben, sich vermehren und die Oberhand gewinnen. In reifen Organismen würde derselbe Trick diesen internen evolutionären Prozess jedoch kurzschließen und daher das neue Gen wahllos an alle Zelltypen liefern. Dadurch könnten die Vorteile der Katalase-Gentherapie in gewissen Zelltypen durch die negativen Effekte anderswo in den Hintergrund treten. Menschen, die das Unglück haben, bereits geboren worden zu sein, könnten folglich nicht in den Genuss der Vorteile einer solchen Therapie kommen – und kein Vorschlag für eine Gentherapie für ein sich gesund entwickelndes Kind, geschweige denn Embryos, wird an einem medizinischen Ethikrat vorbeikommen. Nichts davon sollte uns entmutigen. Es sollte uns lediglich daran erinnern, dass wir unseren Einsatz besser anderswo bündeln. Wie ich in Kapitel 4 skizziert habe, plädiere ich für einen fundamental anderen Ansatz, um mit altersbedingten molekularen Schäden fertigzuwerden. Anstatt auf eine Art »am Stoff wechsel herumzupfuschen«, die Alterungsschäden wie mitochondriale DNA-Deletionen vielleicht verhindert, behaupte ich, dass wir uns auf die Entwicklung von Anti-Aging-Biomedizin konzentrieren müssen, die Mutationen in mitochondrialer DNA reparieren oder harmlos machen kann. Während die meisten Menschen – sowohl Laien als auch professionelle Wissenschaftler – zu der Überzeugung tendieren, dass dies weit schwieriger sein müsse als eine Präventionsstrategie, gibt es auf dem Reißbrett bereits mehrere vielversprechende Techniken, die keine weiter entwickelte Biotechnologie benötigen, als diejenige, die bereits Voraussetzung für die Injektion von Katalase in Mitochondrien ist – nämlich Gentherapie. Dies legt nahe, dass wir beide Interventionsarten ungefähr zur selben Zeit in der Klinik haben könnten. Tatsächlich zeigt uns dies, dass die heilenden Technologien die an Alterungsschäden leidenden Menschen, aus den oben

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erwähnten regulatorischen und pragmatischen Gründen, früher erreichen sollten als die präventiven.

Der sicherste Weg: »Lauf zum Luftschutzbunker!« Wie ich im letzten Kapitel erklärte, ist die Hauptursache für die unübliche Verwundbarkeit mitochondrialer DNA gegenüber oxidativem Schaden ihre Lage: Neben einem undichten Nuklearreaktor (die mitochondriale Elektronentransportkette) zu wohnen erhöht das Mutationsrisiko, ob man nun ein wachsendes Kind oder eine winzige biologische Maschine ist. Metabolische Sanierungsansätze versuchen den Reaktor sauberer laufen zu lassen (sodass er weniger schädliche Abfälle produziert) oder eine Anlage zur Verschmutzungskontrolle zu installieren, die mehr Nebenprodukte abfängt, bevor sie Schaden anrichten (die zelluläre Entsprechung von »Schornsteinfegern« in Kohlekraftwerken). Mein bevorzugter Ansatz ist ein ganz anderer: Wir sollten diesen Mutationen die Möglichkeit nehmen, überhaupt schädlich zu sein. So könnten Sicherheitskopien der Gene, die zur Zeit in den Mitochondrien untergebracht sind, in den sicheren Hafen des Zellkerns gebracht werden, weit weg von der konstanten Bombardierung durch freie Radikale im Mitochondrium. Diese Lösung nennt man »allotopische Expression« der Proteine, die diese Gene kodieren – d.h. Expression von einem anderen (griechisch allo) Ort (topos). Lassen Sie uns etwas klarstellen: Allotopische Expression verhindert in keiner Weise Mutationen an den nativen Genen in den Mitochondrien. Freie Radikale würden die verwundbaren Mitochondrien genauso oft treffen und Mutationen würden ebenso rasch auftreten wie zuvor. Mit einer Sicherheitskopie dieser Gene im Zellkern würden diese Mutationen jedoch funktionell bedeutungslos, da die Zelle die Proteine weiter produzieren könnte, für welche die außer Gefecht gesetzten Gene im Mitochondrium kodiert hatten. Solche Mitochondrien würden daher funktionierende Protonenpumpen und Elektronen transportierende Proteine genießen und sich genau wie Mitochondrien mit intakter DNA verhalten, als hätten sie keine Mutationen in ihrer »lokalen« DNA erlitten. Elektronen würden weiterhin von NADH in die Elektronentransportkette fließen, Protonen würden weiterhin gepumpt, freie Radikale würden weiterhin wahllos aus dem System entweichen. Die Situation ist in Abbildung 1 illustriert. Nicht nur das: Weil solche Mitochondrien ihre Membranen weiterhin beschädigen würden, könnte die zelluläre »Müllverbrennungsanlage« (das Lysosom) feststellen, wann sie kaputt sind, und sie zur Entsorgung führen. Der Mechanismus des »Überlebens der Langsamsten«, der dazu führt, dass mutierte Mitochondrien ihre Gastzellen übernehmen, würde nie stattfinden. Zudem wären die Zellen nicht gezwungen in den abnormalen Stoff wechselmodus zu wechseln, auf den Zellen mit mutierten Mitochondrien angewiesen sind, um mit dem Ungleichgewicht von NADH und NAD+ umzugehen. Obwohl diese Zellen also Mutationen in ihrer mitochondrialen DNA enthalten, würden sie ihre überschüssigen Elektronen nicht LDL auf bürden, den oxidativen Stress nicht auf den Rest des Körpers übertragen und

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nicht mehr zur Alterung des Organismus als Ganzem beitragen als Zellen mit völlig intakter mitochondrialer DNA. Abbildung 1: Das Konzept allotopischer Expression zur Umgehung mitochondrialer Mutationen. Nucleus Mitochondriale DNA

13 modifizerte Gene

Kern-DNA

~1000 Gene 13 Gene

Boten-RNA ~1000 RNAs Protein ~1000 Proteine 13 Proteine Synthese

Mitochondrium

35 RNAs

Transport In-vitro-Modifikation

»Was jedoch,« höre ich Sie fragen, »wenn eines der Gene der Sicherheitskopie selbst mutiert? Hätten wir dann nicht dieselbe Katastrophe?« Zum Glück nicht! Eigentlich kann dieses Sicherheitssystem nicht ernsthaft funktionell versagen, nicht einmal während einer durch ein volles Set von SENS Anti-Aging-Interventionen dramatisch verlängerten Lebensspanne. Um dies zu verstehen, sehen wir uns an, was für ein solches Versagen nötig ist. Damit eine Zelle mit einer allotopischen Kopie eines mitochondrialen Gens in den Modus »Überleben der Langsamsten« schaltet, müsste sie erstens eine Mutation in beiden Genkopien erleiden: dem mitochondrialen Original und der duplizierten Kopie im Zellkern. Dies ist viel unwahrscheinlicher, als es zunächst klingt. Es ist schon ungewöhnlich, dass DNA in den Mitochondrien permanenten Schaden erleidet (Sie erinnern sich, dass weniger als ein Prozent der Zellen von mutierten Mitochondrien übernommen werden) und die Wahrscheinlichkeit, dass eine nukleäre Sicherheitskopie mutiert, ist viel geringer. Einerseits ist sie dank ihrer Lage besser gegen freie Radikale abgeschirmt (im Zellkern untergebrachte DNA ist um ein Vielfaches weniger anfällig für Mutationen als ihre mitochondrialen Kollegen). Zudem werden auch viel mehr Proteine von nukleären Genen kodiert: zehntausende gegenüber lediglich 13 mitochondrial verschlüsselten Proteinen. Wenn also ein freies Radikal bis zur KernDNA vorstößt, sind seine Chancen, auf ein allotopisch exprimiertes mitochondriales Gen zu treffen, aufgrund der Menge anderer Gene deutlich geringer. Tatsächlich werden viele dieser freien Radikale auf gar kein Gen (der Bauanleitung für ein Protein) treffen, sondern einen der vielen Abschnitte mit funktionsloser »Müll-DNA«.

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Daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sowohl die mitochondriale Version als auch die nukleäre Sicherheitskopie desselben Gens mutiert, verschwindend gering. Außerdem gilt die unübliche Gestaltung mitochondrialer DNA, die sicherstellt, dass große Deletionen dazu führen, dass überhaupt keine Proteine mehr produziert werden können, nicht für den Zellkern: Nur das bestimmte Protein des mutierten Gens ist betroffen. Natürlich können Mitochondrien nicht ohne ihre gesamten 13 Proteine funktionieren, aber wir könnten das Risiko eines tatsächlichen Stillstands der oxidativen Phosphorylierung – und der resultierenden klonalen Expansion eines mutierten Mitochondriums – reduzieren, indem wir einen zweiten oder sogar dritten Satz funktioneller Sicherheitskopien erstellen.6

Die »Mitochondriopathien« Eine Hinderniskategorie für die klinische Entwicklung von Anti-Aging-Medizin ist strukturell: Alterung ist keine anerkannte Krankheit, weshalb die Behörden keine Studien von Interventionen zulassen werden, die behaupten, sie heilen zu können. Das ist natürlich eine kalte Dusche für Risikokapitalgeber, die sich dafür interessieren könnten, in Jungfirmen zu investieren, die an einer Behandlung gegen altersbedingte mitochondriale DNA-Mutationen arbeiten. Hinsichtlich der raschen klinischen Einführung von wirksamen Anti-Aging-Interventionen hat allotopische Expression den Vorteil, dass sie bereits als Behandlung für eine anerkannte Gruppe von Krankheiten untersucht wird: Den Mitochondriopathien. Diese Krankheiten werden durch vererbte (oder, seltener, unabhängig vom Alterungsprozess erworbene) Defekte in der mitochondrialen DNA verursacht. Diese Mutationen führen zu einem Versagen der Energieproduktion, was ein ganzes Spektrum von Fehlfunktionen verschiedener Organe mit sich bringt. Abhängig von der genauen Erkrankung sind das Gehirn, das Herz und die Muskeln am anfälligsten. Die Schäden können sich aber auch auf die Leber, die Lungen und die Hormondrüsen ausweiten. Da allotopische Expression eine vielversprechende Therapie bei Mitochondriopathien ist, sind Regierungsmittel (wenn auch nicht annähernd genug) für ihre Entwicklung bereits verfügbar. Wenn die Therapien für die Klinik bereit sind, gibt dies Risikokapitalgebern den Anreiz, in ihre Entwicklung zu investieren, sodass es einen klaren Kurs für baldige behördlich bewilligte klinische Tests gibt. Wenn sich allotopische Expression dann als sichere und wirksame Behandlung gegen vererbte Mutationen mitochondrialer DNA herausstellt, werden wir die geringen Anpassungen machen können, die nötig sind, um sie für vom Alterungsprozess verursachte Mutationen zu adaptieren. Diese parallele Anwendbarkeit ist eine Eigentümlichkeit der meisten Anti-Aging-Interventionen des SENS-Programms – und in der Tat sind erste Prototypen mehrerer vorgeschlagener Interventionen bereits heute in klinischen Versuchen.

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Mutig dor thin gehen, wo die Evolution schon war Die anderen Hürden, die sich allotopischer Expression stellen, sind eher rein wissenschaftliche. Wie wir sehen werden, war der Fortschritt hinsichtlich dieser Probleme im letzten Jahrzehnt glücklicherweise rasant. Doch es kommt noch besser: Die Evolution hat Jahrtausende an einer ähnlichen Aufgabe gearbeitet. In längst vergangenen Zeiten waren die Vorfahren der Mitochondrien nicht lediglich Zellbestandteile wie heute, sondern selbstständige Organismen, die eine »eineHand-wäscht-die-andere«-Beziehung mit unseren einzelligen Vorfahren aufrechterhielten. Da sie unabhängige Organismen waren, hatten diese Proto-Mitochondrien natürlich einen vollständigen Satz eigener DNA – mindestens 1000 Gene. Da die gefährliche Umgebung für die in den Mitochondrien untergebrachten Gene ein extrem hohes Mutationsrisiko mit sich bringt, setzte die Evolution allotopische Expression mitochondrialer Gene ein, lange bevor der Mensch in Erscheinung trat. Über die eiszeitlich langen Zeitskalen der Evolution haben Organismen mitochondriale Gene, die für mitochondriale Proteine kodieren, in ihren Zellkern kopiert. Danach wurden die mitochondrialen Originalgene überflüssig und konnten wegmutieren. Man muss Mutter Natur gratulieren: Die Evolution hat es diesbezüglich weit gebracht. Die genetische Instruktion von den über 1000 ursprünglich mitochondrialen Proteinen wurde, bis auf 13, in den Kern verschoben. Mitte der 1980er Jahre zeigten Wissenschaftler erstmals, dass auch sie mittels Biotechnologie die allotopische Expression einiger mitochondrial kodierter Proteine durchführen konnten, wenn auch zunächst nur in Hefezellen – ein entscheidender Nachweis der Machbarkeit.

Evolutionäre und andere Hürden Die Dinge werden jedoch viel komplizierter, wenn wir versuchen, dasselbe mit den 13 Genen zu tun, die sich noch immer in den Mitochondrien menschlicher Zellen befinden. Warum die Evolution diese Aufgabe nicht bereits für uns gelöst hat, wird noch debattiert. Man ist sich jedoch einig, dass es gewisse »Kräfte« geben muss, die den Prozess zurückhalten. Unabhängig davon, welche Kräfte dies sind, wird es wohl keine einfache Aufgabe. Wir müssen zunächst herausfinden, welche Kräfte diese Gene im Mitochondrium halten und dann einen Weg finden, wie wir sie überwinden können. Ich meine, dass es nur zwei solcher Kräfte gibt, mit denen wir uns beschäftigen müssen.7 Die erste gilt nicht für alle Organismen, aber für uns Menschen. Die DNA-»Sprachen« der Mitochondrien und des Zellkerns haben nämlich verschiedene »Dialekte« entwickelt. Dadurch wird eine exakte Kopie einer mitochondrialen DNA-Sequenz unlesbar, wenn sie in den Kern gelangt. Dieses Problem nennt man Code-Ungleichheit. Der Fall ähnelt der Entwicklung des Buchstabens »s«. Bis ins 19. Jahrhundert wurde ein »s« in der Mitte eines Wortes in einer länglichen Art geschrieben, die eher einem heutigen »f« als einem »s« ähnelte. Als die Schrift universeller und Unre-

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gelmäßigkeiten der geschriebenen Sprache standardisiert wurden, ersetzte man das längliche »s« allmählich durch die kürzere, kurvigere Form, die wir heute benutzen. Ein moderner Leser würde den Befehl in altdeutscher Schrift, auf den »Hasen« zu schießen, wohl falsch ausführen und den »Hafen« ins Visier nehmen. In anderen Fällen wäre eine Anweisung eventuell schlicht nicht entzifferbar. Diese Ungleichheit im genetischen Code der Mitochondrien und des Kerns macht es für die Evolution fast unmöglich, mitochondriale Gene, die eine derart differenzierte Buchstabierung aufweisen, in den Kern zu bringen. Tatsächlich enthalten alle noch in den Mitochondrien wohnhaften Gene solche Eigenheiten und das allein kann erklären, warum sie den Sprung in den Kern nicht geschaff t haben. Code-Ungleichheit ist jedoch für die Biotechnologie kein ernsthaftes Problem: Mit unserem Außenseiter-Verständnis der Verschiedenheiten der beiden Codes können wir das neue, allotopische Gen einfach mit dem für den Kern angepassten (»∫« wird mit »s« ersetzt) Code bauen. Es würde dann richtig übersetzt und in ein Protein umgesetzt, genau wie die anderen Gene für mitochondriale Proteine, die dort bereits untergebracht sind. 8 Das zweite Problem scheint für die evolutionäre Auswanderung eine weniger imposante Barriere gewesen zu sein. Es stellt jedoch eine größere Herausforderung für den Anti-Aging-Biotech-Ingenieur dar. Es ist die Wasserscheue (»Hydrophobizität«) vieler mitochondrialer Proteine, deren Gene immer noch in den Mitochondrien ansässig sind. Diese Proteine weisen in ihrer chemischen Struktur Stellen auf, die eine solche Furcht (»Phobie«) vor Wasser (»Hydro«) haben, dass sie sich wie ein Igel einrollen, wenn sie damit in Kontakt kommen. Wasserscheue ist kein Problem für mitochondriale Proteine, die auch dort zusammengebaut werden, denn die endgültige dreidimensionale Form des Proteins soll ein Knäuel sein und es gibt spezielle Enyzme, die solche Proteine in die richtige Form überführen. Wasserscheue wird aber zum Problem, wenn dasselbe Protein von nukleärer DNA im Kern gebaut wird. Die Gene solcher Proteine werden nämlich im Hauptteil der Zelle in Protein übersetzt und müssen danach aus der flüssigen Umgebung außerhalb des Mitochondriums durch die äußere und die innere Mitochondrienmembran zu ihrem endgültigen Bestimmungsort im Innern der Mitochondrien transportiert werden. Diese Membranen lassen Proteine natürlich nicht einfach frei passieren. Ansonsten wäre die Integrität des Mitochondriums – und seine Fähigkeit, das Protonenreservoir zu erhalten – durch den konstanten, unkontrollierten Materialzu- und -abfluss gefährdet. Mitochondrien müssen aber Hunderte von Proteinen importieren: zum Beispiel Dutzende von Untereinheiten der Elektronentransportkette, deren Gene bereits erfolgreich durch die Evolution in den Luftschutzbunker des Zellkerns evakuiert wurden. Mitochondrien haben daher eine raffinierte Maschinerie entwickelt, die gezielt Proteine durch diese Membranen transportiert (transloziert). Sinnvollerweise spricht man von »Translokase der inneren Mitochondrienmembran« (TIM) und »Translokase der äußeren Mitochondrienmembran« (TOM) und das ganze System erhielt den glorreichen Namen TIM/TOM-Komplex. Das Problem ist, dass die Zelle ein Protein, das sich im flüssigen Hauptteil der Zelle aus lauter Wasserscheu in ein Knäuel zusammengeballt hat, nicht mehr durch

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die Poren des TIM/TOM-Komplexes transportieren kann. Es ist ungefähr so, als versuchte man einen völlig verbogenen Metalldraht durch ein dünnes Rohr zu schieben. Das Vorhaben wäre nicht nur erfolglos, sondern kontraproduktiv: Es würde nicht nur die neuen, allotopisch exprimierten Proteine daran hindern, ihr Ziel zu erreichen, sondern auch den TIM/TOM-Komplex »verstopfen« und dadurch die Einfuhr vieler, zuvor erfolgreich importierter Proteine blockieren. Tatsächlich sind alle 13 noch in den Mitochondrien kodierten Proteine sehr wasserscheu. Die Instruktionen mehrerer dieser Proteine wurden bisher in keiner Spezies in den Kern verschoben und dies sind die wasserscheusten Proteine überhaupt. Dies legt nahe, dass Hydrophobizität in der Tat die größte Hürde für das Projekt allotopischer Expression ist. Es gibt mehrere Fälle in anderen Arten, die diese Regel zu verletzen scheinen, aber ich habe detaillierte Analysen9 publiziert, die erklären, weshalb all diese scheinbaren Gegenbeispiele irreführend sind – weshalb sie im Verlauf der Evolution geschehen wären, obwohl Hydrophobizität die größte Hürde für diesen Umzug ist. Wenn wir also mitochondriale Mutationen via allotopischer Expression (meine bevorzugte Lösung) umgehen wollen, müssen wir zusätzlich zur relativ einfachen Aufgabe, den Code an den Stellen anzupassen, an denen die »Sprachen« der Mitochondrien und des Kerns verschieden sind, auch einen Weg finden, diejenigen Proteine zu optimieren, die in ihrer heutigen Form nicht in die Mitochondrien importiert werden können. Als ich zum ersten Mal über diesem Problem brütete, dachte ich mir eine machbar klingende, aber technisch anspruchsvolle Lösung aus. Ich publizierte sie im Jahr 2000 in der Zeitschrift Trends in Biotechnology.10 Diesen Ansatz werde ich später beschreiben. Ich verschiebe die Diskussion dieser Lösung, da jüngste Experimente darauf hindeuten, dass man vielleicht gar nicht so weit gehen muss, wie ich damals vorschlug, um das Problem der Hydrophobizität zu überwinden. Es gibt mindestens zwei alternative Methoden, diese Proteine so zu konstruieren, dass sie importierbar werden – Methoden, die viel einfacher scheinen.

Das geistige Eigentum von Mutter Natur raubkopieren Die erste Lösung des Hydrophobizitätsproblems besteht darin, nach Fällen zu suchen, in denen die Evolution die Arbeit für uns bereits erledigt hat – in anderen Spezies. Wir Menschen (und unsere evolutionären Vorfahren) haben bisher noch nicht das kombinierte Glück der richtigen Zufallsmutationen, der richtigen Umgebung und des richtigen Selektionsdrucks gehabt, um nukleäre Versionen irgendeines dieser Gene an uns zu vererben. Das bedeutet jedoch nicht, dass dasselbe günstige Zusammenspiel von Umständen in der Evolutionsgeschichte keiner anderen Spezies je vorgekommen ist. Die natürliche Auslese hat in vielen Arten, unabhängig von unserer, am Problem der Hydrophobizität gearbeitet. In mehreren Fällen hat sie praktikable Lösungen gefunden – Lösungen, die wir nicht geerbt haben, weil sie schlicht in einem anderen Ast des Evolutionsstammbaums aufgetreten sind. Wenn wir über unsere eigene mitochondriale DNA hinaus in die evolutionäre Erbschaft anderer Spe-

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zies blicken, könnten wir realisierbare Lösungen finden, die wir nur leicht für die Anwendung in unseren eigenen Zellen modifizieren müssen. Die mitochondrial kodierten Proteine anderer Spezies sind natürlich nicht mit unseren identisch, doch ihre Struktur ist ähnlich genug, um vernünftigerweise annehmen zu dürfen, dass sie die Originale in unseren Mitochondrien vertreten könnten oder uns zumindest zu zeigen vermögen, wie die menschlichen Gegenstücke abzuwandeln sind, um sie importierbar zu machen. Falls Spezies gefunden werden könnten, deren Gene für einige der 13 Proteine spontan in den Kern wanderten, dürften wir erwarten, dass wir dieselben Gene mit nur minimalen Änderungen in unsere eigenen Zellkerne bringen können. Diese Proteine würden in unseren Zellkörpern konstruiert, in unsere Mitochondrien importiert und den Platz der einheimischen Version übernehmen, wenn und falls Mutationen den Mitochondrien die Fähigkeit nehmen, ihre Aufgabe zu erledigen. Diese Idee ist nicht bloß eine Fantasie von mir: Sie wurde bereits in menschlichen Zellen verwirklicht. Die Arbeit an einem solchen Projekt begann 1998, kurz nachdem ich begonnen hatte, lauthals die Wichtigkeit einer Entdeckung zu betonen, die acht Jahre zuvor gemacht wurde. Damals wurde nämlich die mitochondriale genetische Bibliothek der Grünalge Chlamydomonas reinhardtii sequenziert. Als die Proteine, für welche die mitochondrialen Gene dieser Kreatur kodieren, durch Vergleich mit den äquivalenten Genen anderer Spezies identifiziert wurden, fand man heraus, dass ihnen Versionen von sechs der 13 hydrophoben Gene der Elektronentransportkette fehlen. Tatsächlich sind diese Gene wie Ihre mysteriös »verschwundenen« Autoschlüssel: Sie haben sie nicht wirklich verloren, sie sind nur nicht dort, wo Sie glaubten, sie liegengelassen zu haben. In diesen Organismen haben die notwendigen Änderungen stattgefunden, um diese Proteine weniger wasserscheu zu machen, weil die größere Änderungsbarriere – Code-Ungleichheit – nie errichtet wurde. Diese Algen sind so nahe an der »Wurzel« des evolutionären »Stammbaums«, dass die Ungleichheit zwischen den DNA-Codes des Zellkerns und der Mitochondrien in ihnen nie entstanden ist. Ohne diese Hürde musste sich die Evolution lediglich um das viel weniger anspruchsvolle Hydrophobizitätsproblem kümmern – und das mit Erfolg. Die genetischen Instruktionen für diese Proteine befinden sich nun im Zellkern der Algen. Die Zellmaschinerie liest diese Instruktionen, die Proteine werden dann im Hauptteil der Zelle hergestellt und anschließend von den Mitochondrien importiert – derselbe Vorgang, der mit den meisten unserer mitochondrialen Proteine geschieht. An diesem Punkt kommt Dr. Mike King von der Jefferson Universität in Philadelphia ins Spiel. King war ursprünglich nicht am Altern interessiert, sondern an den vererbten mitochondrialen Krankheiten (Mitochondriopathien). Forscher hatten lange von Gentherapien für diese Krankheiten geträumt, doch es gibt immense technische Hindernisse, diese Gene direkt in die Mitochondrien zu bringen. King dachte sich, dass allotopische Expression im Kern ein schnellerer Weg zu einer Heilung sein könnte. Das Hydrophobizitätsproblem überschattete jedoch diese mögliche Lösung für ererbte Mutationen in den Genen der 13 mitochondrial kodierten Proteinen ebenso wie den Plan gegen mitochondriale Gene, die im Alterungsprozess durch freie Radikale mutiert wurden. Als er in den späten 1990er Jahren von der Existenz nukleär kodierter Versionen einiger dieser Proteine in Algen hörte, sah Mike, dass sie einen

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möglichen Ansatz boten, den Algentrick bei Patienten mit mitochondrialen Erkrankungen zu wiederholen. Das führte zu einer erstaunlichen Erfolgswelle. 1998 begann King eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Dr. Diego Gonzalez-Halphen von der molekularen Genetikabteilung an der autonomen Nationaluniversität von Mexiko, um die Algengene für die sechs analogen Proteine zu identifizieren und zu klonieren. Innerhalb von drei Jahren hatten diese Wissenschaftler drei davon identifiziert. Eins davon (ATP6, ein Bestandteil der Komplex-V-»Turbine« des Mitochondriums) war von besonderem Interesse, da ererbte Mutationen in ihnen bei Menschen zwei seltene, aber äußerst ernste Erkrankungen des Gehirns und des Muskelsystems verursachen: NARP (Neuropathie, Ataxie und Retinitis Pigmentosa) und mütterlicherseits vererbte subakute nekrotisierende Enzephalopathie. Die ATP-Synthese ist bei diesen Krankheiten um 50 bis 70 Prozent reduziert, was zu schweren Fehlfunktionen des neuromuskulären Systems führt. Eine importierbare Version des mutierten Proteins versprach daher therapeutisches Potential für Patienten dieser Krankheiten und auch für alle anderen, alternden Menschen. Dann übernahmen Eric Schon und seine Mitarbeiter von der Neurologie-Abteilung in Columbia den Ball und fügten eine klonierte Kopie der Algenversion des ATP6-Gens in den Kern menschlicher Zellen ein, deren mitochondriale DNA dieselben Mutationen trug wie diejenigen, die diese neuromuskulären Erkrankungen im Menschen auslösen. Die Zellen entzifferten die genetischen Instruktionen, stellten das Protein in der Hauptkammer der Zelle her, importierten es in die Mitochondrien, schnitten seine Leitsequenz ab (eine Kette von Aminosäuren, die ein Protein, welches diese Sequenz trägt, in die Mitochondrien leitet), bauten es in die Elektronentransportkette ein, wo es offenbar den Platz des mutierten Proteins einnahm und die Zellen vor den zerstörerischen Folgen der Mutation rettete. 10 Mit anderen Worten: Diese Forscher taten, wonach ich gesucht hatte. Sie fanden in einer fremden Art ein nukleäres Gen für ein mitochondriales Protein, dessen menschliches Gegenstück sich in den Mitochondrien befindet, und fügten es in die Kern-DNA menschlicher Zellen ein. Sie zeigten, dass diese Zellen es genauso nutzen konnten wie die Algen und gaben Zellen mit ansonsten verkrüppelnden Mutationen eine fast normale Funktionalität zurück. Selbstverständlich gibt es noch viel zu tun. Um dies in eine praktikable Therapie für Patienten mit vererbten oder altersbedingten mitochondrialen Mutationen umzusetzen, müssen wir zwei Dinge tun. Erstens müssen wir Gene, die wir in den Kern einbauen können, für die restlichen mitochondrial kodierten Proteine in anderen Organismen identifizieren oder selbst konstruieren und zeigen, dass diese die Funktion mutierter Zellen wiederherstellen können. Zweitens müssen wir den Trick in ganzen Organismen wiederholen, die durch diese Mutationen belastet sind: Zuerst in Mäusen (eine relativ einfache Aufgabe: Genetische Manipulation von Mäusen ist mittlerweile Routine) und dann in erwachsenen Menschen (eine Technologie, die wir noch nicht gemeistert haben, aber an der mit großer Intensität gearbeitet wird, sodass sie in absehbarer Zeit zu sicheren, brauchbaren Therapien führen könnte).

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Geborgte Ideen, neue Lösungen Es gibt natürlich keine Garantie, dass wir alle notwendigen Gene in anderen Spezies finden werden. Falls wir das tun, wäre es ein Riesenglück, aber es ist durchaus möglich, dass es viele der Gene für die Elektronentransportkette in keiner Spezies je von den Mitochondrien in den Kern geschaff t haben oder dass sich das Protein in den verschlungenen Verästelungen des evolutionären Stammbaums des Lebens so verändert hat, dass es in menschlichen Zellen nicht funktioniert. In diesem Falle müssen wir einfach selbst herausfinden, wie unsere bestehenden Gene zu optimieren sind, damit die Proteine, für die sie kodieren, importierbar werden. Sogar hier werden wir jedoch ein paar Tricks von anderen Spezies abschauen können. Ein erstaunliches Beispiel wurde 2002 bekannt, 11 als eine Gruppe an der Universität von West-Australien entdeckte, dass mehrere Gemüsesorten – einschließlich der Sojabohne und der gemeinen Mungbohne (Vigna radiata) – in einem evolutionären Zwischenstadium sind, in dem sie eine nukleäre Kopie des mitochondrialen Gens für die zweite Untereinheit der Komponente Cytochrom-c-Oxidase der Elektronentransportkette entwickeln, die ursprüngliche, mitochondriale Kopie jedoch noch nicht verworfen haben. Die Tatsache, dass diese Organismen überleben, während sie das Protein von beiden Quellen her gleichzeitig exprimieren, ist für sich allein schon eine gute Neuigkeit. Sie entkräftet (bis zu einem gewissen Grad) einen Einwand, den einige Forscher gegenüber allotopischer Expression als Mittel gegen Mutationen geäußert hatten. Ihre Sorge ist, dass es in Zellen mit gesunder mitochondrialer DNA und allotopischen Versionen der Proteine der Elektronentransportkette durch das Vorhandensein zweier unabhängiger, funktionstüchtiger Kopien desselben Gens zu einem Überschuss an produzierten Proteinkopien führen könnte. Dies könnte die Mitochondrien aus dem Gleichgewicht bringen oder ihre Fähigkeit beeinträchtigen, die verschiedenen Komponenten zu funktionierenden Elektronentransportkomplexen zusammenzubauen. Es wäre so, als ob man zwei Abteilungen in einer Fabrik hätte, die beide ein eigenes System benutzen, um Komponenten für ihr Produkt zu bestellen. Eine gravierende Panne in jedem »just-in-time«-Lagersystem. Die Beobachtung, dass dieses Problem in diesen Organismen nicht auftritt, legt nahe, dass wir uns darum vielleicht keine großen Sorgen machen müssen – und das sind gute Neuigkeiten. Als jedoch andere Wissenschaftler die beiden Versionen des Elektronentransportgens des Gemüses verglichen, entdeckten sie etwas, das mich noch optimistischer stimmt, dass wir es schaffen, den vollen Satz mitochondrialer Gene für die Elektronentransportkette in den Kern zu bringen. Die beiden Versionen des Proteins unterschieden sich in 25 Aminosäuren (Proteinbausteinen) von Hunderten – nur zwei dieser Unterschiede sind jedoch notwendig, um der nukleären Version den Import in die Mitochondrien zu ermöglichen! Dies lässt darauf schließen, dass wir vielleicht nur relativ wenig an unseren 13 in Frage kommenden Proteinen herumtüfteln müssen, um ihnen den Import in die Mitochondrien zu ermöglichen. Auch hier extrapoliere ich nicht mehr einfach, was die Evolution in anderen Organismen vollbracht hat: Laufend werden Fortschritte in der Adaption dieser Lösungen auf neue Probleme gemacht. Etwa zur selben Zeit, als Schons Gruppe ATP6 in

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menschlichen Zellen mit der Algenversion des Gens allotopisch exprimierte, berichteten sie, wie auch eine andere Gruppe, dass sie verschiedene Lösungen entwickelt hatten, um neue, nukleär kodierte Versionen dieses Proteins zu konstruieren. Der Unterschied war, dass diese neuen Proteine nicht en gros von einer anderen Spezies übernommen wurden, sondern eine modifizierte Version des Säugetier-Originals waren. Wie die Algengene wurde auch von diesen menschlich erzeugten Versionen berichtet, dass sie mit Erfolg Zellen retten, die inaktive Versionen von ATP6 in ihren Mitochondrien trugen.12 Kurz darauf konstruierte eine dritte Gruppe eine nukleär kodierte Version eines weiteren mitochondrialen Gens namens ND4, das eine der Mitochondriopathien, Lebers vererbte Optische Neuropathie (LHON), verursacht, wenn es mutiert ist. 13 Um dies zu erreichen, mussten sie erst die Probleme lösen, die zuvor bei der allotopischen Expression von ATP6 bewältigt wurden. Zuerst musste der DNA-Code für das Protein geändert werden, um die »Buchstabierung« mit dem Kern kompatibel zu machen, da ND4 an der zuvor diskutierten Code-Ungleichheit leidet. Dann mussten die Forscher eine »Leitsequenz« von einem ganz anderen Gen (Aldehyd-Dehydrogenase) anhängen, um es in die Mitochondrien zu führen. Als nächstes mussten sie einen Weg finden, um das Gen überhaupt in den Kern zu leiten. Das schaff ten sie mit einem Trick, den sie sich von Viren abguckten, die ihre DNA in die Kerne von infizierten Zellen schmuggeln. Schließlich hängten sie an das Gen eine weitere Sequenz, die ihm erlaubt, von der Dekodier-Maschine des Kerns aufgenommen zu werden, damit es »gelesen« und in Protein übersetzt wird. Bedenkt man die vielen notwendigen Anpassungen gegenüber dem Originalgen, die von so vielen Einfällen inspiriert wurden, könnte man zu Recht besorgt sein, dass irgendetwas schiefgehen würde. Aber nein. Das stark veränderte Protein, vom Original maßgeschneidert mittels durchdachter Analyse, was für den Import denn nötig sei (und nicht als Ganzes von einem entfernten Verwandten kopiert), wurde erfolgreich in menschliche Zellen mit mutiertem ND4 eingebaut. Diese begannen prompt, funktionsfähiges, auf die Mitochondrien gerichtetes ND4 herzustellen. Das allotopisch exprimierte Protein fand seinen Weg in die Mitochondrien, nahm seinen Platz in der Elektronentransportkette ein, verdreifachte umgehend den ATP-Ausstoß der Zellen und näherte sich damit dem Niveau normaler, nicht mutierter Zellen. Nicht nur das: Als die Zellen Bedingungen ausgesetzt wurden, unter denen sie stark von der OXPHOS zur Energieversorgung abhängig waren, genossen die Zellen mit den neuen, allotopisch exprimierten Untereinheiten der mitochondrialen Elektronentransportkette eine dreimal höhere Überlebenschance als mutierte Zellen ohne das manipulierte Gen. Die Forscher schlossen kühn: »Wiederherstellung der Atmungskette durch allotopische Expression bereitet den Weg für Gentherapie von Lebers vererbter optischer Neuropathie.« Ich würde hinzufügen, dass wir damit auch einer Lösung des Problems der reduktiven Krisenherde näher gekommen sind. Zu zwei der oben erwähnten Studien kamen jüngst Zweifel bezüglich der Methoden auf, mit denen die Rettung der behandelten Zellen demonstriert wurde. Mindestens zwei andere werden jedoch immer noch als eindeutig erachtet.

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Inteine: Den Unterschied teilen Ich bin zuversichtlich, dass diese beiden Ansätze ausreichen könnten, um mit der Frage der Hydrophobizität fertigzuwerden. Es ist jedoch möglich, dass wir für einige der sehr wasserscheuen Proteine weiter gehen müssen. Eine mögliche Lösung – die ich ursprünglich vorschlug, bevor die obigen Erfolge nahelegten, dass es vielleicht nicht nötig wäre – ist, die besagten Proteine mittels Inteinen weiter zu modifizieren. Inteine sind Sequenzen, die temporär in einige Proteine bei ihrer Erstsynthese eingefügt werden – möglicherweise, um ihnen zu helfen, sich in die richtige endgültige Form zu falten. Wenn sie ihren Zweck erfüllt haben, werden sie entfernt. In einigen Fällen werden zwei Hälften eines finalen, funktionellen Proteins separat exprimiert, beide mit einem komplementären »Semi-Intein« am Ende, wo die beiden Proteinteile dann verbunden werden müssen. Wenn die beiden Hälften des endgültigen Proteins zusammenkommen, werden die beiden Semi-Inteine zuerst miteinander verbunden, etwa wie Stecker und Buchse zweier Verlängerungskabel. Dann wird aber die vereinigte Intein-Sequenz herausgeschnitten und die beiden Vorläufer des endgültigen Proteins sind permanent und direkt zu ihrer finalen, vollständigen Struktur fusioniert. Wir könnten solche Inteine vielleicht benutzen, um mit einem hydrophoben Protein fertigzuwerden. Ein Ansatz ist, das Protein dort aufzuteilen, wo es sich im Kontakt mit Wasser zusammenknäulen würde, und Semi-Intein-»Aufsätze« an beide Enden des Bruchs anzusetzen. Stellen Sie sich als Analogie vor, dass Sie ein langes Stück Stahl mit einem rechten Winkel in der Mitte (das Protein) ein gerades Abflussrohr (der TIM/TOM-Komplex) hinunterschieben wollen. So gesehen ist die Aufgabe unlösbar. Wenn Sie jedoch das Stück Stahl an oder in der Nähe der Biegung trennen und dann an beiden abgetrennten Enden des Stahls ein kurzes Segment anhängen könnten, das Ihren Mitarbeitern am anderen Ende des Rohres zeigt, wo die beiden Enden wieder zusammengeschweißt werden müssen, dann könnten Sie die beiden Hälften einfach einzeln das Rohr hinunterfallen lassen und sie würden am anderen Ende wieder zusammengefügt. Es ist auch möglich, ganze Inteine inmitten der beiden Hälften des Proteins einzubauen und so eine lange Struktur mit einem Intein in der Mitte zu kreieren. Ich fürchte, es ist ein wenig schwieriger, eine Analogie für diese Methode zu fi nden, aber ich versuche es. Stellen Sie sich vor, dass Sie die krumme Stange nicht an der Krümmung entzweischneiden und beide Hälften separat die Röhre herunterlassen, sondern die Stange schneiden, sie durch eine halbe Drehung rotieren und ein zentrales Verbindungssegment einfügen, sodass die Endform mehr wie ein stilisierter Blitz als wie ein rechter Winkel aussieht. Sie könnten den »begradigten« Stab (Protein mit Intein) die Röhre (TIM/TOM-Komplex) herunterfallen lassen, dann das Verbindungssegment (Intein) herausschneiden, was Ihnen erlaubt, die Stange nach der Intein-Entfernung in ihre eigentliche Struktur zurückzuführen. Diese Prozedur ist um einiges komplizierter, als ein paar Aminosäuren auszutauschen, daher möchte ich mich lieber nicht darauf verlegen, falls eine der vorherigen Optionen funktioniert. Als mir ursprünglich die Idee kam, das Hydrophobizitätsproblem mit Inteinen zu lösen, sah ich eine ganze Reihe von möglicherweise lähmen-

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den technischen Hürden voraus, die man vielleicht überwinden müsste, damit es funktioniert, und ich bin immer noch nicht sicher, wie einfach es sein würde. Inteine müssten an exakt die richtige Stelle platziert werden und die passende Länge haben. Das würde viel Tüftelei erfordern. Zudem sind natürliche Inteine dazu bestimmt, direkt nach der Herstellung des Proteins, in dem sie sitzen, entfernt zu werden. Mitochondriale Inteine müssten daher so konstruiert sein, dass sie erst dann entfernt werden können, wenn das gesamte Protein in die Mitochondrien importiert wurde. Ein weiteres Problem wäre möglicherweise, dass wir in der »Semi-Intein«-Version dieses Ansatzes sicherstellen müssen, dass die Proteinsegmente mit den richtigen Partnern verbunden werden. Falls wir Inteine benutzen, um mehrere, gleichzeitig zu importierende Proteine aufzubrechen oder falls ein Protein in mehr als zwei Teile zerlegt wird (was in mindestens ein paar Fällen notwendig erscheint), könnten die »entblößten« Enden der Proteinsegmente falsch zugeordnet werden, wenn die Inteine entfernt sind. Glücklicherweise scheinen einige solcher multiplen Inteine natürlich vorzukommen und ihren zugehörigen Partner zu »kennen«. Somit ist dies vielleicht gar kein Problem – und falls dem doch so ist, gibt es immer noch die alternative Lösung, Inteine in die wasserscheuen Regionen des Proteins einzufügen. Was auch noch Kopfzerbrechen bereiten könnte: Proteinabschnitte könnten sich zu früh falten, entweder derart, dass sie die Fusionsstelle blockieren, bevor sie ihre »andere Hälfte« gefunden haben (sodass die beabsichtigte Fusion mit dem Partner nicht mehr möglich ist) oder sogar mitten in der TIM/TOM-Maschinerie und dadurch genau jenes Problem verursachen, das mit den Inteinen gelöst werden soll. Schließlich können die inteinlosen, unverbundenen Teile durch Enzyme verändert werden, während sie auf die Verknüpfung mit ihrem »Partner« warten. Jede solche Veränderung könnte sie unbrauchbar machen oder ihre »Verkupplung« verhindern. Die gute Nachricht ist, dass trotz all dieser möglichen Hindernisse mindestens eine Problemstellung mit Intein-Teilung in Zellkulturen bereits gelöst werden konnte:14 Yoshio Umezawa und seine Mitarbeiter nahmen ein nicht importierbares grünes Fluoreszenzprotein und brachten es in die Mitochondrien, indem sie sich zuerst eine mitochondriale Leitsequenz borgten, sie anhängten und dann Inteine mittels eines Proteinverknüpfungssystems von Algen in seine Struktur einfügten. Zum Schluss »infizierten« sie die DNA der Zelle mit dem zusammengesetzten Strukturcode. Das Protein wurde tatsächlich exprimiert und in die Mitochondrien der Zelle importiert, wo es den Wissenschaftlern ermöglichte, die Anwesenheit anderer Proteine nachzuweisen, die sie in die Organelle lotsen wollten.

Nicht TINA, sondern TATA Diese Erfolgsserie deutet an, dass wir einen raschen Fortschritt bei der Expression der verbleibenden mitochondrial kodierten Proteine aus nukleären Genen durch eine Kombination verschiedenster, hier diskutierter Techniken erwarten dürfen. Wenn wir erst einmal herausgefunden haben, wie wir die Gene aller dieser 13 Proteine in den »Luftschutzbunker« des Kerns bekommen, werden wir nahe daran sein, die heimtückischen Effekte mitochondrialer Mutationen in der Alterung aufheben zu

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können. Dadurch können wir bestehende »reduktive Krisenherde« in normale, gesunde Zellen verwandeln und die Bildung neuer verhindern. Wenn das vollbracht ist, werden wir den schleichend langsamen Anstieg oxidativen Stresses nicht nur anhalten, sondern ihn rückgängig machen können – und dadurch die sich beschleunigende Spirale von molekularen Schäden und Stoff wechselstörungen, von denen wir heute annehmen, dass sie durch diese Mutationen angetrieben werden. Wie uns die Medizingeschichte lehrt, können sich für diese Lösung natürlich noch einige Fallgruben auftun. Man kann die besten vernunftbasierten Vorhersagen aufgrund nüchterner Begutachtung der publizierten Wissenschaft machen und eine heikle Hürde trotzdem nicht vorausahnen. Meine größte Sorge ist, dass auch nach einer gewissen Optimierung das für den Import der neuen, allotopisch exprimierten Proteine notwendige Verkehrsaufkommen so hoch sein wird und der Systemdurchsatz daher so langsam, dass wir nicht den ganzen Proteinsatz auf diesem Wege transferieren können, auch wenn es uns mit jedem einzelnen von ihnen individuell gelingt. Ich bin deswegen besonders beunruhigt, weil sich einige der allotopisch exprimierten Proteine nur schlecht durch die TIM/TOM-Maschinerie bewegen: Eines der oben diskutierten Beispiele beinhaltete ein Protein, das verglichen mit der mitochondrial kodierten, natürlichen Version nur mit 40-prozentiger Effizienz aufgenommen wird. Die ehemalige britische Premierministerin, die »eiserne Lady« Margaret Thatcher, war berühmt für ihren Ausspruch »There Is No Alternative« (TINA) (zu deutsch »Es gibt keine Alternative« [Anm. d. Ü.]) zur neoliberalen Wirtschaftsagenda. Ich habe keinerlei Absicht, mir wegen meiner Präferenz für allotopische Expression irgendeinen ideologischen Anstrich zu geben: Es geht hier um Leben und nicht bloß um meine Fähigkeit zugeben zu können, dass ich mich irre. Ich schließe mich jedoch den Reihen ihrer Anti-Globalisierungsgegner an, die zu Tausenden auf den Trafalgar Square strömten und skandierten: »Not TINA but TATA!« – will heißen »There Are Thousands of Alternatives« (zu deutsch »Es gibt Tausende Alternativen« [Anm. d. Ü.]). Nach dieser kühnen Aussage möchte ich jedoch rasch hinzufügen, dass wir sicher die »Tausende« auf »einige und noch weniger durchführbare« zurechtstutzen können. Tatsächlich wurde eine recht große Zahl alternativer Abhilfen für Mitochondriopathien vorangetrieben und auf den ersten Blick könnte man erwarten, dass auch sie die altersbedingte Anhäufung mitochondrialer DNA-Deletionen behandeln können. Leider ist absehbar, dass die meisten dieser Lösungen nichts gegen die Entwicklung »reduktiver Krisenherde« ausrichten können, weil der Mechanismus, durch den sich die zugrunde liegenden Mutationen anhäufen (Erzeugung mitochondrialer freier Radikale und klonale Expansion durch »Überleben der Langsamsten«), von den zumeist vererbten Problemen der Opfer von Mitochondriopathien verschieden ist. Die Forschung an Heilmitteln für Mitochondriopathien mittels dieser Alternativen wird trotzdem zweifellos zu Techniken und Einsichten führen, die uns irgendwie helfen werden, eine Heilung zu entwickeln (via allotopischer Expression oder einer anderen Therapie). Doch ich glaube nicht, dass die meisten von ihnen für die Anti-Aging-Biotechnologie verwendbar sind. Ich habe die größten, fehlerhaften Ansätze in einem bereits erwähnten Artikel von 2000 in Trends in Biotechnology aufgezählt. Es gibt jedoch zwei Methoden, die ich für aussichtsreicher halte.

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Eine wurde von Dr. Rafal Smigrodzki und Dr. Shaharyar M. Khan vom Zentrum für Studien neurodegenerativer Krankheiten an der Universität Virginia vorgeschlagen und beginnt mit der Fähigkeit, in die Mitochondrien veränderte Versionen nicht einzelner Gene (wie im klassischen Gentherapieansatz), sondern kompletter Kopien der gesamten mitochondrialen DNA einzuführen. Sie vollbrachten dieses Manöver – das sie Protofektion15 tauften – mit gewagt simplen Techniken, welche die meisten Wissenschaftler als unbrauchbar verworfen hätten. Es ist allerdings noch zu früh, um zu sagen, wie vielseitig und verlässlich ihre Methode ist – sie ist noch zu neu, um von anderen Wissenschaftlern untersucht worden zu sein. Die andere vielversprechende Alternative zur allotopischen Expression ist der Einsatz von Genen für alternative Versionen von mitochondrial kodierten Enzymen – Versionen, die anders als die nativen funktionieren. Die besagten Enzyme existieren bereits in gewissen einfacheren Organismen (Hefe und Pflanzen) – und könnten daher theoretisch ausgeliehen werden. Sie führen genau dieselbe Elektronentransportaktivität wie die Enzyme aus, die wir teilweise in unserer mitochondrialen DNA kodieren, obwohl sie selbst nicht speziell wasserscheu und in der nukleären DNA ihrer Spezies verschlüsselt sind. Das Problem ist – falls es eines ist –, dass sie nur Elektronen transportieren und keine Protonen pumpen. Sie in unsere Zellen einzufügen wäre jedoch ein fairer Tausch, denn sie würden zwar nicht den mitochondrial mutierten Zellen ihre volle Leistungsfähigkeit zurückgeben, aber verhindern, dass diese Zellen die Fähigkeit des restlichen Körpers beeinträchtigen, den Geschäften des Lebens nachzugehen. Dies wurde sogar an isolierten menschlichen Zellen dokumentiert: Wenn der Komplex I chemisch gehemmt wird, sterben normale Zellen schnell weg, Zellen, denen das entsprechende Hefe-Gen gegeben wurde, bleiben am Leben.16 Ein Problem ist, dass diese Proteine den Zellen einen Großteil ihrer Energiequelle vorenthalten würden, falls sie in Zellen exprimiert würden, die keine Deletionen erlitten haben. Wir würden ein Gen benutzen, um das erste Enzym der Elektronentransportkette (Komplex I) und ein anderes, um den Rest zu umgehen. Keines von beiden pumpt Protonen. Wenn wir also beide einen Großteil des nativen, Protonen pumpenden Komplexes eines Mitochondriums ersetzen lassen, wäre der Aufbau eines »Protonenreservoirs« und damit die ATP-Produktion ernsthaft beeinträchtigt. Dies könnte alle möglichen Reaktionen hervorrufen, von einer milden funktionellen Beeinträchtigung bis zu einem schwerwiegenden Energiemangel – und es würde sich auf alle Körperzellen erstrecken, nicht nur die »bösen ein Prozent« der Zellen, die von mutierten Mitochondrien bevölkert sind. Das wäre katastrophal und wir müssten sicherstellen, dass die Gene für diese »Bypass-Enzyme« nur in Zellen exprimiert werden, deren Mitochondrien nicht mehr die nativen Proteine produzieren. Bedauerlicherweise gibt es momentan keinen erkennbaren Weg, dies zu bewerkstelligen. Zum Glück deuten erste Untersuchungen jedoch darauf hin, dass diese Enzyme von Natur aus ein System besitzen, dass sie nur dann aktiviert, wenn ihre Protonen pumpenden Gegenstücke ausfallen. Das ist eigentlich keine Überraschung, denn würde auch nur eines der beiden »Bypass-Enzyme« willkürlich exprimiert, wären die Zellen deutlich weniger effizient in ihrer ATP-Produktion.

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Wie es weitergeht Insgesamt sind die Aussichten rosig. Wir haben nicht nur eine gute Vorstellung davon, wie Mutationen in der mitochondrialen DNA zum altersbedingten Zerfall unseres Körpers beitragen, sondern auch einen klaren Weg, wie dem Problem zu begegnen ist – auch wenn sich unser Verständnis über die exakte mechanistische Verbindung von den Mutationen zur Pathologie als falsch herausstellt. Allotopische Expression würde unseren Mitochondrien erlauben, weiterhin normal zu funktionieren, auch wenn ihre DNA Mutationen erwirbt. Andererseits könnte Protofektion die alte, mutierte DNA periodisch entsorgen und sie durch einen voll funktionsfähigen, neuen Satz genetischer Baupläne ersetzen. Die Verwendung von einfacher zu handhabenden Enzymen, die keine Protonen pumpen, aber den Elektronenstoff wechsel harmlos halten, würde mutierte Zellen zumindest davon abhalten, außerhalb ihrer eigenen Membranen Unruhe zu stiften. Nochmals: Wir müssen eine sichere, wirksame und stabile Gentherapie entwickeln, die bei Erwachsenen funktioniert, um irgendeinen dieser Eingriffe in eine richtige biomedizinische Intervention gegen diesen Aspekt des Alterungsprozesses umzusetzen. Ich wiederhole jedoch nochmals: Dies ist eine Herausforderung, an der Wissenschaftler weltweit bereits energisch arbeiten, um genetische Krankheiten zu behandeln – Gebrechen von Chorea Huntington bis zu vererbtem Krebsrisiko, von familiärem Alzheimer bis zu Sichelzellenanämie. Bei der Forschung an Mitochondriopathien können wir sogar noch besser Trittbrett fahren – ein viel kleineres Gebiet, aber eines, dem ernsthafter begegnet wird als Arbeiten, die beabsichtigen die globale Zeitlupenplage der Alterung anzupacken. Mit den Ressourcen, die bereits in die Förderung der Gentherapie gesteckt werden, können wir zuversichtlich prognostizieren, dass die klinische Verfügbarkeit dieser Hilfstechnologie absehbar ist. Ich bin daher überzeugt, dass die größte Hürde für eine rasche Implementierung allotopischer Expression (oder seiner Alternativen) nicht unsere Fähigkeit sein wird, eine sichere Gentherapie für Patienten zu entwickeln, sondern der Mangel an Investitionen in die Grundlagenforschung zur Verschiebung mitochondrialer Gene in den Zellkern. Erinnern Sie sich an den Erfolg, Proteine mittels Inteinen in Zellkulturen zu importieren? Diese Leistung kam zustande, weil Wissenschaftler einen Weg suchten, schnelles Feedback zu den Resultaten eines ganz anderen Projekts zu erhalten, das für sie von Interesse war. Stellen Sie sich vor, was mit Ressourcen erreicht werden könnte, die speziell der Entwicklung allotopischer Expression gewidmet sind und die das Ziel haben, Alterungsschäden rückgängig zu machen! Wie diese Änderung der Forschungsprioritäten herbeigeführt werden kann, ist das Thema des 15. Kapitels. Nun möchte ich Sie aber auf unserer Tour zur nächsten der »sieben Todbringer« des Alterns bringen und Ihnen darlegen, was wir dagegen tun können.

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7. Die biologischen Müllverbrennungsanlagen aufrüsten

Wie unser eigener Haushalt erzeugen auch unsere Zellen Abfall als normales, unvermeidbares Produkt ihrer Arbeit. Wie ein Haushalt können sie den größten Teil selbst entsorgen – wenngleich sie einen Anteil rezyklieren, der den vorbildlichsten Ökofreund erröten lassen würde. Zellen können jedoch nicht all ihren Müll rezyklieren und der der Vernichtung entgehende Anteil nimmt zu, bis er der Zelle schließlich schadet. Vor ein paar Jahren habe ich einen Lösungsansatz für dieses Problem entworfen, der vielleicht mehr als alle meine anderen Beiträge auf diesem Feld den Wert einer stark interdisziplinären Expertise veranschaulicht, die in der Biologie heutzutage so selten ist.

Mary Shelley hätte sich keine bessere Szene ausmalen können, dachte ich, als ich meine Schaufel in den dreckigen Rasen des Friedhofs stieß. Wenn man sich auf Coldham’s Common flüchtig umsieht, könnte man denken, es sei ein uninteressantes, sogar ziemlich langweiliges, kleines Feld inmitten von England. Man ändert seine Meinung, wenn man seine Geschichte kennt. Dann taucht vor dem geistigen Auge ein ödes, windgepeitschtes und wildnisähnliches Stück Land auf, das wie einem grausigen Horrorfilm entnommen, mitten in einer Ebene liegt, gesäumt von Fußballfeldern und Parkplätzen und von einer Bahnlinie durchschnitten. Wenngleich es manchmal für öffentliche Anlässe oder zum Grasen der Kühe gebraucht wird, liegt es die meiste Zeit allein und verlassen, mit der einzigen Besonderheit, dass es mit Massentod verbunden ist. Im späten 17. Jahrhundert fegte die große Pest über England hinweg. Als ihre eisigen Finger nach Cambridge krochen, forderte sie ein Drittel bis zur Hälfte der Einwohner – einschließlich 16 der 40 Universitätsprofessoren – und ließ den jungen Isaac Newton um sein Leben laufen. Darauf verscharrten die Überlebenden die Opfer der Pest hastig und anonym in ungeweihter Erde. Noch bevor es ein Massengrab wurde, trug das Gebiet den Makel, mit Infektion und Tod verbunden zu sein: Sein dauerhaftestes Wahrzeichen sind die Überreste des Lepraspitals von Cambridge aus dem zwölften Jahrhundert. Als ob man das Klischee noch vervollkommnen müss-

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te, ist Coldham’s Common an den meisten Tagen des Jahres nachgewiesenermaßen mehrere Grad kühler als die Kopfsteinpflasterstraßen rundherum. Die Szene war daher perfekt: Ich, der »verrückte Wissenschaftler« (mit langem Bart und bleicher Haut), umgeben von den pseudogotischen Schlössern und Kathedralen der Aufklärungsära von Cambridge, war mit irrationaler Heimlichkeit über mehrere Zäune gehüpft. Hier grub ich nun im Boden eines Massengrabes, der letzten Ruhestätte der sterblichen Überreste ungezählten Lebens, in innigem Streben nach den Geheimnissen von Leben und Tod. Victor Frankenstein würde gelb vor Neid. Ich muss zugeben, dass die obige Beschreibung ein wenig dichterische Freiheit enthält: Die Person, welche die beschriebene Tat ausführte, war nicht ich, sondern eine Doktorandin meiner Abteilung der Universität Cambridge und eigentlich holte sie die Bodenprobe von Midsummer Common, nicht dem nahe gelegenen Coldham’s Common. Doch das sind Details. Lassen Sie uns einen Umweg vom Friedhof zum Schrottplatz machen, um zu verstehen, was sie dort tat.

Der Abfall Ihres Lebens In den Industrieländern wird täglich eine erstaunliche Menge Müll produziert, ob wir Dinge nun gedankenlos in den Abfalleimer werfen oder unseren Müll peinlich genau waschen und trennen. Sobald wir entschieden haben, dass wir etwas nicht länger brauchen oder dass es zu kaputt oder scheußlich ist, um es zu retten, stopfen wir es einfach in einen Sack oder Kübel und stellen es zur Abholung bereit. Wir vertrauen auf die unbesungenen Helden der Stadtreinigung, dass sie es entfernen und wir uns nicht weiter darum kümmern müssen. Dank einer effizienten Infrastruktur der Abfallentsorgung kann eine wirklich beachtliche Menge Müll unsere Wohnungen, Arbeitsplätze und Straßen durchlaufen – trotzdem bleiben diese Orte sauber, wohlriechend und hygienisch. Das war natürlich nicht immer so. Während des Großteils der Geschichte der Zivilisation waren die Straßen unserer Städte buchstäblich Jauchegruben, in denen die Bürger ihren Abfall und ihre Exkremente direkt aus ihren Fenstern schleuderten, ohne sich darum zu kümmern, was – oder sogar wer! – unter ihnen war. Die meisten von uns können sich gar nicht vorstellen, was für schmutzige, stinkende und gefährliche Stätten unsere Städte noch bis vor Kurzem waren. Den Tribut, den das Leben in einem so giftigen Umfeld forderte, kann man am Missverhältnis der Lebenserwartungen von Menschen sehen, die im England des 17. Jahrhunderts in verschiedenen Umgebungen lebten. Typischerweise konnte ein Engländer 30 bis 40 Jahre alt werden, falls er auf dem Land lebte, wenn er aber in London lebte, durfte er nur 21 bis 34 Lebensjahre erwarten. Jeder, der die Art von Großstadt-Abfallstreik erlebt hat, der 1976 London nahezu lähmte, kann sich vorstellen, wie essentiell ein funktionierendes Abfallsammelsystem für die Gesundheit und die Weiterführung der Angelegenheiten des täglichen Lebens ist. In erschreckend kurzer Zeit kann sich Abfall meterhoch in den Himmel türmen, in prekären Stapeln, die im Wind umfallen oder wenn neue Säcke auf die

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labile Struktur gehäuft werden. Die Abfallberge sind zudem nicht nur unansehnlich: Nebst dem Gestank lockt der Müll auch Ungeziefer und damit Krankheiten an – vor allem, wenn der Inhalt der Abfallsäcke aufgrund von Tierattacken, Wetterphänomenen oder dem Verfaulen und Flüssigwerden seines Inhalts auf die Straßen quillt. Die Bürgersteige werden unpassierbar und sogar der Straßenverkehr kann behindert werden. Die Leute werden unwilliger, das Haus zu verlassen oder einkaufen zu gehen. Ein lediglich neuntägiger Streik zwang New York 1968 fast in die Knie. Nun, etwas ähnliches geschieht mit Ihren Zellen, wenn sie älter werden – nur dass es in gewisser Hinsicht schlimmer ist. Anstelle einer temporären »Betriebsstörung« erleben alternde Zellen einen fortschreitenden Zerfall ihrer Abfallentsorgungs-Infrastruktur, der die schlimmsten Beispiele von Abfallchaos in Innenstädten wie Musterhygiene aussehen lässt. Als ich vor zwei Kapiteln den Prozess diskutierte, durch den sich mutierte Mitochondrien »klonal ausbreiten« und alle ihre genetisch gesunden Geschwister in der Zelle ersetzen, machte ich Sie auch mit dem Lysosom bekannt – einer Organelle, die ich die zelluläre »Müllverbrennungsanlage« nannte. Eigentlich wäre »Rezyklierzentrum« eine präzisere Metapher als »Müllverbrennungsanlage«, denn es ist nicht die Aufgabe eines Lysosoms, zellulären Müll zu vernichten, sondern ihn auf molekularer Ebene in einfachere Bausteine zu zerlegen. Diese können als Rohmaterial für die Biosynthese neuer Zellmembranen, Enzyme und anderer wichtiger Bestandteile der zellulären Maschinerie verwendet werden. Die Metapher der »Müllverbrennungsanlage« soll vielmehr die außerordentliche Kraft vermitteln, mit der das hineingeworfene Material zerstückelt wird, und den chemischen Charakter (Verbrennung ist auch eine chemische Reaktion) der Methoden, mit denen das Lysosom Abfall in seine fundamentalen Teile zerlegt. Während die Zelle viele Mechanismen zur Wiederauf bereitung von beschädigten Zellbestandteilen kennt, beschäftigen sich die Lysosomen mit einigen der übelsten von ihnen. Dazu gehören auch übrig gebliebene Abfallstoffe, an denen sich andere Abfallentsorgungssysteme der Zelle bereits versucht und versagt haben. Zusätzlich obliegt es den Lysosomen, diese Müllbeseitigungseinheiten (und oft auch ihre halb verdauten Inhalte) abzubauen, wenn sie selbst verschleißen oder beschädigt werden. Dieses Kapital erklärt, was mit dem ultimativen Schrottplatz der Zelle schiefgeht.

Das Chaos des Lebens entwirren Ihre Zellen produzieren und konsumieren, wie Ihr Haushalt, kontinuierlich Güter und generieren dabei Abfälle verschiedenster Art. Eine Sorte ist wie Verpackungsmaterial, Einwegstifte oder kitschiger Schnickschnack, deren Besitz Sie mittlerweile beschämt: Es gab eine Zeit, wo sie vielleicht nützlich waren, aber heute haben Sie keinerlei Verwendung mehr dafür und möchten es loswerden. Viele Zellbestandteile sind so: Enzyme und Signalmoleküle sind »Wegwerf-Artikel«, die aufgrund unmittelbarer Bedingungen in und um die Zelle herum für vorübergehenden oder sogar einmaligen Gebrauch produziert wurden und wieder abgebaut werden müssen, sobald sie ihren Zweck erfüllt haben.

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Eine andere Abfallsorte ist eher wie etwas, das Sie eigentlich noch brauchen könnten, das seine Aufgabe aber nicht mehr erfüllen kann, weil es kaputt ist. Genauso wie Sie Großmutters Porzellanvase in ein Puzzle verwandeln können oder ihr Bürohemd untragbar machen, indem sie Rotwein darauf verschütten, können auch Zellbestandteile – von den kleinen, wie einzelne Enzyme, bis zu den großen (ganze Organellen wie beispielsweise Mitochondrien) – unfähig werden, ihre lebensnotwendigen Zellfunktionen auszuführen, wenn sie molekulare Schäden durch freie Radikale oder andere Produkte der dunklen Seite des Stoff wechsels erlitten haben. Eine dritte Sorte Müll ist echtes Giftzeug. So wie eine nützliche Substanz (sagen wir Hüttenkäse) durch chemische Veränderungen (etwa das Wachstum von Schimmelpilz) zu einer Gefahr für Ihre Gesundheit werden kann, so können manchmal auch normale Zellbestandteile durch Veränderung ihrer Struktur oder dadurch, dass sie im Übermaß vorliegen, für die Zelle giftig werden. Genauso sicher wie Sie die Käsepackung versiegeln und sie mit ausgestrecktem Arm in die Mülltonne werfen, sobald Sie das neue Ökosystem in Ihrem Hüttenkäse entdecken, so muss auch die Zelle ähnliche Bedrohungen ihrer Funktionsfähigkeit eliminieren.

Die dreckigen Details des Recyclings All dieser Müll (außer dem, der durch einfachere Prozesse zerstört wird) wird in die Lysosomen der Zelle geleitet. Funktionierende Lysosomen stellen sicher, dass er richtig verarbeitet wird. Sie entfernen giftige Nebenprodukte der normalen Zellfunktionen und schicken wiederverwendbare, molekulare Bauteile aus der »Schlacke« der zerlegten Komponenten zurück zur Zelle. Sie schaffen Raum für gesunde, funktionsfähige Zellbestandteile. Was sind nun diese zellulären Müllverbrennungsanlagen genau? Lysosomen sind von Membranen umschlossene Organellen, die von einer Unmenge Enzyme erfüllt sind. Jedes dieser Enzyme entwickelte sich gegen einen »Schwachpunkt« in der chemischen Struktur eines Abfallprodukts, das sich in unseren Zellen anhäufen und uns umbringen würde, wenn es nicht abgebaut würde. Lysosomale Enzyme binden sich zuerst an ein Abfallprodukt, das die chemische Struktur aufweist, für dessen Zerstörung sich das Enzym entwickelte. Dann verdrehen sie ihre Form wie eine winzige biologische Brechstange und reißen die molekularen Gelenke des Zielmoleküls auseinander. Im Allgemeinen geschieht dies durch einen chemischen Reaktionstyp namens Hydrolyse, weshalb solche Enzyme Hydrolasen genannt werden (hydro ist das griechische Wort für Wasser, wie in »hydroelektrisch«). Die exakten chemischen Details dieses Prozesses sind für unsere Zwecke nicht wirklich wichtig. Die Hauptsache sollten Sie jedoch kennen. Um ein bestimmtes Abfallprodukt abbauen zu können, muss das Lysosom zwei Bestandteile aufweisen: Das richtige Enzym (eines, das auf eine Verwundbarkeit in der Struktur des fraglichen Abfallprodukts zielt) und genug Säure im Innern, damit das besagte Enzym funktioniert. Letzteres ist nötig, weil verschiedene Säuregrade Enzyme und andere Proteine veranlassen, leicht veränderte Formen anzunehmen. Wenn der Säuregrad im Lysosom falsch ist, »verbiegt« sich das Enzym und ist ebenso wenig

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in der Lage seine Aufgabe zu erledigen, wie eine gerade gebogene Brechstange. Säure ist auch für die Funktion von Proteinen nötig, die einige der Abfallprodukte überhaupt erst ins Lysosom importieren. Eine milde Neutralisation des lysosomalen Säuregrads verhindert daher, dass Müll überhaupt erst ins Rezyklierzentrum geliefert wird. Lysosomale Enzyme werden wie andere zelluläre Proteine aus den Bauplänen in der nukleären DNA gebaut. Sie werden dann durch eine Maschinerie ins Lysosom verschiff t, die sich sehr vom TIM/TOM-Komplex des Mitochondriums unterscheidet. Die zusätzlichen Protonen, die den Säuregehalt des Lysosoms erzeugen, werden aktiv aus der Hauptkammer der Zelle ins Lysosom gepumpt. Dies geschieht durch eine Energie (also ATP) verbrauchende Pumpe (die vesikuläre ATPase), die auf ihrer Membran sitzt.

Unvollständige Verbrennung Sie werden nicht überrascht sein zu hören, dass Übles geschieht, falls Ihr Körper eine lysosomale Hydrolase nicht herstellen kann, die für den Abbau eines Abfallprodukts in einem Zelltyp nötig ist – oder falls er eine defekte Form des Proteins produziert, das seine Arbeit nicht richtig erledigt. Tatsächlich ist genau dies die Ursache einer Gruppe von seltenen, aber gut verstandenen genetischen Erkrankungen namens lysosomale Speicherkrankheiten (LSK). Es gibt etwa 40 solcher Erkrankungen, doch zum Glück erkrankt nur etwa eine von 7500 Personen daran. Die Opfer aller dieser Krankheiten leiden an einer wie auch immer gearteten Fehlfunktion ihrer lysosomalen Verbrennungsanlage. Vielen von ihnen fehlt das Gen für das lysosomale Enzym völlig oder sie tragen eine mutierte Form davon, was zu einer deformierten und unwirksamen Version der Hydrolase führt. In anderen Fällen fehlt eines der spezialisierten Transportproteine auf der Oberfläche der lysosomalen Membran oder es ist defekt, sodass das Lysosom den abzubauenden Müll erst gar nicht aufnehmen kann. Solche Mutationen resultieren in einer tödlichen, degenerativen Krankheit, was auch immer die Ursache in einem gegebenen Patienten ist. Welche Organe eine bestimmte Mutation betriff t, und wie stark, variiert von einer LSK zur anderen, da es davon abhängt, welches Enzym fehlt oder versagt. Verschiedene Zelltypen produzieren eben verschiedenen Müll mit verschiedener Geschwindigkeit und jede einzelne Abfallart übt einen bestimmten pathologischen Einfluss auf die Zelle aus, wenn sie nicht abgebaut wird. In allen Fällen leiden die Patienten jedoch an Symptomen in den wichtigsten Organen. Bei der Gaucher-Krankheit schwillt die Milz an und es kommt zu einer Blutarmut. Es gibt zwei vererbte Formen der Niemann-Pick-Krankheit. In der rasch wirkenden Version (Typ A) vergrößern sich Leber und Milz. Die Nerven degenerieren von Geburt an und die Opfer sterben im Alter von zwei oder drei Jahren. In der langsamer wirkenden Form (Typ B) entwickeln die Patienten gelbe Fettknötchen auf ihren Augenlidern, Hals oder Rücken sowie eine vergrößerte Leber, Milz und Lymphknoten. Das Hurler-Syndrom schließlich verursacht verzogene Gesichtszü-

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ge und Knochendeformierungen, begleitet von Vergrößerungen der Milz und Leber, Gelenksteife, Augentrübung, früh einsetzender Demenz und Hörverlust. Die exakten mechanistischen Verbindungen zwischen der mangelhaften Abfallbeseitigung und den speziellen Krankheitsbildern wurden nicht bis ins letzte Detail ausgearbeitet, doch der Gesamteindruck ist klar. Der nicht abgebaute Abfall sammelt sich im Lysosom, welches anschwillt und immer mehr Raum in der Zelle einnimmt, was den Transport von anderen Materialien im Hauptteil der Zelle behindert. In der Zwischenzeit werden die Säuren und Enzyme innerhalb des Lysosoms verdünnt und stören dadurch die Fähigkeit zum Import und Abbau von anderem Müll, für den die Zelle die nötigen Enzyme hat, was zu einem Teufelskreis führt. Es gibt auch einige Fälle, in denen sich giftiger, nicht abgebauter Abfall im Hauptteil der Zelle anzuhäufen scheint. Dies kann daran liegen, dass er erst gar nicht in das überlastete Lysosom transportiert wird oder weil die versagende Organelle zu lecken oder sogar zu bersten beginnt und so ihre Giftladung ausspuckt – inklusive der in ihr enthaltenen Säuren und Enzyme, die für die Funktion des Lysosoms zwar notwendig sind, aber für den Rest der Zelle vielleicht tödlich.

Die Grenzen der Lysosomen und die tödlichen Überbleibsel Zusätzlich zu den schrecklichen, früh einsetzenden Pathologien, welche die Opfer dieser genetischen Krankheiten heimsuchen, ist jedoch auch seit langem bekannt, dass sich nicht abgebautes Material in den Lysosomen von uns allen ansammelt, während wir altern. Der schädliche, sich anhäufende Schlick, den wir Lipofuszin oder im Volksmund »Alterspigment« nennen, ist ein chemisches Mischmasch von Membranfetten und -proteinen, reaktiven Metallen wie Eisen und Kupfer und einer Vielfalt anderer organischer Moleküle. Es ist unter dem Mikroskop leicht zu erkennen, weil es bei der Bestrahlung mit Licht einer bestimmten Wellenlänge rot glüht. Lipofuszin ist keine einzelne, bestimmte Verbindung, sondern ein Sammelbegriff für das Gemisch sturer Abfallprodukte, die sich weigern abgebaut zu werden, nachdem sie zur Entsorgung zum Lysosom geschickt wurden – chemisch derart verworrene Stoffe, dass der normale Satz lysosomaler Enzyme einfach nicht weiß, wie mit ihnen umzugehen ist. Eine Kombination von Schäden durch freie Radikale und Glykation (das wahllose Verkleben verschiedener »Äste« von Proteinen eines Gewebes mit dem Zucker in Ihrem Blut und Zellen) verdreht ihre Struktur wie das molekulare Origami eines Verrückten. Dadurch vergraben sich die verwundbaren Stellen tief in der Struktur, werden für die lysosomalen Hydrolasen unzugänglich und können nicht mehr aufgebrochen werden. 1 Folglich werden diese Stoffe nicht mehr richtig abgebaut – und weil Lysosomen in den meisten Fällen unfähig sind, sie aus der Zelle zu exportieren, häuft sich das Material einfach an und nimmt immer mehr Raum in den Lysosomen langlebiger Zellen wie dem Gehirn oder dem Herz ein. Das erstmals im 19. Jahrhundert entdeckte Lipofuszin wurde von der Biomedizin weitgehend ignoriert, bis es ein heißes – und kontroverses – Thema der Biogerontologie in den 1970ern wurde. Damals schien es den meisten Forschern schlicht offensichtlich, dass Lipofuszin schaden müsse: Nach und nach füllt es unsere Zellen (und

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nimmt beispielsweise in Herzmuskelzellen von betagten Primaten bis zu zehn Prozent der Gesamtraums ein) und der Verlauf der Anhäufung geht mit den Funktionsstörungen einher, die man in Tieren (einschließlich Menschen) sieht. Tatsächlich ist die Geschwindigkeit, mit der sich Lipofuszin im Herz einer gegebenen Spezies anhäuft, proportional zu seiner Alterungsgeschwindigkeit. Jugendliche, erwachsene und alte Affen zweier verschiedener Arten haben daher zu vergleichbaren Phasen in ihrem Lebenszyklus trotz deutlich unterschiedlichem chronologischem Alter ungefähr denselben Lipofuszinpegel, der ihre Zellen verstopft. Viele Forscher skizzierten eine mechanistische Hypothese, wie Lipofuszin zur Alterung beiträgt, ähnlich wie es in den LSK geschieht: Lysosomale Fehlfunktion, Müllanhäufung, Behinderung des Zellverkehrs und schließlich die Freisetzung giftiger Enzyme und Säuren aus geplatzten Lysosomen. Das Argument war jedoch umstritten. Viele Forscher glaubten auch, dass Lipofuszin gutartig sei, zum Teil genau deshalb, weil es so schwierig abzubauen ist: Da die reaktiven Stellen in seiner Struktur bereits durch vorhergehende freie Radikale und Glykation zusammengeballt und zusammengeheftet wurden, ist Lipofuszin chemisch ziemlich träge und interagiert daher auch nicht mit essentiellen Biomolekülen wie es freie Radikale oder andere toxische Chemikalien tun. Zudem verkürzte sich das Leben von Versuchstieren nicht, in denen man die Lipofuszin-Anhäufung beschleunigte, indem man sie einem Vitamin-E-Mangel aussetzte, wie man es bei einer Beeinflussung erwarten würde, die eine echte Alterungsursache beschleunigt. Diese Berichte wurden jedoch von anderen Experten auf dem Gebiet heftig debattiert, weil überhaupt nicht klar war, ob das Material, dessen Anhäufung durch den Vitamin-E-Mangel beschleunigt wurde, tatsächlich Lipofuszin war. Vieles, was in der älteren Literatur mit diesem Begriff bezeichnet wird, sind eigentlich andere, verwandte Substanzen (oft Ceroid genannt), die viele Eigenschaften mit Lipofuszin gemeinsam haben, aber für die Zelle viel einfacher abzubauen sind. Es schien wahrscheinlich, dass der Vitamin-E-Mangel die Produktion dieses relativ leicht lenkbaren Materials erhöhte, während der Pegel des »richtigen« Lipofuszins unbeeinflusst blieb.2 Außerdem war die Ceroid-Anhäufung zwar mit einer Auswahl von Krankheiten verbunden (Krankheiten, in denen Substanzen nicht abgebaut werden, die normalerweise abgebaut werden können – man kann sie sich als eine Art nicht-genetische LSK vorstellen), aber sie war nicht eindeutig mit »normaler« Alterung verwandt. Und so ging die Debatte weiter. Wie in so vielen Fällen in den frühen Tagen der Biogerontologie waren die Daten nicht eindeutig, die Definitionen unpräzise und es gab wenig Hoff nung auf eine klare Lösung. Ich selbst war dem Thema gegenüber gleichgültig geblieben, bis ich den ersten Entwurf meiner Doktorarbeit geschrieben hatte. Dann traf ich im Frühjahr 1998 Ulf Brunk, Ordinarius für Pathologie an der Schwedischen Universität von Linköping, auf der Gordon Konferenz für Sauerstoffradikale in Ventura, Kalifornien. Nachdem ich der Präsentation seiner jüngsten Resultate zugehört hatte, begann ich Lipofuszin als mögliche Verbindung des verwickelten Chaos des Stoff wechsels zur Pathologie der Alterung ernster zu nehmen. Brunk hatte erstklassige Arbeit geleistet, um die Rolle von Lipofuszin in Herzzellenkulturen einzuschätzen – ein wichtiger technischer Fortschritt, vor allem weil

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sich Herzzellen im Körper nie teilen. Wenn sich eine Zelle teilt, wird ihr Zellmüll – einschließlich Lipofuszin – auf die beiden Tochterzellen aufgeteilt. Jede hat nun ungefähr die Hälfte davon und dies geht mit jeder neuen Generation so weiter. Wenn sich der Müll nur sehr langsam anhäuft, wird dieser Verdünnungsprozess die Bildungsrate neuen Mülls voll ausgleichen, sodass sich nie eine unbeherrschbare Müllmenge anhäuft. Die sich schnell teilenden Hautzellen, die in vielen früheren Arbeiten verwendet wurden, taten genau dies. Sie neigten dazu, Lipofuszin und anderen Zellmüll zu verdünnen und konnten so die realen Effekte lysosomaler Anhäufung in kritischen, sich nicht teilenden Zellen wie im Herz oder im Gehirn nicht nachbilden. Dies war seit langem bekannt, aber Herzzellen hatten sich als notorisch schwierig zu kultivieren herausgestellt – größtenteils wegen des hohen Sauerstoffgehalts der Atmosphäre, wie sich herausstellte. Zellkulturen werden immer noch zu oft unter normaler Atmosphäre gezüchtet, obwohl in unserem Körperinnern nur etwa ein Siebtel der Sauerstoff konzentration der Luft herrscht. Indem er die langlebigeren Herzzellen unter physiologischeren Sauerstoffpegeln wachsen ließ, gelang es Brunk zu zeigen, wie erhöhter oxidativer Stress – mit anderen Worten höhere Schadenspegel durch freie Radikale – die Lipofuszinbildung steigerte. Er bestätigte auch den älteren Verdacht, dass eine Lipofuszin-Anhäufung die Fähigkeit der Zelle behindert, ihre verbrauchten Bestandteile zu rezyklieren. Als Krönung konnte er zudem nachweisen, dass ältere Herzzellen beschädigte Mitochondrien anreichern – was nicht passieren würde, wenn das Lysosom richtig funktioniert, da die Entsorgung defekter Kraftwerke eine ihrer Hauptaufgaben in der Zelle ist. Mit seinem Mitarbeiter Alex Terman entwarf Brunk eine »Abfallkatastrophentheorie« der Alterung,3 in der sich Lipofuszin innerhalb des Lysosoms anhäuft und den Säuregehalt und den Enzymvorrat der Organelle verdünnt. In diesem Modell zehrt Lipofuszin auch viele der Enzyme auf, die der Körper produziert, indem es sie vereinnahmt, ohne dass sie etwas dagegen ausrichten könnten. Dadurch werden sie von den anderen Inhalten des Lysosoms abgelenkt, gegen die sie effektiv eingesetzt werden könnten. Je mehr Abfälle die Lysosomen der Zelle anhäufen, für die sie nicht ausgerüstet sind, desto unfähiger werden sie, das in ihnen enthaltene Material abzubauen. Demzufolge verbringt der besagte Müll entweder mehr Zeit draußen in der Hauptkammer der Zelle oder sogar gefangen im Lysosom, bevor er »eingeäschert« wird. In der Zwischenzeit erfahren diese Abfallstoffe weitere chemische Veränderungen in ihrer Struktur, wodurch sie zusehends verstümmeln. Für die lysosomalen Hydrolasen wird es immer schwieriger die Schwachstellen in ihrer Struktur zu erreichen. Aufgrund dessen wird nicht einmal mehr der Standard-Zellmüll, für dessen Zerlegung die Lysosomen theoretisch gut ausgerüstet sind, effizient abgebaut. Er sammelt sich stattdessen an, wodurch er die hydrolytischen Enzyme und die Säure des Lysosoms weiter zerstreut. In ihren Zellkulturexperimenten zeigten Brunk und Terman, dass eine Überdosis Lipofuszin sogar Zelltod auslösen kann, wenn die Lysosomen damit angefüllt sind und aufplatzen. Die diesem Modell zugrunde liegenden Daten waren überzeugend. Es gefiel mir sofort und ich schmuggelte eine kurze Referenz daran in meine Doktorarbeit in Biologie in Cambridge. 4 Ich war jedoch noch nicht davon überzeugt, dass lysosomale

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Fehlfunktion wirklich eine wichtige Alterungsursache war, denn wenn die Theorie korrekt wäre, würde man erwarten Beweismaterial zu finden, welches Lipofuszin mit tatsächlichen altersbedingten Krankheiten verbindet. Als ich dieses Beweismaterial suchte, tauchte zunächst keines auf. Ich lernte jedoch schnell, dass dieser scheinbare Datenmangel eher ein Kommunikationszusammenbruch als ein Informationsvakuum war. Forscher neigen dazu, sich in ihrem engen, spezialisierten Studiengebiet zu verschanzen. Daher vergleichen sie ihre Aufzeichnungen viel zu selten und nehmen auch nicht das Zusammenspiel von Beobachtungen in verschiedenen Wissenschaftsgebieten (oder auch nur Untersparten innerhalb dieser Gebiete) wahr. Ich fand rasch heraus, dass ich von Beweismaterial überschwemmt wurde, dass die Anhäufung von Müll, der im Lysosom verarbeitet werden sollte, der Kern der Sache war, wenn ich aufhörte speziell von »Lipofuszin« zu sprechen und die Forscher statt dessen über die Bedeutung lysosomaler Fehlfunktion in den Krankheiten, die sie studierten, fragte. Diese Tatsache wurde jedoch durch die Verwendung von Spezialistenjargon verschleiert, mit dem über diese Abfälle gesprochen wurde.

Die Brücke zur Pathologie schlagen Ar teriosklerose Knapp ein Jahr nachdem ich erstmals mit Brunks eindrucksvollen Daten konfrontiert wurde, besuchte ich die jährliche Gordon Arteriosklerose-Konferenz, an der ich einer Zusammenfassung der komplexen Prozesse zuhörte, die dazu führen, dass jemand zunächst einen erhöhten Cholesterinspiegel im Blut, dann Fettablagerungen in den Arterien (Arteriosklerose), später eine diagnostizierbare Herzerkrankung und schließlich einen Herzinfarkt hat. Wie ich rasch lernte, hatte die Forschung schon seit Jahren, und bevor ich mich damit zu beschäftigen begann, lysosomale Fehlfunktion als »Herzstück« der molekularen Ereignisse eingestuft, die der Bildung arteriosklerotischer Ablagerungen zugrunde liegt. Sie erwähnte Lipofuszin jedoch mit keinem Wort. Die meisten Leute stellen sich arteriosklerotische Arterien wie verstopfte Röhren vor. Fettige Schlacke (ob Fett von Speck oder Cholesterin) häuft sich an der Innenseite der Röhre an, bedeckt ihre Oberfläche, verstopft sie und blockiert den Durchfluss – etwa wie Abwaschwasser, das im Spülbecken abläuft – und so stellt man sich auch den Blutfluss in den Arterien vor. Tatsächlich wissen wir seit längerem, dass der Prozess viel komplexer ist.5 Arteriosklerose beginnt mit einem mikroskopischen Problem in der Blutgefäßwand. Viele Dinge können dies verursachen oder dazu beitragen, einschließlich der Reibung durch den vorbeiströmenden Blutfluss, der Gewalt erhöhten Blutdrucks oder Infektionen. Meistens ist es jedoch lediglich eine Anhäufung unseres alten Freundes LDL, Lipoproteinen geringer Dichte, die dazu tendieren, dort hängen zu bleiben. Der Körper reagiert darauf wie auf jede Verletzung: Er scheidet Stoffe aus, die eine Entzündung verursachen, um Immunzellen namens Makrophagen anzulocken. Makrophagen dringen dann in das beschädigte

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Gewebe ein und unterstützen den Heilungsprozess, indem sie die Ablagerungen beseitigen. Ich habe Ihnen in Kapitel 5 nicht sehr viel über LDL erzählt, nun ist es an der Zeit für mehr Details. Trotz seines schlechten Rufs ist Cholesterin eigentlich ein notwendiger Bestandteil von Zellmembranen. Tatsächlich ist das so genannte »schlechte« Cholesterin (LDL) im Blut eigentlich ein Trägerteilchen, das vom Körper dazu vorgesehen ist, benötigtes Cholesterin zu den Zellen zu bringen. Diese Zellen haben wiederum spezialisierte Rezeptoren, die dafür ausgelegt sind, das Cholesterin für den internen Gebrauch aufzunehmen. Um die meisten Zellen zu erreichen, müssen die Zellen unserer Gefäßwand LDL den Durchgang erlauben, damit es das umgebende Gewebe erreicht. Wenn Cholesterin jedoch chemisch verändert ist – zum Beispiel durch die Einwirkung freier Radikale (oxidiertes LDL) oder Reaktion mit Blutzucker (glykiertes LDL) – tendiert es eher dazu zusammenzukleben und wird daher unbeweglicher. Da freie Radikale beziehungsweise Blutzucker unvermeidliche Nebenprodukte von und notwendige Rohstoffe für einige der fundamentalsten Stoff wechselprozesse des Körpers sind, sind sie auch allgegenwärtig. Daher sind LDL-Teilchen diesen zerstörerischen, chemischen Einflüssen kontinuierlich ausgesetzt. Außerdem verändern Enzyme, die bei einer Verletzung der Gefäßwand Immunzellen rekrutieren sollen, das Cholesterin derart, dass es toxischer wird. Dies ist der Hauptgrund, weshalb ein hoher Cholesterinspiegel schlecht für Sie ist. Je mehr Cholesterin in Ihrem Blut schwimmt, desto mehr Kontakt hat es mit diesen Stoffen und desto mehr giftiges, verändertes Cholesterin wird durch Ihren Körper zirkulieren. Wenn nun also Makrophagen einem Entzündungssignal folgen, finden sie reichlich Müll, der entsorgt werden muss. Zu Beginn werden die Makrophagen einigermaßen gut mit dem Zeug fertig, das sie auffressen, und oft können sie den Schutt erfolgreich entfernen. Wenn jedoch ein bereits kompromittiertes Blutgefäß weiterhin durch hohe Cholesterinspiegel im Blut, Entzündungssignale von überschüssigem Körperfett oder Schadstoffen im Zigarettenrauch attackiert wird, bleibt das Problem bestehen und die Makrophagen treiben sich länger herum. Während sie immer mehr Müll aufnehmen – vor allem eine Überdosis von verändertem LDL – beginnen die Makrophagen in ihrer Arbeit zurückzufallen. Ein steigender Anteil der Müllladung wird nicht mehr erfolgreich verarbeitet, sondern häuft sich stattdessen in den Lysosomen der Makrophagen an – oder, genau so schlimm, wird aus dem Lysosom ausgeschieden ohne richtig entgiftet worden zu sein, wodurch sich Tröpfchen modifizierten Cholesterins im Zellkörper bilden. Je länger dies andauert, desto mehr werden Makrophagen zum zellulären Ebenbild des Ekel erregend aufgedunsenen »Mr. Creosote« im Restaurant-Sketch in The Meaning of Life von Monthy Python. Falls Sie diesen Film gesehen haben, werden Sie sich bestimmt an die Szene erinnern. Mr. Creosote kommt schon voll gefressen und sich speiübel fühlend in ein feines französisches Restaurant. Es werden ihm jedoch »moules marinières, paté de foie gras, Beluga-Kaviar, Eier Bénédictine« und Saucen »reich an Trüffeln, Anchovis, Grand Marnier, Schinken mit Sahne« vom pervers übereifrigen und himmelschreiend französischen Oberkellner (John Cleese) aufgedrängt.

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Creosote wird mit fortschreitendem Mahl immer übler, aber als er schließlich den Willen auf bringt mit dem Gelage aufzuhören, wird er überredet ein allerletztes »hauchdünnes« Pfefferminzblättchen zu versuchen. Als der rückgratlose Gast das Minzblättchen schluckt, erfüllt ein Blick hilflosen Entsetzens sein Gesicht. Während der Oberkellner in Deckung geht, explodiert Creosote buchstäblich und seine Eingeweide inklusive Essen bespritzen Personal und Kundschaft gleichermaßen. Stellen Sie sich Ihre Blutgefäße als ein solches Restaurant vor, das einen steten Strom von Gästen genau wie Mr. Creosote in der Form von Makrophagen willkommen heißt und ihnen modifizierte Cholesterinprodukte serviert. Stellen Sie sich vor, dass sie sich zur Sperrstunde schlicht weigern zu gehen und sich weiter vollstopfen, bis ihr »Magen« (Lysosom) nicht mehr kann. Sie essen trotzdem weiter, sterben daran und Ihr Restaurant (Blutgefäße) wird ihre letzte Ruhestätte. Nun wissen Sie im Prinzip, wie »Schaumzellen« entstehen, die sich in Ihren Gefäßwänden ansammeln. Sobald sie zahlreich genug sind, bilden sie »Fettstreifen«, die im Mikroskop sichtbar werden. Schließlich entwickeln sie sich zu ausgewachsenen, unstabilen, arteriosklerotischen Plaques – das verschorfte Chaos, das sich letztendlich an der Schadensstelle bildet, vollgestopft mit einem Miasma von geronnenem Blut, entzündlichen Signalmolekülen und toten Schaumzellen. Wenn es soweit kommt, sind Ihre Tage gezählt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Kräfte inner- und außerhalb des Plaques das Miasma zum Bersten bringen und es seinen Inhalt in den Blutstrom entlädt. Dieser Inhalt ist keine Flüssigkeit, sondern eine Horde halbfester Klumpen, die rasant von ihrem Ursprungsort in den größeren Arterien in immer kleinere Gefäße geschwemmt werden. Schließlich bleiben sie dort stecken und blockieren den Blutfluss – manchmal im Herzen (wo sie einen Herzinfarkt verursachen), manchmal im Gehirn (was zu einem Schlaganfall führt). Wir verstehen jetzt also, dass lysosomale Fehlfunktion der entscheidende Schritt in der Umwandlung von gesunden Makrophagen zu untoten Schaumzellen ist – und von gesunden Blutgefäßen zu arteriosklerotischen Zeitbomben. Diese Tatsache ist allgemein anerkannt – leider verfolgen jedoch fast alle Forscher letztendlich präventive Methoden der alten Schule, um dem Problem zu begegnen. Bestehende, antiarteriosklerotische Medikamente versuchen die Makrophagen davon abzuhalten sich allzu arg zu überfressen, indem sie den Cholesterinspiegel im Blut senken oder den Kontakt von LDL mit metabolisch aktiven Substanzen verringern (Blutzucker, Entzündungsenzyme und freie Radikale). Momentan in der Entwicklung befi ndliche Medikamente gehen dasselbe Problem von der anderen Seite her an, indem sie versuchen, den Abtransport von Cholesterin aus dem Blut, den Zellen oder den Organen zu erhöhen, bevor es Schaden bewirken kann. Unterdessen wollen Grundlagenforscher, die auf anderen Gebieten als der Medikamenten-Entwicklung arbeiten, herausfinden, wieso die Lysosomen der Makrophagen versagen. Sie hoffen ein Medikament zu entwickeln, das in die entscheidenden Schritte der Stoff wechselkette eingreifen könnte, falls man die genauen Details des Prozesses versteht. Leider ist das Beweismaterial mit vielen Interpretationen vereinbar und die Daten sind schwierig unter einen Hut zu bringen, was die Entwicklung neuer Therapien aufgrund dieses Modells mehr oder weniger zum Stillstand gebracht hat.

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Einige Forscher konzentrieren sich beispielsweise auf die Tatsache, dass oxidiertes Cholesterin im Reagenzglas die notwendige Verarbeitung (»Ent-Esterifizierung«) von normalem (unverändertem) Cholesterin im Lysosom hemmt. Es verlangsamt sie genug, um einen tödlichen Rückstau zu bewirken. Andere denken, dass modifiziertes LDL, wie Lipofuszin, selbst nicht abbaubar ist und durch seine Anhäufung die Stoffe verdünnt, die das Lysosom braucht um anderes Material abzubauen. Es gibt auch Anhaltspunkte, dass etwas am veränderten LDL (oder ein Stoff wechselnebenprodukt davon) für die Lysosomenfunktion schädlich ist. Etwa die Belege (wieder im Reagenzglas), dass die oxidierte Cholesterinvariante 7-Ketocholesterin (7-KC) die Aktivität des membrangebundenen Enzyms ATPase behindert. Wenn dieses Enzym gehemmt wird, kann es den Säuregehalt in den Lysosomen nicht mehr hoch genug halten, um die Hydrolasen richtig arbeiten zu lassen. Einige denken daher, dass man hier nach einer Lösung suchen sollte. Wieder andere denken, dass Makrophagen einfach zu viel LDL aufnehmen, sodass das schiere Volumen ihre Verarbeitungskapazität überwältigt. Falls dem so ist, könnte eine verlangsamte Aufnahme auch die Entwicklung der Erkrankung bremsen. Bisher wissen wir nicht, welche Annahme richtig ist – und es ist unwahrscheinlich, dass wir die Frage in nächster Zeit definitiv klären werden, weil die Bedingungen, unter denen die entsprechenden Studien durchgeführt werden, nicht denen in unserem Körper ähneln. Während die wissenschaftlichen Debatten andauern, bleibt durch Arteriosklerose verursachte Gefäßerkrankung die häufigste Todesursache in der entwickelten Welt – und andere Probleme, die ebenfalls durch die fehlerhafte Cholesterinverarbeitung entstehen, sind eventuell mit einem breiten Spektrum altersbedingter Krankheiten verbunden. Glücklicherweise bietet sich eine Intervention an, die mir vor ein paar Jahren durch den Kopf schoss6 – und die seither detailliert in Zusammenarbeit mit anderen7 ausgearbeitet wurde. Sie fegt den Bedarf nach einer ausführlichen, molekularen Landkarte des Stoff wechsellabyrinths hinweg. Diese Lösung ist nicht auf ein detailliertes Verständnis dessen angewiesen, was bei Arteriosklerose zur lysosomalen Betriebsstörung führt. Stattdessen bietet sie uns eine Methode an, das Lysosom selbst zu sanieren und nicht die Stoff wechselprozesse, die es überladen. Zudem funktioniert sie unabhängig vom Ursprung seines Versagens. Bevor wir jedoch darauf zu sprechen kommen, lassen Sie uns noch eine andere, fürchterliche Alterskrankheit ansehen, der lysosomale Fehlfunktion zugrunde liegt: den Zerfall des Gehirns.

Neurodegeneration Außer im Fall eines Schlaganfalls – den ich oben diskutierte und der eher ein einmaliger, traumatischer Schaden als ein degenerativer Prozess an sich ist – weist das Gehirn von allen Menschen, die an einer größeren, neurodegenerativen Krankheit leiden, Anzeichen von mangelhafter lysosomaler Funktion auf. In den meisten Fällen ist der offensichtlichste Fingerzeig das Vorhandensein von Klumpen eines charakteristischen, aggregierten Proteinmaterials innerhalb der Gehirnzelle: Lewy bodies bei Parkinson und die kühn getaufte »Demenz mit Lewy Bodies« (DLB), aggre-

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giertes Huntingtin-Protein bei Huntingtons Krankheit und Neurofibrillen, die in Niemann-Pick und bei Alzheimer durch eine Anhäufung des Tau-Proteins entstehen. 8 Weil sich diese Aggregate jedoch nicht innerhalb des Lysosoms befinden und selbst nicht Lipofuszin sind, war die Rolle lysosomaler Fehlfunktion in diesen Krankheiten schleierhaft. Noch einmal: Wer gezielt eine Verbindung zu »Lipofuszin« sucht, kann diese Daten übersehen und die Beziehung bleibt unklar. In mehreren Fällen gibt es jedoch direktere Belege für Probleme auf der Giftmülldeponie. Einer der bemerkenswertesten solcher Hinweise wurde jüngst in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten gefunden, in denen der Proteinabbau durch eine weitere Komponente des zellulären Rezykliersystems (dem Proteasom) schwer behindert ist. In einigen Patienten kann dies daher kommen, dass Mutationen im Gen für das Protein Ubiquilin zu einer Hemmung der Aktivität von Ubiquitin führen, einem Protein, das andere Proteine für die Zerlegung im Proteasom »markiert«. Sowohl Neurofibrillen bei Alzheimer als auch Lewy Bodies bei Parkinson sind voll mit Ubiquitin, das Proteasom-System scheint jedoch unfähig diese aggregierten Materialien aufzunehmen. Die Verbindung zum lysosomalen Apparat ist wie folgt: Proteasomen, die ihre Aufgabe nicht erfüllen, erhöhen den Druck auf das Lysosomensystem, da die defekten Proteasomen (samt Material, das sie nicht abbauen konnten) zum Lysosom gesandt werden und die Lipofuszinbildung erhöhen.9 Zumindest ein Teil des Abfalls, den die Proteasomen nicht aufnehmen können – zusammen mit den kaputten Proteasom-Einheiten selbst – wird letztendlich zu den Lysosomen geschickt: Dieses Phänomen von Aggregaten, die normalerweise abgebaut werden, wurde defi nitiv im Fall der Huntington-Krankheit beobachtet. Wahrscheinlich ist es auch dafür verantwortlich, dass man bei Alzheimer viel Ubiquitin in den Lysosomen der Nervenzellen findet. Die dramatischsten Kennzeichen abnormaler Abfallentsorgung bei Alzheimer sind die Anzeichen von Fehlfunktion im lysosomalen System selbst. Als Hintergrundinformation: Eines der Hauptverfahren, mit dem Zellmüll zum Rezyklierzentrum der Zelle gebracht wird, ist ein Prozess namens »Makroautophagie«. Der Müll wird dabei durch eine Membranstruktur namens Autophagosom oder Autophagenvakuole (AV) geschluckt, die sich dann mit dem Lysosom verbindet und mit ihm verschmilzt. (Falls Ihnen dieser Begriff bekannt vorkommt, dann wohl deshalb, weil ich in Kapitel 5 kurz erwähnte, dass dies die Art und Weise ist, in der beschädigte Mitochondrien zum Lysosom gebracht werden.) Das Resultat ist im Prinzip ein größeres Lysosom mit einer einzigen, kombinierten Membran, das den Inhalt sowohl der AV als auch die hydrolytischen Enzyme (und die Säure) des ursprünglichen Lysosoms umschließt, um diese Inhalte zu verdauen. Jüngste Studien zeigen, dass dieser Aspekt lysosomaler Funktion in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten in einem sehr schlechten Zustand ist.10 Es ist seit einiger Zeit bekannt, dass das lysosomale System im Gehirn bei Alzheimer, wie das Proteasom, anscheinend sowohl hyperaktiviert als auch inaktiviert ist: Das Neuron verhält sich wie ein gedankenloser Autofahrer mit einem verschlissenen Motor, der erfolglos seine fehlzündenden Zylinder zu kompensieren versucht, indem er noch stärker aufs Gaspedal drückt. Eine neue Studie deutet auf einen Hauptgrund für

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ihr Versagen hin: Die Gehirnzellen – und besonders die Zellen in den Hirnarealen, die am meisten von der Krankheit betroffen sind – sind voll von vielschichtigen, AVbasierten Strukturen, die den russischen, verschachtelten Puppen sehr ähneln: Eine AV ist von einer anderen, größeren umschlossen, die wiederum Teil einer weiteren, noch größeren AV ist. Einige dieser Strukturen scheinen sich zu formen, wenn eine AV es nicht schaff t, mit einem Lysosom zu fusionieren, lange genug in der Zelle rumhängt und langsam Schaden nimmt. Letztlich wird sie so degeneriert, dass sie als Müll identifiziert wird – wobei sie dann von einer weiteren Autophagenvakuole verschluckt wird. Dann wiederholt sich der Zyklus, wenn auch die neue AV nicht fusionieren kann. In anderen Fällen, so scheint es, hat die AV mit einem Lysosom fusioniert, aber das Lysosom ist so schwach – oder vielleicht so unreif – dass es den Inhalt der AV nicht verdauen kann. Dieses Bild erinnert mich an die berüchtigte Khian Sea, ein Schiff, das 1986 von der Stadt Pennsylvania gemietet wurde, um die Asche ihrer Müllverbrennungsanlage auf einer künstlichen Insel auf den Bahamas zu entsorgen. Leider hatte die Regierung der Bahamas den Betreibern der Khian Sea keine Erlaubnis gegeben, ihren Müll dort abzuladen. So begann eine 14-jährige Abfall-Weltreise, auf der das Schiff von Hafen zu Hafen fuhr und versuchte, seine Ladung in verschiedenen Ländern rund um den Globus loszuwerden – zuerst zurück an die Ostküste der USA, dann wieder Richtung Süden in die Karibik und nach Südamerika, letztendlich zu so abgelegenen Orten wie Indonesien und den Philippinen. Am Ende entledigte sich die Khian Sea – umgetauft und unter anderer Flagge – ihrer giftigen Ladung illegalerweise im Atlantik und im Indischen Ozean. Früher oder später kann man nichts anderes erwarten, als dass umherwandernde AV ihren gefährlichen Inhalt ebenfalls abwerfen. Die Wissenschaftler sind sich über die zentralen Punkte einig: Die großen neurodegenerativen Krankheiten sind durch die Präsenz aggregierter Proteine und lysosomaler Fehlfunktion im Gehirn gekennzeichnet. Allen Beteiligten ist zudem klar, dass es irgendeine Verbindung gibt zwischen dem klaren Versagen des Abfallentsorgungssystems der Zelle mit den Aggregaten fertig zu werden und den Krankheiten, in denen dieses Versagen auftritt. Die Frage ist nur, welcher Art die Verbindung ist. Intuitiv leuchtet es ein, dass der in unseren Hirnzellen sitzende, aggregierte Müll schlecht für sie sein muss. Die meisten Wissenschaftler teilen diese Intuition und tatsächlich lässt sich in relativ simplen Reagenzglas-Experimenten leicht zeigen, dass diese Substanzen Unheil anrichten, wenn man sie Gehirnzellen beifügt. Dazu gehört auch die Einleitung eines Teufelskreises, in welchem die Anhäufung von Aggregaten die normale Neuronenfunktion unterbricht, was zu weiterer lysosomaler Fehlfunktion und Proteinaggregation führt. Manche betrachten diese Phänomene jedoch anders. Erstaunlicherweise denken einige Wissenschaftler, dass Proteinaggregate schützend wirken könnten. Sie glauben, dass die Aggregate selbst die Zellfunktion langfristig zwar behindern könnten, indem sie den Zellverkehr durch ihre schiere Größe blockieren, die löslichen, hoch reaktiven Einheiten, aus denen die Aggregate zusammengesetzt sind, aber eine viel unmittelbarere Bedrohung für die Gesundheit der Zelle darstellen. Indem sie diese Einheiten wie Sträflinge zu einem einzigen Knäuel zusammenkettet, kann die Zelle

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sie davon abhalten, andere Zellteile im Umfeld anzugreifen und dadurch eine tödliche, kurzfristige Bedrohung der Zellgesundheit abwenden. Dann gibt es auch diejenigen, welche die Aggregate eher als Epiphänomen betrachten: Ein Zeichen, dass mit der Zelle etwas nicht stimmt, aber nichts, was zur Pathologie beiträgt. In diesem Modell sind nicht abgebaute Proteinablagerungen eher wie Pulverdampf als tatsächliche Gewehre oder abgefeuerte Kugeln: Für sich selbst genommen sind sie mehr oder weniger harmlos, aber ihre Anwesenheit ist ein untrügliches Zeichen, dass Sie sich an einem Tatort befinden. Vielleicht häuft sich beispielsweise ein anderer Schadstoff im Lysosom an und verhindert die korrekte Verbrennung von Zellmüll, sodass sich die Aggregate aufbauen – die Aggregate selbst sind jedoch weder Quelle des Problems noch ein bedeutender Beitragspender zur zellulären Pathologie. Das ist natürlich immer noch ungünstig, denn Zellen sind auf funktionstüchtige Lysosomen angewiesen – sowohl um gutartige Zellbestandteile abzubauen, wenn ihre nützliche Lebensdauer überschritten ist, als auch, um ihre Bausteine für zukünftige Konstruktionsprojekte zu verwenden und um echten Giftmüll zu zerstören. Der Ursprung des Problems wird jedoch anderswo gefunden, als in den offensichtlichen Abfallhaufen, die den Hauptteil der Zelle vollstopfen. Alzheimer-Patienten haben beispielsweise vermutlich mehr defekte, rezyklierbedürftige Mitochondrien als gesunde Menschen. Dies verlangt dem Lysosom mehr ab, als es leisten kann. Hat es erst einmal versagt, bilden vielleicht andere Komponenten die beobachteten Aggregate, aber es sind trotzdem die geschädigten Lysosomen, die den Ball ins Rollen brachten. Aber nochmal: Es ist ziemlich schwierig, der Schlussfolgerung zu entgehen, dass die resultierenden Proteinklumpen zelluläre »Verkehrshindernisse« darstellen, die der Zelle letzten Endes auch selbst einige ernsthafte Probleme bereiten. Bedauerlicherweise gibt es reichlich Beweismaterial – sowohl hinsichtlich Neurodegeneration als auch im Hinblick auf Alterung – die jede dieser Positionen unterstützt. Ich sage »bedauerlicherweise«, weil ich den Eindruck habe, dass es Forscher in ihrem Streben nach Heilmethoden lähmt. Die Forscher verbrachten einen Großteil der 1990er Jahre mit tief verwurzelten, heiligen Kriegen zwischen »BAPtisten« (so genannt wegen dem »Beta-Amyloid-Protein«) und »Tauisten« (nach den Tau-basierten Neurofibrillen oder NFI). Beide Gruppen versuchten zu beweisen, dass ihr favorisierter Kandidat das Hauptproblem in der Alzheimer-Krankheit ist. (»Was ist Beta-Amyloid?« höre ich Sie rufen. Sie werden eine Menge darüber in Kapitel 8 lernen.) Heute gibt es eine ähnliche Fehde, die über die verschiedenen Interpretationen der Rolle von Proteinaggregaten in neurodegenerativen Krankheiten allgemein brodelt. Nach alter Schule – die das Ziel verfolgt, ein Medikament zu finden, das die Stoff wechselprozesse ausschaltet, die zu den Krankheitsfolgen führen, oder zumindest denjenigen Aspekt des Stoff wechselweges zu stören, der den größten Schaden verursacht – müssen Fragen dieser Art defi nitiv im Detail gelöst werden, bevor wir überhaupt beginnen können Therapien für Menschen zu entwerfen. In die Stoff wechselwege einzugreifen ist nämlich ein riskantes Geschäft und es kann nur schaden, wenn sich der Prozess, den Sie blockieren, als harmloser Zuschauer herausstellt. Noch mehr als bei Arteriosklerose stocken die traditionellen, medizinischen An-

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sätze daher bei neurodegenerativen Krankheiten in Hinsicht auf Proteinaggregate, weil die Verbindung zwischen dem besagten Müll und der Krankheit selbst unzureichend verstanden ist.11 Auch hier habe ich jedoch eine Lösung im Sinn, welche die Notwendigkeit hinwegfegt, diese Unklarheiten zu beseitigen.

Makuladegeneration Ohne Sie quälen zu wollen, möchte ich mich doch über die kritische Rolle nicht abgebauter Aggregate in einem dritten Aspekt der Alterung auslassen, bevor ich schließlich enthülle, welche Therapie ich für alle Krankheiten mit lysosomalen Fehlfunktionen – einschließlich der Alterung selbst – vorschlage. Dieses dritte Alterungsproblem ist die altersabhängige Makuladegeneration (AMD). Die Spannung nimmt in diesem Abschnitt etwas ab, da es in AMD keine Kontroverse bezüglich der Beteiligung von Aggregaten gibt. Es ist ein klassischer Fall dafür, wie biochemische Kreisläufe, die wir absolut nicht entbehren können, die Systeme zerstören, in welche sie eingebettet sind. Das Sehvermögen wird letztlich wie alle Lebensprozesse durch eine sorgfältig kontrollierte, komplexe chemische Kettenreaktion vermittelt und unsere bewusste Wahrnehmung entspricht eins-zu-eins den spezifischen, elektrochemischen Phänomenen, die diese Kette in unseren Gehirnen auslösen. Um einen Gegenstand wahrzunehmen, muss die Energie des Lichts, die vom Gegenstand ausgeht und durch die Linse das Auge erreicht, in die chemische Signalsprache übersetzt werden, die unserer subjektiven »Sicht« des Objekts entspricht. Der für unsere Zwecke wichtige Schritt in diesem Übersetzungsprozess – wichtig deshalb, weil er für die betroffenen Zellen und daher auch unser Sehvermögen tödlich ist – ist der (nahezu) unablässige Wechsel eines Vitamin-A-Derivats zwischen zwei Formen. 12 Die Stäbchen und Zäpfchen Ihrer Augen enthalten die »Speicherform« dieses Moleküls (11-cis-Retinal), die chemisch in die »aktivierte« Form (alltrans-Retinal) umgewandelt wird, sobald es Energie durch einfallendes Licht auffängt. Diese aktivierte Form wird als Einschaltsignal für das elektrochemische Feuern des Sehnervs benutzt, der das Signal in Ihr Gehirn leitet. Dann konvertiert es ein Enzym normalerweise wieder in seine »Speicherform« zurück und bereitet es damit für den nächsten einfallenden Lichtstrahl vor. Doch jedes System, das auf chemisch instabilen Komponenten beruht, läuft Gefahr, dass seine reaktive Chemie die engen Kontrollen des Systems durchbricht, dem sie eigentlich dienen sollte. In diesem Fall kann all-trans-Retinal mit einigen der fettähnlichen Moleküle reagieren, aus denen die Zellmembran besteht. Dies führt über eine komplexe Serie von Zwischenschritten zur Bildung eines widerspenstigen Endprodukts namens A2E. Dieses Molekül ist völlig resistent gegen die Verdauung in einem Lysosom und daher eine Hauptquelle unabgebauten Mülls in den Lysosomen dieser Zellen. Mit der Zeit wird so viel A2E produziert und von den Lysosomen aufgenommen ohne abgebaut zu werden, dass es bis zu einem Fünftel des gesamten Zellvolumens in den aufnehmenden Zellen ausmachen kann. Diese bedauerlichen Zellen machen das retinale pigmentierte Epithel (RPE) des Auges aus, das für die Aufrechterhaltung der Funktion der lichtempfindlichen Gebiete der Retina verantwortlich ist. Wegen der verwendeten Fachsprache (A2E statt »Lipofuszin«) blieb jedoch auch

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hier die Rolle der lysosomalen Unzulänglichkeit – und vergeben Sie mir das unglückselige Wortspiel! – im Dunkeln.

Giftmüllproblem – Giftmülllösung Eines Morgens, als ich einige Kleider in einen Seesack für das Forschungstreffen der Gesellschaft für Freie Radikale 1999 in Dresden packte, war ich soweit, lysosomale Unzulänglichkeit – und die resultierende Anhäufung zellulärer Abfallprodukte – als vielleicht den entscheidenden Schritt zu sehen, der den mitochondrialen, von Mutationen angetriebenen Anstieg oxidativen Stresses im Alter mit der tatsächlichen Pathologie der Alterung verbindet. Sie erinnern sich von Kapitel 5 her, dass ich bis dahin ein Modell dafür hatte, wie mitochondriale Mutationen in wenigen Zellen Giftstoffe zu mitochondrial gesunden Zellen anderswo propagieren konnten. Was ich nicht erklärt habe – nicht zuletzt deswegen, weil ich es nicht wusste, als ich die Theorie der Reduktiven Krisenherde entwickelte –, ist, inwiefern diese »Giftstoffe« giftig sind, welchen Schaden sie den sie aufnehmenden Zellen zufügen könnten. Ein Jahr später begann sich das Rätsel zu lüften. Löste man sich erstmal vom Begriff »Lipofuszin«, wurde deutlich, dass das Versagen, spezifische Abfallprodukte zu entsorgen, die schrecklichen Krankheiten bedingt, die das biologische Altern begleiten: Arteriosklerose, altersbedingte Makuladegeneration und neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer. Es war lediglich so, dass die Art des Abfalls, die mit einer gegebenen Krankheit verbunden war, vom Zelltyp und der spezifischen Diagnose abhing. Der Zufall wollte es, dass Ulf Brunk seine Daten in Dresden erneut präsentierte. Als ich seinem Vortrag zuhörte und seine Dias betrachtete – das verräterische rote Leuchten von Zellen erwürgendem Lipofuszin, seine Computer generierten Diagramme illustrierten seine und Termans »Abfallkatastrophentheorie« –, sah ich, dass es Zeitverschwendung war, darüber zu streiten, ob Lipofuszin zur »Alterung« im engeren Sinne beiträgt. Wir brauchten eine Lösung für dieses Problem, wenn wir unsere Körper vor altersbedingter Pathologie schützen wollten. Ich gelang jedoch auch zu der Überzeugung, dass es nicht ausreichen würde, die vorgelagerte Anhäufung dieses Mülls zu verhindern, indem wir mitochondriale Mutationen umgehen. Wir würden uns auch direkt mit diesem Müll auseinandersetzen müssen. Aber wie? Die besagten widerspenstigen Materialien waren so vielfältig und die Stoffwechselwege, die chemischen Identitäten und sogar die genauen pathologischen Rollen dieser Substanzen noch größtenteils unbekannt. Es schien daher, dass kein »Wundermittel«-Ansatz – ein kleines Molekül passend auf ein therapeutisches Ziel – funktionieren würde. Das Lysosom einfach auf Turbo zu schalten, würde das Problem auch nicht wirklich lösen: Spätere Tierstudien würden zwar zeigen,13 dass das einfache Hochfrisieren lysosomaler Aktivität oder das Nachfüllen ihres vorhandenen Enzymbestandes das Fortschreiten lysosomaler Speicherkrankheiten verlangsamen konnte, aber aufhalten konnten diese Ansätze die Krankheiten letztendlich nicht. Es liegt in der Natur des Problems, dass der Körper die Enzyme für den Abbau des wirklich hässlichen Abfalls schlicht nicht besitzt – und daher wird er Ihre Zellen früher oder später ersticken, Ihnen den Verstand rauben, Sie blind machen und Ihre Arterien verstopfen.

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Als Ulfs Vortrag endete, stand ich mit hundert anderen Wissenschaftlern auf und strömte zur Kaffeepause in die Vorhalle. Das rote Glühen des Lipofuszins auf den Dias ließ mich das Zeug als den Giftmüll sehen, der er ist und die alternde Zelle als eine winzige verseuchte Umwelt, die mit einem beklagenswert unzureichenden Abfallentsorgungssystem ausgestattet ist. Die Wiederherstellung der Zellgesundheit war eigentlich eine Art Umweltsanierungsproblem und im Prinzip war ein biomedizinisches Superfund-Projekt nötig, um neue Sanierungstechnologien zu entwickeln, die den Umgang mit Materialien ermöglichten, welche die Fähigkeiten des Lysosoms überstiegen. Superfund! Es kam mir plötzlich in den Sinn, dass das mehr als eine Metapher war. (Falls Sie noch nie von Superfund gehört haben, gedulden Sie sich – Ich werde es gleich erklären.) Es gab wirklich Gegenden auf dem Planeten, die sehr stark mit Lipofuszin verseucht sein müssten, da ihr Boden seit Generationen damit angereichert wurde. Ich spreche natürlich von Friedhöfen. Bedenken Sie: Hunderte vergrabene Körper – manchmal en masse wie in ganz Europa während der grauenvollen Pest und in jüngerer Zeit nach dem Völkermord in Ruanda oder anderswo. Diese Böden müssten randvoll mit Aggregaten der zerfallenden Körper ihrer Bewohner sein. Meines Wissens gab es auf Friedhöfen jedoch keine Lipofuszin-Anhäufungen – falls es sie gäbe, sollten sie uns sicherlich auffallen, denn Lipofuszin fluoresziert. Als ich dies Monate später mit John Archer, einem Forscherkollegen in Cambridge, diskutierte, brachte er den Widerspruch auf den Punkt: »Warum glühen Friedhöfe nicht im Dunkeln?« Bodenmikroorganismen schienen mir die wahrscheinlichste Erklärung zu sein. Bakterien, Pilze und andere Mikroben spielen bei der Umwandlung unserer Überreste in Kompost normalerweise eine Rolle. Doch es war nicht so unmittelbar klar, dass sie etwas verdauen könnten, was so resistent gegen Enzyme war wie Lipofuszin. Ich erinnerte mich jedoch, dass seit Jahrzehnten bekannt war, dass Bodenmikroben eine erstaunliche Vielfalt bei ihrer Nahrungswahl an den Tag legen. Wissenschaftler begannen sich in den 1950ern für dieses Phänomen zu interessieren, als bemerkt wurde, dass der Gehalt vieler schwer abbaubarer Schadstoffe in verseuchten Gebieten viel geringer war als erwartet. Es stellte sich heraus, dass ein Großteil der Erklärung die rasche Evolution sich schnell vermehrender Organismen wie Bakterien war. Jede sehr energiereiche Substanz stellt ein mögliches Festessen – und daher eine ökologische Nische – für jeden Organismus dar, der die für die Verdauung nötigen Enzyme besitzt und so die gespeicherte Energie freisetzen kann. Das Vorhandensein hoher Konzentrationen eines solchen Stoffes stellt daher einen starken evolutionären Anreiz dar, der die Entwicklung der benötigten Enzyme in den Mikroorganismen antreibt, die damit in Kontakt kommen. Dies ist zudem ganz besonders der Fall, wenn die Substanz nicht einfach abzubauen ist, denn dann stehen die Chancen gut, dass die meisten anderen Organismen in der Umgebung die nötigen Abbauenzyme nicht besitzen. 1952 wurde vorgeschlagen, dass diese Kräfte ohne weiteres so stark sein könnten zu garantieren, dass die Evolution – wenn sie genug Zeit hätte – zu Mikroben führen würde, welche die Fähigkeit haben, alles zu verdauen, was wir ihnen vorwerfen, vor-

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ausgesetzt es basiert auf Kohlenstoff und ist reich genug an Energie, um eine lohnende Kraftquelle darzustellen. Dem wurde der ungemein einprägsame Name »mikrobielle Unfehlbarkeits-Hypothese« gegeben. Es stellte sich zwar als leichte Übertreibung heraus – niemand hat zum Beispiel bis jetzt den Mikroorganismus entdeckt, der Teflon® essen kann –, doch Studien der letzten paar Jahrzehnte bestätigten das Prinzip im Allgemeinen. Amerikanische Wissenschaftler sammelten in einer geologischen Untersuchung Fallstudien, die zeigten, dass Mikoorganismen wesentliche Mengen einer Vielfalt von organischen chemischen Schadstoffen im Abwasser abbauten. Ölteppiche, chlorhaltige Lösungsmittel, Pestizide – was auch immer: Bodenbakterien lernten fast alles zu verdauen, was ihnen zugeworfen wurde, und hinterließen nur harmlose Überreste wie Kohlendioxid und Wasser. Die ersten Anläufe der Wissenschaftler, diese Kraft nutzbar zu machen, scheiterten, weil sie versuchten, maßgeschneiderte Organismen zu erfinden, um nachzuahmen, was die Natur bereits sehr gut machte. Mit der Zeit realisierten die Forscher jedoch, dass sie einfach nicht so geschickt waren (und, noch treffender, so schnell) wie die Kräfte der Natur. Aus diesen Beobachtungen entstand die Bioremediation: die Ausnutzung der Fähigkeit der Evolution, in Mikroorganismen neue Verdauungsfunktionen hervorzubringen, um gezielt verschmutzte Umgebungen zu reinigen. »Superfund« war der Name einer US-Regierungsinitiative, Forschung zur Bioremediation zu stimulieren und zu kommerzialisieren. In Dresden schloss sich für mich der Kreis mit diesem Gedankengang, indem ich zurück auf meine ursprüngliche Grübelei über das Lysosom als unzulängliches Giftmüll-Entsorgungssystem kam. Das Lysosom beschäftigt sich jetzt schon mit den Abfallprodukten der Zelle, indem es sie mit Enzymen in ihre Einzelteile aufspaltet. Es besitzt jedoch nicht die Fähigkeit, mit allen möglichen Abfallstoffen fertig zu werden. Das ist genau das, was man von der Evolutionstheorie her erwarten würde. Sie erinnern sich von Kapitel 3 her, dass die Evolution Ihren Körper so auslegt, dass er so lange hält, wie es Ihre Umweltnische erlaubt. In der Altsteinzeit, in der wir entstanden, bedeutete das etwa drei Jahrzehnte – deutlich weniger als Lipofuszin oder arteriosklerotisches Cholesterin braucht, um sich in lebensbedrohlichem Maße anzuhäufen. Aus diesem Grund hat sich die Evolution nie die Mühe gemacht, das Lysosom mit Enzymen auszustatten, die mit diesen Abfällen umgehen können. Sie hatte nie einen guten Grund dazu. Wie wir jedoch gesehen haben, scheint es sehr wahrscheinlich, dass Evolutionskräfte Bodenmikroorganismen dazu angetrieben haben, diese Fähigkeiten zu entwickeln, um eine neue Kraftstoffquelle auszunutzen – für sie eine Frage des täglichen Überlebens. Dies wird nicht nur von der Evolutionstheorie und der mikrobiellen Unfehlbarkeits-Hypothese so vorausgesagt, sondern es scheint auch durch das Fehlen großer Lipofuszin-Anhäufungen in Massengräbern bestätigt zu werden: Wenn es nicht so wäre, hätten diese Orte alle ein unheimliches Leuchten um sich herum, ein Phänomen, das aber auf billige Horrorstreifen beschränkt ist. Plötzlich fügte sich alles zusammen. Der erfinderische, metaphorische Funke war auf den sehr konkreten Treibstoff von Daten im sauerstoffreichen Umfeld der Evolutionstheorie gefallen und in meinem Gehirn begann ein Feuer zu brennen. Diese beiden Beobachtungen bedeuteten, dass wir eine Art medizinische Bioremediation durchführen konnten, bei der wir die Bodenbakterien identifizieren würden, die

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bereits den nicht abgebauten Müll nach unserem Tod aufräumen, und die Enzyme bestimmen, die sie dazu befähigen. Dann würden wir diese Enzyme in die Lysosomen von noch lebenden Menschen injizieren, damit sie davon profitieren. Abbildung 1 zeigt diesen Zyklus grafisch. Abbildung 1: Medizinische Bioremediation, welche die mikrobiellen Enzyme ausnutzt, die Leichen zu Kompost umsetzen, könnte viele der Prozesse verzögern, die junge Menschen überhaupt erst alt werden und letzten Endes sterben lassen.

Jung

Menschliche Zellen

Alt

Tot

Gene/Enzyme

Zersetzt

Mikroben

Diese Enzyme würden unseren zellulären Rezyklierzentren neue Kräfte geben und ihnen erlauben Materialien zu verarbeiten, die heute unabgebaut in uns bleiben. Dies würde ihre krankhafte Anhäufung nicht nur verhindern, sondern rückgängig machen. Unsere Gehirne würden von Neurofibrillen gesäubert; die sterbenden Makrophagen in unseren Arterien würden zu neuem Leben erweckt, da sie das giftige, oxidierte LDL ausräumen dürften, und das nekrotische Gefäßgewebe könnte endlich heilen; Blinde würden wieder sehen. Alternde Zellen im ganzen Körper, die an ihrem eigenen Müll ersticken, würden wieder sauber und wie neu. Wenn ich neue Ideen habe, gebe ich mir normalerweise einige Tage, um Fehler darin zu finden, bevor ich jemand anderes damit konfrontiere. Dieses Mal fühlte ich mich meiner Sache jedoch äußerst sicher. Die Kaffeetasse absetzend suchte ich die Halle nach Dr. Brunk ab. Ich entdeckte ihn am anderen Ende des Raumes: rundlich, ergrauend, ernst, doch mit mitfühlender Miene, die an einen alternden, sozialen Kreuzritter erinnerte. Nach wenigen, entschlossenen Schritten stand ich ihm gegenüber. »Hör mal, Ulf«, sagte ich rasch, »ich habe gerade eine fabelhafte Idee gehabt …«

Ein schneller, oberflächlicher Test Brunks Reaktion enttäuschte mich ein wenig, obgleich ich nicht sicher war, wieviel davon seine Beurteilung der Machbarkeit des ganzen, inhärent verwegenen Planes widerspiegelte, oder ob es meine etwas wirre, brühwarme Darstellung war. Vielleicht

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war es einfach nordische Vorsicht. In jedem Fall war klar, dass Brunk, obwohl er den Ansatz nicht ablehnte, keine Selbstentzündung durch meine weiß glühenden Hirnwellen erfuhr. Trotzdem drängte ich ihn und fragte ihn nach Möglichkeiten, wie man vorläufige Tests der Idee durchführen könnte. Wir stimmten überein, dass als erstes die Robustheit des eigentlichen Fundaments des Luftschlosses geprüft werden musste, das ich soeben errichtet hatte: die Idee, dass Bodenmikroorganismen tatsächlich routinemäßig das Lipofuszin von Leichen verdauen. Zum Glück gab es einen direkten Weg, einen solchen Test durchzuführen: Bodenmikroorganismen von einem Gelände zu gewinnen, das wahrscheinlich reich an menschlichen Überresten ist, und dann zu prüfen, ob diese Lipofuszin im Reagenzglas abbauen konnten. Es stellte sich heraus, dass der vermeintlich leichte Teil – das nötige Lipofuszin zu besorgen, um die Fähigkeiten der Friedhofsbakterien zu testen – fast unmöglich zu realisieren war. In den meisten unserer Zellen gibt es nur kleine Mengen Lipofuszin und die Gewebe, in denen es vermehrt auftritt (wie dem Herz), sind weniger verfügbar. Eine nützliche Menge davon zu ergattern war daher eine Herausforderung. Brunk meinte jedoch, er könne mir eine Charge eines exzellenten Ersatzes organisieren: synthetisches Lipofuszin, mit dem die Experten auf diesem Gebiet arbeiten. Es wird hergestellt, indem man Mitochondrien UV-Strahlung aussetzt, um Quervernetzungen in ihren Membranproteinen zu erzeugen. Die entstehende, widerspenstige Schmiere hat dasselbe Fluoreszenz-Spektrum wie das Original und scheint auch dieselben physikalischen und chemischen Eigenschaften zu haben – was man auch erwarten würde, da Experten annehmen, dass Lipofuszin größtenteils der Rest erfolglos abgebauter Mitochondrien ist, die durch die Einwirkung freier Radikale geschädigt und im Lysosom schwelend zurückgelassen wurden. Als nächstes müsste man Mikroorganismen von einem Boden sammeln, der einem reichen Angebot an Lipofuszin ausgesetzt worden war, um diejenigen herauszusuchen, die nach meiner Hypothese für den Abbau verantwortlich waren. Ich dachte sofort an John Archer, den Mann, der später den Witz über den »glühenden Friedhof« machen würde und in Cambridge an Bioremediation arbeitete. Als solcher war er sehr versiert in den von den Wissenschaftlern dieses Zweiges verwendeten Techniken der Isolation und Kultivierung von Bakterienstämmen, die klassische Giftmüllstoffe verdauen konnten. Er konnte auch die Gene identifizieren und klonieren, welche die verantwortlichen Enzyme produzierten. Wenn ich seine Dienste beanspruchen könnte, könnten wir dasselbe für Lipofuszin verdauende Hydrolasen tun.

Grabräuber John war zum Glück sofort von der Idee begeistert und bereit es auszuprobieren. So geschah es, dass sich seine Doktorandin, wie ein verrückter Wissenschaftler, in der Dämmerung eines späten Sommertages im Midsummer Common wiederfand und im Boden eines ehemaligen Massengrabes grub. Sie suchte mit ihrer Gartenschaufel nicht Leibe, sondern winzige, mysteriöse Kreaturen, denen die Kraft innewohnte, den störrischsten, aggregierten Müll in unseren Körpern zu Kompost werden zu lassen.

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Das Gefühl, in einen grausigen Horrorfilm vertieft zu sein, dauerte nur einen Moment. Als sie im Erdreich geschaufelt und einen Teil ins Labor gebracht hatten, isolierten John und seine Studenten die Mikroben und setzten sie in Petri-Schalen mit dem synthetischen Lipofuszin als ihre einzige mögliche Nahrungsquelle. Dann warteten wir ab, ob die Kraft der natürlichen Auslese die Existenz von Stämmen enthüllen würde, die auf einer reinen Lipofuszin-Diät überleben konnten. Die isolierten Mikroben begannen unter dem Fluoreszenzlicht der spezialisierten Mikroskope fast sofort das charakteristische rötliche Glühen von Lipofuszin abzugeben. Das war noch kein Erfolg, denn es bedeutete lediglich, dass die Mikroben das Material verschlingen; sie verdauten es nicht unbedingt. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich klare Unterschiede zwischen den verschiedenen Stämmen abzuzeichnen begannen. Die meisten Mikrobenkolonien befanden sich in einem Wachstumsstillstand, sie konnten wegen des Nahrungsmangels nicht gedeihen. Einige wenige genossen aber eindeutig ein makabres Festmahl: Sie vermehrten sich rasch, während ihre hydrolytischen Enzyme die störrische Schlacke langsam in brauchbare Einzelteile abbauten und ihre komplexen organisch-chemischen Bindungen aufbrachen, um die gespeicherte Energie freizusetzen. Bald hatten wir eine Probe von Mikroorganismen, die mit Enzymen zur Verdauung von Lipofuszin ausgerüstet waren, so wie die Enzyme in Ihrem Magen eine Pizza verdauen. Die Hypothese war bestätigt. Die nächste Herausforderung bestand darin, diese Enzyme in unsere eigenen Lysosomen zu bringen. Niemand hatte dies bisher geschaff t und in gewisser Hinsicht steht die Sache immer noch dort, wo sie war, als ich meine Arbeit mit John Archer beendete. Zum Glück müssen wir jedoch nicht ein ganz neues Feld der Medizin erschaffen, um diese Idee (die ich von nun an »LysoSENS« nennen werde) in Gang zu setzen. Dies deshalb, weil die dafür notwendige grundlegende Biotechnologie bereits klinisch angewandt wird. Bahnbrechende Mediziner hatten schon seit mehreren Jahren »fremde« lysosomale Enzyme bei Patienten eingeführt – nicht gegen Alterung, sondern in lysosomalen Speicherkrankheiten.

Den Abfluss reinigen Die Syndrome, von denen wir heute wissen, dass sie aus Mutationen in Genen resultieren, die für unseren normalen Satz an lysosomalen Enzymen kodieren, waren als Speicherkrankheiten seit Jahrzehnten bekannt, bevor Forscher herausfanden, was sie verursachte. Als ihre Entstehung jedoch erst mal geklärt war, wurde eine Methode zur Behandlung der meisten LSK offensichtlich: Enzymersatztherapie (EET). In Menschen, denen ein Enzym für einen häufigen Stoff wechselmüll fehlt, häufen sich unabgebaute zelluläre Abfallprodukte im Lysosom an (und auch außerhalb im Hauptteil der Zelle) und es kommt unvermeidlich zu Fehlfunktionen der Zelle. Daher, so dachte man, würde das zelluläre Rezyklierzentrum wieder normal funktionieren, wenn man das richtige Enzym ins Lysosom bringen konnte. Der aufgetürmte Abfall würde zerlegt, die Zellen wieder gesund und die Patienten könnten ein normales Leben führen. Nach wenigen Jahrzehnten Forschung werden die Opfer von drei der häufigsten LSK heute erfolgreich mit solchen Therapien behandelt. Es gibt zum Beispiel unge-

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fähr 4000 Menschen, die jetzt ein normalen Leben leben, obwohl sie Morbus Gaucher haben. Dies verdanken sie regelmäßigen Injektionen des lysosomalen Enzyms, zu dessen Herstellung ihre Zellen selbst nicht fähig sind. Der Entwicklungsprozess der Medikamente war recht einfach, wenngleich technisch anspruchsvoll. In einer Krankheit nach der anderen haben Wissenschaftler das Enzym identifi ziert, dessen Absenz die Krankheit verursacht. Dann modifizierten sie es auf verschiedene Weise, um es injizierbar zu machen. Die Zellen nehmen es auf und bringen es zu den Lysosomen des Patienten, wo sie genauso funktionieren wie das gleiche Enzym in uns Gesunden, wenn es von unseren eigenen Zellen produziert wird. Sie beobachteten, wie die Symptome verschwanden, Leben verlängert wurden und die Patienten ein Leben führen konnten, das der Rest von uns als selbstverständlich betrachtet. Wir stehen natürlich alle demselben fundamentalen Problem im Falle von Krankheiten durch langfristiges lysosomales Versagen gegenüber: Wir werden letztendlich alle an altersbedingten »lysosomalen Speicherkrankheiten« (wie etwa altersbedingter Neurodegeneration, Makuladegeneration und Arteriosklerose) leiden, obwohl nur ein winziger Anteil der Bevölkerung von den heute anerkannten, erblich bedingten (Morbus Gaucher und andere) betroffen ist. Obwohl die genaue Entstehung der beiden Arten der LSK verschieden ist (in erblichen LSK seltene genetische Mutationen in Genen für lysosomale Hydrolasen, die sonst Teil der evolutionären Standardmitgift einer Spezies sind, verglichen mit altersbedingten Krankheiten, in denen die für den Abbau von Neurofibrillen, A2E usw. nötigen Enzyme nie entstanden sind), ist der molekulare Charakter sowohl der erblichen als auch der altersbedingten LSK im Wesentlichen der gleiche – und als Anti-Aging-Bioingenieur reicht das, um unseren Auftrag zu erledigen, nämlich den sich anhäufenden molekularen Schaden zu entfernen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir uns einer Reihe von Herausforderungen stellen. Glücklicherweise stehen uns in allen Fällen Optionen zur Verfügung, mit denen wir bereits Erfahrung haben oder für welche die Lösungen klar absehbar sind und die von Forschern auf anderen Gebieten der Biomedizin bereits entwickelt werden.

Erste Herausforderung: Geeignete Enzyme identifizieren Unser »Grab-Raubzug« auf Midsummer Common bewies, dass die Enzyme existieren, welche die hochgradig quervernetzten Überbleibsel von Mitochondrien abbauen, von denen man glaubt, dass sie den größten Anteil von Lipofuszin ausmachen. Wir wissen jedoch immer noch nicht genau, welches Enzym oder welche Reihe von Enzymen die Aufgabe erledigen. Zudem werden Enzyme, welche das synthetische Lipofuszin abbauen, nicht ausreichen: Wir müssen auch andere Enzyme identifizieren, die mit Abfällen umgehen können, die Lysosomen in einer Vielfalt von Geweben verstopfen und mit verschiedensten Krankheitszuständen einhergehen. Dies bedeutet nicht notwendigerweise Enzyme, die jedes bekannte Aggregat, wie etwa Neurofibrillen, abbauen. Wie wir oben diskutierten, sind die von uns beobachteten Verunreinigungen nicht zwingend die, welche Probleme verursachen: Sie könnten mehr Pulverdampf als Gewehr sein. Es ist beispielsweise möglich, dass eigent-

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lich ein anderer Abfallstoff für den Rückstau des Systems verantwortlich ist. Diese Aggregate, die sich wie Straßenmüll auftürmen, wären nur das Resultat dessen, was passiert, wenn das Lysosom mit seiner normalen Charge nicht mehr nachkommt. Tatsächlich ist die Präsenz unabgebauten Materials vielleicht nicht einmal das Problem: In mehreren Krankheiten haben einige Forscher Datenmaterial präsentiert, welches nahelegt, dass das Problem eine Substanz (zum Beispiel A2E bei Makuladegeneration) ist, welche die Pumpaktivität direkt hemmt, die dafür verantwortlich ist, dass das Lysosom sauer genug bleibt, damit seine Enzyme funktionieren. Auch darum müssen wir uns zum Glück nicht sorgen. Einmal mehr ist es nicht unsere Aufgabe, die Einzelheiten des Stoff wechsels auszusortieren, sondern den altersbedingten Schaden aufzuräumen. Hierzu können wir dem Beispiel der Bioremediations-Experten folgen: Enzyme auf das Problem werfen, bis es gelöst ist (lysosomale Funktion wiederhergestellt), und dann die Enzyme identifizieren, die es lösten. Im Prinzip ist das eine einfache Aufgabe, aber als das Gebiet der Bioremediation vor 30 Jahren entstand, war es tatsächlich eine lange Schinderei, aus den Hunderten von Enzymen in einem Stamm von Mikroorganismen die für den Abbau der fraglichen Abfälle verantwortlichen einzugrenzen. Einer der Gründe für meinen Optimismus ist daher die Tatsache, dass in jenen Tagen soviel Fortschritt gemacht wurde – denn heute haben wir für diese Aufgabe sehr viel raffiniertere molekulare Werkzeuge zur Verfügung. Eine Methode nennt sich molekularer Fingerabdruck, aber der Begriff ist etwas irreführend. Er suggeriert einen Prozess, mittels dessen man ein klares und eindeutiges Merkmal eines Individuums finden kann – wie einen Fingerabdruck – und dann das Individuum, das dieses Merkmal trägt. Stattdessen basieren molekulare Fingerabdrücke auf der Tatsache, dass die Mitglieder einer eng verbundenen Familie von Organismen dazu tendieren, Gene mit größtenteils ähnlichen Sequenzen aufzuweisen. Zudem haben Gene für eine Palette von Enzymen mit mehr oder minder entsprechenden Funktionen in einer solchen Familie tendenziell ähnliche Codeabschnitte. Dies erlaubt es uns, die relevanten Gene (und damit die Enzyme) auf zweierlei Arten auszusortieren. Eine Möglichkeit besteht darin, uns auf eine Klasse von Enzymen zu konzentrieren, nach deren kodierenden Genen wir suchen (in unserem Fall Hydrolase-Enzyme), um anschließend nach den Genen zu fahnden, die dem allgemeinen Muster entsprechen und in großen Mengen exprimiert werden, wenn der Elternorganismus sich am Inhalt der kaputten Lysosomen labt. Die andere Option ist, innerhalb einer Gemeinschaft von Organismen diejenigen zu identifizieren, die am besten gedeihen, wenn man ihnen lediglich diese Inhalte als Nahrung gibt – und die daher die Gene tragen, die für die Enzyme kodieren, welche die Inhalte am effektivsten zerstören. Ein anderes, leistungsstarkes Hilfsmittel, das uns zur Verfügung steht, sind die DNA-Mikroarrays oder Genchips. Dies sind Instrumente, die in Echtzeit ermitteln, welche Gene eines Organismus in einem bestimmten Moment aktiv exprimiert werden. Wenn wir also Stämme isolieren können, denen es trotz einer lysosomalen Abfalldiät gut geht, dann können wir ihre genetische Bibliothek sequenzieren und testen, welche dieser Gene intensiv gebraucht werden, wenn sie von dem Zeug schlemmen.

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Wir können auch Techniken benutzen, die es uns erlauben, gezielt einen »Knockout« (das Entfernen) eines Gens in solchen Stämmen vorzunehmen und sie dann wieder zu testen. Wenn wir einen Knock-out eines bestimmten Gens in einem Mikrobenstamm ausüben und danach feststellen, dass die Mutanten bei einer Kost verhungern, die zuvor ihre Version eines Schlaraffenlands war, dann können wir schlussfolgern, dass das fragliche Gen für ein Protein kodierte, das für den Prozessablauf der Verdauung dieser Stoffe kritisch ist. Wir können diese Gene identifizieren und prüfen, ob die Enzyme, für die sie kodieren, die ausschlaggebenden sind, welche die Schwachstelle in unserem menschlichen hydrolytischen Arsenal beheben.

Zweite Herausforderung: Die Enzyme in die Zellen bringen Wenn wir Enzyme haben, welche die Aufgabe erledigen können, müssen wir eine Möglichkeit finden, sie in die sie benötigenden Zellen zu kriegen. Nicht jeder Zelltyp wird mit derselben Abfallsorte konfrontiert: Wie wir oben gesehen haben, sind bestimmte Krankheitszustände durch spezifische Aggregate von Abfallprodukten charakterisiert. Dies ist das Resultat der besonderen Stoff wechselprozesse, die sie produzieren (was im Falle von A2E bei Makuladegeneration besonders wahrscheinlich ist). Wieviel wir tun müssen, um diese Herausforderung zu meistern, wird davon abhängen, wie genau wir sie überhaupt in den Körper bringen können – wofür es wiederum mehrere Optionen gibt. Im Augenblick beispielsweise behandeln Ärzte LSK-Patienten, indem sie ihnen abgeänderte Formen ihrer fehlenden lysosomalen Enzyme intravenös injizieren. Das Enzym nützt den Patienten natürlich nichts, wenn es einfach im Blutstrom herum schwimmt, und es könnte sogar Schaden anrichten, wenn es aktiv wäre (da es funktionelle Proteine angreifen könnte). Die Enzyme sind daher so optimiert, dass sichergestellt ist, dass sie sich dorthin begeben, wo sie benötigt werden. Zunächst werden sie auf die richtigen Zellen ausgerichtet. In Morbus Gaucher beispielsweise sind Makrophagen besonders anfällig für den Enzymmangel, der die Krankheit verursacht. Als Eintrittspass wird das Enzym daher an Peilmoleküle gekoppelt, die bereits von Makrophagen erkannt werden. Derselbe Trick könnte verwendet werden, um die für die Ausräumung derjenigen Substanzen, die dazu führen, dass Makrophagenlysosomen in Arteriosklerose versagen, notwendigen Enzyme gezielt loszuschicken. Diese Methode hat den Vorteil, dass sie relativ einfach kurzfristig durchzuführen ist und sogar bereits für eine anerkannte Krankheit verwendet wird (sodass wir einen großen praktischen, klinischen Erfahrungsschatz haben, auf den wir uns stützen können). Sie begegnet jedoch einer Reihe von Einschränkungen. Vor allem gibt es große Schwierigkeiten, sie dafür einzusetzen, Enzyme über die schützende BlutHirn-Schranke zu bringen, die Ihr Gehirn sehr wirkungsvoll von vielen potentiell giftigen, in Ihrem Blut schwimmenden Substanzen, abschirmt und schützt. Enzyme zu injizieren, die das Gehirn nicht erreichen können, wird ihren Nutzen offensichtlich stark einschränken – und stellt eine fast vollständige Barriere gegen ihren Einsatz in altersbedingter Neurodegeneration dar. Sogar heute entwickeln einige Morbus-Gau-

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cher-Patienten als Folge ihres Enzymdefizits noch neurologische Komplikationen. Injizierte Hydrolasen helfen diesen Patienten wenig. Erfreulicherweise entwickeln die Wissenschaftler neue Konzepte, wie Proteine über die Blut-Hirn-Schranke zu bringen sind – und in Zukunft dürfen wir viel wirksamere Transportsysteme erwarten. In relativ kurzer Zeit sollte es uns gelingen, eine Form von Zelltherapie zu entwickeln, in der Patienten mit Zellen geimpft werden, die das benötigte Enzym produzieren und es in den Blutstrom oder in die die Zellen umgebende Flüssigkeit absondern. 14 Dies würde wie eine biologische Version des Nikotinpflasters wirken und eine kontinuierliche Dosis des Enzyms bereitstellen. Das könnte extrem nützlich sein: Heutzutage sind LSK-Patienten auf regelmäßige Injektionen heroischer Mengen des benötigten Enzyms angewiesen, und es ist möglich, dass die schiere Menge der (mehreren) benötigten Enzyme, die zur Bekämpfung aller Arten lysosomalen Versagens infolge Alterung oder altersbedingter Krankheit nötig sind, Injektionen unpraktikabel macht. Ein Grund für die Notwendigkeit von so viel Enzym besteht darin, dass einige dieser Enzyme Proteasen sind – Proteine also abbauen. Enzyme sind aber auch Proteine und daher zerstören sich Proteasen im Lysosom selbst und auch gegenseitig. Ideal wäre es natürlich, unsere eigenen Zellen mittels somatischer Gentherapie so zu verändern, dass man DNA einführt, die die relevanten Zellen instruiert, eben jene Enzyme zu produzieren, die sie für ihre Gesundheit brauchen. Dies und auch die Zelltherapie-Option sind beide noch weit von der Anti-Aging-Klinik entfernt – aber auch hier werden die größten Hürden erfreulicherweise zuerst von einer Reihe anerkannterer Krankheiten angegangen, von Sichelzellenanämie bis zum schweren kombinierten Immundefekt, bei dem Säuglinge in sterilen Plastikzelten isoliert werden müssen. Bis zu einem bestimmten Grad können wir also erwarten, bei ihnen Trittbrett zu fahren. Sobald die somatische Gentherapie für die Behandlung relativ gängiger genetischer Erkrankungen zur Verfügung steht, wird sie zweifellos von LSK-Forschern aufgegriffen, um die Gene für diejenigen lysosomalen Hydrolasen zu ersetzen, die ihren Patienten fehlen. Auch hier wird die konkrete Anwendung der Gentherapie, die LSK-Patienten bessere Therapien anbietet, eine nützliche Quelle für Information und Zusammenarbeit sein, um eine Gentherapie-Version für das LysoSENS-Projekt zu entwickeln.

Dritte Herausforderung: Die Enzyme in die Lysosomen bringen Das ist zu der obigen, zweiten Herausforderung analog: Lysosomale Enzyme nützen uns nichts – sie könnten uns sogar Probleme bereiten –, falls sie in den sie benötigenden Zellen enden (oder im Fall der Gentherapie synthetisiert werden), aber dann nicht zu den Lysosomen gelangen, in denen sich der Müll anhäuft und wo der Säuregrad herrscht, der ihnen ihre Arbeit ermöglicht. Auch hier wird eine mögliche Lösung bereits in den LSK verwendet: die Verwendung von Molekülen des Zuckers Mannose6-Phosphat, der vom Lysosom erkannt und aufgenommen wird – samt Fracht. Auch in diesem Fall sind wir jedoch dabei, ein paar zusätzliche Zaubertricks zu lernen. Vielleicht gelingt es uns durch die Hintertür einzusteigen, indem wir ein

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Visiersystem, das derzeit sicherstellt, dass Abfälle zum Lysosom gebracht werden, in eine Methode umwandeln, die Enzyme in den Kern desselben Systems sendet. (Dieses System nennt sich Chaperon-vermittelte Autophagie.) Die Lysosomen würden das Enzym so aufnehmen, als wäre es eine der zahlreichen Sorten zellulärer Trümmer, dabei aber eine Hydrolase schlucken, die seine normale Funktion bewahren und wiederherstellen kann. Vielleicht gelingt es uns auch, die Visiersysteme auszunutzen, die bereits von den Organismen verwendet werden, von denen wir die fraglichen Enzyme ursprünglich isolierten. Bioremediation verwendet typischerweise Bakterien als bevorzugten Mikroorganismus, weil sie ihre Nahrung rasch verdauen. Pilze werden dagegen normalerweise als zu langsam wirkend und wachsend angesehen, um eine praktikable Lösung für Ölteppiche oder Orte chemischer Kontamination zu sein. Diese Aspekte wären in einem sich langsam anhäufenden Giftmüllproblem mit niedrigen Mengen, wie altersbedingtem lysosomalen Versagen, jedoch ein geringeres Problem. Der Vorteil von Pilzen ist, dass sie – wie wir, aber im Gegensatz zu Bakterien – eine eigene, lysosomenartige Struktur namens Vakuole haben, die viele der Haupteigenschaften mit seinem menschlichen Pendant teilt (einschließlich beispielsweise der Notwendigkeit eines sauren, internen Milieus, um richtig zu funktionieren). Enzyme eines solchen Ursprungs könnten daher bereits mit einer Reihe von Eigenschaften ausgerüstet sein, die für das humane LysoSENS-Projekt nützlich wären.

Vier te Herausforderung: Mögliche Nebenwirkungen Auch wenn es uns gelingt, nützliche Enzyme zu den Lysosomen betroffener Zellen zu bringen, müssen wir immer noch verhindern, dass uns die Intervention selbst schadet. Ein mögliches Problem ist, dass die besagten Enzyme, wie bereits angedeutet, auch anderswo als im Lysosom aktiv sein könnten. Die Tatsache, dass lysosomale Enzyme, wie bereits mehrfach erwähnt, typischerweise eine sehr saure Umgebung benötigen, um richtig zu funktionieren, lässt vermuten, dass dies keine größere Hürde darstellt. Wahrscheinlich werden sie daher im Hauptteil der Zelle nahezu inaktiv sein. Wir könnten das Enzym jedoch noch weiter modifizieren, sodass es nur aktiv wird, nachdem es vom Lysosom aufgenommen wurde. Eine mögliche derartige Modifikation wäre das Anhängen einer längeren Sequenz von Aminosäuren, die das Enzym inaktiv halten würde. Sie würde durch Enzyme abgespalten, die im Lysosom präsent und aktiv sind, wodurch die aktive Form für ihren Dienst am Zielort freigesetzt würde. Dieses Konzept klingt ziemlich vertrackt, es wird jedoch bereits von der Zelle für die sichere Anlieferung einiger Mitglieder des Standardsets lysosomaler Enzyme verwendet. Die Technik sollte daher ohne allzu große Heldentaten anpassbar sein. Ein weiteres potentielles Problem ist, dass das Enzym wie jedes »fremde« Protein eine Immunreaktion hervorrufen könnte. Die Erfahrung mit LSK legt jedoch nahe, dass dies unproblematischer sein wird als man zunächst erwarten würde. Bedenken Sie, dass diese Proteine für eine Person, die ohne die Fähigkeit geboren wurde, die hydrolytischen Enzyme zu produzieren, die wir als selbstverständlich betrach-

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ten, genauso »fremd« sind, wie es mikrobielle Hydrolasen für uns alle sein werden. Normalerweise lernen wir unsere körpereigenen Proteine zu tolerieren, weil unser Immunsystem ihnen schon früh vor der Geburt und in der Kindheit ausgesetzt ist, wodurch es sie als »selbst« erkennt. Da sie solchen Proteinen früh im Leben nie ausgesetzt wurden (da ohne das Gen das Protein nicht konstruiert werden kann), fehlt LSK-Opfern diese Immuntoleranz. Bei diesen Patienten kommt es daher zu Immunreaktionen. Beruhigenderweise sind sie jedoch immer mild und vergehen mit der Zeit. Dies scheint deshalb so zu sein, weil Enzymersatztherapie die Enzyme auf eine Weise zum Lysosom bringt, die der Zelle nicht erlaubt, sie zu zerhacken und sie auf der Zelloberfläche zur Schau zu stellen, was das argwöhnische Immunsystem auf ihre Präsenz aufmerksam machen würde. Außerdem müssen wir auch dann nicht notwendigerweise kapitulieren, wenn die Erfahrung mit den neu eingeführten Enzymen nicht dieselbe ist (zum Beispiel wenn wir Gründe finden, Gentherapie oder Chaperon-vermittelte Autophagie statt EET zu verwenden). Eine übermäßige Immunantwort zu dämpfen ist ein notwendiger Teil vieler medizinischer Behandlungen, von Organtransplantationen bis zu rezeptfreien Allergiemitteln, und wir werden laufend besser darin. Mit der Zeit gelingt es uns vielleicht sogar, das Protein im Knochenmark zu produzieren, wie bereits mit einigen lysosomalen Enzymen geschehen. Dies könnte dank der Rolle der Knochenmarkszellen in der Immunität auch helfen, Toleranz zu induzieren.

Innen, außen Wie Sie sehen, gibt es viele Hürden, die wir bewältigen müssen, bevor wir neuartige hydrolytische Enzyme einsetzen können, um mit ihnen Abfall aus unseren Zellen auszuräumen und damit viele der uns schwächenden, durch Alterung verursachten Gesundheitsprobleme zu verhindern oder rückgängig zu machen. Wie ich jedoch aufgezeigt habe, scheinen vollkommen plausible Lösungen für alle diese Hürden zu existieren. Sie werden entweder bereits zur Behandlung von anerkannten (vererblichen) LSK eingesetzt oder haben sonst klare Wege zur Anwendung, die von Forschern auf der ganzen Welt intensiv studiert werden. Haben wir die benötigten Enzyme erst identifiziert, könnte eine Therapie der ersten Generation einer heutigen EET für eine lysosomale Speicherkrankheit ähneln: teuer, unbequem und mit beschränktem Anwendungsbereich, aber lebensrettend. Mit der Zeit werden wir die Therapie kontinuierlich verbessern, sie umfassender machen, ihre Sicherheit und Wirksamkeit im Gleichschritt mit dem Fortschritt der Gentherapie und anderen Hilfstechnologien erhöhen, von denen auch die LSK-Behandlungen profitieren können. Wie in den vorangehenden Fällen wird das Erreichen dieses Zieles von einer interdisziplinären Synthese von Forschungsgebieten abhängen, die anscheinend wenig mit Alterung zu tun haben, sowie von der kreativen Arbeit von Wissenschaftlern, die existierende Technologien auf neue, mit dem Alterungsprozess zusammenhängende Probleme anwenden. Es ist eindeutig nötig, private und öffentliche Mittel für diesen zweiten Teil der Gleichung zu mobilisieren, der an einem klaren Investitionsmangel hinsichtlich finanziellem und geistigem Input leidet. Ohne einen derartigen Fort-

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schritt wird der größte Killer der modernen Welt weiterhin jeden Tag unsere Freunde, Verwandte und Mitmenschen scharenweise verkrüppeln, foltern und umbringen. Lassen Sie mich nun vom Müll innerhalb unserer Zellen zu gewissen Anhäufungen von Abfall kommen, die unsere Zellen umgeben. Wir erkunden, wie sie schaden, was wir dagegen tun können und wie die von ihnen ausgehenden Gesundheitsbedrohungen – und ihre therapeutischen Lösungen – eng mit dem Problem des lysosomalen Versagens verknüpft sind, das wir hier untersucht haben.

Anmerkungen 1

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Einige Daten legen nahe, dass der größte Einzelbeitrag zur Lipofuszin-Belastung von falsch abgebauten Mitochondrien kommt: Sie werden (wie wir in Kapitel 5 diskutierten) von Lysosomen aufgenommen, wenn sie mangelhaft werden. Mitochondriale Teile, die nicht sofort abgebaut werden, scheinen umfassende interne chemische Veränderungen durchzumachen. Diese werden durch ihre eigene Produktion an freien Radikalen angetrieben und durch die großzügige lysosomale Präsenz von »Transitionsmetallen« wie Eisen und Kupfer beschleunigt, die großflächige Schäden durch freie Radikale katalysieren können. Diese chemischen Reaktionen machen die mitochondrialen Überreste wegen der chemischen »Quervernetzung« seiner Moleküle durch diese Reaktionen (ähnlich wie die Versteifung alter Scheibenwischer) resistent gegen den Abbau. Dasselbe gilt übrigens für Experimente, die angeblich zeigen, dass verschiedene Substanzen – am bekanntesten Centrophenoxine (Lucidril®) – die Anhäufung von Lipofuszin reduzieren oder es sogar aus Zellen entfernen. Es scheint, dass diese Substanzen einfach den Transport von eher transitorischen Materialien in der Zelle erhöhen. Siehe: Porta, E.A.: Pigments in aging: an overview. Ann N Y Acad Sci. 2002 Apr, 959: 57-65; auch Katz: Arch Gerontol Geriatr 34 (3): 311-317; Dowson: Exp Gerontol 20 (6): 333-340; Andrews et al.: Neurobiol Aging 7 (2): 107113; Katz et al.: J Gerontol 38 (5): 525-531; and Kano et al.: Neurosci Res 33 (3): 207213. Brunk, U.T./Terman, A.: The mitochondrial-lysosomal axis theory of aging: accumulation of damaged mitochondria as a result of imperfect autophagocytosis. Eur J Biochem 2002, 269 (8): 1996-2002. De Grey, A.D.N.J.: The mitochondrial free radical theory of aging. 1999, Austin, TX: Landes Bioscience. Lusis, A.J.: Atherosclerosis. Nature 2000, 407 (6801): 233-241. De Grey, A.D.N.J.: Bioremediation meets biomedicine: therapeutic translation of microbial catabolism to the lysosome. Trends Biotechnol 2002, 20 (11): 452-455. De Grey, A.D.N.J./Alvarez, P.J.J./Brady, R.O./Cuervo, A.M./Jerome, W.G./McCarty, P.L./Nixon, R.A./Rittmann, B.E./Sparrow, J.R.: Medical bioremediation: prospects for the application of microbial catabolic diversity to aging and several major age-related diseases. Ageing Res Rev 2005, 4 (3): 315-338. De Grey, A.D.N.J.: Appropriating microbial catabolism: a proposal to treat and prevent neurodegeneration. Neurobiol Aging 2006, 27 (4): 589-595.

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8 Beachten Sie, dass NFI nicht identisch mit den bekannteren Amyloid-Plaques sind, die sich außerhalb der Nervenzellen von Alzheimer-Patienten ablagern – obwohl auch das ein Problem ist, welches ein funktionstüchtigeres Lysosom wahrscheinlich beheben könnte, wie wir in Kapitel 8 sehen werden. 9 Terman, A./Sandberg, S.: Proteasome inhibition enhances lipofuscin formation. Ann N Y Acad Sci 2002, 973: 309-312. 10 Nixon, R.A./Wegiel, J./Kumar, A./Yu, W.H./Peterhoff, C./Cataldo, A./Cuervo, A.M.: Extensive involvement of autophagy in Alzheimer disease: an immunoelectron microscopy study. J Neuropathol Exp Neurol 2005, 64 (2): 113-122. 11 Wie wir in anderen Kapiteln sehen werden, bewegen sich Behandlungen, die bei anderen Mitwirkenden neurodegenerativer Erkrankungen ansetzen – insbesondere den Amyloid-Plaques der Alzheimer-Krankheit – durch die Pipeline der Medikamentenentwickler und sind sogar in klinischen Versuchen. Aber abgesehen davon, dass das niemandem mit Niemann-Pick oder Parkinson helfen wird, scheint es auch unwahrscheinlich, dass die Beseitigung von Amyloid alleine ausreichen wird, um Alzheimer-Patienten wieder gesund zu machen. Dies wird später in diesem Kapitel diskutiert. 12 Der Bedarf an Vitamin A in diesem Zyklus erklärt, wieso ein Mangel dieses Vitamins zu Erblindung führen kann. 13 Butler, D./Brown, Q.B./Chin, D.J./Batey, L./Karim, S./Mutneja, M.S./Karanian, D.A./Bahr, B.A.: Degradative pathways responding to age-related protein accumulation involve autophagy and lysosomal enzyme activation. Rejuvenation Res 2005, 8 (4): 227-237. Du, H./Schiavi, S./Wan, N./Levine, M./Witte, D.P./Grabowski, G.A.: Reduction of atherosclerotic plaques by lysosomal acid lipase supplementation. Arterioscler Thromb Vasc Biol 2004, 24 (1): 147-154. 14 So schön es klingen mag, wir können diese Technik nicht einfach dazu benutzen, unseren Körper mit gesunden Zellen aufzufüllen, welche die nötigen Enzyme haben. Die vorhandenen Zellen wären nämlich immer noch mit Müll gefüllt, der definitionsgemäß nicht einfach von allein verschwinden wird. Im Falle einiger Zelltypen – am offensichtlichsten Neuronen – würden wir Zellen mit lahmen Lysosomen wohl auch nicht entfernen und mit neuen ersetzen wollen, auch wenn wir dies tun könnten.

8. Die zellulären Spinnweben entfernen

Unsere Zellen – und damit unsere Körper – werden in fortschreitendem Maße von proteinbasiertem Müll geschädigt, der sich über die Jahre in den Zellzwischenräumen anhäuft. Alzheimer ist wohl das bekannteste Beispiel dafür, aber es gibt andere, die ebenso fatal sind. Es zeichnet sich jedoch ein Ausweg für die Medizin und unsere Gesundheit ab: Jüngste und sehr vielversprechende Untersuchungen zeigen, dass unser Immunsystem selbst gegen diese gefährlichen Materialien eingesetzt werden kann.

Im vorangegangenen Kapitel sprach ich über den Müll, der sich mit dem Alter innerhalb unserer Zellen anhäuft – wie er zum biologischen Alterungsprozess beiträgt und wie man ihn loswerden kann. In diesem Kapitel liegt der Fokus auf dem Abfall, der sich außerhalb unserer Zellen und Gewebe anhäuft, ihn in Netze beschädigter Proteine verstrickt, ihre Funktion beeinträchtigt und so zur Alterung bzw. altersbedingten Krankheiten beiträgt. Der meiste Müll, den wir diskutieren werden, ist die eine oder andere Form von Amyloid. Wenn ich »Amyloid« sage, denkt natürlich fast jeder an das Beta-Amyloid-Protein (auch »Amyloid beta« genannt), das sich als die wachsartigen »senilen Plaques« um die Hirnzellen von Alzheimer-Patienten anhäuft. Doch viele andere, weniger bekannte Krankheiten (»Amyloidosen«) haben ihren Ursprung ebenfalls in abnormalen Proteinaggregaten dieses Typs. Die meisten Amyloide sind die Zellen fesselnde Molekülketten, die ursprünglich gesunde Proteine waren, die natürlicherweise in unserem Blut oder der Hirnflüssigkeit vorkommen. Ein breites Spektrum von Proteinen kann unter falschen Umständen zu Amyloiden werden, inklusive der leichten Ketten von Immunoglobulin, einem Hauptbestandteil der Antikörper Ihres Immunsystems; dem Protein Transthyretin, das für den Transport der Schilddrüsenhormone in Ihrem Blut verantwortlich ist; und ein kleines Protein (Inselzellen-Amyloid-Polypeptid oder IAPP – auch als Amylin bezeichnet), das Ihrem Körper in Zusammenarbeit mit Insulin hilft, den Blutzuckerspiegel zu regulieren. Was diese Proteine zu Fesseln werden lässt, die das Leben aus den Zellen und Organen quetscht, ist ihre Art der Faltung. Falsch gefaltete Proteine sind genau das, wonach sie klingen: Proteine, die aus ihrer korrekten Konstellation derart verbogen

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wurden, dass sie miteinander oder mit anderen Zellbestandteilen toxisch wechselwirken. Die Amyloidkrankheiten verursachenden Proteine enthalten Stellen innerhalb ihrer Struktur, die sich bei Exponierung leicht mit anderen Proteinen derselben Sorte verkleben. Dadurch verbinden sich immer mehr von ihnen, wie ein unheimlicher, selbstmontierender Gänseblümchenkranz. Diese klebrigen Stellen sind normalerweise innerhalb der komplexen Faltung der dreidimensionalen Architektur des Proteins sicher versteckt, gerade um solche Interaktionen zu verhindern. Falsche Faltungen entblößen solche Stellen und beginnen ein die Zelle erstickendes Netz zu spinnen. Viele Amyloiderkrankungen entstehen, weil die Patienten fehlerhafte Gene tragen, die defekte Proteinversionen produzieren. In einigen dieser Krankheiten fügt die zugrunde liegende Mutation verheerende Fehler in die Proteinstruktur selbst ein, wodurch sie sich an unangebrachten Stellen öffnet und dadurch die kritische »klebrige« Stelle in ihrer Struktur bloßlegt. Andere sind mit Enzymen verbunden, die ein Protein normalerweise in funktionelle Einheiten zerschneiden, wenn es aus der Proteinfabrik der Zelle austritt. Diese Mutationen bewirken, dass die Enzyme zu nahe an der kritischen Stelle schneiden, und befreien sie dadurch wiederum von der zurückhaltenden Einwirkung der restlichen, normalen Proteinstruktur. Ein weiterer Weg zu erblich bedingter Amyloidose sind Fehler in »Chaperon-Proteinen«, deren Aufgabe es ist, entstehenden (und potentiell amyloidogenen) Proteinen den Weg zu einer sicheren, nicht amyloidogenen Endform zu weisen. Doch zusätzlich zu diesen vererbten Proteinfaltungs-Krankheiten gibt es auch universelle Amyloidosen, die nicht aus Mutationen resultieren, sondern aus der fundamentalen Verwundbarkeit, der Proteine im Laufe ihrer kritischen Aufgabe im molekularen Strudel der zellulären Biochemie ausgesetzt sind. Da freie Radikale, Zucker (Zucker? Oh, ja. Siehe Kapitel 9) und Vibrationen konstant auf sie einwirken, werden Proteine fast zwangsläufig ab und zu derart verdreht, dass sie aufklappen und zur Keimzelle für eine Amyloidfibrille werden. Ist so ein Protein erst einmal gebildet, kann es ein anderes Protein verbiegen, das nach ihm greift. Dadurch wird eine weitere Schwachstelle exponiert und es bildet sich ein Kern einer sich ständig erweiternden Fibrillenkette. Bei Patienten mit Nierenversagen geschieht dies im Zeitraffer, wenn der Körper kein Beta-2-Mikroglobulin mehr mit dem Urin ausscheidet. Beta-2-Mikroglobulin ist normalerweise ein absolut sicheres Protein, das dem Körper hilft, seine eigenen Zellen als »selbst« zu erkennen und sie von »Nicht-selbst«-Zellen von Bakterien und anderen Organismen zu unterscheiden. Ohne regelmäßige Ausscheidung steigt der Pegel dieses Proteins jedoch an und erreicht mit der Zeit eine derart hohe Konzentration, dass die Proteine spontan zusammenklumpen und Amyloidablagerungen bilden. Tatsächlich sagt mein Kollege in Cambridge, Professor Chris Dobson, der sein akademisches Leben damit verbrachte, Proteinfaltungs-Krankheiten zu untersuchen, dass »man scheinbar für jedes [Hervorhebung von mir] Protein Bedingungen finden kann, bei denen es Amyloidfibrillen bildet […], obwohl die Neigung, unter gegebenen Umständen solche Strukturen zu bilden, von einem Protein zum anderen stark variieren kann«. 1 Mit der Zeit bauen sich diese Fibrillen zu einem potentiell pathologischen Niveau auf, wickeln sich um unsere Zellen und Organe und erdrosseln sie wie eine Schlingpflanze.

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Im Geist geschmiedete Fesseln Die meisten Forscher glauben heute, dass die Schrecken der alzheimerschen Krankheit auf die inkorrekte Prozessierung eines ansonsten gesunden Proteins namens Amyloid Precursor Protein (APP) zurückgeführt werden können. Unser Gehirn produziert APP, das für irgendeine grundlegende Funktion in unseren Körpern notwendig ist. Ironischerweise scheint korrekt prozessiertes APP tatsächlich für viele der Schlüsselaktivitäten gesunder Nervenzellen gebraucht zu werden, wie beispielsweise die Fähigkeit, sich als Antwort auf neu Gelerntes anders zu vernetzen und die »elektrischen Kabel« (Neuriten) auswachsen zu lassen, die ihnen erlauben miteinander zu kommunizieren. Wenn alles richtig läuft, wird APP im Hauptteil der Zelle produziert und dann zur weiteren Verarbeitung zur Alpha-Sekretase geschickt,2 einem Enzymtyp namens Endoprotease. Das Resultat ist die Bildung zweier Moleküle, wovon eines in der Neuritenmembran der Nervenzelle bleibt, während das andere in das flüssige Innere der Zelle abgegeben wird. APP kann nicht das üble Beta-Amyloid bilden, wenn es von der Alpha-Sekretase prozessiert wird. Danach wird eines der Fragmente von einem anderen Enyzm namens Gamma-Sekretase weiter zerhackt. APP wird nur gefährlich, wenn es anstelle der Alpha-Sekretase fälschlicherweise von einem anderen, aber verwandten Enzym namens Beta-Sekretase geschnitten wird.3 Die Beta-Sekretase ist wie auch APP kein Übeltäter: Sie hat ihren ordnungsgemäßen Platz in der »Fabrik« der Zelle als Teil eines weiteren, anderen zellulären Fließbands, das nicht APP handhabt. Auf jenem Fließband nimmt die Beta-Sekretase unverzichtbare Schnitte in der Struktur anderer Proteine vor, die eine gewisse molekulare Ähnlichkeit mit APP haben. Wenn aber die Beta-Sekretase dasselbe an APP vollführt, schneidet sie sie am falschen Ort. Dies verzerrt die Form des Proteins und erzeugt ein Molekül mit ganz anderer Aktivität in der Zelle. Die Beta-Sekretase ist wie ein übermäßig hilfsbereiter Fabrikarbeiter, der auf dem Weg zurück vom Mittagessen etwas APP auf einem angehaltenen Fließband sieht und es mit einem Teil verwechselt, an dem er normalerweise arbeitet. Da sie keine Alpha-Sekretase in der Nähe sieht und zu wissen glaubt, was mit dem halbfertigen Produkt zu tun ist, schreitet die Beta-Sekretase, um der Alpha-Sekretase einen Gefallen zu tun und ihr ein wenig Arbeitslast abzunehmen, zur Tat. Nach ein paar Schlägen mit ihrem molekularen Hammer wirft die Beta-Sekretase das APP-Fragment – nun leicht deformiert – auf das Band zurück, wo es irgendwann zur Gamma-Sekretase kommt. Und weil Gamma-Sekretase ein geschäftiges Enzym ist, ist es viel zu sehr in seine Arbeit vertieft, um die Veränderung zu bemerken. Sie hackt und schneidet das deformierte APP-Fragment genauso weiter, als hätte die AlphaSekretase die korrekte Modifikation gemacht. Beta-Amyloid ist das Resultat dieser verfehlten Abfolge – die sequenzielle Spaltung durch Beta- und Gamma-Sekretase statt durch Alpha- und Gamma-Sekretase. Wenn der mittlere Teil von APP (zwischen den Schnittstellen der Alpha- und Gamma-Sekretase) richtig prozessiert wird, nimmt er eine ähnliche Form wie eine auseinandergezogene, gewundene Feder an – eine Konformation namens »AlphaHelix«. Dank der molekularen Einmischung von Beta-Sekretase (und der unwissent-

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lichen Kollaboration der Gamma-Sekretase) verliert dieses Fragment seine normale Form. Der unpassende Schnitt in APP bewirkt, dass das Fragment auf sich selbst zurückspringt, wie wenn Sie aus Versehen in eine fest gespannte Feder mit einer Drahtzange schneiden würden. Dadurch entsteht eine Form, die einer Haarnadel ähnelt (ein »Beta-Faltblatt«) und dem Beta-Amyloid seine verhängnisvolle molekulare Klebrigkeit gibt, die für Amyloidproteine charakteristisch ist. Wenn sie von der Gamma-Sekretase freigesetzt wurden, schwimmen einzelne Beta-Amyloid-Einheiten (Monomere) zunächst frei im Hirn herum. Sie kommen jedoch rasch mit anderen Monomeren in Kontakt und ihre »Klebrigkeit« bewirkt, dass sie zu größeren – zu diesem Zeitpunkt aber immer noch frei herumtreibenden – Einheiten namens Oligomere zusammenklumpen. Diese faserförmigen Stränge verhaken sich wiederum miteinander und bilden noch längere Fasern, die mit der Zeit so groß und komplex werden, dass sie nicht länger in der Hirnflüssigkeit gelöst bleiben können und im Raum zwischen den Nervenzellen ausfallen, um die notorischen Plaques zu bilden. Diese den Verstand umschlingenden Netze können unter dem Mikroskop beobachtet werden, wie sie sich bis zum Pflege-Hilfspersonal der Neuronen (den Gliazellen) und die Neuriten herunter (das zuvor erwähnte Verkabelungssystem) erstrecken. Einige Menschen produzieren außergewöhnlich große Beta-Amyloid-Mengen, weil sie Mutationen geerbt haben, die entweder eine Überproduktion von APP bewirken (was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die problematischen Enzyme ihre Moleküle antreffen und irrtümlicherweise ihre Struktur behauen) oder für fehlerhafte Sekretaseenzyme kodieren, die ihre präzise Arbeit nicht ganz so gut erledigen wie die normalen Varianten. Weil wir jedoch alle sowohl APP als auch die Enzyme haben, die daraus Beta-Amyloid machen können, produzieren wir alle Beta-Amyloid, und bei einem konstanten Ausstoß davon wird ein Teil dieses Amyloidvorläufers zwangsläufig ab und zu falsch geschnitten. Somit ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich genug davon bildet, um zu alzheimerschen Plaques zu führen – und tatsächlich haben wir alle gegen Ende des mittleren Alters mindestens ein paar Plaques in unseren Gehirnen. Wie andere Alternsschäden häufen sich Beta-Amyloid-Plaques mit der Zeit an und vernünftigerweise kann man annehmen, dass neurologische Beeinträchtigungen eintreten, sobald eine kritische Schwelle erreicht ist. Deshalb sind wohl auch die meisten Alzheimer-Fälle nicht vererbt, sondern treten in der Bevölkerung sporadisch auf: Die zugrunde liegende Biochemie ist schlicht Teil unseres Organismus und des Universums, in dem wir leben. Risikofaktoren der Lebensführung und die meisten genetischen Veranlagungen bestimmen lediglich, wann der Prozess unseren Intellekt und unsere Identität zu beeinträchtigen beginnt. 4 Das ist auch der Grund, wieso fast niemand, abgesehen von einer sehr kleinen Anzahl vererbter, früh einsetzender Fälle, im frühen mittleren Alter oder jünger an Alzheimer erkrankt und wieso sich die Zahl der Patienten nach dem 65. Lebensjahre alle fünf Jahre verdoppelt. So türmen sich die Opfer im Alter wie die Reiskörner auf dem Schachbrett des Kaisers in der alten Fabel auf. Unsere Gehirne werden langsam in Beta-Amyloid-Plaques verstrickt – die Frage ist nur, wann wir die Schwelle erreichen, jenseits derer unser Gehirn nicht mehr genügend Funktionen aufrecht erhalten kann, um unser Leben und

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unsere Identität weiterzuführen, die wir über so viele Jahre aufgebaut haben. Ohne eine radikal neue Therapie wird jeder einzelne von uns von der Alzheimer-Demenz niedergestreckt, wenn uns nicht zuvor etwas anderes umbringt.

»Oh, gefangen und gefesselt …« Beta-Amyloid verursacht aber auch Hirnschäden und Tod bei vielen Menschen, die nie Alzheimer entwickeln. Denn Beta-Amyloid lagert sich nicht nur zwischen den Nervenzellen im Gehirn, sondern klammert sich auch an die innere Oberfläche seiner Blutgefäße. Den resultierenden Zustand nennt man zerebrale Amyloid-Angiopathie (CAA). Sie verkrustet diese Nähr- und Sauerstoffleitungen, schwächt sie und reduziert ihre Fähigkeit, sich als Reaktion auf den Puls elastisch zu dehnen. Das macht sie für Brüche bei einer Hirnblutung anfällig. CAA ist bei Alzheimer-Patienten sicher verbreiteter (etwa 25 Prozent leiden darunter), aber sie wird mit zunehmendem Alter ein immer ernsteres Problem für Menschen, die nicht von Alzheimer betroffen sind. Nur fünf Prozent haben CAA in ihren 70ern, aber wenn wir über 90 sind, leidet mehr als die Hälfte an der Krankheit und sie ist für etwa 15 Prozent der Hirnblutungen in Menschen über 60 verantwortlich. Damit aber nicht genug: Beta-Amyloid ist lediglich ein verstümmeltes Protein von vielen. Weniger bekannt und anerkannt als Todes- und Invaliditätsursache ist ein Spektrum anderer altersbedingter Amyloidosen, die auch nicht mit einem von Natur aus missgebildeten Protein zusammenzuhängen scheinen, sondern mit der gesunden, aber in den Wirren ihrer biochemischen Umgebung beschädigten Version. Ein Beispiel ist die senile Herz-Amyloidose. Wie Sie vielleicht ahnen, wird diese Erkrankung am eindeutigsten durch sich anhäufende Amyloidfibrillen im Herzen charakterisiert, obwohl sie auch die Lungen, Leber und Nieren schädigt. Diese Anhäufung interferiert mit dem regelmäßigen Herzschlag und kann Herzversagen verursachen. Die Fibrillen bestehen aus Transthyretin – dem Rikschafahrer der Schilddrüsenhormone, den ich früher erwähnte –, und obwohl sie durch eine mutierte Form des Proteins entstehen können, können sie auch (langsamer) durch Schäden an der Form resultieren, die die meisten von uns tragen. Wie der Name andeutet, ist senile Herz-Amyloidose eine stark altersabhängige Erkrankung – sie zeigt sich erst in Menschen über 70 und wird in etwa einem Viertel der über 90-Jährigen in krankhaften Mengen gefunden. Wie im Falle von Alzheimer würde uns allen – falls wir lange genug leben, ohne dass uns zuvor etwas anderes umbringt – am Ende das Leben durch diese Form von Alterungsschaden beendet. Die Krankheit ist als häufige, mitwirkende Todesursache der »ältesten Alten« bekannt, sodass ungefähr die Hälfte der über 90-Jährigen eine diagnostizierbare senile Herz-Amyloidose bei Autopsie aufweist. Viel früher im Leben bekommen fast alle ein gewisses Maß an Amyloidose in der Aorta, dem vom Herzen kommenden Hauptblutgefäß. Zwei verschiedene Proteine sind beteiligt, wovon eines sich in erstaunlichen 97 Prozent aller Menschen über 50 in der innersten Aortaschicht anhäuft, während sich das andere in etwa einem

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Drittel dieser Fälle tiefer in der Mitte der Gefäßwand ansammelt. Diese Amyloidose wird momentan nicht als Ursache einer bestimmten Pathologie oder des Todes angesehen, aber die Frage scheint wiederum nur zu sein, wann wir eine tödliche Schwelle überschreiten, die wir in einer normalen Lebensspanne heutzutage nicht erreichen, weil wir vorher an anderen Ursachen sterben. Rechnet man all dies zusammen, haben Amyloidablagerungen von irgendeinem der etlichen falsch gefalteten Proteine im Herzen einen wesentlichen Anteil am Tod von Betagten. Sie verursachen einen anormalen Herzschlag, schwächen den Herzmuskel, bewirken »Stromausfälle« der elektrischen Impulse, die es schlagen lassen, sowie Herzversagen. Und dies sind nur Ablagerungen des Herz-Kreislauf-Systems. Jeder einzelne von uns wird mit mikroskopischen Amyloidablagerungen durch viele Körpergewebe durchsetzt, bis wir unsere 80er erreichen. Ihr Tribut wird nicht wirklich wahrgenommen, da sehr Betagte selten obduziert werden. Doch ohne einen Körper zu öffnen, sieht man die Ablagerungen schlicht nicht. Dieser Mangel an Neugier gegenüber dem Tod Hochbetagter ist nur ein weiteres Beispiel unserer routinemäßigen Akzeptanz des massiven Tributs der Alterungsprozesse in Menschen, die nur – ja, nur – ein paar Jahrzehnte Leben genossen haben. Amyloidose des einen oder anderen Organsystems scheint zudem ein zunehmend kritischer Faktor beim Sterben von Menschen am Ende der momentan »natürlichen« Langlebigkeitsspanne zu sein, wenngleich das Datenmaterial noch nicht schlüssig ist. Einige dieser Daten kommen aus Japan, wo die Existenz einiger Gebiete mit besonders vielen 100-Jährigen zu einer Ausnahme vom verbreiteten Muster absichtlicher Ignoranz gegenüber der Todesursache Hochbetagter geführt hat. Eine AutopsieStudie, die am Aichi Medical Centre in Japan von 1989 bis 1995 durchgeführt wurde, fand in 16 von 19 ihrer über 100-jährigen Patienten eine das ganze Hirn umfassende CAA.5 Leider beschränkte sich diese Studie auf das Zentralnervensystem, sodass sie keine Auskunft darüber gab, welche anderen Amyloidkrankheiten die Körper dieser langlebigen Menschen durchlöcherten oder in welchem Ausmaß solche Krankheiten vielleicht zu ihrem Tod beigetragen hatten.6 Noch suggestiver sind erste Daten, die aus den wichtigen Bestrebungen der neu lancierten Supercentenarian Research Foundation (SRF)7 resultieren, »Super-100-Jährige« (die extrem seltenen Leute, die über 110 Jahre alt werden) zu obduzieren, die identifiziert und überzeugt werden können, ihre Überreste nach ihrem Tod der Wissenschaft zu spenden. Von den sechs bisher Untersuchten erlagen vier einer Form von Amyloidkrankheit (die anderen beiden waren Krebsopfer). 8 Wieder wissen wir nicht, was die pathologischen Konsequenzen vieler dieser Ablagerungen sein könnten, aber sie scheinen schädlich zu sein – nach der Definition des Ingenieurs sind sie daher Alterungsschäden, weil sie in Jungen nicht vorkommen. Sie können also darauf wetten, dass ich sie zusammen mit denjenigen entsorgen will, die bereits als Übeltäter in konkreten altersbedingten Krankheiten überführt wurden.

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Alzheimer, Amyloid, Alterung Auf eine abartige Weise hat daher die Tatsache, dass Alzheimer eine derart verbreitete und offensichtlich schreckliche Krankheit ist, der allgemeinen Anti-Aging-Biomedizin geholfen. Die Beachtung, die dieser spezielle altersbedingte Fluch genießt – in Kombination mit der verbreiteten Ansicht von Experten und der Öffentlichkeit, dass Beta-Amyloid-Ablagerungen ein Hauptfaktor in seiner Entwicklung und seinem Verlauf sind –, hat die Wissenschaft dazu gebracht, diese spezielle Form von Amyloid als ein eigenständiges, therapeutisches Ziel in Angriff zu nehmen. Diese Arbeit hat die Möglichkeit eröffnet, dass eine ähnliche Strategie die Basis für absehbare Therapien für amyloidartigen extrazellulären Schaden bilden kann. Wie in anderen Fällen, die wir in früheren Kapiteln diskutierten, hat die Existenz einer anerkannten Krankheit, die durch Alterungsschäden verursacht wird, die Forschung an Methoden zu ihrer Behebung »legitimisiert« – und während diese Forschung Früchte trägt und neue Behandlungen für diese Krankheiten entdeckt, kann die Anti-Aging-Biotechnologie Trittbrett fahren, um Behandlungen für Alterungsschäden selbst zu entwickeln. Alzheimer ist ein besonders gutes Beispiel für dieses Phänomen, weil es sowohl so absolut fürchterlich und auch so verbreitet unter unseren Eltern und Großeltern ist (im Gegensatz zu seltenen und rasch tödlichen Erkrankungen wie Mitochondriopathien oder lysosomalen Speicherkrankheiten). Während die schiere Anzahl von Alzheimer-Patienten explodiert, da das biologische Alter der Bevölkerung stetig ansteigt, haben sich die Familien und Freunde der Opfer politisch organisiert. Heute gibt es in den USA und anderswo tausende von Menschen, die enorme Regierungsinvestitionen in intellektuelles und finanzielles Kapital für die Suche nach einer Heilung verlangen – und auch erhalten. (Tatsächlich verzehrt die Alzheimerforschung mit allen Vor- und Nachteilen über die Hälfte des Budgets des amerikanischen National Institute on Aging.) Nachdem man überzeugt war, Beta-Amyloid sei der Schlüssel zu der Krankheit, begannen Alzheimerspezialisten (vielleicht weil sie keine Biogerontologen waren?) über diese spezielle Form extrazellulären Mülls in derselben Art über Schadensbehebung nachzudenken, wie sie dem Ingenieuransatz gegen altersbedingten Schaden generell zugrunde liegt. Momentan verfügbare Behandlungen gegen Alzheimer können derzeit lediglich die Symptome der Krankheit lindern: Leider kann keine Therapie den fortschreitenden Verfall des Gehirns selbst kontrollieren (siehe Kasten »Alzheimerbehandlung heute«). Das bedeutet, dass es den Patienten zwar besser geht als zuvor, doch der zugrunde liegende Krankheitsverlauf schreitet mit jedem weiteren Tag unvermindert weiter voran. Funktionell wirken auch moderne Alzheimermedikamente in derselben Weise wie Ibuprofen und Antidepressiva für Diabetiker – indem sie eine oberflächliche Linderung der Nervenschmerzen bieten, die die Krankheit oft begleiten. Obwohl der Schmerz vielleicht tatsächlich abnimmt, werden die Nerven der Diabetiker selbst weiterhin durch die »karamellisierende« Chemie der Krankheit verwüstet. (Siehe Kapitel 9 für die Haupterwiderung von SENS gegen Altersdiabetes.)

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Alzheimerbehandlung heute Die heute am häufigsten verwendeten Alzheimer-Medikamente sind Cholinesterase-Inhibitoren wie Donezepil (Aricept®), Rivastigmin (Exelon®) und das Kraut Galantamin (Reminyl®/Razadyne®), die die Hirnfunktion zu unterstützen suchen, indem sie den Pegel gewisser Signalmoleküle verstärken, die an manchen nachlassenden Aspekten des Gedächtnisses beteiligt sind. Eine solche Behandlung ist natürlich rein palliativ, ohne jeglichen Effekt auf den zugrunde liegenden Krankheitsprozess. Eine neue Studie9 deutet an, dass diese Medikamente sogar weniger wirksam sind als ihre Unfähigkeit, die verheerenden Effekte der Krankheit im Gehirn zu verhindern, nahelegt: Es scheint, dass die Medikamente zwar die Werte eines standardisierten Tests gewisser Aspekte von Hirnfunktionen erhöhen, aber keinen Effekt auf die Art von Alltagsfunktionalität haben, deren Verlust die Angehörigen zwingt, die Opfer einzuweisen. Es gab eine Zeit lang Hoffnung, dass ein kürzlich eingeführtes Medikament namens Memantin (Namenda®) das Fortschreiten der alzheimerschen Krankheit zumindest bremsen würde, indem es die Nervenzellen vor den schädlichen Auswirkungen eines anderen Signalmoleküls (Glutamat) abschirmt, das Hirnzellen töten kann, wenn es im Übermaß vorhanden ist. Ein jüngster Versuch10 deutet an, dass dem nicht so ist. Die Studie untersuchte Patienten, die in einem sechsmonatigen, Placebo-kontrollierten Versuch bereits Memantin verwendeten und denen dann erlaubt wurde, es für zusätzliche sechs Monate weiter einzunehmen. Diese wurden mit Patienten im gleichen Versuch verglichen, die ursprünglich das Placebo genommen hatten, aber die für jene folgenden sechs Monate das echte Medikament bekamen. Falls Memantin den zugrunde liegenden Krankheitsverlauf wirklich verlangsamte, würde man erwarten, dass die Personen, die früher mit dem Medikament angefangen hatten, in besserer Verfassung sind als jene, die die ersten sechs Monate Zuckerpillen einnahmen, denn sie hätten die ersten sechs Monate nicht die vollen Auswirkungen der Hirndegeneration erlitten und würden daher später intaktere Gehirne haben. Stattdessen stellte sich heraus, dass die Patienten, die später mit dem Medikament begannen, schnell zu einem verbesserten Grundzustand fanden, verglichen mit denen, die es dauernd bekamen. Dies legt nahe, dass Memantin nur auf die unmittelbaren Symptome der Krankheit wirkt. In gewissem Sinne sind das gute Neuigkeiten für diejenigen, die Memantin in einem fortgeschritteneren Krankheitsstadium zu nehmen beginnen, denn es bedeutet, dass sie durch das Abwarten nichts verloren haben. Die schlechte Nachricht jedoch ist, dass niemand erwarten kann, dass Memantin das langsame Sterben des Geistes durch die verhedderten Klüngel im Gehirn anhalten kann. Tatsächlich ist unklar, ob die Blockierung der Effekte von Glutamat auf die Nervenzellen in jedem Fall eine gute Sache ist. Wie so viele Dinge im fein abgestimmten Netzwerk der Stoffwechselwege ist Glutamat ein Molekül mit zwei Gesichtern. Obwohl es Hirnzellen zu Tode stimulieren kann, wenn es im Übermaß vorkommt, ist es auch ein entscheidendes chemisches Signalmolekül, welches für das normale Speichern und Abrufen von Erinnerungen nötig ist. Das deutet die Möglichkeit an,

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dass Memantin Probleme bei der Bildung neuer Erinnerungen verursachen könnte, auch wenn es die Hirnzellen erhält, die die alten speichern. Während es bisher keine direkten Beweise eines solchen Effekts gibt, ist immer noch nicht klar, ob das Medikament wirklich hilft: Obwohl dieser Versuch einen Nutzen von Memantin zu zeigen schien, gab es in den beiden anderen großen Tests des Medikaments keine statistisch aussagekräftigen Vorteile verglichen mit Zuckerpillen. Auf jeden Fall wäre ein Medikament, das die Geschwindigkeit, mit der Hirnzellen verloren gehen, bremsen könnte, unfähig den Verfall des Gehirns zu verhindern – geschweige denn rückgängig zu machen –, da der zugrunde liegende Schaden irreparabel bliebe.

Als sich die Belege häuften, die eine zentrale Rolle für Beta-Amyloid in der Entwicklung und Pathologie von Alzheimer unterstützten, kam neue Hoff nung auf. Wissenschaftler begannen ernsthaft über die Entwicklung neuer Behandlungen zu diskutieren, in denen Beta-Amyloid selbst zum Angriffsziel neuer medizinischer Interventionen gemacht würde und dadurch die Krankheit behandelt würde, anstatt nur Krücken für einen verkrüppelten – und rasch verfallenden – Verstand zu bieten. Als die Wissenschaftler erst einmal die benötigten Hilfsmittel in der Form von transgenen Mäusen hatten, deren Gehirne Varianten von menschlichem Beta-Amyloid produzierten, die zur Bildung von Plaques und Fehlfunktionen im Gehirn und Erinnerungsvermögen führten, konnten sie damit beginnen, Therapien zu testen, die Beta-Amyloid direkt angreifen würden.

Neue Zielscheiben, alte Gewehre Wenn man glaubt, dass dieses Beta-Amyloid der Hauptverantwortliche in der Alzheimer-Geschichte ist, weiß man damit aber noch nicht, was dagegen zu tun ist. Es ist daher keine Überraschung, dass akademische Labore und Pharmafirmen rund um den Globus an einer ganzen Palette von Anti-Amyloid-Strategien arbeiten, jeder auf einen nobelpreiswürdigen Durchbruch hoffend oder darauf, einen neuen Kassenschlager für einen verzweifelten – aber unheilvoll, unaufhaltsam expandierenden – »Zielmarkt« zu lancieren. Als Wissenschaftler jedoch darüber nachzudenken begannen, wie das Beta-Amyloid-Plaque-Problem anzugehen sei, wandten sich viele von ihnen wie erwartet den klassischen präventiven Strategien zu, die typisch für den gerontologischen Ansatz der alten Schule sind. Bedenken Sie, dass Beta-Amyloid wie andere Amyloid-Proteine aus einem grundsätzlich gesunden Protein – APP – gebildet wird. Dieses Protein findet man als lange, durch die Membranen von Hirnzellen gewobene Strähnen, und obwohl seine genaue Funktion unbekannt ist, ist es zumindest harmlos, solange es intakt und am Ort bleibt. Gelegentlich klammert sich jedoch das Enzym Beta-Sekretase fälschlicherweise an das APP-Protein und schneidet es an einer unbeabsichtigten Stelle. Die Gamma-Sekretase tut es ihm gleich, ohne den unheilvollen Fehler im

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falsch prozessierten APP zu bemerken, und Beta-Amyloid – mit seinen klebrigen Bindestellen entblößt – wird freigesetzt, um seinen verheerenden Schaden im Gehirn anzurichten. Dies vor Augen war einer der ersten Ansätze, Medikamente für eine Anti-Amyloid-Therapie zu kreieren, welche die Aktivität dieser Enzyme drosseln, um so die Beta-Amyloid-Produktion zu reduzieren. Dies wiederum würde die Plaquebildung verringern und folglich die Entstehung der Krankheit entweder verzögern oder verhindern. Der erste Kandidat war ein Medikament, das die Aktivität der Gamma-Sekretase beeinträchtigte. Tierversuche zeigten, dass schon eine einmalige Gabe des Medikaments die Konzentration von löslichem Vor-Plaque-Beta-Amyloid sowohl im Hirn als auch im Blutplasma senken konnte. Es wurde ordnungsgemäß durch die Entwicklungs-Pipeline in Versuche der »Phase II« gebracht, die darauf ausgelegt sind, erste Anzeichen der Wirksamkeit und Sicherheit eines Medikaments in einer mittelgroßen Anzahl von Personen mit der Krankheit aufzuzeigen. Das war 2001. Ich schreibe dies Mitte 2006 und bis dato herrschte absolute Funkstille über die Resultate dieser Versuche des ersten Gamma-Sekretase-Hemmers. Vielleicht werden wir nie wissen, was geschah, aber wir können es vielleicht erraten. Noch während das Medikament in Menschen getestet wurde, entwickelte sich ein genaueres Verständnis der Rolle der Gamma-Sekretase im Körper. Lange hatte die Frage über dem Enzymhemmungsansatz geschwebt, was das Enzym denn eigentlich im Körper soll. Viele schädliche Mutationen lauern in isolierten Zweigen des menschlichen Stammbaums, aber Gamma-Sekretase haben wir alle in unseren Gehirnen – und, wie wir in Kapitel 3 diskutierten, entwirft uns die Evolution nicht, um an grausamen Krankheiten zu leiden. Obwohl die Gamma-Sekretase den unglückseligen, langfristigen Nebeneffekt der Beta-Amyloid-Produktion hat, waren die Wissenschaftler überzeugt, dass es auch nützlich sein musste. Und tatsächlich entdeckten die Forscher, noch während der Versuch lief, dass Gamma-Sekretase auf viele verschiedene Proteine des Körpers wirkt – inklusive den Notch-Rezeptor 1 (NOTCH1), ein Protein mit wichtigen Funktionen. Ich meine wirklich wichtig: unter anderem die Aktivierung von Stammzellen, die verletztes Muskelgewebe erneuern, das Wachstum neuer Blutgefäße und die Reifung gewisser Immunzellarten. Was geschieht mit diesen wichtigen, biologischen Prozessen, wenn man ein für ihr Funktionieren nötiges Enzym stört? Tierversuche zeigten sowohl bei einem »Knock-out« des Gamma-Sekretase-Gens als auch bei alternativen Medikamenten, die die Gamma-Sekretase hemmten, dass eine Dämpfung des Enzyms die Entwicklung von Immunzellen im Knochen und im Thymus klar verhinderte, die Anzahl dieser Zellen reduzierte und Darmpathologien verursachte. Es scheint höchst plausibel, dass der Grund für die Totenstille über die klinischen Versuche ein ähnliches Nebenwirkungsprofi l ist. Einige Forscher verfolgen jedoch immer noch Therapien, die auf derselben Strategie basieren. 2002 präsentierten Forscher von Eli Lilly Tierdaten, die zeigten, dass LY450139, der Codename für einen neuen Gamma-Sekretase-Hemmer, den BetaAmyloid-Spiegel bei Alzheimer-Mäusen senkte, ohne NOTCH1 zu beeinträchtigen.

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Als dieses Kapitel 2006 bearbeitet wurde, erschienen die Resultate eines frühen klinischen Tests an 70 Alzheimer-Patienten. Sie zeigten, dass das Medikament die Konzentration von Beta-Amyloid um 38 Prozent senkte, anscheinend ohne gravierende Nebenwirkungen zu verursachen. Bis April 2006 hatte sich die Firma mit mehreren Universitäten und Krankenhäusern verbündet und bereitete sich auf einen größeren klinischen Versuch vor, um herauszufinden, ob es die Krankheit in der Tat beeinflussen konnte. Auch Elan Pharmaceuticals forscht weiter an einem GammaSekretase-Hemmer. Die Deaktivierung von NOTCH1 ist bei weitem nicht das einzige potentielle Problem dieser Medikamente. Sie erinnern sich, dass die Gamma-Sekretase auch ein unentbehrlicher Partner in der normalen, nicht amyloidogenen Verstoff wechslung von APP zu Produkten ist, die für die Nervenzellfunktion scheinbar essentiell sind. Es ist unwahrscheinlich, dass man ihre normale Aktivität problemlos gewaltsam herunterfahren kann, ohne negativen Einfluss auf genau die Hirnfunktionen zu nehmen, die die Forscher verzweifelt zu erhalten suchen. Vielleicht dauert es einfach länger als die sechs kurzen Wochen, über welche die ersten Sicherheitstests des neuen Medikaments durchgeführt wurden. Während ich dies schreibe, werden Patienten für neue Versuche rekrutiert. Wir werden sehen, wie es ihnen in der Klinik ergeht und drücken ihnen die Daumen. Andere Wissenschaftler verfolgen eine etwas andere Version derselben Basisstrategie. Manche entwickeln Medikamente, die die Beta-Sekretase hemmen oder die Aktivität der Alpha-Sekretase hochfahren, in deren normale APP-Verarbeitung sich die Beta-Sekretase einmischt. Weil solche Medikamente immer noch in frühen Entwicklungsphasen stecken, wissen wir noch nichts über ihre Nebenwirkungen. Es scheint jedoch abermals unwahrscheinlich, dass die Aktivität eines normalerweise im ganzen Körper – und vor allem im Gehirn – produzierten Enzyms problemlos verändert werden kann. Ein Schreckgespenst, das sich zum Beispiel bereits bei den Beta-Sekretase-Hemmern abzuzeichnen droht (aufgrund von Tierversuchen), ist eine erhöhte Anfälligkeit für gewisse psychologische Störungen. Während sehr junge Tiere, denen das Beta-Sekretase-Gen entfernt wurde, körperlich mehr oder weniger normal erscheinen, sind sie scheu und erkunden ihre Umgebung nur ungern. Zudem geht ihnen Serotonin (ein chemischer Botenstoff, dessen Stoff wechsel von Medikamenten wie Prozac® beeinflusst wird) unüblich rasch aus.

Die Gefangenen befreien … oder die Häftlinge entlassen? Andere Wissenschaftler gehen einem alternativen Ansatz nach, der vordergründig mehr im Einklang mit den Ingenieur-Prinzipien ist, für die ich plädiere. Nämlich: die Bildung von Beta-Amyloid selbst zu ignorieren und sich stattdessen auf den Prozess zu konzentrieren, durch den Beta-Amyloid zu Neuronen verstrickenden Plaques aggregiert. Eine überraschend große Anzahl von Medikamenten und sogar Kräuterkonzentraten – von Extrakten des Gewürzes Kurkuma (wird in Curry verwendet) zu handelsüblichen Medikamenten mit dem bestens vermarktbaren Namen BetaBrecher – interferieren entweder mit dem Zusammenklumpen des Beta-Amyloids zu

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Plaquefibrillen oder brechen sogar bestehende Aggregate auf – im Reagenzglas. Die meisten dieser Verbindungen funktionierten nicht, als sie erstmals über die Petrischale hinaus in lebende, atmende Organismen kamen. Von einigen wenigen konnte jedoch gezeigt werden, dass sie die Plaquebelastung in transgenen Tieren reduzieren, die große Mengen Beta-Amyloid produzieren. Ein paar von jenen beginnen jetzt die klinische Erprobung bei Alzheimer-Patienten. Hier laufen wir jedoch einmal mehr Gefahr, uns zu stark auf unsere Hypothesen darüber zu verlassen, welche biochemischen Prozesse die Krankheit »verursachen«. In anderen Amyloidosen ist die Verbindung zwischen Fibrillen und Pathologie recht offensichtlich. Tatsächlich kann man die Lebenserwartung von Patienten mit verschiedenen Arten von Amyloidose drastisch verlängern, indem man »einfach« das von Amyloid erdrosselte Organ durch ein transplantiertes, fibrillenfreies ersetzt. Tatsächlich verstehen wir die mysteriösen Stoff wechselgrundlagen trotz eines Jahrzehnts intensiver Forschung an der »Amyloid-Hypothese« der alzheimerschen Krankheit noch immer nicht. Sogar unter der Mehrheit der Forscher, die überzeugt sind, dass Beta-Amyloid der Schlüssel zu Alzheimer ist, ist der Konsens über die detaillierte mechanistische Rolle des Proteins in der Krankheit so seicht wie er weit ist. Die Kontroverse wütet weiter darüber, was genau es – das Protein selbst und/oder die Plaques, die sich daraus formen – mit dem Zerfall des Gehirns und des Körpers verbindet, den wir in seinen Opfern sehen. Daher ist die Prämisse, dass Beta-Amyloid-Plaques Alzheimer verursachen (oder den/die zugrunde liegenden Stoff wechseldefekt(e) mit der Krankheit verbinden), für sich genommen noch nicht ausreichend, um eine Lösung zu finden. Wenn überhaupt, dann weist die Datenbilanz darauf hin, dass nicht die Plaques selbst die neurologischen Funktionen am meisten beeinträchtigen, sondern die löslichen Beta-Amyloid-»Oligomere«: kurze Ketten, die aus nur wenigen, einzelnen Beta-Amyloid-Molekülen (»Monomere«) aufgebaut sind. Sie sind in derselben Weise verknüpft wie Plaquefibrillen, doch ihre geringe Größe erlaubt es ihnen, in der Flüssigkeit gelöst zu bleiben, in der die Hirnzellen schwimmen, anstatt in Ablagerungen auszufallen. In Zellkulturen und Tierversuchen unterbrechen BetaAmyloid-Oligomere von menschlichen Nervenzellen die Nervenfunktion deutlich und beeinträchtigen das Gedächtnis. Sie tun dies auf eine Art, die weder bei den Beta-Amyloid-Plaques, die sie bilden, noch den einzelnen »Kettengliedern« von Beta-Amyloid-Monomeren, aus denen sie bestehen, beobachtet wurde. Ratten wurden verwirrt und vergesslich, nachdem man ihnen aus Menschen gewonnene Oligomere mikroinjizierte. Beta-Amyloid-Monomere haben nicht dieselbe Wirkung. Man kann Tieren oder Kulturen von Gehirnzellen zwar Chemikalien zugeben, die alle Formen von Beta-Amyloid (Oligomere und Monomere) aus der die Neuronen umgebenden Flüssigkeit beseitigen, um so die negativen Effekte der Einwirkung einer Mischung von Oligo- und Monomeren zu verhindern. Aber ein Enzym, das selektiv freie BetaAmyloid-Monomere abbaut, aber die Oligomere intakt lässt, bietet keinen Schutz. Ebenso erholt sich das Gedächtnis der Ratten weitgehend einen Tag nach der Zugabe der Oligomere, wenn sie durch die natürlichen Schutzsysteme des Tiers ausgeräumt wurden. Dies legt nahe, dass die Oligomere und nicht die Plaques, die sie bilden, am Verlust des Denkvermögens schuld sind. In der Tat deuten vorläufige Stu-

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dien darauf hin, dass Oligomere als molekulares Pendant zu Staub in den Augen der Neuronen wirken. Sie beeinträchtigen ihre Fähigkeit, Signale von anderen Neuronen zu erhalten und das Signal an ihre interne Maschinerie weiterzuleiten. Eine Gruppe hat weiter zur Ungewissheit beigetragen, als sie von einem Mausmodell berichtete, das reichlich Plaques bildet, aber keine neurologischen Defizite zeigt. Eine weitere Serie von Experimenten deutet stark darauf hin, dass die Plaques das Resultat und nicht die Ursache des verbreiteten Neuronensterbens im Alzheimer-Gehirn sind.11 Diese Studie untersuchte die Lokalisierung sowohl der löslichen Amyloidform als auch Gehirnplaques bei Patienten, die an der Krankheit gestorben waren. Lösliches Amyloid wurde in Aggregaten in Lysosomen noch intakter Zellen (die Abfallentsorgungseinheiten der Zelle, die im letzten Kapitel ausführlich diskutiert wurden) gefunden. Gebiete mit sehr hohen Amyloidkonzentrationen zeigten Anzeichen von auseinanderbrechenden Neuronen. Beta-Amyloid und die Verdauungsenzyme der Lysosomen waren von einem zentralen Ort aus nach außen verteilt, in einem Muster, das auff ällig an eine Bombenexplosion erinnerte. Überall, wo Plaques gefunden wurden, fanden die Forscher auch die Überreste eines Zellkerns von einem zerstörten Neuron in den Trümmern. Man vermutete, dass die Zellen die giftigen Amyloid-Oligomere loswerden wollten, indem sie diese ins Lysosom kippten. Sie erinnern sich vom letzten Kapitel her, dass das Gehirn bei Alzheimer klare Anzeichen von Fehlfunktionen dieser Organellen zeigt. Zudem ist viel Beta-Amyloid, das man in Hirnzellen findet, tatsächlich in und um Lysosomen gebündelt. In der Tat werden die Aggregate selbst normalerweise von Mikroglia (den Immunzellen des Gehirns) aufgenommen und abgebaut, aber mit einem zu tiefen Durchsatz, um mit der Plaquebildung mitzuhalten.12 Dies deutet darauf hin, dass die Amyloidlast langfristig die Kapazität der Lysosomen, sie zu beseitigen, übersteigt. Dies führt zur vorher umrissenen Todesspirale der Dysfunktion – und schließlich zum Tod und Platzen der Zelle, wodurch Beta-Amyloid und lysosomale Enzyme aus dem sterbenden Neuron ausgespuckt und dadurch PlaqueAblagerungen geschaffen werden, wie Schlacke von einem zerbombten Gebäude. Die Unschuld der Plaques bei Alzheimer kann jedoch nicht mit größerer Sicherheit behauptet werden als ihre Schuld. Die Beta-Brecher, deren Wirksamkeit in Tierversuchen (im Gegensatz zu bloßen Reagenzgläsern) bewiesen wurde, stellen die Gedächtnisfunktion wieder her, indem sie die Plaques aufbrechen. Ich wiederhole: Nur ein flüchtiger Blick auf das verwickelte Netz von in Amyloid verstrickten Zellen im Alzheimerhirn erschwert es dem Beobachter enorm, den Gedanken zu akzeptieren, die Plaques seien harmlos. Eine Theorie, die diese widersprüchlichen Schlüsse vielleicht in Einklang bringen kann, ist folgende: Der schädlichste Effekt der Plaques auf das Gehirn ist, dass sie zumindest kurzfristig als Reservoirs für Beta-Amyloid-Oligomere dienen. Sie haben vielleicht im Chemieunterricht der Realschule einfache Experimente gemacht, in denen eine sehr hohe Konzentration einer Substanz in einem Glas Wasser aufgelöst wird. Schließlich erreicht die Konzentration einen Pegel, bei dem das Wasser nicht noch mehr aufnehmen kann, und es bilden sich Kristalle. Der Lehrer wird Ihnen jedoch erklärt – oder sogar demonstriert – haben, dass ein Kristall kein statisches Gebilde ist, sondern in einem Zustand des »dynamischen

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Gleichgewichts« existiert. Etwas gelöster Stoff fällt kontinuierlich auf die Oberfläche aus, während einige seiner Oberflächenmoleküle sich ständig wieder ins Wasser lösen. Bei einer gegebenen Konzentration wird das Kristallvolumen konstant bleiben, da die Auflösungsrate in die Lösung gleich der Ausfallrate aus ihr bleibt. Aber wenn Sie natürlich mehr Wasser oder mehr gelösten Stoff hinzugeben, wird sich das Gleichgewicht dementsprechend ändern. Ähnliches könnte mit Amyloid-Plaques passieren. Während die Konzentration von Beta-Amyloid-Monomeren und -Oligomeren zunimmt, häufen sie sich zu Plaques, was die Konzentration von gelösten Oligomeren niedriger hält als sie andernfalls wäre, wodurch ihre potentielle Toxizität für lokale Neuronen effektiv vermindert wird. Wenn sich aber die Oligomerkonzentration, die in der Flüssigkeit gelöst ist, verringert, lösen sich wieder ein paar aggregierte Oligomere zurück und halten dadurch ihren signalblockierenden Einfluss in einem giftigen Gleichgewicht aufrecht. Dies schaff t möglicherweise ein echtes Dilemma für Therapien, die gegen BetaAmyloid entworfen werden. Wenn man Medikamente wie Beta-Brecher verwendet und damit die Bildung von Amyloidfibrillen verhindert oder bestehende Plaques aufbricht, würde man dadurch Beta-Amyloid-Oligomere freisetzen, die ansonsten in der Plaquemasse abgesondert gewesen wären. Dies würde die Nervenzellen dem Einfluss von Oligomeren noch mehr aussetzen, als wenn man die Plaques in Ruhe oder sie sogar wachsen ließe. Tatsächlich würde beides gleichzeitig geschehen – und das könnte ohne weiteres Parallelen im Alzheimerhirn haben. Es scheint mir sehr wahrscheinlich, dass BetaAmyloid-Plaques eine ähnliche Rolle im Gehirn von Alzheimer-Patienten spielen – oder mit der Zeit spielen werden – wie (sagen wir) Transthyretin-Ablagerungen im Herzen von Menschen mit seniler Herzamyloidose: Man kann die Unordnung im Gehirn eines Opfers nicht ansehen und dabei nicht vermuten, dass die Plaques die Neuronen zu Tode gewürgt haben. Es gibt starke Hinweise darauf, dass man von jeder Intervention, die zu einer erhöhten Belastung der Neuronen durch lösliche Beta-Amyloid-Oligomere führt, erwarten kann, dass sie das Hirn schädigt. Die Plaques aber einfach weiter wachsen zu lassen, während die kranken Neuronen weiter Beta-Amyloid produzieren (und/oder aufplatzen und unverarbeitetes Beta-Amyloid aus ihren Lysosomen ausschütten), legt sicher den Grundstein für ein zu einem späteren Zeitpunkt noch größeres Problem. Diese fesselnden theoretischen Fragen reizen die Neugier von Wissenschaftlern. Zudem scheint es vielen Wissenschaftlern, dass diese Fragen beantwortet werden müssen, um eine Behandlung für diese schreckliche Krankheit zu identifizieren und zu entwickeln. Wie für andere Arten von Alterungsschäden glaube ich jedoch, dass diese Annahme irrig ist. Lassen Sie es mich wiederholen: Wir müssen nicht im Detail verstehen, wie sich Alterungsschäden anreichern oder durch welchen Mechanismus sie Schaden anrichten, um diesen Schaden zu beheben. Es mag eine aufregende intellektuelle Herausforderung sein, den genauen Pfad auszusortieren, der von den unheilvollen Falten und Spalten von APP zur Beta-Amyloid-Bildung, zu Plaques, zu lysosomaler Fehlfunktion, geistigen Beeinträchtigungen und Nervenzelltod führt. Die Quintessenz hinsichtlich der biomedizinischen Herausforderung ist, dass wir hier ganz klar einen Stoff haben, der sich anhäuft und die Zusammensetzung unseres

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alternden und kranken Körpers verändert. Wenn ich so etwas sehe, sage ich: Der muss weg. Sie können mittlerweile wohl erraten, was für eine Art Anti-Amyloid-Therapie ich bevorzuge. Wenn auch die übrigen Bedenken bezüglich der genauen Rolle der Plaques und Oligomere im Krankheitsprozess es als potentiell riskante Strategie erscheinen lassen, das aggregierte Beta-Amyloid einfach auseinanderzubrechen, schließt das eine Lösung nicht aus, die darauf basiert, die Plaques als Ganzes zu entfernen. Das würde die Quelle des Problems eliminieren, unabhängig davon, welcher Schritt in der Bildung, dem Stoff wechsel oder der Aggregation des beitragenden Materials tatsächlich der Schlüssel zu seiner Toxizität ist. Eine solche Intervention wäre klassisches Anti-Aging-Ingenieurwesen, wie ich es mir vorstelle – falls es machbar ist. Glücklicherweise sollten wir es sehr bald wissen. Eine mögliche Lösung befindet sich bereits in klinischen Versuchen.

»Immun« gegen Plaques: Der Beta-Amyloid-Impfstoff Wie ich bereits erwähnte, haben Forscher vor einiger Zeit Belege dafür gefunden, dass Mikroglia-Zellen – die Immunzellen des Gehirns – Beta-Amyloid-Ablagerungen von Nervenzellen langsam aufessen und verdauen. Leider ist die Geschwindigkeit der Beseitigung nicht annähernd rasch genug, um mit dem Ablagerungstempo bei Alzheimer-Patienten Schritt zu halten. Forscher vermuteten jedoch, dass dieser natürliche Verteidigungsmechanismus beschleunigt werden könnte. Der offensichtliche Weg dafür ist derselbe wie für andere Angriffsziele des Immunsystems: mit einem Impfstoff. Die Vision: Man injiziert Patienten Beta-Amyloid und die stillen Wachposten des Immunsystems, die das Protein als einen Eindringling erkennen, werden zur Verteidigung wachgerufen. Dieselben Kräfte, die Ihr Körper gegen Windpocken oder Grippe auf bietet, würden für einen totalen Krieg gegen das Protein mobilisiert, das das Gehirn erstickt. Gezielt dagegen gerichtete Antikörper würden wie am Fließband produziert und die Mikroglia-Zellen des Gehirns würden veranlasst, eine Such- und -Vernichtungsmission gegen Beta-Amyloid im Gehirn zu lancieren. Die Idee war aufregender, als sie zunächst erscheinen mag, denn von einem Impfstoff gegen Beta-Amyloid könnte man eine bessere Wirkung gegen Alzheimer erwarten als von den Vakzinen, die man gegen frühere Epidemien verwendete. Durch solche Vakzine konnten wir Diphtherie, Polio und Masern in den Industriestaaten nahezu ausrotten, denn sie verhinderten neue Fälle. Ein gegen Beta-Amyloid gerichteter Impfstoff könnte, bis auf die fortgeschrittensten, alle Fälle der Krankheit heilen. Armeen von aktivierten Mikroglia mit einem Heißhunger auf Beta-Amyloid würden bestehende Beta-Amyloid-Ablagerungen in der Tat konsumieren und dadurch entfernen. Wenn diese würgenden Fibrillen erst einmal entfernt wären, würde die normale Hirnstruktur – und dadurch die Funktion – wiederhergestellt. 13 Entscheidend ist, dass dieser Ansatz unabhängig davon funktionieren sollte, welche der Theorien zur Verbindung zwischen Beta-Amyloid und Gedächtnisverlust sich bewahrheiten sollte. (Es wäre nicht die ganze Lösung, wenn andere Kennzeichen

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von Alzheimer, wie die intrazellulären Neurofibrillenbündel, ebenfalls zur Krankheitsentwicklung beitragen – aber wie Sie gesehen haben, beinhaltet SENS auch Lösungen für diese anderen Aspekte.) Der Impfstoff entfernte die Plaques – und auch die löslicheren Oligomere, wie sich kurze Zeit später herausstellte, sogar innerhalb der Nervenzelle selbst.14 Er tat dies nicht, indem er sie in ihre Bestandteile aufbrach, sondern indem er Immunzellen anregte sie zu umschlingen und zu verdauen.15 Da bei einem solchen Ansatz kein lösliches Beta-Amyloid freigesetzt wird, besteht kein Risiko eines neuen Schadens, wenn sich der Spiegel der löslichen Form erhöht. BetaAmyloid verschwindet einfach und befreit die Neuronen von ihrem unheilvollen Einfluss, unabhängig von der genaueren Art ihrer Toxizität. Dieses Konzept ist relativ leicht an Tieren zu testen, die eine spezielle Form von Alzheimer entwickelten. Vakzine gegen Viren müssen sorgfältig verändert werden, um sicherzustellen, dass sie dem Original ähnlich genug sind, um die Alarmglocken des Immunsystems auszulösen. Sie müssen aber auch unterschiedlich genug sein, damit sie die Menschen nicht tatsächlich mit der Krankheit infizieren. Im ersten Test dieses Konzepts wurde keine große molekulare Ingenieursleistung verwendet: Man injizierte Mäusen schlicht aggregiertes, menschliches Beta-Amyloid. Es lief von Beginn an hervorragend: Die Plaques in den Maushirnen gingen rasch zurück. Die Schwellungen und Funktionsstörungen der Neuriten (die Ausläufer, die chemische Signale von einer Nervenzelle zur nächsten transportieren) klangen ab und hinterließen gesunde, funktionstüchtige Einheiten. Das dichte, entzündliche Wuchern der unterstützenden Zellen rund um die Neuronen ging zurück. 16 Die Gedächtnisfunktion – gemessen an der Fähigkeit der Tiere, sich an versteckte Plattformen in einem überfluteten Labyrinth zu erinnern – wurde mit derjenigen von jüngeren, gesunden Tieren vergleichbar. 17 Die Firma, die diese Arbeiten koordinierte, Elan Pharmaceuticals, sammelte Resultate in vielen verschiedenen transgenen Mausmodellen, jedes mit einer anderen Mutation in der APP-Prozessierung. Das Beste war, dass die Behandlung sicher schien. Entgegen aller Befürchtungen verursachte der Immunangriff gegen das Beta-Amyloid rund um die Hirnzellen der Tiere keinen Kollateralschaden am feinen Netzwerk von unterstützenden Zellen, an denen die Plaques klebten. Manche befürchteten, dass der Immunangriff auf das Beta-Amyloid so aggressiv sein würde, dass er Löcher in den Schutzschild schlägt, der das Gehirn vor Giftstoffen im Blut schützt. Das hätte einen Strom von Fremdstoffen aus dem Rest des Körpers ins Gehirn ausgelöst, doch man fand kaum Anzeichen eines solchen Effekts. Die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA war von den Resultaten so beeindruckt, dass sie Elan rasch das OK gaben, mit seinem Impfstoff – Codename AN-1792 – in Placebokontrollierte klinische Studien zu gehen. Fast 400 freiwillige Patienten wurden rekrutiert, von denen 300 das Amyloidvakzin und 72 eine Salzlösung als Placebo-Kontrolle injiziert bekamen. Ihr körperlicher und geistiger Zustand und dessen Funktionalität wurden mittels einer Reihe neuropsychiatrischer und klinischer Tests ermittelt und ein Programm periodischer Injektionen entwickelt. Zwölf Monate später geschah das Desaster.

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Ein Feuer im Gehirn Nur wenige Monate nachdem der Versuch angefangen hatte, begannen einige Patienten ernste Nebenwirkungen aufzuweisen. Ungefähr jeder 15te der über 300 Patienten, die an 28 klinischen Zentren quer durch Europa und Nordamerika rekrutiert wurden, entwickelte eine Hirnhautentzündung, eine lebensbedrohende Gehirnschwellung, anscheinend infolge einer Überreaktion des Immunsystems im Gehirn selbst. 18 Sobald man die Nebenwirkungen erkannt hatte, wurde der Versuch gestoppt. Die Forscher waren außer sich und versuchten herauszufinden, was schiefgegangen war. Der Vorgang löste einen Schock aus. Der Impfstoff war an Mäusen mit einem breiten Spektrum von genetischen Abweichungen getestet worden, die alle durch einen anderen Defekt in der Herstellung oder im Stoff wechsel von APP zu einer Plaquebildung wie bei Alzheimer führten. Keine solchen Nebenwirkungen waren beobachtet worden, trotz der Tatsache, dass die Wissenschaftler in ihren Behandlungsprotokollen bei den Mäusen viel aggressiver vorgegangen waren, als sie es mit menschlichen Patienten wagen würden. Wie eine solche Krise nach derart sorgfältigen präklinischen Tests auftreten konnte, wurde in den Medien und der akademischen Literatur ausführlich dokumentiert und ich denke, es wäre ein zu großer Exkurs, es hier zu beschreiben. Wichtig ist lediglich, dass die Forscher die Probleme mit dem ersten Impfstoff rasch einkreisten – und dass sie überlegten, wie sie bewältigt werden können.

Das Nützliche aus der Asche retten Die erste Studie erwies sich für einige Patienten als katastrophal und sie wurde gestoppt, bevor die Wissenschaft die ganze Palette der Effekte – positiv und negativ – des Impfstoffs vollständig einschätzen konnte. Aber trotz – und in gewisser Weise gerade wegen – der Einschränkungen, die diese ernsten Nebenwirkungen bedeuteten, quetschten die Forscher jedes verfügbare Bit aus den Daten, das sie aus der Studie gewinnen konnten, um die humanen und finanziellen Kosten wettzumachen. 19 Durch sorgfältiges Filtern der Daten gelang es den Wissenschaftlern, vorläufi ge Ergebnisse zu sammeln. Diese legten nahe, dass die Immunisierung mit Beta-Amyloid trotz der schrecklichen Hirnentzündungen in einigen Patienten grundsätzlich als Humantherapie funktioniert. Und in Kombination mit weiteren Tierstudien deuteten die Ergebnisse auch auf Methoden, wie diese (und andere) Nebenwirkung(en) in zukünftigen Impfstoffen vermieden werden könnten. Einige davon sind entweder in Entwicklung oder sogar schon in klinischer Erprobung. Unmittelbar nach dem jähen Abbruch der Studie waren die Patienten-Informationen noch quer über die 28 unabhängigen, klinischen Zentren verstreut, in denen die Patienten behandelt worden waren. Vorläufige Einschätzungen der leicht zugänglichen Informationen waren wenig verheißungsvoll: Die Forscher fanden bei den Probanden kaum Anzeichen von Verbesserungen des Gedächtnisses oder anderer Denkleistungen. Als sich die Aufregung jedoch legte und die Forscher die vollständigen Krankenakten der Probanden zu sammeln und zu analysieren begannen, trat ein

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neues Muster hervor. Kein Impfstoff wirkt in allen Empfängern gleich: Einige Patienten entwickeln darauf eine stärkere Immunantwort als andere. Die Wissenschaftler trennten die 59 Teilnehmer, deren Blutwerte zeigten, dass ihr Immunsystem zum Zeitpunkt des Studienabbruchs eine substantielle Antikörper-Antwort gegen das injizierte Beta-Amyloid aufgebaut hatte, von den anderen, deren Immunsystem weniger reagiert hatte. Dadurch konnten sie zeigen, dass diejenigen, die gut auf das Vakzin angesprochen hatten, offensichtlich besser abgeschnitten hatten. Es dauerte seine Zeit, bis sich dieses Ergebnis herausbildete, da es zu Beginn durch die Statistik verdeckt war. Als die Forscher jeden Kognitionstest, den die Freiwilligen absolviert hatten, individuell betrachteten, konnten sie keine statistisch aussagekräftigen Unterschiede feststellen. Eine Gesamtanalyse der ganzen Testreihe deutete jedoch darauf hin, dass die Patienten, deren Immunsystem auf die Herausforderung reagiert hatte, während der Studienperiode weniger Verschlechterungen erlitten als diejenigen, die ein Placebo erhielten. Diese Differenz begann sich erst zwölf Monate nach dem Stopp der Studie abzuzeichnen. Von besonderem Interesse war die Tatsache, dass der sich abzeichnende Unterschied am offensichtlichsten für eine Gesamtauswertung der Gedächtnistests war. Noch bedeutungsvoller war: Es schien eine Art »dosisabhängige Wirkung« zu geben. In denjenigen mit den stärksten Antikörper-Antworten waren die Verbesserungen der Testresultate der Gesamt-Gedächtnisleistung, des unmittelbaren und verzögerten Gedächtnisses, eines neunteiligen Gedächtnistests und eventuell eines Tests der »Ausführfunktionen« (d.h. höhere Hirnfunktionen, die, initial und über die Zeit, an unserer zielgerichteten Selbstlenkung beteiligt sind) am deutlichsten. Diese Resultate sind umso beeindruckender, wenn man die Wahrscheinlichkeit bedenkt, dass die meisten der aktiv Ansprechenden an einer leichten Gehirnentzündung und durch das Vakzin ausgelösten »Mini-Schlaganfällen« litten – einer Möglichkeit, die nicht nur durch Autopsiebefunde und Tierstudien angedeutet wurde, sondern auch durch die Tatsache, dass Kopfschmerzen und Verwirrung in Subjekten, die die Impfung erhielten, viel häufiger als Nebeneffekte gemeldet wurden als in denjenigen, die Placebos erhielten. In der Tat zeigten Studien in Mäusen, die Beta-Amyloid-Ablagerungen in ihren Gefäßen hatten und daher anfällig für Mikroblutungen infolge der Impfung waren, trotzdem kognitive Verbesserungen, obwohl ihre Gehirne direkten Schaden durch die winzigen Blutungen erlitten. Wenn Ihre Hirnfunktion trotz eines stillen, chronischen Angriffs durch Ihr eigenes Immunsystems erhalten bleibt, ist die Folgerung, dass etwas anderes betreffend Ihrem zugrunde liegenden klinischen Zustand sich sogar noch stärker verbessert hat. Von einem Impfstoff, der Beta-Amyloid ausmistet (wie es dieser zu tun scheint), ohne diese entzündlichen Nebenwirkungen zu verursachen, würde man daher noch viel robustere Verbesserungen des Geisteszustandes erwarten. Eine weitere interessante Erkenntnis trat zutage, als die Forscher die Konzentrationen des Proteins Tau, dem Hauptbestandteil der Neurofibrillen, in der Flüssigkeit, in der das Zentralnervensystem badet (der Cerebrospinalflüssigkeit oder CSF), untersuchten. Obwohl sie in jeder Gruppe nur etwa zehn Probanden mit ausreichend guten Daten zum Vergleich hatten, beobachteten die medizinischen Teams, dass die auf den Impfstoff Ansprechenden niedrigere Taupegel hatten als die Placebo-Patienten.

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Obgleich es sehr indirekt ist, könnte dies ein Zeichen für eine geringere Rate an Hirnzelltod sein, da hohe Taupegel im CSF bei erkrankten Patienten mit Nervenzelltod einhergehen. Wie sieht es mit Beweisen für die vorgesehene Wirkung des Vakzins aus – seiner Fähigkeit, Beta-Amyloid-Plaques tatsächlich zu beseitigen? Leider sind Wissenschaftler noch nicht in der Lage, die Plaquebelastung im menschlichen Gehirn zu untersuchen, bevor die Patienten gestorben sind. Es wurden jedoch neue bildgebende Verfahren entwickelt, um genau dies zu erreichen. Diese werden jetzt auf ihre Genauigkeit getestet. Was einfach analysiert werden kann, sind die Beta-Amyloid-Pegel im CSF. In Tierstudien führen Impfungen gegen Beta-Amyloid fast immer zu einer Erhöhung der Beta-Amyloid-Konzentration im CSF. Dieser Befund wird üblicherweise als Anzeichen dafür interpretiert, dass das Vakzin den Tieren dabei hilft, das Zeug aus dem Gehirn zu räumen und es an andere Stellen im Körper zur Entsorgung zu transportieren. Dieser Effekt wurde in der kleinen Anzahl Studienprobanden, für die die Wissenschaftler Proben zum Vergleich hatten, nicht gesehen. Wir haben jedoch eine weitere, direktere Beweisquelle: Die drei auf das Vakzin Ansprechenden, die im Verlaufe der Studie verstarben. Man darf natürlich nicht allzuviel in Ergebnisse interpretieren, die in lediglich drei Patientengehirnen beobachtet wurden. Die Autopsien dieser Freiwilligen durch unabhängige Gruppen zeigte jedoch, verglichen mit Kontrollsubjekten, in jedem von ihnen eine dramatische Reduktion der Plaquepegel in Schlüsselregionen. Zudem fanden Pathologen bei der Untersuchung der Gehirne Mikroglia in nächster Nähe vieler der verbleibenden Plaques. Das legt nahe, dass das Vakzin so funktionierte, wie die Wissenschaftler immer gehoff t hatten: Das aktivierte Immunsystem hatte erfolgreich Mikroglia mobilisiert, um die Beta-Amyloid-Ablagerungen auszuräumen. Diese Schlussfolgerung wurde durch eine Studie unterstützt, die erst nach dem Ende des klinischen Versuchs abgeschlossen wurde. Sie zeigte, dass alte Grünaffen aus der Karibik, die eine Beta-Amyloid-Impfung erhielten, massive (66 Prozent) Reduktionen der Beta-Amyloidspiegel im Gehirn und ein völliges Fehlen von Plaques aufwiesen. Die dichte Verstrickung der die Neuronen unterstützenden Gliazellen, die man normalerweise in menschlichen Alzheimer-Patienten sieht, war zudem beträchtlich verringert.20 Dies ist ein wichtiges Stück unterstützender Evidenz, denn diese Affen entwickeln natürlicherweise eine gewisse alzheimerartige Pathologie im Alter und sind uns viel näher verwandt als jede Maus. Die Forscher, die diese Belege berichteten, arbeiten zur Zeit an Methoden, um die kognitiven Funktionen der Affen einzuschätzen.

Das nächste Beta-Amyloid-Vakzin All diese verlockenden, wenn auch noch nicht schlüssigen Informationen haben einmal mehr das Banner der Beta-Amyloid-Impfung als echte Heilung (oder zumindest eines Hauptbestandteils einer Heilung) für die alzheimersche Krankheit errichtet. Wir haben genug über das Potenzial des Vakzins als auch über die Gründe für die tödlichen Gehirnentzündungen gelernt, um eine Auswahl neuer Ansätze derselben

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Basisstrategie zu entwickeln. Einer oder mehrere von ihnen werden fast sicher wirksam sein, ohne die Empfänger zu gefährden. Der Schlüssel zur Entwicklung eines sicheren Impfstoffs ist natürlich, die rasenden Immunzellen zu vermeiden, die die Gehirne der ursprünglichen Subjekte im ersten Versuch attackierten, noch während die Mikroglia die Amloid-Plaques loyal wegputzten. Es gibt verschiedene Wege, dies zu tun, und jeder von ihnen genießt nun Unterstützung in Tiermodellen der Krankheit – ihre Wirksamkeit unterstützend und Belege dafür liefernd, dass sie keine tödliche immunologische Nebenwirkung haben werden. Einen relativ geradlinigen Ansatz, der bereits klinisch erprobt wird, nennt man passive Immunisierung. Bei einem konventionellen »aktiven Impfstoff« erhält der Patient das krankmachende Agens selbst (in diesem Falle Beta-Amyloid), um dem Immunsystem zu signalisieren, dass es eigene Antikörper als Antwort darauf produzieren soll. Im Gegensatz dazu bedeutet passive Immunisierung, dass man die gewünschten Antikörper selbst bereitstellt. Dadurch wird dieselbe Immunantwort hervorgerufen, wie wenn diese Antikörper vom Körper selbst produziert worden wären. Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass er den Wissenschaftlern die Kontrolle darüber geben würde, welche Antikörper durch den Patientenkörper zirkulieren. Man könnte diejenigen Antikörper auswählen oder sogar maßfertigen, die die Immunantwort aktivieren, welche die Mikroglia aussendet, um die Amyloidablagerungen21 abzuspalten und zu verdauen, ohne das Risiko, eine unerwünschte Reaktion gegen die Gefäße hervorzurufen. Der hauptsächliche Nachteil dieses Ansatzes besteht darin, dass er nicht die Art von halb permanenter Immun-Wachsamkeit erzeugt, die wir von Impfungen gegen Krankheiten wie Mumps oder Polio her kennen. Stattdessen müssten Patienten regelmäßige Antikörper-Injektionen erhalten, um ihren Bestand an Anti-Amyloid-Truppen stabil zu halten. Aber sogar diese scheinbare Unbequemlichkeit hat ihre gute Seite: Da das Immunsystem des Empfängers nicht in einen langfristigen Wachsamkeitszustand gegen Beta-Amyloid versetzt wird, können die Ärzte die Behandlung eines einzelnen Patienten – oder sogar des ganzen Versuchs – im Falle von Nebenwirkungen jederzeit stoppen. Dabei müssen sie nicht befürchten, dass der Körper wie beim ursprünglichen Vakzin in einem destabilisierten, autoimmunartigen Zustand bleibt. Eine andere Methode ist die Produktion eines aktiven Impfstoffes, der nur aus einem Teil des Beta-Amyloid-Moleküls besteht. Als die Wissenschaftler die Immunantwort auf die aktive Vakzinierung mit dem ganzen Beta-Amyloid-Molekül betrachteten, bemerkten sie, dass eine Mischung aus verschiedenen Antikörpern produziert wurde. Nur ein kleiner Teil dieser Antikörper war gefäßschädigend. Zudem, und das ist bedeutsam, wurden diese Antikörper nur in Menschen beobachtet, die das ursprüngliche Vakzin erhalten hatten und nicht in den Mäusen oder Affen, die dasselbe Vakzin erhielten und nicht die tragische Attacke auf ihr Gehirn erlitten hatten. Diese Antikörper waren nur für ein Segment in der Mitte des gesamten Beta-Amyloid-Proteins sensibilisiert. Im Gegensatz dazu waren in Mäusen, Affen und Menschen die meisten Antikörper von einer Art, die das Immunsystem gegen ein ganz anderes Segment des Beta-Amyloid-Moleküls an einem Ende mobilisiert.

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Da es einigermaßen klar ist, dass die Reaktion gegen die Gefäße nicht nur unnötig (weil sie in Tiermodellen aktiver und passiver Vakzinierung nicht gesehen wird, diese Prozeduren jedoch Amyloid dramatisch verringern und das Gedächtnis verbessern), sondern extrem schädlich ist (wegen ihrer Rolle in Gehirnentzündungen), scheint es höchstwahrscheinlich, dass ein Impfstoff gemäß obigen Prinzipien gut funktionieren und kein Gehirnentzündungsrisiko haben wird, solange er nur diesen entscheidenden Teilabschnitt des Proteins enthält. So ein Impfstoff würde die gewünschte Immunantwort aktiv hervorrufen, ohne das Immunsystem des Körpers auf eine fehlgeleitete Mission gegen das eigene Gehirn zu schicken, zu dessen Verteidigung es geweckt wurde. Bis heute wurden schon mehrere Impfstoffe nach diesem Prinzip entwickelt. Sie funktionieren, indem sie das Schlüsselsegment des Beta-Amyloid-Proteins an andere Proteine oder Antigene binden oder durch Kombination mit geeigneten Immunstimulantien oder indem mehrere solche Segmente zusammen zu einer Art molekularem Beta-Amyloid-Nadelkissen verbunden werden. Sie alle streben eine maximale Antikörperantwort auf das Vakzin an, ohne die Überreaktion auszulösen. Von all diesen Impfstoffen wurde gezeigt, dass sie den Beta-Amlyoid-Spiegel und oft auch die Plaques verringern – einige von ihnen mit sehr bequemen Darreichungsformen wie transdermalen Pflastern, ähnlich denen zur weit verbreiteten Nikotinbehandlung oder der Sorte von Nasensprays, die man heute zur raschen Schleimlösung von verstopften Nasen benutzt. Das hat die wissenschaftliche Kreativität jedoch noch nicht erschöpft. Als dieses Buch in Vorbereitung war, meldeten beispielsweise Forscher des Southwestern Medical Center der Universität Texas, dass DNA-Injektionen der giftigsten Form der Beta-Amyloid-Proteine, die im Innern von Gold-Mikropartikeln unter die Haut von Tieren geschmuggelt wurden, zur Produktion des Proteins und zu einer rigorosen und offensichtlich sicheren Antikörper-Antwort des Körpers führten. Das Resultat: Nach elf Injektionen über einen Zeitraum von mehreren Monaten erfreuten sich die Alzheimer-Mäuse einer um 60 bis 77,5 Prozent reduzierten Plaque-Belastung.22 Wie ich erwähnte, ist die am besten untersuchte passive Impfung bereits in von Elan Pharmaceuticals organisierten klinischen Versuchen der mittleren Phase. Dieses Vakzin war das erste, das aus den Startblöcken kam, aber das Rennen zur Entwicklung eines klinisch wirksamen und sicheren Impfstoffs, um Beta-Amyloid zu besiegen, ist in vollem Gange. In der Tat scheint die Frage heute nicht so sehr zu sein, ob eine Impfung gegen Amyloid wirkt, sondern welche dieser vielen raffinierten Strategien sich letztendlich als die wirksamste und sicherste herausstellt. Wenn wir den bisherigen Fortschritt überblicken, können wir mit großer Zuversicht sagen, dass es uns bald gelingen sollte, die alten Kräfte des Immunsystems einzuspannen, um uns einen Weg durch die den Verstand raubenden Netze von Beta-Amyloid zu bahnen und den gefangenen Geist, den sie fesseln, zu erlösen.

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Amyloidimpfungen über Alzheimer hinaus Wir haben so viel Zeit damit verbracht, den Alzheimer-Impfstoff gegen Beta-Amyloid zu diskutieren, dass Sie vielleicht vergessen haben, wo wir begonnen hatten: mit der Feststellung, dass Beta-Amyloid nur ein berühmtes Beispiel einer Klasse von extrazellulären Protein-Aggregaten (»Amyloide«) ist, die in Zusammenhang mit der Alterung und altersbedingten Krankheiten stehen. Und nein, wir wiederholen den Fehler des National Institute on Aging diesbezüglich nicht. Es wirft nämlich fast die Hälfte seiner jährlichen Ressourcen in die Alzheimer-Forschung auf Kosten seines tatsächlichen Auftrags, der lautet (oder lauten sollte), Methoden zur Behandlung der Alterung selbst statt einer speziellen altersbedingten Krankheit zu finden. Ich habe Sie nur durch die Entwicklung des Impfstoffs geführt, weil er in einem so fortgeschrittenen Stadium der klinischen Entwicklung ist. Wir haben allen Grund zur Annahme, dass wir dieselbe Art immunologischer Strategie ausnutzen werden können, um die meisten der anderen altersbedingten Erkrankungen anzupacken, die durch Beläge von extrazellulärem Müll verursacht sind. Neben der Beta-Amyloid-Impfung gegen Alzheimer ist der in der Entwicklung am weitesten fortgeschrittene immunologische Amyloid-Sprenger ein Vakzin gegen systemische AL-Amyloidose, auch primäre Amyloidose genannt. Ich habe diese Form von Amyloidose zu Beginn des Kapitels kurz erwähnt. Die häufigste Form von Amyloidose in den USA und einigen anderen Industrieländern ist AL-Amyloidose – sie trifft 2 bis 3000 Amerikaner jährlich. Sie ist das Resultat einer Überproduktion von Leichten (L – daher »AL« wie »Amyloidose Leichte Kette«) Immunoglobulin-Ketten, einem Bestandteil einer Antikörperklasse, durch einen gewissen Zelltyp, den Plasmazellen. Ich werde hier jedoch nicht viel Zeit mit AL Amyloidose verbringen, da es keine altersbedingte Amyloidose ist und weil sich das beteiligte Amyloid in wichtigen Belangen von den altersbedingten unterscheiden könnte. Der Hauptunterschied ist, dass es sich so extrem schnell ablagert, dass es vielleicht nicht dasselbe Ausmaß an problematischen Quervernetzungen wie altersbedingte Amyloide hat. Die Hauptsache, die ich Ihnen über AL Amyloidose mitteilen wollte, betriff t ein Immunotherapieprotokoll, das positive Hinweise für seine Übertragbarkeit auf altersbedingte Amyloidosen gibt. Die bestehenden Therapien für AL sind eindeutig unzureichend. Bis vor kurzem war die Standardbehandlung eine hochdosierte Chemotherapie, um die ursächlichen Plasmazellen abzutöten, oft kombiniert mit einer Knochenmarktransplantation, um einen Teil der anderen Blutzellen zu ersetzen, die durch die Therapie zerstört wurden. Vor kurzem wurde ein neues chemotherapeutisches Medikament namens I-DOX verwendet, das – wie durch einen glücklichen Zufall entdeckt wurde – die Beseitigung von systemischen AL-Amyloid-Plaques durch einen bisher unbekannten Mechanismus beschleunigen kann, der Plasmazellen anscheinend nicht unterdrückt. Doch sogar diese neue Therapie neigt dazu, Blutkrankheiten zu verursachen, und beide Behandlungen sind nur für Patienten mit Ablagerungen in den Weichteilen hilfreich, ohne Nutzen für die ernsteren Fälle, in denen Herz oder Nieren betroffen sind. Mit einer Sterblichkeit von etwa 40 Prozent sind sie auch nicht sehr erfolgreich darin, Leben zu retten. Zur Jahrtausendwende entwickelten Wissenschaftler im Labor von Dr. Alan Solo-

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mon vom Humanen Immunologie- und Krebsprogramm der Universität Tennessee (Graduate School of Medicine) ein neues Tiermodell für AL. Sie injizierten Mäusen einfach das menschliche Leichtketten-Amyloid, das sie aus der Leber oder Milz von Patienten extrahierten, die an der Krankheit gestorben waren. Das AL begann rasch, Amyloid-»Tumoren« in den Tieren zu bilden. Ihre Größe hing von der Materialmenge ab, die die Tiere verabreicht bekamen: Bei hohen Dosen wuchs die Amyloidmasse auf ihrem Rücken derart, dass man sie von Hand ertasten konnte.23 Als sie die Auswirkungen der Krankheit auf die Tiere untersuchten, demonstrierte Dr. Solomons Gruppe, dass Antikörper gegen ein Segment der einmaligen »Beta-Faltblatt«-Struktur der Leichtketten-Amyloidfibrillen die Ablagerungen teilweise abbauten und dadurch anfälliger für einen Immunangriff machten. Sie entnahmen den Mäusen Amyloidtumoren, setzten diese Antikörpern aus und gaben dann die Tumoren den Mäusen zurück. Die Tiere bauten diese daraufhin doppelt so schnell ab wie neue Tumoren vergleichbarer Größe. Die Beseitigung war auch beschleunigt, wenn die ursprünglichen, noch unaggregierten Amyloidextrakte mit Antikörpern vorbehandelt wurden, bevor man sie injizierte. Sogar Mäuse mit Immunschwäche beseitigten die Ablagerungen schneller, wenn sie mit den Amyloidextrakten auch Antikörper erhielten.24 Ein solcher Antikörper – ein Immunoglobulin G1-Antikörper, den sie 11-1F4 tauften – hatte den stärksten »Zielinstinkt« und näherte sich schnell Tumoren, die aus einem der beiden Hauptklassen von humanen Leichtketten-Amyloidfibrillen aufgebaut sind. Dies war im Reagenzglas wie auch in Mäusen der Fall. Ebenso wichtig: Es wurde gezeigt, dass der Antikörper spezifisch auf Amyloid abzielt, ohne Gewebe anderswo im Körper oder humane Gewebeproben zu infiltrieren. Zudem funktionierte es auch an vorgeformtem AL-Amyloid.

Ein Hansdampf in allen Amyloiden? Wie ich bereits sagte, spreche ich von 11-1F4 nicht aufgrund seiner Auswirkungen auf AL Amyloidose. Solomons Modell der systemischen AL-Amyloidose war nachteilig, weil es ein unpräzises Modell der menschlichen Krankheit darstellt, da sich die Ablagerungen kaum auf die Hauptorgane ausdehnten. Daher suchten sie nach Möglichkeiten, es in anderen Amyloid-Krankheiten zu testen, wie etwa der Protein A-AmyloidAmyloidose (AA – auch »entzündliche« oder »sekundäre« Amyloidose genannt), der häufigsten Amyloiderkrankung außerhalb der USA.25 AA hat den Vorteil, als ausgewachsene Krankheit in vielen Mausstämmen einfach herbeiführbar zu sein: Man injiziert lediglich Chemikalien wie Silbernitrat, die eine starke Entzündungsreaktion auslösen. Dies führt zu einer Überproduktion an Serum-Amyloid A (SAA), einem von der Leber bei Entzündungen produzierten Protein. Wie die leichten Ketten von Immunoglobulin wird SAA nur teilweise von den Makrophagen des Körpers abgebaut, wodurch klebrige, halb verdaute SAA-Fragmente freigesetzt werden, die tendenziell zusammenklumpen und sich in den Nieren und der Leber anhäufen. So entsteht die Krankheit sowohl in Mäusen wie auch in Menschen. Die bei Mäusen, wenn diese entzündungsfördernde Chemikalien erhalten, entstehende Amyloiderkrankung ahmt daher sehr genau das menschliche Pendant nach.

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Erstaunlicherweise entdeckte die Gruppe an der Universität Tennessee, dass der Antikörper 11-1F4 auch auf AA-Amyloid von Mäusen reagierte – und dass er es in betroffenen Mäusen ausräumte.26 Tatsächlich war er gegen AA-Ablagerungen fast so wirksam wie gegen das ursprüngliche AL-Angriffsziel. Die durchschnittliche Amyloidbelastung sank sowohl in der Leber als auch der Milz um über drei Viertel! Dies könnte an der Ähnlichkeit der molekularen Architektur liegen, die der Klebrigkeit der verschiedenen Fibrillen zugrunde liegt und zu einem ähnlichen Antigen-Profi l führt. Es könnte auch mit der seit langem bekannten Tatsache zusammenhängen, dass Extrakte von AL-Amyloidablagerungen die Entwicklung von AA in Mäusen bei einer Entzündung beschleunigen. Falls dem so ist, könnten die Aggregationseigenschaften der verschiedenen Amyloide vielleicht miteinander wechselwirken. Eine Sorte könnte als eine Art Kristallisationszentrum dienen, um das sich andere ansammeln. Denken Sie an einen kleinen Belag von angebratenem Essen auf einer Pfannenoberfläche. Wird er nicht sofort entfernt, wird der Fleck durch zukünftiges Kochen immer hartnäckiger auf der Oberfläche eingebettet. Er beginnt Essensteilchen von künftigen Mahlzeiten aufzuschnappen und wächst langsam zu einem immer größeren Fleck, der immer schwieriger zu entfernen ist. Noch bemerkenswerter war, dass die Gruppe der Universität Tennessee zeigen konnte, dass 11-1F4 mit auf Transthyretin (TTR) basiertem Amyloid reagieren und es entfernen konnte. TTR ist das Protein, welches Schilddrüsenhormone transportiert und dessen Aggregation senile Herz-Amyloidose verursacht, eine Todesursache von so vielen der heute ältesten Menschen unter uns. Falls passive Immunisierung mit 11-1F4 den Verlauf beider dieser Hauptformen von Amyloidose rückgängig machen kann, sind wir bestens gerüstet, um einige der wichtigsten Quellen extrazellulären Mülls in der Bevölkerung insgesamt auszumisten. Potentiell könnten darunter auch andere Formen von Amyloidose fallen, die lediglich aufgrund unserer derzeitigen kurzen Lebensspanne weniger häufige Todesursachen sind. Das ist spannende Forschung und der nächste Schritt für den Antikörper ist eindeutig, ihn in Menschen mit den entsprechenden Amyloidosen zu testen. Dazu muss der Antikörper zuerst »humanisiert« werden. Sie erinnern sich, dass das Leichtketten-Amyloid, welches die Antikörper entfernen, von Menschen stammt. Der beseitigende Wirkstoff ist jedoch ein Maus-Antikörper, der vermutlich nicht gut oder sicher mit dem humanen Immunsystem interagiert. Um dieses Problem zu überwinden, hat Solomons Gruppe den Antikörper »chimerisiert«: Sie kombinierten sein Antigen aufspürendes »Werkzeug-Ende« mit einem humanen »Griff«. Der entstandene Antikörper erkannte immer noch sowohl das Leichtketten-Amyloid als auch Aggregate von Protein-A-Amyloid und beseitigte diese sogar in Mäusen, wie es das ursprüngliche Vakzin getan hatte. Die Resultate sind derart vielversprechend, dass die Medikamenten-Entwicklungsgruppe des US-amerikanischen Nationalen Krebsinstituts eine pharmazeutische Produktion des neuen Antikörpers im großen Maßstab arrangiert hat, um ihn in früher klinischer Phase in Menschen zu testen.

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Viele Möglichkeiten Diese Art von immunbasiertem Impfansatz gegen Amyloide wurde an Tiermodellen für Alzheimer und drei humanen Amyloidosen (und für ersteres in klinischen Versuchen) demonstriert. Wir haben allen Grund zur Annahme, dass er auch in anderen Fällen von zellulären Schlingpflanzen funktioniert. Nehmen Sie zum Beispiel Amylin oder »Inselzellen-Amyloid-Polypeptid«, dessen Amyloid hervorrufende Eigenschaft ich am Anfang des Kapitels kurz erwähnte. Amylin-Aggregate häufen sich auf Insulin produzierenden Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse fast aller Menschen mit Diabetes mellitus (insulinunabhängiger Altersdiabetes). Die Aggregate oder die löslichen Oligomere, aus denen sie zusammengesetzt sind, scheinen eine Rolle beim allmählichen Absterben der Beta-Zellen bei fortschreitender Krankheit zu spielen.27 Dies führt dazu, dass die Insulinproduktion des Körpers mit den ständigen Zuckerschüben, die jede Mahlzeit begleiten, nicht mehr mithalten kann. Bislang versuchte niemand einen Impfstoff zu entwickeln, um diese Ablagerungen zu entfernen. Die Machbarkeit eines solchen Ansatzes wird jedoch durch die Tatsache nahegelegt, dass Amylinfibrillen im Inneren von Makrophagen identifiziert wurden, welche aus die den Amylinablagerungen benachbarten Gebieten gewonnen wurden. Dort akkumuliert Amylin, ohne vollständig abgebaut zu werden. Zudem werden Amylinfibrillen unter Reagenzglas-Bedingungen von Makrophagen umhüllt und häufen sich in ihnen an, wenn man sie ihnen aussetzt.28 All dies deutet darauf hin, dass das Immunsystem gegen diese Form von extrazellulärem Müll ebenso zu einem Angriff rüstet wie gegen Beta-Amyloid und dem für sekundäre Amyloidose verantwortlichen Schrott. Daher haben wir allen Grund zu der Annahme, dass dieser Angriff mit einem Vakzin verstärkt werden kann, das denjenigen ähnelt, die momentan gegen diese anderen Amyloidosen in Entwicklung sind. Das therapeutische Potential eines solchen Ansatzes würde noch gesteigert, wenn man gleichzeitig die Lysosomen der Makrophagen mit Enzymen aufrüstete, welche Amylinfibrillen besser verdauen können – eine Aufgabe, die nach dem Einsatz der LysoSENS-Methode schreit, die ich im letzten Kapitel diskutierte. Andere Amyloidoseformen könnten ebenfalls vor einer Infusion gezielter Antikörper oder anderer Vakzine in die Knie gezwungen werden. Und während der Fokus der Medikamenten-Entwicklung heutzutage auf Behandlungen für spezifische, auf Amyloid basierten Krankheiten liegt, kann dieselbe Forschung für die SENSAgenda eingesetzt werden. Wenn sie erst einmal ihre Wirksamkeit bei Alzheimer, seniler Herz-Amyloidose und Diabetes mellitus bewiesen hat, wird diese Spin-OffTechnologie die rasche Entwicklung von Impfstoffen gegen unbedeutendere Amyloidablagerungen ermöglichen, die heute fast unbemerkt bleiben, mit Ausnahme von Menschen mit 100 oder mehr Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen. Die Tatsache, dass diese Therapien so rasch vom Labor in klinische Versuche kamen (zur Erinnerung: Mausresultate mit dem ersten Beta-Amyloid-Vakzin wurden 1999 berichtet, 2001 war es in der Klinik), deutet auf noch schnellere Verfahren hin, wenn die ersten Anti-Amyloid-Impfstoffe klinische Tests passiert haben und mit Erfolg in Arztpraxen rund um den Globus verwendet werden. Letztendlich stelle ich mir ein Behandlungsschema vor, das unsere Körper von

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extrazellulärem Müll befreit, indem wir vielleicht eine planmäßige Sequenz von Anti-Amyloid-Impfstoffen erhalten, ähnlich der Standardserie, die man heute in planmäßiger Reihenfolge im Laufe einer Kindheit verabreicht. Der Zeitpunkt und die Häufigkeit der Verabreichung eines gegebenen Vakzins würden davon abhängen, wie rasch sich sein Angriffsziel zu funktionshindernden Spiegeln anhäuft: Von einigen würden wir alle paar Jahre einen »Verstärkerschuss« erhalten, während andere nur wenige Male pro Jahrhundert in einem deutlich verlängerten Leben gegeben würden. Jedes Mal, wenn wir eines dieser Vakzine nähmen, würden unsere Zellen und Organe wieder frei von einer speziellen Sorte molekularer Schlingpflanzen leben und funktionieren und buchstäblich zum ungebundenen Potential der Jugend zurückkehren.

Anmerkungen 1 Dobson, C.M.: Getting out of shape. Nature 2002, 418 (6899): 729-730. 2 Die Gamma-Sekretase ist eigentlich gar kein einzelnes Protein, sondern ein Multi-Protein-Komplex bestehend aus Presenilin (PS), Nicastrin (NCT), APH-1 und PEN-2. 3 Auch Memapsin, ASP-2 oder BACE genannt. 4 Tatsächlich ist der häufigste genetische Risikofaktor in Bezug auf Alzheimer – eine ungünstigere Version des Apolipoprotein E (APOE) zu haben – für sich genommen kein Todbringer, wie es (beispielsweise) das Krankheitsgen für Huntington ist. Denn es ist zur Bildung von Amyloid beta nicht essentiell, sondern erhöht die Wahrscheinlichkeit der Ablagerung der Amyloidfibrillenproteine im Gewebe. 5 Hashizume, Y./Wang, Y./Yoshida, M.: Neuropathological study in the central nervous system of centenarians. In: Tauchi, H./Sato, T./Watanabe, T. (Hg.): Japanese Centenarians: medical Research for the Final Stages of Human Aging. 1999, Institute for Medical Science of Aging, Aichi, Japan: 137-154. 6 Zudem waren andere Autopsiestudien an über 100-Jährigen leider größtenteils Dissektionen, die nicht die Art von Hilfsmittel benutzten, welche nötig sind, um die zugrunde liegenden molekularen Probleme wie Amyloidosen zu identifizieren. Die vorhandenen Daten bestätigen eine allgemeine Gebrechlichkeit, an denen diese langlebigen Menschen leiden. Sie resultiert aus der Schwächung des gesamten Körpers durch allgegenwärtigen, altersbedingten molekularen Schaden: Die Hälfte aller über 100-Jährigen, die von 1958 bis 1987 autopsiert wurden und ein Drittel jener, die von 1958 bis 1995 untersucht wurden, wiesen altersbedingte »Seneszenz und Organatrophie« als einen Hauptbefund der Pathologie auf – ein Fazit, das sich mit ähnlichen Studien in Schweden und den USA deckt. (Tauchi, H./Sato, T.: Autopsy findings: outline and generational differences. In: Tauchi et al.: op cit: 132-136). 7 www.supercentenarian-research-foundation.org/ 8 Persönliche Mitteilung, Stanley Primmer, Supercentenarian Research Foundation, 02.04.2006. 9 Courtney, C./Farrell, D./Gray, R./Hills, R./Lynch, L./Sellwood, E./Edwards, S./ Hardyman, W./Raftery, J./Crome, P./Lendon, C./Shaw, H./Bentham, P./AD2000

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Collaborative Group: Long-term donepezil treatment in 565 patients with Alzheimer’s disease (AD2000): randomized double-blind trial. Lancet 2004, 363 (9427): 2105-2115. Reisberg, B./Doody, R./Stoffler, A./Schmitt, F./Ferris, S./Mobius, H.J.: A 24-week open-label extension study of memantine in moderate to severe Alzheimer’s disease. Arch Neurol 2006, 63 (1): 49-54. D’Andrea, M.R./Nagele, R.G./Wang, H.Y./Peterson, P.A.: Lee, D.H.: Evidence that neurones accumulating amyloid can undergo lysis to form amyloid plaques in Alzheimer’s disease. Histopathology 2001, 38 (2): 120-134. Paresce, D.M./Chung, H./Maxfield, F.R.: Slow degradation of aggregates of the Alzheimer’s disease amyloid-beta-protein by microglial cells. J Biol Chem 1997, 272 (46): 29390-29397. Es gäbe immer noch das Problem der Neurofibrillen, welches wir im letzten Kapitel diskutierten – aber dasselbe Kapitel bot natürlich auch eine Lösung dafür. Wie wir jedoch sehen werden, hilft die Immunisierung gegen Beta-Amyloid an sich dem Gehirn, diese Aggregate besser auszuräumen, so als ob das Freiräumen der Hurrikantrümmer vor Ihrer Haustüre es Ihnen erlaubt hätte, endlich den Abfall rauszubringen. Billings, L.M./Oddo, S./Green, K.N./McGaugh, J.L./LaFerla, F.M.: Intraneuronal Abeta causes the onset of early Alzheimer’s disease-related cognitive deficits in transgenic mice. Neuron 2005, 45 (5): 675-688. Es gibt andere Hypothesen hinsichtlich dieses Prozesses, doch diese bleibt die führende. Schenk, D./Barbour, R./Dunn, W./Gordon, G./Grajeda, H./Guido, T./Hu, K./Huang, J./Johnson-Wood, K./Khan, K./Kholodenko, D./Lee, M./Liao, Z./Lieberburg, I./Motter, R./Mutter, L./Soriano, F./Shopp, G./Vasquez, N./Vandevert, C./Walker, S./Wogulis, M./Yednock, T./Games, D./Seubert, P.: Immunization with amyloidbeta attenuates Alzheimer-disease-like pathology in the PDAPP mouse. Nature 1999, 400 (6740): 173-177. Morgan, D./Diamond, D.M./Gottschall, P.E./Ugen, K.E./Dickey, C./Hardy, J./ Duff, K./Jantzen, P./DiCarlo, G./Wilcock, D./Connor, K./Hatcher, J./Hope, C./ Gordon, M./Arendash, G.W.: Abeta peptide vaccination prevents memory loss in an animal model of Alzheimer’s disease. Nature 2000, 408 (6815): 982-985. Janus, C./Pearson, J./McLaurin, J./Mathews, P.M./Jiang, Y./Schmidt, S.D./Chishti, M.A./Horne, P./Heslin, D./French, J./Mount, H.T./Nixon, R.A./Mercken, M./ Bergeron, C./Fraser, P.E./St. George-Hyslop, P./Westaway, D.: Abeta peptide immunization reduces behavioural impairment and plaques in a model of Alzheimer’s disease. Nature 2000, 408 (6815): 979-982. Orgogozo, J.M./Gilman, S./Dartigues, J.F./Laurent, B./Puel, M./Kirby, L.C./Jouanny, P./Dubois, B./Eisner, L./Flitman, S./Michel, B.F./Boada, M./Frank, A./ Hock, C.: Subacute meningoencephalitis in a subset of patients with AD after Abeta42 immunization. Neurology 2003, 61 (1): 46-54. Nicoll, J.A./Wilkinson, D./Holmes, C./Steart, P./Markham, H./Weller, R.O.: Neuropathology of human Alzheimer disease after immunization with amyloid-betapeptide: a case report. Nat Med 2003, 9 (4): 448-452.

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Ferrer, I./Boada Rovira, M./Sanchez Guerra, M.L. et al.: Neuropathology and pathogenesis of encephalitis following amyloid-beta immunization in Alzheimer’s disease. Brain Pathol 2004, 14 (1): 11-20. Masliah, E./Hansen, L./Adame, A./Crews, L./Bard, F./Lee, C./Seubert, P./Games, D./Kirby, L./Schenk, D.: Abeta vaccination effects on plaque pathology in the absence of encephalitis in Alzheimer’s disease. Neurology 2005, 64 (1): 129-131. Gilman, S./Koller, M./Black, R.S./Griffith, S.G./Fox, N.C./Eisner, L./Kirby, L./ Rovira, M.B./Forette, F./Orgogozo, J.M.: AN1792(QS-21)-201 Study Team. Clinical effects of Abeta immunization (AN1792) in patients with AD in an interrupted trial. Neurology 2005, 64 (9): 1553-1562. Lemere, C.A./Beierschmitt, A./Iglesias, M./Spooner, E.T./Bloom, J.K./Leverone, J.F./Zheng, J.B./Seabrook, T.J./Louard, D./Li, D./Selkoe, D.J./Palmour, R.M./ Ervin, F.R.: Alzheimer’s disease Abeta vaccine reduces central nervous system Abeta levels in a non-human primate, the caribbean vervet. Am J Pathol 2004, 165 (1): 283-297 Der prominenteste derzeit untersuchte Antikörper funktioniert vielleicht gar nicht auf diese Weise: Er gelangt offenbar nicht einmal ins Gehirn und kann scheinbar weder Mikroglia aktivieren noch an Plaques binden. Stattdessen scheint die Funktionsweise dieses Antikörpers vor allem darin zu bestehen, lösliches Beta-Amyloid aus den Flüssigkeiten abzufangen, in denen das Zentralnervensystem badet. Durch eine Art Osmose wird es aus dem Gehirn gezogen und in die Spinalflüssigkeit und letztendlich in die Peripherie des Körpers gebracht. Dies erlaubt den Antikörpern selbst, es abzubauen und schlussendlich die Belastung an Gehirnplaques und Oligomeren aus Beta-Amlyoid in den Nervenzellen zu reduzieren. Tatsächlich ist diese Hypothese der »peripheren Senke« eine Interpretation der Funktionsweise des ursprünglichen Vakzins AN-1792 (siehe Anmerkung 15). Qu, B./Boyer, P.J./Johnston, S.A./Hynan, L.S./Rosenberg, R.N.: Aβ42 gene vaccination reduces brain amyloid plaque burden in transgenic mice. J Neurol Sci 2006, 244 (1): 151-158. Hrncic, R./Wall, J./Wolfenbarger, D.A. et al.: Antibody-mediated resolution of light chain-associated amyloid deposits. Am J Pathol 2000, 157 (4): 1239-1246. Solomon, A./Weiss, D.T./Wall, J.S.: Immunotherapy in systemic primary (AL) amyloidosis using amyloid-reactive monoclonal antibodies. Cancer Biother Radiopharm 2003, 18 (6): 853-860. Dies ist dieselbe rekombinante DNA-Biotechnologie, die heutzutage zur Produktion von allem, von Insulin für Diabetiker bis zu vielen künstlichen Geschmackstoffen, verwendet wird. AA ist das Ergebnis einer zu hohen lebenslangen Belastung an SAA, was üblicherweise von einem chronischen Entzündungszustand herrührt. AA ist in den Entwicklungsländern viel häufiger als in vielen Industrieländern, da Menschen, die ohne gute sanitäre Infrastruktur leben, viel eher dauernden Entzündungsstimuli ausgesetzt sind – insbesondere wiederholter oder chronischer Infektionen, inklusive viraler Hepatitis. Daher ist diese Amyloidose in den USA viel weniger verbreitet, wo sie normalerweise im Zusammenhang mit speziellen Entzündungskrankheiten wie der rheumatoiden Arthritis steht.

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26 Solomon, A./Weiss, D.T./Wall, J.S.: Therapeutic potential of chimeric amyloid-reactive monoclonal antibody 11-1F4. Clin Cancer Res 2003, 9 (10 Pt 2): 3831S-3838S. Wall, J./Schell, M./Hrncic, R./Macy, S./Wooliver, C./Wolfenbarger, D./Murphy, C./Donnell, R./Weiss, D. T./Solomon, A.: Treatment of amyloidosis using an antifibril monoclonal antibody: preclinical efficacy in a murine model of AA-amyloidosis. In: Bély, M./Apáthy, A. (eds).: Amyloid and Amyloidosis. The Proceedings of the IX International Symposium on Amyloidosis. 2001, Budapest, Hungary: David Apáthy, ff 158-160. 27 Lorenzo, A./Razzaboni, B./Weir, G.C./Yankner, B.A.: Pancreatic islet cell toxicity of amylin associated with type-2 diabetes mellitus. Nature 1994, 368 (6473): 756760. 28 Badman, M.K./Pryce, R.A./Charge, S.B./Morris, J.F./Clark, A.: Fibrillar islet amyloid polypeptide (amylin) is internalised by macrophages but resists proteolytic degradation. Cell Tissue Res 1998, 291 (2): 285-294.

9. Die AGE-Fesseln sprengen

Jahr für Jahr fesseln permanente chemische Prozesse die Strukturproteine Ihres Körpers und halten sie von ihren lebenswichtigen Aufgaben ab. Dies führt schließlich zu einem bekannten (und letztlich tödlichen) Spektrum altersbedingter Invalidität und Krankheit – speziell in den Nieren, Herz, Augen und Blutgefäßen. Was, wenn wir diese chemischen Fesseln aufbrechen könnten und dadurch diesen Proteinen erlauben würden zur Arbeit zurückzukehren, wie damals, als Sie jung waren? Die Wissenschaft nähert sich Medikamenten, die genau dieses Ziel erreichen könnten.

Es sind nur noch wenige Stunden bis zum großen Festmahl und die Atmosphäre ist von feinen Gerüchen und feierlichen Emotionen geprägt. In der Küche wurde den ganzen Tag gearbeitet – der Ofen war konstant in Betrieb und die Dame des Hauses ließ das Fenster halb geöffnet, um einen kühlen Kopf zu bewahren. Schließlich weichen die Eile und der Stress einer eher erwartungsvollen, begierigen Spannung. Die Kartoffeln sind püriert, die Sauce wurde in die Servierschale gefüllt, der Rotkohl wird im Ofen warm gehalten, der Schokoladenpudding kühlt auf dem Fenstersims … und jetzt dominiert ein einziger Bestandteil des Mahles die Aufmerksamkeit der Köchin und den Appetit ihrer Gäste. Seit eineinhalb Stunden wird die Ente alle 15 Minuten, wie ein Uhrwerk, liebevoll mit ihrem eigenen Fett und vielleicht ein wenig Honig bestrichen. Nun wird der Grill angeworfen, um ihre Oberfl äche zu glasieren und den Schmaus zu vollenden. Während die Ente im Ofen war, fanden unmerklich komplexe chemische Prozesse statt – und jetzt beschleunigen sie sich. Auf molekularer Ebene bewirkt die große Hitze, dass die Zucker und Fette die Proteine in der Vogelhaut angreifen. Molekulare Verbindungen werden geschmiedet, neue chemische Produkte entstehen und vergehen, benachbarte Proteine werden in Zwangshochzeiten zusammengekettet, wodurch sich die Haut der Ente spannt und sie mit dicken, klebrigen Ketten von verflochtenen Proteinen, Fetten und Zuckern ummantelt. Schließlich ist die Tat vollbracht. Mutti schaltet den Ofen aus, streift sich die Backhandschuhe über und bittet ihren Mann, das Fleischmesser zu holen. Die Familie be-

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trachtet ihr Kunststück: Mit gierigen Augen bestaunen sie anerkennend und hungrig die dunkle, knusprige, klebrige und leicht gehärtete Oberfläche, die der chemische Strudel aus der Entenhaut gemacht hat. Es ist angerichtet. Ich bin sicher, dass Sie und Ihre Familie ein ähnliches Drehbuch an Weihnachten haben – oder an Chanukka, wenn die Latkes oder Sufganiyot gebräunt werden. Doch in einem tieferen Sinn haben Sie gleich viel mit dem Festschmaus gemein wie mit der Familie. Jeden Tag Ihres Lebens sind dieselben Prozesse, welche an der Bräunung des Fleischs und anderen glasierten oder gebratenen Nahrungsmitteln beteiligt sind, in Ihrem Körper heimtückisch am Werk. In Ihren Arterien. In Ihren Nieren. In Ihrem Herzen, Ihren Augen, Ihrer Haut, Ihren Nerven. Genau in diesem Moment vollführt der Zucker, der Ihren Körper mit so viel Energie versorgt, in allen Ihren Geweben einige ungewollte chemische Experimente und karamellisiert Ihren Körper durch exakt dieselben Prozesse, welche Zwiebeln oder Erdnusskrokant karamellisieren. Langsam aber stetig fesseln ungewollte Zucker- und Fettbindungen Ihre Proteine, deaktivieren Ihre Enzyme, senden ungesunde chemische Signale in Ihre Zellen aus und beschädigen Ihre DNA – lassen Sie altern.

Wie AGE uns altern lassen Der Körper ist auf Zucker als eine Hauptenergiequelle angewiesen. Wie jeder andere Treibstoff können unsere Zellen Zucker jedoch nur deshalb »verbrennen«, weil er chemisch reaktiv ist – und diese Volatilität kann die Arbeit mit ihnen, wie mit anderen Treibstoffen, gefährlich machen. Advanced Glycation End-products ( fortgeschrittene Glykations-Endprodukte, kurz AGE; auf Englisch führt die Alternativbedeutung »Alter« zu Wortspielen, die nicht exakt übersetzbar sind, Anm. des Übersetzers) sind das Resultat der komplexen chemischen Prozesse, welche die Proteinstrukturen durch Zucker und andere Treibstoffe verformen. Dieselbe Chemie verursacht den Bräunungsprozess, wenn Sie eine Ente braten, eine Sauce karamellisieren oder eine Scheibe Brot toasten. AGE sammeln sich in Ihren Geweben an, führen zu einem graduellen Funktionsverlust, dann zu Krankheit und letztendlich ins frühe Grab. AGE verwandeln die Anmut der Jugend in ein »knuspriges« hohes Alter, durch exakt dieselben chemischen Prozesse, mit denen sie die Kruste auf einem Laib Brot bilden. Die vielen chemischen Reaktionen, Zwischenprodukte und stabilen Endprodukte der AGE-Chemie waren das Thema umfangreicher Forschungen, zunächst in der Lebensmitteltechnologie und der Chemie und neuerdings in der Biomedizin. Die wissenschaftlichen Untersuchungen begannen in den 1910er und 1920er Jahren mit der Arbeit des Lebensmittelchemikers Maillard. Doch erst in den 80er Jahren wurde die Rolle der AGE in den Komplikationen, die den Körper eines Diabetikers verwüsten, zu einem heißen Thema der Diabetes- und Alternsforschung. Sogar jetzt ist klar, dass wir erst begonnen haben die wütende Promiskuität dieser Biochemie und ihre Auswirkungen auf den alternden oder diabetischen Körper zu verstehen. Obwohl uns die Details hier nicht beschäftigen sollen, müssen Sie mit den Grundzügen vertraut gemacht werden, wie sich AGE bilden, falls Sie die verschie-

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denen Strategien bei der Suche nach einer Methode verstehen wollen, die uns vor ihrem versteinernden Einfluss schützt. Auf dem am besten verstandenen Stoff wechselweg (dem Hauptstrom der Maillard-Reaktion – siehe Abb. 1a), öffnet ein Zuckermolekül seine Struktur und klebt sich (»glykiert«) an ein Protein, wodurch sich eine Schiff ’sche Base bildet. Diese Struktur ist relativ instabil, sodass die Schiff ’sche Base oft spontan zerfällt. Manchmal kollabiert sie jedoch in eine stabilere Struktur, die man Amadori-Produkt nennt. Amadori-Produkte sind viel langlebiger als Schiff ’sche Basen. (Diese Tatsache wird seit langem in einem Labortest ausgenutzt, der die Konzentration von glykiertem Hämoglobin oder HbA1c, einem Amadori-Produkt in roten Blutkörperchen, misst. Es ist ein Indikator für die durchschnittliche Zuckermenge, die im Verlauf der letzten Wochen im Blut vorhanden war.) Amadori-Produkte sind trotz ihrer relativen Stabilität dem biochemischen Chaos um sie herum ausgesetzt. Sie können daher eine Vielzahl weiterer chemischer Veränderungen wie etwa eine Umgruppierung oder einen Abbau ihrer Grundstruktur, die gewaltsame Einführung von Wassermolekülen, die Entfernung von Aminosäuren oder Angriffe durch freie Radikale durchmachen. Viele dieser Veränderungen führen sogar zur Bildung von noch stabileren Strukturen, entweder direkt oder via hochreaktiver Zwischenprodukte wie den Oxoaldehyden. Tatsächlich sind diese Strukturen stabil genug, um »Endprodukte« genannt zu werden – sie sind die Advanced Glycation End-products oder AGE. Die für unsere Zwecke wichtige Folge dieser Prozesse ist die Bildung von AGEQuervernetzungen, einer Untergruppe der AGE, in der Proteine, die wegen der Glykation bereits mit einem auf dem Rücken gebundenen Arm arbeiten, an ein zweites, benachbartes Protein gekettet werden. AGE-Prozesse laufen bei Patienten mit Diabetes sehr viel rascher ab als im Rest der Bevölkerung, weil der Blutzuckerspiegel von Diabetikern höher ist: In jeder chemischen Reaktion tendiert eine höhere Konzentration eines aktiven Agens dazu, die Interaktionsrate mit seinen Reaktionspartnern zu erhöhen, vorausgesetzt sie sind zahlreich. AGE-Quervernetzungen häufen sich jedoch auch in Menschen mit normalen Blutzuckerspiegeln und es ist recht eindeutig, dass sie für einen Großteil der Pathologie und der erhöhten Verletzbarkeit den Attacken des täglichen Lebens gegenüber verantwortlich sind, die mit »normaler« Alterung einhergehen.

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Abbildung 1: Wie AGE uns altern lassen. V.o.n.u.: (a) Der »chemische« (Maillard) Stoff wechselweg. (b) Der metabolische (Triosephosphat) Weg. (c) Methylglyoxalquellen. Aminoaceton Threonin

MOLD Methylglyoxal

Glykolyse

MODIC

Fructose 1-deoxyglukoson Protein Blutzucker

Amadori

Schiff'sche Base *

Triglyceride (Blutfette)

DOGDIC DOLD

3-deoxyglukoson

Glucosepane Crosslink

1,4-dideoxy-5,6dioxoglukoson

*

Pentosidin

Fragmentierung *

GOLA

Glyoxal

GOLD

Glykolaldehyd Entzündung

GODIC

*

AGE-Quervernetzungen

Oxoaldehyde

*

GPI

Glucokinase Glucose-6phosphat

Glucose

Freie Radikale

Fructose-6phosphat

Aldolase

PFK-1 Fructose-1,6Biphosphat

DHAP

GAPDH

TPI

1,3-DiphsphoGlycerat

GAP Blockiert Hohes Glucoseniveau

Überlauf

geAGEte Proteine

Glucose umwandelnde Enzyme

biologische Oxidation

Zwischenprodukte des Zuckerstoffwechsels

Fructoselysin

Acetol L-Threonin Dehydrogenase

SSAO

Ene-diol

Methylglyoxal

Blutzucker

Serin Monooxygenase

Acetol Triosephosphate

Monooxygenase P-450

Aceton

Ketone

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Zu Tode bräunen Die Quervernetzung von Proteinen ähnelt sowohl auf molekularer wie auch funktioneller Ebene den Prozessen, die Scheibenwischer ihre Flexibilität verlieren lassen. Für Menschen, die nicht von Diabetes betroffen sind, ist der lebensbedrohlichste Ort der resultierenden Gewebesteife das Herz-Kreislauf-System. AGE-Quervernetzungen beeinträchtigen langsam die jugendliche Elastizität des Herzens und der Blutgefäße, machen sie starr und unnachgiebig. Die resultierende Verhärtung der Arterien ist zu einem großen Teil für die Erhöhung des systolischen Blutdrucks verantwortlich, den alle im Alter erleiden. (Der systolische Druck ist die erste der beiden Zahlen, die Sie bei einer Blutdruckmessung erhalten, z.B. die »110« in »110 zu 80«.) In Ihrem Herzen schwächen die AGE unterdessen entweder seine Fähigkeit zu kontrahieren, um Blut durch Ihren Körper zu pumpen, oder zu expandieren, um sich überhaupt erst mit diesem Blut zu füllen. Die Kombination dieser beiden Faktoren erhöht die Arbeitslast des Herzens und führt letztlich zu einer von verschiedenen Formen von Herzversagen, falls Sie nicht zuvor an etwas anderem sterben. Derselbe Plastizitätsmangel bedeutet auch, dass Ihre Blutgefäße den konstanten Druckwellen des sie durchfließenden Blutes immer weniger standhalten können: Sie werden spröde und reißen irgendwann wie alte Gummibänder. Eine mögliche Folge sind Hirnblutungen. Und der durch die AGE-Quervernetzungen verursachte Schaden reicht weit über das Herz-Kreislauf-System hinaus. Sie fesseln Proteine im ganzen Körper und häufen sich im Alter in Geweben, die so unterschiedlich sind wie die winzigen Blutgefäße in Ihrem Auge und die unterstützenden Myelinscheiden Ihrer Nerven. Überall behindern AGE-Quervernetzungen die Funktion dieser Proteine, tragen zu altersbedingtem Funktionsverlust, Behinderung und Tod bei. In Ihren Augen akkumulieren sie sich auf den Kristallin-Proteinen, welche die Struktur der Linse ausmachen. AGE-Linsenproteine lassen das Licht nicht mehr durch und führen zu den braunen Pigmentflecken in der Linse, die wir Katarakte nennen. Die Kombination dieser Bräunung mit mehreren Auswirkungen auf zellulärer Ebene bewirkt, dass Alter und Diabetes die größten Risikofaktoren für die weltweit häufi gste Einzelursache für den Verlust des Sehvermögens sind. Und das ist nicht die einzige Art und Weise, wie AGE zu Sehverlust beitragen. Anderswo im Auge sind AGE an der Entwicklung diabetischer Retinopathie beteiligt (Sehverlust bei Diabetikern aufgrund einer Schädigung der feinen Blutgefäße, die das Licht absorbierende Gewebe hinter dem Auge versorgen), die zu altersbedingter Makuladegeneration und eventuell auch zum Offenwinkelglaukom führt. Auch die Niere leidet schwer unter AGE-Angriffen – besonders wiederum bei Diabetikern. Diabetischer Schaden ist die größte Ursache für Nierenversagen in den USA und ein Drittel aller Patienten auf der Dialyse-Station ist wegen ihrer Zuckerkrankheit dort. Tatsächlich folgt die Schwere der Nierenerkrankung der Diabetiker dem renalen AGE-Spiegel. Die AGE vernetzen die Proteine des biologischen Filtermaterials der Niere und lösen einen Entzündungsprozess aus, der den Körper zu einer Überkompensation veranlasst, indem er zu viel Ersatzgewebe wachsen lässt, eine Art unkontrollierter Wundheilungsprozess. Infolge dieser beiden Prozesse baut sich narbenähnliches Gewebe in der Niere in einem Ausmaß auf, das die winzigen

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Blutgefäße, wo eigentlich Filtration stattfinden sollte, buchstäblich auspresst. Dies verringert die zur Filtration verfügbare Oberfläche und führt zu einer ineffizienten Auslese der Stoffe im Blut – als hätte man ein Kaffeefilterpapier vor dem Einschalten der Maschine zurückgefaltet, was zu einem Chaos führt, wenn sich das Wasser zu stauen beginnt. AGE tragen auch zu diabetischer Neuropathie bei, der schwächenden Nervenschädigung, an der so viele Diabetiker leiden. Der Schweregrad dieser Krankheit kann variieren, aber das am meisten verbreitete Symptom ist das unaufhörliche Gefühl, das man nach einer vorübergehenden, druckbedingten Reduktion des Blutflusses zu den Händen oder Füßen (man spricht von »eingeschlafen«) hat: Man empfindet ein »Ameisenlaufen«, Schmerz oder Taubheit im betroffenen Gliedmaß, begleitet von einem gewissen Kontrollverlust oder einer Unbeholfenheit im Gebrauch desselben. Menschen mit diabetischer Neuropathie verlieren auch einen Teil der Kontrolle über unbewusste Prozesse ihres Nervensystems, wie etwa der Regulation des Herzrhythmus, des Verdauungsprozesses, der Blase und Erektionsstörungen. Oft leiden sie auch an Schwindel und Übelkeit, die bis zu Erbrechen führen kann. Ob AGE eine Rolle in ähnlichen, subtileren Defekten des Nervensystems in ansonsten gesunden, alten Menschen spielen, ist unklar, scheint aber wahrscheinlich. Vergleiche der Akkumulierungsgeschwindigkeit der Quervernetzungen im Gewebe von langsamer und schneller alternden Arten und von langsamer und schneller alternden Individuen innerhalb einer Art deuten auf eine wichtige Rolle der AGE in der Alterung per se hin und nicht nur in speziellen Krankheiten oder diabetischen Komplikationen. Sowohl die Geschwindigkeit des altersbedingten Auf baus eines der einfacher messbaren AGE (Pentosidin) als auch die zusammenhängende Verhärtung der Proteine im Haut- oder Schwanzgewebe sind invers mit der maximalen Lebensspanne verschiedener Säugerarten korreliert. Das heißt: Je langsamer eine Art altert, desto langsamer versteift sein Kollagen durch AGE (siehe Abb. 2). Ebenso verlangsamt Kalorienrestriktion – die, wie ich in früheren Kapiteln erwähnte, am besten untersuchte Methode zur Alterungsverzögerung in Säugetieren – diese Prozesse. Tatsächlich konnten höhere Geschwindigkeiten der AGE-Prozesse im Gewebe den frühen Tod von Tieren unter Kalorienrestriktion ankündigen. 1 In unserer eigenen Spezies zeigten Studien, dass sogar innerhalb des »normalen« Bereichs (d.h. bei Werten unterhalb derer, die für Diabetiker typisch sind) höhere Blutwerte von entweder Zucker selbst 2 oder des Amadori-Produkts HbA1c3 mit einem höheren GesamtTodesrisiko verbunden sind. Ein Medikament, das die AGE-Anhäufung verlangsamen oder rückgängig machen könnte, würde folglich Menschen mit einem breiten Spektrum an Krankheiten und Gebrechen helfen. Es könnte potentiell so weiträumige Probleme wie den graduellen Anstieg des Blutdrucks mit steigendem Alter, die schrecklichen Nieren-, Nerven- und Augenkomplikationen von Diabetes und mehrere Formen von Herzversagen lindern oder sogar heilen. Und es könnte uns auch helfen einen Hauptbeitragenden zur Alterung selbst zu adressieren. Diese Idee tauchte natürlich nicht erst vor Kurzem in meinem Kopf auf: Eine Vielfalt von Maßnahmen zur Reduktion der AGE-Belastung der Gewebe wurde über Jahre untersucht. Viele von ihnen haben sogar einen relativ fortgeschrittenen klinischen

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Versuchsstatus erreicht. Dennoch stellte sich, trotz jahrelanger Arbeit, keine dieser Behandlungen als sicher und wirksam genug heraus, um ihren Weg ins Medikamentenarsenal eines Industrielandes zu finden. Die Hürden, welche ihre Entwicklung beeinträchtigten und ihre Nützlichkeit beschränkten, stellen eine weitere Fallstudie dafür dar, welche Probleme es gibt, wenn man altersbedingten Schaden zu behandeln versucht, indem man an der komplexen Biochemie des Lebens herumbastelt. Abbildung 2: Maximale Lebensspanne als Funktion der Bildungsrate von AGE. Vom Originalbericht neu gezeichnet. 4 Spitzmaus

Kuh

Hund

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Pentosodine (pmol/mg Collagen)

Pentosodine (pmol/mg Collagen)

Pentosodine (pmol/mg Collagen)

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10 12 14

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Alter (Jahre)

Affe

Schwein

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Alter (Jahre)

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15 10 5 0

0 0

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Alter (Jahre)

Pentosodine (pmol/mg Collagen)

Pentosodine (pmol/mg Collagen)

Pentosodine (pmol/mg Collagen)

100 15

0

5

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15

20

Alter (Jahre)

25

75 50 25 0 0

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80

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Alter (Jahre)

Parmenion zuhören »Zuckerpillen« Die Tatsache, dass AGE-Quervernetzungen oft das Resultat von Zuckermolekülen sind, die sich wie Leim verhalten und unsere Gewebeproteine verkleben, legt sofort eine mögliche Lösung nahe: Man senke einfach den Blutzuckerspiegel, wodurch sich die Bildung von Schiff ’schen Basen (siehe Abb. 1) im Körper und dadurch die AGE-Belastung reduziert. Das ist natürlich seit langem der Hauptfokus der Diabetesbehandlung und in den 1990ern wurden zwei große und weithin zitierte wissenschaftliche Studien – der Diabetes Control and Complications Trial (DCCT) und die UK Prospective Diabetes Study (UKPDS) – als bisher klarster Beweis gepriesen, dass diese Strategie bei voller Ausreizung wirksam ist. Diese beiden Studien zeigten, dass Diabetiker ein deutlich geringeres Risiko aufweisen, die Hauptkomplikationen der Krankheit zu entwickeln, wenn sie strikte Maßnahmen (aggressiver Einsatz von Blutzucker

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senkenden Medikamenten und regelmäßiges Feedback in der Form häufi ger Blutzuckermessungen) befolgen, um ihren Blutzucker stark zu kontrollieren. Vor allem der DCCT zeigte, dass – verglichen mit der damaligen Standardbehandlung – eine intensive Blutzuckerkontrolle das Risiko von Nervenschäden um fast zwei Drittel, das der diabetischen Nierenkrankheit um ungefähr die Hälfte und das der diabetischen Retinopathie um erstaunliche drei Viertel reduzieren konnte. Die Ergebnisse dieser beiden Studien wurden weltweit diskutiert – von den stiftenden Regierungen, von Patientenorganisationen und von Pharmafirmen, mit der Aussicht, die Umsätze ihrer Blutzucker senkenden Medikamente anzukurbeln. Ärzte sollten dazu ermuntert werden diese Medikamente Patienten zu verschreiben, deren Blutzuckerkontrolle nach früheren Maßstäben im als sicher geltenden Normbereich lag, die den neuen Daten zufolge aber einem nachweislichen Risiko ausgesetzt waren. Zudem sollten sie auch die Dosis bei den schlechter kontrollierten Patienten erhöhen, welche die Medikamente bereits verwendeten. Der Nutzen, der den Patienten als Folge eines solch erhöhten Medikamenteneinsatzes zuteil würde, schien klar: Diabetiker auf der ganzen Welt würden in den Genuss wunderbarer Verbesserungen der Qualität und Länge ihres Lebens durch ein dramatisch vermindertes Risiko für Erblindung, Nervenschäden und Nierenversagen kommen. Als die Wissenschaftler aber die Gesamtlebensqualität der Patienten, die sich der intensiven Therapie in den Versuchen unterworfen hatten, erfassten, waren die Ergebnisse überraschend finster. Obwohl die aggressivere Behandlung das Risiko aller Hauptkomplikationen von Diabetes reduziert hatte, genossen die Patienten der Intensivtherapie, verglichen mit den Patienten, die der Standardbehandlung zugeteilt wurden, keine Verbesserung ihres Netto-Wohlbefindens.5 Viele Faktoren tragen wohl zum fehlenden eindeutigen Nutzen aggressiv gesenkter Blutzuckerspiegel bei. Während diabetische Komplikationen offenkundig negative Auswirkungen auf die Lebensqualität haben, haben die zur Blutzuckersenkung verwendeten Medikamente auch einen Preis, der nicht auf dem Etikett steht. Patienten solcher Medikamente tendieren zu einer Gewichtszunahme, die ihre Lebensqualität senkt – sowohl direkt als auch durch das erhöhte Risiko anderer Krankheiten wie Osteoarthritis. Viele Patienten empfinden es auch als echte Einschränkung ihrer Freiheit, sich an den rigiden Plan der Injektionen und der Fingerstechtests halten zu müssen, die für diese Behandlung nötig sind. Einige Studien berichten, dass dies zu Depression, Frustration, Isolation und Problemen am Arbeitsplatz beiträgt. Der Versuch, den Blutzuckerspiegel konstant schon nur in den »Normalbereich« zu drücken, birgt schließlich das Risiko in sich, dass der Blutzuckerspiegel zu stark fällt. Dies führt zu einer »hypoglykämischen Krise«, die vom Schwindel bis zum Koma führen kann. Dies ist von besonderer Bedeutung für die normale Alterung. Wenn die Senkung des Blutzuckerspiegels ein zweischneidiges Schwert für Diabetiker ist, wird Ihnen sicher klar, dass es eine entschieden zweifelhafte Lösung für das AGE-Problem für den Rest von uns wäre. Bei uns ist der Spielraum zwischen normalem Blutzuckerspiegel und hypoglykämischer Krise viel kleiner, wodurch der mögliche Nutzen begrenzter und die Risiken höher sind. Auch wenn wir unseren Blutzucker auf den tiefstmöglichen, sicheren Pegel bringen könnten, wären wir ziemlich weit von einer vollständigen Lösung des AGE-Pro-

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blems entfernt. Wir alle müssen einen gewissen Zuckerspiegel in unserem Blut als Energiequelle aufrechterhalten, und ein gewisser Prozentsatz dieses Zuckers wird immer mit Gewebeproteinen reagieren und zu Quervernetzungen führen. Zu guter Letzt leiten sich nicht einmal alle AGE von Zucker ab. Blutfette (Triglyceride) können ebenfalls die Quervernetzung von Proteinen bewirken, vor allem bei einem hohen Pegel an oxidativem Stress. Dies ist die Chemie, die der Bräunung der Entenhaut beim Braten zugrunde liegt, sogar ohne süße Sirupschicht auf der Oberfläche. Wie beim Blutzucker haben Diabetiker normalerweise auch höhere Triglyceridspiegel und sogar viele Nicht-Diabetiker würden von einem verringerten Triglyceridspiegel profitieren. Triglyceride ähneln Blutzucker jedoch auch darin, dass sie unentbehrlich sind. Eine solche Strategie kann daher nur bis zu einem gewissen Grad ungefährlich verfolgt werden.

Weniger ist mehr … ist schlechter Und das ist nicht alles: Versuche, die Pegel von diesen beiden AGE-Vorstufen zu kontrollieren, auch auf nicht pharmazeutischem Weg, können abartige Stoff wechselkonsequenzen haben. Beispielsweise führen Diäten mit sehr wenig Kohlenhydraten, wie etwa die Atkins-Diät, bekanntermaßen sowohl zu einer Senkung der Triglycerid-Spiegel als auch der Gesamtbelastung des Körpers durch Kohlenhydrate. Einige Befürworter stellten daher die Hypothese auf, dass diese Diäten die AGE-Belastung reduzieren würden. Leider stellte sich heraus, dass der Stoff wechselzustand, den diese Diäten auslösen (die berüchtigte »Ketosis«), die unglückliche Nebenwirkung hat, einen Sprung in der Produktion des Oxoaldehyds Methylglyoxal zu bewirken. Methylglyoxal ist eine Hauptvorstufe von AGE, die ironischerweise auch in Zellen von Diabetikern produziert wird, wenn sie gezwungen sind mehr Zucker aufzunehmen, als sie sofort umsetzen können (siehe Abb. 1b und 1c). Eine kürzlich durchgeführte Studie untersuchte das Ausmaß dieses Effekts in gesunden Menschen, welche erfolgreich die ersten beiden Phasen der Atkins-Diät innerhalb eines Monats befolgten und die Ketone in ihrem Urin hatten, der bewies, dass sie sich an die Diät hielten. Diese zuvor gesunden Personen erlitten eine Verdopplung ihres Methylglyoxal-Spiegels, was zu noch schlechteren Konzentrationen als in schlecht kontrollierten Diabetikern führte.6 Wie andere Oxoaldehyde ist Methylglyoxal chemisch viel reaktiver als Blutzucker (tatsächlich bis zu 40.000 Mal reaktiver) und dafür bekannt, weitreichende Schäden im Körper zu verursachen, von denen AGE-Quervernetzungen nur ein Beispiel sind. Dies macht die Atkins-Diät möglicherweise zu einem Rezept für beschleunigte AGEBildung, nicht einer Erlösung davon.

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»Radikaler« Vorschlag – mäßige Resultate Noch bevor die kontraintuitiven Resultate der DCCT herauskamen, war offensichtlich, dass Blutzuckersenkung keine vollständige Lösung des AGE-Problems sein würde. Der Körper benötigt Blutzucker und -fette als Brennstoffe. Dennoch ist kein Spiegel niedrig genug, um die Bildung von Vernetzungen zu eliminieren. Die Senkung der Konzentrationen von Blutzucker und Triglyceriden würde bestenfalls das Unvermeidliche hinauszögern. Einige Wissenschaftler wandten ihre Aufmerksamkeit daher den Erzeugern von Quervernetzungen zu, deren schädliche Rolle im Körper weniger zweideutig ist. Eine solche AGE-Präventionsstrategie ist der Einsatz hoher Dosen von Antioxidantien, um den Pegel freier Radikale zu senken. Wie Sie in Abb. 1a sehen, können freie Radikale die Umwandlung einiger AGE-Vorläufer in gewisse spezielle, ausgewachsene Quervernetzungen beschleunigen – ein Phänomen, das man Glykoxidation nennt. Aufgrund der Effekte, die in Reagenzglas-Experimenten zu beobachten sind, wenn man freie Radikale Proteinen und Zuckern hinzufügt, kann man voraussagen, dass Glykoxidation Diabetiker mit einem Doppelschlag triff t. Zusätzlich zu den überhöhten Zucker- und Fettwerten im Blut verursacht der beeinträchtigte Stoffwechselzustand bei Diabetes auch eine Überproduktion freier Radikale in den Zellen der Betroffenen. Kombinieren Sie diese beiden Faktoren und Sie haben eine potentiell synergistische Wechselwirkung. Was ebenfalls die Bedeutung freier Radikale in der AGE-Bildung betont, ist die Tatsache, dass Vögel extrem hohe Blutzuckerspiegel haben, die einen Menschen rasch umbringen würden. Trotzdem leben sie etwa zehn Mal länger als andere Säugetiere derselben Größe. Zum Teil können sie sich das wohl dank einer guten Kontrolle des oxidativen Stresses erlauben. Falls Glykoxidation ein Hauptgrund für den hohen AGE-Spiegel von Diabetikern wäre, dann könnte ein Aufsaugen ihrer überschüssigen freien Radikale mit Antioxidantien die Quervernetzungen ihrer Gewebeproteine wesentlich verringern. Das würde zu einer höheren Lebenserwartung und einem reduzierten Risiko lähmender Komplikationen führen. Viele Laborstudien mit Nagern unterstützen diese Erwartung: Ihnen Dosen verschiedener Fänger von freien Radikalen zu verabreichen, reduziert typischerweise ihre Gewebebelastung durch Quervernetzungen deutlich und verringert das Auftreten und den Schweregrad diabetischer Nieren-, Nerven- und sogar Netzhautschäden. Als man jedoch Antioxidantien als Anti-AGE-Therapie in Menschen versuchte, waren die Resultate enttäuschend. Die Wirkungen auf den AGE-Spiegel und die -Symptome waren gering oder nicht existent. Und wenn ein Nutzen vorhanden war, beschränkten sich die Effekte fast ausschließlich auf die schwersten Krankheitsfälle, während sie den typischeren Diabetikern keine Erleichterung boten.7 Wir wissen heute, dass es einige Hauptgründe dafür gibt. Erstens verursacht menschlicher Diabetes einen viel weniger heftigen Anstieg oxidativen Stresses als in der Nagetierversion der Krankheit. Das sieht man in einem Vergleich der Pegel der durch freie Radikale beschädigten Moleküle in der Haut der beiden Spezies. Die geringere Last an freien Radikalen macht Glykoxidation zu einem weniger wichtigen Faktor in der

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AGE-Chemie menschlicher Diabetiker und verringert daher den möglichen Nutzen einer Einschränkung ihres Einflusses. Ein anderer, allgemeinerer Grund für den Wirksamkeitsmangel von Antioxidantien als Anti-AGE-Therapie ist jedoch die schier zügellose Promiskuität der hochreaktiven Vorläufer der AGE-Quervernetzungen. Eine äußerst aufschlussreiche Tierstudie8 illustriert diesen Punkt. Diabetische Nager erhielten eine mit verschiedenen Antioxidans-Zusätzen (Vitamine oder Grüntee-Extrakte) versetzte Nahrung. Der Einfluss auf die AGE-Belastung der Tiere wurde sowohl durch einen Vergleich mit gesunden Tieren als auch mit Diabetikern ohne Ergänzungsfutter bestimmt. Um die beteiligten biochemischen Stoff wechselwege bloßzulegen, maßen die Wissenschaftler die Konzentrationen verschiedener Substanzen, die nach verschiedenen Schritten im Glykoxidations-Prozess produziert werden, von den initialen Glykationsereignissen bis zur Bildung spezifischer AGE-Vernetzungen und von denen einige durch Glykoxidation entstehen und andere durch direkte Glykation, d.h. ohne die Beteiligung freier Radikale. Wie frühere Nagerstudien gezeigt hatten, übten Antioxidans-Behandlungen einen gewissen günstigen Einfluss auf diabetische Komplikationen aus. Ebenso vorhersehbar war, dass die Behandlungen keinen Einfluss auf die initiale Glykation der Proteine hatten, da die freien Radikale erst später im Prozess (Abbildung 1a) Gelegenheit bekommen, in der AGE-Chemie Unheil zu stiften. Die Forscher wurden jedoch überrascht, als sie die effektiven Quervernetzungen untersuchten. Die AntioxidansZusätze hatten natürlich keinen Einfluss auf die Konzentrationen derjenigen AGE, deren Bildung keine freien Radikale benötigt. Tatsächlich hat die Intervention aber die Pegel der beiden durch Glykoxidation abgeleiteten AGE erhöht, sodass die diabetischen Tiere, die Grüntee-Extrakte erhielten, am Ende insgesamt mehr Quervernetzungen hatten als die Tiere, die den »natürlichen« Verlauf der Krankheit erlitten. Dieses bemerkenswerte Resultat illustriert einmal mehr die hoff nungslose Komplexität des vernetzten Wirrwarrs unseres Stoff wechsels. Die Vorläufer dieser AGEVernetzungen verschwinden nicht einfach, wenn sie nicht von freien Radikalen getroffen werden – irgendwohin müssen sie schließlich. Als daher ein Großteil des übermäßigen oxidativen Stresses durch Antioxidans-Zusätze abgebaut war, begannen sich diese Vorläufer anzuhäufen, bis sie in einen alternativen Entstehungsprozess von Quervernetzungen überliefen. Es war derselbe Effekt, den Sie bei Verkehrsstaus beobachten, wenn eine Hauptverkehrsader abgeschnitten ist: Einige wenige Fahrer wenden vielleicht tatsächlich ihren Wagen und fahren nach Hause. Die meisten biegen jedoch auf die lokalen Nebenstraßen ab und bilden sekundäre Verkehrsverstopfungen in bis dahin verschlafenen Wohnvierteln.

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Kollateralschaden Die am besten verstandenen Stoff wechselwege der AGE-Quervernetzung sind grundsätzlich Zufallsereignisse, ähnlich den Prozessen, die bei der Bräunung von Nahrungsmitteln oder in einem Reagenzglas ablaufen. Die Treibstoffe des Stoff wechsels, die in Ihrem Blut oder den Flüssigkeiten in Ihren Zellen gelöst sind, stoßen zufällig mit Gewebeproteinen zusammen. Abhängig von Faktoren wie Temperatur, Konzentration und der Anwesenheit von Übergangsmetallen und freien Radikalen kann eine Serie chemischer Ereignisse ablaufen. Falls sie in genau der richtigen Reihenfolge passieren, entsteht eine AGE-Quervernetzung. Einige AGE entstehen jedoch direkter, durch die regulierte Aktivität von Stoff wechselprozessen. Ein vor Kurzem identifiziertes Beispiel ist das Enzym Myeloperoxidase, das Makrophagen einsetzt, um Bakterien abzutöten, indem es giftige Hypochlorsäure generiert. Es wurde gezeigt, dass Hypochlorsäure bei Anwesenheit des Proteinbausteins Serin selbst AGE-artige Quervernetzungen induzieren kann, unabhängig von den üblichen Treibstoffen Zucker und Fett.9 Wenn Myeloperoxidase immer nur zur Bekämpfung von Bakterien aktiviert würde, wäre es wohl eine relativ unwichtige AGE-Quelle in Menschen, die in Industrieländern und ohne chronische Infekte leben (obwohl die Anzahl dieser Menschen viel höher ist als allgemein angenommen). Wie wir jedoch in Kapitel 7 gesehen haben, greifen Makrophagen Bakterien nicht nur an: Sie werden in ihrem kurzsichtigen Bestreben, festsitzendes Cholesterin aus Ihren Arterien zu räumen, zusätzlich angereizt – und kurbeln ihre Myeloperoxidase-Aktivität hoch. Einige Wissenschaftler glauben nun, dass Myeloperoxidase wesentlich an den hohen AGE-Spiegeln beteiligt sein könnte, die man in den arteriosklerotischen Schaumzellen von Nicht-Diabetikern findet. Wenngleich es wohl wünschenswert wäre, die übermäßige MyeloperoxidaseAktivität am Ort der arteriosklerotischen Plaques zu reduzieren, könnten wir seine Aktivität wohl nie pharmakologisch einschränken, ohne unsere Verteidigung gegen Bakterien zu schwächen. Wie wir von AIDS wissen, ist man bei einem geschwächten Immunsystem nicht nur durch relativ seltene Killerbakterien wie Tuberkulose gefährdet: Man kann auch durch Infekte dahingeraff t werden, welche die meisten von uns abschütteln, bevor es überhaupt zu Symptomen kommt. Zudem gibt es eine überraschende Studie mit Tieren, die gezüchtet wurden, um eine Art humane Arteriosklerose zu reproduzieren, die aber keine Myeloperoxidase herstellen konnten. Sie zeigte eine schwerwiegendere Arteriosklerose als bei normalen Tieren, was erneut die frustrierende Komplexität der Stoff wechselprozesse illustriert. 10

Das gescheiter te Medikament Also gut: Die Spiegel der ultimativen AGE-Vorläufer wie Glukose oder Fett zu senken, ist schwierig – und auch gefährlich, da sie essentielle biologische Treibstoffe sind. Freie Radikale aufzusaugen und Übergangsmetalle zu absorbieren ist nur beschränkt wirksam, da es so viele alternative Wege zur AGE-Bildung gibt.

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Die Übersicht in Abbildung 1 legt nun vielleicht ein viel attraktiveres Angriffsziel nahe: Oxoaldehyde. Zum einen sind diese reaktiven Verbindungen in viel geringeren Konzentrationen als Blutzucker oder Triglyzeride vorhanden. Das bedeutet, dass man nur relativ wenige Moleküle ausschalten müsste, um die Gesamtkonzentration im Körper wesentlich zu senken: Methylglyoxal beispielsweise ist mehrere tausendfach weniger konzentriert im Blut als Glukose. Obendrein sind Oxoaldehyde sehr bösartige Moleküle (wie früher erwähnt, greift Methylglyoxal Gewebeproteine bis zu 40.000 Mal eher an als Glukose). Daher resultiert jedes aus dem Kreislauf entfernte Molekül viel eher in der Verhinderung einer sich abzeichnenden Quervernetzung. Oxoaldehyde spielen ihre Rolle in der Bildung von Quervernetzungen auch relativ spät, was weniger alternative Pfade übrig lässt, durch die sie AGE bilden könnten. Und im Gegensatz zu den essentiellen Zuckermolekülen, für die es eine Lebensgefahr darstellende Grenze der Konzentrationssenkung im Blut gibt, sind Oxoaldehyde grundsätzlich giftige Moleküle. Ihre Konzentration sollte daher drastisch gesenkt werden können, ohne dem Körper zu schaden. Wenn also der Versuch, AGE-Bildung mit Antioxidantien oder Blutzuckermedikamenten zu verringern, einer breitgefächerten Razzia einer ganzen, von Kriminalität heimgesuchten Nachbarschaft ähnelt, dann wäre ein Oxoaldehyd vernichtendes Medikament wie ein sorgfältig gezielter Angriff auf bekannte Mitglieder einer brutalen kriminellen Bande. Lange Zeit schien ein Medikament namens Aminoguanidin (Handelsname Pimagidin) dieses Versprechen einlösen zu können, die Behandlung von Diabetes zu revolutionieren und vielleicht die ersten ernsthaften Schläge gegen den Mike Tyson zu lancieren, der die biologische Alterung darstellt. Das Medikament genoss sowohl in der wissenschaftlichen Diabetesliteratur als auch in den Kommentaren bezüglich Lebensverlängerung in Artikeln populärer Magazine und Internet-Diskussionsgruppen viel Aufmerksamkeit. Der deutlichste Wirkungsmechanismus von Aminoguanidin war nämlich seine Fähigkeit, Oxoaldehyde unschädlich zu machen. Im Verlauf vieler Jahre erprobten die Forscher Aminoguanidin – zuerst in mit AGE-Vorläufern und einer Mischung von Katalysatoren gefüllten Reagenzgläsern, dann in Zellkulturen und schließlich in Tierstudien. Und an praktisch jeder Wegkreuzung stiegen die Hoffnungen für das Medikament weiter. In diabetischen Ratten reduzierte es die AGE-Bildung in den Netzhautzellen und verminderte das übermäßige, kompensatorische Wachstum der sie versorgenden Blutgefäße. In Hunden verhinderte es den Verlust von Netzhaut-Blutgefäßzellen und die damit verbundene Anhäufung toter Blutgefäße, durch die kein Blut mehr fließt. Es hielt auch die Herzen und Blutgefäße beider Spezies flexibler. Weniger konsistent waren die Hoff nungen, die Aminoguanidin in anderen Diabeteskomplikationen weckte. Es verringerte den Gesamtpegel an Nierengewebe, das so quervernetzt war, dass es für starke Säuren unabbaubar war, und verhinderte einen Großteil der Verdickung der Filtrationsmaschinerie der Nieren, die in Ratten Diabetes begleitet – obgleich es den Krankheitsverlauf in Hunden nicht beeinflussen konnte. Außerdem zeigten diabetische Nager (aber nicht Paviane), die das Medikament erhielten, weniger Verlust an Blutzufuhr zu den Nerven und eine verbesserte Nervenleitfähigkeit.

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Am wichtigsten für diejenigen von uns, die nach Interventionen gegen die Rolle von AGE in degenerativen Alterungsprozessen suchen, war, dass Aminoguanidin sogar die AGE-Spiegel in Herz und Nieren (und den resultierenden Funktionsverlust dieser Organe) in Tieren zu senken schien, die an rein altersbedingter AGE-Anhäufung und nicht an Diabetes litten. Nachdem einige wenige, kleine Humanstudien zur Prüfung offenkundiger Toxizitäten gut zu laufen schienen, zog die Firma, die die Patentkontrolle über Aminoguanidin als Diabetesmedikament hatte, die Aufmerksamkeit des Biotech-Riesen Genentech auf sich. Sie arbeiteten zusammen, um zwei ausgewachsene klinische Versuche zu lancieren. Jeder sollte etwa 600 Patienten mit beginnender diabetischer Nierenkrankheit in über ganz Nordamerika verteilten, medizinischen Zentren einschließen. Der erste Versuch (ACTION I) rekrutierte Patienten mit Diabetes Typ I (autoimmun), der andere Versuch sollte Patienten mit dem häufi geren (»Alters-«)Diabetes Typ II einschließen. Dieser Typ entwickelt sich normalerweise als Resultat des Lebensstils, wenn auch manchmal durch genetische Schwachstellen überlagert. Ehrgeizigerweise sollten die Patienten in beiden Versuchen einen zuvor medikamentös gut eingestellten Blutzucker und Blutdruck haben, bevor sie Aminoguanidin erhielten. So würden die Unterschiede zwischen den Gruppen ausschließlich das Resultat der direkten Effekte der Testsubstanz gegen AGE sein. Als aber ACTION I 1996 abgeschlossen war, enttäuschten die Resultate. Positiv war, dass Risikofaktoren wie Blutdruck, (»schlechtes«) LDL-Cholesterin und Triglyzeride in den Patienten sanken, die das Medikament erhielten. Und eine Analyse der Daten legte zudem nahe, dass das Medikament gewisse Indikatoren der Nierenfunktion verbessern könnte. Zudem schien in einer winzigen Untergruppe, die vor und nach dem Versuch getestet wurde, der diabetische Schaden an der Netzhaut der Patienten weniger ernst, die Aminoguanidin nahmen, als in denen, die Placebo erhielten. Diese Beobachtungen waren jedoch suspekt, da sie nachträglich, nachdem der Versuch beendet war, gemacht wurden und nicht Teil des ursprünglichen Plans waren. 11 Was die Studie hätte zeigen sollen, war eine direkte Wirkung auf die Gesundheit der Nieren, gemessen anhand eines Standard-Labortests zur Nierenfunktion – und die Daten waren schlicht nicht eindeutig genug, um diesen Schluss zuzulassen. Oberflächlich betrachtet sahen die Rohdaten bei den Aminoguanidin-Anwendern besser aus als in der Placebogruppe. Der Unterschied war jedoch gemessen an der Anzahl der Patienten im Versuch so gering, dass es sehr wohl ein statistischer Zufall sein konnte. Wie wenn man in sechs von zehn Münzwürfen »Kopf« erhält, statt der erwarteten fünf. Schlimmer noch: Während der Aminoguanidin zurechenbare Nutzen zweifelhaft war, schienen die mit dem Medikament verbundenen Risiken unleugbar. Zusammen mit Anzeichen einer überaktiven (und möglicherweise beschädigten) Leber und eigenartigen grippeähnlichen Symptomen, die nach Absetzen des Medikaments verschwanden, entwickelten einige Patienten Anzeichen einer Autoimmunkrankheit in ihrem Blut. Bei drei Patienten, die die höhere Dosis nahmen, wurde dies durch eine Form von hoch entzündlicher Nierenerkrankung begleitet, die innerhalb weniger Wochen oder Monate zum völligen Verlust der Nierenfunktion führte. Zwei der drei Patienten, welche die Krankheit entwickelten, entglitten in

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ein Endphasen-Nierenversagen. Zum Glück wurde diese evidente Nebenwirkung früh aufgedeckt und das Sicherheitskomitee führte dementsprechend ein Überwachungsprogramm ein, welches verhinderte, das jemand klinische Anzeichen der Krankheit entwickelte.

Eine tödliche Ähnlichkeit Auch heute wissen wir noch immer nicht sicher, was die starke Toxizität von Aminoguanidin verursacht hat, die in Tierstudien nicht beobachtet wurde. Es gibt aber eine gute Vermutung – und falls sie zutrifft, ist Aminoguanidin eine weitere Fallstudie dafür, wie der Versuch, die dunklen Seiten der Stoffwechselprozesse zu unterdrücken, zum Bumerang werden kann. Es war der Wirkmechanismus, der Aminoguanidin zum vielversprechenden, AGE blockierenden Medikament machte: das Aufsaugen von Oxoaldehyden. Diese Substanzen gehören zu einer Klasse chemischer Verbindungen namens Carbonylen: Organische Moleküle mit einer Doppelbindung zwischen einem Kohlenstoffund einem Sauerstoffatom. Diese Struktur macht viele Carbonyle biologisch hoch aktiv, weshalb Oxoaldehyde auch so unerbittliche Proteinfessler im Körper sind. Der Stoffwechsel beruht natürlich auf der Ausnutzung hoch aktiver Verbindungen, um die Biochemie des Lebens zu betreiben. Es überrascht daher kaum, dass viele essentielle Biomoleküle ebenfalls prominente Carbonylgruppen aufweisen. Das Problem ist, dass Aminoguanidin nicht unbedingt das eine Carbonyl tragende Molekül vom anderen unterscheiden kann. Daher könnte man erwarten, dass es neben den giftigen Carbonyl tragenden Molekülen wie Oxoaldehyden auch einige essentielle aufsaugt. Tatsächlich wissen wir, dass es das zumindest in einem Fall tut: Vitamin B6. Demzufolge können Tiere, die Aminoguanidin erhalten, leicht einen Vitaminmangel entwickeln, der nicht von einem durch Nahrungsmangel bedingten zu unterscheiden ist. Vernichtenderweise ist ein Blutdruck senkendes Medikament namens Hydralazin dafür bekannt, eine Lupus ähnliche Autoimmunerkrankung zu verursachen. Es trägt dieselbe, Carbonyl einfangende Hydrazin-Oberfläche, wie sie das Werkzeugende von Aminoguanidin benutzt, um Oxoaldehyde zu neutralisieren. Das erste Zeichen dieser Erkankung ist das Auftreten derselben Antikörper im Blut, wie sie in der Aminoguanidin-Gruppe von ACTION I beobachtet wurden.12

Wenn nicht einmal eine derart aussichtsreiche Arznei wie Aminoguanidin genug AGE-Schaden gefahrlos verhindern kann, um die Gesundheit von Diabetikern zu verbessern, können Sie sicher sein, dass sie wenig in den grundsätzlich Gesunden unter uns ausrichten kann. Da die Blutzucker- und Fettkonzentrationen in Menschen ohne Diabetes viel geringer sind, ist der AGE-Aufbau viel langsamer und daher schwieriger auf ein Ausmaß zu begrenzen, das eine messbare Veränderung ihrer Gesundheit bewirkt. Deshalb würde es viel länger dauern, bis ein möglicher Nutzen entsteht, während die Risiken für jedes einzelne Anwendungsjahr auf demselben hohen Niveau blieben.

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Tatsächlich zeigte eine Studie, die nach dem Rückzug von Aminoguanidin aus der klinischen Entwicklung13 publiziert wurde, dass sogar die anfänglichen Berichte einer Reduktion altersbedingter AGE-Quervernetzungen in nicht diabetischen Nagern eigentümlich für den in frühen Versuchen verwendeten Rattenstamm waren (der besonders anfällig für Nierenerkrankungen war). Andere Stämme zogen wenig oder gar keinen Nutzen aus der lebenslangen Gabe von Aminoguanidin. Dies sind nur einige wenige Beispiele von bekannten oder erwarteten Wegen, durch die der Bildung von Quervernetzungen zugrunde liegende Mechanismen unser Vermögen untergraben, AGE-Bildung zu verhindern. Dieser Alptraum biochemischer Komplexität ist so verschachtelt, dass er auch den größten Rätselfan dazu bringt, den Bleistift entzweizubrechen und frustriert zu Bett zu gehen. Er sollte zu ernsten Zweifeln darüber führen, weitere Ressourcen in die Suche neuer Wege zu investieren, solche schlecht verstandenen, breit gefächerten Netzwerke von Stoff wechselwegen zu beeinflussen (Abb. 1). Im Durcheinander der Biochemie des Körpers ist ein gewisses Maß an AGE schlichtweg unvermeidlich. Der Versuch, genügend Quervernetzungen zu verhindern, um einen echten Einfluss auf die Versteifung unserer Gewebe zu haben, ohne irgendwie lebenswichtige Stoff wechselprozesse durcheinanderzubringen, ist letztendlich vielleicht aussichtslos. Wenn Sie die vorhergehenden Kapitel dieses Buches gelesen haben, können Sie sich vermutlich vorstellen, welche Art von Strategie ich gerne gegen das AGE-Problem angewandt sehen möchte, ob in Diabetikern oder »normaler« Alterung. Finger weg vom Blutzucker. Versuche nicht, freie Radikale zu blockieren. Suche nicht nach Wegen, den Stoff wechsel auszutricksen. Versuche nicht einmal die Bildung von AGE zu verhindern. Nein, die Lösung des Anti-Aging-Ingenieurs sollte es sein, dem Stoffwechsel zu erlauben, weiter auf seine berüchtigte, chaotische Weise fortzufahren. Dann werden die ausgewachsenen AGE selbst entfernt, bevor sie sich derart anhäufen, dass sie die Gewebefunktion beeinträchtigen, unserem Herzen und den Sehnen die jugendliche Flexibilität rauben und unser Todes- und Invaliditätsrisiko erhöhen. In diesem Fall spiele ich jedoch nicht die Rolle eines Visionärs, sondern eher die des Anfeuerers. Mindestens zwei Firmen haben derartige Medikamente entwickelt und in Tieren getestet. Eine von ihnen hat bereits mehrere klinische Versuche unternommen.

Ein SENS-Glückstreffer In den zehn Jahren seit Dr. Tony Cerami und Dr. Peter Ulrich erstmals vorschlugen, dass die Quervernetzung von Proteinen durch Glykation die Verbindung (Wortspiel beabsichtigt) zwischen hohen Blutzuckerspiegeln und diabetischen Komplikationen sein könnte, verbrachten sie viel Zeit mit der Suche nach Mitteln zu deren Bekämpfung. Sie arbeiteten federführend an der Entwicklung und frühen Tests von Aminoguanidin, wussten jedoch schon deutlich vor dem Scheitern von ACTION I, dass viel wirksamere Moleküle nötig wären, um zwei speziellen Gruppen mit deutlich verschiedenen, durch AGE hervorgerufenen Behinderungen zu helfen. Einerseits

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Diabetiker, deren Krankheit so weit fortgeschritten ist, dass sie schon eine Menge Quervernetzungen erlitten hatten. Diese würden rasch die Schwelle erreichen, bei der ihr Gesamtspiegel an Quervernetzungen zu Invalidität und Tod führt. Sie würden eine viel effektivere Intervention benötigen als Patienten, die erst in den früheren Phasen der Krankheit sind. Auf der anderen Seite haben viele Menschen, die an von AGE herrührenden Krankheiten wie Bluthochdruck oder Herzversagen leiden, einen normalen Blutzuckerspiegel. In diesen Patienten sind die Vorläufer von AGE in viel geringeren Konzentrationen vorhanden und daher viel schwieriger abzufangen: Es ist, als versuche man einen einzelnen Vogel vom Himmel zu schießen, während die Behandlung der AGE-Vorläufer in Diabetikern wie die Sichtung einer dieser unglaublichen Schwärme ist, die in den frühen Tagen der europäischen Kolonialisierung von Amerika die Sonne verdunkelten. Die Jäger konnten mit Schrotflinten auf sie schießen, ohne überhaupt zielen zu müssen. Ende 1991 arrangierte Cerami daher ein Gipfeltreffen in seinen Laboren am Picower Institute for Medical Research in Manhasset, New York. Das Treffen brachte ihn, Ulrich, mehrere andere Picower-Mitarbeiter und Wissenschaftler von Alteon zusammen, um ein Brainstorming über neue Methoden zur Hemmung der AGE-Bildung durchzuführen. Die Analyse der vermuteten Reaktionsprodukte und -chemie hatte bereits viele Forscher zur (korrekten) Schlussfolgerung geführt, dass reaktive Carbonyle (wie Oxoaldehyde) eine wichtige potentielle Quelle von AGE-Quervernetzungen und damit Angriffsziele für Anti-AGE-Medikamente sein würden. Genau das war die Begründung für die Entwicklung von Aminoguanidin. Ulrich sah, dass theoretisch viele der AGE im Körper durch eine Klasse reaktiver Carbonyle namens Amadori-dione und den verwandten Amadori-ene-dionen gebildet werden könnten. Diese Moleküle würden sich bilden, wenn Amadori-Produkte abgebaut werden: Carbonylgruppen würden sich über die Kluft benachbarter Proteine hinweg die Hand reichen, was in einer Alpha-Dicarbonyl-Verbindung resultiert – genauer einem Alpha-Dicarbonyl namens Alpha-Diketon-Verbindung. Von der Chemie her würde man nicht erwarten, dass diese Verbindung lange intakt bleibt – sie würde aber auch nicht einfach verschwinden. Höchstwahrscheinlich, dachte Ulrich, würde sie sich zu einer stabileren, endgültigen Struktur umgruppieren – eine molekulare Ehe, die nur der Tod trennen würde. Falls dem so wäre, sah Ulrich einen möglichen Weg zur Entwicklung neuartiger Behandlungen gegen AGE. Der Körper hat Enzyme, die zumindest gewisse Arten von Dicarbonyl-Verbindungen abbauen, und viele dieser Enzyme enthalten das Vitamin Thiamin. Untersuchungen von ukrainischen Wissenschaftlern in den 1980ern hatten gezeigt, dass Moleküle in derselben chemischen Familie wie Thiamin (sogenannte Thiazolium-Verbindungen) Bindungen vom selben chemischen Typ aufbrechen, wenn auch eingebettet in organische Chemikalien und nicht in AGE von Gewebeproteinen. Die Einlagerung von Thiamin in so viele dieser Enzyme, kombiniert mit dem Wirkmechanismus anderer Thiazolium-Verbindungen, legte den Schluss nahe, dass Thiamin das entscheidende Merkmal für sie alle war, so wie der gemeinsame Kopfteil verschiedener Marken und Größen von Philips-Schraubenziehern. Der aktive Kern des eingelagerten Thiamins würde die Carbonyle im Zielmolekül

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des Enzyms elektrochemisch erfassen, worauf das Enzym seine Form verändert, sich öffnet und die Verbindungen auseinanderbricht. Ulrich wollte ein neues molekulares »Werkzeug« entwerfen, das dieselbe Spaltaufgabe mit den Dicarbonylbindungen in Amadori-Dionen erledigte und dadurch ihr Potential zur Bildung von Quervernetzungen eliminierte. Beginnend mit dem Konzept eines Thiamin ähnlichen »Werkzeuges« begannen die versammelten Wissenschaftler Vorschläge zu erarbeiten, wie sich verschiedene Arten von molekularen »Hebeln«, »Drehlagern« und »Zahnrädern« verhalten könnten. Sie sagten ihre Wechselwirkungen mit Amadori-Dionen aufgrund ihrer Strukturen voraus. Ulrich stand an der Wandtafel und zeichnete ihre Vorschläge auf. Schließlich ließen sie sich eine Grundvorlage einer Klasse von Molekülen einfallen, von der man erwarten könnte, diejenige Art von Bindungen zu spalten, die in den Amadori-Dionen enthalten ist, und von denen sie glaubten, dass sie wahrscheinlich im Körper vorkommen. Dann warfen sie eine Vielzahl spezieller Variationen des Leitmotivs zusammen, indem sie verschiedene »Gliedmaßen« ans »Rückgrat« der Kernstruktur hefteten. Nach der Marathonsitzung benutzten die Wissenschaftler von Alteon die Resultate ihrer Arbeit für erste Tests. Dr. Jack Egan beauftragte mehrere junge Wissenschaftler, Versuchsmengen von jeder dieser verschiedenen Kandidatenmoleküle zu synthetisieren und große Chargen einiger Modell-Amadori-Dione zu kochen. Von da aus war es eine geradlinige Serie einfacher Experimente: Pipettiere kleine Mengen der Kandidatenmoleküle in mit AGE-Vorläufern gefüllte Reagenzgläser und beobachte, ob sie ihre Umwandlung in permanentere Strukturen hemmen können. Wie sich jedoch herausstellte, bedeutete »geradlinig« nicht »schnell«. Nachdem sie Dutzende von Versuchen mit verschiedenen Konzentrationen laufen ließen und das Spektrum der Experimente, die sie durchführen wollten, noch nicht einmal im Ansatz ausgereizt hatten, suchte Egan nach einer schnelleren Methode zur Durchführung der Experimente. In Zusammenarbeit mit der Wissenschaftlerin Sara Vasan entwarf er eine alternative Methode. Er war nicht sicher, ob diese neue Methode funktioniert, aber sie würden viel Zeit und Mühe sparen, falls es klappte. Die neue Prozedur schien zunächst gut zu laufen: Viel Arbeit wurde vom alten Protokoll auf das neue umgestellt. Bald hatten sie eine Datenmenge angesammelt, die so breit war, dass man erwarten durfte die gesuchten Antworten irgendwo in den Bergen von Aufzeichnungen zu finden. Vasan sammelte die Resultate und begann sie für eine interne Analyse und eventuelle Publikation niederzuschreiben. Zunächst schien es, als ob sie ihre Resultate hätten: Die Reagenzgläser enthielten verschiedene Mengen von AGE, was darauf hindeutete, dass die Verbindungen ihre Bildung aus den Vorläufern in unterschiedlichem Maße verhindert hatten. Einige der Resultate schienen jedoch völlig unvereinbar mit dem Hauptteil der Arbeit. Die Konzentrationen der erwarteten Reaktionsprodukte waren deutlich höher, als es die kleinen Konzentrationsvariationen und andere Faktoren – verglichen mit anderen, ähnlichen Tests mit derselben Verbindung – erklären konnten. Die Chemie ergab schlicht keinen Sinn. Vasan genierte sich ihren Vorgesetzten zu fragen und befürchtete, dass sie einfach etwas übersehen hatte oder dass sie oder einer ihrer Mitarbeiter die Experimente

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nicht richtig ausgeführt hatten. Sie zeigte die Resultate Egan. Er war ebenfalls der Meinung, dass die Resultate keinen Sinn ergaben, und sie gingen zu den ursprünglichen Labor-Notizbüchern zurück, um die Resultate erneut zu prüfen. Sie erkannten bald, dass die Ausreißer durchwegs von Experimenten mit dem neuen, schnelleren Protokoll kamen. Egan und Vasan gingen noch einmal über das Protokoll und suchten nach einem Fehler – die Art von »Müll rein, Müll raus«-Fehler, der ein Buchhaltungsprogramm veranlasst Ihnen zu sagen, dass sie doppelt so viel Steuern schulden wie Sie verdienen. Schlussendlich fanden sie einen Fehler in den letzten Schritten der ursprünglichen Produktion der Modell-Amadori-Dione selbst. An einer Schlüsselstelle besteht das korrekte Vorgehen darin, die Reaktionen im Reagenzglas zu stoppen und die produzierten Verbindungen zu erhalten. Stattdessen erlaubte das Protokoll weitere Reaktionen und generierte Alpha-Diketone, anstatt sie in der Vorstufenphase einzufrieren. Eigentlich hatten sie ihre biochemische Suppe »überkocht« und voll entwickelte Alpha-Diketon-Ketten generiert. Sie hinterließen wenige oder keine intakten Amadori-Dione, gegen die Ulrichs Carbonylknacker getestet werden konnten. Während das jedoch klar ein Fehler war, zweifelten Egan und Vasan, dass es der einzige war, denn er konnte die abnormen Resultate der Inhibitionstests nicht vollständig erklären. Die Resultate jener Experimente sahen anfänglich korrekt aus, denn nachdem die Hemmer den Testsubstanzen beigemischt wurden, stellten ihre raschen und groben Prüfmethoden Überreste von zertrümmerten Amadori-Dionen fest, die wie molekulares Treibgut im Reagenzglas schwammen. Wie konnten aber solche chemischen Trümmer entstehen, wenn keine Amadori-Dione vorhanden waren, die die Thiazolium-Hemmer zerstören konnten? An diesem Punkt fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen. Die Erklärung sprang ihnen förmlich ins Gesicht. Tatsächlich wäre die Chemie offensichtlich gewesen, wenn sie nicht mit dem vorgefassten Verständnis an die Experimente herangegangen wären, was für Reaktionen sie beobachten würden. Weil sie gespaltene Carbonylgruppen sahen, die man als Überbleibsel erwarten konnte, wenn ThiazoliumVerbindungen Amadori-Dione entzweibrechen, von denen sie glaubten, sie seien im Reagenzglas, nahmen Egan und Vasan an, dass die Anwesenheit dieser gespaltenen Bindungen bedeutete, dass die Inhibitoren taten, wofür sie entworfen wurden. Was aber, wenn sie etwas völlig anderes taten? Was, wenn die Carbonylgruppen, die sie in den Endproben fanden, die Überreste von Alpha-Diketon-Bindungen waren, die fälschlicherweise während der Erzeugung der Testverbindungen produziert worden waren und dann durch ihre Modellmedikamente zerrissen wurden? Egan empfand jedoch keinen »Heureka!«-Moment der Erkenntnis. Nicht nur, weil er immer noch nicht herausgefunden hatte, wie diese Alpha-Diketone lange genug bestehen konnten, um von Ulrichs Modellmedikamenten angegriffen zu werden. Nein, seine Stimmung war weder intellektuelle Befriedigung noch anhaltende Neugier, sondern das dämmernde Bewusstsein, Zeit verschwendet zu haben. Die Amadori-Dione würden erneut, wahrscheinlich mit dem ursprünglichen, zeitaufwendigen Protokoll, synthetisiert werden und die Inhibitions-Prüfungen nochmals wiederholt werden müssen. Es gab keinen Grund, die Dinge zu beschönigen. Egan kontaktierte Cerami und

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erklärte die Situation, entschuldigte sich für die verschwendete Zeit und betonte, dass alles auf Alteons Kosten ginge. Egan dachte sich zunächst nichts bei den Fragen, die Cerami über das Experiment stellte: Wissenschaftler sind grundsätzlich wissbegierig. Es wurde aber merkwürdig, als der Doktor ihn nach immer obskureren Details zum Verfahren fragte, nach den seinen Schlussfolgerungen zugrunde liegenden Argumentationen und sogar Spekulationen, wie die Thiazolium-Verbindungen mit den Alpha-Diketonen reagiert haben könnten. Leider hatte Egan keine wirkliche Vorstellung davon, wie eine solche Interaktion zu seinen Beobachtungen geführt haben könnte: Er war ein Laborwissenschaftler, kein Medizinalchemiker. Was für eine Erleichterung, dachte er: Ceramis Neugier scheint die Oberhand über seine Frustration über diesen Rückschlag gewonnen zu haben. Cerami hing den Hörer auf, lehnte sich im Sessel zurück, sein Gehirn auf Hochtouren. Übersah er etwas? Wagte er zu glauben, was Egan ihm erzählte – oder die Schlussfolgerungen zu akzeptieren? Er versuchte seine zitternden Finger zu beruhigen und wählte Peter Ulrichs Nummer. Ungeduldig wartete er darauf, dass sein Partner ans Telefon ging. Endlich, ein Klicken in der Leitung. »Ulrich«, sagte eine vertraute Stimme am anderen Ende. »Peter?«, antwortete Cerami mit beherrschter Stimme. »Kannst du mir erklären, wie eine dieser Verbindungen eine AGE-Quervernetzung brechen kann?«

Vom Glückstreffer aus rückwärts arbeiten In den nächsten Wochen arbeitete Ulrich von Egans Protokoll und Vasans Resultaten aus rückwärts und entwickelte ein probeweises Szenario, unter welchem voll entwickelte AGE-Verbindungen mit einer Alpha-Diketon-Bindung von den neuen Thiazolium-Verbindungen aufgebrochen werden können. Schließlich dachte er, dass er die Chemie im Griff hätte. Falls sich das Resultat bestätigte, waren sie wirklich etwas auf der Spur. Dank dem Labormurks waren Picower und Alteon nicht nur im Zentrum eines, sondern zweier Durchbrüche in der AGE-Biochemie: einem theoretischen und einem mit enormer, potentieller medizinischer Bedeutung. Erstens bedeutete das Ergebnis, dass AlphaDiketon-AGE stabil genug sein könnten, um lange genug im Körper zu bestehen, um ohne zusätzliche chemische Veränderung zur Gewebeversteifung beizutragen. Und zweitens hatten sie unabsichtlich eine Klasse von Molekülen entworfen, die die AGEBildung nicht nur verhinderte, sondern sich sogar durch sie hindurch sägte. Die biomedizinischen Folgerungen waren aufsehenerregend. Stellen Sie sich vor, Sie können Patienten, deren Körper bereits erheblich mit Quervernetzungen durchsetzt sind, ein AGE entzweibrechendes Medikament geben. Gewebe mit AGE würde verjüngt. Arterien würden sich als Reaktion auf den pulsierenden Blutstrom ausdehnen; Herzen würden sich mit dem einströmenden Fluss füllen, sogar Haut könnte wieder elastisch werden. Es war die wahre Traumlösung für fortgeschrittene Diabetesfälle oder für Menschen, deren AGE sich wegen des Alterns und nicht wegen hohen Blutzuckers aufgebaut hatten. Der Markt würde enorm sein.

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Der nüchterne Chemiker in Ulrich brachte ihn von seinen Träumereien zurück zu den Schritten, die zu ihrer Realisierung nötig waren. Zunächst einmal würde Alteon die früheren Experimente erneut laufen lassen und die Reaktionen bei jedem Schritt kontrollieren, um Beweise für die Chemietheorie zu liefern, die er zur Erklärung der ursprünglichen Resultate skizziert hatte. Außerdem hatten sie bisher alles mit einem in einem Messbecher gekochten AGE gemacht: Er wusste immer noch nicht, ob sich tatsächlich je irgendein Alpha-Diketon-AGE (geschweige denn das spezielle Molekül, das Vasan unbeabsichtigt hergestellt hatte) in einer genügend hohen Konzentration bildete, um gewebeschädigend zu wirken. Und dann blieb fraglich, ob seine Testsubstanzen im Menschen reproduzieren konnten, was sie im Reagenzglas taten: Die Entgiftungsmaschinerie des Körpers könnte sie verstoff wechseln und inaktivieren, oder es könnte unmöglich sein, genug von dem Zeug zu nehmen, um eine Wirkung zu erzielen. Die ersten paar Fragen wurden durch eine sorgfältigere und bewusstere Wiederholung von Egans und Vasans ursprünglichen Experimenten beantwortet, die alle seine Hoffnungen zu bestätigen schienen. Die Resultate dieser Studien waren konsistent mit der Hypothese, dass das prognostizierte AGE tatsächlich aus den Modell-Amadori-Dionen gebildet wurde und dass es tatsächlich lange genug bestand, um mit seinen Thiazolium-Verbindungen zu reagieren, die in der Tat die Querverbindung an der Naht der Alpha-Diketone zu durchtrennen schienen. Zudem war den beobachteten Resultaten zufolge eine spezielle Thiazolium-Verbindung – eine Substanz namens N-Phenacylthiazolium-Bromid (PTB) – ein besonders wirksamer Schraubenschlüssel, um AGE auseinanderzureißen. Die Tatsache, dass PTB eine Bindung in einem künstlichen AGE durchtrennte, bewies nicht, dass es irgendeine der Quervernetzungen brechen würde, die Arterien, Herzen und andere Organe alternder und diabetischer Leute fesseln. Nun war es Zeit für Cerami, dem eher medizinisch orientierten Mitglied der Mannschaft, aktiver involviert zu werden. Die beiden entschieden, PTB durch eine gestaffelte Serie immer anspruchsvollerer Tests zu schicken und immer lebensnahere Modellsysteme zu benutzen, indem sie sich Schritt für Schritt von Einzelzellen zu funktionellen und molekularen Untersuchungen lebender, atmender Tiere hocharbeiteten.

Die Fesseln lösen Die erforderlichen Studien wurden wiederum an die Leute vergeben, die unter Jack Egan bei Alteon arbeiteten. Seine Laborwissenschaftler hatten als erste die Fähigkeit von PTB nachgewiesen, AGE zu zerschneiden, indem sie isolierte, quervernetzte Proteine und Gewebe benutzten. Mit jeder erfolgreich übersprungenen experimentellen Hürde wuchs ihr Optimismus. Schließlich waren sie bereit, ihre Arbeit ins Lebendlabor diabetischer Labornager zu bringen. Als Egans Gruppe den Tieren ihre neue Substanz injizierte, waren die Resultate wieder positiv: Der Spiegel, der an die roten Blutzellen der Tiere gebundenen glykierten Proteine, sank in der ersten Woche um über ein Drittel. Er sank weiter und war nach drei Wochen auf der Hälfte des Ur-

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sprungspegels und nach einem Monat noch bei 40 Prozent. Es sah wirklich so aus, als wären sie etwas Großem auf der Spur. Mit diesen Beweisen an der Hand begannen Wissenschaftler bei Alteon Nagetieren mit von AGE verhärteten Herzen, Nieren und Arterien, die sich über eine normale, gesunde Lebensspanne oder im Schnellvorlaufmodus Diabetes angehäuft hatten, PTB-Injektionen zu verabreichen. Nun begann sich die wirkliche Aufregung aufzubauen, da PTB auch hier den Erwartungen gerecht wurde und die Geschmeidigkeit des Herz-Kreislauf-Systems, das zuvor seine jugendliche Flexibilität verloren hatte, wiederherstellte, anstatt bloß den unvermeidlichen Zerfall zu verlangsamen, wie es Aminoguanidin getan hatte. Strukturell waren die Gewebe der behandelten Tiere weicher und elastischer, dehnten sich wie frisch ausgepackte Gummibänder und schmolzen bereitwillig dahin, wenn man sie in verdauende Chemikalien tauchte. Funktionell expandierten ihre Herzen wie Ballons, um sich mit einströmendem Blut zu füllen, und das Blut floss ohne die großen, rückwärts kräuselnden »Pulsechos«, die für alte Blutgefäße charakteristisch sind, durch ihre Arterien. Sie hatten jedoch ein Problem. PTB war zu instabil, um als Medikament für humane Anwendung erfolgreich zu sein: Bis es eine Pille durch das Verdauungssystem und der komplexen Chemie der die Medikamente verstoff wechselnden Körperprozesse geschaff t hatte, blieb zu wenig übrig, um einen bedeuteten, therapeutischen Effekt zu erzielen. Ulrich würde aber eine derart vielversprechende Substanz nicht aufgeben und mit etwas Einsatz gelang es ihm und den Chemikern von Alteon, eine Variante ihrer Grundstruktur zu entwickeln, die nicht nur stabiler, sondern aktiver war: 4,5-Dimethyl-3-(2-Oxo-2-Phenylethyl)-Thiazolium-Chlorid. Der Einfachheit halber kürzte Alteon diesen Zungenbrecher mit ALT-711 ab (weil es ALTeons 711. Substanz war). Später würde die Verbindung dann in das besser vermarktbare »Alagebrium« umbenannt. Ein Medikament mit der Fähigkeit, AGE zu spalten, die sich bereits im Körper gebildet hatten, würde sowohl in Diabetes als auch in einem breiten Spektrum von Alterskrankheiten Anwendung finden. Zulassungsbehörden bewilligen Medikamente jedoch nur für eine bestimmte Indikation. Die Alteon-Strategen wollten eine möglichst exklusive Nische für ihr Medikament ausgestalten. Sie setzten sich das Ziel, Alagebrium für Erkrankungen zu entwickeln, die mit bestehenden Medikamenten noch nicht erfolgreich behandelt werden und von denen erwartet wurde, dass sie besonders gut auf ihre neue Behandlung ansprechen. Eine dieser Erkrankungen war isolierte systolische Hypertension (ISH). Bei dieser Form von Bluthochdruck ist der systolische Wert einer Person (das ist, wie gesagt, die erste der beiden Zahlen, die Sie von einer Blutdruckmanschette kriegen, wie die »110« von »110 zu 80«) erhöht, obwohl ihr diastolischer Wert (die zweite Zahl) in Ordnung ist. Der systolische Druck misst, wie stark die Arterienwand bei der Herzkontraktion durch einen Blutstoß in die Gefäße belastet wird. Der diastolische Druck ist der Basisdruck in den Arterien zwischen zwei Herzschlägen (technisch in der »Diastole«). Hormonelle und andere Faktoren können die Blutgefäße aktiv verengen und den Druck in den Arterien sogar während der Diastole hoch halten. Solche Effekte erhöhen den Blutdruck unabhängig von der eigentlichen Flexibilität der Arterie als Gewebe. Ist jedoch der systolische Druck trotz normalem diastolischem Druck

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erhöht, ist dies ein Zeichen dafür, dass das Gefäß selbst steif geworden ist, unfähig zur Ausdehnung, wenn Blut vom Herzen bei einem Pulsschlag anrauscht. Diese von Arteriosklerose unabhängige »Arterienverhärtung« ist nicht nur bei Leuten mit diagnostizierter ISH Grund zur Besorgnis. Die Steifheit der Arterien wird bei Menschen, die das mittlere Alter überschreiten, ein immer stärkerer Prognosefaktor für Herzkrankheit und Herzinfarkt. Tatsächlich läuft er vielen konventionellen Risikofaktoren wie Cholesterin und Blutdruck in Hinsicht auf das Risiko tatsächlicher, kardiovaskulärer Vorfälle (Herz- und Schlaganfälle) den Rang ab. Die US-amerikanische FDA und andere Behörden erkennen diesen »normalen« Eff ekt des Alterungsprozesses nicht als »Krankheit« an, für die sie ein Medikament zulassen würden. Alteon wusste daher, dass sie nie eine offizielle Bewilligung für die Behandlung dieser Menschen mit Alagebrium erhalten konnten. Sie wussten aber auch, dass sie den Markt mächtig ausweiten könnten, wenn erst einmal bewiesen ist, dass das Medikament die einschnürenden Fesseln der AGE in den Arterien durchsägt, die Flexibilität wiederherstellt und die Gefäße für den systolischen Fluss öff net – indem sie ohne viel Aufhebens die nicht zugelassene (»off-label«) Anwendung für ungezählte Scharen alternder Leute mit altersbedingter Arterienversteifung förderten. Eine weitere Krankheit, deren Opfer kaum von bestehenden Medikamenten profitieren und von der man erwarten würde, dass sie speziell auf einen AGE-Brecher anspricht, ist diastolisches Herzversagen (DHV). Die häufigere, systolische Form von Herzversagen entsteht, wenn die pumpende, untere Herzkammer das von der oberen Kammer erhaltene Blut nicht mehr ausstoßen kann, um den Körper mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Etwa ein Drittel der Patienten mit Herzversagen haben jedoch eine absolut normale Pumpkapazität. Ihr Problem ist, dass dieselbe Kammer sich nicht ausreichend ausdehnen kann, um das notwendige Blutvolumen initial aufzunehmen. Selbst nachdem es praktisch die ganze, zuvor aufgenommene Ladung ausgestoßen hat, bleibt der Körperbedarf daher unbefriedigt. Das Resultat ist dasselbe – die Körpergewebe verhungern blutmäßig. Doch die Ursache ist eine andere. Therapien, die systolisches Herversagen bewundernswert behandeln, lassen die Körper der DHV-Patienten immer noch nach kritischem Treibstoff lechzen. Obwohl der zugrunde liegende Verlust der Füllkapazität des Herzens das Ergebnis einer Reihe von Faktoren sein kann, sind viele Krankheitsfälle mit AGE-Versteifung des Herzens verbunden. Ein AGE auf brechendes Medikament wäre wiederum geeignet, diesen Leuten ihre gesunde Funktionalität zurückzugeben. Klinische Tests, die zeigen, dass es die Elastizität alter Herzen wiederherstellen kann, würden zudem bei großen Teilen einer »gesunden«, aber rasch alternden Bevölkerung Interesse auslösen. Alagebrium bewies seine Fähigkeiten rasch, denn es konnte alles, was PTB konnte, und sogar noch mehr. Studien zeigten, dass Alagebrium im Trinkwasser von Labortieren viel einfacher dieselbe Art Restaurierung von Herz- und Arterienflexibilität, die PTB nur via Injektion auslösen konnte, erbringen konnte. Alagebrium führte zudem zu Resultaten, die PTB nie fertig brachte. PTB hatte beispielsweise einen Teil der AGE gespalten, die sich in den Nieren diabetischer Nager angehäuft hatten, aber nicht genug, um die Organfunktion wiederherzustellen. Behandelt man dieselben Tiere mit Alagebrium, wird nicht nur das Kollagen ihrer Nieren löslicher, auch der

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fibrotische Nierenschaden geht zurück. Zudem fi ltern die Organe die Proteine besser aus dem Blut und verhindern ihr Überlaufen in den Urin. Außerdem waren Nagetiere bloß die erste Garde von Säugetieren, die von Alagebrium profitierten. Alteon und seine Mitarbeiter bewiesen bald, dass Alagebrium die Herzen und Blutgefäße von Hunden und Affen verjüngen konnte. Diese Studien waren aus verschiedenen Gründen viel aussagekräftiger für die Aussichten von Alagebrium als echtem Anti-Aging-Medikament als alles, was vorher geschehen war. Erstens wurden sie in Tieren durchgeführt, die »normal« alterten, während die Nagerstudien mit Alagebrium schwer diabetische Tiere verwendet hatten. Zweitens genießen Hunde und nicht-menschliche Primaten längere Lebensspannen, und die zusätzlichen Jahre geben den Kräften der Alterung mehr Zeit, dieselbe Art krankhafter Veränderungen des Herz-Kreislauf-Systems hervorzurufen, die man in älteren Menschen beobachtet. Daher sind sie vom klinischen und theoretischen Standpunkt her bessere Modelle der menschlichen Krankheit. Wie in betagten Menschen dehnen sich die Herzkammern älterer Hunde zur Aufnahme von einströmendem Blut weniger als in jungen Tieren. Dies führt zu einer reduzierten Füllmenge an Blut und einem gleichzeitigen Druckanstieg. Mit anderen Worten: Alte Hunde leiden an einem milden diastolischen Herzversagen. Als ältere Tiere über einen Monat eine moderate Dosis Alagebrium erhielten, wurden ihre Herzen um etwa 42 Prozent flexibler. Dies wurde durch eine Erhöhung des aufgenommenen Blutvolumens ohne Blutdruckanstieg in der Kammer demonstriert. Der Kontrast war noch deutlicher, als das in die pumpende Herzkammer geförderte Blutvolumen mit Medikamenten erhöht wurde: Nur Wochen zuvor hatte diese Behandlung die Leistungslücke der Herzflexibilität zwischen alten und jungen Hunden sogar noch erweitert. Nach der Behandlung mit Alagebrium waren ihre Herzen aber fast so elastisch wie die der jungen Kontrolltiere. 14 Die in unseren Primatenbrüdern beobachteten Resultate waren sogar noch eindrucksvoller.15 2001 publizierten Wissenschaftler von Alteon die Ergebnisse einer Studie über die Auswirkungen von Alagebrium auf das Herz-Kreislauf-System von Rhesusaffen. Sie arbeiteten mit Forschern des US-amerikanischen National Institute on Aging (NIA) zusammen, die die Auswirkungen von Alterung und Kalorienbeschränkung auf nicht-humane Primaten studierten, sowie NIA-Spezialisten für kardiovaskuläre Medizin. Ihre Testgruppe war alt, aber so »gesund«, wie es biologisch alte Affen eben sind – und insbesondere frei von Diabetes. Zu Beginn der Studie wurde die arterielle Flexibilität der Affen ebenso ermittelt wie das Ausmaß der Ausdehnung ihrer Herzkammern während der Blutfüllphase (Diastole) als Maß für die Gewebeflexibilität. Dann erhielten die Affen drei Wochen lang jeden zweiten Tag Alagebrium. Währenddessen wurden ihre Gewebe alle paar Wochen über neun Monate erneut getestet. Erstaunlicherweise gab es keinen messbaren Effekt bezüglich des Blutdrucks – systolisch oder diastolisch. Aber drei Wochen nach der Behandlung, und noch deutlicher nach sechs Wochen, hatten die Gewebe ihres Herz-Kreislauf-Systems eine klare Restaurierung zu einer jugendlicheren Elastizität durchgemacht. Laut einem groben, einfach durchzuführenden Test arterieller Flexibilität wurden ihre Arterien um erstaunliche 60 Prozent geschmeidiger. Ein direkterer Nachweis ließ eine Ver-

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besserung um 25 Prozent erkennen. Gleichzeitig öff neten sich ihre Herzen leichter: Sie nahmen während der diastolischen Phase 16 Prozent mehr Blut auf und andere Parameter der Herzfunktion, die zumindest teilweise von einer verbesserten diastolischen Füllung abhängen, verbesserten sich nach der Alagebrium-Behandlung ebenso. Man erwartete von Alagebrium nicht, dass es die Bildung neuer Bindungen zwischen Zuckern und Proteinen verhindert. Es war daher keine Überraschung, dass nach Absetzung des Medikaments diese Gewinne langsam wieder verloren gingen, da der allmählichen Fesselung der Affengewebe kein noch schnelleres Auf brechen dieser Bindungen mehr entgegenwirkte. Binnen weniger Wochen nach dem Höhepunkt der durch Alagebrium ausgelösten Rückkehr zu jugendlicherer Geschmeidigkeit waren die Arterien der Affen abermals so steif, wie sie es im Vorfeld der Studie gewesen waren. Ihre Herzen genossen die Vorteile ein wenig länger als die Arterien, doch dann begannen auch sie in ihre alte Widerspenstigkeit zurückzufallen. Das Absetzen des Medikaments ließ die Affen nicht schlechter zurück als sie es zu Beginn gewesen waren – aber es war klar, dass die AGE-Bindungen, die durch Alagebrium gebrochen wurden, rasch wieder geschmiedet werden konnten. Die Schlussfolgerung ist, dass Anwender von Alagebrium das Medikament fast ohne Unterbrechung nehmen müssten, um ihre neu gefundene arterielle Plastizität weiter zu genießen. Das dämpfte die Stimmung jedoch kaum. Die Ergebnisse dieser Studien stellten einen klaren Meilenstein in der Entwicklung von Alagebrium dar. Die Toxizität war gering, ernste Nebenwirkungen wurden nicht beobachtet und die Aussichten auf eine neue Behandlungsmethode für widerspenstige Krankheiten waren rosig. Es war Zeit für klinische Versuche.

Licht am Ende der Finsternis Der erste klinische Versuch mit Alagebrium, 2001 im prestigeträchtigen Journal Circulation der American Heart Association publiziert,16 schien der frühe Beginn eines Durchbruchs zu sein. 73 ältere Männer und Frauen mit Anzeichen vaskulärer Versteifung wurden auf Blutdruck und arterielle Flexibilität untersucht und anschließend zufällig in eine von zwei Gruppen eingeteilt. Zwei Monate nahmen zwei Drittel der Patienten Alagebrium in Pillenform, während der Rest eine gleich aussehende Pille ohne Wirksubstanz als Placebokontrolle erhielt. Nach Ablauf eines Monats und am Ende des Versuchs wurden ihre Parameter erneut ermittelt. Die Resultate waren alles andere als klar und erlaubten eine Reihe von Interpretationen. Selbstverständlich konnte die Studie naturgemäß nur vorläufi g sein und die meisten Forscher waren aufgrund der beachtlichen Resultate in den Tiermodellen bereit, im Zweifelsfalle an das Medikament zu glauben. Der systolische und Gesamtblutdruck war in beiden Gruppen gesunken, wahrscheinlich wegen eines unüblich starken »Placeboeffekts« in der Gruppe der Pillenattrappen: Der Einfluss der Kraft des Glaubens über den tatsächlichen Körperzustand, ein notorischer, wichtiger Störfaktor in Bluthochdruckstudien. Was auch immer der Grund war, das Medikament konnte keinen klaren Vorteil bezüglich der Blutdruckwerte verzeichnen. Gleichzeitig

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schien sich die arterielle Steife der Probanden mit Alagebrium, verglichen mit der Placebogruppe, unter Verwendung zweier Messgrößen verbessert zu haben. Zu einer der in diesen Untersuchungen verwendeten Methoden gab es jedoch technische Einwände und die Natur des Vergleichs zwischen den Gruppen machte auch seine Resultate weniger schlüssig. Nachfolgende klinische Studien lieferten jedoch Ergebnisse, die es uns in ihrer Gesamtheit erlauben, sicherere Schlüsse zu ziehen – und sie deuten, für Alteon bedauerlich, darauf hin, dass Alagebrium nie von den Behörden zugelassen werden wird. Zusätzlich zu gesunden Freiwilligen wurden in frühen klinischen Versuchen über 1000 Patienten mit systolischem Bluthochdruck, diastolischem Herzversagen, systolischem Herzversagen (mit und ohne begleitendes, übermäßiges, kompensatorisches Wachstum der Hauptpumpkammern des Herzens) und sogar Erektionsstörungen mit Alagebrium behandelt.17 Während die Resultate genug Beweise lieferten, dass das Medikament sicher ist und in diesen Patienten AGE spaltet, war der Effekt nicht ausreichend, um die tatsächliche Funktion zu beeinflussen. Die Ergebnisse zur diastolischen Herzfunktion waren unspektakulär, der Nutzen bezüglich verbesserter arterieller Flexibilität war nicht eindeutig und es wurden kaum Wirkungen auf den Bluthochdruck per se beobachtet. Oft wurde das Hauptziel der Versuche nicht erreicht und der Nutzen zeigte sich zumeist bei weniger wichtigen Merkmalen des Krankheitsprozesses, die nicht klar mit klinischen Folgen (kardiovaskuläre Erkrankung, Herzschlag oder Schlaganfall) verbunden waren. Außerdem konnten die beobachteten Vorteile an keiner bestimmten Dosis des Medikaments festgemacht werden. Das ist paradox, denn man würde eigentlich erwarten, dass bei einem AGE spaltenden Medikament der Nutzen mit der Dosis zunähme: Mehr Substanz sollte mehr gespaltene AGE und daher ein jugendlicheres Herz-Kreislauf-System bedeuten. Bislang lässt die Gesamtheit der Daten aus den Tierstudien darauf schließen, dass Alagebrium AGE spalten kann. Die Frage ist, wieso sich dies in menschlichen Patienten nicht wie in so vielen anderen Spezies in verbesserter Herz- und Kreislaufgesundheit niederschlägt. Einige Kritiker meinen, dass Alagebrium letzten Endes überhaupt kein AGE-Brecher ist, sondern ein AGE-Hemmer, genau wie es Ulrich und seine Kollegen ursprünglich geplant hatten. Diese Ansicht hat eine gewisse oberflächliche Plausibilität, aber diese Argumente halten der unwiderlegbaren Tatsache nicht stand, dass Alagebrium in Tierstudien die Entwicklung von diabetischen Komplikationen bei Nagern nicht nur verlangsamt oder die AGE-abhängige Gewebeversteifung des Herz-Kreislauf-Systems in normal alternden Hunden und Affen verhindert: Es macht sie rückgängig. Ein Medikament, das die Quervernetzung von Geweben lediglich hemmt, könnte die Geschwindigkeit drosseln, mit der sich neue Quervernetzungen bilden, und dadurch die Degeneration quervernetzter Gewebe verlangsamen. Es hätte aber nicht die raschen Wiederherstellungseffekte, die durch Alagebrium ausgelöst wurden. Die Tatsache, dass die Gewebe von mit Alagebrium behandelten Tieren nach dem Absetzen des Medikaments so rasch wieder unflexibel wurden, scheint auch gegen die Vermutung zu sprechen, dass die Substanz eigentlich nur AGE-Bildung reduziert. Die zugrunde liegenden Quervernetzungen bilden sich nämlich deutlich schneller zurück als die vielen Jahre, die für ihren ursprünglichen Auf bau nötig

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waren. Diese Beobachtung deutet an, dass die Durchtrennung der Alpha-DiketonBrücke in diesen AGE eine hoch reaktive Carbonylgruppe entblößt, die sich bald wieder an ein benachbartes Protein hängt. Dank der andauernden Spaltung anderer Quervernetzungen bleiben Anwender des Medikaments diesem Problem in einer Art »zwei Schritte vorwärts, einen zurück« voraus. Setzt man es aber ab, kehren sie rasch zu ihrem alten AGE-Zustand zurück. Wieso können Forscher keine Alpha-Diketon-Quervernetzungen im Körper finden? Der Grund ist fast mit Sicherheit, dass diese Strukturen ironischerweise etwas zu einfach zu zerstören sind. Die Schwierigkeit, ein Medikament zu entwerfen, das AGE aufbricht, liegt nicht an einem Mangel an Chemikalien, die eine gegebene Vernetzung entzweibrechen können, sondern vielmehr darin, etwas zu finden, das nicht zugleich auch normale, gesunde Proteine in Stücke reißt. Die übliche Methode, AGE im Körper zu finden, besteht darin, eine Gewebeprobe in starken Säuren zu baden und danach die Überbleibsel zu untersuchen. Diese Technik erwischt die am schwersten zu zerstörenden AGE wie Pentosidin, vernichtet aber jegliche Spuren von empfindlicheren Quervernetzungen. Es wurde lange vermutet und in den letzten Jahren bestätigt, dass die Grobheit solcher Versuche ernste Verzerrungen in die AGE-Forschung brachte. In den letzten fünf Jahren wurden neue Methoden entwickelt, um AGE-Vernetzungen in Gewebe durch einen mühsamen Prozess aufzudecken, in dem normale, gesunde chemische Bindungen im Gewebe fast einzeln abgebaut werden und nur abnorme, chemische Bindungen wie AGE zurückbleiben. Mittels dieser Techniken haben Forscher nachgewiesen, dass die AGE, die wir zuvor für die häufigsten hielten, tatsächlich nur die gegen die chemische Flächenbombardierung am resistentesten waren, die man vorher benutzt hatte, um sie aus ihrem Versteck zu treiben. Die am einfachsten nachzuweisenden AGE (wie Pentosidin) kommen in Wirklichkeit relativ selten im Körper vor (und tragen daher wenig zum Gesamtzustand der Gewebeversteifung bei). Andere Quervernetzungen sind viel verbreiteter (und stellen daher für das lebende Gewebe eine viel größere Gesamtbelastung an Proteinfesseln dar), blieben aber für unsere Testmethoden unsichtbar. Ich glaube, das ist die Erklärung für unser bisheriges Unvermögen, die molekularen Angriffsziele von Alagebrium zu identifizieren. Die vermutete Struktur von Alpha-Diketon-Quervernetzungen ist derart, dass sie relativ einfach zu spalten wären: Sie erinnern sich, dass das in der Tat der Grund ist, wieso Peter Ulrich ursprünglich nicht dachte, dass sie überhaupt lange genug existierten, um ein lohnenswertes Angriffsziel für Medikamente zu sein. Der riesige Unterschied zwischen der funktionellen Wirkung der Alagebriumbehandlung in Humanpatienten verglichen mit Labornagern, Hunden und Affen resultiert vielleicht daraus, dass Alpha-Diketon-Quervernetzungen eine viel verbreitetere Form von AGE in diesen Spezies sind als in unserer eigenen. Es ist klar, dass es Unterschiede in den der AGE-Bildung zugrunde liegenden Stoff wechselwegen zwischen den Spezies gibt. Wie wir oben gesehen haben, erleiden beispielsweise die Körper diabetischer Ratten viel mehr oxidativen Stress infolge der Krankheit als unsere eigenen. Dies sollte nicht nur einen Einfluss darauf haben, wie AGE gebildet werden, sondern welche spezifischen Quervernetzungen entstehen: Strukturen, an deren Bil-

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dung freie Radikale beteiligt sind, werden für Rattengewebe wahrscheinlich eine viel größere Belastung sein als bei uns. Ein weiterer Grund zur Annahme, dass Alpha-Diketon-Quervernetzungen wohl weniger wichtig für unsere Spezies als für andere sind, ist die einfache Tatsache, dass wir viel langlebiger sind als diese anderen Organismen. Langlebige, widerspenstige AGE wie Pentosidin sind für den Körper sehr schwer abzubauen, daher neigen sie dazu, sich linear mit dem Alter anzuhäufen. Infolgedessen akkumulieren langlebigere Organismen sie zwar langsamer als kurzlebigere, haben aber am Ende ihres Lebens höhere absolute Pegel solcher AGE, schlicht weil sie viel mehr Zeit hatten, sie anzuhäufen. Wenn Sie also Abb. 2 ansehen, werden Sie bemerken, dass ein mit 14 Jahren extrem »betagter« Hund ungefähr 40 Einheiten Pentosidin in einem Milligramm seines Kollagens hat, während ein Zwergschwein desselben Alters – aber mit der Hälfte seiner Lebenserwartung noch vor ihm – nur 15 Einheiten hat. Ein etwa 40 Jahre lang lebender Affe hat im Alter von zehn lediglich fünf Einheiten Pentosidin akkumuliert. Der Mensch mit einer maximalen Lebensspanne von über 100 Jahren hat noch weniger Einheiten. Bei einem Alter von 60 jedoch, wenn AGE-Vernetzungen die Überlebenschancen einer Person ernsthaft zu beeinflussen beginnen, ist die menschliche Haut mit etwa 50 Einheiten Pentosidin belastet, die seine Proteine pro Milligramm Kollagen quervernetzen – mehr als irgendeine der kurzlebigeren Spezies Zeit zur Anhäufung gehabt hat. Nun: Erinnern Sie sich, dass im Gegensatz zu einer äußerst hartnäckigen Quervernetzung wie Pentosidin die Alpha-Diketon-Quervernetzungen – die Art, die von Alagebrium gespalten wird – verglichen mit anderen AGE relativ fragil sind. Die Konzentration dieser Quervernetzungen ist daher ein Gleichgewicht zwischen einer ziemlich rapiden Bildung und Spaltung. Wie bei allen AGE würde der altersbedingte Niedergang der Stoff wechselkontrolle über den Treibstoff dazu führen, dass im Alter mehr davon gebildet wird. Seine relativ einfache Beseitigung sollte es dem Körper jedoch größtenteils erlauben, mit diesem Anstieg Schritt zu halten, was zu einer viel langsameren Anhäufungsgeschwindigkeit führt als beim störrischen Pentosidin. Das Nettoresultat hiervon wäre, dass spät im Leben, wenn die durch AGE ausgelöste Versteifung rasch fatal wird, der Beitrag von Alpha-Diketon-Quervernetzungen zur Gesamtbelastung an AGE (und daher zum Verlust der nötigen Flexibilität) im Gewebe einer langlebigen Spezies wie unserer geringer wäre als in einem Affen oder Hund (ganz zu schweigen von der Maus). Dies aus dem einfachen Grund, dass wir so viel mehr der resistenteren AGE-Formen angehäuft haben, als kurzlebigere Kreaturen je könnten. Ein Alpha-Diketon-Brecher wie Alagebrium würde daher, auch wenn er seine molekulare Aufgabe höchst erfolgreich ausführt, eine viel größere Belastung an anderen Quervernetzungen zurücklassen, als es in Modellorganismen der Fall wäre, was zu einer viel weniger effektiven Wiederherstellung der jugendlichen Gewebeplastizität führt.

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Alagebrium und darüber hinaus Welchen Platz lässt das nun für Alagebrium in der SENS-Agenda? Der Mangel an eindeutigen klinischem Nutzen im Menschen zeigt klar, dass dieses Medikament selbst keine große Rolle beim Rückgängigmachen des Vernetzungsschadens in unseren Geweben spielen wird. Sein Wert ist vielmehr der eines Machbarkeitsbeweises: Es zeigt uns, dass AGE im Körper gespalten und Gewebe regeneriert werden können, lange nachdem der Stoff wechsel seine Arbeit getan und unsere Proteine zusammengebunden hat. Eine neue Generation von AGE-Brechern wird nötig sein, die reichlicher vorhandene AGE durchschneidet und uns dadurch von den Strukturen befreit, die unsere Gewebe wirklich unbeweglich machen. Solche Substanzen werden Menschen denselben Nutzen bringen, wie es Alagebrium für Tiere tat – ein zuerst in Diabetes, ISH und diastolischem Herzversagen demonstrierbarer Nutzen und schließlich in der Alterung selbst. Es ist wichtig zu betonen, dass uns kein einzelnes Medikament völlig vor Gewebevernetzung bewahren wird. Wie wir gesehen haben, führt Glykation zur Bildung vieler verschiedener AGE, jedes mit einer anderen Struktur. Medikamente, die ein gegebenes AGE trennen, werden die meisten anderen wohl unberührt lassen: Kein einzelnes Molekül wird all diese verschiedenen intermolekularen Verknüpfungen durchschneiden können. Wie wir in Kapitel 8 bei den Amyloiden gesehen haben, werden wir daher eine Reihe von Medikamenten entwickeln müssen, wobei jedes entweder eine spezifische Quervernetzung oder bestenfalls eine kleine Familie von ähnlichen spaltet. Die letztendliche Notwendigkeit, Medikamente zu entwickeln, die eine Anzahl verschiedener AGE-Strukturen auf brechen, bedeutet nicht, dass wir AGE nicht daran hindern können, zur Alterung unserer Herzen, Arterien und anderer Gewebe beizutragen, bis wir eine Lösung für all jene Quervernetzungen zur Hand haben. Die der »Ingenieurschule« der Anti-Aging-Biotechnologie zugrunde liegende Einsicht sagt uns, dass wir nicht alle unsere Probleme gleichzeitig lösen müssen, um in den Prozess einzugreifen: Wir können »unterwegs verjüngen« und eine Herausforderung nach der anderen nehmen. Bedenken Sie, dass der der Alterung zugrunde liegende molekulare Schaden bereits zu entstehen beginnt, wenn wir noch im Mutterleib sind. Trotzdem bleiben wir bis tief in unsere 30er jugendlich: Diese Angriffe dauern Jahrzehnte, bevor die Schadensmenge unsere Körperfunktionen beeinflusst. Bis diese Schwelle erreicht ist, bleibt eine bestimmte Form von Alterungsschaden für sich selbst genommen im Wesentlichen harmlos. Um daher einem Gewebe eine jugendlichere Flexibilität zurückzugeben, müssen wir nicht alle verschiedenen Arten von AGE-Quervernetzungen in unserem Körper spalten, sondern nur diejenigen, die den größten Anteil an der Versteifung unserer Gewebe haben. Für praktische Zwecke wird Verjüngung erbracht sein, sobald wir einen genügenden Anteil der AGE-Strukturen in unserem Körper spalten können, um die Gesamtmenge an Quervernetzungen unterhalb eines Schwellenwerts zu halten, der Gewebefunktion tatsächlich beeinträchtigt. Wenn wir erst einmal ein Medikament haben, das eine gegebene Art von Quer-

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vernetzung auf bricht, werden wir von seinem unheilvollen Einfluss befreit sein. Die Lösung wird naturgemäß nicht einmalig sein: Wir werden uns alle paar Jahre oder Jahrzehnte einem neuen Behandlungsdurchgang unterziehen. Dabei werden wir das Medikament für einige Wochen oder Monate nehmen – bis genügend AGE gespalten wurden, dass unsere Gewebe wieder so flexibel wie in ihrer Jugend sind. Diese Quervernetzungen werden sich natürlich sofort wieder aufbauen – wir können uns aber den Luxus leisten, dies geschehen zu lassen, bis der kritische Schwellenwert wieder erreicht wird. (Beachten Sie, dass dieses Szenario davon ausgeht, dass der AGE-Brecher die gespaltenen AGE in einem chemisch inerten Zustand zurücklässt, was Alagebrium mit Alpha-Diketonen offensichtlich nicht tut. Wenn die gespaltenen AGE reaktiv sind, wird das Medikament fortlaufend genommen werden müssen.) Der erste wirksame AGE-Brecher wird jedoch nicht das ganze AGE-Problem lösen. Er wird wohl als erstes in die Klinik kommen, weil er auf die häufi gsten AGE abzielt, aber er wird sicher nicht alle AGE-Spezies spalten. Andere AGE-Quervernetzungen werden sich daher unvermindert weiter bilden, wenn auch mit einer geringeren Geschwindigkeit. Diese Quervernetzungen werden erstmals ein pathologisches Niveau erreichen, wenn unsere Leben genug verlängert wurden, damit sie für sich genommen unsere Gewebe so versteifen, wie es sie und die zuerst behandelten AGE in einer momentan normalen Lebensspanne zusammengenommen tun. Ja, wir werden daher auch diese AGE identifizieren und gegen sie gerichtete Behandlungen entwickeln müssen. Der wichtige Punkt aus der Sicht des Ingenieurs ist jedoch, dass dies nicht als tatsächliches biomedizinisches Problem auftritt, bis die erste Welle von Anti-Aging-Behandlungen (inklusive solcher gegen AGE) selbst unsere Leben entscheidend verlängert haben. Der erste Spalter eines reichlich vorhandenen AGE wird uns die Zeit geben, solche AGE zu identifizieren und neue Behandlungen zu entwickeln, die uns wiederum von diesen befreien. Mit der Zeit werden wir einen lebenslangen Zeitplan von AGE-Brechern entwickeln, ähnlich den Kindheitsimpfungen heute, aufgrund dessen wir eine Serie von spezifischen, Quervernetzungen spaltenden Medikamenten erhalten. Jedes wird nach seinem eigenen Zyklus von Jahren, Jahrzehnten oder vielleicht sogar Jahrhunderten verabreicht, je nach Bildungsgeschwindigkeit und -ort ihrer Zielstrukturen im Körper. Um aber den ersten großen Sprung vorwärts bezüglich einer Wiederherstellung der jugendlichen Geschmeidigkeit von Geweben mit AGE zu schaffen, müssen wir lediglich die Entwicklung von Quervernetzungsbrechern priorisieren, die sich ihren Weg durch Vernetzungen bahnen, die uns innerhalb einer derzeit normalen Lebensspanne klinische Probleme verursachen. Der obige Absatz diskutiert nur AGE, aber eine ähnliche Logik gilt für das ganze SENS-Spektrum. Ich werde in Kapitel 14 näher darauf eingehen.

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Kenne deinen Feind Heute sind wir erstmals in der Geschichte in der Lage, solche Medikamente auf rationaler Basis zu entwerfen. Vor nur einem Jahrzehnt, als Peter Ulrich und die Chemiker von Alteon die Arbeit leisteten, die schließlich zur Entwicklung von Alagebrium führte, tappten sie im Dunkeln. Sie wussten nicht einmal sicher, ob die Art von AGE, die sie anpeilten, im Körper existierte – sie vermuteten aufgrund von Studien im Reagenzglas, dass sich solche Bindungen bilden und zur Versteifung von lebendem Gewebe beitragen könnten. Aber die neuen, Enzym basierten Methoden, die ich früher erwähnte, erlauben es uns heute, Gewebe langsam, auf molekularer Ebene Schicht für Schicht auseinanderzunehmen. Dadurch werden das Vorhandensein und die Konzentration pathologischer Quervernetzungen in unserem Körper enthüllt und unsere zuvor verborgenen Gegner ins Licht der Wissenschaft gezerrt. Forscher, die sich die Zeit genommen haben, diese neuen akribischen Prozeduren für alternde, menschliche Gewebe zu entwickeln und anzuwenden, haben uns verlässliche Angriffsziele gegeben, auf die wir unser Fadenkreuz richten können: eine komplexe Struktur namens Glucosepan, die erst 1999 mit diesen neuen Techniken identifiziert wurde 18 und wahrscheinlich ein weiteres AGE namens K2P, das in den Linsen unserer Augen und möglicherweise anderen Geweben typisch ist. 19 Glucosepan ist der größte bisher bekannte Einzelbeitragende zur AGE-Belastung des Körpers. Es fesselt bis zu 20 Prozent aller Moleküle des Schlüssel-Strukturproteins Kollagen in alten, nicht-diabetischen Menschen. Die Konzentrationen von Glucosepan sind etwa 100 Mal höher als die von irgendeinem anderen AGE, das man bisher in Kollagen oder der Linse gefunden hatte. Ein Medikament, das unsere Gewebe von diesen AGE-Fesseln befreien könnte, hätte einen viel größeren Einfluss auf die gesamte Belastung mit Quervernetzungen als Alagebrium und würde daher unsere Gewebe ihrer vollen jugendlichen Flexibilität und Funktionalität viel näher bringen. Wir benutzen heute zwar immer noch dieselbe Art von molekularem WandtafelEntwurf, die Ulrich und seine Teilnehmer am Gipfeltreffen in den frühen 1990er Jahren für neue AGE-Brecher benutzten. Wir können aber molekulare Bolzenschneider modellieren, die exakt für die Spaltung bestimmter AGE ausgerüstet sind, von denen wir die genaue molekulare Struktur kennen und deren Vorhandensein in unseren Körpern und deren biomedizinische Bedeutung als wichtige Beitragende zur gesamten Vernetzung unserer Gewebe im Alter Gewissheiten sind. Wir haben auch den Vorteil, viel schnellere Selektionsinstrumente zu besitzen. Wir können das Verhalten von AGE-Brechern mit Software simulieren und die Erzeugung von Variationen eines molekularen Kernmotivs automatisieren. Wir können mittels Robotik tausende Ampullen von Kandidatenmolekülen synthetisieren und mechanisierte Hochdurchsatzverfahren benutzen, um ihre Wirkung gegen einen bekannten Übeltäter bezüglich Elastizitätsverlust unserer Herzen und anderer Gewebe zu prüfen. Die Fähigkeit, die exakte chemische Struktur von Glucosepane anzusehen, gibt uns einen weiteren Vorteil in der Entwicklung seiner Nemesis, den Ulrich vor vielen Jahren zweifellos auch gerne gehabt hätte. Die Identifi kation von Chemikalien,

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die eine bestimmte Struktur zerstören, ist nicht das Problem bei der Entwicklung eines Glucosepane-Brechers für die klinische Anwendung: Wie wir früher gesehen haben, leisten die Säuren, die wir in unseren alten AGE-Bestimmungstechniken einsetzten, bedauernswert gute Arbeit. Das Problem ist vielmehr die Kreation von Molekülen, die dies selektiv tun, ohne gesunde Biomoleküle zu beschädigen, welche dieselbe Verwundbarkeit teilen, die das angehende Medikament ausnutzt. Dank der Rekonstruktion der molekularen Identität von Glucosepane können Biochemiker nun den Spielraum ermessen, den sie für den Entwurf einer molekularen Schere dagegen haben. Erfreulicherweise könnte dieser Spielraum in der Tat immens sein. Die Struktur von Glucosepane ist derart verschieden von irgendeiner unserer funktionellen Strukturen oder denjenigen anderer Säugetiere, dass ein sie gezielt angreifendes Medikament für jedes Molekül, das in unseren Körpern vorkommt, harmlos sein sollte. Wie ich erklärt habe, dürfte der resultierende Glucosepane-Brecher der erste in einer Serie von AGE spaltenden Medikamenten sein, die wir benötigen werden, um unsere Proteine von ihren molekularen Fesseln zu befreien. Dann werden wir erstmals im Menschen erreicht haben, was nur wenige Jahre zuvor in mit Alagebrium behandelten Hunden und Affen beobachtet worden war. Alte Herzen werden sich wieder weit öffnen, sich frei mit lebensspendendem Blut füllen. Verhärtete, alte Arterien werden beim Einströmen des Lebenssafts erneut bereitwillig expandieren. Die steifen, unflexiblen Gewebe der Betagten werden sich mit der Geschmeidigkeit der Jugend bewegen. Die Absurdität und die Empörung eines Körpers, der sich selbst in molekulare Knoten bindet, wird ein Ende haben und uns wie Kinder im DschungelFitnessstudio des Lebens innerlich und äußerlich biegen und dehnen.

Anmerkungen 1

Sell, D.R./Kleinman, N.R./Monnier, V.M.: Longitudinal determination of skin collagen glycation and glycoxidation rates predicts early death in C57BL/6NNIA mice. FASEB J 2000, 14 (1): 145-156. 2 Port, S.C./Goodarzi, M.O./Boyle, N.G./Jennrich, R.I.: Blood glucose: a strong risk factor for mortality in nondiabetic patients with cardiovascular disease. Am Heart J 2005, 150 (2): 209-214. 3 Khaw, K.T./Wareham, N./Luben, R./Bingham, S./Oakes, S./Welch, A./Day, N.: Glycated haemoglobin, diabetes, and mortality in men in Norfolk cohort of european prospective investigation of cancer and nutrition (EPIC-Norfolk). BMJ 2001, 322 (7277): 15-18. 4 Sell, D.R./Lane, M.A./Johnson, W.A./Masoro, E.J./Mock, O.B./Reiser, K.M./Fogarty, J.F./Cutler, R.G./Ingram, D.K./Roth, G.S./Monnier, V.M.: Longevity and the genetic determination of collagen glycoxidation kinetics in mammalian senescence. Proc Natl Acad Sci USA 1996, 93 (1): 485-490. 5 UK Prospective Diabetes Study Group. Quality of life in type 2 diabetic patients is

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affected by complications but not by intensive policies to improve blood glucose or blood pressure control (UKPDS 37). Diabetes Care 1999, 22 (7): 1125-1136. The Diabetes Control and Complications Trial Research Group. The effect of intensive treatment of diabetes on the development and progression of long-term complications in insulin-dependent diabetes mellitus. N Engl J Med 1993, 329 (14): 977-986. Beisswenger, B.G./Delucia, E.M./Lapoint, N./Sanford, R.J./Beisswenger, P.J.: Ketosis leads to increased methylglyoxal production on the Atkins diet. Ann N Y Acad Sci 2005, 1043: 201-210. Lonn, E./Yusuf, S./Hoogwerf, B./Yi, Q./Zinman, B./Bosch, J./Dagenais, G./ Mann, J.F./Gerstein, H.C./HOPE Study; MICRO-HOPE Study: Eff ects of vitamin E on cardiovascular and microvascular outcomes in high-risk patients with diabetes: results of the HOPE study and MICRO-HOPE substudy. Diabetes Care 2002, 25 (11): 1919-1927. Boshtam, M./Rafiei, M./Golshadi, I.D./Ani, M./Shirani, Z./Rostamshirazi, M.: Long term effects of oral vitamin E supplement in type II diabetic patients. Int J Vitam Nutr Res 2005, 75 (5): 341-346. Manuel y Keenoy, B./Vertommen, J./De Leeuw, I.: The effect of flavonoid treatment on the glycation and antioxidant status in type 1 diabetic patients. Diabetes Nutr Metab 1999, 12 (4): 256-263. Mustata, G.T./Rosca, M./Biemel, K.M./Reihl, O./Smith, M.A./Viswanathan, A./ Strauch, C./Du, Y./Tang, J./Kern, T.S./Lederer, M.O./Brownlee, M./Weiss, M.F./ Monnier, V.M.: Paradoxical effects of green tea (Camellia sinensis) and antioxidant vitamins in diabetic rats: improved retinopathy and renal mitochondrial defects but deterioration of collagen matrix glycoxidation and cross-linking. Diabetes 2005, 54 (2): 517-526. Anderson, M.M./Requena, J.R./Crowley, J.R./Thorpe, S.R./Heinecke, J.W.: The myeloperoxidase system of human phagocytes generates Nepsilon-(carboxymethyl-)lysine on proteins: a mechanism for producing advanced glycation end products at sites of inflammation. J Clin Invest 1999, 104 (1): 103-113. Brennan, M.L./Anderson, M.M./Shih, D.M./Qu, X.D./Wang, X./Mehta, A.C./ Lim, L.L./Shi, W./Hazen, S.L./Jacob, J.S./Crowley, J.R./Heinecke, J.W./Lusis, A.J.: Increased atherosclerosis in myeloperoxidase-deficient mice. J Clin Invest 2001, 107 (4): 419-430. Cerami, C./Founds, H./Nicholl, I./Mitsuhashi, T./Giordano, D./Vanpatten, S./ Lee, A./Al-Abed, Y./Vlassara, H./Bucala, R./Cerami, A:. Tobacco smoke is a source of toxic reactive glycation products. Proc Natl Acad Sci USA 1997, 94 (25): 1391513920. Bolton, W.K./Cattran, D.C./Williams, M.E./Adler, S.G./Appel, G.B./Cartwright, K./Foiles, P.G./Freedman, B.I./Raskin, P./Ratner, R.E./Spinowitz, B.S./Whittier, F.C./Wuerth, J.P./ACTION I Investigator Group: Randomized trial of an inhibitor of formation of advanced glycation end products in diabetic nephropathy. Am J Nephrol 2004, 24 (1): 32-40. Zu den alternativen, wenn auch weniger wahrscheinlichen Verdächtigen (oder womöglich Mitverschwörern) der Nebenwirkungen von Aminoguanidin gehören

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einige seiner antioxidativen Mechanismen, unter anderem das Einfangen des janusköpfigen Stickstoffoxid-Moleküls (ein essentielles Signalmolekül, das auch ein freies Radikal und ein Hauptangriffsziel von Aminoguanidin ist) und die Bindung von Übergangsmetallen. Sell, D.R./Nelson, J.F./Monnier, V.M.: Effect of chronic aminoguanidine treatment on age-related glycation, glycoxidation, and collagen cross-linking in the Fischer 344 rat. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2001, 56 (9): B405-B411. Asif, M./Egan, J./Vasan, S./Masurekar, M.R./Lopez, S./Williams, C./Torres, R.L./Wagle, D./Ulrich, P./Cerami, A./Brines, M./Regan, T.J.: An advanced glycation endproduct cross-link breaker can reverse age-related increases in myocardial stiffness. Proc Natl Acad Sci USA 2000, 97 (6): 2809-2813. Forscher bestätigten später, dass Alagebrium dasselbe in diabetischen Hunden bewirken konnte; dieser Befund untermauerte die Reputation des Medikaments als AGE-Brecher, war aber viel weniger wichtig im Hinblick auf seine Verwendung zur Behandlung »normaler« Alterung Vaitkevicius, P.V./Lane, M./Spurgeon, H./Ingram, D.K./Roth, G.S./Egan, J.J./Vasan, S./Wagle, D.R./Ulrich, P./Brines, M./Wuerth, J.P./Cerami, A./Lakatta, E.G.: A cross-link breaker has sustained effects on arterial and ventricular properties in older rhesus monkeys. Proc Natl Acad Sci USA 2001, 98 (3): 1171-1175. Kass, D.A./Shapiro, E.P./Kawaguchi, M./Capriotti, A.R./Scuteri, A./DeGroof, R.C./Lakatta, E.G.: Improved arterial compliance by a novel advanced glycation end-product crosslink breaker. Circulation 2001, 104 (13): 1464-1470. Little, W.C./Zile, M.R./Kitzman, D.W./Hundley, W.G./O’Brien, T.X./DeGroof, R.C.: The effect of alagebrium chloride (ALT-711), a novel glucose cross-link breaker, in the treatment of elderly patients with diastolic heart failure. J Card Fail 2005, 11 (3): 191-195. Bakris, G.L./Bank, A.J./Kass, D.A./Neutel, J.M./Preston, R.A./Oparil, S.: Advanced glycation end-product cross-link breakers. A novel approach to cardiovascular pathologies related to the aging process. Am J Hypertens 2004, 17 (12 Pt 2): 23S30S. Melenovsky, V./Clattenburg, L./Corretti, M./Fitzgerald, P./Capriotti, A./Gerstenblith, G./Kass, D./Zieman, S.: Improved flow-mediated arterial vasodilation by advanced glycation crosslink breaker, alagebrium chloride (ALT-711), in older adults with isolated systolic hypertension. Präsentiert an der jährlichen Wissenschaftstagung der American Heart Association, 13.-16. November 2005. Präsentationsnummer 2875. Thohan, V./Koerner, M.M./Pratt, C.M./Torre, G.A.: Improvements in diastolic function among patients with advanced systolic heart failure utilizing alagebrium, an oral advanced glycation end-product crosslink breaker. Präsentiert an der jährlichen Wissenschaftstagung der American Heart Association, 13.-16. November 2005. Präsentationsnummer 2647. Biemel, K.M./Friedl, D.A./Lederer, M.O.: Identification and quantification of major maillard cross-links in human serum albumin and lens protein. Evidence for glucosepane as the dominant compound. J Biol Chem 2002, 277 (28): 2490724915.

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19 Cheng, R./Feng, Q./Argirov, O.K./Ortwerth, B.J.: Structure elucidation of a novel yellow chromophore from human lens protein. J Biol Chem 2004, 279 (44): 4544145449.

10. Die Zombies zur Ruhe betten

Im Laufe des Alterns sammeln wir zunehmend »todesresistente« Zellen in unseren Geweben an. Dies ist Teil unseres biochemischen Programms gegen Krebs: Die Aktivität potentieller Krebszellen wird ausgeschaltet, bevor sie Schwierigkeiten machen können. Statt aber nur ruhig und harmlos zu bleiben, gelingt es diesen Zellen leider, das sie umgebende Gewebe durch fehlgeleitete, chemische Signalen zu schädigen. Wenn wir uns jedoch die Welt der neuen, gezielten Krebstherapien zum Vorbild nehmen, so erscheint die Entwicklung sicherer, wirksamer Methoden absehbar, die diese seneszenten Zellen von der Bildfläche entfernen werden können.

Bislang sprach ich vor allem über spezielle Schadensformen, die Ihren Zellen und ihren Bestandteilen auf molekularer Ebene zustoßen können, und darüber, wie wir die Funktionalität unserer Zellen und Gewebe wiederherstellen können, indem wir den Schaden rückgängig oder harmlos machen. Es gibt jedoch einige Fälle, in denen der alternde Körper Zellen anhäuft, die derart beschädigt sind, dass sie nicht nur aufhören zur Wirtschaft des Körpers beizutragen, sondern für das sie unterstützende System sogar giftig werden. Einen solchen Fall hatte ich damals in Kapitel 5 schon diskutiert: Zellen, die von mutierten Mitochondrien übernommen wurden. Wenn Mitochondrien die Fähigkeit zur Brennstoff verarbeitung aufgrund von Mutationen in ihrer internen DNA verlieren, ist es (meines Erachtens) nicht das dadurch verursachte Versagen dieser Organellen, ihre Arbeit zu verrichten, was uns letztlich Schaden zufügt. Vielmehr ist es die fehlgeleitete Weise, in der ihre Wirtszellen ihren Stoff wechsel ändern, um dieses Versagen zu überleben. Diese Stoff wechseländerung lässt solche Zellen weiterhumpeln, indem sie oxidativen Stress über ihre Membranen kippt und an weit entfernte Körperstellen überträgt. Auf den ersten Blick scheint ihre Abtötung das Beste zu sein, was der Körper mit solchen Zellen tun kann. Dadurch rettet er den Rest des Körpers vor ihrem giftigen Einfluss. Die Natur dieser speziellen Zellen, die dieses Problem entwickeln, macht aber jeglichen simplen Beseitigungsversuch risikobehaftet. Der bemerkenswerteste Fall ist wohl derjenige der Skelettmuskeln. Muskeln sind so aufgebaut, dass die Zer-

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störung einer einzelnen muskelzell-ähnlichen Struktur die ganze Faser zerreißt, in die sie eingebettet ist. Der Verlust von Muskelzellen durch Alterung (im Gegensatz zu Nichtnutzung) ist bereits eine Hauptquelle altersbedingter Gebrechlichkeit. Wir können es uns nicht leisten, dieses Problem noch zu akzentuieren, indem wir noch mehr von ihnen in Notwehr töten. In diesem speziellen Fall scheint es daher am sinnvollsten, sie nicht zu vernichten, sondern einen Weg zu finden, die normale Stoff wechselaktivität in den betroffenen Zellen angesichts ihrer Kolonisierung durch mutierte Mitochondrien zu erhalten und wiederherzustellen. Es gibt jedoch viele andere Fälle, in denen die Kosten der Vernichtung einer giftigen Zelle vernachlässigbar und die Vorteile klar und direkt sind. Wir sind alle mit einem solchen Fall vertraut – Krebs – und niemand bestreitet, dass es eindeutig positiv ist, Krebszellen zu zerstören. Ich werde in diesem Kapitel jedoch nicht Krebs diskutieren (bis auf die Anwendbarkeit gewisser bestehender Krebsbehandlungen auf andere Gebiete), weil diese Krankheit uns vor derart einzigartige Herausforderungen stellt, dass ich ihr ein eigenes, separates Kapitel gewidmet habe (Kapitel 12). Stattdessen werde ich mich auf drei Zelltypen konzentrieren, die eine viel weniger katastrophale Bedrohung als Krebs darstellen. Zusammengenommen leisten sie aber dennoch einen substantiellen Beitrag zum altersbedingten Abstieg zu Krankheit, Gebrechen und Tod. Ich sehe keinen Grund, diese Zellen zu rehabilitieren: Es scheint am besten, sie wie Krebszellen zu vernichten. Aufgrund der Ähnlichkeit der Bedrohungen, die sie darstellen, und der Strategien, die ich zu ihrer Bewältigung empfehle, bespreche ich sie gemeinsam.

Angriff der Klone Der Niedergang des Immunsystems ist eine der tödlichsten Auswirkungen des Alterns. Infektionen, die junge Leute als bloße Unannehmlichkeit abschütteln, sind für biologisch Alte üblicherweise fatal. Influenza bringt beispielsweise jedes Jahr 114.000 Amerikaner ins Krankenhaus, und Grippe sowie verwandte Krankheiten fordern das Leben von jährlich etwa 51.000. Die Krankheitsbelastung tendiert jedoch dramatisch in Richtung derer, die zuvor die verheerenden Wirkungen der Alterung erlitten haben (siehe Abb. 1). Todesfälle durch Grippe und grippebedingte Lungenentzündungen sind bei Erwachsenen bis in die siebte Dekade fast gänzlich unbekannt, danach steigt die Rate exponentiell an. In den USA betrafen über 90 Prozent der von diesen beiden Krankheiten verursachten Todesfälle über 65-Jährige. Wir könnten natürlich mittels Impfung etwas gegen den Blutzoll unternehmen. Aber nicht viel: Zwischen 30 und 75 Prozent der älteren Leute sprechen auf Grippeimpfungen nicht an, verglichen mit nur zehn Prozent bei jüngeren Erwachsenen. Manchmal impfen wir zudem gegen den falschen Grippestamm, was den Effekt sogar von erfolgreichen Impfungen einschränkt. Es gibt verschiedene Gründe für die Abschwächung des Immunsystems im Alter, einige davon sind letztlich Folgeerscheinungen der Alterung anderswo im Körper (wie der systemische Anstieg freier

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Radikale durch mutierte Mitochondrien). Einer der profundesten – und unerwartetsten – Faktoren, die jedoch unserem Unvermögen zugrunde liegt, eine Verteidigung gegen Infektionen aufzubauen, die junge Leute problemlos abschütteln, ist, ob Sie’s glauben oder nicht, eine Art immunologische Überbevölkerung.

Jährliche Krankenhauseinweisungen pro 100.000

Abbildung 1: Altersbedingte Anfälligkeit auf Lungenentzündungen und Grippe. V.o.n.u.: (a) Krankenhauseinweisungen nach Alter, Connecticut, 1993-97 (Frauen). Dem Originalbericht nachgezeichnet.1 (b) Todesraten nach Alter. CDC-Daten, nachgezeichnet. 2 3,000 2,500 2,000 1,500 1,000 500 0

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Truppenzustandsbericht Das Immunsystem hat zwei Hauptzweige. Einer ist das sogenannte angeborene Immunsystem, dessen »Angeborensein« von der Tatsache herrührt, dass seine Aufgabe derart allgemein ist, dass es nicht »lernen« muss, einen speziellen Feind zu identifizieren. Seine Aufgabe ist derjenigen eines Soldaten auf Patrouille in einer entmilitarisierten Zone vergleichbar. Es versucht die Ordnung aufrechtzuerhalten, ist sich aber nicht sicher, wer der Feind ist. Es ist bereit jedem nachzugehen, der verdächtig aussieht. Es scheint im Alter sehr wenige Änderungen im angeborenen Immunsys-

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tem zu geben und diejenigen, die bekannt sind, scheinen eine Folge von anderen Alterungsaspekten und altersbedingten Krankheiten zu sein (wir werden einige davon später diskutieren) oder von Faktoren, die in Betagten verbreitet, aber gar kein Resultat biologischer Alterung sind, wie etwa Vitamin- oder Mineralstoff mangel.3 Der andere Hauptzweig ist das adaptive Immunsystem. Das adaptive Immunsystem ist eher wie eine Division gut geschulter Spezialeinheiten, jeder von ihnen ein Experte in taktisch raffinierter, gezielter Kriegsführung gegen bestimmte Feinde. Dieser Zweig ist für die Fähigkeit des Immunsystems verantwortlich, Invasoren kennenzulernen – und daher für die Wirksamkeit von Impfungen. Innerhalb des adaptiven Immunsystems gibt es B-Zellen und T-Zellen. B-Zellen sind vor allem für unsere Verteidigung gegen Krankheitserreger wie Bakterien und Parasiten verantwortlich, die dem Körper völlig fremd sind und daher direkt mit dem Ziel der Vernichtung angegriffen werden können. B-Zellen erkennen spezielle Merkmale (Antigene) auf der Oberfläche solcher Eindringlinge, die sie als fremd kennzeichnen, und produzieren Antikörper gegen sie. Ich habe in Kapitel 8 über Antikörper gesprochen, als wir Impfungen als Mittel zur Beseitigung von Amyloid diskutierten. Antikörper zerstören fremde Zellen, indem sie sich an Antigene dieser Organismen binden. Dort fungieren sie als Zielfunkfeuer für die »Raketen«, die andere Komponenten des Immunsystems abschießen, oder sie blockieren Rezeptoren und andere Proteine, die für das Überleben des Pathogens nötig sind. Cytotoxische T-Zellen hingegen (wegen des charakteristischen Rezeptors, den sie tragen, auch CD8-Zellen genannt) sind für das Aufstöbern des inneren Feindes zuständig: Zellen, die körpereigen sind, sich nun aber gegen ihn gewandt haben, wie etwa Krebszellen oder Zellen, die von einem Virus gekapert wurden. (Es gibt neben den CD8-Zellen noch andere Typen von T-Zellen – dazu später mehr.) CD8-Zellen benutzen ebenfalls Antigene, um ihren Gegner anzuvisieren, aber weil sich ihre Zielobjekte in – oder im Falle von Krebs, als – körpereigene Zellen verstecken, haben die CD8 keine Chance, die verräterischen Merkmale des Pathogens auf seiner eigenen Oberfläche zu erwischen und können den Eindringling nicht direkt angreifen. Stattdessen schnappen CD8-Zellen Antigene auf der Oberfläche von Wirtszellen auf, die von einem Pathogen infiziert wurden oder, häufiger, von anderen Zellen des Immunsystems, die wie Spähtruppen agieren. Diese schaufeln Antigenkopien aus Zellwracks auf, die vom Feind zerstört wurden, und melden ihre Funde an CD8-Zellen zurück, um sie auf die Bedrohung aufmerksam zu machen. Haben sie den Feind erst einmal gewittert, spüren CD8-Zellen die infizierten Wirtszellen auf, zerstören sie und eliminieren so die Gefahr für den Rest des Körpers. Das Problem beginnt wieder einmal damit, dass der Körper rivalisierende Prioritäten in seinen Stoff wechselprozessen abgleichen muss – und dies angesichts limitierter Ressourcen. Einerseits ist es entscheidend, dass das Immunsystem Infektionserreger identifizieren und bekämpfen kann, die es noch nie gesehen hat. Daher braucht es eine Reserve von CD8-Zellen, die bereit ist, auf neue Bedrohungen zu reagieren, ihre Schlüsselantigene »kennenzulernen« und dann einen Angriff auf die Beine zu stellen. Diese Reserve nennt man naive CD8-Zellen. Andererseits braucht der Prozess, einen unerkannten Feind aufzuspüren, Zeit. Währenddessen könnte der Invasor im Körper lebensbedrohlich Fuß fassen. Daher besitzen wir auch einen

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Satz CD8-Gedächtniszellen – Veteranen aus alten immunologischen Schlachten, die sich an den besiegten Feind erinnern und bereit sind, ihn erneut zu identifizieren und zu bekämpfen.

Ausgewogenes Budget Das wäre in Ordnung, wenn wir so viele T-Zellen bereithalten könnten, wie wir möchten: Eine Menge naiver Zellen und große Kontingente Gedächtniszellen, die jedes einzelne der vielen Pathogene wiedererkennen, die unser Körper über die Jahre in der Verbrecherkartei abgelegt hat. Solche Armeen zu produzieren und aufrechtzuerhalten ist jedoch eine ressourcenintensive Investition, und wie für alles andere ist auch das »Budget« des Körpers für das Immunsystem limitiert. Um ein »militärisches« Budgetdefizit zu vermeiden, verfolgt der Körper eine straffe Politik ausgewogener Budgets – eine begrenzte Menge »immunologischen Raums« (wie es genannt wird) für die komplette T-Zell-Population insgesamt. Das Immunsystem hält jederzeit unbarmherzig eine Obergrenze bezüglich der kombinierten Gesamtzahl naiver und Gedächtniszellen im Körper ein, wenn auch die genaue Zusammensetzung konstant im Fluss ist und sich dynamisch verschiebt, wenn der Körper auf eine aktuelle Bedrohung reagiert. Wenn es gut funktioniert – wie in den meisten jungen Leuten –, ist dieses System das Vorbild einer flexiblen, kostengünstigen, hochgradig mobilen und gut ausgebildeten Armee, von dessen Aufbau viele heutige Generäle und weltliche Führer träumen. Während der Infektion mit einem speziellen Pathogen geschieht eine rasche Umgruppierung der Kräfte, um der Bedrohung vor Ort entgegenzutreten. Egal, ob Gedächtniszellen gegen einen schon einmal gesehenen Feind mobilisiert werden oder ob naive Zellen eine brandneue Bedrohung enthüllen und einen Angriff aufbauen: Zum aktuellen Feind passende CD8-Zellen expandieren, teilen sich rasch in einem Prozess namens klonaler Expansion und ziehen dann los, um Zellen zu identifizieren und zu zerstören, die die fremden Proteinmarker tragen, auf die sie spezialisiert sind. (Diese Verwendung des Fachbegriffs »Klon« ist einer von mehreren in der Biologie. Lassen Sie mich betonen, dass er nicht mit der populären, unwissenschaftlichen Wortverwendung verwechselt werden darf. Ich werde im nächsten Kapitel noch mehr zu den verschiedenen Bedeutungen von »Klonierung« sagen.) Ist ein Feind erst einmal überwältigt, wäre es eine Verschwendung begrenzter Ressourcen, eine Riesenanzahl CD8-Zellen zu unterhalten, deren einzige Mission es ist, Krieg gegen einen soeben geschlagenen Feind zu führen. Der Körper mit seiner eisernen Disziplin bezüglich seines immunologischen Budgets kann es sich nicht leisten, eine Armee zu haben, von der ein Großteil auf die Bekämpfung nur eines einzelnen Feinds spezialisiert ist, wenn dieser Feind momentan gar keinen Feldzug führt. Der Körper leitet daher eine rasche und massive Reduktion dieser Zellen ein. Er befiehlt dem Gros der Veteranen ein sorgfältig orchestriertes Selbstzerstörungsprogramm auszuführen, wonach er seinen Truppeneinsatz neu ausrichten und zu einer generischeren Verteidigungshaltung zurückkehren kann. Einige wenige Veteranen des jüngsten Konflikts werden nach Beendigung der Feindseligkeiten jedoch

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als Gedächtniszellen beibehalten. Sie halten nach Anzeichen eines erneuten Angriffs des Eindringlings Ausschau, den sie so gut kennen. Die kleinen, notwendigen Mengen, um die Wachsamkeit des Körpers gegen einen bekannten Feind aufrechtzuerhalten, machen diesen Aufwand durchaus vertretbar. Die Kosten, diese Zellen auf der Lohnliste zu behalten, belasten das »Budget« des Immunsystems daher nie signifikant. Dies ist zumindest der Plan.

Alte Soldaten sterben nie … Leider funktioniert dieses Vorbild fi nanzieller und militärischer Disziplin nur bei denjenigen Infektionen gut, die vollständig vom Körper eliminiert werden können. Es beginnt zusammenzubrechen, wenn der Körper Feinden gegenübersteht, die er bis zu einem Stillstand abwehren, aber nicht ganz auslöschen kann. Eine Gattung dieser Feinde sind Viren der Herpesfamilie: nicht nur die Infektionen, die man gewöhnlich »Herpes« nennt (Herpes Simplex des Mundes oder der Genitalien), sondern auch das Epstein-Barr-Virus (das üblicherweise Drüsenfieber verursacht), Varicella Zoster (verursacht Windpocken) und ganz besonders eine wenig bekannte Infektion namens Cytomegalovirus (CMV). Alle diese Viren können so weit zurückgedrängt werden, um einer aktiven, symptomatischen Krankheit ein Ende zu bereiten, aber sie sind nie vollständig bezwungen. Einige wenige Kopien des Virus halten sich weiterhin in gewissen schwer erreichbaren Winkeln des Körpers versteckt. Schlafend und außer Sichtweite des Immunsystems warten sie auf den Tag, an dem das Gewebe oder der Körper als Ganzes in einem dermaßen geschwächten Zustand ist, dass sie wieder aufflackern können. Tatsächlich stammt der eigentliche Name »Herpes« vom griechischen herpein, »schleichen«, bezugnehmend auf ihre Fähigkeit, im Körper herumzuschleichen, während sie auf günstige Bedingungen für ihre Reaktivierung warten. Vielleicht haben Sie noch nie von CMV gehört, obwohl die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Sie infiziert sind (bis zu 85 Prozent der Erwachsenen über 40 sind es). Dies deshalb, weil CMV selten eine erkennbare Krankheit verursacht, nicht einmal für kurze Zeit: Etwa die Hälfte derjenigen, die eine CMV-Infektion oder -reaktivierung durchmachen, erleiden keinerlei Symptome, während die andere Hälfte nur von schwer diagnostizierbaren, unspezifischen Beschwerden wie generellem Unwohlsein, Fieber oder Schweißausbrüchen befallen ist. Neue Forschungsergebnisse zeigen jedoch, wie CMV (und wahrscheinlich einige andere Viren) auch ernste Langzeitschäden in denjenigen unter uns verursachen können, die nur eine milde und vorübergehende Aktivierung und Reaktivierung des Virus erleiden. Da der Körper seinen Sieg gegen diese Viren nie ganz konsolidieren kann, werden Anti-CMV-Gedächtniszellen immer wieder in den Aktivdienst gerufen. Nach sukzessiven Wiederholungen beginnen sie allmählich das apoptotische Signal zu ignorieren, das die Streitkräfte nach Beendigung der Feindseligkeiten reduzieren sollte. Es gibt verschiedene Theorien, warum dies geschehen könnte, aber ich denke, es ist höchstwahrscheinlich Teil einer komplexen Anpassung, um uns gegen unkontrollierte Zellteilung (m.a.W. Krebs) in diesen Zellen zu schützen. 4 Wo auch immer

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sie herstammt, die Unfähigkeit, diese Veteranentruppen zurückzurufen, schwächt zunehmend das Vermögen des Immunsystems, andere Infektionen zu bekämpfen, neue oder alte. Die eisernen Beschränkungen des »immunologischen Raums« oder des »Militärbudgets« stellen sicher, dass der Körper die Bilanz mit anderen immunologischen Soldaten ausgleichen muss, wenn er unbenutzte T-Zellen gegen CMV oder andere Infektionen nicht aussortieren kann. Deshalb schwindet die Zahl der naiven Zellen, die dem Körper zur Bekämpfung neuer Bedrohungen zur Verfügung stehen, und der Gedächtniszellen für andere Pathogene auf einen gefährlich tiefen Stand.5

… sie schwinden bloß dahin Es ist schlimm genug, dass sich todesresistente Anti-CMV-Veteranen weigern, in den geplanten Ruhestand zu treten und dadurch notwendige Umgruppierungen und die Anstellung neuer Rekruten verhindern. Die Situation ist aber tatsächlich noch schlimmer. Diese problematischen klonalen Expansionen weigern sich nicht nur Platz für andere Soldaten zu machen, die ihre Arbeit tun möchten: Wie invalide oder betagte Kämpfer können diese geschwächten (der immunologische Ausdruck ist »anergischen«) T-Zellen nicht einmal ihre eigene Pflicht erfüllen.6 Einer der wichtigsten Faktoren, der diese anergischen T-Zellen lähmt, scheint der Verlust eines wichtigen Oberflächenrezeptors namens CD28 zu sein – ein Effekt, den man im Menschen7 und im Tier8 beobachtet hat. T-Zellen werden durch antigenpräsentierende Zellen (APZ), den Spähtruppen des Immunsystems, auf die Anwesenheit fremder Truppen aufmerksam. Sie identifizieren die Antigene der feindlichen Kämpfer durch direkte Begegnung mit ihnen, oder indem sie in den Trümmern alter Schlachtfelder wühlen (die Überbleibsel von Zellen, die sie verwüsteten). Wenn TZellen CD28 verlieren, können APZ sie nicht mehr erkennen und auf die Gefahr aufmerksam machen. Ihr Geheimdienstbericht wird ungelesen abgelegt. CMV-spezifische CD8-Zellen sind für diesen Verlust außergewöhnlich anfällig. Ein weiteres Problem der anergischen CD8-Zellen ist, dass sie nicht nur ein riesiges Territorium für sich selbst abgesteckt haben und dadurch andere T-Zell-Populationen verdrängen, sondern gleichzeitig die Fähigkeit verlieren, sich selbst zu reproduzieren. T-Gedächtniszellen exprimieren normalerweise einen Rezeptor namens KLRG1, der ihre Vermehrung verhindert, solange es keine Infektion gibt. Gesunde, KLRG1 tragende Zellen können sich jedoch reproduzieren, wenn eine Bedrohung tatsächlich vorhanden ist – normalerweise. Anergische CD8-Zellen tragen KLRG1 auf ihrer Oberfläche,9 aber auch einen anderen Marker namens CD57, der bei normalen Gedächtniszellen fehlt. 10 Wenn sowohl CD57 als auch KLRG1 gleichzeitig vorhanden sind, ist die Fähigkeit der Zellen, sich selbst zu reproduzieren, strikt gesperrt. Daher können sie ihre Reserveeinheit trotzdem nicht in eine vollentwickelte Armee transformieren, auch wenn ihr eingeschworener Feind über die Befestigungsmauern stürmt. Zu dieser zellulären »Unfruchtbarkeit« trägt auch die Tatsache bei, dass dieselben Zellen kurze Telomere haben – die langen Abschnitte mit Nonsens-DNA, die unsere Chromosomen-Enden bedecken. Anergische T-Zellen haben dieses Problem, weil bei

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ihnen, anders als bei den meisten Immunzellen, das Enzym Telomerase nicht mehr aktiv ist, das zur Erneuerung der Telomere nötig ist. Die meisten Zellen exprimieren keine Telomerase, aber sie ist essentiell für die gesunde Funktion von CD8-Zellen, da sie als Antwort auf neue Infektionen im Verlaufe des Lebens häufig dazu aufgerufen werden, ihre Anzahl rasch zu expandieren. Daher ist der Mangel an hoher Telomerase-Aktivität ein weiterer Mechanismus, der zur Schwächung dieser Zellen beiträgt. Für Zusatzinformationen beachten Sie den Kasten »Basiswissen zu Telomeren und Telomerase«. In Kapitel 12 wird dies noch näher erläutert.

Basiswissen zu Telomeren und Telomerase Jedes Mal, wenn sich eine Zelle teilt, muss sie eine neue Kopie ihrer DNA anfertigen. Das dafür verantwortliche Enzym – DNA-Polymerase genannt – ähnelt einer molekularen Einschienenbahn, die entlang der »Führungsschiene« vorwärts schwirrt, die den zu kopierenden DNA-Strang darstellt. Während sie entlang der »Führungsschiene« reist, kopiert das Polymerase-Enzym Buchstabe für Buchstabe den Strang, auf dem sie sitzt, und spuckt unterwegs den neuen, replizierten Strang aus. Die DNA-Polymerase hat jedoch einen fundamentalen Mangel. Aus Gründen, die uns hier nicht interessieren müssen, schafft es die Maschinerie nie, den DNAStrang vollständig zu kopieren. Ein kleiner Teil des chromosomalen DNA-Materials geht daher bei jeder Zellteilung verloren und belässt den kopierten Strang kürzer als das Original. Mit der Zeit ist das Chromosomen-Ende weggefressen. Ein zweites Problem, das unsere Zellen bezüglich unserer Chromosomen lösen müssen, ist, dass sie oft aufgrund von Strahlung und anderen Stressfaktoren brechen. Die Zelle muss diese Brüche reparieren. Sie muss aber peinlichst genau vermeiden, die unverbundenen Enden von Chromosomen mit den unverbundenen Stücken eines gebrochenen Chromosoms zu verwechseln und so zwei intakte Chromosomen an den Enden zusammenzuknüpfen. Sie braucht daher eine Erkennungsmethode, die echte Chromosomen-Enden von Teilen von Chromosomenbrüchen unterscheidet. Telomere sind die Hälfte der Lösung der Natur für beide Probleme. Telomere enthalten keine genetische Information – es ist eine extrem langweilige DNA, die aus lauter Kopien einer kurzen Sequenz besteht – und sie kommen an allen unseren Chromosomen-Enden vor. Wenn diese repetitive Sequenz während sukzessiven Zellteilungsrunden und DNA-Replikationen ein bisschen kürzer wird, schadet das nicht, bis sie größtenteils erodiert ist. Die andere Hälfte der Lösung ist das Enzym Telomerase, das am Ende des DNA-Strangs Kopien dieser Sequenz hinzufügen kann. Dies löst beide Probleme: Zellen, die Telomerase exprimieren, können die durch Zellteilung entstandene Telomerverkürzung ausgleichen und alle Zellen (mit oder ohne aktiver Telomerase) können die End-zu-End-Verknüpfung von Chromosomen vermeiden, da die Bruchreparatur-Maschinerie die eindeutige Telomersequenz erkennt und unbehelligt lässt. Der Mensch und einige andere Spezies machen erfindungsreich Gebrauch vom

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Telomer/Telomerase-System, um sich gegen Krebs zu schützen. Krebs kann uns nur töten, indem sich seine Zellen häufig teilen; das ist ohne Telomerase unmöglich, denn ohne die Möglichkeit, die Telomere zu erneuern, werden sie langsam erodieren. Die Chromosomen-Enden werden dann von Chromosomenbrüchen ununterscheidbar und der Krebs wird durch ein Verknüpfen einiger seiner Chromsomen zum Stillstand gebracht. Menschen schalten daher ihre Telomerase-Gene so gründlich ab wie möglich, damit viele Mutationen nötig sind, um die Telomerase wieder einzuschalten und dadurch dem Krebs zu erlauben, sich oft genug zu teilen, um uns umzubringen.

Obwohl weniger erforscht, leiden alte CMV-Träger auch an der Expansion defekter CD4-Zellen – den T-Helferzellen, die anderen Immunzellen helfen, ihre Gegenoffensive anzukurbeln, wenn Pathogene erstmals eindringen. Äußerlich gesunde, ältere Träger einer CMV-Infektion haben dieselben großen klonalen Expansionen von CD4-Zellen, die auf CMV gerichtet sind, aber kein CD28 tragen, wie in der CD8-Population. Dies führt zur selben Verdrängung anderer T-Zell-Spezialisten und einer mangelhaften Reaktionsfähigkeit auf eine Aktivierung durch APZ.11 Wie ihre CD8-Vettern können CD4-Zellen ohne CD28 nicht auf antigenpräsentierende Zellen reagieren, indem sie CD8 und andere Immunzellen auf bieten, um der Bedrohung zu begegnen. Addieren Sie das zur Unfähigkeit genau dieser CD8Zellen, ihre Ziele wirksam anzugreifen, und CMV wäre frei, ungezügelt zu wüten, noch mehr klonale Expansionen und breitere immunologische Fehlfunktionen zu erzeugen. Klonal expandierte Anti-CMV CD8-Zellen sind auch noch auf andere Weise anergisch (unwirksam). Wenn junge Mäuse erstmals mit der CMV-Version ihrer Spezies infiziert werden, produzieren sie sehr wirksame, gegen das Virus gerichtete CD8-Zellen, die mindestens 24 virusspezifische Proteine erkennen. Nachdem aber die Infektion chronisch geworden ist, werden ihre Anti-CMV-Truppen auf Klone beschränkt, die nur noch durchschnittlich fünf solcher Proteine erkennen.12 Anergische CD8-Zellen von älteren CMV-infizierten Menschen rufen zudem eine schwächere Antwort gegen die Bedrohung hervor als die Zellen von jüngeren Infizierten. Sie produzieren deutlich niedrigere Mengen an Interferon Gamma, einem entscheidenden chemischen Botenstoff, der dafür verantwortlich ist, die T-Zell-Antwort gegen das Virus aufzubauen.13

Wenn schlechte Generäle gute Armeen führen Das Unvermögen anergischer T-Zellen, CMV-Infektionen auszuräumen, führt wahrscheinlich zu vielen der anderen Funktionsstörungen des Immunsystems, die man in gebrechlichen Betagten sieht und die nicht einer anderen, direkten Auswirkung der Alterung der betreffenden Zellen angekreidet werden können. Bei einigen dieser Effekte könnte man erwarten, dass sie von der veränderten Cytokinproduktion dieser Zellen herrühren. Diese beeinflusst die Aktivität vieler anderer Soldaten des adapti-

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ven und angeborenen Immunsystems. Andere Effekte bewirken jedoch viel dauerhaftere Veränderungen als bloße Zellsignalisierungsprobleme. Bemerkenswerterweise ist es nun weithin akzeptiert, dass die Alterung der TZellen für den beobachteten altersbedingten Wirksamkeitsverlust der B-Zellen verantwortlich ist. B-Zellen sind die Immunzellen, die Antikörper gegen fremde Antigene produzieren. Die Antikörper markieren die Pathogene dann für die Zerstörung durch andere Zellen. Damit sind sie ein wichtiger Teil sowohl der Immunantwort als auch tatsächlicher Infektionen. B-Zellen sind auf Signale von CD4-Zellen angewiesen, um zu reifen und Antikörper zu produzieren. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis jemand bestätigte, dass alte T-Zellen die Entwicklung und Wirksamkeit von B-Zellen beeinträchtigen, unabhängig von der Alterung der B-Zellen selbst. 14 Leider hat (meines Wissens) bisher niemand direkt untersucht, ob diese Effekte Folge der von CMV ausgelösten, klonalen Expansion sind, die so zentral für andere Aspekte der T-Zell-Alterung ist. Wir wissen daher nicht, inwieweit das spezifische Phänomen anergischer T-Zellen zu ihrem Niedergang beiträgt. Ich wäre sehr an den Resultaten solcher Experimente interessiert. Abgesehen von mechanistischen Studien und molekularer Biologie wird die wirkliche Bedeutung der schleichenden Übernahme des Immunsystems durch anergische CD8-Klone auf die Gesundheit ihrer Träger klar, wenn Wissenschaftler beginnen ihren Einfluss zu studieren. Tierstudien zeigen, dass altersbedingte klonale Expansion bestimmter CD8-Populationen die im Körper vorhandene T-Zellen-Vielfalt reduziert und ihre Fähigkeit beeinträchtigt, eine wirksame Immunverteidigung aufzubauen.15 Die Parallele im Mensch kann man aufgrund von Befunden wie einer schwächeren CD8-Antwort auf Grippeimpfungen 16 und einem Abstumpfen der Verstärkung der T-Zell-Immunität gegen das Epstein-Barr-Virus sehen, das andernfalls später im Leben17 in Menschen mit klonaler Expansion von Anti-CMV-Gedächtniszellen auftreten kann.

Den vollen Tribut fordern Wenn der Preis, den der Körper für anergische T-Zell-Klone bezahlen muss, auf einen Anstieg der Todes- und Invaliditätsrate beschränkt wäre, der infektiösen Krankheiten direkt zugeschrieben werden kann, wäre dies mehr als ausreichend, etwas dagegen unternehmen zu wollen. Es gibt jedoch beachtliches Beweismaterial, dass anergische CD8-Zellen ohne offensichtliche immunologische Verbindung zu altersbedingter Morbidität und Mortalität beitragen. Erstens, wenn man einen gealterten Körper einer Grippe oder einer grippebedingten Lungenentzündung aussetzt, führt dies zu schockierenden Spätfolgen, die andere Krankheitsprozesse und damit das Abrutschen einer Person in die Hilflosigkeit und ins Grab stark beschleunigen können.18 Eine beträchtliche Menge von Daten zeigt, dass Grippe bei Betagten die Todesrate aufgrund unerwarteter Ursachen wie Herzinfarkt, Schlaganfall und scheinbar in keinem Zusammenhang stehenden Atemwegserkrankungen erhöht. Sie verschlimmert auch den Verlauf kongestiver Herzinsuffizienz. Zudem kommt es wohl auch dadurch zu ernstem, oft dauerhaftem Funktionsver-

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fall und Invalidität, weil biologisch alte Personen so lange brauchen, um sich von der Grippe zu erholen, wenn sie der allgemeinen, durch andere Aspekte der Alterung bewirkten Gebrechlichkeit überlagert ist. Ein Grippeanfall bringt eine ältere Person oft für bis zu drei Wochen in ein Krankenhausbett und Studien zeigen, dass sie mit jedem Tag, während dem sie sich derart »erholen«, bis zu fünf Prozent ihrer Muskelkraft und ein Prozent ihrer aeroben Kapazität verlieren. Niemand denkt jedoch an Grippe oder immunologische Alterung beim Anblick einer älteren Frau, die mühevoll eine Tür im Einkaufszentrum öffnet oder auf dem Eis ausrutscht und sich die Hüfte bricht. Es gibt andere altersbedingte Krankheiten, in denen anergische T-Zell-Klone eine wichtige Rolle zu spielen scheinen, aber bei denen die Beweislage längst nicht so eindeutig ist. Eine davon ist Osteoporose. Ältere Frauen, die einen osteoporotischen Bruch erlitten, haben einen höheren Pegel anergischer CD8-Zellen als vergleichbare Frauen ohne Knochenerkrankung. Es gibt zudem eine molekulare Basis für die Ansicht, dass defekte CD8-Zellen in der Tat eine Ursache und nicht Folge des zugrundeliegenden Knochenschwunds bei Frauen sind.19 Außerdem, wenn auch spekulativer, könnte sogar der Verlauf von Arteriosklerose durch die schleichende »Klonalisierung« der T-Zell-Population betroffen sein, indem sie zu einem chronischen Entzündungszustand führt, der Herzinfarkte begünstigen könnte. Diese Hypothese wird durch die Tatsache gestützt, dass Patienten mit Herzgefäßerkrankungen höhere Spiegel anergischer CD8-Zellen als vergleichbare, gesunde Personen haben. Dieser Zusammenhang besteht unabhängig von einer CMV-Infektion oder vom Vorhandensein der Krankheit selbst.20 Die Schwächung des Immunsystems scheint daher arterielle Infektionen sowohl zu erleichtern als auch das Resultat davon zu sein und dies wiederum könnte der nervöse Finger am Abzug sein, der mit der geladenen Waffe sklerotischer Arterien spielt. Wie ich erwähnte, sind die Beweise für viele dieser Folgewirkungen anergischer T-Zell-Klone noch nicht schlüssig. Ein paar bemerkenswerte Studien, die jetzt durch das T-CIA-Projekt (T-Zell-Immunität und Alterung) der EU koordiniert werden, konnten aber zu einem klareren Bild beitragen, was die totalen Kosten – in Todesfällen – dieses immunologischen Treibers der Alterung anbetriff t, was auch immer letztendlich auf dem Totenschein geschrieben steht. Diese Forscher stöberten durch zwei Kohorten von Schwedens »ältesten Alten« (Personen in ihren 80ern21 und 90ern22) und wählten nur Leute aus, die verglichen mit den meisten Anderen dieses Alters besonders gesund waren: frei von schon vorhandenen, ernsten Erkrankungen des Herzens, Gehirns, der Leber oder Niere; ohne Diabetes oder Krebs oder Anzeichen bestehender, aktiver Infektionen oder chemischen Anzeichen von Entzündungen. Zudem durften sie keine Medikamente nehmen, die eine signifi kante Wirkung auf das Immunsystem haben, einschließlich kürzlicher Impfungen. Die europäische Gruppe fand heraus, dass sogar von diesen relativ gesunden, aber alten Leuten einige an einem Komplex immunologischer Defekte (dem »Immunrisikophänotyp«) litten. Dieser beinhaltet mehrere Formen von Alterungsschäden, die durch CMV-Infektion verursacht werden können – nicht zuletzt die klonale Expansionen anergischer CD8-Zellen gegen CMV. Die Tatsache, dass die resultierende Studienpopulation gesund, aber (nach heutigem Standard) kalendermäßig alt war und dass einige von ihnen anergische

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T-Zell-Klone beherbergten und andere nicht, erlaubte der T-CIA-Gruppe, ihre Auswirkungen »sauber« zu studieren. Dies in einer Population, in der man wirklich sagen konnte, dass ihr Vorhandensein im Verlauf der nächsten zwei Jahre Krankheiten prognostiziert und nicht die Folge davon ist. Es war kaum überraschend, dass der Immunrisikophänotyp das Todesrisiko der Personen erhöhte, die ihn aufwiesen – das Ausmaß des Effektes war jedoch ein Schock. Der Effekt war in der Gruppe der über 90-Jährigen besonders gewaltig, in welcher seine Präsenz 57 Prozent der Todesfälle prognostizieren konnte. Bedenken Sie, dass dies auf dem immunologischen Alterungsschaden durch ein Virus beruht, dessen aktiver Infektionszustand in vielen Menschen ohne jegliche Anzeichen durchgeht und auch bei den anderen normalerweise nur schwaches Unwohlsein und Fieber verursacht. Es ist wichtig, die volle Bedeutung dieses Befundes zu erkennen. Die Auswirkung des Immunrisikophänotyps wurde auf der Stufe der Mortalität von allen Ursachen untersucht, nicht nur dem Todesrisiko durch Infektionskrankheiten. Während Pathogene den Tod vieler biologisch sehr alter Leute fordern, können solche Todesfälle den Befund nicht vollständig erklären.

Brandrodung für neues Wachstum Während sich immer mehr Beweismaterial ansammelte, das mit dem Finger auf Anti-CMV-CD8-Zell-Klone in der altersbedingten Schwächung des Immunsystems zeigte, begannen Immunologen die hoff nungsvolle Seite des Phänomens zu sehen. Falls tatsächlich ein derart großer Anteil der Alterung des Immunsystems das Resultat dieser übersteigerten Expansionspolitik ist, dann sollte dessen Prävention oder das Rückgängigmachen in chronologisch alten Leuten ein jugendliches Immunsystem erhalten, beziehungsweise wiederherstellen. Impfungen wären bei Menschen in gegenwärtig hohem Alter wieder gleich wirksam wie sie es in ihrer Jugend waren. Die enorme Bürde und das Leid, das in Betagten durch Infektionen verursacht wird, denen junge Leute nach ein oder zwei unangenehmen, arbeits- oder schulfreien Tagen zu Hause entkommen, würden aufgehoben. Eine von vielen Immunologen befürwortete Präventionsoption ist die CMV-Impfung. Noch bevor wir begriffen hatten, dass CMV-Infektion ein zentraler Antreiber der altersbedingten Schwächung des Immunsystems ist, erschien 1999 ein Bericht des Medizininstituts der amerikanischen National Academy of Sciences über das schleppende Tempo der Entwicklung neuer Impfstoffe. Darin rangierte das Verfolgen eines wirksamen Anti-CMV-Impfstoffs als höchste Priorität auf der Liste. Dies basierte lediglich auf den damals bekannten, lebenslangen menschlichen und finanziellen Kosten des Virus. Das amerikanische National Vaccine Program Office stimmte später zu und verlangte mehr Regierungsgelder für die Forschung an CMVImpfstoffen. Heute, konfrontiert mit dem starken Beweismaterial, das CMV-Infektionen als einen Hauptgrund der Alterung des Immunsystems verurteilt, rufen viele Immunologen sogar noch lauter nach solchen Investitionen. Obwohl die Vorzüge dieses Ansatzes überzeugend scheinen, sollte man bedenken, dass diese Strategie grundsätzlich präventiv ist. Während sie das Risiko einer CMV-In-

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fektion senken und möglicherweise die Immunantwort bereits Infizierter gegen das Virus verbessern kann, kann sie eine Impfung nicht eliminieren – und sie kann sicherlich nicht die akkumulierten Auswirkungen rückgängig machen, die eine lebenslange CMV-Infektion auf das Immunsystem hatte. Ein CMV-Impfstoff könnte daher eine relativ kleine Anzahl Säuglinge vor tragischen Geburtsfehlern schützen und den Tod vieler AIDS- und Transplantationspatienten verhindern, aber er würde wenig für die vielen Millionen Menschen bewirken, die schon heute an der chronischen Infektion und der andauernden Verwundbarkeit leiden, die ein durch klonal expandierte, anergische CD8-Zellen zermürbtes Immunsystem mit sich bringt. Andere Vorschläge, die zumindest das Potential hätten, einige Aspekte der immunologischen Alterung rückgängig zu machen, beinhalten den Versuch, die Defekte der bestehenden, anergischen T-Zellen mittels Gentherapie zu beheben. Die Idee ist, dass wir diesen Zellen die Möglichkeit zurückgeben, ihre Aufgabe effektiv zu erledigen, indem wir ihnen Kopien der Gene für Proteine liefern, die in ihnen fehlen oder zu wenig aktiv sind (wie diejenigen für den CD28-Rezeptor oder Telomerase). Dadurch würden wir auch die unterdrückende Wirkung dieser Zellen auf andere TZell-Populationen verhindern. Obgleich diese Vorschläge gewisse Vorteile haben, ist ihre voraussichtliche Wirksamkeit begrenzt und es gibt viele Unsicherheiten bezüglich ihres Weges in die klinische Entwicklung. Im Fall von Telomerase stünden wir zudem immer noch vor der großen Sorge, die beim Einbringen von Telomerase in irgendeine Zelle beachtet und ernst genommen werden muss, ganz zu schweigen von einer Zelle, die durch Alterungsschäden verdorben ist: Krebs. Ich werde über dieses Problem ausführlich in Kapitel 12 sprechen, aber hier ein kleiner Vorgeschmack: Weil Zellen eine minimale Telomerlänge brauchen, um sich zu reproduzieren, und weil jede Zellteilung ein Stückchen der Telomere wegrasiert, benötigen Zellen mit potentiell krebserregenden Mutationen eine Methode, um ihre Telomere zu erneuern, falls sie ausgewachsene Tumoren werden sollen. Fast alle Krebszellen erreichen das, indem sie die selbst auferlegte Handbremse ihrer Telomerase-Gene ausreißen. Wollen wir dieses Gen wirklich in defekte Zellen einführen – oder schlimmer, falls der Gentherapievektor sie ebenfalls »infiziert«, in »Zuschauer«-Zellen, in denen Telomerase nie eingeschaltet werden sollte? Nein: Die Lösung liegt nicht darin, diese Zellen zu rehabilitieren, sondern sie loszuwerden. Ältere CMV-Infizierte scheinen keinen Mangel an funktionellen T-Zellen zu haben, die vom Virus infizierte Zellen aufs Korn nehmen: Es ist nur so, dass diese Zellen durch den verdrängenden Einfluss riesiger Populationen anergischer Zellen unterdrückt werden. Vergessen Sie nicht, dass sie auch dann noch Probleme verursachen würden, wenn wir allen defekten T-Zellen ihre volle immunologische Kraft zurückgeben könnten. Sie würden sich weiter über wertvollen, limitierten immunologischen Grundbesitz breit machen und den Erhalt sowohl von naiven als auch von denjenigen Gedächtniszellen verhindern, die wir zum Schutz vor anderen Pathogenen brauchen. Die Lösung dazu ist konzeptionell einfach. Man entferne anergische T-Zell-Klone und es wird immunologischer Raum frei, in den gesunde Zellen anderen Typs und anderer Spezifität nachrücken können – und der repressive Effekt anergischer Klone auf ihre gesünderen Anti-CMV Vettern wird aufgehoben.

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Das Problem ist natürlich, wie man anergische T-Zellen aus unseren Systemen eliminieren und gleichzeitig alle (oder zumindest fast alle) gesunden naiven und diejenigen Gedächtniszellen, die wir von der unterdrückenden Herrschaft der ersteren befreien wollen, zurücklassen kann. Onkologen können die Wirksamkeit von Medikamenten oder Strahlentherapie in gewissem Maß erhöhen – und die Toxizität verringern –, indem sie diese so begrenzt wie möglich gegen einen relativ großen Klumpen einer ziemlich scharf umrissenen Körperstelle anwenden. Dies bei anergischen T-Zellen zu tun ist jedoch nicht möglich, da sie nicht an einer Stelle konzentriert, sondern über den ganzen Körper verteilt sind. Dieselbe Eigenschaft schließt auch Chirurgie aus: Tumoren können oft mit dem Messer entfernt (oder zumindest zurückgeschlagen) werden, mit unterschiedlichem Sicherheitsgrad und klinischem Nutzen. Wir werden jedoch in absehbarer Zukunft nicht in der Position sein, einzelne anergische T-Zellen Stück für Stück aus dem Körper zu rupfen. Wenngleich die Krebstherapien der jüngsten Vergangenheit kein gutes Vorbild für die Entwicklung der nötigen Biotechnologie bieten, weisen die aufregendsten der momentan verfügbaren und imminenten Krebsbehandlungen einen Weg zu Therapien, die die Belastung durch Zellen, die nicht sterben wollen, tatsächlich selektiv eliminieren würden.

Schmeckt nach Glivec Auch wenn Sie niemanden kennen, der Krebs hat, kann es gut sein, dass Sie von Glivec® (auch bekannt als STI-571 oder imatinib), Iressa® (ZD1839 oder gefitinib), Herceptin® (trastuzumab) und anderen gehört haben, die weniger berühmt sind oder sich noch durch den Zulassungsprozess arbeiten. Diese sogenannten »gezielten Krebstherapien« wurden zu Recht als Durchbrüche begrüßt. Sogar das Wort »Wunder«, obwohl in populären Gesundheitsbüchern absurd überbenutzt, scheint vielen Leuten gerechtfertigt, die Tumoren aus ihren eigenen Körpern oder denen Nahestehender haben verschwinden sehen, ohne die schrecklichen Nebenwirkungen, die mit Strahlen- oder Chemotherapie einhergehen. Trotzdem sind diese Medikamente nicht völlig ohne Nebenwirkungen – kein Medikament, das »am Stoff wechsel herumbastelt«, kann das sein. Herceptin beispielsweise ist gegen einen Wachstumsrezeptor namens HER-2 gerichtet: Indem es HER-2 bindet, verhindert es das exzessive Wachstum von Krebszellen, die ihren Wachstumsimpuls erhalten, indem sie übermäßig viel HER-2 auf ihrer Oberfläche produzieren. Andere, gesunde Zellen sind jedoch auf niedrige Pegel von HER-2-Stimulation angewiesen, um sich normal zu vermehren. Daher können Benutzer von Herceptin eine tödliche kongestive Herzinsuffizienz erleiden – eine Nebenwirkung, die jüngste Forschungen auch in einer kleinen Anzahl von Glivec-Benutzern entdeckt haben. Gerade von Glivec dachte man, dass es ein extrem sauberes Medikament sei, weil es eben nur auf die abnormale Form eines Wachstumssignalübermittlers abzielt.23 Auf die gleiche Weise könnte das Eingreifen in die Apoptose-Resistenz anergischer T-Zellen zu deren Tod führen. Doch das würde immer noch die Frage offen

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lassen, wie diese Resistenz aufgehoben werden kann, ohne benötigte Zellen anderswo im Körper umzubringen. Ich bin zuversichtlich, dass wir Reverse Engineering betreiben können, um die neuen gezielten Krebstherapien – und sogar noch neuere, die jetzt in verschiedenen Stadien der klinischen Entwicklung sind – zu adaptieren, um »intelligente Bomben« entwickeln zu können, die anergische T-Zellen (und auch die anderen giftigen Zellarten, die wir später diskutieren werden) mit minimalem Schaden für gesunde Zellen zerstören.24 Wir werden in absehbarer Zeit fähig sein, sorgfältig ausgesuchte Toxine an Moleküle zu koppeln, die die verräterischen Signaturen anergischer Klone selektiv anpeilen und sie dadurch direkt und gründlich töten, anstatt sich nur in ihren Stoff wechsel einzumischen.

Sonnenlicht tötet Vampire Eine Krebsbehandlung, die Wege aufzeigt, wie man anergische T-Zellen beseitigen könnte, ist die photodynamische Therapie (PDT). PDT beginnt mit einem Medikament, das sich bei Bestrahlung mit einem Laser entweder stark erhitzt oder einen massiven Ausbruch freier Radikale produziert. Es gibt Medikamente, die diese Eigenschaft haben und auch selektiv von Krebszellen aufgenommen werden. Dies erlaubt es Onkologen, eine starke Anhäufung des lichtsensitiven Medikaments in den Zielzellen herbeizuführen und gleichzeitig die Aufnahme durch normale Zellen größtenteils zu vermeiden. Für sich selbst genommen sind PDT-Medikamente harmlos, denn sie haben keine Auswirkungen, solange der Patient dem Licht fern bleibt. Gleichermaßen ist rotes Laserlicht niedriger Energie für Menschen harmlos, die keine solchen Medikamente erhalten haben: Die Strahlen passieren den Körper schadlos. Wenn aber ein solcher Laserstrahl Zellen durchdringt, die ein photodynamisches Medikament enthalten, dann werden die photosensitiven Eigenschaften des Wirkstoffs in einem glühenden, gezielten Hitzeausbruch oder einem Strudel freier Radikale offenbar, der Tumorzellen zerstört und alle außer den nächsten Nachbarn unversehrt lässt. Das erste PDT-Medikament, Photofrin, wurde in den frühen 1990ern in den Industrieländern als Behandlung gegen fortgeschrittenen Lungenkrebs, Krebs des Verdauungstrakts und der Harnwege zugelassen und weiterentwickelte Versionen werden nun klinisch benutzt oder befinden sich in fortgeschrittener Entwicklung. Das interessanteste von ihnen, Pc-4, häuft sich in gewissen Arten von Krebszellen stärker an als in gesunden, weil es sich gut in Fett löst und diese speziellen Krebsarten einen unüblich hohen Fettanteil aufweisen. In der Zelle angekommen, erlaubt seine starke physikalische Ähnlichkeit zu gewissen Komponenten der Mitochondrien (über die ich in Kapitel 5 und 6 sprach) dem Medikament, sich in den Energiefabriken der Krebszellen einzunisten. Schalten Sie den Laser ein, und das Bombardement mit freien Radikalen beginnt. Entweder beseitigt es sie fein säuberlich durch radikal-induzierte Apoptose oder hinterlässt schlimmstenfalls einige Trümmer, wenn die Zelle auf die hässliche Art stirbt, wenn freie Radikale die Zelle zerreißen, ihre Proteine quervernetzen, ihre Fettmembranen ranzig machen und ihre DNA mit Mutationen ruinieren.

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Das molekulare Schweizer Taschenmesser Medizinisches Neuland sehen wir nun in Form des sich abzeichnenden Einsatzes von Nanotechnologie – Ingenieurwesen auf molekularer Ebene –, um Krebszellen selektiv zu zerstören, was uns wiederum einen Fahrplan in Richtung Entwicklung gezielter Therapien gegen giftige Zellen wie anergische T-Zell-Klone liefert. Eine solche Technologie sind die Dendrimere: Winzige Teilchen mit exquisit komplexen Verästelungsstrukturen, die sich wie Büsche nach außen ausdehnen und eine Kugelform bilden (siehe Abb. 2). Die Äste von Dendrimeren sind derart konstruiert, dass wir ein breites Spektrum von Molekülen anbinden können. Dies macht sie zu nanotechnologischen Schweizer Taschenmessern: Mehrere nützliche Werkzeuge können zu einem kompakten kleinen Bündel vereint werden. Dendrimere können ein Molekül tragen, um einen bestimmten Zelltyp anzupeilen, ein oder mehrere tödliche Medikamente oder andere Gifte, um einmal lokalisierte Zielzellen zu töten, und (falls gewünscht) ein Molekül, das es Forschern oder Ärzten erlaubt, den Fortschritt des ganzen Bündels zu verfolgen, während es sich durch den Körper bewegt. Abbildung 2: Ein »unbeladenes« Dendrimer.

Kern

Verzweigende Einheit

Funktionale Oberflächengruppe

Innerer Hohlraum

Ein in experimenteller Entwicklung befindliches Dendrimer kombiniert das Vitamin Folsäure mit dem etablierten Krebsmedikament Methotrexat und einer fluoreszierenden Verbindung namens Fluoreszin. Die Folsäure soll die Dendrimere zu Krebszellen bringen. Viele Tumoren saugen massive Mengen dieses Vitamins auf, weil es für die Herstellung neuer DNA notwendig ist – und weil die Zelle bei jeder Teilung eine neue Kopie ihrer DNA-Baupläne anfertigen muss, haben Tumoren einen hohen Stoff wechselbedarf an Folsäure, womit sie ihr fieberhaftes Vermehrungstempo unterstützen.

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Um ihren Vorrat dieses Vitamins aufrechtzuerhalten, »lernen« viele Krebszellen, regelrechte Wälder von Folsäurerezeptoren auf ihrer Oberfläche sprießen zu lassen. Dieses Dendrimer wurde in Mäusen getestet, denen eine humane nasopharyngeale Krebslinie injiziert wurde. Ihre Tumoren waren rasch gewachsen und erreichten nach etwa 50 Tagen ein Plateau. Einer Gruppe von Tieren eine niedrige Dosis gewöhnliches Methotrexat zu geben, hatte fast überhaupt keine Wirkung auf das Tumorwachstum (siehe Abb. 3). Eine mehr als viermal so hohe Dosis (die »mittlere Dosis« in der Abbildung) reduzierte die Wachstumsrate signifi kant, half den Tieren jedoch kaum: Die Hälfte von ihnen starb binnen 39 Tagen entweder am Tumor oder den Nebenwirkungen des Medikaments. Die Dosis um weitere 50 Prozent zu erhöhen (die »hohe« Dosis), brachte das Tumorwachstum fast zum Stillstand – ohne jedoch den Tieren zu nutzen, da sie aufgrund der Toxizität des Medikaments rasch ein Drittel ihres Körpergewichts verloren und auch hier den Tod der Hälfte von ihnen nach etwas mehr als einem Monat nach Experimentbeginn entweder herbeiführte oder begünstigte. Abbildung 3: Gezielte Dendrimertechnologie gegen Krebswachstum in Mäusen. Dem Originalbericht nachgezeichnet. 25 4,000

Tumorvolumen (mm³)

3,500

Unbehandelter Krebs

3,000

5 mg/kg Methotrexat

2,500 2,000

21.7 mg/kg Methotrexat

1,500

33.3 mg/kg Methotrexat 1,000 500 0

0

10

20

30

40

50

60

5 mg/kg Dendrimerzielgerichtetes Methotrexat

Zeit (Tage)

Schauen Sie jedoch, was mit demselben Medikament mit zielgerichteten Dendrimeren erreicht wurde! Wenn sie zielgerichtet eingesetzt wurde, war die MethotrexatDosis, die der tiefsten ungerichteten Dosis entspricht, mit dieser neuen Technologie gleich wirksam im Verlangsamen des Tumorwachstums wie gewöhnliches, mehr als vierfach höher dosiertes Methotrexat. Außerdem schien das mittels Dendrimeren zielgerichtete Methotrexat eine sehr geringe Toxizität zu haben.26 In einer Folgestudie verglich die gleiche Gruppe die Effekte des niedrig dosierten Methotrexats mit derselben, jedoch durch zielgerichtete Dendrimere verabreichten Dosis, diesmal über einen verlängerten Zeitraum von 99 Tagen. Unbehandelt begannen die Mäuse mit Krebs rasch zu sterben – ungefähr 50 Tage nach Experiment-

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beginn – und niedrig dosiertes Methotrexat verbesserte das Überleben nur moderat. Am Ende der 99-Tage-Studie waren jedoch drei der acht Tiere, die das zielgerichtete Dendrimer-Medikament erhielten, noch immer am Leben. Beeindruckenderweise war zudem eines dieser Tiere ab Tag 39 vollständig geheilt von seinem Krebs. Das mittels Dendrimeren zielgerichtete Medikament war wiederum ungiftig.

Tausche die Kettensäge gegen den Zahnstocher Das Schöne an Dendrimeren ist, dass sie wie Schweizer Taschenmesser leicht angepasst werden können. Forscher experimentieren mit Dendrimeren, die viele verschiedene Peilmoleküle und krebstötende Wirkstoffe tragen. Eine sehr schlaue, in Entwicklung befindliche Anwendung ist eine »dendrimerisierte« Version eines Doppelschlags gegen Krebs bekannt unter dem Namen Bor-Neutronen-Einfangtherapie (BNET) – eine elegante Idee, die erstmals vor über 50 Jahren vorgeschlagen wurde, die aber bis dato nicht funktionsfähig gemacht werden konnte. Die Idee hinter BNET ist derjenigen der photodynamischen Therapie ähnlich. Zuerst injiziert man den Patienten eine Form des Minerals Bor. Hat sich genug des Minerals in Krebszellen angehäuft, flutet man sie mit niederenergetischen Neutronenstrahlen. Das Bor selbst ist harmlos, ebenso (mehr oder weniger) der Neutronenstrahl. Wenn aber eintreffende Neutronen auf die in der BNET verwendeten Form von Bor treffen, absorbiert das Bor diese in seinem Atomkern und wird plötzlich extrem instabil und emittiert radioaktive Alpha-Teilchen. Alpha-Teilchen besitzen genug Energie, um die Zelle, in der das ursprüngliche Bor lokalisiert ist, und ein paar seiner Nachbarn zu atomisieren. Die Energie geht ihnen aber rasch aus, und die energiearmen Überreste sind harmlos. Auf diese Weise werden die mit Bor angereicherten Zellen getötet, ohne dass sich jedoch ein weiträumiger Schaden ergibt. Der Trick besteht natürlich darin, das Bor selektiv in die Krebszellen zu bringen, damit man bei Aktivierung der Neutronenstrahlen nicht gesundes Gehirn und anderes Gewebe zerstört. Wissenschaftler versuchen seit 1951 mit beschränktem Erfolg, BNET zu einer funktionsfähigen klinischen Therapie für einen seltenen, extrem aggressiven und schwer zu behandelnden Hirntumor namens Glioblastoma multiforme zu machen. Sie haben jedoch nie ausreichend gute Ansprechraten erreicht, um es als Standardbehandlung für diese Krankheit zu rechtfertigen. Vor kurzem haben Wissenschaftler jedoch von höchst vielversprechenden Resultaten in einem Tiermodell von Glioblastoma multiforme berichtet, das mit einer BNET behandelt wurde, die zielgerichtetes Dendrimer-Bor verwendete. In die Gehirne von Ratten wurden menschliche Glioblastoma-Zellen implantiert, die eine mutierte Version des Rezeptors für epidermalen Wachstumsfaktor (EGFR) namens EGFRvIII tragen, der an der Mehrheit dieser Tumoren beteiligt ist. Dann luden die Forscher ihre Dendrimere mit Bor voll und sandten sie auf die Jagd nach den Gliomen, indem sie ihnen einen monoklonalen Antikörper gegen den mutierten EGFR anhängten. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie aussichtsreich das Dendrimer wirklich war, verglichen sie seine Wirkung nicht nur mit Tieren, die gar keine Therapie erhielten, sondern auch mit solchen, die p-Borphenylalanin (BPA – das vielversprechendste, in klinischen

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BNET-Versuchen verwendete Bor-Präparat) oder mit Bor beladene Den-drimere in Kombination mit (aber nicht daran gebunden) BPA bekamen. Innerhalb eines Tages hatten ungefähr 60 Prozent der injizierten, BPA-tragenden Dendrimere die Tumoren angepeilt, die den mutierten Rezeptor tragen. Sie erreichten eine Konzentration, die etwa dreimal höher war als die von BPA alleine. Die Aufnahme durch normales Gewebe war vernachlässigbar. Von seiner Fokussierungs-Fähigkeit beeindruckt, warteten die Forscher ab, um zu sehen, ob es die Tiere sogar von ihren Gliomen heilen konnte. Die Resultate waren eindeutig (siehe Abb. 4). Unbehandelte Tiere lebten durchschnittlich nur 26 Tage. Tiere, die BPA erhielten, durften eine Überlebensdauer von 40 Tagen erwarten: eine signifi kante Verbesserung, aber noch immer eine düstere Prognose. Tiere, die jedoch das mit Dendrimeren zielgerichtete Bor erhielten, lebten durchschnittlich 70 Tage und zehn Prozent von ihnen überlebten sechs Monate – was ebenso als »Heilung« betrachtet wird wie ein Überleben von fünf Jahren bei Menschen, denn gesunde Ratten haben eine Lebenserwartung von etwa 30 Monaten. Die Tiere schließlich, die das Glück hatten, die Dendrimere zusammen mit BPA verabreicht zu bekommen, überlebten durchschnittlich bemerkenswerte 85,5 Tage, mehr als das Dreifache der Lebenserwartung unbehandelter Tiere und mehr als das Doppelte derjenigen Tiere, die die beste verfügbare experimentelle Therapie erhielten. Zudem erreichten beeindruckende 20 Prozent der mit BPA-plus-Dendrimer behandelten Tiere eine »Heilung« wie gerade eben definiert. Abbildung 4: Zielgerichtete Dendrimertechnologie verbessert die Wirksamkeit von BNET dramatisch. Dem Originalbericht nachgezeichnet. 27 100 Unbehandelt

Überleben (%)

80

60

Bor-Neutronen-Einfang-Therapie (BNCT)

40 Dendrimer-zielgerichtetes Bor 20 Dendrimer-zielgerichtetes Bor plus BNCT

0 0

15

30

45 60 Zeit (Tage)

75

90

180

Andere Peilmoleküle, Tumorarten und krebstötende Substanzen wurden in experimentellen Modellen mit Dendrimeren erfolgreich eingesetzt. Es stellt sich heraus, dass diese Werkzeuge der ersten Generation eine wirksame, vielseitige Methode sind, um spezifische, tödliche Geschosse zu entwerfen, welche Tumoren ausfindig machen, die bekannte Zelloberflächenrezeptoren als Kennzeichen exprimieren – und sie bieten auch gegen anergische T-Zellen Aussicht auf Erfolg.

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PRO-Suizid-Beratung Gentherapie ist heute in Mäusen Routine und wird für alles verwendet, von der Prüfung experimenteller gen-basierter Therapien zur Untersuchung der Effekte des Einund Ausschaltens von Genen in einem Organismus bis zur Schaff ung neuer Modelle menschlicher Krankheiten durch die Modifizierung der Tierzellen, sodass sie humanen ähneln. Gentherapie für Menschen ist noch immer höchst experimentell, aber es ist eindeutig nur eine Frage der Zeit, bis wir sie beherrschen: Die Notwendigkeit von Heilmitteln gegen vererbte Krankheiten und die potentielle Nützlichkeit der Gentherapie für so weitreichende medizinische Herausforderungen wie rheumatoide Arthritis, Trauma, dentale Gewebetechnik und AIDS (um nur einige zu nennen) liefern den nötigen Antrieb für die Grundlagenforschung und die klinische Wissenschaft, um sie in unser therapeutisches Arsenal zu bringen.28 Eine Option, die uns die Gentherapie eröffnen wird, ist die Möglichkeit, einen neuen Suizidmechanismus in unsere T-Zellen einzubauen, der sie zur Selbstzerstörung veranlassen würde, sollten sie je anergisch werden. Wissenschaftler können in Mäusen (und anderen Versuchstieren) schon seit einiger Zeit Gene einführen, die sich nur dann einschalten, wenn ein bestimmter Faktor wie ein Antibiotikum, UV-Licht, ein Zucker oder sogar ein Signalmolekül wie Kalzium vorhanden ist. Dies erlaubt uns, solche Gene beliebig ein- und auszuschalten, indem wir einfach den betreffenden Faktor verabreichen. Die Fähigkeit, ein Gen einzuführen, dass nur dann exprimiert wird, wenn Forscher es wünschen, war ein leistungsfähiges neues Werkzeug, um die Effekte dieser Gene zu studieren. Diese Techniken werden nun aber auch auf medizinische Zwecke angewandt. Wir können die Aktivierung dieser Gene statt als Reaktion auf extern zugeführte Faktoren von einem bestimmten Protein abhängig machen, dessen interne Synthese für eine Zelle diagnostisch ist, die wir loswerden wollen. Dann hätten wir eine weitere Methode, um Zellen selektiv zur Zerstörung ins Visier zu nehmen. Wie mit den anderen Peilmethoden, die ich diskutierte, fanden die ersten Arbeiten in dieser Richtung auf dem Gebiet Krebs statt. Wie ich anmerkte, ist die eine absolute Notwendigkeit einer Krebszelle, um uns gefährlich zu werden, eine Möglichkeit zu finden, ihre Telomere laufend zu erneuern: Ansonsten kommt ihr rasendes Wachstum zum Erliegen, sobald sie die Telomer-Endstation erreicht, was lange vor einer bedeutenden, gesundheitlichen Bedrohung stattfi ndet. Normalerweise wird dies durch die Aktivierung des unterdrückten Gens für das Telomerase-Enzym erreicht – ein in all unseren Zellen enthaltenes Gen, das aber in gesunden Zellen die meiste oder die ganze Zeit über ausgeschaltet ist. Würde man daher die Zellen eines Patienten mit einem »Suizidgen« infizieren, das nur im Falle hoher Telomerase-Konzentrationen aktiviert wird, könnten Krebszellen von innen heraus getötet werden. Das würde die Notwendigkeit beseitigen, ein Medikament oder das Immunsystem gegen eine fehlerhafte Zelle zu richten: Jede Zelle würde die Saat der eigenen Zerstörung in sich tragen, sollte sie sich je der dunklen Seite zuwenden. Im Prinzip könnten wir ein wortwörtliches »Suizidgen« erzeugen, das die Zelle bei Vorhandensein des verräterischen Proteins zerstören würde. Tatsächlich wur-

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de dies in Tiermodellen für Krebs mit Genen, die Apoptose regulieren, bereits gemacht.29 Anergische T-Zellen sind gegen apoptotische Signale resistent, doch diese Resistenz könnte überwunden werden, indem man sie beharrlich mit der Botschaft bombardiert, sie mögen schrumpfen und sterben. Es gibt sogar noch eine günstigere Alternative, die in fortgeschrittener Entwicklung ist. Sie benutzt die etwas besser kontrollierbare – und daher sicherere – Technik, ein Gen für ein Protein zu installieren, das für sich allein genommen weitgehend harmlos ist, jedoch die inaktive Form eines tödlichen Medikaments aktiviert – eine sogenannte »Prodrug« oder Arzneimittel-Vorstufe. Arzneimittel-Vorstufen sind Substanzen, die inaktiv und harmlos sind, bis sie auf eine Art verstoff wechselt werden, wodurch sie chemisch in ein pharmakologisch aktives Produkt umgewandelt werden. Die meisten Arzneimittel-Vorstufen werden enzymatisch in unserer Leber aktiviert und dann in ihrer aktiven Form im restlichen Körper freigesetzt. Andere wirken eher wie molekulare »Schläfersubstanzen«, die unauff ällig im Körper umgehen und sich um ihren eigenen Kram kümmern. Sie fügen sich in ihre Umgebung ein, bis ein vorherbestimmtes Signal gesendet wird und ihre verborgene Aufgabe plötzlich in der Form eines gezielten Schlages gegen ihr Ziel offenbart wird. Mehrere antivirale Medikamente wie das Herpesmittel Ganciclovir (Cytovene®/ Cymevene®) funktionieren nach diesem Prinzip. Ganciclovir hält Viren davon ab, die DNA-Replikationsmaschinerie ihrer Wirtszelle zu ihrer Vermehrung zu benutzen. Es tut dies, indem es die Arbeit der unüblichen Version der Thymidinkinase (TK) des Virus behindert. TK ist ein Enzym, das für die DNA-Synthese nötig ist. Die Aufgabe der Thymidinkinase ist es, Thymin (einen »Buchstaben« im »Alphabet« des DNA-Codes) verfügbar zu machen, damit es der neuen DNA-Kette hinzugefügt werden kann. Dies geschieht durch die Verknüpfung von Thymidin mit Phosphatmolekülen, die dem »Energiewährungsmolekül« ATP entnommen werden. Ganciclovir funktioniert wie ein molekularer Imitator auf der Mission, eine feindliche Fabrik zu sabotieren. Zuerst benutzt es seine starke strukturelle Ähnlichkeit mit Thymidin, um der viralen TK vorzutäuschen, es sei dieses Molekül. Überlistet, übergibt TK die rechtmäßig dem Thymidin gehörende Phosphatgruppe dem Medikament. Ganciclovir setzt dann seine brandneue Phosphatgruppe ein, um seinen Identitätsbetrug weiterzuführen und seine gefälschten Referenzen der DNA-Synthese-Maschinerie der Zelle zu präsentieren, die es unwissend in den neu entstehenden DNAStrang anstelle von Thymin einbaut. In diesem Moment ist die Sabotage vollbracht, denn die Maschinerie kann Ganciclovir zwar auf den DNA-Strang auff ädeln, aber nach ihm keine weiteren genetischen »Buchstaben« mehr anhängen. Ohne Möglichkeit, seine DNA zu kopieren, kann sich das Virus auch nicht vermehren und sein Expansionsfeldzug findet ein abruptes Ende. Dann muss das Immunsystem nur noch diejenigen Zellen belagern und letztendlich zerstören, in die sich das verbliebene Virus verkrochen hat. Wenn Ganciclovir die von unseren eigenen Zellen verwendete Version des TKEnzyms genauso gut austricksen könnte wie die virale, dann wäre es unter Umständen ein sehr wirksamer Krebskiller: Krebs kann wie gesagt nur überleben, wenn er

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seine irrsinnige Wachstumsgeschwindigkeit aufrechterhält. Wird diese durch das Abschalten der DNA-Synthese gestoppt, wird ein Tumor rasch zahm. Aber natürlich würde solch ein Medikament ziemlich ernste Nebenwirkungen haben, weil es gleichzeitig das Wachstum normaler Zellen abschalten würde. Für Krebs könnte das ein therapeutisch akzeptabler Handel sein – der Effekt würde nach dem Absetzen des Medikaments nachlassen und dem Patienten erlauben, sich zu erholen –, es wäre aber völlig inakzeptabel für seine heutige Verwendung zur Behandlung von Herpes. Tatsächlich ist Ganciclovir jedoch ein ziemlich schlechter Nachahmer des humanen TK-Enzyms und seine Wirkung daher zumeist auf das Ausschalten der Virusreplikation beschränkt – obgleich es einige negative Auswirkungen auf die Spermaproduktion und die Fähigkeit des Körpers hat, seine Blutzellen zu regenerieren. Eine Gruppe japanischer und amerikanischer Wissenschaftler hat aber kürzlich erkannt, dass sie im Prinzip die virale TK-/Ganciclovir-Kombination zur Stilllegung von Krebs verwenden könnten, falls sie das Enzym mittels Gentherapie in die Zellen von Krebspatienten einführen, es jedoch ausschließlich in Krebszellen einschalten. Wie ich bereits angedeutet habe, gibt es eine offensichtliche Möglichkeit, Krebszellen von normalen Zellen zu unterscheiden, die einen Mechanismus zur Aktivierungskontrolle der viralen TK liefert: aktive Telomerase. Indem sie eine Version des viralen TK-Gens entwarfen, dem ein »Auslöser« (Promoter) angehängt ist, der das Gen nur in Anwesenheit von Telomerase einschaltet, erkannten die Forscher, dass sie das Enzym in den bösartigen Zellen eines Krebspatienten in Betrieb setzen und es gleichzeitig fast überall sonst im Körper ruhend lassen konnten. An diesem Punkt begann das von ihnen entworfene Flussdiagramm wie das Biotech-Äquivalent eines dieser übermäßig gewundenen, vielschichtigen Vorrichtungen auszusehen, die Spieler beim Brettspiel »Mausefalle« aufbauen. Die Wissenschaftler stellten die »Falle«, indem sie zunächst eine Kopie des Gens für das virale TK-Enzym in jede Zelle des Patientenkörpers säten, samt dem speziellen Telomerase-»Auslöser«. Der Patient würde dann einige Ganciclovir-Tabletten schlucken, die alle seine Zellen wahllos durchdringen würden. In den meisten Zellen hätte das Medikament keine Wirkung, weil praktisch alle Zellen ihr Telomerase-Enzym fest ausgeschaltet haben. Käme Ganciclovir jedoch in eine Krebszelle, würde die Falle zuschnappen. Die reichlich vorhandene Telomerase des Tumors würde das virale TK-Enzym aktivieren. Die TK packt das Ganciclovir und hängt ihm die Phosphatgruppe an, die DNA-»Buchstaben« benötigen, damit sie in den neu entstehenden DNA-Strang eingefügt werden. Das nächste Mal, wenn sie nach dem passenden »Buchstaben« langt, würde die DNA-Kopiermaschine aus Versehen nach dem phosphorylierten Ganciclovir greifen und es anstelle des »Buchstabens« in den Strang klemmen. An diesem Punkt könnte man fast den Schrei »Mausefalle!« hören, wenn sich die DNA-Synthesemaschine verklemmt, die Zellteilung quietschend zum Stillstand kommt und der Krebs lahmgelegt wird (siehe Abb. 5). Es war eine verrückte, komplizierte Lösung – doch sie funktionierte im Reagenzglas gegen Leber-, Nieren-, Bauchspeicheldrüsen- und Schilddrüsenkrebs. Außerdem erwies sich der Versuchsaufbau als weitgehend harmlos für normale Schild-

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drüsenzellen von Ratten und humane Hautzellen.30 Daher machte die Gruppe den nächsten Schritt, der etwas vom Labor in die Klinik bringt: eine sorgfältige Studie in Labortieren. Abbildung 5: Wie Ganciclovir der viralen Thymidinkinase ermöglicht, Krebszellen von Säugetieren zu töten.

...A GTCTAT*

DNApol

Normal A /C/G/T

...A GTCTAT*

Ganciclovir (GCV)

DNApol GCV

...A GTCTA

Menschl.TK

HSV-TK H SV-TK

GCV-PPP (T*)

TK GCV-P

Zuerst brauten die Forscher zwei Chargen maßgefertigte, virale TK-Gene zusammen: eine mit dem durch Telomerase aktivierten »Ein«-Schalter und eine weitere mit einem Schalter, von dem erwartet werden konnte, dass er in gesunden Zellen ebenso wie in Krebszellen aktiviert wird. Dann brachten sie diese Gene in Viren derselben Familie wie die gewöhnliche Grippe und erlaubten ihnen buchstäblich, die Tiere mit den Genkonstrukten zu infizieren. Zuerst erprobten sie diese Konstrukte an gesunden Tieren, um zu sehen, was das Nebenwirkungspotential ist. Wie erwartet erlitten die Tiere, die die virale TK erhielten, die unter der Kontrolle des unselektiven Promoters war, nach der Ganciclovir-Injektion schwere Leberschäden, während dasselbe Gen unter dem Telomerase-Promoter grundsätzlich harmlos schien, da es keine Telomerase exprimierenden Krebszellen gab, die es aktivierten. Zu diesem Zeitpunkt entschieden die Forscher, dass ihre experimentelle Therapie für die nächste Phase bereit war: ein Test in Tieren, denen ein Implantat humaner Schilddrüsenkrebszellen injiziert worden war. Das Tumorwachstum kam völlig zum Stillstand, wenn man solchen Tieren eine Kopie der viralen TK gab, deren Promoter nicht auf die Präsenz von Telomerase zur Aktivierung angewiesen war. Wie erwartet hinderte es normale Zellen aber auch daran, sich zu reproduzieren, was zu üblen Leberschäden führte.

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Als die Wissenschaftler jedoch versuchten, die virale TK mit dem Telomerase-Promoter selektiv gegen Krebszellen zu richten, schaltete Ganciclovir das Tumorwachstum genauso vollständig aus wie zuvor bei der durch den unselektiven Promoter kontrollierten TK – und ohne die toxischen Effekte der letzteren. Die offenkundige Sicherheit dieser hoch selektiven Intervention ist umso überzeugender, wenn Sie bedenken, dass die Wirkung nach Belieben ein- und ausgeschaltet werden kann, indem man Ganciclovir verabreicht oder absetzt.

Kenne deinen Feind Wir haben gesehen, dass Biologen genauso kreativ sein können wie Waffeningenieure, die im verborgenen an einem Geheimprojekt arbeiten, wenn es darum geht, neue Methoden zur selektiven Anpeilung und Vernichtung von Krebszellen zu finden und gesunde Zellen unversehrt zu belassen. Es ist absehbar, dass dieselben heute gegen Krebs benutzten oder in Entwicklung befindlichen Methoden auch eingesetzt werden könnten, um anergische T-Zellen aufs Korn zu nehmen. In diesem Falle sind wir mit einem Feind gesegnet, der mit einer Zielscheibe mitten auf seiner Brust rumläuft. Dasselbe funktionsgestörte Rezeptorprofi l, das anergischen T-Zellen ihre Fähigkeit raubt, ihre Zielantigene zu erkennen (Fehlen von CD28) und sich als Reaktion auf eine Infektion zu vermehren (KLRG1 und CD57), vielleicht zusammen mit einigen anderen Markern (verminderte CD154-Spiegel etwa werden mit dem Versagen alter T-Zellen in Verbindung gebracht, B-Zellen in ihrer Entwicklung zu unterstützen), erlaubt es Wissenschaftlern bereits, diese Zellen zu identifizieren. Es könnte auch dazu benutzt werden, solche Zellen zur Zerstörung anzupeilen. Den Zorn des Immunsystems gegen seine eigenen Unterdrücker zu entfesseln, wäre ausgleichende Gerechtigkeit, doch eine Impfung (ob passiv oder aktiv) gegen diese Zellen könnte knifflig werden. Zum einen ist ihre prominenteste Antigen-Besonderheit das Fehlen eines Zelloberflächenproteins (CD28). Zudem könnten wir zwar die Kombination von KLRG1 und CD57 anpeilen, es ist aber weder klar, ob alle unerwünschten Zellen diese beiden Proteine exprimieren, noch ob andere, erwünschte Zellen dies tun. Zufällig identifizieren Immunologen anergische Zellen schon mittels einer Kombination von Immunproteinen – die aber nicht ohne weiteres für Impfzwecke verwendet werden könnte. Außerdem ist das Problem, das wir zu lösen versuchen, schließlich durch ein schwaches Ansprechen auf Impfung charakterisiert. Eine »Spritze gegen anergische T-Zellen« wäre daher vielleicht nur bei immunologisch relativ »jungen« Leuten wirksam. Während dieser Ansatz also relativ aussichtsreich für viele Arten giftiger Zellen ist, triff t das vielleicht weniger auf CD8 zu. Das lässt uns aber immer noch eine Menge Optionen. Anpeil-Methoden auf Dendrimerbasis scheinen die geradlinigsten zu sein, weil sie die Identifi kation von Zellen mittels mehrerer Kriterien erlauben und weil sie eine beliebige Anzahl Giftstoffe in die von ihnen angepeilten Zellen bringen können, von ausgemachten Toxinen bis zu Bor für BNET. Während es problematisch sein könnte, anergische T-Zellen mit Impfungen anzugehen, könnte es eine weitere Möglichkeit geben, das Immunsystem als stellver-

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tretende Armee zu benutzen: mit ihm kooperieren, um die Souveränität der Exilregierung des Immunsystems wiederherzustellen. Denken Sie daran, dass anergische T-Zellen erst deshalb zum Problem werden, weil sie nicht mehr auf den ApoptoseBefehl hören, der ihre Truppen reduzieren soll und der ausgesandt wird, nachdem ihr Zielpathogen von den Fronten des Körpers weggebracht wurde. Sie können diese Befehle ignorieren, weil sie viel bcl-2 produzieren, ein Protein, das apoptotische Signale blockiert. Dies deutet die Möglichkeit an, normale apoptotische Signale wiederherzustellen, indem man diesen Zellen »Antisense-RNA« gegen die bcl-2-Baupläne liefert – Streifen genetischen Materials, die zu den transkribierten DNA-Instruktionen für das Protein passen und die verhindern, dass das kodierte bcl-2 tatsächlich in der Zelle produziert wird. Wenn die bcl-2-Produktion auf einen normalen oder kaum vorhandenen Pegel gesenkt wird, würden CD8-Zellen endlich ihren Ruf hören, sich verbeugen und abtreten. Würde es ausreichen, den immunologischen »Raum« von anergischen T-Zellen zu säubern, um das Immunsystem vollständig zu verjüngen? Ich bin nicht sicher, weil es noch niemand geschaff t hat – und, wie ich mir sehr wohl bewusst bin, der Körper eine unglaublich komplexe Maschine ist, dessen Teile noch nicht alle identifiziert wurden, ganz zu schweigen von ihren Funktionen und Interaktionen. Die vorhandenen Daten sagen uns ziemlich deutlich, dass die direkten und indirekten immunosuppressiven Effekte dieser Zellen stark genug sind, dass ein gründlicher Frühjahrsputz die durch T-Zellen vermittelte Immunität tiefgreifend verbessern wird. Sehr wahrscheinlich würde auch die Funktion anderer Aspekte des Immunsystems verbessert, die von T-Zellen unterstützt und reguliert werden. Wie tiefgreifend genau, werden wir aber erst wissen, wenn wir es geschaff t haben. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass es mindestens einen Aspekt immunologischer Alterung gibt, der mit der Entfernung anergischer T-Zell-Klone nicht angegangen wird: die Rückbildung der Schilddrüse. Die Schilddrüse ist direkt hinter Ihrem Brustbein lokalisiert und zu ihr gelangen Immunzellen, die zuerst in Ihrem Knochenmark produziert wurden, um zu T-Zellen ausgebildet zu werden. Wenn wir älter werden, verliert die Schilddrüse Zellen und schrumpft. Infolge dieses Prozesses geht ihr Ausstoß an naiven T-Zellen stark zurück. Dies schränkt natürlich die Fähigkeit des Körpers weiter ein, auf neue Bedrohungen zu reagieren. Im Prinzip gibt es aber einen ziemlich geradlinigen Weg, damit fertig zu werden: Stammzelltherapie. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ist das absehbare Biotechnologie (beachten Sie dort den Kasten »Die Schilddrüse wieder aufbauen«).31 Das Erreichen eines solchen Ziels würde bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet der Stammzellen bedingen, einschließlich der Kunst, embryonale Stammzellen in die Vorläufer verschiedener Körperzellen zu verwandeln und dann neues Gewebe zu kreieren, um das alte zu verjüngen. Dies sind jedoch genau dieselben Probleme, die zur Zeit für Gewebe im ganzen Körper ziemlich rasch gelöst werden. Es gibt daher reichlich Anlass zu Optimismus. Das ist alles, was ich über die Immun-Zombies zu sagen habe. Jetzt ist es an der Zeit, ein paar andere Arten überzähliger Zellen anzusehen.

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Tödlicher Kampf in der Schlacht gegen die Schläuche Die zweite Sorte toxischer Zellen, von denen wir uns befreien wollen, ist überschüssiges Fettgewebe – vor allem das sogenannte viszerale Fett, das unsere inneren Organe umgibt, im Gegensatz zum subkutanen Fett, das im gesamten Körper unter der Haut liegt. Es wird weithin angenommen, dass die Menschen im Alter »naturgemäß« resistenter gegen die Wirkung des Hormons Insulin werden, das Kohlenhydrate und Aminosäuren in Fett- und Muskelzellen hereinbringt. Diese Resistenz bewirkt eine Reihe bedrohlicher Stoff wechselveränderungen. Die extremste manifestiert sich in Menschen mit ausgewachsenem Diabetes Typ II (»Altersdiabetes«). Ebenso ist es eine verbreitete Weisheit, dass ältere Menschen »naturgemäß« in einen entzündlicheren Zustand kommen, in dem der Körper aufgrund einer übermäßigen Produktion von Entzündungs-Signalmolekülen langsam von innen her verbrennt. Nimmt man mehr Kalorien zu sich, als man verbraucht, vergeudet sie der Körper nicht, sondern klammert sich an sie. Dies ist keine Perversität seitens der Evolution, sondern eine Überlebensstrategie: Bis vor sehr kurzem (nach evolutionärem Maßstab) war es ziemlich wahrscheinlich, dass schon bald eine Hungerperiode folgen würde, in der diese gespeicherten Kalorien Ihr Rettungsring wären. Wenn Ihr Körper keinen Herausforderungen (wie etwa das Training mit Gewichten) gegenübersteht, die ihm signalisieren, metabolisch teures Muskel- oder Knochengewebe aufzubauen, wird es sich der Körper leicht machen und die Kalorien als Fett speichern. In einer Umwelt aber, in der auf eine Festzeit nie eine Fastenzeit folgt und in der Leibesübungen eine fast gänzlich freiwillige Sache sind, sind wir nicht imstande, das zusätzliche Fettgewebe loszuwerden, und es häuft sich im Alter langsam an. Da diese Anhäufung alternde und junge, gesunde Körper unterscheidet, erfüllt sie die Kriterien für »Alterungsschaden« laut meiner Ingenieur-Definition, obwohl sie unter einem rein theoretischen Gesichtspunkt wohl nicht als solcher betrachtet würde. Es ist seit langem bekannt, dass dieser Schaden – in der Form von Übergewicht und Fettleibigkeit – Ihr Risiko erhöht, an Diabetes, Herzkrankheiten sowie verschiedenen, anderen Gebrechen zu erkranken. Erst kürzlich wurde jedoch klar, warum und wie. Vielleicht haben Sie gehört, dass Fett unterschiedliche gesundheitliche Auswirkungen hat, je nachdem, in welchem Körperteil es gespeichert wird: Eine »Apfelform« (im Mittelteil konzentriertes Fett wie beim »Bierbauch«) erhöht Ihr Diabetesund Herzkrankheitsrisiko. Eine »Birnenform« hingegen (Fett, das sich um Ihren Po und an den Schenkeln sammelt) ist unansehnlich, aber viel weniger gesundheitsgefährdend. Soweit es eine biomedizinische Basis für diese Unterscheidung gibt, liegt sie in der verschiedenen Lokalisierung von viszeralem und subkutanem Fett. Viszerales Fett ist um Ihre Mitte am sichtbarsten, weil es sich um die größeren inneren Organe wie der Leber und den Nieren gruppiert. Im Gegensatz dazu liegt subkutanes Fett direkt unter Ihrer Haut – und natürlich gibt es Haut am ganzen Körper, doch einige Stellen sind prominentere Depots für diesen Fetttyp als andere. Jüngste Studien zeigten, dass fast die gesamte, beobachtete Insulinresistenz im Alter und ein Großteil der altersbedingten Signalisierungsverlagerung hin zu mehr Entzündungen, der Anhäufung von überschüssigem viszeralem Fett zugeschrieben werden kann. Sie geht der Entwicklung aller Elemente des Stoff wechselsturms, der

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als metabolisches Syndrom bekannt ist, voraus und prognostiziert diese: Insulinresistenz, tiefes (»gutes«) HDL-Cholesterin, hoher Blutdruck und hohe Triglycerid- (Blutfett) und Blutzuckerspiegel. Noch aufschlussreicher ist, dass bei einem Vergleich von Leuten verschiedenen Alters die Unterschiede in der Insulinwirksamkeit zwischen Jungen und Alten verschwindet, wenn man die Unterschiede im Fettgehalt, insbesondere von viszeralem Fett, berücksichtigt.32 In bemerkenswerten Studien am Albert Einstein College of Medicine wurde der Großteil der Resistenz alternder Tiere gegenüber Insulin und anderen Hormonen durch eine sehr invasive Operation rückgängig gemacht, die das meiste viszerale Fett entfernte. Dadurch wurde die Körperzusammensetzung derjenigen viel jüngerer Tiere oder von gleichaltrigen Tieren unter Kalorienrestriktion ähnlich (zu deren Vorteilen dramatische Reduktionen in altersbedingter Insulinresistenz und Entzündungssignalen gehört).33 Das letztere Resultat war besonders verblüffend, denn die Wissenschaftler fanden bei der Untersuchung der Fettverteilung, dass Tiere unter Kalorienrestriktion sogar mehr subkutanes Fett als ihre jungen Pendants hatten, aber weniger viszerales Fett – und ihre Insulinwirksamkeit war fast dieselbe. Eine vor kurzem erfolgte Studie erhärtete die Schuld des viszeralen Fetts weiter, da sie bestätigte, dass Liposuktion – deren Eingriffsintensität und Trauma-Risiko gering gehalten werden, indem nur die relativ leicht zugänglichen, aber kosmetisch wichtigen subkutanen Fettdepots entfernt und die schwieriger zu beseitigenden viszeralen Fette zurückgelassen werden – die mit der ursprünglichen Fettleibigkeit assoziierte Insulinresistenz nicht verbessert.34 Auf der anderen Seite derselben Medaille zeigten nun mehrere Studien, dass sich die Insulinresistenz signifi kant und ziemlich rasch verbessert, wenn man übergewichtige Leute auf kalorienarme Diät oder ein Fitnessprogramm setzt. Die Resistenz verbessert sich deutlich, bevor das Gesamtgewicht eine Chance hatte, sich groß zu verändern, aber nachdem das viszerale Fett Zeit hatte, sich zu verringern. Das viszerale Fett wird (zum Glück) als erstes verbrannt, wenn der Energiebedarf nicht gedeckt ist. Die Ursachen für all das sind klar geworden, als Wissenschaftler das Wesen von Fett selbst immer besser verstanden. Fettgewebe wurde einst schlicht als inerter Lagerraum betrachtet, als ob man einen Reservekanister am Hinterteil herumträgt. Stattdessen wissen wir nun, dass es ein stoff wechselmäßig aktives, dynamisches Gewebe ist, das auf eine Reihe von Hormonen und andere Signalmoleküle reagiert beziehungsweise diese selbst absondert. Wir erkennen heute auch an, dass sich Fettgewebe nicht nur aus »Fettzellen« (Adipozyten) zusammensetzt, sondern eine Mischung aus verschiedenen Zelltypen ist, unter anderem unterstützendes Bindegewebe, Nerven und Blutgefäße sowie Immunzellen – insbesondere Makrophagen. Tatsächlich stammen Adipozyten sogar von denselben Vorläufern ab wie Makrophagen und sondern viele derselben das Immunsystem regulierenden Moleküle ab wie etwa das gerinnungsverstärkende Enzym Plasminogen-Aktivator-Inhibitor-1 und entzündungsfördernde Signalmoleküle (Zytokine) wie Tumornekrosefaktor Alpha, Monozyten Chemoattractant Protein-1 und Interleukin-6. Wenn sich die Fettdepots vergrößern, beginnen die Adipozyten immer mehr dieser entzündungsfördernden Moleküle auszustoßen. Einige fördern die Gewebe-

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infiltration durch Makrophagen und andere signalisieren den Vorläuferzellen, aus denen sowohl Adipozyten wie auch Makrophagen entstehen können, sie sollen den Pfad in Richtung letzteren einschlagen. Diese Makrophagen wiederum produzieren noch mehr Entzündungsbotenstoffe, was eine sich selbst verstärkende EntzündungsRückkopplung schaff t. Der aufregendste Befund der letzten zehn Jahre im neu entstehenden Wissen über Fett war die Entdeckung, dass diese Signalmoleküle nicht nur einen potentiell pathologischen Anstieg systemischer Entzündung bewirken, sondern auch die Insulinresistenz des Körpers erhöhen. Diese Schlussfolgerung wird durch Studien unterstützt, die zeigen, dass isolierte Muskel- und Fettzellen insulinresistent werden, wenn man sie mit genau denjenigen Entzündungsmediatoren bombardiert, die Adipozyten und Makrophagen produzieren, und dass die Insulinresistenz von pummeligen Labornagern durch Behandlung mit Aspirin gelindert wird, teilweise durch die Blockierung der Wirkung von Zytokinen. Die Wechselbeziehung bestätigt sich zudem nicht nur unter artifiziellen Laborbedingungen: Bei Sepsis (dem Entzündungssturm, der sich als Antwort auf schwere Infektionen bildet) weisen Patienten häufig eine sehr starke Insulinresistenz als Teil der Immunantwort auf. Natürlich werden diese und damit zusammenhängende Fragen eine Armee von Grundlagen- und klinischen Forschern auf dem Gebiet Diabetes für Jahrzehnte beschäftigen. Sie werden Paradoxe auflösen, eng ineinander verschlungene Stoff wechselwege isolieren und ihre Resultate in verschiedenen Modellen überprüfen. Für Ingenieur-Zwecke müssen wir aber glücklicherweise nicht die Resultate dieser Forschungen abwarten: Wir müssen nur das Vorhandensein eines Schadens feststellen und ihn beheben.

Die altmodische Methode In diesem Falle gibt es natürlich zwei ganz einfache Lösungen, die ohne fortgeschrittene Biotechnologie auskommen: Diät und Sport. Leider haben aber Jahrzehnte von Forschung und Jahrhunderte anekdotischer Erfahrungen gezeigt, dass es die meisten von uns sehr schwierig finden, einmal zugelegtes Gewicht wieder zu verlieren. Ein Energie-Ungleichgewicht von nur 100 Kalorien pro Tag – was Sie ungefähr in einem einzelnen mittelgroßen Keks zu sich nehmen – erklärt die übliche schleichende Gewichtszunahme einer durchschnittlichen Person in den Jahrzehnten zwischen Schulzeit und mittlerem Alter. Während sie einfach aufzunehmen sind, fällt es den meisten Leuten schwer, sich dieser Zusatzpfunde zu entledigen und sie fernzuhalten. Die Situation ist nicht annähernd so fatal, wie sie oft dargestellt wird – Studien zeigen, dass etwa eine von fünf übergewichtigen Personen erfolgreich langfristig Gewicht verliert, und die Forschung klärt auf, wie man dorthin gelangt. Die Stoff wechsel-Konsequenzen von überschüssigem viszeralem Fett sind aber viel zu tödlich und die Größenordnung der momentanen Fettleibigkeitsepidemie viel zu schwindelerregend, um die Heilung dieser Form von Alterungsschaden Selbsthilfeprogrammen oder Maßnahmen der Gesundheitsbehörden zu überlassen, die darauf ausgelegt sind, unser heutiges »toxisches Nahrungsmittelumfeld« zu korrigieren.35 Wenn wir

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das Schicksal von Millionen nicht einem plötzlichen Anflug von verstärktem persönlichem oder politischem Verantwortungsbewusstsein überlassen wollen, müssen wir realistischerweise nach biomedizinischen Lösungen gegen viszerales Fett suchen.

Fett fürs Feuer Eine mögliche Option besteht darin, das viszerale Fett zu vermindern, indem wir es veranlassen, seine überschüssige gespeicherte Energie zu verbrennen. Natürlich versuchen Wissenschaftler seit Jahrzehnten Medikamente zu diesem Zweck zu entwickeln, aber bis dato sind die einzigen, moderat wirksamen solcher Medikamente die Amphetamine und mit ihren Nebenwirkungen und der Suchtgefahr erfüllen sie unser Anforderungsprofi l offensichtlich nicht. Für einige Jahre schien das Appetit regulierende Hormon Leptin die Chance zu bieten, Fett zu schrumpfen und Insulinsensitivität zu erhalten. Eine extrem seltene, genetische Mutation, die zu einem angeborenen Leptinmangel führt, lässt sowohl menschliche wie auch Nagetieropfer monströs fettleibig werden. Solchen Mäusen Leptin zu injizieren, führt zu dramatischem Gewichtsverlust. Wenn man diese Nager (mittels Gentechnik) mehr Leptin innerhalb ihrer Fettzellen produzieren lässt, essen sie 30 bis 50 Prozent weniger, was zu verbesserter Insulinsensitivität und einem fast vollständigen Verschwinden ihres Körperfetts führt. Außerdem sind die Effekte stärker als durch ihre neu entdeckten, leichten Essgewohnheiten erklärt werden kann.36 Tierische Fettzellen mit dem Zusatzleptin exprimierten andere Gene, die die Mitochondrien aktivieren, was sie zu kleinen »Fettverbrennungsmaschinen« machte.37 Obwohl Leptininjektionen sowohl in normalen als auch fettleibigen Nagern zu einem raschen Fettverlust führen, zirkuliert paradoxerweise derselbe Leptinpegel, der die Pfunde in leichteren Mäusen wegschmelzen lassen würde, in den Körpern ihrer fetten Vettern, aber natürlicherweise. Dadurch ist bei ihnen ein viel höherer Leptinspiegel erforderlich, um einen vergleichbaren Gewichtsverlust zu erreichen. Dies erklärt sich teilweise daraus, dass Leptin ironischerweise von genau den Fettzellen produziert wird, deren Anschwellen mit gespeicherter Energie es hätte hemmen sollen, sodass pummeligere Nager von Natur aus mehr Leptin produzieren, nicht weniger. Tatsächlich fand der Medikamentenriese Hoff mann-La Roche, nachdem er ein Vermögen in die Entwicklung einer Methode investiert hatte, humanes Leptin in genetisch veränderten Bakterien serienmäßig herzustellen, dass das Hormon bei der Behandlung von Übergewicht kläglich versagt.38 Dies führte Wissenschaftler zur Vermutung, dass übergewichtige Angehörige beider Spezies auf dieselbe Weise an »Leptinresistenz« leiden wie an Insulinresistenz: Die Hormonspiegel sind hoch, aber die Zellen reagieren nicht mehr richtig auf die Signale des Hormons, um den Appetit aus- und die Fettverbrennung einzuschalten. Jüngste Studien durch Roger Unger, dem Forscher, der ursprünglich die Hoffnungen für Leptin geweckt hatte, indem er seine kräftigen Wirkungen in Mäusen nachgewiesen hatte, zeigen, wie dies auf molekularer Ebene geschehen kann. Wenn man Mäuse mit einer stark fett- und kalorienhaltigen Nahrung überfüttert, schrauben ihre Fettzellen die Produktion der Gene zurück, die der Zelle sagen, wie

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man »Türen« für den Leptinrezeptor auf ihrer Oberfläche baut, so dass die Zellen das Signal nicht mehr hören.39 Gleichermaßen zeigen unpublizierte Studien des Fettgewebes von massiv übergewichtigen Leuten, dass ihre Expression des Leptinrezeptorgens durchgängig so gering ist, dass sie nicht nachweisbar ist. In schlanken, jungen Leuten hingegen kann der Genexpressionspegel zu jeder Zeit von sehr niedrig bis extrem hoch variieren. 40 Leider gibt es, wie auch zu Leptin selbst, keinen klaren Weg zur gentherapeutischen Verwendung des Leptinrezeptors als Mittel zur Umkehr der negativen Effekte von viszeralem Fett. Mäuse mit einem zusätzlichen Leptin-Gen mögen angesichts eines überreichen Nahrungsangebots schlank geblieben sein, aber sie sind seinen Konsequenzen nicht vollständig entkommen: Sie litten trotzdem an derselben »ektopischen« (an falscher Stelle) Fettinfi ltration ihrer Leber, Muskeln und Herzen wie Mäuse ohne die zusätzlichen Leptinrezeptoren, die dasselbe Futter zu sich nahmen. Zudem war ihre Insulinresistenz – der hauptsächliche negative Effekt von überschüssigem viszeralem Fett, den wir angehen müssen – genauso schlecht. Wir werden vielleicht einen Weg finden, dies teilweise zu vermeiden, indem wir das Gen an- und wieder ausschalten und dadurch unsere Insulinsensitivität wiederherstellen, doch es scheint unklar, wie wir mit dem ektopischen Fett umgehen werden. Man könnte erwarten, dass das kalorische Ungleichgewicht, das zum ursprünglichen, übermäßigen Wachstum der Fettzellen geführt hatte, wieder einsetzt, sobald wir das Gen ausschalten. Obwohl wir die Fettzellen mit jeder Therapierunde zurückschrumpfen würden, hätten wir keine Möglichkeit, die Zellen selbst zu eliminieren. Zudem könnte im Verlauf eines stark verlängerten Lebens eine Bauchhöhle voll von vielen, wenn auch relativ kleinen Fettzellen trotzdem zu einem Stoff wechselchaos führen.

Das Fett wirklich stutzen Nein – es scheint, die wahrscheinlichste Lösung des Problems viszeralen Fettes ist nicht der Versuch seiner Zähmung, sondern seine Ausmerzung: Eine substantielle Anzahl aufgeblähter, überschüssiger Zellen tatsächlich zu beseitigen. Die gleiche Art zellspezifischer Anpeilung von Krebszellen oder anergischer T-Zellen, die wir diskutiert haben, dürfte voraussichtlich auch auf viszerales Fett anwendbar sein. Obwohl im Gegensatz zu jenen anderen Fällen keine speziellen Erkennungsmerkmale von viszeralen Fettzellen identifiziert wurden, müssen wir bei weitem nicht so spezifisch sein. Im Unterschied zu Krebs oder anergischen T-Zellen ist ein bisschen Fett – einschließlich etwas viszeralen Fettes – nicht nur metabolisch harmlos, sondern für die Weiterführung des Unternehmens Leben notwendig. Abgesehen davon, dass sie ein Ersatzkanister metabolischen Treibstoffs sind, den wir täglich anzapfen und nachfüllen, haben die erwähnten Stoff wechselfaktoren – Energie regulierende Hormone, Entzündungspeptide und andere – auch gesunde Verwendungen. Wie der ganze Stoffwechsel wurde auch das zu unserem Wohle durch die Evolution in uns eingebaut. Als Anti-Aging-Ingenieure ist es nicht unsere Aufgabe, uns darin einzumischen, sondern lediglich den Schaden zu verhindern, den sie in alternden Körpern bewirken.

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Die Nacht der lebenden Toten 41 Die letzte Kategorie toxischer Zellen, die ich in diesem Kapitel ansprechen möchte, sind die sogenannten »seneszenten« Zellen. Sie erhielten ihren Namen aufgrund der (ziemlich dubiosen) Analogie zwischen diesen Zellen und alternden Menschen, die ihr Mitentdecker Dr. Leonard Hayflick, damals vom Wistar-Institut in Philadelphia, zog. Diese Zellen beginnen ihr Leben wie alle anderen von uns diskutierten, als normale Bestandteile der Haut, der Gelenke und anderer Gewebe. Normalerweise ruhen sie und teilen sich nicht regelmäßig, aber sie bleiben weiter in der Lage, sich bei Bedarf und als Teil ihrer normalen Funktion zu reproduzieren (im Gegensatz zu »postmitotischen« Zellen, die ihre Teilungsfähigkeit völlig verlieren, sobald sie ihre reife Form erreichen, und die nur durch neue Zellen aus den Stammzellreservoirs des Körpers ersetzt werden – wenn sie überhaupt ersetzt werden). Die bestimmende Eigenschaft seneszenter Zellen ist, dass sie wie postmitotische Zellen die Fähigkeit zur Teilung verloren haben. Hayflick beobachtete, dass Zellen von diesen Geweben, entgegen dem damaligen Dogma, sich in einer Petrischale nicht unbegrenzt weiter teilen würden: Sie scheinen für mehrere, aufeinanderfolgende Replikationsperioden normal, treten dann aber plötzlich in einen Dämmerzustand ein, in dem sie zwar nicht sterben, aber auf verschiedene Arten abnormal werden. Ihr Erscheinungsbild wird fleckig, ihre Form unregelmäßig. Sie können nicht länger die hübsch gekringelten Kolonien gegenseitig zusammenhängender Zellen bilden, die in jüngeren Kulturen die Norm sind. Vor allen Dingen hören sie zudem auf, sich zu vermehren. Die Verwendung des Wortes »seneszent« zur Beschreibung dieser Zellen ist jedoch etwas irreführend. Wenn Menschen von diesen Zellen hören, nehmen sie oft an, dass zelluläre »Seneszenz« im Alter das letztendliche Schicksal aller Zellen im Körper ist und dass der Übertritt »junger« Zellen in diesen »seneszenten« Zustand die zugrundeliegende Ursache der Alterung ist. Außerdem ruft der Begriff ein Bild dieser Zellen von alten, abgehalfterten Schlafwandlern hervor, die durch die verbleibenden Tage des restlichen Lebens des Körpers vegetieren und nichts zu den Organen beitragen, in denen sie residieren, uns aber auch nicht aktiv Schaden zufügen. Man könnte denken, ihr einziger Nachteil sei ein Unterlassungsverbrechen: die Unfähigkeit, alternde Organe wieder aufzufrischen. Tatsächlich werden seneszente Zellen allgemein für extrem selten gehalten, sogar in sehr betagten Menschen. 42 Ihre mögliche Rolle in der Alterung stellte sich hingegen als sehr viel komplexer heraus – und sehr viel aktiver –, als wir zunächst glaubten. Die offensichtlichste Eigenschaft »seneszenter« Zellen ist, wie erwähnt, der Verlust ihrer Teilungsfähigkeit. Wie ausgelaugte Lüstlinge versuchen seneszente Zellen jedoch verzweifelt, sich zur Aktivität anzuregen. Sie pumpen Substanzen aus der Zelle, die zwar essentiell für ihre gesunde Funktion waren, als sie noch beitragende Mitglieder eines gesundes Gewebes waren, die aber die Entwicklung von Krebs fördern können, wenn sie im Übermaß vorhanden sind. Verschiedene Mechanismen sind daran beteiligt. Zunächst einmal sind einige der häufigsten Signalmoleküle, die seneszente Zel-

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len überproduzieren, chemische Botenstoffe wie der epidermale Wachstumsfaktor, welche die Zellteilung ihrer Nachbarn direkt antreiben. Als zweites Beispiel produzieren viele seneszente Zellen auch zuviel Enzyme, die Proteine verdauen, wie etwa Matrix-Metalloproteinasen (MMP) und Kollagenase, die die »Abbruchmannschaften« des Gewebe-Umbaus sind. Diese Enzyme üben die unerlässliche Funktion aus, alte und beschädigte »Gerüste« wegzuräumen, die in die Zellen in einem Gewebe eingebettet sind, um Platz für neues Wachstum zu schaffen. Aber genauso wie Sie schutzlos gegenüber Einbrüchen würden, wenn während einer Renovierung die Außenwand Ihres Hauses niedergerissen würde, kann eine übermäßige oder unkontrollierte MMP-Aktivität Krebszellen erlauben, aus den Beschränkungen des Gewebes auszubrechen, in das sie ursprünglich eingebettet waren. Alternativ oder zusätzlich können sie sich einen Weg in neue Gewebe weit entfernt vom ursprünglichen Tumor bahnen – der Prozess der Metastase. Erst kürzlich haben Wissenschaftler zudem noch einen weiteren Weg gefunden, wie seneszente Zellen möglicherweise den roten Teppich für entstehenden Krebs ausrollen: indem sie gefährliche Überdosen von vaskulo-endothelialem Wachstumsfaktor (VEGF)43 und stromal cell-derived factor 1 (SDF1)44 ausstoßen, die das Wachstum neuer Blutgefäße begünstigen. Wie Sie sehen, stellt sich das Bild als viel komplizierter heraus als vormals vermutet. Wie ich später zeigen werde, hat sich das Seneszenz-Phänomen wahrscheinlich als eine Antwort gegen DNA-Schäden entwickelt, um zu verhindern, dass die Schäden krebsartig werden. Vom Standpunkt dieser einzelnen Zelle aus ist das ein extrem effektiver, kurzfristiger Schutz gegen Krebs, weil es die Zellteilung ausschaltet, die der eigentliche Kern der Krankheit ist. Es scheint jedoch wahrscheinlich, dass die »Unlebensweise«, die eine seneszente Zelle führt, langfristig die Entwicklung von Krebs begünstigt, indem sie ihre Nachbarn destabilisiert. Daher – Sie haben es erraten – müssen sie verschwinden.

Die Zombies zur Ruhe betten Eine Methode zur Beseitigung seneszenter Zellen besteht darin, sie von ihrer Seneszenz zu befreien. In Zellkultur-Experimenten wurde dies auf verschiedene Weise erreicht, etwa indem aufgebrauchte Telomere mittels Telomerase wieder verlängert oder indem mit Seneszenz assoziierte Proteine ausgeräumt wurden. Seneszenz rückgängig zu machen, würde jedoch ein Krebsrisiko mit sich bringen, weil Zellen typischerweise als Antwort auf potentiell karzinogene Veränderungen seneszent werden, wie etwa beschädigte DNA, hyperaktive, Krebs fördernde Gene oder (wieder) sehr kurze Telomere, die einen mutagenen Zustand begünstigen. Das Teilungsvermögen in solchen Zellen wiederherzustellen, könnte uns möglicherweise aus der Bratpfanne der Seneszenz führen, aber dafür ins Feuer des Krebses. Ansätze, die darauf basieren, die gefährlichen Stoff wechsel-Abnormalitäten seneszenter Zellen auszuschalten, tragen gleichermaßen Risiken, weil andere, gesunde Zellen von denselben Stoff wechselwegen für ihre normale Funktion abhängig sind. Wachstumssignale, Enzyme und Entzündungsbotenstoffe chronisch zu blockieren

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könnte durchaus verhindern, dass seneszente Zellen die Krebssaat keimen lassen, es würde aber auch zu »Missernten« von Zellen im ganzen Körper führen. Wie immer besteht der Ingenieur-Ansatz zu diesem Dilemma darin, die Regeln umzuschreiben. Wir werden die evolvierte Fähigkeit des Körpers erhalten, Zellen abzuschalten, die Gefahr laufen, kanzerös zu werden, indem wir die Stoff wechselregulation der Seneszenz so belassen, wie sie ist. Tatsächlich werden wir, wie in Kapitel 12 erläutert, den Körper letztendlich auf eine Weise umgestalten müssen, die ihn fast immun gegen Krebs macht, indem wir sicherstellen, dass allen Zellen die Puste ausgeht, lange bevor sie uns mit unkontrolliertem Zellwachstum gefährden können. Die Bedrohung, die diejenigen Zellen darstellen, die seneszent werden, eliminieren wir jedoch, indem wir die Zellen selbst beseitigen.

Silberne Geschosse Die erste bedeutende Entwicklung auf diesem Gebiet geschah 1995 in einem Labor des Lawrence Berkeley National Laboratory unter der Leitung von Dr. Judith Campisi, einer meiner Koautoren des ursprünglichen SENS-Wissenschaftsmanifestes. Campisi und ihre Mitarbeiter stellten fest, dass ein relativ einfacher, zuverlässiger Test der Aktivität eines Enzyms namens Seneszenz-assoziierte Beta-Galaktosidase (SA-betagal) nicht nur seneszente Zellen in Petrischalen identifizieren konnte, sondern auch in Hautproben älterer Menschen. Leider ist SA-beta-gal kein perfekt selektiver Marker für Seneszenz. Spätere Studien zeigten, dass das Enzym in nicht-seneszenten Zellen vorkommt – üblicherweise in sehr geringer Konzentration, aber manchmal in hoher. Es stellt sich heraus, dass dieses Enzym entgegen der einfachen Interpretation der Resultate des Campisi-Labors tatsächlich identisch mit einem ist, das gewöhnlich in allen unseren Lysosomen vorkommt – den zellulären Müllverbrennungsanlagen, deren Verstopfung (Sie erinnern sich von Kapitel 7 her) vielen der schlimmsten Alterungspathologien zugrunde liegt. Der Übertritt in den seneszenten Zustand löst nicht plötzlich aus dem Nichts die Sekretion von SA-beta-gal in den Hauptteil der Zelle aus: Es scheint stattdessen, dass sogar in normalen Zellen immer ein gewisser, tiefer Pegel an SA-beta-gal herumschwimmt. Er kann mit Techniken gemessen werden, die den Spiegel des Enzyms selbst ermitteln. Der Pegel ist jedoch so gering, dass seine Aktivität mit den Methoden, die Campisis Labor ursprünglich verwendete und die nachteilig für die Funktion des Enzyms sind, kaum (wenn überhaupt) messbar ist. 45 Wenn jedoch eine Zelle einen Teilungszyklus nach dem anderen durchmacht – und sich dadurch immer mehr der Seneszenz nähert – steigen seine SA-beta-galSpiegel an. 46 Wahrscheinlich liegt das daran, dass die Zelle als Antwort auf die Altersbelastungen das Enzym überproduziert. Insbesondere steigt der Bedarf an Lysosomen, da diese ihre Arbeit immer wirkungsloser verrichten (zudem verringert sich ihre Teilungsrate, wodurch sich die Abfallverdünnung verlangsamt und die Aufgabe intrinsisch anspruchsvoller wird). Mit der Zeit wird die Konzentration so hoch, dass seine Aktivität sogar unter suboptimalen Bedingungen bemerkbar wird. SA-beta-gal-Aktivität wird vor allem in denjenigen Zellen in abnormal hoher Kon-

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zentration gefunden, die von Geweben stammen, die aufgrund von Entzündungskrankheiten unter Stress stehen, die die Zellproliferation schüren (wie etwa von chronischer Hepatitis C, arteriosklerotischen Plaques und Venengeschwüren). Äußerst interessant ist der Befund, dass der Enzympegel in den Zellen hochschießt, die die »Telomer-Krise« 47 durchmachen. Dies ist eine Periode, in der sich Zellen, die irgendwie der Seneszenz entkommen sind, weiter teilen und ihre Telomere weiter erodieren. Solchen Zellen geht normalerweise die Puste aus, aber gelegentlich durchlaufen sie eine Mutation, die die Klemme von ihren Telomerasen entfernt, wodurch eine volle Transformation zur Bösartigkeit fast unabwendbar wird. Es zeichnet sich daher ein Bild ab, wonach SA-beta-gal ein Enzym ist, das in hoher Konzentration im Hauptteil von Zellen erscheint, die eine Form von Stress durchmachen, der letztlich ihre Nachbarn gefährden könnte. Das könnte bedeuten, dass wir gleichzeitig mehrere nützliche »Gunst-der-Stunde-Angriffsziele« außer Gefecht setzen, wenn wir hohe SA-beta-gal-Konzentrationen als Erkennungszeichen zur Zerstörung seneszenter Zellen verwenden. Vielleicht gelingt es uns jedoch, ein Prüfsystem zu etablieren, das uns hilft, mehr echt seneszente Zellen auszumerzen, und mehr unschuldige (aber verdächtig aussehende) Zellen unbehelligt zu lassen. Dies deshalb, weil seneszente Zellen zusätzlich zu SA-beta-gal auch abartig hohe Mengen anderer Moleküle produzieren, die an der programmierten Seneszenzreaktion beteiligt sind. Seneszente Hautzellen von Pavianen enthalten beispielsweise eine aktivierte Form des Proteins ATM-Kinase, das auf DNA-Beschädigung mit der Aktivierung mehrerer Tumorsuppressorgene reagiert, inklusive dem berühmten p53. Seneszente Zellen weisen zudem hohe Spiegel von p53 auf, ebenso wie auch des Bindungsproteins (53BP1), durch das sein Gen mit der ATMKinase interagiert, und p21, einem Seneszenz-Regulator, der unter dem Kommando von p53 arbeitet. 48 Einige seneszente Zellen enthalten auch hohe Konzentrationen von p16, dem anderen Hauptregulator des Prozesses. Die Spiegel dieses Proteins steigen aus bislang unbekannten Gründen im Alter auch in nicht-seneszenten Zellen langsam an, weshalb es, isoliert betrachtet, ein unzuverlässiger Seneszenz-Marker ist. Möglicherweise könnte es jedoch – wie die anderen Merkmale – trotzdem als Teil eines Prüfmechanismus eingesetzt werden, der mehrere Proteine verwendet, um wirklich seneszente Zellen von denjenigen zu unterscheiden, die nur eines davon aus anderen Gründen exprimieren. 49 Dieses Kapitel konzentrierte sich auf die Anhäufung toxischer Zellen im Alter und auf die absehbare Biotechnologie, mit der es uns gelingen sollte, uns als Teil unserer Plattform zur Verjüngung unserer Körper von diesen Zellen zu befreien – das Immunsystem wiederherzustellen, das Stoff wechselchaos zu entschärfen und unsere Zellen davor zu bewahren, in Richtung Krebs getrieben zu werden. Im nächsten Kapitel werde ich das entgegengesetzte Problem unter die Lupe nehmen: den Zellverlust im Alter und die wissenschaftlichen – und, genauso wichtig, politischen – Hürden, denen wir auf dem Weg zur Verwirklichung der Möglichkeit begegnen, unsere Gewebe mit frischem Ersatz erneuern zu können.

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Mech Ageing Dev 126 (10): 1040-1045; Cell 120 (4): 513-522; und Int J Biochem Cell Biol 34 (11): 1401-1414. Die Häufigkeit ist jedoch höher in den dämpfenden Knorpeln der Gelenke, und einige Forscher argumentieren, dass diese geringe Häufigkeit vielleicht schlicht daher rührt, dass man sich zu einseitig auf einen einzelnen Seneszenzmarker abstützt. Vor kurzem zeigte eine Studie in unseren nahen Verwandten, den Pavianen, dass fast eine von vier Zellen schon bei jungen Erwachsenen seneszent war und dass einer von 20 in den letzten Lebensjahren in der Grauzone lebte. Coppe, J.P./Kauser, K./Campisi, J./Beausejour, C.M.: Secretion of vascular endothelial growth factor by primary human fibroblasts at senescence. J Biol Chem 2006, 281 (40): 29568-29574. Orimo, A./Gupta, P.B./Sgroi, D.C./Arenzana-Seisdedos, F./Delaunay, T./Naeem, R./Carey, V.J./Richardson, A.L./Weinberg, R.A.: Stromal fibroblasts present in invasive human breast carcinomas promote tumor growth and angiogenesis through elevated SDF-1/CXCL12 secretion. Cell 2005, 121 (3): 335-348. Lee, B.Y./Han, J.A./Im, J.S./Morrone, A./Johung, K./Goodwin, E.C./Kleijer, W.J./ DiMaio, D./Hwang, E.S.: Senescence-associated beta-galactosidase is lysosomal beta-galactosidase. Aging Cell 2006, 5 (2): 187-195. Yang, N.C./Hu, M.L.: The limitations and validities of senescence associated-beta-galactosidase activity as an aging marker for human foreskin fibroblast Hs68 cells. Exp Gerontol 2005, 40 (10): 813-819. Krishna, D.R./Sperker, B./Fritz, P./Klotz, U.: Does pH 6 beta-galactosidase activity indicate cell senescence? Mech Ageing Dev 1999, 109 (2): 113-123. Severino, J./Allen, R.G./Balin, S./Balin, A./Cristofalo, V.J.: Is beta-galactosidase staining a marker of senescence in vitro and in vivo? Exp Cell Res 2000, 257 (1): 162-171. Litaker, J.R./Pan, J./Cheung, Y./Zhang, D.K./Liu, Y./Wong, S.C./Wan, T.S./Tsao, S.W.: Expression profile of senescence-associated beta-galactosidase and activation of telomerase in human ovarian surface epithelial cells undergoing immortalization. Int J Oncol 1998, 13 (5): 951-956. Wei, W./Sedivy, J.M.: Differentiation between senescence (M1) and crisis (M2) in human fibroblast cultures. Exp Cell Res 1999, 253 (2): 519-522. Herbig, U./Ferreira, M./Condel, L./Carey, D./Sedivy, J.M.: Cellular senescence in aging primates. Science 2006, 311 (5765): 1257. Ein zusätzliches Charakteristikum seneszenter Pavianzellen ist, dass erstaunliche 95 Prozent von ihnen auch ein anormales Chromatin-»Gerüst« auf ihrer DNA tragen. Dies könnte im Prinzip auch als Teil eines molekularen Profi ls zur Identifizierung von Seneszenz verwendet werden (obwohl zur Zeit unklar ist, auf welche Weise es von einem Marker zu einem Zielmolekül gemacht werden könnte).

11. Neue Zellen für alte

Im Laufe unseres Lebens verlieren wir allmählich Zellen, die für unsere Gesundheit unverzichtbar sind. Viele fatale Alterskrankheiten – wie Parkinson – werden durch den Verlust von Zellpopulationen verursacht, die für essentielle Funktionen unseres Körpers verantwortlich sind. Glücklicherweise können diese verloren gegangenen Zellen durch Therapien, die auf Stammzellenforschung basieren, erneuert werden. Die Politik steht uns dabei ebenso im Weg wie die verbleibenden wissenschaftlichen Hürden.

Nach den enormen Mühen, die nötig waren, um die Konferenz zu organisieren, war es ein ungemein befriedigender Moment, den Mann, der die Stammzellbiologie revolutionierte, das Podium vor einer zahlreich versammelten Menge Kollegen beschreiten zu sehen. Es war die zweite Konferenz, die ich in Cambridge veranstaltete, die den wissenschaftlichen Fortschritt bei der Umkehr des menschlichen Alterns zum Schwerpunkt hatte, und auf mir lastete ein großer Druck, den Erfolg der ersten noch zu übertreffen. Ich bin im Vorstand der Internationalen Gesellschaft für Biomedizinische Gerontologie (International Association for Biomedical Gerontology – IABG) – eine der wenigen biogerontologischen Gesellschaften weltweit, die das explizite Ziel hat, biomedizinische Lösungen gegen das Altern anzustreben – und einige Jahre zuvor hatte ich mich freiwillig dafür gemeldet, ihre zehnte Konferenz zu leiten. Ich wusste damals, worauf ich mich einlasse. Die Gesellschaft würde, abgesehen von der Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, wenig logistische Unterstützung liefern. Somit hatte ich wenig Hilfe, abgesehen von der (moralischen und anderen) Unterstützung meiner geliebten Frau Adelaide, und das passte mir perfekt. Mit der offi ziellen Unterstützung einer Vereinigung, die bereits auf der progressiven Seite der biogerontologischen Gemeinschaft steht, wollte ich die Grenzen noch etwas ausweiten. Und da ich auf mich alleine gestellt war, musste ich meine Prioritäten mit keinem Komitee diskutieren. Trotz des Mandats der Gesellschaft waren frühere Konferenzen der IABG von der Art von Präsentationen dominiert, die ich auf jeder biogerontologischen Konferenz sah (und ich versuche fast alle zu besuchen): wissenschaftliche Grundlagen, geriatrische Medizin und Arbeiten an Modellorganismen, von denen die Wissenschaftler

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hoff ten, dass sie eines Tages zu einer Pille führen werden, die den menschlichen Alterungsprozess verlangsamt. Ich nahm die schwere und aufreibende Arbeit auf mich, diese Konferenz zu organisieren, weil es mir die Gelegenheit bot, die Aufmerksamkeit auf Arbeiten zu lenken, die zu einer Reihe von Eingriffen beitragen würden, die das Altern rückgängig machen. IABG 10 – das Treffen, das rückblickend das erste in einer Reihe von SENS-Konferenzen sein sollte – war ein enormer Erfolg. Ich sage das selbst, doch ich prahle nicht: Der Enthusiasmus, mit dem sich meine Kollegen am Ende der Woche für meinen Einsatz bedankten, war umfassend und unmissverständlich aufrichtig. Die Anwesenden waren von dem, was sie gehört hatten, überrascht und begeistert – nicht allein wegen des Inhalts, sondern weil ihnen das meiste absolut neu war. Das war vorhersehbar: Während eine typische biogerontologische Konferenz Sprecher einlädt, die fast alle Teil der biogerontologischen Gemeinschaft sind, hatte ich ein starkes interdisziplinäres Element eingeführt und Forscher zusammengebracht, die an Krebs, Diabetes, Stammzellen und anderen Dingen forschten. Deren Arbeiten waren meiner Meinung nach entscheidend für die Entwicklung einer effektiven Anti-AgingBiomedizin, doch sie waren den Forschern, die sich im Hafen der Biogerontologie verankert hatten, nahezu unbekannt. Zugleich hatten diese Redner die Gelegenheit, sich mit Forschern auszutauschen, in deren Laboren die degenerativen Alterungsprozesse, wenn nicht rückgängig gemacht, so doch zumindest in Mäusen und anderen Modellorganismen dramatisch hinausgezögert wurden. Diese Arbeit rief unter Biogerontologen, die auf einem Gebiet tätig sind, in dem dies seit den ersten Kalorienrestriktions-Experimenten vor fast 70 Jahren immer wieder geschah, oft kaum Erstaunen hervor, verblüff te jedoch die experimentellen Onkologen und Gewebe-Ingenieure, die ich engagiert hatte, um den Biogerontologen zu zeigen, was sie nicht berücksichtigt hatten. IABG 10 erfüllte meine akademischen Ziele derart erfolgreich und die Bitten meiner Kollegen, eine Folgeveranstaltung zu organisieren, waren so aufrichtig, dass ich mir sicher war, den Erfolg nutzen zu können, um es zu einem de facto Eröffnungstreffen einer laufenden Serie akademischer Konferenzen der SENS-Wissenschaften in Cambridge zu machen. Von da an wusste ich jedoch, dass ich mich ganz alleine darum bemühen musste: Ich konnte mich nicht auf die Unterstützung des IABG oder einer anderen Gesellschaft verlassen (noch ihre Einmischung dulden, so gering sie auch war). So anspruchsvoll es auch war, derartige Treffen zu organisieren, so wusste ich doch, dass sich die Arbeit lohnte. Andererseits wusste ich auch, dass ich mir die Latte mit der ersten Konferenz recht hoch gelegt hatte und dass einige meiner Kollegen weniger bereit wären einer Konferenz beizuwohnen, die nicht unter der Schirmherrschaft einer anerkannten biogerontologischen Gesellschaft stand. Dies galt umso mehr, wenn ich der Organisator war, denn einige meiner wahrlich wohlmeinenden, aber altmodischen gerontologischen Kritiker hatten kurz nach der ersten Konferenz Flüsterpropaganda gegen meine wissenschaftliche Glaubwürdigkeit initiiert. Wenn ich also wollte, dass die Leute SENS2 besuchen und die Serie fortgesetzt wird, musste die Qualität der Redner trotz der Opposition erstklassig sein. Ich musste anspruchsvollen Standards gerecht werden – und ich wollte alle Erwartungen übertreffen.

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Die Meisterzellen: Akzeptiere keinen Ersatz! Ich wusste, dass ich den embryonalen Stammzellen (ESZ) noch einmal eine ganze Tagung widmen wollte – die ursprünglichen »Meisterzellen«, denen unsere reifen Zellen entspringen und die in unserer Entwicklung von einem simplen Zellklumpen, dem frühen Embryo, hin zu einem komplexen, multizellulären Organismus eine entscheidende Rolle spielen. Dank der tragischen Konfusion der ESZ-Wissenschaften mit ethischen, rechtlichen und religiösen Disputen bezüglich der Rolle des Embryos in der Abtreibungsdebatte sind ESZ die eine Planke der SENS-Plattform, mit der Sie wohl oder übel vertraut sind. Sie haben zweifelsohne gehört, dass embryonale Stammzellen mit der richtigen biochemischen Stimulation dazu gebracht werden können, zu jeder beliebigen Körperzelle zu werden: Nerven, Muskeln, Herz, Niere usw. Die resultierenden, »differenzierten« Zellen können dann dazu genutzt werden, Zellen und Gewebe zu reparieren oder zu ersetzen, die an verschiedene, schwächende und oft nahezu unbehandelbare Krankheiten, einschließlich vieler der schlimmsten Geißeln des Alterns, verloren gehen und deren Verlust ein zentrales pathologisches Merkmal dieser Erkrankungen ist. ESZ werden notwendig sein, um die vollständige Heilung von Parkinson, Rückenmarksverletzungen, Jugenddiabetes, amyotropher Lateralsklerose (»Lou-Gehrig-Syndrom«), Herzinfarktschäden, einigen Krebsarten und anderen verheerenden Gebrechen – einschließlich des Alterns selbst – zu erzielen. Unter der rein pragmatischen, ingenieursmäßigen Definition des Alterns, die klar verdeutlicht, was getan werden muss, um unsere Körper unbegrenzt jung zu erhalten, ist der Nettoverlust von Zellen selbst eine Form von Alterungsschaden. Dies macht ihn zu einem zentralen Angriffsziel von SENS. Da die Medien ihr Augenmerk jedoch auf den politischen Schlagabtausch richten und nicht auf die reale, hoffnungsvolle medizinische Seite des enormen Potentials der ESZ, werden Sie sich vielleicht noch nicht über die entscheidenden Unterschiede zwischen ESZ und adulten Stammzellen in der grundlegenden Biologie sowie hinsichtlich ihres therapeutischen Potentials im Klaren sein. Es gibt zudem wichtige Unterschiede zwischen ESZ, die in Fertilitätskliniken auf bewahrten Embryonen entnommen werden, und solchen, die für jeden Patienten aus seinen eigenen erwachsenen Zellen maßgeschneidert werden, indem sie mit Eizellen verschmolzen werden (eine Technologie, die unter dem Namen somatischer Zellkerntransfer (somatic cell nuclear transfer – SCNT) bekannt ist und auf die wir zurückkommen werden). Aus diesem Grund werde ich ein wenig Zeit darauf verwenden, diese Sachverhalte zu entwirren. Echte ESZ sind nur in sehr jungen Embryonen namens Blastozysten zu finden. Das sind simple Zellklumpen, die sich nur wenige Tage nach der Befruchtung bilden. Der Embryo verbleibt nur sehr kurz in diesem Entwicklungsstadium und hat sich schon viel weiterentwickelt, wenn er sich in der Gebärmutter einnistet. Jede Zelle des erwachsenen Organismus muss der Blastozyste entstammen, dennoch weist die Blastozyste keine dieser differenzierten Zellen auf: keine Neuronen, keine Herzzellen, keine Insulin produzierenden Betazellen usw. Damit sich der Embryo also in einen Organismus mit der komplexen Struktur eines Menschen entwickelt, müssen

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sich seine Zellen in jede dieser reifen Zellen transformieren können – eine Fähigkeit namens Pluripotenz. Adulte Stammzellen sind dagegen in ihren Möglichkeiten viel beschränkter, und das aus gutem Grund. Diese Zellen treten in den späten Entwicklungsstadien auf und werden in manchen Gewebearten lebenslang als Reserve zurückbehalten, um die Zellspeicher wieder aufzufüllen. Sie beschränken sich also auf das begrenzte Repertoire möglicher Geschicke, das für ihre Rolle in diesem spezifischen Gewebe relevant ist. Folglich können Blutstammzellen zu Sauerstoff transportierenden roten Blutzellen werden oder zu jeder anderen der vielen, im Blut vorhandenen Zellen des Immunsystems. Sie können jedoch (trotz anderer Behauptungen – siehe später in diesem Kapitel) weder Neuronen noch Herzmuskelzellen bilden: Würde sie gefragt, gäbe eine Blutstammzelle zweifelsohne die entrüstete Antwort: »Das ist nicht meine Aufgabe.« Sie dienen dazu, eine genau definierte Aufgabe im Körper gut zu erfüllen, aber sie sind keine Reserve, um jeden beliebigen Schaden an jeder beliebigen Stelle zu heilen. Diese eingeschränkte Entwicklungsflexibilität (oder »Plastizität«) wird Multipotenz genannt.1 Tatsächlich gibt es viele Regionen im Körper, für die es keine zur Reparatur bereitstehenden, adulten Stammzellen gibt – und dazu gehören, wie Sie vielleicht vermuten, die Gebiete, die während des Alterns den schlimmsten Zellverlust erleiden. Das ist beispielsweise in vielen Teilen des Gehirns der Fall. Über viele Jahre glaubte man, das ganze Gehirn verliere während des normalen Alterungsprozesses Zellen und es gebe keine Möglichkeit, diesen Verlust auszugleichen. Dieses Dogma wurde vor wenigen Jahren gestürzt, hauptsächlich aufgrund der Arbeit von Fred Gage und seinen Mitarbeitern am Salk-Institut (USA). Er konnte zeigen, dass das Gehirn durchaus Stammzellen beherbergt, die einige Areale des Gehirns erneuern können. Das führte zu einem Umschwung der öffentlichen Vorstellung und zum allgemeinen Eindruck, das gesamte Gehirn trage die Fähigkeit in sich, sich durch seine adulten Stammzellen jung und funktional zu erhalten. Dieser Eindruck ist jedoch ebenso falsch. Nur wenige Gebiete im Gehirn produzieren Stammzellen, die sich zu neuen Neuronen entwickeln können: eine UnterUntersektion des Hippocampus namens subgranulare Zone des Gyrus dentatus und ein Teil der subventrikulären Zone, wo Neuronen kreiert werden, die den Bulbus olfactorius (den Teil des Gehirns, der den Geruchssinn verarbeitet) versorgen. Es gibt Hinweise darauf, dass einige dieser Zellen versuchen, Gehirnareale zu reparieren, die von altersbedingten Krankheiten beschädigt wurden, doch es gibt kaum Beweise, dass sie viel ausrichten können. Nach einem Schlaganfall verändern beispielsweise einige der Stammzellen der subgranularen Zone ihr normales Verhalten und wandern zum Schadensgebiet, doch über 80 Prozent von ihnen sterben innerhalb weniger Wochen ab und die restlichen Zellen ersetzen nur rund 0,2 Prozent der Zellen, die von dem Vorfall zerstört wurden.2 Warum können wir Neuronen in manchen Teilen des Gehirns erneuern und in anderen nicht, wie in der Großhirnrinde, wo unsere Langzeiterinnerungen gespeichert werden, oder dem Frontallappen, wo unsere Fähigkeit verankert ist, Pläne für die Zukunft zu entwickeln und zu realisieren? Sehr wahrscheinlich, weil der Bulbus olfactorius und der Gyrus dentatus die einzigen Areale sind, wo die Evolution die

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Notwendigkeit für einen regelmäßigen Zufluss neuer Zellen innerhalb der »biologischen Garantiezeit« des Gehirns erkannt hat. Diese beiden Bereiche haben Kurzzeitfunktionen, die eine regelmäßige Erneuerung ihrer Zellpopulationen verlangen. Es gibt keine eingebaute Population adulter Stammzellen, um mit dem Zellverlust fertig zu werden, der aus den Verwüstungen des Alterns und altersbedingten neurologischen Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson resultiert. Wenn Sie sich Kapitel 3 in Erinnerung rufen, erkennen Sie, dass dies daran liegt, dass der Schaden – wenngleich diese Erkrankungen durch molekulare Schäden begründet sind, die im Laufe des Lebens entstehen – keinen Schwellenwert erreicht, an dem die Funktionalität genügend beeinträchtigt ist, um die darwinsche Fitness in einer kurzen, altsteinzeitlichen menschlichen Lebensspanne zu beeinflussen. Ein anderes Gewebe, in dem Zellen sterben und nicht von Natur aus ersetzt werden, ist der Thymus – ein zentrales Organ des Immunsystems, das Vorläuferzellen zu T-Zellen »ausbildet«. Seine Regeneration mittels Stammzellen ist in einem Frühstadium der Entwicklung, sodass sich noch nicht viel dazu sagen lässt. Es gibt jedoch in einer seltenen, aber sehr ernsten Erbkrankheit einen Machbarkeitsbeweis für dieses Konzept – siehe den Kasten »Den Thymus wiederherstellen«. Ich habe das Immunsystem im Allgemeinen und T-Zellen im Besonderen in Kapitel 10 ausführlich beschrieben, und Sie werden bei der Lektüre der Seitenleiste vielleicht darauf zurückkommen wollen.

Den Thymus wiederherstellen Die Aussichten, die Rückbildung des Thymus mit Stammzellen zu behandeln, sind anhand neuester Fortschritte in der Behandlung von Babys mit dem DiGeorgeSyndrom erkennbar – eine genetische Störung, deren Opfer mit einer Vielzahl von Defekten geboren werden, einschließlich einer unterentwickelten oder in manchen Fällen auch komplett fehlenden Thymusdrüse (letzteres ist unter dem Namen »komplettes DiGeorge-Syndrom« bekannt). Komplettes DiGeorge war bis jetzt oftmals ein recht kurzfristiges Todesurteil: Ohne die Fähigkeit zur Produktion von T-Zellen sterben diese Babys wenige Monate nach Verlassen des Mutterleibs an Infektionen, die für uns harmlos sind. Die offensichtliche Lösung des Problems eines fehlenden Thymus ist die Transplantation, doch das ist ein kniffliges Unterfangen: Um richtig zu funktionieren, braucht das Gewebe eine sehr gute Blutversorgung und hohe Sauerstoffsättigung, was ohne die natürliche Durchdringung mit winzigen Blutgefäßen schwer zu erreichen ist. Außerdem gab es lange Zeit Abstoßungsprobleme und Transplantatgegen-Wirt-Reaktionen: Perverserweise verwandeln sich einige der Knochenmarkzellen des Kindes manchmal »spontan« in fehlgeleitete T-Zellen, die weder die eigenen Antigene des Kindes noch das Thymusgewebe des Spenders erkennen. Das führt zu einer grausamen Attacke auf beide, die das Kind normalerweise tötet. Darüber hinaus attackieren die T-Zellen des Spenders oftmals das Fremdgewebe des Transplantat-Empfängers in einem gleichermaßen tödlichen, wechselseitigen Angriff.

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Chirurgen und Immunologen der Duke-Universität entwickelten kürzlich ein Protokoll, das sehr dünne Gewebescheiben nutzt, um einen maximalen Sauerstofftransfer sicherzustellen. Diese werden in den Oberschenkel des Kindes eingepflanzt, um eine reichliche, leicht zugängliche Blutversorgung zu gewährleisten. Hinzu kommt ein neues immun-unterdrückendes Medikament, das speziell auf T-Zellen abzielt. Der Eingriff ist noch experimentell, wurde aber durch neue Innovationen immer besser und scheint mittlerweile relativ erfolgreich zu sein. In einem Bericht aus dem Jahr 2004 berichtet das Duke-Team, dass mit der neuen Therapie fünf von sechs Patienten nach 15 bis 30 Monaten noch am Leben sind, was eine enorm verbesserte Überlebensrate darstellt. Wenn wir, statt Transplantate mit Fremdgewebe zu nutzen, die eigenen Stammzellen des Kindes verwenden und diese dazu bringen könnten, sich in Thymuszellen zu entwickeln, um sie anschließend einzupflanzen, wäre die riskante Immun-Unterdrückung nicht mehr notwendig. Wenn wir diese Zellen dann noch dazu animieren könnten, in einem Gerüst zu wachsen, in welchem wir eine komplexe Organstruktur entwickeln könnten, einschließlich einer eigenen Blutversorgung, dann könnten wir den höchst unbefriedigenden Organersatz mit einer hauchdünnen Gewebeschicht zugunsten eines echten Organ-»Transplantats« ersetzen. Wir werden das DiGeorge-Syndrom damit vielleicht nie behandeln können, weil wir einfach nicht genug Zeit haben – doch wenn ein Fremdgewebe-Implantat lebensfähige T-Zellen hervorbringen kann und die Überlebenschancen von Babys, die ohne Thymus geboren werden, erhöht, dann sehe ich gute Aussichten dafür, die eigenen Zellen eines Menschen, die dazu angeleitet wurden, zu T-Zellen zu werden und, wenn notwendig, sich zu einem komplexeren Gewebe zu entwickeln, in ein bestehendes, aber verkümmertes Organ zu bringen, um seine jugendliche Funktionalität wiederherzustellen.

Gleichermaßen gibt es im Herz Zellen, die einige Wissenschaftler als »Herzvorläuferzellen« oder Ähnliches bezeichnet haben. Doch während diese Zellen im Reagenzglas dazu gebracht werden konnten, einige molekulare Merkmale von Stammzellen auszuprägen, konnten sie noch nicht dazu gebracht werden, im Körper Herzzellen zu bilden. Tatsächlich haben einige eng verwandte Stammzellen, die an anderen Stellen im Körper vorkommen (mesenchymale Stammzellen), die gleichen Merkmale, können aber definitiv keine Herzzellen werden. Was auch immer letztendlich der Grund ist, wir wissen, dass weder diese noch andere Zellen im Körper einspringen, um den massiven Schaden zu beheben, der während eines Herzinfarkts durch den Sauerstoffmangel am Herzmuskel entsteht – wie jeder Kardiologe oder Herzinfarktpatient unglücklicherweise bestätigen kann. Der Grund dafür liegt abermals in den kalten statistischen Analysen, die von der natürlichen Auslese, nach Generationen genetischer Glücksspiele in einer prämodernen Umgebung, wirksam angewendet wurden: Herzinfarkte töten keine 20-Jährigen, also lohnt sich nach den Berechnungen der Evolution die Entwicklung eines Reparatursystems nicht, das fast nie genutzt werden wird, bevor sein Inhaber an etwas anderem stirbt.

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Zu Beginn der politischen Debatte um embryonale Stammzellen veröffentlichten einige sehr anerkannte Labore Berichte über ESZ-artige Flexibilität adulter Stammzellen – über blutbildende Zellen, die sich spontan in Leber- und Hirnzellen verwandelten, und vielleicht am vielversprechendsten über Zellen, die in die Herzen von Ratten injiziert wurden, die simulierten Herzinfarkten ausgesetzt waren und neues Herzmuskelgewebe bildeten, was die Funktionalität des Organs wiederherstellte. Diese Berichte wurden so ernst genommen, dass mehrere Gruppen frühe klinische Studien am Menschen durchführten, in denen Stammzellen aus dem Knochenmark von Herzinfarktopfern gewonnen und anschließend in ihr verwüstetes Herzgewebe injiziert wurden. Unabhängige Labore konnten diese Behauptungen jedoch nicht bestätigen. Stattdessen könnten die Zellen tatsächlich in das fragliche Gewebe eingegliedert worden sein, dabei jedoch mit den bestehenden Zellen fusioniert haben.3 Es mag sich ein begrenzter Nutzen daraus ergeben: Der Verschmelzungsprozess kann die überlebenden Zellen im beschädigten Gewebe unterstützen, entweder durch die Ausscheidung von während der Reparatur notwendigen Wachstumsfaktoren oder indem er neuen Blutgefäßen dabei hilft, in das Gewebe hineinzuwachsen. 4 Wenngleich solche Maßnahmen eine auseinanderfallende Pumpe eine kurze Weile länger schlagen zu lassen vermögen, sind sie doch kein Ersatz für den tatsächlichen Wiederauf bau des Herzgewebes. Das gilt sowohl für Herzinfarktopfer wie auch für alternde Menschen, deren Herzen wir verjüngen wollen. Tatsächlich veröffentlichte das New England Journal of Medicine kürzlich die Ergebnisse der ersten Versuche, humane Herzinfarktopfer mit Knochenmarkstammzellen zu behandeln, die umfangreich genug waren, um aussagekräftige Informationen über tatsächliche klinische Auswirkungen in den Patienten zu liefern (anstatt nur Sicherheitsdaten und erste Erfahrungsberichte von Ärzten und Patienten). Einer dieser Versuche5 konnte keine Verbesserungen feststellen und die anderen beiden6 berichteten, was das Editorial des Journal zusammenfassend als »kleine, [statistisch] signifi kante, aber klinisch ungewisse Verbesserungen«7 bei den behandelten Patienten beschrieb, verglichen mit denen, die Scheininjektionen erhielten. Es gab weder Beweise dafür noch dagegen, dass sich die Zellen tatsächlich in Herzmuskelzellen verwandelten, doch die oben erwähnten Tierversuche haben frühere Hoffnungen einer derartigen Wirkung zu diesem Zeitpunkt zerschmettert. Vergleichen wir diese schwachen Effekte mit den Ergebnissen einer Tierstudie, bei der embryonale Stammzellen verwendet wurden, um einen induzierten Herzinfarkt zu behandeln. 18 Schafe wurden einem solchen Anschlag ausgesetzt, und ihr Zustand verschlechterte sich danach zwei Wochen lang. Während dieser Zeit ernteten die Wissenschaftler ESZ und manipulierten sie derart, dass sie sich in Herzmuskelstammzellen verwandelten. Bevor die embryonalen Stammzellen ihre Entwicklung vollendet hatten, pflanzten die Forscher bei der einen Hälfte der Gruppe diese Zellen in die Herzen ein, während in der Vergleichsgruppe die verbleibenden neun Tiere weiter in die Invalidität abglitten.

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Abbildung 1: Wiederherstellung der Pumpfähigkeit des Herzens durch embryonale Stammzellen. V.o.n.u.: (a) Kontrollen vs. ESZ-Empfänger. (b) Kontrollen, ESZ plus immunosuppressive Medikamente und ESZ allein. (Neudarstellung nach Originalbericht.)8

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0 2 Wochen nach Infarkt, aber vor Transplantation

1 Monat nach ZellTransplantation

2 Wochen nach Infarkt, aber vor Transplantation

Kontrollen

1 Monat nach ZellTransplantation

ESZ-transplantiert

Veränderung der Herzpumpfunktion (%)

10

5

0

-5

-10

Kontrollen

ESZ + Immunsuppressivum

ESZ alleine

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Waren die Vorzüge adulter Stammzellen fragwürdig, so konnte der heilende Einfluss von ESZ nicht angezweifelt werden (siehe Abb. 1a). Die Zellen setzten sich in den beschädigten Herzen fest und es konnte gezeigt werden, dass sie sich in reife Herzzellen umwandelten, und die Tiere erlebten eine dramatische Erholung. In den zwei Wochen, in denen ihre Artgenossen die ESZ-Behandlung bekamen, hatten die Herzen der Kontrollgruppe ein zusätzliches Zehntel ihrer Fähigkeit, Blut zu pumpen, verloren. Zum Vergleich: Tiere, die die Stammzellen fürs Herz bekommen hatten, erlebten eine 6,6-prozentige Verbesserung der Pumpkapazität. Vertieft man sich in die Details der Studie, so findet man noch mehr Anlass zum Optimismus hinsichtlich des Potentials der ESZ für Herztherapien. Einerseits begannen die Wissenschaftler in dieser Studie erst zwei Wochen nach dem Herzinfarkt der Tiere mit der Behandlung ihrer Herzschäden, und in diesem Zeitraum ließ die Pumpfähigkeit der Tierherzen am meisten nach. Frühe Eingriffe, ob mit Stammzellen oder selbst mit konventionellerer Medizin, hätten vielleicht einen Großteil dieses Verfalls vermeiden und potentiell zu viel besseren Resultaten nach der ESZ-Behandlung führen können. Zweitens stammten die in dieser Studie verwendeten ESZ nicht einmal vom Schaf, sondern von Mäusen – ein wichtiger Punkt, auf den wir später zurückkommen werden. Während die Zellen ihre Aufgabe eindeutig erfüllten – sich in Herzzellen zu entwickeln, sich mit dem nativen Gewebe zu vereinigen und die Funktion des tierischen Herzens maßgeblich wiederherzustellen –, scheint es dennoch plausibel anzunehmen, dass Zellen der eigenen Spezies bessere metabolische und funktionale Übereinstimmung erzielt hätten und damit auch bessere Ergebnisse. Und drittens verbirgt die durchschnittliche Verbesserung in der ESZ-behandelten Gruppe eine äußerst positive Änderung in der Reaktion auf ESZ innerhalb der Gruppe. Weil ihre Immunsysteme die von Mäusen gewonnenen ESZ eventuell abstoßen und das Experiment scheitern lassen könnten, wurden fünf der neun behandelten Tiere immun-unterdrückende Medikamente verabreicht. Wie sich zeigte, waren die Medikamente unnötig: Die Forscher untersuchten nach dem Ende der Studie Herzschnitte von allen Tiere, und es gab keine Hinweise auf Entzündungen oder Angriffe von Immunzellen in den Herzen der Tiere, denen ESZ verabreicht wurden, unabhängig davon, ob ihnen immunosuppressive Medikamente verabreicht wurden oder nicht. Das allein sind schon gute Nachrichten, doch es sollten noch bessere folgen. Die erwähnte 6,6-prozentige Erholung der Herzpumpfähigkeit bei ESZ-behandelten Tieren war ein aggregiertes Resultat aus Tieren, die immunosuppressive Medikamente bekamen und solchen, denen diese nicht verabreicht wurden. Als die Forscher die Ergebnisse daraufhin aufschlüsselten, fanden sie heraus, dass die immununterdrückten Tiere tatsächlich schwächer auf die ESZ-Behandlung reagiert hatten als jene, deren Immunsystem ungestört seine Aufgabe erledigen konnte. Bei den Schafen in der reinen ESZ-Gruppe heilte 25 Prozent mehr Narbengewebe von ihren ursprünglichen Herzinfarkten als bei den medikamentös behandelten Tieren, und ihre Herzen erlangten mehr als doppelt so viel Pumpfähigkeit zurück: ein ungefähr neunprozentiger gegenüber einem knapp vierprozentigen Gewinn (wie gesagt verglichen mit einem 9,9-prozentigen weiteren Verlust an Funktionalität bei Tieren, denen keine ESZ verabreicht wurden – siehe Abb. 1b).

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Wenn es also um die Chancenbewertung von ESZ für den Einsatz am Menschen geht, sollten wir die aussagekräftigeren Resultate betrachten, die die reinen ESZ-Verfahren hervorgebracht haben, anstatt die schwächeren Ergebnisse aus der Vermengung dieser Tiere mit jenen, die Immunosuppressiva verabreicht bekommen haben. Nachdem diese Studie veröffentlicht wurde, wurde der erste direkte Vergleich einer ESZ- gegenüber einer adulten Stammzelltherapie bei Herzschäden ähnlich denen bericht, die infolge eines Herzinfarkts zu beobachten sind. Die Ergebnisse zeigten eindeutig die Überlegenheit der ESZ, die sich in Herzmuskelzellen verwandelten, eine langfristige Einbindung in das Herzgewebe der Tiere erreichten und die Herzfunktion der Tiere verbesserten, wohingegen die Knochenmarkstammzellen keine signifi kante Wirkung zeigten.9 Und das ist nur der Anfang der biomedizinischen Verheißungen dieser erstaunlich vielseitigen Zellen. Embryonale Stammzellen wurden eingesetzt, um einige der fürchterlichsten menschlichen Erkrankungen in Tierversuchen zu heilen, beispielsweise Jugenddiabetes, 10 Rückenmarksverletzungen, 11 Multiple Sklerose (MS), 12 Zerebralparese, 13 Schlaganfall,14 Parkinson,15 eine Lähmung, die durch ein Virus verursacht wird, das ein Standard-Mausmodell von ALS induziert, 16 und – vor kurzem – Makuladegeneration (die Form von Blindheit, die durch den Verlust lichtempfindlicher Zellen im Zentrum der Netzhaut des Auges hervorgerufen wird). 17 Dies sind alles Krankheiten, bei denen die native, adulte Stammzellreserve eines Menschen noch nicht einmal im Ansatz den von der Krankheit verursachten Zellverlust ausgleichen kann. Natürlich ist keine dieser Therapien klinisch erprobt – noch nicht. Doch es gibt allen Grund zur Annahme, dass sie unsere Fähigkeiten, diese Patienten zu behandeln, enorm verbessern werden. Die Ergebnisse vorläufi ger Studien am Menschen, bei der fötale Zellen oder aus Stammzell-Tumoren gewonnene Zellen (keine echten ESZ) zur Behandlung von Parkinson- und Schlaganfallpatienten genutzt wurden, geben beispielsweise großen Anlass zur Hoffnung, und man kann erwarten, dass sich die Situation mit dem Gebrauch echter Stammzellen nur verbessert. Außerdem bestätigte kürzlich eine Studie, in der ESZ in einem Affenmodell von Parkinson eingesetzt wurden, ihre Fähigkeit, sich in Dopamin produzierende Neuronen umzuwandeln, sich im entsprechenden Hirnareal festzusetzen und viele der Krankheitssymptome zu lindern.18 Wir leben in aufregenden Zeiten.

Warum wir sie brauchen Aufgrund des schier endlosen Potentials der ESZ als differenzierte Zellarten und aufgrund ihrer Fähigkeit, sich unbegrenzt zu vermehren (im Gegensatz zu adulten Stammzellen, deren Replikationsfähigkeit beschränkter ist), erkennt der wissenschaftliche Konsens das größere therapeutische Potential der ESZ verglichen mit dem adulter Stammzellen an. Natürlich gibt es auch therapeutische Anwendungen für adulte Stammzellen. Tatsächlich sind die einzigen stammzellbasierten Therapien, die derzeit klinisch erprobt werden, Dinge wie Knochenmarktransplantationen, die adulte Stammzellen eines Spenders oder aus dem Körper des Patienten verwenden. Doch die von sozial-konservativen Lobby-Gruppierungen oft wiederholte Be-

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hauptung, adulte Stammzellen könnten »70 Krankheiten« oder »mehr als 65 Krankheiten« behandeln, wurden zu Recht als »offenkundig falsch« bezeichnet, und die begleitenden Informationen auf der prominenten Webseite einer dieser Gruppierungen im zuvor erwähnten Editorial des normalerweise diplomatischen New England Journal of Medicine als »völliger Humbug«. Wie die Dinge stehen, verfügen lediglich embryonale Stammzellen über das notwendige Potential – sowohl hinsichtlich der Bandbreite benötigter Zellen als auch hinsichtlich der reinen Quantität an Zellen, die notwendig ist, um große Gewebetransplantate und in manchen Fällen sogar ganze Organe herzustellen –, um alte Körper zu verjüngen. Und wir werden sie brauchen. Zusätzlich zu den Zellen, die durch Herzinfarkte und neurodegenerative Krankheiten verloren gehen, verlieren wir kontinuierlich Gewebezellen – und die Funktionalitäten, die diese Zellen vermitteln. Parkinson ist beispielsweise das Ergebnis eines Verlusts von Neuronen im Gehirn, die Dopamin produzieren, ein chemischer Botenstoff, der für die Feinmotorik der Muskeln gebraucht wird. Eine klinische Diagnose erfolgt, wenn man etwa die Hälfte dieser Neuronen verloren hat und ihre Kontrolle so weit beeinträchtigt ist, dass Teile des Körpers ungewollte, rhythmische Schüttelbewegungen beginnen und sich das Gesicht in eine starre Maske mit ausdruckslosem oder sogar feindseligem Blick verwandelt. Doch wir alle verlieren aufgrund des Alterungsprozesses täglich Dopamin produzierende Neuronen. Menschen, die an Parkinson leiden, verlieren sie nur schneller und erreichen die klinische Schwelle früher. Ohne die Fähigkeit zur Erneuerung dieser Zellen werden wir alle irgendwann an dieser Krankheit leiden (wenn, wie es wieder einmal heißt, uns nicht vorher etwas anderes tötet). Und das passiert in unserem ganzen Körper, und nicht nur aus den intrinsischen Stoff wechselgründen, die man klar umrissen als »Altern« bezeichnet. Wir verlieren aufgrund molekularer Schäden, die durch die reaktiven Nebenprodukte des normalen Stoff wechsels entstehen, permanent und täglich Zellen. Und selbst wenn wir diese Schäden mit den vorhersehbaren Biotechnologien der SENS-Plattform beheben, müssen wir diese Verluste noch immer rückgängig machen, um Menschen zu kreieren, die nicht altern. Außerdem verlieren wir unsere Zellen auch aus anderen Gründen. Wir zerstören alle regelmäßig einige, nicht auf natürliche Weise ersetzbare Zellen durch kleinere Schläge auf den Kopf, in Momenten von Sauerstoff knappheit und bei der Apoptose (»programmierter Zelltod«) von Zellen, wenn der Körper spürt, dass sie mehr schaden als nutzen. Ob diese Zellverluste alle Teil des »Alterns« sind, sei dahingestellt, aber glücklicherweise ist das kein Thema, dem wir uns zuwenden müssen, um alte und dysfunktionale Körper zu voller Gesundheit und jugendlicher Funktionalität zurückzuführen. Diese fehlenden Zellen zu ersetzen wird ein wesentlicher Bestandteil der Anti-Aging-Biomedizin sein, unabhängig davon, was die Ursachen ihres Verlustes sind oder wie ihre begriffliche Beziehung zum »Altern« aussieht. Der progressive Zellverlust stellt eine Abweichung vom gesunden Ideal der Jugend dar, und daher sollte ein Anti-Aging-Ingenieur daran arbeiten, ihn zu reparieren – so wie sich jeder Ingenieur darum bemühen wird, eine Maschinerie wieder in den Zustand zu versetzen, in dem sie am besten funktioniert.

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Den Schlüssel zum Medizinschrank wegwerfen Erwachsene Menschen haben adulte Stammzellen, keine embryonalen: Wie gesagt, echte ESZ gibt es nur in den Blastozysten. Um also einen Vorrat an ESZ für den Einsatz als zelluläre Medizin zu bekommen, müssen solche Zellen irgendwie von Embryonen im Frühstadium abgeleitet werden. Glücklicherweise gibt es einen recht beachtlichen – und bislang nahezu unerschlossenen – Vorrat an derartigen Zellen, der bereits von einer existierenden Branche produziert wird: der In-vitro-Fertilisation (IVF) in Geburtskliniken. Die Chancen eines beliebigen IVF-Embryos, erfolgreich implantiert und anschließend ausgetragen zu werden, sind immer noch relativ gering. Somit erzeugen die Fruchtbarkeitskliniken routinemäßig mehrere Embryonen aus den Samen und Eiern der angehenden Eltern oder der Spender. So steht ihnen für mehrere Versuche ein Vorrat an Embryonen zur Verfügung, ohne dass sich die Frauen mehreren Runden der teuren, sehr unangenehmen und auch etwas gefährlichen Hormonbehandlungen unterziehen müssen, die notwendig sind, um ihnen Eizellen zu entnehmen. Typischerweise bleiben acht solcher Embryonen nach jeder IVF-Runde übrig, was dazu führt, dass im Jahr 2002 über 400.000 überzählige eingefrorene Embryonen allein in den amerikanischen Fruchtbarkeitskliniken aufbewahrt wurden. Mindestens 16.000 von ihnen wurden von keinem Spender beansprucht, weitere 45.000 hatten einen ähnlich unklaren Status19 und fast keiner der anderen wird jemals in Fruchtbarkeitsverfahren genutzt werden. Diese Embryonen werden letztendlich entsorgt oder verfallen so weit, dass sie jegliches Potential verlieren, zu einem Baby zu werden. Aus diesem Grund ist die Debatte über den Gebrauch von Embryonen aus Fruchtbarkeitskliniken für Ärzte und Wissenschaftler so frustrierend. Diese Embryonen werden in jedem Fall zerstört, egal was wir mit ihnen tun: Es gibt keine Chance, dass die große Mehrheit von ihnen jemals in einen Mutterleib eingepflanzt werden wird und die weiteren Entwicklungen erlebt, die notwendig sind, um ein Baby zu werden. Die Gegner der ESZ-Forschung und -Therapie haben vorgeschlagen, ihre Entsorgung durch Implantation in Freiwillige, die sie austragen und zur Adoption freigeben, zu verhindern. Doch selbst in diesem Szenario gibt es keine realistischen Aussichten, dass auch nur ein Prozent dieser Embryonen dem Mülleimer entgeht. Sobald sie geschaffen sind, ist das Schicksal jener Blastozysten, die nicht in eine Frau implantiert werden, besiegelt; die Frage ist nur, ob man Wissenschaftlern erlaubt, ihre Zellen zu Forschungs- und Heilungszwecken zu nutzen. Im Grunde ist das Einbringen dieser Zellen in die Abtreibungsdebatte viel künstlicher, als es klingen mag. Blastozysten sind ein so primitives Stadium in der Embryonalentwicklung, dass sie noch nicht einmal die biochemische »Entscheidung« getroffen haben, ein individuelles menschliches Wesen zu werden. Das ist einer der Gründe, warum sie die volle Flexibilität haben, jede Zelle des menschlichen Körpers zu werden – und auch, warum die Vermischung der Stammzelltechnologie mit der Abtreibungsdebatte in ethischer Hinsicht so fehlgeleitet ist. Zu diesem frühen Zeitpunkt kann sich ein Embryo beispielsweise noch in zwei separate Zellpopulationen teilen, wovon jede eine unabhängige, einzigartige Person werden kann. Tatsächlich passiert genau das, wenn identische Zwillinge entstehen. Weil dieser Zell-

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klumpen noch immer entweder ein, zwei, oder sogar mehr verschiedene Menschen werden kann, verkörpert die vereinigte Zellmasse, die dieser Teilung vorausgeht, eindeutig nicht die Identität, das Wesen oder die Seele eines einzigen, persönlichen Menschen. Und wenngleich wir uns in gerechtfertigter Ehrfurcht vor dem Potential des Lebens (oder der Leben), die in diesen Zellen schlummern, verneigen können, sollte das unsere ethische Sicht nicht derart verschleiern, dass wir dieses Potential moralisch in derselben Liga verankern wie die tatsächlichen Leben der Patienten, die diese Zellen, die am ehesten Hautzellen in einer Petrischale ähneln, medizinisch benötigen.

Die Nicodemus-Lösung So nützlich embryonale Stammzellen, die aus überschüssigen IVF-Embryonen gewonnen werden, auch sein mögen, haben sie doch einen potentiellen Nachteil hinsichtlich ihres medizinischen Gebrauchs. Zellen, die von solchen Embryonen stammen, werden den eigenen Zellen des Patienten per Definition immunologisch fremd sein. Das macht sie zu Angriffszielen des Immunsystems. Folglich könnten die gleichen Probleme, die derzeit die konventionelle Organtransplantation plagen – die Probleme der Abstoßung, Transplantat-gegen-Wirt-Reaktionen und die Gefahren, mit einem Immunsystem zu leben, das mit Medikamenten künstlich ausgeschaltet wurde, um das Transplantat zu erhalten –, auch bei embryonalen Stammzelltransplantaten auftreten. Bislang deutet die Beweislage darauf hin, dass es uns gelingen wird, diesem Problem in vielen Fällen mit wenigen Scherereien zu begegnen. Ein Großteil unseres Vertrauens diesbezüglich leitet sich aus neuesten Erfahrungen bei der Nutzung von ESZ zur experimentellen Behandlung verschiedener Krankheiten ab. Die meisten dieser Studien haben einfach angenommen, dass die Abstoßung ein Problem werden würde, und haben Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um dies zu vermeiden – entweder durch den Gebrauch von Tieren mit defekten Immunsystemen oder durch die Anwendung immunosuppressiver Medikamente. Unlängst wurden jedoch einige Studien mit ESZ durchgeführt, bei denen solche Schritte nicht unternommen wurden, und die Resultate suggerieren, dass es zumindest in einigen Fällen keinen Anlass zur Sorge gegeben hat. In der Herzinfarktstudie an Schafen, die ich zuvor erwähnt hatte, und auch in mehreren Nagetierstudien20 haben sich sogar ESZ, die einer anderen Spezies entstammen, in die nativen Gewebe des »Patienten« eingenistet und einen bedeutenden regenerativen Nutzen herbeigeführt, ohne Abstoßungsprobleme. Solche Ergebnisse könnten bedeuten, dass die ESZ in einem derart frühen und provisorischen Entwicklungzustand sind, dass sie sich selbst noch nicht einmal mit genug Antigenen unterscheiden, um ein Problem über die Artenbarriere hinweg zu sein – ganz zu schweigen von der Barriere zwischen einzelnen Menschen. Zudem scheint es inzwischen, dass ESZ ihre eigenen, sehr lokalen immunosuppressiven Signalmoleküle produzieren, die sie selektiv vor Angriffen des Immunsystems schützen und sogar jede angreifende Killer-T-Zelle dazu bringen, sich selbst zu zerstören (Apoptose).21 Weil diese Mechanismen entweder durch direkten Zell-zu-Zell-Kontakt

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wirken oder Faktoren, die sehr nah an den Stammzellen selbst ausgeschieden und wirksam werden, ist dieses System lokaler Immunabschirmung frei von den systemweiten Nebenwirkungen, die sich aus der Einnahme immunosuppressiver Medikamente ergeben. Mehr noch, in einigen spezifischen Anwendungen wird das Abstoßungsrisiko von vornherein gering sein, weil die Gewebe, in die wir die Zellen einführen werden, im Wesentlichen vom Immunsystem abgeschirmt sind. Ein großer Teil des Nervensystems ist beispielsweise weitgehend vor Immunangriffen geschützt (weshalb sich das Virus, das Gürtelrose verursacht, jahrelang verstecken kann, nachdem es vom Rest des Körpers eliminiert wurde). Wir können das Abstoßungsrisiko auch verringern, indem Patienten mit ESZ aus Isolaten (»Linien«) versorgt werden, die in allen größeren involvierten Antigenen übereinstimmen. In vielen Fällen wäre dies ein Leichtes, wenn es uns erlaubt wäre, unsere Stammzelllinien aus den Embryonen auszuwählen, die derzeit zur Vernichtung vorgesehen sind. Rechnungen ergaben, dass ein Pool von nur 150 Spender-Embryonen, die zufällig aus dem bestehenden Vorrat ausgewählt wurden, dies bei einem von fünf Patienten perfekt machen könnte, bei fast zweien von fünf eine wahrscheinlich brauchbare Übereinstimmung und bei fast 85 Prozent der potentiellen Patienten eine spekulative Übereinstimmung erlauben würde. Und wenn wir in der Lage wären, bestimmte immunologische Kombinationen aus dem Überschuss auszuwählen, anstatt nur zufällig Embryonen herauszugreifen, könnten bloß zehn solcher Spenden erstklassige Lösungen für fast 40 Prozent der Patienten bieten und für mehr als zwei Drittel gute Übereinstimmungen.22 Aber wir können die Möglichkeit noch nicht ausschließen, dass die Abstoßung vielleicht ein Hindernis für unseren effektiven Einsatz von ESZ in der Humanmedizin gegen das Altern und Krankheiten darstellt. In diesem Fall besteht die gute Nachricht darin, dass es eine Technologie gibt, die es uns bereits erlaubt, embryonale Stammzellen zu erzeugen, die eine perfekte immunologische Übereinstimmung für so komplexe Tiere wie Rinder und Affen sind, und verschiedene wissenschaftliche Gruppen behaupten, sie stünden kurz davor, das gleiche für Menschen tun zu können. Ich habe es bereits erwähnt: somatischer Zellkerntransfer (SCNT). Dabei entnehmen Ärzte dem Körper des Patienten eine vollentwickelte Zelle (eine »somatische Zelle«), zum Beispiel per Wattestäbchen aus der Wange, und drehen dann ihre Uhr zurück, befreien sie aus den Fesseln ihrer erwachsenen, differenzierten Komplexität und transformieren sie in eine patientenspezifische embryonale Stammzelle. Dieses biologische Wunder wird durch eine unglaublich einfache Methode ermöglicht. Die Metamorphose vollzieht sich in einer Eizelle, die von einem Spender zur Verfügung gestellt wird. Der Kern dieser Zelle wird entfernt, um Platz für jenen aus der Zelle des Patienten zu machen. Durch einen biochemischen Anreiz oder einen Funken von Elektrizität vereinigen sich die beiden und das Ei beginnt sich zu teilen, so als wäre es befruchtet worden. Dadurch startet die Produktion embryonaler Stammzellen voll durch, die aus den eigenen genetischen Instruktionen des Patienten kreiert werden und eine perfekte immunologische Übereinstimmung schaffen (siehe Abb. 2). Die Zellen können dann für medizinische Zwecke genutzt werden, so wie jede andere ESZ, doch ohne jede Gefahr der Abstoßung.

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Sie haben vielleicht schon längst von dieser fortgeschrittenen biomedizinischen Forschung gehört, jedoch unter einem Namen, der in den Medien populärer ist: therapeutisches Klonen. Dieser Begriff ist in wissenschaftlicher Hinsicht zwar absolut korrekt, hat aber eine enorme Verwirrung über das Wesen und den Zweck von SCNT gestiftet und politisches Napalm auf die glühenden Feuer geschüttet, die in den sich mit Stammzellen beschäftigenden Parlamenten und Chatrooms brennen. Lassen Sie mich versuchen, diese Flammen zu löschen. Abbildung 2: Wie SCNT (»therapeutisches Klonen«) funktioniert. Patient

Somatische Zellbiopsie

Nukleärer Transfer

Entkernte Spender-Oozyte

Embryonale Stammzellen

Pankreasinselzellen

Blutstammzellen

Herzmuskelzellen

Neuronen

Leberepithelzellen

Immunologisch kompatibles Transplantat

Für einen Wissenschaftler bedeutet das Wort »Klon« lediglich eine Linie von Genen, Zellen oder Organismen, die auf der DNA-Ebene identisch sind, weil sie von einem einzelnen Vorfahren abstammen. Wir haben den Begriff in diesem präzisen wissenschaftlichen Sinn in der »klonalen Expansion« von T-Zellen genutzt und in den »monoklonalen Antikörpern«, die derzeit genutzt werden, um einige Krebsarten zu behandeln, und die vermutlich Teil unserer Palette von Ingenieurslösungen hinsichtlich des Alterns sein werden. Der Begriff wird ähnlich verwendet, wenn Wissenschaftler von einem »Klon« gewöhnlicher Bakterien sprechen, der ein Gen beinhaltet, das sie in winzige biologische Fabriken verwandelt, die Insulin für Diabetiker produzieren, oder auch, wenn Gärtner von einem »Klon« einer Erdbeerpflanze sprechen. Doch sprechen Sie mal über »Klone« und Sie beschwören sogar bei hoch gebildeten Menschen, die nicht in ein paar wenigen Disziplinen der Biologie und Biomedizin tätig sind, Bilder einer Flut von ununterscheidbaren, zombie-artigen Drohnen herauf, die Sklaven von Technokraten sind oder für andere dunkle Zwecke geschaffen wurden. Dass diese Verwirrung die Debatte über dieses potentiell lebensrettende Verfahren korrumpiert, wird an einer Rede vor dem kanadischen Parlament vom 27. Februar 2003 offenbar, die während der Debatten um die kanadische Gesetzgebung

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zur Regulation der Stammzellforschung gehalten wurde. James Lunney, ein konservatives Mitglied des Parlaments der Region Nanaimo-Alberni auf Vancouver Island (Kanada), begann mit den Worten: »Wenn wir eine Zelle [des Parlamentssprechers] nähmen, den Kern extrahierten und in eine Eizelle einfügten, könnte man sie elektrisch stimulieren und sie so wachsen lassen.« So weit, so gut. Doch dann steigerte sich Herr Lunney in ein groteskes, aber allzu häufiges Missverständnis: »Das so genannte therapeutische Klonen würde dem unreifen Modell des Herrn Sprecher bei Bedarf ein Organ entnehmen und den Klon dabei töten. Das ist der so genannte somatische Zellkerntransfer oder therapeutisches Klonen.« Ähnlich haarsträubende Verwirrungen wurden im Verlauf der Stammzelldebatte auf den Fluren des US-Kongresses und anderswo verlautbart. SCNT hat überhaupt nichts mit der Erschaff ung menschlicher »Klone« zu tun. Es geht um die Erzeugung von Blastozysten – Zellklumpen, die, wie wir gesehen haben, noch nicht einmal die notwendigen Schritte vollzogen haben, um sich zu entscheiden, ob sie ein, zwei oder mehr Menschen werden wollen. Es stimmt, dass diese Blastozysten prinzipiell genutzt werden könnten, um Babys zu erzeugen. Dazu müssten sie in eine Frau implantiert werden, so wie dies mit durch IVF erzeugten Blastozysten geschieht. Dies ist jedoch eine Möglichkeit und keine Tatsache. Wenn Blastozysten durch SCNT für therapeutische Zwecke geschaffen werden, wird kein Ei von einem Samen befruchtet; keine neue, einzigartige DNA-Identität wird geschaffen; kein Embryo wird in den Uterus verpflanzt; es kommt zu keiner Schwangerschaft. Biomedizinische SCNT schaff t zelluläres, aber kein menschliches Leben: erneuerte Zellen, aber keine neuen Menschen. Sie haben ganz sicher keine Organe, die wir ernten könnten – darunter auch, ganz wichtig, kein Gehirn, noch nicht einmal die Anfänge von Nervenzellen. Wir »töten« eine durch SCNT produzierte Blastozyste, wenn wir aus ihr Stammzellen gewinnen, ebenso wenig, wie wenn wir einen Behälter voller sich replizierender Hautzellen »töten«, die wir am Ende eines Experiments entsorgen. Im Grunde wäre SCNT die Basis für Therapien, die Menschen mit ihren eigenen Zellen heilen, die durch die Kraft der stimulierten menschlichen Eizelle wieder zu dem Potential erweckt wurden, über das sie in den ersten Momenten ihrer Existenz verfügten. Da sie von der patienteneigenen DNA abstammen, bieten SCNT-Zellen eine exakte genetische Übereinstimmung zu denen in Ihrem Körper und werden vom Immunsytem wie »eigene« behandelt.23 Zu welchen Ergebnissen weitere Forschungen mit ESZ, die überschüssigen IVF-Embryonen entstammen, auch immer kommen mögen: SCNT-Zellen bieten praktisch eine Garantie gegen das Gespenst der Abstoßung, Transplantat-gegen-Wirt-Reaktionen und einer lebenslangen Einnahme giftiger immunosuppressiver Medikamente. In vorbereitenden, präklinischen Studien haben die neuen regenerativen Kräfte von Zellen, die aus SCNT gewonnen wurden, ihre Verheißungen bereits gezeigt. In Tierversuchen wurde SCNT-Medizin bereits genutzt, um viele der verheerenden Krankheiten zu heilen, für die Behandlungen für den Menschen erst noch gefunden werden müssen, beispielsweise Parkinson, 24 Herzinfarktschäden25 und das tierische Äquivalent zum »Bubble Baby«-Syndrom (SCID). Sie retteten nicht nur Tierkinder, sondern voll entwickelte, adulte Organismen, die das ganze Leben an dieser Krank-

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heit gelitten hatten.26 Wie wir gesehen haben, bewirkten die ESZ, die konventioneller hergestellten Blastozysten entnommen wurden, einige der gleichen Wunder – doch einige dieser Studien legen nahe, dass SCNT noch einige Vorzüge bietet, selbst wenn keine Abstoßung stattfindet. Und tatsächlich unterschätzen die Resultate das therapeutische Potential von SCNT tendenziell, denn in diesen Studien haben die Wissenschaftler die Zellen nicht jedem Tier einzeln entnommen, um eine perfekte Übereinstimmung zu erzielen (wie wir es beim Menschen täten), sondern sie haben eine Zelllinie genommen, um eine ganze Kolonie naher Verwandter zu behandeln. In der Parkinson-Studie beispielsweise hatten die Forscher die von SCNT abgeleiteten Zellen dazu gebracht, Neuronen zu produzieren, die in verschiedenen Bereichen des zentralen Nervensystems eingesetzt werden können (Vorderhirn, Mittelhirn, Hinterhirn und Rückenmark) und für eine breite Palette von Funktionen zuständig sind. Einige waren von der Art, die den Neurotransmitter Dopamin produziert, der zur Kontrolle der Feinmotorik gebraucht wird. Wie ich erwähnt habe, verursacht der Verlust dieser Zellen die Parkinson-Krankheit. Andere Zellen sind hauptsächlich für einen anderen Neurotransmitter namens Cholin zuständig, dessen Verlust ein Merkmal der Alzheimer-Krankheit ist. Es gelang ihnen auch, Zellen abzuleiten, die andere Neurotransmitter im Gehirn absondern (Serotonin und GABA), die bewegungskontrollierende Signale vom Rückenmark zu den Muskeln leiten (und deren Degeneration zentrales Merkmal von Motoneuronen-Krankheiten ist); und die als »Unterstützungs«-Zellen für die eigentlichen Neuronen agieren, diese nähren und schützen. Dies war eine viel größere Palette reifer Zellen, als jemals zuvor erfolgreich aus früheren ESZ-Versuchen gewonnen wurden. Das Team testete diese Zellen dann in an Parkinson leidenden Nagetieren (deren Dopamin produzierende Zellen durch einen Giftstoff auf weniger als ein Drittel der gesunden Menge reduziert worden waren) und verglich ihre Wirkungen mit ESZ, die auf konventionelle Weise gewonnen worden waren. Dopamin produzierende Neuronen bildeten – mit beiden Verfahren – solide, stabile Transplantate und verbesserten das Verhalten der Empfänger, und es gab in beiden Fällen keine Anzeichen von Abstoßung. Doch wenngleich die aus SCNT gewonnenen Zellen den Verwandten der Empfängertiere entstammten statt ihren eigenen, individuellen Körpern, funktionierten diese Zellen besser als konventionelle ESZ-Zellen, bildeten größere Gewebestrukturen in ihren Gehirnen, von welchen acht Wochen nach dem Eingriff doppelt so viele transplantierte Nervenzellen überlebten, und die Gewebe-Areale beinhalteten am Schluss über 50 Prozent mehr Dopamin produzierende Neuronen. Und es schien so, als wären sie auch hinsichtlich ihrer Wiederherstellungsfunktion etwas wirksamer. Weil der ganze Schaden nur einer Seite des Gehirns zugefügt wurde, verursachte die chemische Stimulation der verbleibenden Dopamin produzierenden Zellen im Gehirn ein Bewegungsungleichgewicht, sodass die größere Zahl intakter Zellen auf der einen Seite des Gehirns stärkere Signale an die von ihnen kontrollierten Beine aussendete als die beschädigte Seite. Die Tiere begannen folglich nach einer Seite hin auszuscheren, wie ein Einkaufswagen mit einer beschädigten Rolle. Dieses »Rotationsverhalten« ist ein entscheidender Funktionstest des beschädigten Gehirnteils. Wurden diese Tiere mit Dopamin produzierenden Zellen behandelt, die entweder aus konventionellen ESZ oder aus SCNT-ESZ hergestellt wurden,

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reduzierten sie diese anomale Bewegung um mehr als 70 Prozent – und es gab Hinweise, dass die aus SCNT gewonnenen Zellen effektiver waren (siehe Abb. 3). Abbildung 3: Embryonale Stammzellen und vor allem aus SCNT abgeleitete Zellen normalisieren die Bewegungen in einem Parkinson-Modell.

Rotationen/min. (Parkinson-Symptom-Bewertung)

18

Rotationen/min. (Parkinson-Symptom-Bewertung)

Stimulus 1

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Placebo

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SNT ESZ

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ESZ

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Zeit nach der Transplantation (Wochen)

Stimulus 2 16 14

Placebo

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SNT ESZ

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Zeit nach der Transplantation (Wochen)

Aufgrund der großen Bandbreite von Neuronen und unterstützenden Zellen, die durch diese Protokolle hergestellt wurden, glauben die beteiligten Forscher, dass ihre Methode auch zur Behandlung von Multipler Sklerose und anderen »demyelinisierenden« Krankheiten (wo die für die korrekte Funktion der Neuronen notwendige Myelinscheide beschädigt oder zerstört ist), der Chorea Huntington, der Amyotrophen Lateralsklerose (Lou-Gehrig-Syndrom) und anderen motoneuronalen Krankheiten genutzt werden könnte. Es bleiben technische Hürden, die bei der Entwicklung von SCNT überwunden werden müssen, doch die theoretischen Einwände gegen ihren letztlichen Einsatz in der Humanmedizin schwinden stetig. Zum einen gab es Bedenken wegen der Mitochondrien in diesen Zellen, und zwar aus folgendem Grund: SCNT erfolgt, indem die DNA in einer Eizelle durch die DNA des Patienten ersetzt wird, doch die

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eigenen Energiefabriken des Eis, die weiter Energie liefern, bleiben dabei zurück. Folglich waren viele Forscher besorgt, dass die entstehenden Zellen aufgrund einer Nichtübereinstimmung zwischen diesen Mitochondrien (die ursprünglich aus der nukleären und mitochondrialen DNA des Eispenders geschaffen wurden) und der letztlichen Zelle funktionsgestört wären, oder dass der Körper des Patienten die Zellen, lediglich aufgrund der immunsensitiven Teile der transplantierten Mitochondrien, abstoßen könnte. Derzeit sieht es jedoch nicht so aus, als würde uns diese mitochondriale Nichtübereinstimmung Probleme bereiten. Abgesehen davon, dass diese Zellen in Studien bislang ohne ein Zeichen der Abstoßung erfolgreich in die Körper der Patienten-Tiere integriert wurden, fand eine sehr sorgfältige Studie – die bis auf einzelne Proteine runterging, die genutzt werden, um mitochondriale »Fremdheit« zu erkennen – heraus, dass diese Zellen nach allen verfügbaren Kriterien als vollständig nativ akzeptiert wurden. Es gibt ähnliche Bedenken, dass die »Epigenetik« von SCNT-Zellen – das »Baugerüst«, das die Gene im DNA-Code umgibt und die Expression dieser Gene reguliert – abnorm sei und zu Krebs oder Fehlfunktionen führe. Wenngleich das ein Problem beim Einsatz von Embryonen war, die durch die nukleäre Transfertechnik zur Erschaff ung geklonter Tiere gewonnen wurden, schien dies SCNT-Stammzellen bisher nicht an ihrer korrekten Funktion zu hindern, wenn sie zur Behandlung in Tiere implantiert wurden. Und tatsächlich berichteten Wissenschaftler vom Whitehead Institut für Biomedizinische Forschung in Cambridge, Massachusetts (USA), Anfang 2006, dass aus SCNT gewonnene Stammzellen identische Muster bei der Transkription und Umwandlung in Proteine aufweisen wie ESZ, die durch konventionelle Befruchtung vom Typ IVF gewonnen wurden. Etwaige Unterschiede waren dabei allein auf die genetischen Unterschiede zwischen den Spender-Tieren zurückzuführen und nicht auf den involvierten Zelltyp.27 Darüber hinaus scheint es so, dass der eigentliche Prozess der Gewinnung von Stammzellen aus SCNT-Blastozysten gezwungenermaßen eine Art »Überleben des Stärkeren«-Druck auf baut, worunter epigenetisch unpassende Zellen unter ihrer eigenen Dysfunktionalität kollabieren. Dies erklärt vielleicht zu einem großen Teil, warum es so schwierig ist, eine hohe Ausbeute solcher Zellen aus einer Blastozyste zu gewinnen. Das könnte denjenigen vor Probleme stellen, der den Nukleartransfer nutzen möchte, um einen Menschen zu klonen (ein Punkt, der an sich diejenigen aufatmen lassen sollte, die sich um den Einsatz dieses Verfahrens hierfür sorgen), doch es scheint, dass epigenetische Probleme den Einsatz von SCNT zu medizinischen Zwecken nur erschweren, ihren sicheren und wirksamen Einsatz aber nicht verhindern werden. Eine weitere offene Frage ist, woher wir all die Eier bekommen, die nötig sind, um SCNT großflächig als Anti-Aging-Therapie einzusetzen. Das Angebot ist durch die Anzahl Frauen beschränkt, die bereit sind ihre Eier zu spenden. Die notwendigen Hormonbehandlungen und die mäßig-invasiven Eingriffe werden die Anzahl solcher Frauen wohl noch für einige Zeit gering bleiben lassen. Viele Menschen äußern auch ethische Bedenken, wenn es darum geht, finanzielle oder andere Anreize zu schaffen, um mehr Spenderinnen zu werben – besonders für eine Prozedur, die nicht ohne Risiko ist. Selbst das kann jedoch auf technologischer statt auf soziopolitischer Basis über-

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wunden werden. Eine Option bestünde darin, Eier einer anderen Spezies zu nehmen. Ein solches Verfahren wäre nicht ohne technische Hürden: Besonders die Existenz von Mitochondrien in solchen Eiern, die nicht nur von einer anderen Person stammen, sondern von einer anderen Spezies, könnte dafür sorgen, dass die Zellen keine Energieversorgung auf bauen und aufrechterhalten könnten. Mit meinem Hintergrund in mitochondrialer Biologie schlug ich kürzlich eine Lösung für dieses Problem vor, sollte es denn aufkommen.28 Mein Ansatz führt dazu, dass die Mitochondrien der letztendlichen ESZ aus dem etwaigen Empfänger der Zellen gewonnen werden, wie der Zellkern, sodass es auch das oben erwähnte mitochondriale Problem innerhalb einer Spezies vermeidet. Eine andere Alternative wäre eine Massenproduktion von Eizellen mittels Biotechnologie aus gebräuchlicheren Zellarten wie der Haut. Kanadische Forscher berichteten kürzlich,29 dass sie Hautzellen von Schweineföten genutzt haben, um Zellen herzustellen, die Eizellen sehr ähnlich sehen – basierend auf Genexpressionsmustern, der Zellstruktur und einigen funktionalen Fähigkeiten. Ob diese Zellen die volle Funktionspalette von Eizellen aufweisen, bleibt noch abzuwarten, aber sie – oder entwickeltere Versionen von ihnen – könnten dieselbe Fähigkeit wie herkömmliche Eier haben, die Uhr in reifen somatischen Zellen zurückzudrehen. Das würde bedeuten, dass wir ein nahezu unbegrenztes Reservoir an Eiern biotechnisch herstellen könnten: humanes fetales Hautgewebe, das 19 Milliarden solcher Zellen pro Quadratzoll aufweist. Ein derart großes Vorkommen würde es uns erlauben, die Verstrickungen auf den Schlachtfeldern der Kulturkriege zu vermeiden – wenn wir uns nur über den Gebrauch von Gewebe aus Totgeburten, statt aus Abtreibungen, einigen könnten.

Eingefrorene Embr yonen, eingefrorene Wissenschaft Das führt mich zu meiner zweiten SENS-Konferenz zurück. Damals konnte man das Ozon noch in der Luft riechen, das aus dem letzteren von zwei wissenschaftlichen Blitzeinschlägen einer zuvor unbekannten Gruppe koreanischer Wissenschaftler von der Seoul National University resultierte, die vom Veterinär Hwang Woo-Suk geleitet wurde. Ein paar Jahre nach dem Dolly-Schaf hatte Hwang behauptet, eine Kuh geklont zu haben und zuletzt einen Hund. Berühmtheit erlangte er jedoch durch seine Ankündigung im Winter 2004, dass ihm die weltweit erste Ableitung einer vollentwickelten humanen ESZ durch SCNT gelungen war. Diese Erklärung brachte ihm internationalen Ruhm, doch das war erst der Anfang: Nur knapp ein Jahr später, in den Monaten vor »SENS2«, berichtete er von einer dramatischen Verbesserung des Verfahrens. In seinem ersten Bericht konnte Hwang nur eine einzige Stammzelllinie aus den 242 Spender-Eiern gewinnen – und diese Linie entstammte einem Ei, das mit der DNA der Ei-Spenderin selbst verschmolzen war, was von sehr beschränktem biomedizinischen Nutzen war. Jetzt berichtete Hwang, dass er elf humane Linien unter Verwendung von nur 185 Eiern geschaffen und DNA von völlig verschiedenen Menschen genutzt hatte, einschließlich potentieller Patienten beider Geschlechter und vieler Altersgruppen. Jeder in der Branche, und auch die Medien, feierten dieses Resultat als phänome-

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nalen Durchbruch, und ich war weit davon entfernt, der einzige zu sein, der sein Potential nicht nur für die Behandlung von altersbedingten Krankheiten sah, sondern von Alterungsschäden im weiteren Sinne. Ich wollte nicht nur, dass jemand Hwangs Ergebnisse präsentierte – mit denen die meisten Teilnehmer aufgrund des enormen Presse-Echos, zumindest peripher, vertraut waren –, sondern wollte wissen, was sie für die auf dem Gebiet tätigen Wissenschaftler bedeuteten. Hwangs Forschungsergebnisse würden mit Sicherheit einen enormen wachrüttelnden Effekt auf die Stammzellforschung haben. Aufgrund des politischen Klimas, in dem es stattfand, war die Wirkung der Ankündigung viel größer als durch den rein technischen Durchbruch (so groß er auch war) hätte erklärt werden können, individualisierte Stammzellen zur Heilung von Patienten herzustellen. Die Stammzellforschung war seit Jahren von der berühmt-berüchtigten Entscheidung des US-Präsidenten George W. Bush im Sommer 2001 schachmatt gesetzt, die staatlichen Zuschüsse zur Stammzellforschung auf Arbeiten zu begrenzen, die jene Linien benutzen, die vor dem Tag geschaffen wurden, an dem er diesen Grundsatz bekannt gab. Diese Entscheidung kehrte eine Richtlinie um, die unter der Clinton-Regierung verabschiedet, aber noch nicht in Kraft gesetzt worden war. Diese hätte NIH-Gelder in die ESZ-Forschung investiert, die aus IVF-Kliniken stammende Linien oder solche aus Arbeiten benutzte, die ursprünglich mit privaten Mitteln finanziert wurden. Diese Entscheidung war nicht wissenschaftlich motiviert, sondern vom politischen Wirbel der Abtreibungsdebatte und der Anti-Abtreibungshaltung von Herrn Bush und seiner Stammwählerschaft der christlichen Rechten. Wenngleich es nicht ganz korrekt ist, diese Direktionsvorschrift als einen »Bann« der ESZ-Forschung zu bezeichnen, so versetzte es doch der ganzen Branche einen großen Kälteschock – und das nicht nur wegen der direkten Auswirkungen des Einfrierens der Gelder für Forschungen mit nahezu allen verfügbaren ESZ-Linien. Das offensichtlichste Problem war der Würgegriff, mit dem es die direkte Finanzierung embryonaler Stammzell-Forschung durch die US-Bundesregierung umfasste. Die Regierung verwaltet die Geldbörse eines erstaunlich hohen Anteils der US- und sogar der globalen, wissenschaftlichen Grundlagenforschung: 20 Milliarden US-Dollar forschungsbezogener Mittel werden jedes Jahr allein von den National Institutes of Health vergeben. Bush und seine politischen Verbündeten würden argumentieren, dass ihre Politik den Wissenschaftlern dank der Verfügbarkeit der bewilligten Linien genug Möglichkeiten gebe, mit Stammzellen zu arbeiten, doch diese Behauptung ignoriert den tatsächlichen Zustand der betreffenden Linien. Das Weiße Haus hatte ursprünglich erklärt, dass ihre Richtlinie Wissenschaftlern erlaube, mit nicht weniger als 78 robusten Stammzelllinien zu arbeiten. Doch als die Senatoren den NIH-Direktor Elias Zerhouni befragten, gab er zu, dass nur 19 dieser Linien tatsächlich brauchbar und für die Stammzellforschung verfügbar waren (und nicht durch Beschränkungen aufgrund geistigen Eigentums und ähnlicher Einschränkungen unzugänglich). Bis 2004 hatte sich diese Zahl nur auf 21 erhöht. In vorläufigen Studien, die am 12. Oktober 2004 der National Academy of Sciences präsentiert wurden, fand man heraus, dass 14 der von Carol Ware an der Universität von Washington getesteten Linien nicht mehr gut wachsen und wegen der veralteten Technik, mit der ESZ-Linien damals gewonnen und kultiviert wurden, schwer zu

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trennen waren. Eine dieser Linien wurde aufgrund dieser Untersuchung sogar vom wissenschaftlichen Gebrauch zurückgezogen.30 Ein Angebot von gut 20 Linien ist zudem auch nicht gut in der Lage, die genetische Vielfalt der Menschheit zu repräsentieren. Folglich ist es schwer überprüf bar, ob ein bestimmtes Forschungsergebnis eine Eigenart der Linie oder (beispielsweise) von Menschen einer bestimmten Rasse ist. Ein Vorrat von hunderten entwicklungsfähigen ESZ-Linien ist wahrscheinlich das Minimum für gesunden Fortschritt in diesem Wissenschaftsgebiet. Tatsächlich ist die aktuelle Situation noch schlimmer: Aufgrund ihres Alters häufen diese Linien Mutationen an, die die Ergebnisse der mit ihnen durchgeführten Forschung verfälschen könnten, weil sie nicht einmal mehr die Stammzellen jener ursprünglichen Spender repräsentieren. Es bedeutet auch, dass wir nicht die Stammzellen von Menschen mit bestimmten Krankheiten untersuchen können oder den Einfluss experimenteller Medikamente auf diese Prozesse – Untersuchungen, die am besten mit SCNT durchgeführt würden, da sie die Zellen von Menschen verwenden, von denen wir bereits wissen, dass sie an einer bestimmten Krankheit leiden, und wir ihre Uhren auf den Beginn ihrer primitiven Existenz als Blastozyste zurückdrehen könnten. Die Forscher könnten diese Zellen dann dabei beobachten, wie sie sich in die Zellen differenzieren, die von der Krankheit am meisten betroffen sind, und anschließend die Veränderungen in der Spätphase verfolgen, wo sich ihr abnormer Stoff wechsel mit den Alterungsprozessen überschneidet, die auch in den Zellen gesunder Menschen geschehen. Die Zellen sind jedoch nicht nur für die Grundlagenforschung von sehr beschränktem Nutzen: Jeder in dem Bereich Tätige gibt zu, dass diese Zellen auch nie für echte Therapien genutzt werden können. Alle sowohl freigegebenen als auch erhältlichen Linien sind für klinische Zwecke nutzlos, weil sie ursprünglich unter Verwendung eines Nährsubstrats (feeder cells) von Mäusen kultiviert wurden – das sind unterstützende Zellen, die gebraucht werden, um Faktoren abzusondern und strukturelle Unterstützung zu bieten, was essentiell ist, um sie in ihrem ursprünglichen, unspezialisierten Zustand zu erhalten. Der Kontakt mit diesen Zellen hat sie auf verschiedene Weise verdorben: Eine Studie31 fand heraus, dass ihre Zelloberflächen einen Zucker aufweisen, der das Immunsystem des Körpers als fremd erkennt und angreift, und es wird allgemein erwartet (wenn auch noch nicht bewiesen), dass sie auch Mauszellproteine und sogar Viren enthalten können. Wissenschaftler haben erst in den letzten Jahren neue Verfahren entwickelt, die zuerst die Vermehrung humaner ESZ-Linien auf humanem Nährsubstrat erlaubten und erst vor kurzem ESZ, die ganz ohne Zuhilfenahme von Nährzellen kreiert wurden.32 Und ich betone noch einmal, dass es zumindest möglich ist, dass nur maßgefertigte ESZ, die durch SCNT speziell für den individuellen Patienten angefertigt werden, das potentielle Problem der Abstoßung lösen können. Folglich können nur ESZ-Linien, die nach dem 2001 willkürlich gesetzten Stichtag gewonnen wurden, als Medizin für Krankheiten und in Zukunft zur vollständigen Reparatur von Alterungsschäden genutzt werden. Das Gesetz wirkt auch weit über die Labore hinaus, die tatsächlich mit den freigegebenen Linien arbeiten. Zum einen wird die Einschränkung auf die Vergabe von Geldern für nicht freigegebene Stammzellforschung so aggressiv durchgesetzt, dass

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das NIH sogar Fördermittel für Forschung abziehen muss, die mit ESZ überhaupt nichts zu tun hat, wenn auch nur ein Teil des Geldes für Einrichtungen oder Ausrüstung verwendet wird, die auch für die Arbeit an »verbotenen« ESZ-Linien verwendet werden. Es kann Ihnen passieren, dass Sie ein Krebsmedikament an Ratten testen und Ihre Fördermittel entzogen werden, weil sich ein anderer Forscher auf dem Campus mit Ihnen das Gerät für Genexpressions-Arrays teilt und es für ESZ-Forschung unter Verwendung von Linien nutzt, die laut dem Entscheid vom August 2001 nicht genehmigt sind. Das erschwert es den Forschern an den meisten Universitäten – und im Grunde an allen Forschungszentren der Regierung – enorm, ESZ-Forschung an anderen als den genehmigten Linien durchzuführen. Labore, in denen die sanktionierte Arbeit durchgeführt wird, müssen das Equipment teuer duplizieren und rückverfolgen, bis zur Markierung von Petrischalen und anderen Gläsern mit farbigen Punkten. Sie müssen im Allgemeinen erniedrigend ineffizient arbeiten. Die Richtlinie errichtet auch für privat finanzierte Forschung enorme Barrieren – Forschung, auf die die Bush-Politik theoretisch nicht abzielte. Wissenschaftler in der Industrie werden zuerst an Universitäten ausgebildet, und wenn diese Universitäten keine ESZ-Forschung durchführen können – aufgrund einer Mischung fehlender Regierungsgelder und der Einschränkungen der Nicht-ESZ-Forschung wegen gemeinsam benutzter Ausrüstung, mit der an »verbotenen« Linien gearbeitet wird –, fehlt den jungen Forschern die Ausbildung in den Arbeitstechniken mit Stammzellen, ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, originelle Forschung durchzuführen, die das Gebiet weiterbringen könnten. Das bedeutet natürlich, dass solche Forscher für Privatunternehmen nicht zur Verfügung stehen, selbst wenn sie das Geld dafür hätten. Und natürlich veranlasst die politische Unsicherheit rund um die Stammzellforschung potentielle Investoren, ihr Geld nur zögerlich in Unternehmen zu stecken, die sich auf die Entwicklung ESZ-basierter Heilverfahren spezialisiert haben. Damals schien es möglich, dass die USA anderen Staaten darin folgen würden, Teile dieser Forschung – wie SCNT – nicht nur von der öffentlichen Förderung auszuschließen, sondern sie als kriminell einzustufen. Investoren werden viele Risiken ertragen, jedoch keine politischen, und so haben sie die privat finanzierte ESZ-Forschung für einige Jahre aufgegeben. Kurzzeitig sah es so aus, als würde die Richtlinie der Bush-Administration schnell aufgrund von politischem Druck zu Fall gebracht. Sogar eine sehr konservative Auswahl von Umfragen zeigte, dass die Mehrheit der Bevölkerung in den USA und anderswo eine relativ liberale Politik hinsichtlich des wissenschaftlichen Zugangs zu ESZ befürwortet. Selbst in Umfragen, in denen die Frage geradeheraus ohne Erwähnung des möglichen Nutzens für den Menschen gestellt wird, sagt die Mehrheit der Menschen, dass sie die Gewinnung von Stammzellen aus überschüssigen Embryonen aus Fruchtbarkeitskliniken zur wissenschaftlichen Forschung unterstützt.33 Wenn die Frage das Potential für die Humanmedizin erwähnt, steigt dieser Anteil über 70 Prozent. Und die meisten Menschen unterstützen sogar die SCNT-Forschung – eine Tatsache, die mich bezüglich ihrer zukünftigen Akzeptanz anderer Anti-Aging-Therapien optimistisch stimmt. In der Augusthitze, als die Kontroverse wütete und die Popularität von Herrn Bush

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ins Wanken geriet, schien es möglich, dass sich die öffentliche Meinung gegen die restriktive Richtlinie wendete und dass Wissenschaftler in recht kurzer Zeit die Möglichkeit bekämen, mit einer großen Anzahl von ESZ verschiedener Quellen zu arbeiten. Dann krachten die Flugzeuge in das World Trade Center. Innerhalb eines Monats hatte sich alles verändert. War die ESZ-Forschung im August an vorderster Front der nationalen Debatte, war sie gegen Ende des Jahres 2001 für nahezu jeden vom Radar verschwunden und durch die unmittelbare Angst vor Terrorismus ersetzt worden. Als der Druck und die Kontrolle der größeren Öffentlichkeit schwanden, wurden jene, deren Organisation, Ressourcen und Ideologien stark genug waren, um dieses Thema selbst im Schatten der Zerstörung der Twin Towers weiterhin zu verfolgen, plötzlich zu den einzigen Stimmen, die die Gesetzgeber drängten – und in diesem Fall, wegen der Verschmelzung der Wissenschaft mit der Abtreibungsdebatte, waren dies nahezu ausschließlich Kräfte, die der ESZForschung feindlich gegenüberstanden. Abtreibungsgegner, die gut organisiert und finanziert sind, plädierten so stark wie eh und je in Washington, ohne die normalerweise ausgleichende Kraft der breiten Öffentlichkeit oder ihrer üblichen Gegner: Pro-Choice und Bürgerrechtsgruppen hatten an der Stammzellforschung kein besonderes Interesse und letztere hatten angesichts der Bedrohung durch den Terrorismus mit der Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Rechte genug zu tun. Interessenvertretungen von Patienten hätten sich zudem den Forschungsblockaden entgegenstellen können, doch solche Gruppen waren damals erst im Entstehen und ihnen fehlte die Unterstützung der Pharmafirmen, denn in diesem Fall hatten die Unternehmen kein eigennütziges Interesse, die Sache dieser Gruppen zu fördern. Sich einem erneut populären Kriegspräsidenten gegenüber ehrerbietig fühlend, einer Menge unausgeglichener Fehlinformationen ausgeliefert, die von den Abtreibungsgegnern auf der religiösen Rechten kamen, die die Unterstützungsbasis des Präsidenten bildeten (und eine wichtige Rolle auf ihrem eigenen Weg zur Macht gespielt haben), und mit einer Führung, die von Abgeordneten mit einer sozialkonservativen Weltsicht dominiert wurde, erhöhte der republikanisch dominierte Kongress die Bedrohung der Stammzellforschung substantiell. Zwei Gesetzentwürfe wurden von Sam Brownback im Senat (S 245) sowie von Dave Weldon und Bart Stupak im Repräsentantenhaus (HR 234) gleichzeitig eingebracht. Sie wollten alle Arten des »menschlichen Klonens« verbieten – einschließlich SCNT zu ausschließlich wissenschaftlichen oder medizinischen Zwecken. Diese Maßnahmen würden staatliche Finanzmittel zur Herstellung von Blastozysten per SCNT nicht nur ausschließen, sondern kriminalisieren – und daran arbeitenden Wissenschaftlern Gefängnisstrafen auferlegen. Sie hätten auch alle Wissenschaftler ins Gefängnis gebracht, die mit ESZ-Linien arbeiten, die durch SCNT gewonnen wurden. In den ursprünglichen Fassungen dieser Gesetzesentwürfe wurde sogar Ärzten und Patienten mit Gefängnis gedroht, wenn sie Heilmittel aus auf SCNT basierenden Stammzellen verabreichen oder annehmen. Einige Formulierungen legten sogar nahe, dass Menschen, die ins Ausland gingen, um sich einer Behandlung mit SCNT-Stammzellen zu unterziehen, bei ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten bestraft werden könnten. Doch in den folgenden Monaten, als die Öffentlichkeit langsam wieder ihre

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Köpfe aus den Schützenlöchern erhob, begannen Pro-Forschungs-Kräfte und Patienten-Aktivisten eine Gegenbewegung zu mobilisieren. Sie bekamen große Unterstützung von prominenten Patienten, die an Krankheiten leiden, die wahrscheinlich von SCNT profitieren könnten, sowie deren Angehörigen, darunter Michael J. Fox (Parkinson), Kevin Kline (dessen Sohn an Jugenddiabetes leidet), Christopher Reeve (Rückenmarksverletzung) und, am kräftigsten, Nancy Reagan (deren Ehemann und frühere US-Präsident an Alzheimer gestorben war). Eine Koalition beider Parteien bildete sich, die sich für einen erweiterten Zugang zu embryonalen Stammzellen aussprach – und in vielen Fällen für die vollständige Legalisierung der biomedizinischen SCNT. Dazu gehören so prominente Republikaner und Abtreibungsgegner wie Orrin Hatch, Strom Thurmond, Arlen Specter, John McCain und schließlich der damalige Mehrheitsführer im Senat, Bill Frist, offenbar bis hin zu Bushs eigenem Gesundheitsminister Tommy Thompson. Mittlerweile befürworteten berühmte wissenschaftliche Organisationen (einschließlich der National Academy of Sciences, der American Medical Association, der Association of American Medical Colleges und sogar die National Institutes of Health selbst) wie auch mehrere krankheitsspezifische Stiftungen (wie die Juvenile Diabetes Research Foundation, die American Association for Cancer Research, die Lance Armstrong Foundation und die American Diabetes Association) Forschungen unter Verwendung neuer ESZ-Linien und die Weiterentwicklung der SCNT. Hatchs Koalition führte ein Gesetzgebungsverfahren ein, um SCNT zur wissenschaftlichen und medizinischen Forschung zu legalisieren, gleichzeitig die Verwendung der Technik zum Klonen von Menschen verbietend. Sie schlug zudem Gesetze vor, die den Zugang zu überschüssigen Embryonen aus Fruchtbarkeitskliniken als Stammzellquelle erlauben. Nach und nach stellten sich immer mehr Repräsentanten beider Seiten auf die forschungsbejahende Seite der Diskussion. Die nächsten Jahre kämpften die zwei Kräfte bis zum Stillstand, wobei beide Gesetzesentwürfe wiederholt vorgeschlagen und abgelehnt wurden. Das führte zu einem juristischen und wissenschaftlichen Schwebezustand, von der die Forschungsgegner profitierten: Die wenigen Wissenschaftler, die an SCNT arbeiteten, mussten nicht ins Gefängnis, hatten jedoch keinen Zugang zu Fördermitteln, potentielle private Investoren warteten weiter auf das Ende der politischen Instabilität und die Restriktionen des Präsidenten gegen die ESZ-Forschung blieben intakt.

Falsche Morgenröte Dann kam 2005 plötzlich Hwangs Ankündigung von Verfahren zur Herstellung maßgeschneiderter ESZ mit relativ hoher Ausbeute. Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe und durchschlug sowohl wissenschaftliche als auch politische Barrieren. In technologischer Hinsicht war die Fähigkeit zur Herstellung von funktionsfähigen, auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen embryonalen Stammzellen ein enormer Durchbruch. Politisch gesehen verlieh sie nicht nur den Pro-ForschungsKräften neue Energie, sondern übte auch eine neue Art von Druck auf die Politiker aus. Stammzellbefürworter hatten lange argumentiert, dass die Wissenschaft an-

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derswo gemacht würde, wenn die Regierung die ESZ-Forschung weiterhin zu stark einschränkte: Die Vereinigten Staaten würden einfach eine Abwanderung von Fachkräften erleiden, da amerikanische Wissenschaftler in gastlichere Gefi lde zögen, um ihren grundlegenden Arbeiten nachzugehen, und ausländische Studenten (die bereits unter den neuen Sicherheitsauflagen litten) würden die Angebote amerikanischer Universitäten ausschlagen. Jetzt begann sich die Vorhersage zu bewahrheiten. Die koreanische Regierung war bereit, die Arbeit ihrer neuen wissenschaftlichen Berühmtheit mit bedeutenden Ressourcen zu unterstützen. So verschiedene Länder wie Großbritannien, Israel, Schweden und Singapur begannen sich als gut finanzierte Zentren der ESZ-Forschung zu etablieren, und Berichte über berühmte Wissenschaftler, die ihre Sachen packten, erschienen in den Medien. Die Kräfte des Wettbewerbs übten ihre gewohnte Magie aus. Aus Angst, den Anschluss zu verlieren, erstellten einzelne US-Staaten Gesetze, um die Stammzellforschung innerhalb ihrer Grenzen zu fördern. Bei Politikern auf Bundesebene, die in ideologischer Hinsicht keine großen ESZ-Gegner waren – einschließlich vieler wirtschaftsliberaler Republikaner –, wuchs die Bereitschaft, die Ansichten der AntiForschungs-Ideologen in Frage zu stellen. Einige Jahre zuvor hatten 58 Senatoren – hauptsächlich Demokraten, aber mit bedeutender Unterstützung entscheidender Republikaner – eine Aufforderung an Bush unterschrieben, seine Richtlinie aufzuheben. Wenig später als einen Monat nach Hwangs Veröffentlichung folgten 206 Mitglieder des Abgeordnetenhauses diesem Beispiel. Ich wusste, dass die Betonung dieser Fortschritte und die Möglichkeiten, die sie Forschern eröffneten, eine gute Gelegenheit boten, um den Zweck meiner Konferenz zu fördern, nämlich die biomedizinische Anti-Aging-Forschung voranzutreiben. Außer Hwang selbst war Gerald Schatten am besten geeignet, um diese Möglichkeiten aufzuzeigen. Er ist Stammzellforscher an der Universität von Pittsburgh und hatte die letzten zwei Jahre mit Hwang gearbeitet. Er hatte seine Veterinärtechnologien genutzt, um einen Affen zu klonen, und auch die Publikation unterzeichnet, die die neuen SCNT-Linien in Science veröffentlichte. Ich bat ihn darum, seine Ergebnisse vorzutragen und den Königsweg zum Zugang patientenspezifischer ESZ durch Hwangs Team an der Seoul National University aufzuzeigen: ein »Globales Stammzellenzentrum«, das maßgeschneiderte SCNT-Zellen unter der Verwendung von Hwangs etablierten Einrichtungen und erfahrenen Technikern produzieren würde. Ich war erfreut, als Schatten meine Einladung annahm – doch ich war überglücklich, als er mir kurz darauf eine weitere E-Mail schrieb, in der er mir mitteilte, dass er gern einen Freund mitbrächte. Er sagte, Hwang selbst habe Interesse bekundet, auf SENS2 zu sprechen. Er sei sich bewusst, dass es kurzfristig sei, doch wäre ich bereit, dass er sich Schattens halbe Stunde auf der Konferenz mit ihm teile? Ich bot ihm natürlich an, Hwang seine eigene halbe Stunde als Gastredner in der Tagung zu Stammzellen und regenerativer Medizin zu geben. Ich hätte dies auch dann bereitwillig getan, wenn es bedeutet hätte, die ganze Veranstaltung von Neuem zu planen und die Referenten um Vergebung zu bitten, dass ich sie in einer so späten Planungsphase einer prallvollen Veranstaltung noch durcheinandermische, doch glücklicherweise kam es nicht dazu, da ein anderer Redner kurz zuvor absagen musste. Mit nur wenigen Programmänderungen wurde Hwang als Redner bestätigt.

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So kam es, dass Hwang, zu meiner großen Freude und in gespannter Erwartung von Hunderten meiner Kollegen, das Podium der Fitzpatrick Lecture Hall in Cambridge (England) betrat. Wie Sie natürlich wissen, wenn Sie nicht gerade den größten Teil des Winters 2005/2006 in einer Höhle in Nepal verbracht haben, war alles ein Schwindel. Monate nachdem er mein wissenschaftliches Publikum im September begeistert hatte, wurde Hwang als Betrüger entlarvt.

Böse Zauberer und böse Menschen Zuerst gab es ethische Bedenken hinsichtlich der Quellen von Hwangs Spenderzellen, anschließend Fragen über die Entwicklungsfähigkeit von vieren der elf Stammzelllinien, die er bei Science eingereicht hatte. Und dann erkannten Reporter auf Fotos, die mit Hwangs Daten präsentiert wurden, einige verdächtige Ähnlichkeiten zwischen angeblich einzigartigen Stammzelllinien. Hwang tat diese als Ergebnis einer Verwirrung mit dem Produktions-Stab von Science über die Frage ab, welche der zahlreichen, von ihm eingereichten Fotos im Artikel abgebildet werden sollten. Der Verdacht gegen Hwang erhärtete sich schnell. Wissenschaftler, die die veröffentlichten Daten nachprüften, bemerkten verdächtige Gemeinsamkeiten in den genetischen Profi len der verschiedenen Zelllinien. Dann bat Schatten darum, seinen Namen als Autor aufgrund von »Behauptungen einer an der Untersuchung mitwirkenden Person, dass bestimmte Elemente des Berichts erfunden sein könnten« nachträglich aus der Veröffentlichung zu streichen. Und am 15. Dezember meldete sich einer der Mitarbeiter mit der platten Aussage, dass neun der elf Linien Hwangs komplette Fälschungen seien, die eine identische DNA aufweisen, und dass Hwang selbst den Schwindel zugegeben habe. Mit jedem erhobenen Zweifel behauptete Hwang seine Unschuld und machte Fehler, Verunreinigungen und die Inkompetenz anderer dafür verantwortlich. Er ging sogar so weit zu behaupten, dass ein früherer Mitarbeiter einige seiner Linien »vertauscht« habe. Doch acht Tage nachdem sein ehemaliger Kollege den Schwindel reklamiert hatte, bot er der Seoul National University seinen Rücktritt an – was mit der Begründung verweigert wurde, dass er nun Gegenstand einer internen Untersuchung sei. Er wurde im Februar suspendiert, im März entlassen und im Mai wegen Betrugs, Veruntreuung und Verstoßes gegen bioethische Gesetze verklagt. Die negativen Auswirkungen dieser Enthüllungen waren auf vielen Ebenen spürbar. Es herrschte natürlich eine große Empörung über diesen Betrug und eine herbe Enttäuschung, dass sich Hwangs Durchbrüche als Schwindel entlarvten. Es war zudem ein politisches Fiasko, das von ESZ-Gegnern ausgenutzt wurde, um die gesamte Fachrichtung zu verleumden. Doch Hwangs Betrug warf auch den Fortschritt des ganzen Feldes um mindestens ein Jahr zurück – in wissenschaftlicher Hinsicht eine Ewigkeit. Die Bush-Einschränkungen der ESZ-Forschung, verstärkt durch die heraufziehende Drohung der Kriminalisierung von SCNT durch den amerikanischen Kongress, hatten alle bis auf einige wenige Forschergruppen davon abgehalten, den Nukleartransfer für mensch-

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liche Patienten zu perfektionieren. Hwangs Behauptungen haben den Anreiz, Ressourcen für dieses Ziel einzusetzen, weiter verringert: Niemand wollte das in Korea bereits rollende Rad neu erfi nden und private Unternehmen hätten keinen Wettbewerbsvorteil mehr als erster Hersteller von auf Patienten zugeschnittenen ESZ, die nach firmeneigenen Methoden hergestellt als Handelsgeheimnisse oder durch eine Patentanmeldung exklusiv gehalten werden konnten. Ein US-amerikanisches Privatunternehmen, Advanced Cell Technology (ACT), hatte die Arbeit mutig weiter vorangetrieben und eine große Menge qualitativ hochwertiger ESZ- und SCNT-Wissenschaft hervorgebracht (wovon vieles zugegebenermaßen in den Medien übertrieben wurde), obwohl es, aufgrund der Scheu der Investoren angesichts des rechtlichen Klimas ihrer Forschung, ständig von einer fi nanziellen Krise in die andere taumelte. Ende 2001 verkündete ACT bekanntermaßen die erste »geklonte« menschliche Blastozyste,34 obwohl die in die Eizelle übertragene DNA dem Körper der Spenderin entstammte – und zwar aus Zellen, die normalerweise das Ei selbst einhüllen – und die entstandenen Blastozysten sich nicht über eine sechszellige Kugel hinaus entwickeln konnten. Die nächsten zwei Jahre verbrachten die Forscher größtenteils damit, dieses Verfahren zu perfektionieren, wobei sie viele Publikationen veröffentlichten (größtenteils über Forschung an Rindern), die ihre Fortschritte zur Aufklärung der Ursachen der niedrigen Ausbeute an lebensfähigen Blastozysten bei SCNT-Methoden dokumentierten. Sie arbeiteten auch stetig an der Perfektionierung dieses Verfahrens zum biomedizinischen Einsatz am Menschen. Ende 2003, betont der wissenschaftliche Leiter von ACT, Robert Lanza, standen sie sehr kurz davor, die letzten Hürden ihres Verfahrens zu überwinden und die ersten brauchbaren Stammzellen zu produzieren, die auf individuelle Patienten zugeschnitten sind oder zur Erforschung bestimmter Krankheiten dienen. Doch nach Bekanntgabe von Hwangs elf Zelllinien zogen die Investoren ihre Einsätze von den nun scheinbar erfolglosen »Mitläufern« im Rennen ab – ein Rückschlag, der durch ACTs gleichzeitigen Verlust seiner Hauptquelle für humane Eier zum K.o. führte. Zellen wurden tiefgefroren und ACTs humane SCNT-Forschung beendet. Genauso ärgerlich ist der Fall von Professor Alison Murdoch und Dr. Miodrag Stojkovic am Newcastle Centre for Life, eine Fruchtbarkeitsklinik und Forschungszentrum in Newcastle-upon-Tyne in Großbritannien. Diesen Forschern gelang es, die ersten humanen SCNT-Blastozysten herzustellen, die mit der DNA aus den Zellen einer anderen Person als der der Eispenderin gewonnen wurden.35 Diese Blastozysten waren wie die ACT-Zellen nicht voll existenzfähig, doch im forschungsfreundlicheren Klima Großbritanniens hatte das Team von den regulatorischen Behörden eine offizielle Bewilligung erhalten, ihre Arbeit mit aus SCNT gewonnenen Stammzellen weiter zu verfolgen, was ihnen grünes Licht gab, ihre Technologie zu perfektionieren. Doch ihre Publikation folgte kurz auf Hwangs, und verglichen mit seinem durchschlagenden Erfolg schien die Erzeugung von nur drei verschmolzenen Zellen, die tatsächlich mit der Zellteilung begannen, aber keine eigentlichen Stammzelllinien, für den Fortschritt des Gebietes nicht relevant zu sein. Auch sie beendeten ihre Forschungen an der Technologie sofort – eine Entscheidung, die sie nach Murdochs Aussage um mindestens ein Jahr zurückwarf. Anderswo sah es gleich aus. SCNT-Forschergruppen in Schweden und an drei

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amerikanischen Universitäten, die genügend private oder öffentliche Mittel gesammelt hatten, um Stammzellforschungszentren mit komplizierten finanziellen Schutzwänden aufzubauen, die sie von der regierungsgeförderten Forschung auf demselben Campus abgrenzten, beendeten ihre Arbeiten entweder gänzlich oder legten sie auf Eis, um zu sehen, ob die Pläne des koreanischen Teams ihre Anstrengungen überflüssig machen würden. Doch selbst wenn Hwangs Schuss, der weltweites Gehör fand, bestenfalls nach hinten los ging, diente er doch dazu, eine Menge Leute wachzurütteln. Weltweit und besonders in den Vereinigten Staaten begannen Forscher wieder ernsthaft darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stünden, wenn sie Zugang zur Expertise des koreanischen Teams hätten. Diese verhieß Stammzellen mit der wundertätigen Flexibilität einer Blastozyste, die aber auf Patienten maßgeschneidert wären, die an den schlimmsten Albträumen des Alterns leiden: Parkinson, Schlaganfall, vernarbte und geschwächte Herzen, Erblindung durch das Absterben lichtsensitiver Zellen, die in ihrem eigenen Müll ersticken, Gliedmaßen, die verkümmern, weil die elektrischen Impulse nicht mehr durch die Nervenzellen schießen oder Muskelzellen nacheinander unter der Last ihres eigenen molekularen Zerfalls zerbrechen. Labore begannen über Forschungsanträge nachzudenken. Junge Studenten betrachteten die Stammzellforschung wieder als spannende Karrieremöglichkeit. Die Morgenröte trügte – dennoch weckten ihre Strahlen die schlummernden Kräfte der Wissenschaft. Heute, nach dem Zusammenbruch von Hwangs Kartenhaus und trotz der politisch motivierten, moralisch fehlgeleiteten Sturheit der Bush-Regierung, erlebt die Branche eine Renaissance. Murdoch und ACT haben ihre Programme wieder aufgenommen. Forschergruppen arbeiten weltweit eifrig an erfolgreichen SCNT-Verfahren und der Forschung und den Heilmitteln, die sie ermöglichen werden. Bahnbrechende Arbeiten finden am Centre for Regenerative Medicine der Universität von Edinburgh in Schottland statt (klinische Forschung der Veterinärforschung aufgreifend, die das Dolly-Schaf hervorgebracht hatte), am Karolinska Institut in Schweden, an der Shanghai Second Medical University in China und in verschiedenen privat finanzierten Zentren in den Vereinigten Staaten, einschließlich des Harvard Stem Cell Instituts, der Universität von Kalifornien in San Francisco und dem UCLA Institut für Stammzellbiologie und Medizin. Das rechtliche Klima verändert sich ebenfalls. Neben China, Großbritannien und Schweden ist SCNT bereits in Singapur, Belgien, Japan, Spanien und Israel ausdrücklich erlaubt. Und es bleibt in den Vereinigten Staaten legal, trotz der Bemühungen von Senator Brownback und seinen Verbündeten: Der Brownback-Weldon-Entwurf scheiterte zweimal im Kongress, wenngleich er 2005 als S 658/HR1357, dem Human Cloning Prohibition Act of 2005, wieder eingeführt wurde. Orrin Hatchs parteiübergreifender Stem Cell Research Enhancement Act hingegen, der ESZ-Forschung an Linien aus von IVF überschüssigen Embryonen erlaubt hätte, passierte sowohl das Abgeordnetenhaus als auch den Senat und wurde nur durch ein Veto des Präsidenten blockiert – das erste in Bushs sechsjähriger Amtszeit. Hatchs Pro-SCNT-Verordnung ist auch wieder im Spiel, wenngleich keine Abstimmung unmittelbar bevorsteht. Inzwischen schreiten einzelne US-Staaten voran und tun ihr Bestes, um das fi-

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nanzielle und regulatorische Vakuum auf bundesstaatlicher Ebene zu umgehen. Die SCNT-Forschung wurde in Kalifornien, Connecticut, New Jersey, Rhode Island, Illinois und Massachusetts legalisiert, und obwohl einige andere Staaten jegliche SCNTArbeiten ausdrücklich verboten haben, erlauben viele die Arbeit mit überschüssigen IVF-Blastozysten. In Missouri wurde eine Wählerinitiative gegründet, die den Wissenschaftlern verfassungsmäßig zusichern wollte, ESZ- und SCNT-Forschungen durchzuführen, und den Patienten erlauben wollte, auf diesen Technologien basierende Heilmittel zu verwenden, die in einem anderen Bundesstaat erhältlich sind. Im November 2006 wurde das Gesetz mit knapper Mehrheit verabschiedet. Einzelstaaten tragen ebenfalls die notwendigen Gelder zusammen, um die Forschung ihrer eigenen Biotech-Branchen voranzutreiben. Der berühmteste Fall ist Kaliforniens »Proposition 71«, eine Wählerinitiative, die das California Institute for Regenerative Medicine begründete und ihm ein durch Anleihen finanziertes Budget von drei Milliarden Dollar zuwies, um ESZ-Arbeiten zu fördern, einschließlich (aber nicht ausschließlich) SCNT-Forschung. Die tatsächliche Verwendung dieser Gelder wurde bisher durch juristische Anti-Forschungs-Aktionen und einige legitime Fragen hinsichtlich der Beaufsichtigung und Ethik blockiert. Die rechtlichen Entscheide waren jedoch fast durchwegs günstig und der Gouverneur Arnold Schwarzenegger hat kürzlich mit einem Überbrückungskredit eingegriffen, damit die bewilligten Gelder in die Entwicklung von SCNT- und anderen ESZ-basierten Heilmitteln zu fließen beginnen. Wenngleich Kalifornien das berühmteste Beispiel ist, so ist es doch bei weitem nicht das einzige – oder nicht mal das erste. Diese Ehre gebührt New Jersey: Anfang 2004 wurde es der erste Staat, der öffentliche Gelder für die ESZ-Forschung bereitstellte. Seit Dezember 2005 hat New Jersey Mittel in der Höhe von fünf Millionen Dollar an 17 Forschungseinrichtungen vergeben, die an embryonalen und anderen Stammzellen forschen. Darüber hinaus wurde mit 23 Millionen Dollar das New Jersey Stem Cell Institute gebildet. Ähnliche Initiativen laufen in Connecticut, Illinois, Maryland, Massachusetts (trotz eines gescheiterten Veto-Versuchs des Gouverneurs) und Washington. Unterdessen sind auch im privaten Sektor Bestrebungen im Gange, trotz der fehlenden Unterstützung, der nachteiligen Rechtsetzung und einem Klima der Unsicherheit, das nur die stählernsten Investoren nicht abschreckt und nach anderen Möglichkeiten suchen lässt. ACT ist ein prominentes Beispiel; ein anderes ist die Geron Corporation, ein Biotech-Unternehmen, das am bekanntesten für seine Arbeit am »Jugend-Enzym« Telomerase ist (das sie nun beeinflussen wollen, um Krebs durch die Deaktivierung seiner Telomerase-Quellen auszuschalten – viel mehr dazu in Kapitel 12). Geron hat Methoden perfektioniert, humane ESZ ohne Nährzellen herzustellen, und testet sechs verschiedene Linien in Tierversuchen. Interessanterweise rechnen sie damit, im Frühjahr 2007 mit Frühphasenstudien am Menschen zu beginnen, wo neurale Stammzellen für Rückenmarksverletzungen eingesetzt werden. Einige Wissenschaftler suchen auch nach rein technischen Lösungen, um die Wissenschaft von dem moralischen Schein-Dilemma zu befreien, das die Verwendung von Blastozysten zu humanen Forschungs- und Heilungszwecken umgibt. Es gibt

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verschiedene Vorschläge, wie man ESZ aus Blastozysten gewinnt, ohne das Potential dieser Zellklumpen zu beeinträchtigen, sich schließlich zu menschlichem Leben zu entwickeln. Einer davon ist Parthenogenese, eine Bezeichnung, die dem Begriff der »jungfräulichen Geburt« entlehnt ist. Bei diesem Verfahren werden die Gene in einer Eizelle (die von Natur aus nur die Hälfte eines kompletten Satzes enthält, da sie dazu bestimmt ist, von denen in der Samenzelle bei der Befruchtung vervollständigt zu werden) verdoppelt, sodass ein kompletter Satz von DNA-Instruktionen entsteht. Die Eizelle kann sich dadurch hinreichend wie eine Blastozyste verhalten, um ESZ für den Eispender zu produzieren, ohne dass das Ei tatsächlich befruchtet wird. Ein anderer Ansatz ist der Einsatz defekter Stammzellen aus den Embryonen der IVF-Kliniken, die sich nicht mehr zu einem Fötus entwickeln können, oder sogar das Herbeiführen solcher Defekte in die DNA eines Patienten, bevor daraus eine Blastozyste durch den Einsatz von SCNT gewonnen wird, um schon das Potential zur Bildung menschlichen Lebens auszuschließen. Kürzlich zeigte ACT noch einen weiteren Weg auf: den Einsatz von Stammzellen, die einer einzelnen Zelle entstammen, die aus einer Blastozyste gezupft wird, während der Rest als potentiell entwicklungsfähiger Embryo erhalten bleibt (wie es bereits manchmal bei einem Gentest von IVF-Embryonen vor deren Implantation getan wird).36 Eine vierte mögliche Option ist es, adulte Stammzellen mittels Wachstumsfaktoren und anderen chemischen Botenstoffen dazu zu bringen, sich mehr wie embryonale Stammzellen zu verhalten, anstatt die inhärente Erneuerungskraft des Eis zu verwenden, um zum selben Ziel zu kommen.37 Ich zweifle keineswegs am Wert solcher Arbeiten – hauptsächlich jedoch, weil wir durch sie mehr über Stammzellbiologie lernen werden. Diese Erfahrungen werden es uns erlauben, gezielter mit ESZ und SCNT umzugehen, wenn sich das rechtliche Klima endlich entspannt und unsere wissenschaftlichen Rennpferde freilässt, auf dass sie die Verheißungen dieser Zellen verwirklichen. Diese speziellen Technologien werden wohl, und vor allem sollten nicht notwendig sein, um Patienten mit »offiziellen« Krankheiten zu heilen oder menschliche Körper zu regenerieren, deren Möglichkeit zur Selbstheilung durch den Alterungsprozess geraubt wurde. Ihre scheinbare Notwendigkeit ist ein rein politisches Konstrukt, ohne Bezug zur wissenschaftlichen Realität oder der zugrundeliegenden humanitären Not. Die tatsächliche Notwendigkeit besteht darin, die Wissenschaftler bei ihren Bemühungen, das enorme Potential embryonaler Stammzellen – einschließlich patientenspezifischer Zellen, die durch die Verschmelzung von Zellen des Patienten mit einem Ei entstehen – in Therapien für Kranke und Alte umzusetzen, von fehlgeleiteten Eingriffen zu befreien. Darin stimmen mir glücklicherweise fast alle meiner Kollegen zu – und nicht nur in der Biogerontologie, sondern in der ganzen Welt der Medizin und der biologischen Grundlagenforschung. Die über die Vergabe von Fördermitteln entscheidenden Wissenschaftler an den National Institutes of Health wären erfreut, finanzielle Mittel für vielversprechende ESZ- und SCNT-Forschung im ganzen Land auszugeben, doch ihnen sind durch die Anordnungen ihres Präsidenten die Hände gebunden. Jeder, der nicht die Scheuklappen eines unangebrachten Gefühls der moralischen Verantwortung gegenüber einem Zellklumpen trägt, erkennt die Notwendigkeit einer

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ESZ-Forschung, die von einer vernünftigen Ethik und Regulierung geleitet wird, und nicht von künstlichen Beschränkungen, die auf Verwirrung, Angst und politischer Instrumentalisierung basieren. Es gibt natürlich wissenschaftliche Hürden, die überwunden werden müssen, bevor ESZ direkt zu medizinischen Zwecken eingesetzt werden können. Wir müssen viel zuverlässigere Verfahren zur Gewinnung von Stammzellen und zu ihrer Umwandlung in die benötigten Zellarten entwickeln, damit sie die gleiche Bandbreite an Rollen übernehmen können, wie sie die entsprechenden Zellen bereits spielen, die unter der Anleitung eines ausgeklügelten Entwicklungsprogramms in unseren Körpern wachsen. Das entstehende Gebiet der regenerativen Medizin macht bereits erstaunliche Fortschritte, selbst unter Verwendung von Zellen und Geweben, die aus adulten Stammzellen von Patienten gezüchtet wurden: Gewebe-Ingenieure gehen von Zellen auf Organe über und säen Zellen in ein biologisch abbaubares Gerüst, das sie dazu anleitet, sich zu einem strukturell passenden Gewebe zu formen, und das sich anschließend auflöst, um funktionsfähiges Gewebe zurückzulassen.38 Menschliche Patienten erhielten funktionierende Harnröhren, die sieben Jahre währten und die aus zellfreiem Strukturgewebe von Kadavern gewonnen wurden, in die die Zellen des Patienten gesät wurden. Funktionierende Blasen wurden entwickelt und in Beagle-Hunde eingepflanzt, und Kaninchen haben erektionsfähiges konstruiertes Penisgewebe bekommen und erfolgreich genutzt. In der bislang anspruchsvollsten Arbeit wurden Rindern simple Nieren gegeben, die durch SCNT und der DNA aus einem Ohrenschnitt gewonnen wurden. Die verjüngten Zellen wurden vermehrt, füllten jede kleinste Ecke eines komplexen, biologisch abbaubaren Nierengerüsts und das so entstandene Organ wurde implantiert. Die künstlichen Nieren waren funktionsfähig, filterten das Blut und produzierten eine Flüssigkeit, die normalem Urin chemisch sehr ähnelte. Doch die fundamentale Hürde zum Traum neuer Zellen, die unsere durch Krankheiten und die Jahre beeinträchtigten Körper wieder erneuern, ist eine politische – und deshalb muss auch ihre Lösung eine politische sein.

Jetzt handeln für Wissenschaft und Medizin Fast alle voraussichtlichen Leser dieses Buches sind Bewohner demokratischer Staaten. Einige leben in Ländern, die Wissenschaftlern bereits grünes Licht gegeben haben, Heilverfahren mittels ESZ innerhalb gewissenhafter ethischer und regulatorischer Rahmenbedingungen nachzugehen. Wenn dem so ist, herzlichen Glückwunsch. Sie können dabei helfen, den Wettlauf um Heilverfahren weiter voranzutreiben, indem Sie Ihre Politiker dazu bringen, mehr Fördermittel für solche Forschung aufzubringen. Doch vermutlich werde ich den größten Einzelanteil meiner Leserschaft in den Vereinigten Staaten haben – dem Land, das noch immer den größten Beitrag zum weltweiten wissenschaftlichen Fortschritt beisteuert, wo junge Wissenschaftler noch immer hinströmen, um den Fortschritt menschlicher Fähigkeiten voranzutreiben, und wo die Finanzierung durch Regierung und Industrie den größten Einfluss auf

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das Gebiet haben könnte, wenn sie entfesselt würde. Der Finanzierungskraft der National Institutes of Health müssen die Bremsen gelöst und der (starke) Tritt aufs Gaspedal erlaubt werden. Ihre Stimme kann dem wissenschaftlichen Fortschritt in einer Weise dienlich sein, die den Wissenschaftlern selbst nicht zur Verfügung steht. Schreiben Sie Briefe, treten Sie Lobbygruppen bei, informieren Sie sich über lokale Themen und die Positionen Ihrer Kongressabgeordneten. Stimmen Sie dann für Pro-Stammzell-Wählerinitiativen und forschungsfreundliche Politiker. Sehr gute Hintergrundinformationen und Handwerkszeug, um Sie dabei zu unterstützen, vorteilhaftes Recht zu unterstützen, sind bei der Coalition for the Advancement of Medical Research (CAMR) unter www.CAMRadvocacy.org erhältlich. Sie können den Zeitpunkt näher bringen, wann Tierversuche zu klinischen Heilmitteln werden – und wann letzten Endes die Alten jung werden, ihre Körper durch ihre eigenen verjüngten Zellen und Gewebe erneuert. Die Wissenschaftler brauchen jetzt Ihre Hilfe, um die Medizin aus dem Labor auf die leidenden Patienten zu übertragen. Wenn Sie und Ihre Angehörigen ihre Hilfe benötigen, werden Sie sicher sein wollen, dass Sie alles getan haben, um ihre lebensrettende Arbeit zu unterstützen.

Anmerkungen 1 2 3

Die Plastizität von Stammzellen aus der Nabelschnur liegt zwischen der von embryonalen und der von adulten Stammzellen. Lindvall, O./Kokaia, Z./Martinez-Serrano, A.: Stem cell therapy for human neurodegenerative disorders – how to make it work. Nat Med 2004, 10 (Suppl): 42-50. Deten, A./Volz, H.C./Clamors, S./Leiblein, S./Briest, W./Marx, G./Zimmer, H.G.: Hematopoietic stem cells do not repair the infarcted mouse heart. Cardiovasc Res 2005, 65 (1): 52-63. Murry, C.E./Soonpaa, M.H./Reinecke, H./Nakajima, H./Nakajima, H.O./Rubart, M./Pasumarthi, K.B./Virag, J.I./Bartelmez, S.H./Poppa, V./ Bradford, G./Dowell, J.D./Williams, D.A./Field, L.J.: Haematopoietic stem cells do not transdifferentiate into cardiac myocytes in myocardial infarcts. Nature 2004, 428 (6983): 664-668. Balsam, L.B./Wagers, A.J./Christensen, J.L./Kofidis, T./Weissman, I.L./Robbins, R.C.: Haematopoietic stem cells adopt mature haematopoietic fates in ischaemic myocardium. Nature 2004, 428 (6983): 668-673. Nygren, J.M./Jovinge, S./Breitbach, M./Sawen, P./Roll, W./Hescheler, J./Taneera, J./Fleischmann, B.K./Jacobsen, S.E.: Bone marrow-derived hematopoietic cells generate cardiomyocytes at a low frequency through cell fusion, but not transdifferentiation. Nat Med 2004, 10 (5): 494-501. Wang, X./Willenbring, H./Akkari, Y./Torimaru, Y./Foster, M./Al-Dhalimy, M./ Lagasse, E./Finegold, M./Olson, S./Grompe, M.: Cell fusion is the principal source of bone-marrow-derived hepatocytes. Nature 2003, 422 (6934): 897-901. Alvarez-Dolado, M./Pardal, R./Garcia-Verdugo, J.M./Fike, J.R./Lee, H.O./Pfeffer, K./Lois, C./Morrison, S.J./Alvarez-Buylla, A.: Fusion of bone-marrow-derived

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12. Nukleäre Mutationen und der endgültige Sieg über Krebs

Abgesehen von der kleinen Anzahl in unseren Mitochondrien ist unsere ganze DNA in unseren Zellkernen beherbergt. Wie mitochondriale DNA häuft sie im Laufe unseres Lebens Schäden an, was theoretisch zu zahllosen gesundheitlichen Problemen führen kann. Ich glaube jedoch, dass tatsächlich nur eines dieser Probleme – Krebs – innerhalb einer zurzeit als normal angesehenen Lebensspanne auftritt. Kernmutationen wären also harmlos, wenn wir den Krebs endgültig besiegen könnten. Dies ist die kühnste Komponente von SENS – eine Möglichkeit, den Krebs für immer zu besiegen.

An einigen Stellen in früheren Kapiteln, besonders in Kapitel 10, habe ich Ihre Neugier hinsichtlich Telomere und Telomerase angeregt. Ich weiß, dass Sie diese Neugier verspüren, denn wenn mich jemand fragt, was ich tue, und ich antworte, dass ich daran arbeite, das Altern zu bekämpfen, kommt am häufigsten die Antwort (abgesehen vom recht vorhersehbaren »Na, dann mal schnell!«): »Ah, Telomere«. Und tatsächlich spielen Telomere und Telomerase innerhalb von SENS eine sehr wichtige Rolle. Nicht jedoch die Rolle, die die meisten von Ihnen vermuten. Wie ich bereits betont habe, weicht die »ingenieursmäßige« Herangehensweise zur Bekämpfung des Alterns grundlegend vom konventionellen Denken über das Altern, und was man daran ändern könnte, ab. Sie konzentriert sich auf die tatsächlichen Schäden, die die alternden Organismen ansammeln, und nicht auf die Stoffwechselprozesse, die diese sich anhäufenden Schäden verursachen. Diese operative Definition des Alterns macht das Problem greifbar. Im »gerontologischen« Ansatz der alten Garde sind die potentiellen Mitwirkenden am Alterungsprozess zahlreich. Sie alle zu kontrollieren ist eine lähmend große Herausforderung. Wir benötigen dafür ein detailliertes Verständnis der enormen Anzahl komplexer Pfade, in die einzugreifen nicht nur schwierig ist, sondern auch ungewollte Nebenwirkungen auslösen würde. Die Anti-Aging-Technik befreit uns größtenteils von diesen Problemen. Wir lassen den Stoff wechsel seine notwendige, aber chaotische Arbeit verrichten und finden

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Lösungen, um die relativ kleine Anzahl unwiderruflicher Veränderungen – mit anderen Worten, molekulare Schäden –, die im alternden Organismus als Folge dieser Prozesse entstehen, rückgängig oder harmlos zu machen. Uns bleiben nur sieben Schadenskategorien, um die wir uns kümmern müssen – Kategorien, deren Lösungen absehbar sind und deren Reparatur selbst keine negativen Nebenwirkungen hervorrufen dürfte. Wir wollen zunächst inerte aber letztlich pathogene (krankheitserregende) Schäden entfernen – Merkmale des gealterten Körpers, ohne die der junge Organismus blendend auskommt. Es gibt dennoch ein scheinbar riesiges Loch in dieser Logik, und das betriff t den Schaden am DNA-Code im Zellkern (im Gegensatz zur mitochondrialen DNA, über die ich in den Kapiteln 5 und 6 gesprochen hatte). Während die mitochondriale DNA nur für die Produktion der Energiefabriken verantwortlich ist, in denen sie beherbergt ist, ist die nukleäre DNA der Bauplan, nach dem unsere ganze biologische Struktur gebaut wurde und aufrechterhalten wird. Die von ihr verschlüsselten Proteine 1 bilden nicht nur grundlegende Strukturmerkmale des Körpers, von der Augenlinse über die Herzmuskeln bis zu den kilometerlangen Arterien, die das Blut in unsere Zellen führen, sondern beinhalten auch winzige Enzym-Maschinen, die von der Entgiftung von Substanzen über den Aufbau von Fettmembranen bis zum Transport chemischer Signale von einer Zelle zur nächsten alles tun. Beschädigen Sie die DNA, so korrumpieren Sie den Code unseres genetischen Programms oder machen absolut tadellose genetische Anleitungen für die Maschinerie unleserlich, die diese in Anweisungen und Befehle übersetzt, die an die Protein produzierenden »Fabriken« des Körpers gesandt werden. Ihre Gene leiden im Laufe der Zeit an angehäuften Schäden. Die DNA im Zellkern ist einem kontinuierlichen Angriff ausgesetzt. Die nukleäre DNA jeder Zelle erleidet jeden Tag über eine Million schädigender »Treffer«, von ultravioletter Strahlung über Umweltgifte bis hin zu den stoff wechselbedingten Abfallprodukten der freien Radikale. Und auch brandneue DNA muss nicht zwingend makellos sein: Wenn sich die Zelle teilt, verursachen Fehler, die von der Maschinerie verübt werden, die die genetischen Informationen der Zelle kopiert, oftmals Produktionsfehler verschiedener Schweregrade. Ein Großteil dieses Schadens wird schnell vom raffi nierten DNA-Qualitätskontrollsystem der Zelle korrigiert, doch ein Teil ist von Natur aus irreparabel. Andere Schäden sind potentiell reparabel, werden aber bleibend, wenn sich die Zelle vor der Reparatur teilt. Solche permanenten Schäden sind Mutationen. Mutationen, die außerhalb von Spermien und Eizellen (und deren Vorläufern) auftauchen, werden nicht an die Nachkommen des Organismus weitergegeben, doch sie bestehen in der Zelle, in der sie in Erscheinung treten, und in all ihren »Nachkommen« fort. Abgesehen von Schäden an der nukleären DNA selbst gibt es Schäden an den sogenannten epigenetischen Strukturen unserer Chromosomen – dem »Gerüst«, das an unserer DNA verankert ist. Epigenetische Strukturen steuern wichtige Informationen bei, indem sie entscheiden, welche Gene in einer Zelle aktiviert und welche deaktiviert werden. So kann die gleiche DNA benutzt werden, um so verschiedene Zellen wie Leber-, Herz- und Nierenzellen zu kreieren. Dadurch haben Veränderungen im epigenetischen Gerüst der DNA einer Zelle letztlich die gleichen funktionalen

12. N UKLE ÄRE M UTATIONEN

UND DER ENDGÜLTIGE

S IEG

ÜBER

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Auswirkungen auf die Zelle wie Veränderungen an den Genen selbst: Indem Gene aktiviert werden, die deaktiviert bleiben sollten (oder umgekehrt), oder durch ein Ansteigen oder Abfallen ihrer Aktivität verändern diese »Epimutationen« den von der Zelle produzierten Proteinsatz. Da sie sich hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Zellfunktion gleichen, erlaube ich mir eine kleine terminologische Schlamperei, um auf diesem Aspekt nicht lange herumzureiten. Von nun an werde ich hauptsächlich den Begriff »Mutationen« verwenden, um auf beide Arten genetischer Schäden Bezug zu nehmen – echten Mutationen und Epimutationen. Da sie nur zufällig auftreten und permanent sind, häufen sich Mutationen mit dem Alter an – und deswegen können sie nach der Definition, die vom Anti-AgingIngenieur begrüßt wird, als »Alterungsschaden« bezeichnet werden. Die logische Schlussfolgerung ist nun, dass wir ihn reparieren oder unschädlich machen müssen, wenn wir den Körper davon abhalten wollen, im Laufe der Zeit stufenweise in die Pathologie abzugleiten.

Es ist kaputt. Wir können es nicht reparieren. Nach allem, was Sie bisher gelesen haben, würden Sie von mir vielleicht einen Vorschlag erwarten, wie solchen Mutationen begegnet werden kann, ähnlich denen, die ich für AGE-Quervernetzungen, unerwünschte Zellen oder Lysosomen gegeben habe: Werden wir den Müll einfach los. Aber ein kurzes Nachdenken sollte zeigen, dass dies unmöglich ist. Beschädigte Gene sind vielleicht dysfunktional, aber wir können es uns nicht leisten, ohne sie auszukommen: Eine Zelle ohne funktionstüchtiges Gen ist noch immer beschädigt. Und das ist eine gewaltige Herausforderung – und zwar so gewaltig, dass ich eine Zeit lang an der Lösung verzweifelte. Ich befürchtete, Mutationen wären die bedrohlichen Felsen, die jede Arche zerstören würden, die wir vielleicht bauen, um die Stoff wechsel-Sintflut zu überleben und eine alterungsslose Zukunft zu betreten. Nun, mögen Sie sagen, wenn wir es uns nicht leisten können, defekte Gene zu zerstören, könnten wir sie dann nicht reparieren? Unglücklicherweise ist das in absehbarer Zeit technisch nahezu unmöglich, einfach weil es so viele verschiedene Gene in der nukleären DNA gibt. Der menschliche Zellkern hat zwei Kopien fast all unserer Gene. Eine Kopie (das »haploide Genom«) kommt so auf mehr als drei Milliarden DNA-»Buchstaben«. Wie viele davon nun tatsächlich echte Anweisungen für den Bau und die Steuerung unseres Körpers sind, mag diskutiert werden, aber es gibt mit Sicherheit eine Menge verschiedener Möglichkeiten, wo ein beschädigter »Buchstabe« den Rechtschreibfehler eines ganzen »Wortes« verursachen könnte, was zu einem Informationsverlust führen würde, der die Zellfunktion beeinträchtigen könnte. Das ist eine Menge potentiellen Schadens, den wir reparieren müssten. Die Frage ist doch, wie man so viele verschiedene Gene behandelt. Jeder Mechanismus, den wir einsetzen würden, um ein beschädigtes Gen zu reparieren, müsste irgendwie »wissen«, wie ein intaktes Gen von einem beschädigten zu unterscheiden ist. Zugegeben, der Körper tut dies bereits, indem er die beschädigte DNA mit ihrem komplementären Strang in der Doppelhelix vergleicht (oder manchmal mit

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dem homologen Chromosom, d.h. der anderen Kopie des relevanten DNA-Abschnitts – ich hatte Ihnen gerade davon berichtet, dass die meisten Gene in jeder Zelle zweimal vorkommen), aber es ist unklar, ob uns das weiterhilft. Es ist kaum vorstellbar, wie wir unsere vorhandene, systemimmanente Fähigkeit zur DNA-Reparatur, die bereits erstaunlich effektiv ist, verbessern könnten. Wir könnten das Problem prinzipiell lösen, wenn unser DNA-Reparaturmechanismus auf einem Muster beruhen würde, das von den genetischen Informationen innerhalb der Zelle unabhängig wäre. Doch dazu bräuchten wir ein Werkzeug auf molekularer Ebene, das eine Vorlage für jedes der vielen tausende von Genen (wovon üblicherweise jedes mehr als 1000 DNA-Buchstaben aufweist) mit sich tragen würde. Es ist vorstellbar, dass eine hochentwickelte Nanotechnologie irgendwie in der Lage sein könnte, derartige Werkzeuge zu entwickeln, die dann die Reparaturen ausführen könnten2 – aber erst in ferner Zukunft, ein solches Niveau haben wir noch lange nicht erreicht. Tatsächlich untertreibt diese Darstellung die Schwierigkeiten, die uns begegnen würden, wenn unsere Lösung hinsichtlich der Mutationen darin bestände, eine nach der anderen zu reparieren. Sie stellen sich vermutlich vor, dass diese DoppelkopieGenmutationen schöne, saubere Schnitte durch die beiden Stränge der DNA-Helix sind – und manchmal sind sie das auch. Aber manchmal ist die DNA entweder von vornherein kaputt oder sie wird irrtümlicherweise vom Körper »repariert«, sodass an beiden Strängen zwei verschiedene Fehler verbleiben, die durch ein Dutzend oder mehr Buchstaben voneinander getrennt sind. Das hinterlässt Lücken, deren Reparatur sogar mit einer einwandfreien Vorlage darin bestehen würde, zunächst den Schaden an beiden Seiten unabhängig voneinander zu beseitigen und anschließend die beiden Stränge neu auszurichten und sie wieder zusammenzuführen. Das machte mich im Juli 2000 auf der Konferenz, auf der sich der ingenieursmäßige Ansatz zur Entwicklung einer Anti-Aging-Biomedizin zum ersten Mal in meinen Gedanken herauskristallisierte, echt ratlos. Wenn wir beschädigte DNA nicht einfach beseitigen können und es keinen sauberen Weg gibt, alle möglichen Formen permanenten DNA-Schadens zu reparieren, die sich mit dem Alter ansammeln, sind wir dann nicht einem Alterungsprozess ausgesetzt, an dem wir nichts ändern können – und der uns darum töten wird, selbst wenn wir alle anderen molekularen und zellulären Schäden reparieren oder umgehen, die zum Altern beitragen? Ich ignorierte das Problem zunächst, darauf vertrauend, dass andere Ansätze gegen Krebs ausreichend wären, aber ich zweifelte zunehmend daran, dass dem so wäre.

Wer hat Angst vor den großen, bösen Mutationen? In den letzten Kapiteln habe ich andauernd erklärt, wie eine bestimmte molekulare oder zelluläre Veränderung (»Schaden«) vermutlich zur Alterspathologie beiträgt. Doch in den meisten Fällen ist nicht vollkommen klar, in welchem Ausmaß eine bestimmte Art von Veränderung zum Funktionsverlust, erhöhtem Krankheitsrisiko und dem exponentiellen Anstieg der Todesrate beiträgt, die das biologische Altern charakterisiert. Die Antwort auf diese Frage spielt jedoch in allen bisher diskutierten

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Fällen keine Rolle. Alterungsschäden sind per Definition kein Bestandteil eines gesunden, jugendlichen Körpers, sodass uns das Beseitigen oder Umgehen derartiger Schäden mit Sicherheit nicht zum Nachteil gereichen wird – soweit wir sagen können, wird es uns mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar erheblich nützen. In diesem Fall sah ich jedoch keine Möglichkeit, die Mutationen in der nukleären DNA zu reparieren oder schadlos zu machen. Also musste ich etwas Abstand gewinnen und eine fundamentalere Frage stellen: Müssen wir uns überhaupt über nukleäre DNA-Schäden den Kopf zerbrechen? Allein eine solche Frage zu stellen erscheint einigen meiner Kollegen bereits leicht verrückt. Weil die nukleäre DNA für die Struktur und Funktion der Zelle so entscheidend ist, scheint es außer Frage zu stehen, dass Mutationen zum Altern beitragen. Das Konzept wurde erstmalig Ende der 1950er Jahre eingeführt, bevor wir überhaupt verstanden, was Gene wirklich sind, und es wird fast universell sowohl von Wissenschaftlern als auch von der breiten Öffentlichkeit akzeptiert. Doch diese Überzeugung, wie intuitiv sie anfangs auch scheinen mag, wurde nie durch direkte (oder auch gute indirekte, d.h. korrelative) Beweise bestätigt. Die einzige Möglichkeit, die Beteiligung von etwas am Altern auszuschließen, besteht darin, es zu beschleunigen und keinen Effekt auf die Lebensdauer oder die altersbezogene Pathologie zu beobachten.3 Für Kernmutationen ist das gelungen, aber noch nicht gut genug, um konklusiv zu sein. In Mäusen erhöht das Beseitigen eines Gens, das normalerweise Genschäden durch freie Radikale korrigiert, bevor diese zu dauerhaften Mutationen werden, die Schädigungsrate in der nukleären DNA stark. Dennoch scheinen die Tiere infolgedessen keine Krankheiten zu erleiden und haben eine normale Lebensdauer. 4 Dennoch können wir nicht zuviel in dieses Ergebnis hineinlesen, weil die Mutationsrate nur gering erhöht ist. Kürzlich wurde eine Studie an vier Stämmen mutierter Mäuse durchgeführt, jeder mit einem Knockout eines anderen DNA-Reparaturgens. In einem dieser Stämme häuften sich die Mutationen mehr als in normalen Mäusen – und dennoch blieben die Auswirkungen auf die Lebensdauer unklar.5 Ein sehr guter und ebenso direkter Test, um herauszufinden, ob etwas ein zum Altern beitragender Schlüsselfaktor ist, besteht darin, es zu verlangsamen oder anzuhalten und einen direkten Anti-Aging-Effekt zu beobachten: einen Anstieg der »natürlichen Beschränkungen« der Lebenserwartung des Organimus und eine langfristige Aufrechterhaltung der jugendlichen Funktionalität. Natürlich hat das noch niemand mit nukleären Mutationen getan oder mit irgendetwas anderem. Zum Nachteil der wissenschaftlichen Klarheit verändern die erfolgreichen Anti-AgingEingriffe, die wir derzeit in Säugetieren kennen, leider viele Dinge im Organismus – von antioxidativen Enzymen über die Proteinversorgung bis hin zur Aktivität des Müllverwertungssystems der Zellen. Das hindert uns daran, irgendeine dieser Veränderungen als dominante Ursache des Anti-Aging-Effekts zu isolieren und somit auch daran, irgendeinen speziellen Schadenstyp als Hauptursache des Alterns zu erkennen. Tiere auf kalorischer Restriktion verlieren beispielsweise eine signifikante Menge an Knochenmasse, doch niemand denkt, dass dieser Verlust für den AntiAging-Effekt der KR verantwortlich ist. Eine nahe Approximierung eines solchen Tests wurde jedoch vor einigen Jah-

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ren veröffentlicht. Mäusen wurden Gene injiziert, die es ihnen erlaubten, zusätzliche Mengen eines antioxidativen Enzyms (Katalase) in bestimmten Körperteilen zu produzieren.6 Ich habe diese Mäuse bereits erwähnt, aber die Untersuchung ist eine kurze Wiederholung wert. Katalase entgiftet ein reichlich vorhandenes, oxidierendes Molekül (Hydrogenperoxid). Somit kann es ihm nahestehende Objekte potentiell vor zumindest einer Schadensart schützen. Katalase in die Mitochondrien dieser Tiere zu bringen – was die Entwicklung mitochondrialer DNA-Deletionsmutationen signifikant verminderte – reduzierte ihre Anfälligkeit verschiedenen altersbedingten Krankheiten gegenüber und verlängerte ihre maximale Lebenserwartung um rund 20 Prozent. Dies war der erste eindeutige Fall einer antioxidativen genetischen Intervention mit einer Auswirkung auf diese zentrale Altersmaßeinheit von Säugetieren. Gab man diesen Organismen jedoch Katalase, die auf den Zellkern ausgerichtet war und Kernmutationen reduzierte, hatte dies keine Auswirkungen auf die Lebenserwartung. Ein anderer Beweis, der oft vorgebracht wird, um die Rolle von nukleärem genetischen Schaden als Faktor im Alterungsprozess zu verteidigen, sind die Modelle des so genannten »beschleunigten Alterns«, deren Symptome einer beschleunigten Anhäufung von Kernmutationen entspringen. Das sind entweder Tiere mit verschiedenen angeborenen Mutationen oder solche, die fremden Angriffen ausgesetzt sind (wie der Bombardierung mit giftigen Chemikalien oder Röntgenstrahlung), die die Anhäufung von nukleären DNA-Schäden im Laufe des Alterungsprozesses erhöhen. Dies geschieht entweder durch eine Steigerung der Geschwindigkeit, in der das vonstatten geht, oder durch die Zerstörung der dafür zuständigen Reparaturmechanismen und betriff t humangenetische Krankheiten wie das Hutchinson-Gilford-Syndrom (»Progerie«) und das Werner-Syndrom. Opfer dieser Krankheiten, ob nun zwei- oder vierfüßig, sehen oft in vielerlei Hinsicht wie Betagte aus. Sie leiden an Pathologien, die denen alternder Tiere unheimlich ähnlich sehen, von Knochenkrankheiten und Herzversagen zu marodem Fell und Katarakten. Doch die Tatsache, dass die Symptome einer abnormen Pathologie den Symptomen des »normalen« Alterns ähneln, beweist nicht, dass die Mechanismen des einen den Mechanismen des anderen unterliegen – ebenso wenig wie ein feuchter Rasen beweist, dass Regen und Sprinklersysteme den gleichen Mechanismen folgen. Fast alles, was das körperliche Gleichgewicht zerstört, aber länger braucht, um uns zu töten, wird wie »vorzeitiges Altern« aussehen. Die Frage ist, welche Beziehung – wenn überhaupt – eine gegebene Veränderung zum Altern hat. Der Evolutionsbiologe Michael Rose, Genetiker an der Universität von Kalifornien, der erstaunlich langsam alternde, langlebige Fruchtfliegen gezüchtet hat, formulierte treffend: »Viele Menschen können Dinge schneller vernichten, indem sie an verschiedenen Mechanismen herumschrauben. Das ist, als töte man Mäuse mit Hämmern: Es beweist nicht, dass Hämmer etwas mit dem Altern zu tun haben.« Da wir keine direkten Beweise haben, verlassen wir uns normalerweise auf indirekte, korrelative Beweise, dass ein Phänomen in den Alterungsprozess involviert ist. Einer besteht darin, die Geschwindigkeit der Anhäufung eines Schadens in Tieren, die verschieden schnell altern, zu vergleichen (d.h. deren Älteste schließlich einem »natürlichen« Tod erliegen, nachdem sie zunächst, in verschiedenen chrono-

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logischen Altersstufen, schrittweise ihre jugendlichen Funktionen verloren hatten). Während alle alternden Tiere Kernmutationen ansammeln, korreliert die Geschwindigkeit, mit der langlebigere Tiere Schäden durch freie Radikale an ihrer nukleären DNA erleiden, nicht gut mit ihren maximalen Lebenserwartungen (im Unterschied zur entsprechenden Geschwindigkeit in der mitochondrialen DNA, die das tut). Frustrierend, nicht wahr? Doch die gute Nachricht lautet, zumindest meiner Ansicht nach, dass uns die existierenden Beweise mit einiger Gewissheit die Schlussfolgerung erlauben, dass nukleäre DNA-Schäden keinen bedeutenden Beitrag zum Altern leisten. Ich habe die Argumente für diese Schlussfolgerung in Kapitel 4 kurz zusammengefasst, hier kommt die ganze Geschichte. Die Vorstellung, dass Kernmutationen eine Ursache des Alterns sind, wird durch die Tatsache genährt, dass die Mutationen, die wir von unseren Eltern erben, bedeutende Risikofaktoren für eine breite Palette von Krankheiten sind, einschließlich altersbedingter Krankheiten von Krebs über Herzinfarkte bis hin zu Alzheimer. Das Gleiche triff t manchmal auf Mutationen zu, die sehr früh in unserer Entwicklung auftreten, wenn der kleine Ball, der sich schließlich in einen menschlichen Körper verwandeln wird, aus so wenigen Zellen besteht, dass Schäden an der nukleären DNA an nur einer einzigen dieser Zellen fast unser ganzes Wesen mit dem gleichen Fehler infizieren können. Doch die Situation ist ganz anders, wenn wir erst einmal geboren sind. Dann treten neue Mutationen auf und häufen sich im Laufe der Zeit an, und wir müssen die Folgen nukleärer Mutationen als Form von Alterungsschäden betrachten (statt als einer Quelle angeborener Anfälligkeit gegenüber Alterskrankheiten). Dies liegt daran, dass sich Mutationen nur dann von einer Zelle auf eine andere übertragen, wenn die DNA der zweiten Zelle der DNA der ersten entspringt, was (nur) dann passiert, wenn sich eine Zelle teilt und eine Kopie seiner DNA an seine Nachkommen weitergibt. Während also vererbte Mutationen alle Zellen unserer erwachsenen Körper infizieren (weil all unsere erwachsenen Zellen von einem einzigen, mutierten befruchteten Ei abstammen), geschehen altersbezogene Mutationen in unseren erwachsenen Körpern Zelle für Zelle, als Ergebnis zufälliger Ereignisse wie der Strahlung, der Flugzeuge in großer Höhe ausgesetzt sind, oder Giftstoffen, die von unsichtbaren Schimmelsporen in Ihrer Nahrung erzeugt werden. Jede dieser Mutationen kann nur die Zelle treffen, in der sie passiert, und deren Nachkommen. Das begrenzt das Potential altersbedingter Mutationen, sich in unserem Gewebe weit genug zu verbreiten, um die Funktionen zu beeinträchtigen, enorm. Viele unserer Zellen – einschließlich derer in Geweben wie dem Gehirn oder dem Herz, wo die Wirkung des Alterns am deutlichsten zum Ausdruck kommt – teilen sich bei Erwachsenen überhaupt nicht, sodass sich Mutationen in solchen Zellen gar nicht ausbreiten. Und selbst Zellen, die sich teilen – beispielsweise Hautzellen oder die Zellen, die Ihren Darm auskleiden – wird die Geschwindigkeit der Zellteilung nach unserer Reife von der Kurzlebigkeit der Nachkommen der Zelle ausgeglichen, sodass die Mutationen einer bestimmten Zelle zu jeder Zeit nur in wenigen Zellen des Körpers präsent sind und somit nur wenige Möglichkeiten haben, das Gewebe »zu übernehmen«, in dem die Mutation auftritt. Hinzu kommt: Bevor uns diesbezüglich harte Fakten vorlagen, wussten wir, dass

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komplette »Knockout«-Mutationen relativ selten vorkommen. Zum einen führen die meisten DNA-Mutationen zu Fehlern in den kodierten Proteinen, die sie – wenn sie die Proteine überhaupt beeinträchtigen – nur weniger effektiv machen, statt komplett unbrauchbar. Doch selbst in Fällen, wo ein Gen so stark beschädigt ist, dass es entweder nicht zur Proteinerzeugung genutzt werden kann oder das Produkt nutzlos oder sogar giftig werden lässt, wird meist noch immer kein Unheil entstehen, weil der Schaden ein Gen betriff t, das in dieser Zelle nicht einmal genutzt wird! Bedenken Sie, dass die DNA jeder Zelle nicht nur die Gene enthält, die sie benötigt, um ihre Funktion auszuüben, sondern die komplette Gebrauchsanweisung, um jede Art von Zelle Ihres Körpers zu bauen. Individuelle Zellen erlangen ihre spezifische Funktion – Herzzelle, Leberzelle, Nierenzelle, Hautzelle –, indem sie den Großteil ihrer DNA ausschalten und nur die Gene aktiviert lassen, die sie benötigen, um ihre jeweilige Funktion auszuüben. In einer typischen Zelle ist nur rund ein Zehntel aller Gene der Person aktiviert. Somit könnten rund 90 Prozent der Gene einer Zelle irreparabel geschädigt sein, ohne dass sich das auch nur im geringsten auf die Funktion der Zelle auswirkt. Es wird noch besser: Obwohl die Evolution zu sparsam ist, um den Zellen zu erlauben, ihre Ressourcen darauf zu verschwenden, Proteine zu produzieren, die für die Zellfunktion unwichtig sind, kann die Zelle dennoch viele Proteine verlieren und hinterherhinken, ohne dem Körper zu schaden, ja der internen Ökonomie dabei sogar in gewissem Maße helfen. Bedenken Sie, dass manche Menschen mit Mutationen geboren werden, die jede einzelne ihrer Zellen betriff t, einschließlich all der Zellen, wo dieses Protein normalerweise benötigt wird, damit sie ihre Funktion ausüben können, und dennoch leben diese Menschen jahrzehntelang. Tritt die gleiche Mutation lediglich in einem kleinen Teil der Zellen eines Menschen auf, wird sie im Laufe eines normalen Lebens vielleicht gar nicht bemerkt, weil sie dadurch ausgeglichen wird, dass die restlichen Zellen des Körpers voll funktionsfähig sind.

Mutationen: Wenige und nicht rar gesät Ganz sicher erscheint die tatsächliche Anzahl von Mutationen, die sich mit dem Alter anhäufen, eher niedrig – zu niedrig, um ernsthafte Auswirkungen auf das Altern des Gewebes zu haben, in dem sie auftreten. Wir verdanken diese Erkenntnis zum großen Teil der Arbeit eines Teams, das vom Physiologie-Professor Jan Vijg geleitet wird, jetzt am Buck Institute for Age Research. Vijgs Gruppe hatte die geniale Idee, eine repräsentative Probe sowohl von der Menge an Mutationen zu erheben, die sich während des Alterungssprozesses in den verschiedenen Gewebearten ansammelt, als auch der allgemeinen Art des auftretenden Schadens. Das Resultat überraschte nicht nur Vijgs Gruppe, sondern auch viele andere Forscher. Sie fanden zum einen heraus, dass es nicht annähernd genug relativ kleine Punktmutationen (Mutationen »eines Buchstabens« in den »Wörtern« oder »Sätzen« der DNA) gab, um realistischerweise einen bedeutenden Einfluss auf die Gewebefunktion oder auf das Altern des Organismus als Ganzes zu haben. Noch wichtiger, die Anzahl an Mutationen in einer typischen Zelle erhöht sich in

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unserem wichtigsten Gewebe (dem Gehirn) nicht einmal zwischen dem frühen und späten Erwachsenenalter und in keinem Gewebe erhöht sich die Gesamtlast an Mutationen um mehr als den Faktor zwei bis drei, selbst in hohem Alter.7 Das mag zunächst nach viel klingen, doch vergessen Sie nicht, wie viele Gene es in einer solchen Zelle gibt und wie wenige Mutationen in jungen Menschen auftauchen. Eine kleine Anzahl ursprünglicher Mutationen zu verdoppeln oder zu verdreifachen, führt immer noch zu einer geringen Anzahl von Mutationen in der Zelle. Berücksichtigt man, wie wenige von ihnen Gene betreffen, die auch tatsächlich von der Zelle genutzt werden, und wie wenige von diesen tatsächlich eine notwendige Funktion der betreffenden Zelle zerstören (anstatt sie nur zu hemmen) und in welch geringem Ausmaß der Verlust einer spezifischen Aktivität in einer bestimmten Zelle die allgemeine Funktion eines Gewebes, eines Organs oder eines ganzen Tieres beeinträchtigt, dann wird klar, dass eine solche Erhöhung für den alternden Organismus eher eine Unannehmlichkeit als einen lähmenden Schlag darstellt. Doch Vijg erkannte sofort, dass dies die Beteiligung nukleärer Mutationen am Alterungsprozess keinesfalls widerlegte. Denn einige der von seiner Gruppe identifizierten Mutationen können viel ernsthaftere Folgen nach sich ziehen als nur die Inaktivierung eines einzigen Gens. Einige von ihnen können beispielsweise die Form von Deletionen annehmen – die komplette Löschung langer DNA-Strecken, die viele Gene gleichzeitig vernichtet, obwohl das Ereignis streng genommen nur eine einzige Mutation darstellt. Zu Deletionen kann es kommen, wenn zwei weit entfernte Schnitte zur gleichen Zeit im gleichen Chromosom auftauchen. Vijgs Daten zeigten, dass eine bedeutende Menge der Mutationen, die mit dem Alter gehäuft auftreten, solche Schnitte beinhaltet. Das deutet auf den ersten Blick darauf hin, dass es eine bedeutende Anzahl von Deletionen im gering wachsenden Anstieg der Totalzahl altersbedingter Mutationen gibt. Dies hätte schwerwiegendere Folgen als es eine simple Summierung von Mutationen suggeriert. Glücklicherweise stellte sich jedoch heraus, dass die meisten Fälle, in denen eine Zelle zwei verschiedene DNA-Schnitte erleidet, nicht zu Deletionen führen. 8 Gut die Hälfte sind eigentlich Frakturen, die an zwei separaten Chromosomen auftreten, die nicht physisch miteinander verbunden sind und somit nicht zu einer Deletion führen. Das ist ungefähr so, als schneiden Sie zwei verschiedene Bindfäden jeweils in der Hälfte durch und vertauschen zwei Gegenstücke, anstatt zwei Schnitte in einen Faden zu machen und das Stück zwischen den Schnitten wegzuwerfen. Und selbst in den anderen Fällen, wo beide Schnitte am gleichen Chromosom stattfinden, sind viele dieser Vorkommnisse gleichermaßen harmlos und führen zu Inversionen genannten Mutationen, die die Chromosomen durcheinander mischen, sie dabei aber typischerweise intakt und funktionsfähig erhalten. Aus diesen und anderen Gründen scheinen nicht viele der Ereignisse, die zunächst wie Deletionen aussehen, eine größere Wirkung auf die genetische Integrität zu haben als einfache Punktmutationen. Hinsichtlich Epimutationen führen mich die bisher verfügbaren Beweise zur gleichen Schlussfolgerung. Die am besten erforschten Epimutationen sind Veränderungen in der Methylierung – eine chemische Veränderung von Genen, die ihre Expression verhindert. Es wurde tatsächlich festgestellt, dass Mäuse9 und Menschen 10

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mittleren Alters mehr Veränderungen in ihren Methylierungsmustern aufweisen als ihre unausgereiften Artgenossen. Es ist jedoch nicht klar, ob dieser Trend während des Alterungsprozesses andauert (wie es bei einer echten, stabilen Form von molekularem Alterungsschaden zu beobachten wäre). Stattdessen könnte die Veränderung der Methylierungs-Epimutationen vom Erwachsenenalter ins hohe Alter ihre Beschleunigung stoppen oder sogar zurückgehen. Dies könnte beispielsweise bedeuten, dass die beobachteten Veränderungen der Methylierung früh im Leben des Organismus stattfinden, dass ihre Auftretenshäufigkeit jedoch anschließend durch Reparaturmechanismen oder sogar durch die Entfernung inakzeptabel abnormer Zellen auf einem erträglichen Niveau gehalten wird, anstatt sich im Alter wie AGEQuervernetzungen oder mitochondriale Mutationen anzuhäufen. Aus unserer Perspektive als Möchtegern-Eingreifer ist es genauso wichtig, dass es keinen Beweis gibt, dass die beobachteten Methylierungs-Veränderungen im Laufe des Lebens irgendein funktionales Problem verursachen. Rechnet man alles zusammen, scheint es in alternden Zellen einen erstaunlich geringen Anstieg an Mutationen zu geben – und von denen, die auftreten, werden nur sehr wenige die Funktionalität der Zelle tatsächlich beeinträchtigen.

Die Zeiten, nicht die Gene, verändern sich Vijgs Untersuchungen aus jener Zeit und die einiger seiner Vorgänger schätzten den Einfluss von Mutationen auf das Altern ab, indem sie feststellten, wie oft Gene im Laufe des Alterungsprozesses tatsächlich strukturell verändert werden. Es gibt jedoch noch ein anderes Beweismittel, das oft herangezogen wird, um auf die Rolle von Mutationen am Alterungsprozess hinzuweisen: Genexpressionsstudien. Seit Ende der 1990er Jahre nutzen Wissenschaftler eine neue Technologie namens »GenChips«, um die Aktivität – nicht die Struktur – nahezu aller Gene in Gewebezellen zu messen. Dies erlaubte vergleichende Studien zwischen alternden und jungen Lebewesen – einschließlich Menschen.11 Das Ergebnis zeigte deutlich, dass es in den Zellen alternder Lebewesen ziemlich erhebliche Veränderungen in der Genexpression gab. Dieses Resultat wurde oft und fälschlicherweise als Beweis des Einflusses von Mutationen auf das Altern angesehen, denn man glaubte, die veränderten Genexpressionen seien das Ergebnis von Mutationen in den Genen selbst. Diese Vorstellung erhielt scheinbare Unterstützung durch den Beweis, dass die Veränderungen in der Genexpression parallel zu Anzeichen von »prä-mutagenen« Schäden an Genen durch freie Radikale passierten – Schäden, die reparabel sind, sich aber zu ausgewachsenen Mutationen entwickeln können, wenn sie nicht richtig repariert werden. Es gibt jedoch eine viel einfachere Erklärung für diese Veränderungen, und zwar die simple Tatsache, dass sich die Genexpression nicht nur mit dem Alter verändert, sondern ständig. Unsere Zellen passen sich permanent dynamisch an ihre Umgebung an und verändern ihre Genexpression in jedem Moment als Antwort auf neue Bedingungen. Jedes Mal, wenn sich unser Körper auf eine Umgebung einstellen muss, verändert sich die Expression der in diesen Prozess involvierten Gene.

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Wenn also Zellen und Gewebe Alterungsschäden erleiden, die ihre normalen jugendlichen Funktionen beeinträchtigen, passt sich der Körper diesen veränderten Bedingungen so gut wie möglich an. Erhöht sich der oxidative Stress mit der Anhäufung von Zellen, die von mutierten Mitochondrien übernommen wurden, dann erhöhen die Zellen die Aktivität von Genen, die schützende Antioxidantien sowie »Hitzeschock«-Faktoren produzieren, die dabei helfen, den sich ergebenden Schaden an Proteinen zu reparieren. Wenn der Anstieg an oxidativem Stress dazu führt, dass sich Ihre Arterien mit von freien Radikalen beschädigtem LDL anfüllen, produzieren die umgebenden Zellen mehr Entzündungsfaktoren, um Makrophagen zu veranlassen, das giftige Zeug zu entfernen. Versteift sich Ihr Herz, weil es von quervernetzten Proteinen durchsetzt ist, dann produziert der Körper mehr »Umgestaltungs«Enzyme, die dabei helfen, das alte Gewebe abzubauen, um so den Weg für frisches, unbeschädigtes Ersatzmaterial freizumachen. Zudem können auch altersbedingte Veränderungen in der zellulären Umgebung die normale Genexpression beeinträchtigen. In manchen Fällen lassen sich solche Auswirkungen leicht beobachten: Oxidativer Stress beispielsweise blockiert die Expression mancher Gene direkt. Es gibt aber auch subtilere Folgen. Erinnern Sie sich zum Beispiel, dass freie Radikale – abgesehen davon, dass sie als einfache Nebenwirkung von Stoff wechselprozessen erzeugt werden – auch absichtlich als Signalmoleküle in verschiedenen Systemen inner- und außerhalb von Zellen produziert werden. Erhöht sich die Anzahl freier Radikale in den Zellen des alternden Organismus, dann verzerrt der überhöhte antioxidative Stress ebendiese Signalwege und setzt sie einem »Rauschen« aus. Dies kann wiederum zu unangemessenen Veränderungen im Stoff wechsel und in der Genexpression führen, da die Zelle falsch auf missverstandene, übertönte oder gefälschte Nachrichten vom System (oder ihm überlagert) antwortet. Und so weiter. Der Punkt ist, dass die altersbedingten Veränderungen in der Genexpression, die in Gewebestudien beobachtet wurden, nicht die Ursachen des Alterns sind, sondern anpassende (und manchmal fehlangepasste) Antworten darauf. Veränderungen der Genexpression von Zellen, die den Angriffen freier Radikale ausgesetzt sind, können entstehen, nicht weil dieser Angriff die Gene beschädigt hat, deren Expressionsniveaus sich änderten, sondern weil ein Anstieg an oxidativem Stress die Zelle dazu zwingt, ihren Stoff wechsel zu verändern, um den Angriff zu überstehen. Sie glauben jetzt vielleicht, dass ich hier etwas voreilig bin. Bislang habe ich erläutert, wie Veränderungen der Genexpressionen eine kompensatorische Antwort auf das Altern sein können, statt einer Ursache dafür – doch ich habe natürlich nicht gezeigt, dass diese Veränderungen zumeist Antworten und nicht Ursachen sind. Aber es ist leicht zu erkennen, dass sie Antworten sein müssen, denn sie sind koordiniert. Die Studien, auf die ich mich bezogen habe, konnten nur deswegen eine Veränderung in der Genexpression feststellen, weil sie in einem Großteil der Zellen innerhalb des untersuchten Gewebes auftrat. Mutationen und Epimutationen beträfen dagegen ein Gen in einer Zelle und ein anderes Gen in der nächsten Zelle. Diese koordinierte Veränderung in der Genexpression als Antwort auf das Altern wird am eindeutigsten in Gen-Chip-Studien bewiesen, die normal alternde Lebewe-

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sen mit solchen vergleichen, die einer Kalorienrestriktion ausgesetzt sind. 12 Dies ist, wie gesagt, derzeit der einzige uns zur Verfügung stehende Eingriff, der den Alterungsprozess von Säugetieren verlangsamt, ohne an ihren Genen herumzubasteln. Diese Studien zeigen, dass die meisten Veränderungen in der Genexpression, die während des Alterungsprozesses auftreten, in den Bauplänen für Antioxidans-, Entzündungs-, Umbau- und Hitzeschock-Proteinen zu beobachten sind – genau diejenigen, die benötigt werden, um die im Alter entstehenden Schäden zu bekämpfen. Sie zeigen auch, dass KR, wenn sie im hohen Lebensalter angewendet wird, viele dieser Veränderungen nicht nur verlangsamt, sondern sogar umkehrt. Das zeigt, dass Veränderungen in der Genexpression nicht das Ergebnis von Mutationen sein können, denn wenngleich KR die Anhäufung von Mutationen und anderen Alterungsschäden verlangsamen kann, so kann sie doch keine bereits existierenden Schäden aufheben. Stattdessen reduziert sie die Schadensursachen, die zu den Veränderungen in der Genexpression führen, schränkt die Produktion freier Radikale in den Mitochondrien ein, verringert die Ansammlung von mitochondrial mutierten Zellen, senkt den Blutzucker, um Quervernetzungen durch Glykation zu vermeiden, und so weiter. Verändert man die alterungsfördernde Umgebung der Zellen, so reduzieren sie ihre Genexpressions-Anpassungen an diese Umgebung. Diese Art von Logik hat einige – herausragend darunter auch wieder Forscher aus Vijgs Team – dazu veranlasst, kompliziertere Studien durchzuführen, die die Unterschiede in der Genexpression von einer Zelle zur nächsten in alten Lebewesen im Vergleich mit jüngeren untersuchen. Es stellte sich heraus, dass sich diese Unterschiede im Alter dramatisch vergrößern. 13 Wie es aussieht, scheint diese erhöhte Variabilität nicht das Ergebnis der Anpassungen zu sein, die für das vorherrschende Muster altersbedingter Veränderungen in der Genexpression verantwortlich sind, über die wir vorhin gesprochen haben. Denn die Umstände, die sie hervorrufen – und die adaptiven Antworten, die benötigt werden, um unter ihrem Einfluss zu bestehen – sind innerhalb eines Gewebes von einer Zelle zur anderen mehr oder weniger identisch. Es gibt jedoch noch viele Alternativen zu erforschen, bevor wir zu der Schlussfolgerung kommen, dass dieser wachsende Unterschied in der Genexpression zwischen einer alternden Zelle und ihren Nachbarn das Ergebnis von Mutationen (oder Epimutationen) ist. Es könnte beispielsweise auch an anderen altersbedingten Stressfaktoren liegen. Vijgs Team fand heraus, dass sich der Variabilitäts-Anstieg reproduzieren lässt, indem Zellkulturen oxidativem Stress ausgesetzt werden – und ich wiederhole, dass oxidativer Stress die Fähigkeit der Zellen beeinträchtigt, Signale in ihrem Inneren weiterzuleiten. Derartige Störungen könnten dazu führen, dass auf Signale, die aus der Umgebung der Zelle kommen, nicht reagiert wird – das können lokale Signalmoleküle ihrer Nachbarn sein oder stärker »sendende« Signale wie Hormone oder andere Faktoren. Das würde sich auf jede Zelle anders auswirken, denn es resultiert aus dem Rauschen intra- und interzellulärer Signale. Würde man den oxidativen Stress dann aber entfernen, ginge die Variabilität eventuell auf ihr Ursprungsniveau zurück. Variabilität zwischen Zellen kann sich auch aus anderen Arten von Schäden ergeben, die sich, zufällig, in unterschiedlichem Ausmaß in den Zellen angesammelt haben: Telomerverlust in einer Zelle, hohe AGE-Niveaus in einer anderen und die Gegenwart mitochondrialer Mutationen (ohne Kernmutationen) in einer dritten. In-

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tuitiv sind die Genexpressionsveränderungen, die benötigt werden, um den Abbau AGE-geplagter Proteine auf der Oberfläche von Herzmuskelzellen zu erhöhen, recht verschieden von denen, die als Antwort auf angesammelten Müll innerhalb dieser Zellen entstehen. Wenn benachbarte Zellen verschieden stark an verschiedenen Arten von Molekularschäden leiden, dann antworten sie mit unterschiedlichen adaptiven Genexpressionen, sowohl um die Auswirkung des Schadens auf ihre laufenden Stoff wechselprozesse auszugleichen, oftmals aber auch um zu versuchen, den Schaden zu reparieren. Solche Auswirkungen wurden auf zellulärer Ebene in Spulwürmern beobachtet, 14 und bisherige Studien deuten darauf hin, dass ähnliche Faktoren auch bei der steigenden Variabilität der Genexpression in Ratten und Menschen eine Rolle spielen könnten. 15 Ein derartiger Schaden kann auch Schockwellen außerhalb der Zellen, in denen er auftritt, auslösen. Das wird in den benachbarten Zellen, die mit diesen Auswirkungen umzugehen versuchen, Veränderungen in der Genexpression auslösen. Erinnern wir uns an die Zellseneszenz, die ich in Kapitel 10 diskutiert habe. Die Aktivierung des Seneszenzprogramms wird die Expression der Gene in der seneszenten Zelle im Vergleich zu ihren Nachbarn sicher verändern. Sie wird aber auch das Expressionsprofi l der Nachbarn verändern, da diese auf die Flut von Wachstumsfaktoren, Entzündungssignalen und Umbau-Proteinen antworten, die sie produziert. Zellen, die der seneszenten Zelle näher sind, werden stärker beeinträchtigt als weiter entfernte. Wichtig ist: Diese Veränderungen unterscheiden die Nachbarn einer seneszenten Zelle sowohl vom ursprünglichen Übeltäter wie auch von den anderen Zellen, die nicht direkt von ihrem Output betroffen sind. Um das offensichtlichste Beispiel zu wählen: Die von einer seneszenten Zelle ausgeschiedenen Wachstumsfaktoren werden in benachbarten Zellen Zellreproduktionsprogramme auslösen. Diese Programme, die durch Veränderungen in der Genexpression ausgeführt werden, sind in der seneszenten Zelle selbst dauerhaft gesperrt und in den Zellen, die von dieser weit genug entfernt sind, um ihrem Einfluss zu entgehen, inaktiv. Das Gleiche würde für Zellen gelten, die einer beliebigen Anzahl von Problemen ausgesetzt waren. Und die Abweichung kann auch in die entgegengesetzte Richtung gehen. D.h., zusätzlich zu den beschädigten Zellen, die ihre Nachbarn durcheinander bringen, indem sie ihre internen Nöte exportieren, können gesunde Zellen mit beschädigten kommunizieren, um ihre normale Funktion aufrechtzuerhalten. Am besten untersucht ist in dieser Hinsicht Krebs.16 Eine einzige Zelle kann Mutationen beherbergen, die normalerweise zu einem bösartigen Tumor führen würden, die jedoch durch ihre Nachbarn in Schach gehalten wird. Diese Nachbarn können von der Blockierung ihrer Wucherung (so genannte Kontakthemmung) bis hin zur Herbeiführung von Apoptose alles tun. Wie mit allen anderen adaptiven Veränderungen erfordert die für diese Kontrolle nötige Leistung Veränderungen in der Genexpression, die jene Zellen, die daran arbeiten, ihre antisozialen Nachbarn unter Kontrolle zu halten, sowohl von der angehenden Krebszelle als auch den restlichen nichtkanzerösen Zellen im Gewebe unterscheiden. Folglich beweist selbst die Tatsache, dass es deutliche Unterschiede in der Aktivität von Genen in nebeneinander liegenden Zellen im Gewebe alter Lebewesen (vergli-

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chen mit jungen) gibt, noch nicht, dass nukleäre Mutationen schuld sind. Außerdem ist ein Großteil dieser beobachteten Variabilität erwünscht – es sind gezielte Bemühungen jener Zellen, wenn auch letztlich vielleicht nutzlos, ihre Integrität unter der ganz besonderen Last von Alterungsschäden, denen jede einzelne von ihnen ausgesetzt ist, zu bewahren. Wenn nun altersbedingte Veränderungen in der Genexpression nicht einem signifikanten Anstieg nukleärer Mutationen entspringen, sondern stattdessen das Resultat anderer Schadensarten sind (und der erfolgreichen und -losen Versuche von Zellen, angesichts dieser Schäden zu bestehen), ist die richtige ingenieursmäßige Antwort die, nukleäre Mutationen in Ruhe zu lassen und unsere Aufmerksamkeit auf die wahren Schuldigen in der altersbedingten Gen-Fehlregulation zu richten: Den Alterungsschäden, die unsere Zellen dazu zwingen, in zunehmend verzweifelten, ungeordneten und panischen Versuchen ihre Köpfe im Alterungsprozess über Wasser zu halten. Sobald unsere Zellen nicht länger unter Angriffen leiden, die von mitochondrialen Mutationen über AGE-Querverbindungen bis zu viszeralen Fettansammlungen reichen, können sich ihre Genexpressions-Profi le normalisieren, weil sie und ihre Umgebung wieder normal sein werden und zu einer jugendlichen Funktionsweise zurückgefunden haben. Ironischerweise könnten nukleäre DNA-Mutationen, wenn wir all diese Schadensursachen beseitigt haben, mit der Zeit doch beginnen, zu einem altersbedingten Tod beizutragen. Die Daten zeigen nur, dass Zellen relativ wenige nukleäre DNA-Mutationen ansammeln und diese Mutationen relativ wenig dazu beitragen, die Zellfunktion innerhalb einer normalen Lebensspanne zu beeinträchtigen. Doch was passiert, bei der gleichen Menge von DNA-Stoff wechselschäden und einem DNA-Replikations- und DNA-Reparaturmechanismus, der nicht besser ist als heute, wenn diese Lebensspanne um Jahrhunderte verlängert wird? Es kann sehr gut sein, dass Auswirkungen, die zu subtil sind, um innerhalb von neun Jahrzehnten ein pathologisches Stadium zu erreichen, langfristig zu einer echten Bedrohung werden. Doch darüber müssen wir uns jetzt keine Sorgen machen. Wie ich hinsichtlich der AGE-Querverbindungen in Kapitel 9 erklärt hatte, ist es ein Eckpfeiler der ingenieursmäßigen Herangehensweise an die Entwicklung der Anti-Aging-Biotechnologie, dass nicht alle Schadensarten sofort repariert werden müssen – wir müssen nur die Insulte bestmöglich ausgleichen, die innerhalb der heutigen Lebenserwartungen bedeutend zur altersbedingten Gebrechlichkeit beitragen. Sobald das erreicht ist, werden unsere Körper während der Jahre, in denen sie heute einem allmählichen Verfall ausgeliefert sind, jugendlich bleiben. Einige Formen molekularer Schäden, die uns heute keine Probleme bereiten, werden dann anfangen die Schwelle zu erreichen, jenseits welcher sie zu unserem ernsthaften, funktionalen Verfall beitragen. An diesem Punkt muss die nächste Generation von SENS ins Leben gerufen werden, um diese neuen pathologischen (und in manchen Fällen sogar neu identifi zierten) Schäden auszugleichen. Glücklicherweise wird uns unsere verlängerte Lebensdauer genug Zeit verschaffen, um zu beobachten, wie sich diese Schäden in unseren Körpern ansammeln und in denen von kurzlebigeren Tieren, deren Lebensspannen im Labor verlängert wurden und deren Jugend mit der gleichen Behandlung erneuert wurde. Im Laufe der Zeit werden wir immer bessere Werkzeuge entwickeln, um die-

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se neuen Schäden zu erkennen und Bekämpfungsmaßnahmen zu entwickeln. Entscheidend ist, die Barrieren zu überwinden, die uns heute zurückhalten, und dann in der Lage zu sein, neu in Erscheinung tretende zu bezwingen. Die vorliegenden Beweise zeigen, dass Kernmutationen noch keine solche Grenze darstellen – doch in der Zukunft können sie das sehr wohl werden.

Die Ausnahme, die die Regel definiert Ich habe in diesem Kapitel bisher erläutert, dass man sich nicht zu sehr um nukleäre DNA-Mutationen sorgen muss, weil selbst diejenigen, die der Zelle tatsächlich schaden, im Normalfall unbedeutend sind. Und selbst wenn sie bedeutend sind, beschränkt sich der von ihnen verursachte Schaden meist auf eine oder wenige Zellen, sodass jede Einschränkung, die durch ihre Fehlfunktion verursacht wird, von anderen Zellen im Gewebe ausgeglichen werden kann. Doch es gibt natürlich eine enorm wichtige Ausnahme von dieser Regel: Krebs. Krebs ist bekannterweise eine von Kernmutationen verursachte Krankheit (wenngleich es, wie wir gesehen haben, üblicherweise mehr als nur Mutationen braucht, um eine anomale Zelle in ausgewachsenen Krebs umzuwandeln). Die Zahl der Krebsneuerkrankungen steigt außerdem mit dem Alter deutlich. Ich werde gleich erläutern, wie wir Krebs meiner Meinung nach endgültig besiegen können. Doch zunächst werde ich erklären, warum Krebs der Grund für unseren anscheinend »unnötig« guten Schutz gegen die Ansammlung von Kernmutationen ist. Bedenken wir zunächst, dass Krebs unter anderem deswegen ein so furchtbarer Feind ist, weil jede beliebige Anzahl verschiedener Mutationen zur Entstehung von Krebs beitragen kann. Ein Ausfall irgendeines der vielen vor Krebs schützenden Systeme – Mutationen, die zur Bildung eines fehlerhaften Seneszenz- oder Apoptose-»Tumor-Unterdrücker«-Proteins führen oder zur exzessiven Produktion eines Zellrezeptors für Wachstumssignale oder zur Reaktivierung eines unterdrückten Telomerase-Gens – kann ein entscheidender Schritt auf dem langen, unvorhersehbaren Weg sein, der eine gesunde Zelle abtrünnig werden lässt. Wie bei allen anderen altersbedingten Todesursachen wird das natürliche Schutzniveau vor potentiell Krebs verursachenden Mutationen von den Kosten bestimmt, die für die Entwicklung und Wartung der für diesen Schutz notwendigen Maschinerie notwendig sind. Einerseits ist es sinnlos, alles daran zu setzen, den Organismus so resistent gegen den Alterungsprozess zu machen, dass er 200 Jahre lang jung und gesund bleiben kann, wenn es sehr wahrscheinlich ist, dass der Organismus in seinem dritten Jahrzehnt erfriert, verhungert, erkrankt oder von etwas gefressen wird. Die Ressourcen wären für ein wärmeres Fell, schärfere Krallen oder einfach eine kürzere Schwangerschaftsdauer besser eingesetzt. Doch andererseits muss das Lebewesen innerlich unversehrt bleiben, solange es diese Bedrohungen der äußeren Umgebung überleben kann, denn jedes Jugendjahr ist eine weitere Gelegenheit, seine Gene weiterzugeben. Wenn Sie sich diesbezüglich unsicher fühlen, können Sie zurückblättern und nochmal Kapitel 3 lesen.

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Angesichts dieser sich widersprechenden Prioritäten wird die natürliche Auslese stark darum bemüht sein, eine Maschinerie zu kreieren, die so gut vor potentiell kanzerösen Mutationen schützt, um Krebs zumindest so lange auf Distanz zu halten, wie der Organismus wohl schwere Winter, Kriege und Angriffe von Feinden überstehen würde. Doch eben aufgrund der Natur der Krebsbedrohung – dass so viele verschiedene Mutationen zu Krebs beitragen können – kann es sich der Körper nicht leisten, sich die zu schützenden Gene rauszupicken. Der einzige effektive Schutz vor Krebs besteht darin, die Unversehrtheit jedes einzelnen unserer Gene zu gewährleisten. Weil wir ein so ausgeklügeltes DNA-Synthese-Reparatur-System haben, das jedes Gen überwacht, obwohl die meisten Mutationen vernachlässigbare Auswirkungen auf den gesamten Körper haben, sind altersbedingte Mutationen im Zellkern so selten. Um den Organismus angemessen vor Krebs zu schützen, sind die Mittel der Evolution am effizientesten für ein System eingesetzt, in dem jedes Gen den LuxusAntimutationsschutz bekommt, von dem man erwarten könnte, dass er für einige wenige privilegierte, überlebenswichtige, Krebs vermeidende Gene reserviert ist.17

Eine Herausforderung für 2015 Diese Analyse zeigt, dass wir uns nicht allen Mutationen zuwenden müssen, um eine Reihe von Eingriffen zu entwickeln, die umfassend genug sind, um die erste dramatische Verlängerung der menschlichen Lebenserwartung herbeizuführen. Diese Erkenntnis war entscheidend für die ursprüngliche Entwicklung der SENS-Plattform im Jahr 2000, denn sie zeigte mir, dass die schiere Reichweite des nukleären Mutationsproblems in gewisser Hinsicht viel kleiner war, als ich zuerst befürchtet hatte. Mir wurde klar, dass die altersbedingte Anhäufung von nukleären Mutationen im Verlauf einer zur Zeit normalen Lebensspanne im Wesentlichen harmlos ist: Das Tempo ihrer Anhäufung ist unzureichend, um signifi kant zum altersbedingten Verfall beizutragen. Doch wir müssen uns nachdrücklich der einen riesengroßen Ausnahme dieser Regel zuwenden: Krebs. Im Prinzip könnten wir Kernmutationen ganz einfach ignorieren, wenn und nur wenn wir eine wirklich effektive Lösung finden, um uns vor dieser fatalen Krankheit zu schützen. Es steht viel auf dem Spiel. Krebs ist unvereinbar mit der Erschaff ung eines alterslosen Organismus. Wir können die zellulären AGE-Fesseln zerschlagen, unser Gehirn und unser Herz von Amyloidnetzen befreien, die dreckigen Tiefen unserer Lysosomen ausputzen und alles andere – doch wenn es uns nicht gelingt, einen Durchbruch gegen diese eine Krankheit zu erzielen, werden wir immer noch mit Mitte 80 sterben. Wenn Sie die Medienberichterstattung über die Fortschritte im Kampf gegen den Krebs verfolgt haben, sind Sie jetzt vielleicht weniger besorgt, als Sie sein sollten. Die Medien – und auch die Wissenschaftler und Bürokraten, über die sie berichten – posaunen gerne jeden Fortschritt (tatsächlich sogar jeden Hinweis auf einen Fortschritt) bei der Krebsbehandlung in die weite Welt hinaus. Es gibt so viele Berichte über potentiell neue Krebsbehandlungsmethoden, dass man denken könnte, wir wären schon fast so weit, den Krebs zu beherrschen. Dies gilt besonders hinsichtlich der

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gezielten Krebstherapien, die ich in Kapitel 10 beschrieben habe – Therapien, die im Allgemeinen viel sicherer und wirksamer sind oder hoffentlich sein werden, als die Messer, Gifte und Bestrahlungen, die in den letzten Jahrzehnten die Eckpfeiler im Kampf gegen Krebs waren. Und Sie wären weder auf sich gestellt noch außerhalb des wissenschaftlichen Mainstreams, wenn Sie so dächten. 2003 ließ niemand geringerer als Dr. Andrew von Eschenbach, der Direktor des amerikanischen National Cancer Institute, eine ehrgeizige, aber (so behauptete er) realistische Vision seiner Organisation verlautbaren: bis ins Jahr 2015 das durch den Krebs bedingte Leiden und Sterben zu beenden. Dr. von Eschenbach artikulierte nicht einfach nur aus einer Laune heraus seine Träume: Er legte eine nüchterne Einschätzung dessen vor, was die weltweite wissenschaftliche Gemeinde, unter Leitung des NCI, in rund einem Jahrzehnt erreichen könnte. Das wurde die formale Agenda des Instituts: »Challenge Goal 2015«. Der Zeitplan ist mittlerweile so fest in der Organisation verankert, dass er einfach nur als »2015« bezeichnet wird, ohne dass eine weitere Erklärung notwendig wäre, auf dieselbe Art und Weise, wie einst über »Y2K« gesprochen wurde. 18 Ich glaube, dass dieses Ziel absolut unrealistisch ist und nur deshalb entstanden ist, weil die darin enthaltenen fehlerhaften Annahmen nicht erkannt wurden. Zunächst heißt es ausdrücklich, »nicht die ›Heilung‹ von Krebs ist gemeint, sondern vielmehr die Beseitigung vieler Krebsarten und die Kontrolle von anderen, sodass Menschen mit Krebs leben können und nicht daran sterben werden«.19 Falls machbar, ist das ein absolut legitimes medizinisches Ziel: Es wäre eine enorme Erleichterung menschlichen Leidens und Sterbens an einer schrecklichen Krankheit, wenn Krebs so kontrollierbar wäre wie heutzutage Altersdiabetes oder AIDS, wo die Krankheit noch präsent ist, aber so gut im Griff ist, dass die Patienten ein fast normales Leben führen können. Doch Krebs unterscheidet sich wesentlich von diesen Krankheiten, sodass ein chronisches »Management« ausgeschlossen ist. Diabetes und Bluthochdruck können auf einem sicheren, handhabbaren Level gehalten werden, exakt weil sie sehr stabile Krankheiten sind. Krebs ist jedoch so grausam, weil es eine sich ständig entwickelnde Krankheit ist, ein erfindungsreicher, genetischer Haufen, der kontinuierlich neue und bessere Wege findet, um unsere Kontrollversuche zu überlisten. Den Krebs auf das Niveau einer chronischen Krankheit zurückzudrängen kann nur einer Idee entspringen, die die Grundlagen der natürlichen Auslese vollkommen ignoriert. Krebszellen sind durch eine enorme genetische Instabilität gekennzeichnet, die zum größten Teil aus der Tatsache resultiert, dass sie fast immer durch eine Mutation in einem oder mehreren der »Genomwächter« entstehen – der Gene, die Mutationen überwachen und entweder die Reparatur des DNA-Schadens oder die Aktivierung eines Seneszenz- oder Apoptose-Programms einleiten. Ohne diese konstante Beobachtung und Wartung könnten sich die zufallsbedingten Schäden, die die Zellen täglich erleiden, zu ausgewachsenen Mutationen entwickeln, und der Prozess wird selbstverstärkend, je mehr regulierende Gene verloren gehen. Viele dieser Mutationen sind für die Krebszelle tödlich, doch einige führen zu lebensfähigen Nachkommen, die sich einfach nur von ihren Eltern und Halbgeschwistern unterscheiden. Und hier kommt die natürliche Auslese ins Spiel. Krebs-

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zellen reproduzieren sich, per Definition, mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Sie entlassen ihre Missgeburten in die Welt und lassen das Prinzip der natürlichen Auslese walten. Das Immunsystem oder Onkologen tun ihr Bestes, um den Tumor zu bekämpfen, die Schwachstellen im Stoff wechsel der Krebszellen ausnutzend: ihre Abhängigkeit von besonderen Wachstumsfaktoren beispielsweise oder ihre Abhängigkeit von einem reaktivierten Telomerase-Gen oder ihr Hunger nach Folsäure. Doch innerhalb eines einzigen Tumors gibt es eine so erstaunliche Vielfalt von Zellen, jede mit der ihr eigenen Kombination von normalen und abnormen Genen, dass zumindest einige dieser Zellen fast immer einen Weg finden, einen bestimmten Angriff zu überleben: eine bessere Fähigkeit, ein gewisses Gift unschädlich zu machen, oder eine alternative Methode, das Wachstum beizubehalten, selbst wenn ein spezieller Signaltransduktionspfad geschlossen wurde. In der Folge ist es letztlich egal, ob eine Therapie 99 Prozent der Zellen eines Tumors abtötet. Irgendwo in seinem Kern lauert der dunkle Ahne eines »Krebs-Stammes« mit einer neuen Mutation, die es ihm erlaubt, das Medikament zu überleben, das seine Verwandten getötet hat. Dieses wilde Wachstum der Ursprungszelle steigt sogar dann noch, wenn wir seine Verwandten dezimieren, oder es setzt sich fort, wenn der Patient den Belastungen der Behandlung nicht mehr standhalten kann. Seine Nachfahren überleben den Angriff und werden folglich genau durch das, was ihre Verwandten getötet hat, zum Überleben auserwählt. Wenn der nachfolgende Tumor groß genug wird, um ihn aufzuspüren, greifen wir scheinbar denselben Krebs in demselben Patienten mit den gleichen Mitteln an. Doch die zuvor bewährten Mittel werden diesmal nicht helfen. Es steckt wirklich viel Wahrheit in dem Ausspruch, dass man die Evolution nicht überlisten kann. Als ich über all dies zur Jahrtausendwende, während meines ursprünglichen SENS-»Heureka!«-Moments, nachdachte, kristallisierte sich in meinen Gedanken eine düstere Formulierung des Problems heraus. Es ist nicht mein Ziel, dachte ich, bloß Zeit für den Krebs zu gewinnen.

Den Krebs ver welken lassen Nüchtern betrachtete ich meine eigene Antikrebs-Herausforderung: die Entwicklung einer Krebsbehandlung, die uns solange von klinisch relevantem Krebs frei hält, wie uns die anderen SENS-Therapien von anderen altersbedingten Krankheiten frei halten würden. Die obige Argumentation schloss sofort alle bestehenden Ansätze aus, die uns einen Kampf nach dem anderen kämpfen lassen, gegen einen Feind, dem die unerbittliche Kraft der Evolution zur Seite steht – ein Kampf, in dem wir einzelne Schlachten gewinnen können, aber letztendlich doch besiegt werden. Die Antwort kam mir im März 2002, als ich gerade ein Bier in einem Café in Italien genoss. Wie schon in jener Nacht in Kalifornien im Jahr 2000 kam ich zu einer Erkenntnis, die in mancherlei Hinsicht absolut offensichtlich war und die doch unaufhaltsam zu revolutionären Schlussfolgerungen führte. Um Krebs zu bekämpfen, erkannte ich, benötigen wir eine Therapie, die von nichts abhängig ist, wovon der Krebs durch eine mutationsbedingte Veränderung in der Genexpression entkommen

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kann. Also müsste jeder Ansatz drei Schlüsselkriterien erfüllen, um lebensfähig zu sein. Zunächst müsste Krebszellen zwingend der Zugang zu Werkzeugen verwehrt werden, die absolut unerlässlich für das Überleben jeder Krebszelle sind, sodass sie ihren Verlust nicht einfach ausgleichen könnten, indem sie einen anderen Genexpressionspfad durch die Mutation anderer Gene frisieren. Zweitens müssten wir dieses Werkzeug so gut entfernen, dass es von keiner Mutation wiederhergestellt werden kann. Und drittens müsste dieses Werkzeug eines sein, das unser normales, nicht kanzeröses Gewebe entbehren kann. Ich hatte das zu blockierende Werkzeug schnell gefunden: Telomerase. Ich habe dieses Enzym schon in Kapitel 10 bei der Diskussion seneszenter Zellen erwähnt. Jetzt ist es an der Zeit, ins Detail zu gehen. Unsere DNA enthält einen Abschnitt unsinniger DNA oder DNA-»Rauschen« namens Telomer. Telomere sind für unsere Gene das, was das kurze, stumme Stückchen »Vorlaufstreifen« am Anfang einer Musikkassette für die Lieder auf dieser ist: Sie geben dem »Kassettenabspielgerät« (der DNA-KopierMaschinerie) etwas, woran es sich festhalten kann, sodass die wichtigen Informationen am Anfang jedes ersten »Liedes« (Gen) auf der Kassette nicht verloren gehen. Ein entscheidender Unterschied zwischen Telomeren und Kassettenvorlaufstreifen besteht darin, dass die Vorlaufstreifen so lange intakt bleiben wie die Kassette, wohingegen sich die Telomere jedes Mal ein klein wenig verkürzen, wenn die Zelle eine Kopie ihrer selbst erstellt oder von schädigenden Stoffen wie freien Radikalen getroffen wird. Ohne Telomerase würde diese allmähliche Verkürzung schließlich zum kompletten Verlust der Telomere in den Zellen führen, die im Laufe des Lebens häufig Replikate ihrer selbst erstellen, und damit auch zur allmählichen Erosion der Gene selbst. Telomerase verlängert die Telomere in periodischen Abständen wieder, bevor sie zu kurz werden. Wie all unsere anderen Gene ist die DNA, die das Telomerase-Enzym kodiert, in all unseren Zellen vorhanden – da es aber erst benötigt wird, nachdem es zu einer ganzen Menge Zellteilungen gekommen ist, wird es in den meisten Zellen die meiste Zeit nicht oder sogar nie benötigt und ist folglich deaktiviert. Dieses weit verbreitete Fehlen der Notwendigkeit von Telomerase wird von der Evolution als Schlüsselkomponente in der Verteidigung gegen Krebs genutzt, denn eine Grenze hinsichtlich der Größe und Erneuerung unserer Telomere zu haben hindert unsere Zellen daran, sich unbegrenzt zu replizieren – das entscheidende Merkmal von Krebs. Ein ausgewachsener Krebs (im Gegensatz zu einer Zelle mit einer einzigen, potenziell bedrohlichen Mutation – ein genetischer »Risikofaktor«, ein Krebs zu werden) benötigt fünf bis zehn Mutationen, und in statistischer Hinsicht bedeutet das mehrere Runden Zellteilung und Selektion. Die Berechnungen sind komplex, doch der Konsens ist, dass sich ein Krebs mindestens 200-300 Mal replizieren muss, um ein Gesundheitsrisiko darzustellen, wenngleich ein klinisch relevanter Tumor »nur« eine Million Millionen (eine »Eins« mit zwölf Nullen) Zellen enthält, die von »nur« rund 40 Teilungen ausgehen könnten, wenn die ursprüngliche Zelle alle notwendigen Mutationen aufgewiesen hätte. Und um wirklich bösartig zu sein (d.h. um eine Kolonie von Krebszellen zu gründen, die sich im ganzen Körper ausbreitet, im Gegensatz zu einem lokalen Tumor, der durch eine Operation leicht beseitigt und vergessen werden kann), müssen Krebszellen dann in der Lage sein, die fieberhafte Geschwindig-

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keit ihrer Replikation noch länger aufrechtzuerhalten. Die rasende Reproduktion von Krebszellen ist auch ein wichtiger Bestandteil ihrer Fähigkeit, unseren Angriffen auszuweichen, denn sie trägt wesentlich zu ihrer Fähigkeit bei, neue Lösungen gegen die Herausforderungen zu entwickeln, die wir ihnen in den Weg legen. Folglich ist es keine Überraschung, dass Mutationen, die Telomerase von ihren repressiven Fesseln befreien, an die sie in normalen Zellen gebunden ist, in über 90 Prozent der Krebszellen gefunden werden. Die restlichen zehn Prozent haben auch eine Möglichkeit, ihre Telomere zu erneuern – ein wenig verstandener Mechanismus namens »Alternative Telomer-Verlängerung« (ALT), auf den ich später eingehen werde. So oder so kommt die zielstrebige Multiplizierung potentieller Krebszellen ohne die Möglichkeit, ihre Telomere zu erneuern, schnell zum Erliegen, sobald das Ende des Telomer-»Bandes« erreicht ist. Wir stehen dann mit einem kleinen (und üblicherweise kurzlebigen) Klumpen in unserem Körper da, anstatt mit einer lebensbedrohlichen, bösartigen Krankheit. Wenn wir dem Krebs nun dieses eine Werkzeug entreißen könnten, würden sich jegliche emporstrebenden Krebserkrankungen totlaufen, bevor sie lebensbedrohliche Ausmaße annehmen – tatsächlich sogar, bevor viele von ihnen zu Krebs werden, denn ihnen würde die Möglichkeit genommen, das volle Spektrum an Mutationen durchzumachen, das notwendig ist, um die Art von abtrünniger Zelle entstehen zu lassen, die für den Körper eine echte Gefahr darstellt. Ich war natürlich kaum der erste, der dieses Problem so weit durchdacht hatte. Verschiedene Biotech-Unternehmen – allen voran das US-amerikanische Unternehmen Geron, das sich zuerst durch Telomer-Forschung einen Namen gemacht hatte – arbeiten an Antikrebs-Medikamenten, die Telomerase deaktivieren sollen. Doch diese Pharmazeutika haben das gleiche Problem wie alle anderen medikamentenbasierten Ansätze, die auf einer Beeinflussung der Genexpression basieren: Sie wirken als eine Kraft der natürlichen Auslese gegen eine Krankheit, der die Evolution zur Verfügung steht. Ein Telomerase-Inhibitor würde die Krebszellen abtöten, in denen er das Enzym tatsächlich deaktivieren kann (und in welchem ALT nicht den Platz der Telomerase eingenommen hat), doch er würde all jene Zellen zurücklassen, die Mutationen beherbergen, welche ihnen erlauben, ihre Telomere trotzdem zu erneuern. Verschiedene Krebszellen können beliebig viele Variationen aufweisen, die es ihnen erlauben, der Wirksamkeit der Medikamente zu entgehen. Einige würden ihre Telomerase-Aktivität einfach noch stärker ankurbeln, manche würden die Aktivität von Wirkstoff umwandelnden Enzymen verstärken, die den Hemmstoff abbauen, wieder andere würden ihre Zelloberflächenproteine verändern, um dem Medikament das Eindringen in die Zelle zu erschweren. Egal wie, wenn auch nur eine Krebszelle der Wirksamkeit eines solchen Medikaments entgeht, kann sie der Keim einer erneuten Blüte des Tumors in einem dunklen Frühling werden. Noch einmal: Es ist sinnlos, die Aufgabe nur halbherzig zu erledigen. Wenn wir die Telomerase aus den Fängen der Krebszellen entreißen wollen, dachte ich, müssten wir sie richtig entfernen. Und mir fiel nur ein möglicher, verlässlicher Weg ein: durch das Beseitigen des sie kodierenden Gens. Die Evolution kann natürlich ganz neue Gene erschaffen – doch dazu braucht sie sehr, sehr lange. Tatsächlich werden im Laufe der Evolution nur sehr wenige neue

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Gene geschaffen oder auch alte entfernt, weil es eben so schwer ist: Stattdessen findet die Evolution neue Möglichkeiten, bestehende Gene zu regulieren, oder neue Funktionen für Gene, die sich von ihren ursprünglichen unterscheiden.20 So besteht beispielsweise die Augenlinse aus klaren, flexiblen Proteinen namens Kristallinen, die scheinbar keinen anderen Zweck haben, als Licht zu bündeln. Dennoch gibt es sie im Nervensystem der Seescheide, wo sie zu einem Organ gehört, das das »Unten« durch die Wahrnehmung der Schwerkraft erkennt. Das Gen ist natürlich in jeder Zelle ihres Körpers vorhanden und eine Mutation in einer Proto-Augenzelle bei einem unserer Vorfahren, der dieses Gen aufwies, hat vielleicht dazu geführt, dass es dort zu seiner Expression kam, wo es zuvor ausgeschaltet war, was das Protein in die Lage versetzte, das Licht hineinscheinen zu lassen. Unser Genom weist keine Gene auf, die denen der Telomerase ähneln und bereit wären zu mutieren und sie zu ersetzen, wenn der Krebs es verlangt. Das Löschen des Telomerase-Gens wäre also, im Gegensatz zu dem Versuch, es irgendwie zu unterdrücken, ein nahezu todsicherer Weg, Krebszellen permanent stillzulegen. (Ich wiederhole: Diese Logik ignoriert die Alternative Verlängerung von Telomeren, doch keine Sorge – ich werde bald auf ALT eingehen.) Im Jahr 2000 hatte ich gehoff t – und in der Publikation, die aus dem ersten SENS-Workshop hervorging,21 sogar spekuliert – dass es einen Weg geben könnte, dies nur in den Krebszellen zu tun. Mir wurde jedoch zusehends klar, dass wir das niemals bei allen Krebszellen tun könnten, wenngleich es bei den meisten möglich wäre, und zwar aus denselben evolutionären Gründen, auf denen ich immer wieder rumhacke: Jeder Mechanismus, der speziell auf Krebszellen abzielt, muss einen Mechanismus aufweisen, der einen Unterschied zwischen diesen und normalen Zellen ausnützt – und diese Unterschiede hätten natürlich eine genetische Basis, die die »Zeltklappe« für eine mutierte Subpopulation von Krebszellen offen lässt, um ihre evolutionäre »Nase« hineinzustecken. Schließlich, ganze 18 Monate später in besagtem italienischen Café, flüchtete ich nicht länger vor dieser Schlussfolgerung. Der einzig sichere Weg, den Krebszellen die Telomerase vorzuenthalten, wäre der, es allen Zellen vorzuenthalten. Wir müssten, so erkannte ich, das Telomerase-Gen aus jeder Körperzelle entfernen, zusammen mit dem ALT-Mechanismus, wodurch eine kleine Minderheit von Krebszellen ihre Telomere verlängert, ohne auf Telomerase selbst zurückgreifen zu müssen. Ich würde dieses therapeutische Ziel bald als »Whole-body Interdiction of Lengthening of Telomeres« (WILT), zu deutsch »Gesamtkörper-Interdiktion der Telomer-Verlängerung« [Anm. d. Ü.], bezeichnen. Telomerase aus allen Zellen unseres Körpers zu entfernen würde dem Krebs vorbeugen, bevor er die Möglichkeit hätte, sich zu entwickeln. Doch Sie können sicherlich sehen, warum ich so lange brauchte diese Option zu entdecken – und warum es noch niemand vor mir erkundet hatte. Die Telomer-Verlängerungsfähigkeit im ganzen Körper zu entfernen wäre zugleich lebensbedrohlich, denn dann hätten unsere regulären, sich vermehrenden Zellen (wie die in der Haut oder im Darm) plötzlich eiserne Grenzen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, sich zu teilen und dadurch das Gewebe zu erneuern. Wenn wir unsere Zellen der Telomerase berauben, läuft der Countdown. Mit jeder Teilung verkürzt sich das Telomer. Wir sähen einem recht

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grauenvollen Tod entgegen, während unsere Stammzellen eine nach der anderen durch replikative Seneszenz offline gehen (s. Kapitel 10): Mit jedem Verlust einer Stammzelle, die beispielsweise den Darm oder die Lunge säumte, verlören die Gewebe ihre Fähigkeit, sich zu erneuern, und degenerierten langsam. Somit wären die Folgen der Telomerase-Auslöschung für sich häufig teilende Zellen wirklich ernst – und nach meiner Rechnung innerhalb von einem Jahrzehnt nach der Telomerase-Löschung sogar fatal. Doch Moment mal, dachte ich sofort, SENS hat bereits eine Lösung für »normalen«, altersbedingten Zellverlust vorgeschlagen: Stammzellen. Wir könnten also mit dem Zellverlust ganz gut fertig werden, wenn wir ein ausreichend differenziertes Programm zur Erneuerung mit Stammzellen hätten – und zwar mittels Zellen, die wir so behandelt hätten, dass ihnen die eine zentrale genetische Stütze für Krebs fehlt, nämlich die Telomerase. Natürlich würden auch diese Stammzellen irgendwann versiegen, wenn ihre Telomere abgenutzt sind – doch genau dieser Situation sind wir hinsichtlich aller altersbedingter Schäden ausgesetzt. Der Ingenieur weiß, dass wir nicht jede einzelne Spur zellulärer und molekularer Beeinträchtigung aus unseren Systemen herausreißen müssen, um einen Körper zu erschaffen, der weder einen altersbedingten Verfall noch Tod erleiden wird. Die Gewebe eines 20-Jährigen sind bereits von Alterungsschäden durchsetzt und es werden jeden Tag mehr. Doch man müsste schon sehr genau hinsehen, um gesundheitliche Unterschiede zwischen einer gesund lebenden 25 Jahre alten Person und derselben Person im Alter von 35 Jahren zu finden, denn das Ausmaß an Alterungsschäden ist mit 35 noch immer unter der Schwelle, wo es funktionale Einschränkungen hervorrufen würde. So lange wir es auf dem Niveau halten, werden wir biologisch jung bleiben. Würden wir also Stammzellen mit schönen, langen Telomeren einführen, könnten wir ihre Verkürzung und ihren letztlichen Verlust durch Apoptose, Seneszenz oder andere Schadensarten zulassen – und unsere Gewebe einfach mit neuen Stammzellen auff üllen, bevor genug Zellen verloren gegangen sind, um die Gewebefunktion einzuschränken. Die Notwendigkeit regulärer Behandlungen wäre in diesem Fall letztlich kein Unterschied zur Notwendigkeit regelmäßiger Runden von AGE-Brechern oder der Beseitigung inaktiver T-Zell-Klone. Vergisst man seine Medizin, wird man letztlich an den Folgen leiden – hält man sich dagegen an den Plan, so bleibt man unbegrenzt jung und gesund. In diesem Fall ist die Ingenieurslogik noch überzeugender, denn derselbe »Schaden«, der uns vielleicht letztendlich töten würde (in diesem Fall der Verlust unserer Telomere), ist genau der, dessen Ablauf wir sicherstellen müssen, um nicht an anderen Ursachen (die unkontrollierte Zellteilung, die das Herzstück von Krebs bildet) zu sterben. Man löst beide Probleme auf einmal, wenn man all unseren Zellen ein Verfallsdatum aufdruckt und zugleich sicherstellt, dass sie regelmäßig durch neue ersetzt werden. Das Rational, die Telomerase zu entfernen, ist sogar noch stärker, denn wenn man die Anzahl möglicher Zellteilungen unserer Stammzellen (und der von ihnen abstammenden reifen Zellen) beschränkt, brächte uns das sogar einen zusätzlichen Anti-Krebs- und Anti-Aging-Vorteil. Wir haben oft den Eindruck, dass die meisten

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altersbedingten nukleären DNA-Mutationen das Resultat von Schadstoffen wie freien Radikalen, Strahlung und mutagenen Chemikalien sind. Tatsächlich sind die meisten nukleären Mutationen jedoch das Ergebnis von DNA-Kopierfehlern, die während der Zellteilung auftreten. Und obwohl es in den Medien fast nie erwähnt wird, tritt Krebs meistens nicht in den entwickelten Zellen unseres Körpers auf, sondern in unseren Stammzellen, wo eine reguläre Zellteilung und ein aktives Telomerase-Gen es relativ leicht machen, die Handbremse des Zellwachstums zu lösen.22 (Tatsächlich war es meine wachsende Wertschätzung dieser Tatsache im Jahr 2001, die mich auf die Ideen brachte, die in das WILT-Konzept mündeten.) Durch die Beschränkung der möglichen Zellteilungen, die unsere Stammzellen durchmachen können, bevor sie sterben, würden wir zugleich die Anzahl Mutationen beschränken, die diese ansammeln können – und somit das Risiko einer Mutations-Kombination, die sie kanzerös werden ließe. An diesem Punkt hätten wir den Krebs besiegt. Kein Krebs könnte ein klinisch relevantes Stadium erreichen. Schlimmstenfalls gäbe es einige kleine kieselsteingroße Tumoren, kleine Kugeln abnormer Zellen, die ihre Wachstumsfähigkeit verloren haben und nicht lebensbedrohlicher sind als ein Leberfleck oder eine kleine Zyste. Und unser normales Gewebe bliebe intakt, solange wir unsere Stammzellen regelmäßig erneuern (siehe Abb. 1). Abbildung 1: Die Wirkungen von traditionellen (spät agierenden) Krebstherapien (b), Telomerase-Entfernung (c) und Telomerase-Entfernung mit zusätzlicher Stammzellerneuerung (d) auf die Prognose für Krebs (a). Gewebe wird erneuert a)

Aufstrebender Krebs

Krise

Telomerverlängerung aktiviert

Bösartiger Tumor Metastasen

TOD

Krise

Telomerverlängerung aktiviert

Bösartiger Tumor Metastasen

TOD

Gewebe wird erneuert b)

Aufstrebender Krebs

c)

TOD

Defekt

Gewebe wird erneuert Aufstrebender Krebs (#1)

Krise

Aufstrebender Krebs (#2)

Rückbildung Rückbildung

Krise

Aufstrebender Krebs (#3)

Rückbildung

Krise Defekt

Gewebe wird erneuert Transplantierte Stammzellen

Defekt

Transplantierte Stammzellen d) Aufstrebender Krebs (#1)

Krise

Aufstrebender Krebs (#2)

Rückbildung Krise

Aufstrebender Krebs (#3)

Rückbildung Krise

Rückbildung

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So unglaublich, dass es funktionieren könnte Ich werde nicht verschweigen, dass nahezu alle meine Kollegen, die zum ersten Mal davon hören, den WILT-Plan für absolut verrückt halten. Ich glaubte sogar selbst, wenngleich ich nicht an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifelte, dass ich irgendeine lebensbedrohliche Nebenwirkung dieses Zwei-in-Einem-Eingriffes, der sich in meinen Gedanken entwickelte, übersehen haben müsste. Also zog ich Experten zu allen relevanten Bereichen zu Rate – Telomer-Biologie, mutierte Menschen und Mäuse ohne funktionale Telomerase-Gene, der ALT-Mechanismus, Stammzellen, Knochenmarktransplantation und natürlich Krebs als eine Krankheit, die weit mehr ist als ihre charakteristische Bewahrung ihrer Telomere –, um zu bestätigen, dass meine Fakten korrekt waren und ich keinen wichtigen Aspekt außer Acht gelassen hatte, und um sie zu fragen, was sie von den technischen Herausforderungen hinsichtlich der Entwicklung der notwendigen Biotechnologien hielten. Ihre Reaktionen waren interessant und typisch für meine Erfahrungen im Ideenaustausch mit Experten unterschiedlicher Disziplinen in interdisziplinären Projekten. Jeder dieser Experten hielt das Projekt, als Ganzes gesehen, im besten Falle für waghalsig, im schlimmsten aber für »bloße« Science-Fiction. Doch ich war halbwegs erstaunt, als ich jeden von ihnen darum bat, die Machbarkeit und den Zeitrahmen der Entwicklung der einzelnen, ihre Disziplin betreffenden Komponenten von WILT zu beurteilen, denn jeder einzelne hielt sie für machbar (wenngleich ambitioniert) und hatte den Eindruck, dass es in dem Teilfeld der Biomedizin, in dem er täglich arbeitete, nichts gab, was ein unüberwindbares Hindernis darstellen würde. Nur auf den Gebieten, mit deren Wissenschaft oder Biotechnologie die Experten durch ihre Arbeit nicht vertraut waren, meldeten sie Zweifel an. Von diesen Diskussionen ermutigt eröffnete ich das dritte SENS-Seminar, das sich ganz WILT widmete, und lud viele der Experten ein, die ich bereits zu Rate gezogen hatte. Wie schon bei dem Treffen im Jahr 2000 hatte ich vor, die Teilnehmer in einem Raum zu versammeln und gleichzeitig an einer Lösung (oder aber dem Beweis, das eine solche nicht existiert) zum vollständigen, ganzheitlichen Eingriff arbeiten zu lassen, ihnen dabei zeigend (so hoff te ich), dass das Vorhaben in seinen Einzelbestandteilen und als Ganzes stimmig war. Zu meiner großen Zufriedenheit wurden beide Ziele erreicht und wir veröffentlichten die Ergebnisse in den Annals of the New York Academy of Sciences.23 Von allen involvierten Experten weigerte sich nur eine, das Ansehen (und die Mitschuld) der Autorschaft der Publikation mitzutragen – und ihre Gründe waren sehr aufschlussreich, wie der Danksagungsabschnitt der Arbeit, der mit ihrer Zustimmung geschrieben wurde, beweist. Dr. Nicola Royle, Dozentin am Lehrstuhl für Genetik der Universität von Leicester und Expertin für Telomere (und besonders für den ALT-Mechanismus), beharrte darauf, nicht als Autorin genannt zu werden – nicht etwa, weil sie am Erfolg von WILT zweifelte, sondern weil sie fest daran glaubte. Ihre Sorge war, dass uns – soweit sie sehen konnte – nichts daran hinderte, WILT als endgültiges Heilmittel gegen den Krebs und besonders als Bestandteil einer ganzen Reihe von SENS-Eingriffen zu entwickeln, die die Menschheit letztlich vom altersbedingten Verfall befreien und zu einer unbegrenzten jugendlichen und gesunden Lebensspanne führen würde. Sie

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war nicht bereit, diese Zukunft mit offenen Armen zu begrüßen: Wie bei vielen anderen war ihre grundsätzliche (aber, wie ich natürlich behaupte, unbegründete) Angst hinsichtlich der potentiellen Nachteile, die eine unbegrenzte Lebensspanne der Menschen auf die Umwelt und existierenden sozialen Strukturen hätte, so groß, dass sie nicht länger an der Entwicklung der SENS-Agenda teilnehmen wollte.24 Betrachten wir einige der technischen Herausforderungen und Bedenken, die auf der SENS-Konferenz diskutiert wurden – und natürlich bei nachfolgenden Treffen mit diesen Wissenschaftlern und anderen Kollegen an anderen Orten. 25

Was passier t, wenn wir Telomerase entfernen? Das ist offensichtlich. Wir reden davon, ein Gen zu entfernen, das zumindest in all unseren Zellen präsent ist, wenngleich es in Geweben, in denen sich die Zellen nie teilen müssen, wie den Muskeln, dem Herz und dem Gehirn, dauerhaft deaktiviert ist. Auf den ersten Blick würden wir nicht denken, dass die Entfernung des Gens (im Grunde eines oder beide von zwei Genen, da die Telomerase zwei Untereinheiten hat) aus der Zelle diesen Zellen Probleme bereiten würde. Andererseits wird das Enzym exprimiert und (unter strengen Kontrollen) routinemäßig von Zellen genutzt, die sich regelmäßig teilen müssen – vor allem Stammzellen. Welche Auswirkungen hätte es, sie ihnen allen zu rauben? Glücklicherweise haben wir diesbezüglich dank zweier Modelle ziemlich verlässliche Belege: Mäuse, die genetisch verändert wurden, sodass ihnen das eine oder andere der beiden Untereinheiten des Telomerase-Enzyms fehlt und eine menschliche Erbkrankheit namens Dyskeratosis congenita (DKC). Es ergibt sich im Großen und Ganzen ein ziemlich optimistisches Bild. Im Gegensatz zu Menschen werden Mäuse mit Telomeren geboren, die lang genug sind, um ihr ganzes Leben ohne Telomerase auszukommen. (Tatsächlich sind Mäuse deswegen eine ziemlich vertrackte Spezies als Modell für humanen Krebs.) Mäuse, deren Telomerase-Gene entfernt wurden, müssen demzufolge ihre zunehmend kürzer werdenden Telomere über mehrere aufeinanderfolgende Generationen weitergeben, bevor ein nennenswerter Schaden auftreten kann. Zu diesem Zeitpunkt entwickeln sie dann die Symptome, die man von einem Mangel an Stammzellen erwartet und die zuerst in den Geweben auftreten, die sich am meisten vermehren. Sie werden steril, da ihren Samen bildenden Zellen die Puste ausgeht, und ihre Därme und ihre Haut verlieren Zellen und werden fragil. Sie entwickeln zudem ironischerweise ein hohes Ausmaß an Krebs, was dem gesamten Programm zunächst zu widersprechen scheint – aber das ist nur ein Beispiel, warum Mäuse ein problematisches Modell für humanen Krebs sind. Einerseits sind die Telomere dieser Mäuse kurz genug, um die Stammzellvermehrung zu stören, aber lang genug, um einen Krebs so groß werden zu lassen, dass er einer Maus gefährlich wird – einfach weil Mäuse so klein sind, dass diese Tumoren, die in einem Menschen harmlos klein wären, die Organfunktionen beeinträchtigen und ein tödliches Maß an Ressourcen ihrer winzigen Körper abschöpfen können. Zweitens fällt es Mäusezellen relativ leicht, ALT zu aktivieren. Der Mangel an funktionsfähiger

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Telomerase bei diesen Mäusen bedeutet somit nicht, dass sie ihre Telomere nicht trotzdem verlängern können. Ausgeklügelte Kombinationen von Telomerase-Löschung mit anderen Mutationen können diese Unterschiede zwischen Mäusen und Menschen jedoch weitgehend vermeiden. Als dies getan wurde, 26 sank das Krebsrisiko dramatisch – in einem Fall auf ein so niedriges Level, dass keine der Telomerasefreien Mäuse an der Krankheit gestorben war, als ihr alle Tiere des gleichen Stamms, aber mit funktionaler Telomerase, erlegen waren. DKC-Patienten geben uns trotz ihrer Not ebenfalls Anlass zur Hoffnung. Sie weisen eine Vielzahl von Mutationen auf, die ein effektives Funktionieren ihrer Telomerase-Enzyme verhindern – entweder in der Telomerase selbst oder in Genen, die für Proteine kodieren, die für deren normale Funktion notwendig sind. Den Patienten verbleibt aber dennoch eine beschränkte Telomerase-Aktivität. Der wahrscheinliche Grund, weshalb wir keine Menschen sehen, denen das Gen komplett fehlt, ist, dass Menschen im Mutterleib viel mehr Zellteilungen durchmachen als Mäuse (und bei der Empfängnis kürzere Telomere haben als Mäuse), sodass Föten mit schwerwiegenderen Telomerase-Mutationen vermutlich spontan abgetrieben werden. Die Telomerase-Aktivität in DKC-Patienten ist aber in der Tat sehr niedrig. Folglich sind ihre Telomere kürzer als die normaler Menschen und sie entwickeln vorhersehbare Symptome, die denen telomeraseloser Mäuse ähneln: scheckige oder fleckige Haut; Flecken abnormer, verdickter weißer Zellen in den Schleimmembranen, ähnlich denen von Kettenrauchern; schwache, dünne Nägel mit Rissen und Brüchen; Haarausfall und Lungenprobleme; und Knochenmarkdefekte, die Probleme bezüglich Immunität, Blutgerinnung und der Zufuhr von Sauerstoff und Eisen zu den Geweben verursachen.27 Man dachte früher, dass die schlimmsten Symptome von DKC bei Teenagern und 20- bis 30-Jährigen auftreten, doch mittlerweile wissen wir, dass es nicht so einfach ist – und der Grund dafür stellt sich als extrem wichtig heraus. Dr. Inderjeet Dokal, der sich in der Abteilung für Hämatologie am Imperial College in London intensiv mit DKC-Patienten beschäftigt, erzählte mir und den anderen Teilnehmern am WILT-Gipfel 2002, dass die erste Generation einer besonderen Art von DKC-Patienten, die eine Mutation in einer Kopie eines Telomerase-Gens aufweisen, erst in ihren 40ern Symptome entwickeln – dass aber, wenn sie ihre bereits verkürzten Telomere an ihre Kinder und Enkel weitergeben, die Erben dieser Krankheit die Symptome immer früher entwickeln. Er und Berufskollegen bestätigten diese vorläufige Beobachtung später in gründlichen Studien an mehreren Familien. 28 Diese Tatsache bestätigt das Prinzip, dass es nicht der Mangel an Telomerase an sich ist, sondern das Erreichen einer kritischen Länge der Telomere selbst, das die Symptome verursacht. Das ist eine optimistische Erkenntnis, denn sie impliziert exakt, was wir erwarten (und hoffen) würden: Wenn wir das Knochenmark und andere Stammzellreservoirs regelmäßig mit neuen Stammzellen auff üllen können, deren Telomere weit über der kritischen Länge liegen, sollte es uns nicht nur gelingen, DKC zu heilen, sondern auch alle Probleme der Krankheit in Menschen mit vorsätzlich gelöschter Telomerase zu vermeiden. Tatsächlich ist die derzeit beste Behandlungsmethode für DKC eine Knochenmarktransplantation, bei der neue Stammzellen von Menschen ohne DKC die aufgebrauchten ersetzen.

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Was hat es mit dieser regelmäßigen Stammzellerneuerung auf sich? Das Knochenmark Knochenmarktransplantationen sind natürlich bereits alltäglich und fast ein Routine-Eingriff, nicht nur für DKC-Patienten, sondern auch für Patienten mit einer Vielzahl von Blutkrankheiten, Krebspatienten, die ihr Knochenmark durch Bestrahlung verloren haben, und viele andere. Dennoch gibt es viele Komplikationen bei diesen Patienten und viele Technologien, die wir unbedingt werden beherrschen müssen, falls wir Knochenmarktransplantationen für WILT nutzbar machen wollen. Knochenmarktransplantationen »haften« häufig nicht, weil sie nicht fest in ihre Nische im Knochen integriert sind, während die ursprünglichen Stammzellen noch dort sind. Für die erste Runde der WILT-Knochenmarkserneuerung müssen wir eventuell eine Chemotherapie anwenden, um die nativen Zellen zu zerstören – doch wir würden dies ohnehin tun wollen, um das Krebsrisiko zu minimieren, das bestünde, wenn diese alten, Telomerase-befähigten Zellen zurückbleiben würden. In den folgenden Runden wird der Prozess einfacher werden, da wir bewusst damit warten werden, die Zellen der ersten Transplantationsrunde zu erneuern, bis diese aufgrund ihrer sich abnutzenden Telomere zu sterben beginnen. Wie oft wird diese Stammzellerneuerung stattfinden müssen? Es sieht gut aus. Es gab findige Experimente, um die durchschnittliche Zeit zwischen der Teilung von Blutstammzellen zu ermitteln, und beim Menschen sind es mindestens ein paar Monate. Da es rund 50 Teilungen braucht, bevor menschliche Zellen ohne Telomerase-Expression die Verkürzung ihrer Telomere bemerken, sollte diese Teilungsrate ausreichend langsam sein, um uns rund ein gesundes Jahrzehnt bis zur nächsten Knochenmarkerneuerung zu garantieren.

Die Haut Aufgrund des Drucks, dass Hauttransplantate für Patienten mit Verbrennungen, entstellte Kinder und der plastischen Chirurgie zur Verfügung stehen müssen, ist uns ein erstaunlich schneller Fortschritt in der Kunst, neue Haut aus Stammzellen zu kreieren, gelungen. In Mäusen können wir die Haut jetzt bis zur Dermis entfernen (die Gewebeschicht unterhalb dessen, was wir normalerweise als »Haut« bezeichnen, wo die Haarfollikel, Schweiß und Hautöl ausscheidenden Drüsen sowie Blutgefäße sitzen) und die alte Haut, die wir entfernt haben, komplett rekonstituieren. Die Zellen der Dermis teilen sich nicht regelmäßig, somit müssen wir uns keine Gedanken wegen dem Abbau der Telomere machen. Erstaunlicherweise kann die Epidermis (die Schicht über der Dermis, wo wir die Stammzellen ersetzen müssen) durch Stammzellen ersetzt werden, die aus so verschiedenen Orten wie der Hornhaut der Augen stammen. Die Dermis orchestriert ihre schnelle Umwandlung in Haarfollikel-Stammzellen, die dann nach außen expandieren und das Gewebe erneuern. Je nachdem, wie oft sich Hautstammzellen unter dem Status quo teilen, sollte eine Runde Stammzellerneuerung auch hier circa zehn Jahre währen. Weil die Haut

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so leicht zugänglich ist, sollte sie zu den einfachsten und am wenigsten invasiven Ersatzroutinen von WILT-Stammzellen gehören.

Die Lungen Die innerste Schicht der Lungen löst sich, wie die Haut und der Darm, ständig ab und muss somit kontinuierlich erneuert werden. Es ist keine Überraschung, dass Lungenkomplikationen zu den häufigsten Todesursachen bei DKC-Patienten gehören. Da die Lunge der Haut in wichtigen Punkten ähnelt und relativ leicht zugänglich ist, gibt es keinen Grund daran zu zweifeln, dass wir auch hier bei entsprechendem Einsatz schnelle und relativ schmerzlose Fortschritte machen werden. Tatsächlich arbeiten einige Wissenschaftler bereits daran, hauptsächlich in der Hoff nung, Mukoviszidose-Patienten behandeln zu können. Zudem zeigen die letzten Schätzungen, dass sich Lungen-Stammzellen wesentlich seltener teilen als jene in der Haut. Die Forschung nutzt bis dato ähnliche Verfahren wie bei der Haut, wenngleich noch nicht mit Stammzellen. Dennoch ist ein Fortschritt erkennbar. In zwei verschiedenen Modellen immundefizienter Mäuse haben Wissenschaftler die Lunge von ihrer »Haut« (Epithel) befreit, sie bis zur darunterliegenden Basalmembran »abgeschabt« und anschließend das fehlende Gewebe durch restrukturierte Zellen aus der innersten Schicht der menschlichen Lunge ersetzt. Der nächste Schritt wird sein, dies mit Stammzellen zu wiederholen.

Der Darm Derzeit gibt es noch erhebliche Herausforderungen, was Stammzellerneuerung im menschlichen Magen-Darm-Trakt anbetriff t. Vor einigen Jahren gelang Dr. F. Charles Campbell, jetzt Professor der Chirurgie an der School of Medicine der Queen’s University Belfast, der erste große Durchbruch. Sein Team entnahm Stammzellen aus dem Magen-Darm-Gewebe von Mäusen, beseitigte die Zellen auf kleinen Abschnitten des Dickdarms und erneuerte das Gewebe anschließend durch Stammzellen, die sich in alle notwendigen Zellarten ausdifferenzierten und ein voll funktionales Gewebe entstehen ließen. Der Fortschritt war seitdem jedoch nicht rapide. Auf dem WILT-Gipfel erklärte Campbell, dass sein Team das gleiche Verfahren bei Schweinen anwendete. Diese Studien wurden nie veröffentlicht, doch das Resultat war eine Anhäufung dysfunktionalen Narbengewebes. Eine andere Gruppe hat jedoch seither bemerkenswerte Fortschritte in der Arbeit mit Hunden 29 gemacht und die Technik in Ratten und Mäusen weiterentwickelt. Auf diesem Gebiet ist noch viel Arbeit zu tun: Nicht zuletzt wäre die Öff nung von Darmbereichen, um existierende Zellen zu entfernen, viel zu invasiv für den Einsatz für WILT beim Menschen. Die Endoskopie könnte eine passablere Lösung sein, ähnlich dem derzeitigen Einsatz zur Entfernung potentiell kanzeröser Dickdarm-Polypen, und sie sollte in einigen Jahrzehnten, wenn wir sie tatsächlich brauchen werden, viel weiter fortgeschritten sein. Eine weitere Frage lautet, wie oft wir Stammzellen im Darm erneuern werden müssen. Frühere Schätzungen suggerierten, dass dies viel öfter als alle zehn Jahre

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geschehen müsste wie in anderen Gewebearten – eher mehrmals pro Jahr. Glücklicherweise ist jedoch leicht erkennbar, dass diese Zahlen falsch sein müssen. Wenn sich Darmzellen so viel schneller teilen würden als die Zellen in anderen Geweben, würden DKC-Patienten und telomeraselose Mäuse viel früher an Darmversagen erkranken als an Knochenmark- oder Hautstörungen – doch dies ist im Allgemeinen nicht der Fall. Es ist vielmehr so, dass all diese Gewebearten in allen Patienten ungefähr zur gleichen Zeit versagen. Wenn überhaupt, so ist es meistens das Blut, das im Menschen zuerst ausfällt, weshalb Knochenmarktransplantationen zeitweise helfen. Dennoch bleibt die Stammzellerneuerung des Darms wahrscheinlich ein invasiverer Eingriff als der in den Knochen.

Der Rest unseres Körpers Der Rest unseres Körpers ist in den relevanten Belangen wie die Dermis: Er besteht aus Zellen, die sich nicht regelmäßig teilen. Einige dieser Zellarten (einschließlich der Hautzellen, die Fibroblasten genannt werden) sind ruhend: Sie können sich teilen, tun dies aber nur, wenn sie dazu aufgefordert werden, zum Beispiel, um eine Wunde zu schließen. Andere sind postmitotisch: Sie sind absolut unfähig sich zu teilen und werden stattdessen von nachrückenden Vorläuferzellen erneuert, wenn überhaupt. Postmitotische Zelltypen stellen hinsichtlich Krebs offensichtlich kein Problem dar, aber ruhende Zellen benötigen etwas mehr Aufmerksamkeit. Die Tatsache, dass sie bei DKC oder von Telomerase befreiten Mäusen nicht signifikant beeinflusst werden und das relativ seltene Auftreten von Krebs bei ihnen gibt uns etwas mehr Zeit, um an der Sache zu arbeiten – und wenn wir es einmal geschaff t haben, vermutlich noch viel mehr Zeit zwischen jeder Runde der Stammzellerneuerung (im Gegensatz zum zielgerichteteren Ersatz »normalen« und pathologischen Zellverlusts durch Alterungsschäden, den wir mittels ESCs eher in Angriff nehmen werden, wie in Kapitel 11 beschrieben wurde.) Doch genau weil sie sich nicht teilen, gehen diese Zellen auch eine Weile nirgendwohin – und manchmal werden sie eben kanzerös. Folglich wollen wir uns möglichst gut vor von ihnen ausgehendem Krebs schützen. Die Entfernung seneszenter Zellen wird das ohnehin schon niedrige Risiko in diesen Geweben beträchtlich verringern, aber wir wollen es dennoch viel weiter herunterschrauben. Die wahrscheinliche Lösung für dieses Problem ist die zielgerichtete Genlöschung. Das stellt wiederum eine große Herausforderung dar, denn selbst bei Mäusen (wo die Gentherapie mittlerweile Routine ist) ist es äußerst schwierig, Gene in Zellen, die bereits im Organismus sind, ein- oder auszuschalten (im Gegensatz zum Einfügen von Genen in Spermien oder Eizellen, oder Embryonen, oder in Zellen, die dem Tier entnommen, verändert und ersetzt wurden). Doch wir machen auch hier Fortschritte. Die Hoffnung, diese Technik generell zur Gentherapie zu nutzen, ist groß, und sie könnte möglicherweise auch dazu genutzt werden, bei denjenigen Geweben die Telomer-Erneuerungsfähigkeit zu entfernen, die nicht von Stammzellen aufrechterhalten werden. Im Laufe der Zeit werden wir jedoch zwischen der Erneuerung altersbedingten Zellverlusts durch telomeraselose Stammzellen und schließlich dem Ersatz der ur-

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sprünglichen Stammzellen dieser Gewebe durch neue, die ebenso modifiziert wurden, diese Gewebearten langsam, immer jeweils ein paar Zellen, »WILT-ifi zieren« und das von ihnen ausgehende Krebsrisiko zunehmend minimieren.

Unterschätzt WILT die evolutionäre Erfindungsgabe von Krebs? WILT ist ein hochkomplexer, facettenreicher Vorschlag – aber er basiert, wie ich erklärt habe, auf einer absolut essentiellen Annahme. WILT wird scheitern, wenn der Krebs einen Weg findet, trotz der von uns gelöschten Gene endlos zu wachsen. Betrachten wir diese Möglichkeit etwas näher: Es könnte den Zellen gelingen, ihre Chromosomen zu replizieren, ohne die Telomere zu verkürzen, und somit die Notwendigkeit für Enzyme zu beseitigen, die diese Verkürzung umkehren. Es wurde spekuliert, dass einige Stammzellen genau das tun. Wenn sich Stammzellen teilen, produzieren sie normalerweise eine Tochter, die noch immer eine Stammzelle ist, und eine »vervielfältigende« Zelle, die sich ihrer benötigten Funktion entsprechend ausdifferenziert. (Diese Eigenschaft ist tatsächlich ein grundlegendes Merkmal der Definition, die die meisten Menschen von Stammzellen haben.) Durch ein ausgeklügeltes Kontrollsystem, das überwacht, welcher DNA-Strang in der Tochterstammzelle bleibt und welcher in die vervielfältigende Zelle wandert, könnten Stammzellen die DNA vor der Verkürzung bewahren. Doch hinsichtlich Krebs brauchen wir uns um diese Möglichkeit nicht zu sorgen, denn sie kann nur lineare Wachstumsraten verleihen und nicht das exponentielle Wachstum, das beim Krebs vorherrscht. Mit linearem Wachstum bräuchte der Krebs Tausende von Jahren, um groß genug zu werden, um uns zu töten. Eine andere Möglichkeit, die Telomerverkürzung zu vermeiden, ist die Art und Weise, wie dies Bakterien und sogar unsere eigenen Mitochondrien tun: keine Telomere zu haben! Die DNA von Bakterien und Mitochondrien ist kreisförmig angeordnet, somit gibt es kein Kopierproblem an den Enden. Es scheint jedoch kein bedeutendes Risiko zu geben, dass dies im Menschen möglich wäre. Wenn Telomere ganz kurz werden, verwechselt der DNA-Reparaturmechanismus der Zelle die rohen Enden der entblößten Chromosomen mit dem Ergebnis eines Chromosomenbruchs. Das verursacht einen fehlgeleiteten Reparaturversuch seitens der Zelle, der die Chromosomen an ihren Enden zusammenbindet – was für eine sich teilende Zelle rasch fatal ist, denn die Zellteilungsmaschinerie reißt das doppelte Chromosom wieder auseinander, nicht an der ursprünglichen Stelle, sondern an einer beliebigen, was die Gene zu einem funktionsunfähigen Durcheinander macht. Die letzte Möglichkeit ist leider realistischer. Ich habe sie in diesem Kapitel bereits einige Male beiläufig erwähnt: Krebs kann seine Telomere manchmal wieder verlängern, indem er andere Enzyme als Telomerase benutzt. Diese Enzyme wurden noch nicht identifiziert, sodass dem System der wenig informative Name ALT oder Alternative Telomer-Verlängerung gegeben wurde. Die gute Nachricht ist, dass ALT recht selten vorkommt – in manchen Geweben tritt es fast nie auf und in den wenigen Gewebearten, wo es auftaucht, tritt es in nicht mehr als der Hälfte der Tumoren in

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Erscheinung. Das bedeutet, dass zu seiner Aktivierung mindestens so viel Mutation notwendig ist wie zur Aktivierung der Telomerase – und das verrät uns, dass ALT mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der Aktivierung eines Gens abhängig ist, das normalerweise strikt ausgeschaltet ist, und nicht vom Aktivitätsverlust von Genen, die üblicherweise aktiviert sind. Das ist eine sehr gute Nachricht für WILT, denn wenn ALT tatsächlich von der Aktivierung eines Gens abhängig ist, statt nur vom Abschalten von Genen, wird es uns möglich sein, dasselbe mit dem Gen zu tun (wenn wir es einmal identifiziert haben), was der WILT-Ansatz für Telomerase vorschlägt. Es mag, wie beim Löschen der Telomerase, Nebenwirkungen geben, doch diese sollten so mit Stammzell- oder anderen regenerativen Therapien behoben werden können, wie es auch für die Telomerase-Entfernung möglich zu sein scheint.

Eine Nebenwirkung: Ver welkende Fruchtbarkeit? Eine mögliche Nebenwirkung des Telomeraseverlusts all unserer Zellen könnte mit der Zeit die Sterilität von Männern sein. Wenn das Kinderkriegen in einer Post-Verjüngungswelt noch eine Priorität haben sollte, werden Männer sich vielleicht dafür entscheiden, ihre Spermien frühzeitig einfrieren zu lassen, wie es Samenspender für IVF gegenwärtig tun. Nur das tatsächliche Zeugen von Babys wird natürlich sexuell von Belang sein: Nichts anderes wird durch WILT verloren gehen.

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Manche DNA kodiert für RNA, die nicht der Proteinerzeugung dient. Freitas, R.A.: The future of nanofabrication and molecular scale devices in nanomedicine. Stud Health Technol Inform 2002, 80: 45-59. De Grey, A.D.N.J.: Falsifying falsifications: the most critical task of theoreticians in biology. Med Hypotheses 2004, 62 (6): 1012-1020. Diese Arbeit untersucht den Gebrauch und Missbrauch verschiedener Tests, um die Beteiligung eines Prozesses am Altern zu beweisen oder zu widerlegen. Klungland, A./Rosewell, I./Hollenbach, S./Larsen, E./Daly, G./Epe, B./Seeberg, E./Lindahl, T./Barnes, D.E.: Accumulation of premutagenic DNA lesions in mice defective in removal of oxidative base damage. Proc Natl Acad Sci USA 1999, 96 (23): 13300-13305. Dollé, M.E./Busuttil, R.A./Garcia, A.M./Wijnhoven, S./Van Drunen, E./Niedernhofer, L.J./Van der Horst, G./Hoeijmakers, J.H./Van Steeg, H./Vijg, J.: Increased genomic instability is not a prerequisite for shortened lifespan in DNA repair deficient mice. Mutat Res 2006, 596 (1-2): 22-35. Schriner, S.E./Linford, N.J./Martin, G.M./Treuting, P./Ogburn, C.E./Emond, M./ Coskun, P.E./Ladiges, W./Wolf, N./Van Remmen, H./Wallace, D.C./Rabinovitch, P.S.: Extension of murine lifespan by overexpression of catalase targeted to mitochondria. Science 2005, 308 (5730): 1909-1911. Schriner, S.E./Linford, N.J.: Extension of mouse lifespan by overexpression of catalase. AGE 2006, 28 (2): 209-218.

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Zelle sie einfach nicht überleben kann, oder weil die Mutation innerhalb der Zelle einen Alarm auslöst, der zu Apoptose (das der Zelle innewohnende Antikrebs»Todesprogramm«) führt oder zur Aktivierung der Seneszenz-Reaktion (womit ihre Mutationen zumindest nicht an ihre Nachkommen weitergegeben werden, weil keine Nachkommen mehr folgen werden). Die Anzahl von Zellen mit Mutationen steigt offensichtlich nicht, wenn diese Zellen komplett verloren gehen. Der Zellverlust ist natürlich ungünstig und muss in dem Maße, in dem er vorkommt, irgendwann ausgeglichen werden. Doch aus unserer praktischen Perspektive als Anti-Aging-Ingenieure ändert das in Hinsicht auf Mutationen nichts, denn in diesen Fällen gibt es keine zu reparierenden oder zu vermeidenden Mutationen, da es keine mittels Reparatur zu rettende Zelle mehr gibt. Glücklicherweise haben wir, wie Sie sich erinnern werden, eine absehbare Lösung für Zellverluste jedweder Art: Stammzellen. Mehr Informationen unter http://www.cancer.gov/aboutnci/2015 Miller, M.: 2015: a target date for eliminating suffering and death due to cancer. BenchMarks 2003 May 16, 3(2). Im Internet, letzter Zugriff 27.10.2006 auf http://www.cancer.gov/newscenter/archive/benchmarks-vol3-issue2/page1 Das ist übrigens Teil der Antwort auf viele der standardmäßigen »Intelligent Design«-Anfechtungen gegen die Evolutionstheorie, die besagen, dass so komplexe Strukturen wie das Auge sich nicht hätten entwickeln können, wenn es zuvor keinen Zweck für jedes seiner Bestandteile gegeben hätte. De Grey, A.D.N.J./Ames, B.N./Andersen, J.K./Bartke, A./Campisi, J./Heward, C.B./McCarter, R.J.M./Stock, G.: Time to talk SENS: critiquing the immutability of human aging. Ann N Y Acad Sci 2002, 959: 452-462. Bielas, J.H./Loeb, L.A.: Mutator phenotype in cancer: timing and perspectives. Environ Mol Mutagen 2005, 45 (2-3): 206-213. De Grey, A.D.N.J./Campbell, F.C./Dokal, I./Fairbairn, L.J./Graham, G.J./Jahoda, C.A.B./Porter, A.C.G.: Total deletion of in vivo telomere elongation capacity: an ambitious but possibly ultimate cure for all age-related human cancers. Ann N Y Acad Sci 2004, 1019: 147-170. Ein ähnlicher Fall ist der ehrwürdige Leonard Hayflick, der an der Diskussion des ersten SENS-Workshops teilnahm und der sich ebenfalls weigerte zu unterzeichnen, zumindest teilweise aus Widerstand gegen den Erfolg. Er behauptet auch am Erfolg des Projektes zu zweifeln, andererseits stellt er die extreme These auf, dass die Verlangsamung, das Anhalten oder die Umkehr des biologischen Alterns durch welche Mittel auch immer den physikalischen Gesetzen zuwider laufe: Hayflick, L.: »Anti-aging« is an oxymoron. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2004, 59 (6): B573-B578. Einige Updates zu WILT erschienen in: De Grey, A.D.N.J.: Whole-body interdiction of lengthening of telomeres: a proposal for cancer prevention. Front Biosci 2005, 10: 2420-2429. Rudolph, K.L./Millard, M./Bosenberg, M.W./DePinho, R.A.: Telomere dysfunction and evolution of intestinal carcinoma in mice and humans. Nat Genet 2001, 28 (2): 155-159. Gonzalez-Suarez, E./Samper, E./Flores, J.M./Blasco, M.A.: Telomerase-deficient

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mice with short telomeres are resistant to skin tumorigenesis. Nat Genet 2000, 26 (1): 114-117. 27 Eine Art von DKC erhöht auch das Krebsrisiko, doch diese Patienten haben keine Mutationen in der Telomerase selbst, sondern in einem Helferprotein namens Dyskerin, das auch für andere Zwecke ohne Beteiligung der Telomerase gebraucht wird. Somit können wir nicht eindeutig sagen, was hier vor sich geht. Zudem gab es so wenige Fälle, dass es keine Möglichkeit gab, sie auf die Aktivierung von ALT zu testen. 28 Vulliamy, T.J./Marrone, A./Knight, S.W./Walne, A./Mason, P.J./Dokal, I.: Mutations in dyskeratosis congenita: their impact on telomere length and the diversity of clinical presentation. Blood 2006, 107 (7): 2680-2685. Vulliamy, T./Marrone, A./Szydlo, R./Walne, A./Mason, P.J./Dokal, I.: Disease associated with progressive telomere shortening in families with dyskeratosis congenita due to mutations in TERC. Nat Genet 2004, 36 (5): 447-449. 29 Stelzner, M./Hoagland, V.D./Woolman, J.D.: Identification of optimal harvest sites of ileal stem cells for treatment of bile acid malabsorption in a dog model. J Gastrointest Surg 2003, 7 (4): 516-522.

Dritter Teil

13. Ans Ziel gelangen: Der Krieg gegen das Altern

Dieses Buch hat, so anschaulich wie möglich, die biologischen Einzelheiten des menschlichen Alterns dargelegt und aufgezeigt, wie wir es realistischerweise bekämpfen können. Von meinen bisherigen Überlegungen ausgehend wäre es jedoch absolut gerechtfertigt, wenn Sie zu der Schlussfolgerung gelangen, ich plädierte lediglich für die letztendliche Entwicklung von Therapien, die das Altern auf bescheidene Art und Weise verzögern könnten. Sie glauben vielleicht, dass in nur etwa einem Jahrzehnt tatsächlich ermutigende Resultate bei Mäusen erzielt werden könnten. Doch vermutlich denken Sie bereits an die Probleme, die es bei den Verhandlungen mit den Arzneimittelzulassungsbehörden und anderen Instanzen geben wird, wenn es darum geht, diese Therapien auf Menschen zu übertragen. Und Sie mögen zu dem Schluss kommen, dass der von mir vorhergesagte Zeitrahmen bis zur Realisierung allgemein verfügbarer Therapien – mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit in einigen Jahrzehnten – um mindestens den Faktor drei zu eng gesteckt ist. Sie sind vermutlich auch sehr skeptisch hinsichtlich des Ausmaßes der Lebensverlängerung, das die in den letzten sieben Kapiteln beschriebenen Technologien, selbst in diesem erweiterten Zeitraum, erreichen könnten. Sicher, sie könnten allumfassend sein, wenn sie absolut perfekt wären und jedes kleinste Detail des entsprechenden Schadens beseitigten. Doch wir alle wissen, dass es keine derart perfekte Therapie gibt – schon gar nicht in den Frühstadien. Folglich mögen Sie glauben, dass ich meine bekannte These, dass viele der heute lebenden Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit 1000 Jahre alt werden können, verfehlt habe – und Sie hätten absolut recht. Darum werde ich in diesem und dem nächsten Kapitel die wissenschaftlichen Einzelheiten beiseite legen und diese beiden wichtigen und legitimen Bedenken direkt adressieren. Ich werde mit dem Zeitrahmen hinsichtlich der allgemeinen Verfügbarkeit der in diesem Buch vorgestellten Therapien beginnen. Ich benutze den Ausdruck »der Krieg gegen das Altern«, um eine bestimmte Phase des Prozesses zu beschreiben, der zum Sieg über das Altern führt. Es ist der Zeitraum, der mit der Zerstörung der Pro-Aging-Trance beginnt und mit der allgemeinen Verfügbarkeit von Therapien endet, die einige Jahrzehnte zu der Lebensspanne von Menschen hinzufügen können, die heute bereits in mittlerem Alter sind. Zunächst werde ich näher auf diese Definition eingehen, dann werde ich erklären, warum ich es den Krieg gegen das Altern nenne, und schließlich werde ich erläutern, warum er mit großer Wahrscheinlichkeit nur 15 bis 20 Jahre dauern wird.

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Die Pro-Aging-Trance – die »rationale Irrationalität« bezüglich des Alterns, die ich in Kapitel 2 beschrieben und kritisiert habe – wird nur dann ein Ende finden, wenn ihr Anspruch auf Rationalität selbst den einfachsten Angriffen nicht länger standzuhalten vermag – das sind jene, die die meisten Menschen verstehen können. Das wird erst dann geschehen, wenn Laborwissenschaftler – wohl hauptsächlich mit Mäusen – so beeindruckende Resultate erzielen, dass die Mehrheit der professionellen Biogerontologen öffentlich erklären wird, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis wir das menschliche Altern um mindestens einige Jahrzehnte hinauszögern können. Die Wissenschaft ist in einer Hinsicht die neue Religion: Was einzelne Wissenschaftler sagen, kann angezweifelt werden, doch der öffentliche wissenschaftliche Konsens ist das Evangelium. Das Resultat, das meiner Meinung nach benötigt wird, habe ich als »robuste Mausverjüngung« oder RMR bezeichnet. RMR ist das Ergebnis einer sehr genau definierten Lebensverlängerung bei Mäusen. Genau dies wird benötigt, um Wissenschaftler dazu zu bringen, ihre Paranoia gegenüber Voraussagen etwaiger zukünftiger Ereignisse abzulegen – wir müssen die größten Hintertüren schließen. Nach meiner Defi nition wird RMR erreicht sein, wenn: • mindestens 20 Mäuse der Art Mus musculus, • von einem Stamm, dessen natürliche durchschnittliche Lebensdauer mindestens drei Jahre beträgt, • erst dann therapiert werden, wenn sie mindestens zwei Jahre alt sind, • und durchschnittlich fünf Jahre alt werden, wobei die zusätzliche Lebensspanne gesund verlebt wird. Ich habe vor ihrer Veröffentlichung sehr genau über diese Defi nition nachgedacht, und sie scheint sich zu bewähren: Niemand hat darauf hingewiesen, wie dies durch »uninteressante« Mittel erreicht werden könnte, d.h. durch Mittel, die sachkundige Wissenschaftler nicht überzeugen würden, dass ein massiver Durchbruch erlangt wurde, der auch für Menschen relevant sein könnte. Der Einsatz von mindestens 20 Mäusen ist notwendig, um auszuschließen, dass das Alter ein Zufall oder ein Buchführungsfehler ist. Der Einsatz von Mus musculus liegt darin begründet, dass andere Mäusearten bereits länger leben als diese, aber von Wissenschaftlern weniger gut untersucht sind. Die Bedingung, einen Stamm dieser Art zu benutzen, der natürlicherweise drei Jahre lebt – was für diese Art außerordentlich lang ist – soll verhindern, dass die Mäuse einen speziellen, angeborenen Defekt haben, der sie normalerweise recht früh sterben lässt, und dass die Behandlung nur diesen Defekt mildert, anstatt das Altern entscheidend zu beeinflussen. Dass die Behandlung erst dann beginnt, wenn die Mäuse bereits zwei Drittel ihrer natürlichen Lebensspanne verlebt haben, soll natürlich sicherstellen, dass sie potentiell für Menschen relevant ist, die heute leben, die Zeitung lesen, Steuern zahlen und wählen. Dass ich die Zeitspanne, die mit dem Erreichen dieses Meilensteins beginnt, den Krieg gegen das Altern nenne, rührt von der anfänglichen, notwendigerweise unmittelbaren Reaktion der Gesellschaft her. Um diese Reaktion zu beschreiben, muss ich zunächst eine Nebenwirkung der Pro-Aging-Trance schildern, die den derzeitigen

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Unwillen der Gesellschaft bestimmt, das Altern ernst zu nehmen. Ich nenne es die trianguläre Blockade (siehe Abb. 1). Abbildung 1: Wie die trianguläre Blockade die Zuweisung von Forschungsgeldern verhindert und wie sie durchbrochen werden kann. RUHM

Biogerontologen

Begutachtung durch Fachkollegen Kurzfristiges Denken

Medien

Wähler Aktieninhaber

Philanthropie & Vision

Wahlurne

Reg Regierung Industrie

Wie jedes andere wissenschaftliche Gebiet kostet experimentelle Biologie Geld – richtig viel Geld. Die Biologie ist in den meisten Fällen nicht annähernd so kostspielig wie Hochenergiephysik oder Astronomie. Dennoch ist sie so teuer, dass die Professoren unverhältnismäßig viel Zeit damit verbringen, Gelder aufzutreiben. Die überwältigende Mehrheit des Kapitals, das die experimentelle Biologie unterstützt, stammt aus öffentlicher Hand. Die Biogerontologie ist in dieser Hinsicht typisch, aber in einer anderen Hinsicht extrem ungewöhnlich: Die Öffentlichkeit ist absolut fasziniert von ihr, sodass Biogerontologen ständig im Fernsehen auftreten. Ich meine tatsächlich ständig. Dieser Unterschied zwischen der Biogerontologie und anderen biologischen Gebieten – sogar sehr bekannten medizinischen Gebieten – kann nicht stark genug betont werden: Selbst ziemlich junge Biogerontologen bekommen mehr Aufmerksamkeit von der Presse als die weltweit führenden Wissenschaftler anderer Gebiete. Und Biogerontologen reden natürlich ebenso gern über ihre eigenen Forschungen, wie es jeder Wissenschaftler täte, wenn er die Möglichkeit dazu hätte – zwangsläufi g sind es die Forschungen, für die sie Gelder erhalten haben. Überlegen Sie mal, worüber ein Biogerontologe sonst noch mit den Medien sprechen würde. Bedenken Sie insbesondere die Möglichkeit, über Forschungen zu sprechen, die der Öffentlichkeit besonders suspekt erscheinen: beispielsweise die Bekämpfung des Alterns. Warum sollten derartige Themen diskutiert werden? Nun, Ihr Name könnte der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden und Sie bekämen eventuell mehr Aufmerksamkeit von den Medien. Doch warten Sie: Wozu dient die mediale Aufmerksamkeit? Wie ich bereits sagte, sind Wissenschaftler sehr mit der leidigen Aufgabe beschäftigt, Finanzmittel für ihre Labore zu beschaffen. Wie könn-

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te eine starke Medienpräsenz nun genau dabei helfen – oder dies, im Gegenteil, erschweren? Um diese Frage zu beantworten, muss ich zunächst sicherstellen, dass Sie sich einer entscheidenden Besonderheit bei der Vergabe öffentlicher Gelder in den Wissenschaften bewusst sind. Wenn Wissenschaftler eine bestimmte Reihe von Experimenten durchführen wollen, legen sie eine detaillierte Beschreibung des Projekts, einen voraussichtlichen Zeitrahmen und eine Kostenabschätzung vor und senden dies an die entsprechende Regierungsbehörde. Doch dann entscheidet nicht allein die Regierungsbehörde, ob dem Wissenschaftler das Geld zur Verfügung gestellt wird. Nein: Obwohl solche Behörden erfahrene ehemalige Wissenschaftler als Verwalter der Finanzierungsmittel beschäftigen, haben diese ehemaligen Wissenschaftler nicht annähernd ein so breites Wissen, als dass sie den Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Idee auf der gesamten Bandbreite wissenschaftlicher Disziplinen erkennen, für die sie verantwortlich sind. Stattdessen befragen sie also andere Wissenschaftler nach ihrer Expertenmeinung. Das nennt man »Peer Review« [etwa: Prüfung durch Fachkollegen, Anmerkung des Übersetzers], ein absolut universeller Bestandteil des Verfahrens, Gesuche um staatliche Zuschüsse an die Wissenschaft zu evaluieren. Wird man dazu ausgewählt, die Forschungsideen von Kollegen zu bewerten, ist das eine besondere Ehre und Verantwortung. Junge Wissenschaftler bekommen diese Möglichkeit nicht sehr oft; normalerweise sind es die erfahrensten Wissenschaftler. Haben Sie das Problem bereits erkannt? In der Wissenschaft geht es darum, Hypothesen und Theorien zu erproben und zu verfeinern. Im Prinzip sollte die entscheidende Qualifi kation eines Wissenschaftlers die Fähigkeit sein, Belegen aufgeschlossen gegenüberzustehen, die ihre seit vielen Jahren gehegten Überzeugungen herausfordern. Aber Wissenschaftler sind Menschen und darüber hinaus wissen sie, dass die Wissenschaftler, die diese neuen Belege gefunden haben, auch Menschen sind. Vor allem wissen sie, dass sich Ergebnisse, die der etablierten konventionellen Denkweise widersprechen, später oftmals als Resultat eines experimentellen Fehlers entpuppen. Demzufolge ist es oft ziemlich schwer, erfahrene Wissenschaftler davon zu überzeugen, ihre Meinungen zu ändern, selbst wenn die Beweise sehr überzeugend sind. Der legendäre Physiker Max Planck erkannte in den 1920ern, dass sich die »Wissenschaft von Beerdigung zu Beerdigung verändert«, und das ist kaum übertrieben: Es kann über ein Jahrzehnt dauern, bis fundamentale Veränderungen im Verständnis wissenschaftlicher Aspekte auf breiter Basis akzeptiert werden. Ein berühmtes Beispiel in der Biologie ist der Mechanismus der Mitochondrienaktivität – Zellbestandteile, von denen wir in diesem Buch viel gehört haben.1 Es ist unvermeidlich, dass sich diese Resistenz gegenüber neuen Ideen auf die Bewertungen von Finanzierungsanträgen seitens der erfahrenen Wissenschaftler überträgt. So weit, so gut. Schließlich ist ein bescheidenes Maß an Resistenz gegenüber neuen Ideen, die man noch nicht vollständig versteht, in mancherlei Hinsicht zu begrüßen. Wir wollen ja auch nicht, dass der wissenschaftliche Konsens allzu leichtfertig von einer neuen Idee zur anderen hüpft, denn neue Ideen sind (wie ich bereits

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erwähnt habe) oftmals falsch. Doch die Trägheit, die im wissenschaftlichen Denken vorherrscht, ist im Allgemeinen größer als dieses gesunde Mittelmaß. Bedauerlicherweise ist es nicht nur die Trägheit von Ideen, sondern auch die Trägheit von Reputationen. Erfahrene Wissenschaftler, die von der Regierung zur Bewertung von Finanzierungsanträgen ihrer Kollegen bestimmt wurden, sind per Definition Mitglieder des Establishments. Wenn ihnen zwei Bewerbungen von gleichem wissenschaftlichen Wert vorliegen, wovon sie nur eine finanzieren können, und eine kommt von einem Wissenschaftler, der für seine radikalen Ansichten hinsichtlich der Ziele, die die Wissenschaft in kurzer Zeit erreichen kann, bekannt ist, während die andere von einem Wissenschaftler vorgelegt wurde, der niemals etwas Skandalöses geäußert hat, so können Sie sicher sein, dass letzterem das Geld zugesprochen wird. Und das ist noch nicht alles. Den Gutachtern von Finanzierungsanträgen werden natürlich Richtlinien erteilt, die sie darüber informieren, welche Aspekte der wissenschaftlichen Bewerbungsvorzüge oder -mängel als besonders wichtig erachtet werden sollen. Ein Aspekt, der auf der Liste ganz oben steht, ist Machbarkeit: die erkennbare Wahrscheinlichkeit, dass der Forscher das vorgeschlagene Forschungsprogramm innerhalb der beantragten Zeit und des beantragten Budgets durchführen kann und dabei zu Resultaten kommt, die eine Publikation in einer anerkannten wissenschaftlichen Zeitschrift verdienen. Das klingt recht unverfänglich, nicht wahr? Tatsächlich stellt diese Verfahrensweise jedoch ein enormes Problem für die Wissenschaft dar, da sie (in der Praxis) nicht nach wissenschaftlicher Bedeutung gewichtet wird. Will heißen: Ein Forschungsantrag, der uns unabhängig von seinem Ausgang mit großer Wahrscheinlichkeit eine Erkenntnis liefern wird, wird im Peer-ReviewProzess viel besser abschneiden als eine Studie, die uns vielleicht keine neuen Erkenntnisse liefern wird, selbst wenn das, was diese zweite Studie uns sagen könnte, viel wichtiger wäre als jedes mögliche Ergebnis der ersten Studie. Diese Tendenz zu einer Forschung mit geringen Risiken und geringem Erkenntnispotential zu Ungunsten einer Forschung mit hohen Risiken und hohem Erkenntnispotential findet sich in allen Wissenschaften und besonders in der Biogerontologie. Ich habe nun in diesem Kapitel viel Zeit damit verbracht, die hartnäckige Engstirnigkeit erfahrener Wissenschaftler anzuprangern, doch Sie bedenken hoffentlich, dass ich in den letzten Abschnitten erklärt habe, dass es nicht unbedingt ihre Schuld ist: Schuldig sind vielmehr die Zahlmeister, die Institute der öffentlichen Forschungsgelder, will heißen: die Regierung. Die Gutachter sind im Großen und Ganzen selbst Empfänger von Forschungsgeldern (obwohl sie natürlich nicht ihre eigenen Anträge begutachten). Wenn die Finanzierungsbehörde – entweder explizit durch schriftliche Richtlinien oder implizit durch ihre Entscheidungen und inoffiziellen Anmerkungen – kundgibt, dass sie lieber Durchschnittsmenschen fördert, um risikofreie Arbeiten durchzuführen, als Unruhestifter, um kontroverse Forschungen zu fördern, werden die Gutachter kaum anderer Meinung sein. Es wäre schön, wenn mehr Wissenschaftler diesen Anweisungen Widerstand leisten würden, doch das ist unrealistisch. Doch im Grunde … ist es auch nicht die Schuld der Regierung. Der wahre Schuldige sind Sie, die Öffentlichkeit. Das sollte Sie nicht überraschen. Es ist kaum ein Geheimnis, dass die Regierun-

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gen aller Demokratien letztlich nur ein Ziel erreichen wollen: erneut gewählt zu werden. Dem wäre nicht geholfen, wenn die Regierung große Mengen an Steuergeldern für Dinge ausgäbe, die die Öffentlichkeit als sinnlos erachtet: Forschung, die höchstwahrscheinlich zu nichts führen wird. Wenn die Öffentlichkeit hinsichtlich Wissenschaften erwachsen genug wäre, um anzuerkennen, dass die Geschwindigkeit des wissenschaftlichen Fortschritts durch diese übervorsichtige Herangehensweise letztlich verlangsamt wird, könnten ihre gewählten Vertreter eine ähnliche Weitsicht walten lassen und den Gutachtern von Forschungsanträgen entsprechende Anweisungen geben. Doch die Öffentlichkeit versteht die wissenschaftlichen Prozesse nur unzureichend und so wird dies nicht geschehen. (Ein ähnliches, noch viel schlimmeres Problem besteht in der Medizin, ich werde darauf später in diesem Kapitel eingehen.) Dies liegt hauptsächlich darin begründet, dass die Beurteilung, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Hypothese wahr ist oder ein Versuch weitere Erkenntnisse bringen wird, tatsächlich einer der schwierigsten und am wenigsten lehrbaren Aspekte der wissenschaftlichen Praxis ist. In der Biogerontologie gibt es jedoch einen potentiellen Ausweg – und das bringt mich geradewegs (oder triangulär!) zu dem Punkt zurück, in dem sich die Biogerontologie im Hinblick auf ihre Interaktion mit der Öffentlichkeit von allen anderen wissenschaftlichen Bereichen unterscheidet: das schiere Ausmaß dieser Interaktion. Auch wenn es unmöglich ist, die Öffentlichkeit in Wissenschaftler zu verwandeln, die erfahren genug sind, um die Vorzüge von höchst ehrgeizigen Forschungsprojekten zu verstehen, gibt es genügend Möglichkeiten, ihr mitzuteilen, dass dieser oder jener Forschungsansatz es wert ist, verfolgt zu werden. In den meisten wissenschaftlichen Bereichen ist dies wohl nicht zu schaffen, doch in der Biogerontologie bietet sich diese Möglichkeit im Überfluss. Aber warum tun Biogerontologen dies nicht jedes Mal, wenn sie einer Kamera gegenüberstehen? Ich habe es Ihnen bereits gesagt: Sie wollen unter ihren Kollegen nicht als unverantwortlich gelten, denn damit würden sie ihre Chancen auf Finanzierungshilfen, selbst für anspruchslose Arbeiten, gefährden. Da haben wir sie – die trianguläre Blockade. Biogerontologen achten auf ihre öffentlichen Äußerungen, um ihre von der Regierung zur Verfügung gestellten Forschungsgelder nicht zu gefährden. Diese achtet wiederum darauf, wen und was sie fördert, um sich die Wählerstimmen der Öffentlichkeit zu sichern, die mutlos bezüglich dessen ist, was erreicht werden könnte, weil sie von den Biogerontologen nur behutsame Äußerungen vernimmt. Um das Altern bald besiegen zu können, besteht ein wichtiger erster Schritt darin, die trianguläre Blockade zu durchbrechen. Wie kann dies geschehen? Seit ich in der Biogerontologie tätig bin, habe ich hauptsächlich an einer Ecke des Dreiecks angesetzt: bei meinen Kollegen, besonders bei den älteren. Wissenschaftler sind, wie oben beschrieben, sehr politische, aber auch ehrliche und aufrichtige Menschen. Zudem – und das ist ein zentraler Punkt – leidet kaum ein Biogerontologe persönlich an der Pro-Aging-Trance. Sie wissen sehr gut, wie schrecklich das Altern ist, und mit einigen wenigen Ausnahmen möchten sie ihm so sehr wie ich ein Ende bereiten. Drittens gibt es nicht sehr viele von ihnen, sodass der persönliche Kontakt einfach ist: Ich kenne im Grunde jeden in diesem Bereich seit nunmehr einigen Jah-

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ren persönlich. Und schließlich sind sie alle schlau genug, einen Doktortitel erlangt zu haben. Wenn ich nun also wirklich belegen kann, dass wir vielleicht viel näher dran sind, das Altern zu besiegen, als es den Menschen bislang bewusst ist, sollte ich sie dann nicht überzeugen können – und sie sogar davon überzeugen können, dies öffentlich zu äußern? Nun, nicht ganz – aber fast. Wie überall im Leben ist es wichtig, was die Leute sagen, aber auch das, was sie nicht sagen. Die Kollegen, denen ich meinen SENS-Plan detailliert präsentiert habe, sind zumeist zu dem Schluss gekommen, dass es sich dabei nicht um Fantasie handelt, wenngleich es ein sehr ambitioniertes Vorhaben ist – doch das resultierte nicht in explizite öffentliche Aufrufe, SENS finanziell zu unterstützen. Es führte jedoch zu einer Reihe von stillschweigenden Unterstützungsbekundungen. Sie begann mit einer Koautorschaft von fünf erfahrenen Kollegen im ersten Aufsatz über SENS, der sich aus einem Workshop im Jahre 2000 ergab (siehe Kapitel 4). Sie setzte sich fort in der Weigerung mehrerer bedeutender Kollegen, eine Denunzierung von SENS zu unterstützen, die in der anerkannten Zeitschrift EMBO Reports veröffentlicht wurde und von den weniger aufgeschlossenen Mitgliedern der Gemeinschaft lanciert worden war.2 Und zuletzt war da die bemerkenswerte Entwicklung, dass einige der Personen, die diese Denunzierung unterschrieben hatten, sich nun davon distanzierten, indem sie konstruktive Antworten auf die SENS-Agenda veröffentlichten,3 etwas, wovon die EMBO-Reports-Tirade ausdrücklich abgeraten hatte. Dies mag Außenstehenden recht unspektakulär erscheinen, doch ich kann Ihnen versichern, dass dies eine Kehrtwende bedeutet, wie man sie in der Wissenschaft deutlicher nicht sieht. Offensichtlich ist dies trotzdem noch nicht ausreichend. Doch dies ist alles, was ich momentan von meinen älteren Kollegen in der Biogerontologie erwarten kann, d.h., bis ich genügend Gelder gesammelt habe, um der SENS-Forschung trotz ihrer Radikalität einen wichtigen Impuls zu verleihen. Demzufolge muss ich in der (hoffentlich kurzen!) Zwischenzeit auch die anderen Punkte des Dreiecks ansprechen. Es ist vorstellbar, dass die Regierung direkt beeinflusst werden könnte. Es gibt dort Visionäre und manchmal finden sie einen Weg, ihre Visionen zu realisieren. Doch um wirklich eine Chance im Bundestag und seinen Pendants in anderen Ländern zu haben, muss man die Denkweisen der entscheidenden Personen gut verstehen – und das lernt man nicht über Nacht. Also überlasse ich diese Strategie anderen – und ich freue mich sagen zu können, dass die Sache langsam ins Rollen kommt, namentlich aufgrund der hervorragenden »Longevity Dividend«-Initiative, einem neuen Vorhaben, das vom altgedienten Lobbyisten Dan Perry von der Alliance for Aging Research in Zusammenarbeit mit drei Gerontologen angeführt wird. 4 Ob sie große Erfolgschancen haben werden, bleibt abzuwarten, doch ich wünsche ihnen von ganzem Herzen Erfolg. Nachdem ich prominenter geworden war, konnte ich auch die dritte Ecke der Blockade angehen: die Öffentlichkeit. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass ich dieses Buch mit der recht mürrischen Beschwerde begonnen habe, dass ich an der Wissenschaft und Technologie zur Bekämpfung des Alterns arbeiten könnte, wenn es die Pro-Aging-Trance nicht gäbe. Nun, das ist mit Sicherheit wahr – doch wo immer ich die Möglichkeit hatte, habe ich ebenso viel Energie in meine Bemühungen um

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öffentliche Aufmerksamkeit gesteckt, wie ich bereits in die Wissenschaft investiert habe. Ich bin mir bewusst, dass die Öffentlichkeit eine eigenständige Geldquelle ist, wie auch ein Druckmittel für Regierungen, ihre Prioritäten in der Forschungsfi nanzierung zu ändern. Die Pro-Aging-Trance dominiert meine Interaktion mit den Medien und infolgedessen mit der Öffentlichkeit. In meinen Interviews wird die meiste Zeit darüber diskutiert, ob die Bekämpfung des Alterns erwünscht ist, nicht ob dies machbar ist. Doch zum Glück ist es oft so, dass ich innerhalb kurzer Zeit erkenne, dass die Sorgen meiner Gesprächspartner in ihrem Widerwillen liegen, die Machbarkeit zu akzeptieren. Deshalb bin ich so sehr davon überzeugt, dass das Gelingen der robusten Mausverjüngung die Pro-Aging-Trance binnen kürzester Zeit beenden wird.

Die Intensität des Krieges gegen das Altern und seine daraus folgende voraussichtliche Dauer Um Ihnen einen Eindruck davon zu geben, wie die Welt nach dem Gelingen der RMR aussehen könnte, werde ich einige grundlegende epidemiologische und biomedizinische Fakten über drei allgemein bekannte Virenarten – HIV, CMV und Vogelgrippe – darlegen und anschließend ein interessantes Szenario untersuchen. HIV ist zu einer der Haupttodesursachen weltweit geworden. Erst in letzter Zeit sind in der Dritten Welt zunehmend Medikamente erhältlich, die das Virus unterdrücken und es daran hindern können, in AIDS auszuarten – bei weitem nicht in den benötigten Mengen, aber vielleicht bald. In den entwickelten Ländern ist HIV dagegen weitgehend unter Kontrolle. Durch die regelmäßige Einnahme von teuren, aber (im Westen) bezahlbaren Medikamenten ist es möglich, jahrzehntelang ohne jegliche Symptome mit HIV zu leben. Zwei entscheidende Dinge fehlen uns aber noch: • ein Medikament, das HIV aus dem Körper entfernt und • ein Impfstoff, der die Ansteckung verhindert. CMV (Cytomegalovirus) ist kein sehr tödliches Virus. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Bei Menschen mit einem normalen Immunsystem wird es vollständig unterdrückt und verursacht keinerlei Symptome. (Meine Beurteilung »nicht auf den ersten Blick« entspringt der Tatsache, dass diese Unterdrückung das Immunsystem im Laufe des Älterwerdens langfristig schädigt, sodass Menschen schließlich für aggressive Infektionen wie Lungenentzündung anfälliger werden. In diesem Sinne ist CMV indirekt lebensbedrohlich. Für weitere Details darüber und was wir dagegen tun können, siehe Kapitel 10.) Doch es ist weit verbreitet: Die meisten Menschen der westlichen Welt sind damit infiziert. Die Vogelgrippe ist derzeit (Mitte 2007) ein großes Thema, denn in den letzten Jahren wurde uns die düstere Aussicht mitgeteilt, dass es bald in eine Form mutieren könnte, die eine Pandemie auslösen und Millionen, ja sogar Milliarden von Menschen töten könnte. Dafür muss das Vogelgrippe-Virus lediglich eine genetische Veränderung erfahren, sodass es einfacher von Mensch zu Mensch übertragen wer-

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den kann, so wie bei herkömmlicheren (und weniger tödlichen) Grippeviren. Solche Mutationen sind selten, aber nicht unwahrscheinlich; es könnte jederzeit passieren. Impfstoffe gegen Vogelgrippe befinden sich in der Entwicklung, aber wie gut sie funktionieren werden, hängt davon ab, welche Mutationen das Virus erfährt, wenn es auf den Menschen übertragbar wird. Zudem wirken Impfstoffe bei älteren Menschen, die am meisten gefährdet sind, oftmals nicht so gut. Daraus ergibt sich ein potentiell tödliches Risiko. Ich habe diese Virenarten als Hintergrund für ein Szenario zusammengefasst, das ich jetzt durch eine Analogie zur Situation nach dem Gelingen von RMR detailliert entwickeln werde. Ich musste diesen Hintergrund darlegen, damit Sie das Szenario als einigermaßen realistisch anerkennen; ich glaube nicht, dass es schwer sein wird, Sie von der Gültigkeit der Analogie zu überzeugen. Lassen Sie uns annehmen, dass das HIV mutiert und wie Grippe über die Luft übertragbar wird. Das ist alles. Das ist die Situation, auf die ich eingehen möchte. Sonst verändert sich nichts: Die HIV unterdrückenden Medikamente funktionieren weiterhin. Sie sind noch immer teuer und Impfstoffe gegen HIV sind noch in weiter Ferne. In diesem Szenario ist es praktisch sicher, dass nahezu jeder Mensch auf der Welt innerhalb weniger Jahre mit HIV infiziert wäre. Natürlich steckt sich während einer Pandemie nicht jeder mit Grippe an, doch der Unterschied ist der: Sind Sie einmal an der Grippe erkrankt, ohne daran zu sterben, so entwickeln Sie eine wirksame Immunreaktion, d.h. das Virus wird aus Ihrem Körper entfernt. Somit ist jeder Mensch nur für eine recht kurze Zeit infiziert (und nachdem er geheilt ist, kann er nie wieder infiziert werden). In dem Szenario, das wir betrachten, haben Sie das Virus, wenn Sie erst einmal infiziert sind, für immer und können andere infizieren. Niemand wird sich schützen können. Ziemlich apokalyptisch, oder? (Glücklicherweise glauben Virologen, dass dieses Szenario tatsächlich viel unwahrscheinlicher ist als die entsprechende Mutation der Vogelgrippe.) Moment, warten Sie – ist es so apokalyptisch? Wir haben doch diese Medikamente … Blicken wir auf einige Zahlen. In den Vereinigten Staaten ist laut dem Population Reference Bureau ungefähr einer von 250 Menschen mit HIV infiziert – das ist circa eine Million. Die medikamentöse Behandlung, die HIV unter Kontrolle hält, kostet jedes Jahr 30.000 US-Dollar, das summiert sich auf 30 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Wenn in den Vereinigten Staaten jeder an HIV erkranken würde, wären das 30 Billionen US-Dollar pro Jahr. Doch die eigentlichen Produktionskosten dieser Medikamente sind sehr viel geringer: In Indien werden Generika hergestellt und für nur 300 US-Dollar pro Jahr verkauft (und das noch immer mit Gewinn), und bald sind noch geringere Preise zu erwarten. Tatsächlich sehen wir also nur Ausgaben von 300 Milliarden US-Dollar pro Jahr entgegen – eine Milliarde US-Dollar pro Tag –, um jeden Menschen der Vereinigten Staaten gesund zu halten, selbst wenn alle mit HIV infiziert wären. Nun ein paar Anmerkungen: Sie glauben vielleicht, dass »nur 300 Milliarden US-Dollar pro Jahr« einen sehr seltsamen Gebrauch des Wortes »nur« darstellt.

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Überdenken Sie das noch einmal, denn das entspricht fast exakt der Summe, die die Vereinigten Staaten derzeit im Irakkrieg ausgeben. (Ich kommentiere hier nicht den relativen Wert dieser Ausgaben, das werden Sie verstehen – ich weise lediglich darauf hin, dass wir einen Präzedenzfall für unerwartete Ausgaben gleicher Größe haben, der die Nation nicht in den Konkurs treibt.) Zweitens sind Sie vielleicht gegen Patentverletzungen, sodass Sie meine Kürzung des Kostenfaktors um ein Hundertfaches anzweifeln. Doch ist Ihr Glaube in das Patentsystem stärker als Ihr Glaube, Ihre Nachbarn – oder sich selbst oder Ihre Familie – davor retten zu können, an AIDS zu erkranken und auf schreckliche Art zu sterben? Fragen Sie sich ernsthaft: Wenn es dieses Szenario tatsächlich gäbe und eine der großen Parteien damit wirbt, die Steuern pro Kopf durchschnittlich um 300 US-Dollar pro Jahr zu erhöhen und das Geld für Generika zur AIDS-Prävention einzusetzen, während die andere Partei entweder damit wirbt, die Steuern pro Kopf um 30.000 US-Dollar pro Jahr zu erhöhen oder überhaupt keine Medikamente zur Verfügung zu stellen, wer würde Ihrer Meinung nach die Wahl gewinnen? Ich hoffe, Sie davon überzeugt zu haben, was in diesem Szenario geschehen würde: Wir würden die Mittel finden, jeden zu behandeln. Es würde uns vermutlich auch gelingen, alle Menschen in den Entwicklungsländern zu behandeln, so wie wir uns jetzt darum bemühen, jeden in den Entwicklungsländern zu behandeln, der solche Medikamente benötigt. Betrachten wir nun in gleicher Weise, wie die Gesellschaft dem Altern nach der RMR gegenübersteht. Die Ähnlichkeiten werden Ihnen schnell auffallen. Jeder altert. Die Therapien, die wir verfügbar machen wollen, werden Suppressions-Therapien sein und wir werden sie unser ganzes Leben lang anwenden müssen (wenngleich weniger häufig als HIV-Infizierte ihre Medikamente einnehmen müssen). Unter diesen Umständen werden die Therapien jedoch wirksam sein: Das menschliche Altern wird nicht voranschreiten. Doch die Therapie wird sehr teuer sein. (Zunächst werden die Ausgaben hauptsächlich in die Forschung gehen, um eine immens gewachsene Zahl an medizinischem Personal zu lehren und zusätzliche Produktionsanlagen und Ähnliches zu errichten. Eine Kostenschätzung von einer Milliarde US-Dollar pro Tag, die gleiche Summe wie oben, ist so gut wie jede andere.) Stellen wir uns nun die entgegengesetzte Frage: Was sind die Unterschiede zwischen einer Welt nach RMR und einer Alle-haben-HIV-Welt? Ich würde sagen, es gibt nur zwei: • Die Therapien werden noch nicht zur Verfügung stehen, wenn RMR erreicht sein wird; • unsere Akzeptanz, dass das Altern recht bald besiegt werden kann, wird noch neu sein, während die Universalität des Alterns so alt ist wie dieses selbst: Dies ist das Gegenteil der HIV-Situation im oben genannten Szenario. Ich behaupte, dass keiner dieser Unterschiede die Gesellschaft dazu veranlassen würde, sich nach dem Gelingen von RMR anders zu verhalten als im universellen HIV-Szenario. Die Nichtexistenz von Therapien kommt der Nichtexistenz von ausreichend antiretroviralen Medikamenten gleich, was sicherlich die anfängliche Situation in dem von mir beschriebenen Szenario wäre: Wir werden daran arbeiten,

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die Therapien so schnell wie möglich zu entwickeln, genauso wie wir daran arbeiten würden, die Produktion von antiretroviralen Medikamenten so schnell wie möglich zu steigern. Die Vorstellung, dass die Reihenfolge der Ereignisse eine Rolle spielt, scheint gleichermaßen weit hergeholt: Wenn jeder lebensbedrohlich erkrankt wäre und wir die Möglichkeit hätten, dies zu ändern, würden wir uns mit Sicherheit darum bemühen.

Warum »der Krieg gegen das Altern«? Ich denke, Sie verstehen mittlerweile, warum ich diesen Zeitraum »den Krieg gegen das Altern« nenne. In den frühen 1970ern gab es eine Initiative namens »der Krieg gegen den Krebs«, die einen starken und kontinuierlichen Anstieg in der Finanzierung der Krebsforschung bewirkte, angetrieben durch die Hoffnung, dass Krebs innerhalb von nur fünf Jahren besiegt sein könnte.5 Der Krieg gegen den Krebs war keine so erbärmliche Niederlage, wie manche behaupten – ohne diese Finanzierungshilfen wären wir in unserem Verständnis von Krebs nicht annähernd so weit fortgeschritten, wie wir es heute sind. Somit gibt es kaum Zweifel daran, dass diese Initiative den wahren Sieg über den Krebs sehr viel näher gebracht hat – doch es war eine absolut falsche Bezeichnung, und zwar aus folgendem Grund: Die finanzielle Investition war in Wirklichkeit sehr gering und für den US-Steuerzahler nicht wahrnehmbar. Wie oben beschrieben, wird der Krieg gegen das Altern sehr teuer werden – absolut nicht unbemerkbar. Und dennoch wird die Öffentlichkeit die notwendigen Steuererhöhungen akzeptieren: Ohne ein Programm, das den Krieg gegen das Altern unter Verwendung aller vorhandenen Ressourcen verspricht, wird man keine Wahl gewinnen können. Diese Mentalität gab es bislang nur in einem Stadium in der Geschichte einer reichen Nation: im Krieg.

Anmerkungen 1

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Die Geschichte der Akzeptanz der chemiosmotischen Theorie mitochondrialer Funktion war so ereignisreich, dass ganze Bücher darüber geschrieben wurden. Eine prägnante Zusammenfassung bietet: Prebble, J.: Peter Mitchell and the ox phos wars. Trends Biochem Sci 2002, 27 (4): 209-212. Warner, H./Anderson, J./Austad, S./Bergamini, E./Bredesen, D./Butler, R./Carnes, B.A./Clark, B.F./Cristofalo, V./Faulkner, J./Guarente, L./Harrison, D.E./ Kirkwood, T./Lithgow, G./Martin, G./Masoro, E./Melov, S./Miller, R.A./Olshansky, S.J./Partridge, L./Pereira-Smith, O./Perls, T./Richardson, A./Smith, J./Von Zglinicki, T./Wang, E./Wei, J.Y./Williams, T.F.: Science fact and the SENS agenda. What can we reasonably expect from ageing research? EMBO Rep 2005, 6 (11): 1006-1008. Warner, H.: Scientific and ethical concerns regarding engineering human longevity. Rejuvenation Res 2006, 9 (4): 440-442.

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De Grey A.D.N.J.: SENS is hard, yes, but not too hard to try: a reply to Warner. Rejuvenation Res 2006, 9 (4): 443-445. Die Alliance präsentierte einer Gruppe von US-amerikanischen Kongress-Abgeordneten auf einem Symposium in Capitol Hill am 12. September 2006 einen Brief mit der Überschrift »Pursuing the Longevity Dividend«. Ich war einer von fast 100 Wissenschaftlern, die ihn unterschrieben hatten. Der gesamte Text ist hier zu finden: http://www.agingresearch.org/longevitydividend/overview.pdf. Der Kampf gegen den Krebs begann offiziell 1971 mit Präsident Nixons Rede zur Lage der Nation und er führte zum National Cancer Act im selben Jahr. Es gibt noch immer geteilte Meinungen darüber, ob die Erhöhung der öffentlichen Finanzmittel für die Krebsforschung, die zu dieser Zeit einsetzte, gut verteilt wurde. Ein aktueller Bericht dazu ist Faguet, G.B.: The War on Cancer: An Anatomy of Failure, a Blueprint for the Future. 227 ff., New York, Springer, 2006.

14. Der Weg in eine alterungslose Zukunft

Ich muss Ihnen etwas beichten. In den Kapiteln 5 bis 12, in denen ich die Details von SENS erläutert habe, habe ich ein recht wichtiges Detail verschwiegen – ein Detail, das die Biologen unter meinen Lesern mit hoher Wahrscheinlichkeit ausfi ndig gemacht haben. Ich werde es in diesem Kapitel diskutieren, wobei ich auf einer Argumentationskette auf baue, die ich in einem scheinbar sehr begrenzten Kontext gegen Ende des neunten Kapitels eingeführt hatte. Es geht um Folgendes: Die Therapien, die wir in ungefähr einem Jahrzehnt für Mäuse entwickeln werden, und jene, die vielleicht nur ein oder zwei Jahrzehnte später für Menschen folgen, werden nicht perfekt sein. Wenn alles andere gleich bleibt, wird es eine verbleibende Anhäufung von Schäden in unseren Körpern geben, wie oft und gründlich wir diese Therapien auch anwenden. Letztlich werden wir, wie auch jetzt, einen altersbedingten Verfall und Tod erleben, nur in späterem Alter. Und auch das vielleicht nicht so viel später – wahrscheinlich nur 30 bis 50 Jahre später als heute. Doch andere Dinge werden sich ebenfalls verändern. In diesem Kapitel werde ich erklären warum – und warum ich davon ausgehe, dass viele heute lebende Menschen 1000 Jahre alt werden und altersbedingte Gesundheitsprobleme selbst in diesem Alter vermeiden können. Ich werde zunächst erklären, warum es unrealistisch ist, anzunehmen, dass diese Therapien perfekt sein werden.

Die Evolution hat keine Notizen hinterlassen Ich habe in Kapitel 3 betont, dass der Körper eine Maschine ist und dass dies sowohl erklärt, wieso er altert, als auch dass er prinzipiell gewartet werden kann. Ich habe ihn mit Oldtimern verglichen, die sogar noch 100 Jahre nach ihrer Produktion voll funktionstüchtig erhalten werden – unter Verwendung der gleichen Wartungstechniken, die sie 50 Jahre zuvor instand hielten, als sie schon viel älter waren als geplant. Komplexere Maschinen können ebenfalls unbegrenzt instand gehalten werden, wenngleich die damit zusammenhängenden Kosten und Fachkenntnisse womöglich bedeuten, dass dies in der Realität niemals geschehen wird, weil eine vernünftige Alternative darin besteht, die Maschine zu ersetzen. Man könnte also glauben, dass die

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Therapien, die wir entwickeln, um das Altern für einige Jahrzehnte hinauszuzögern, tatsächlich genügen werden, um es für immer abzuwehren. Doch das ist allzu optimistisch. Alles, was wir verlässlich von einem Vergleich mit von Menschen produzierten Maschinen ableiten können, ist, dass ein wirklich umfassendes Paket von Therapien, die wirklich alles reparieren, was bei uns in Folge des Alterns schief läuft, im Prinzip möglich ist – nicht, dass es absehbar ist. Und tatsächlich, wenn wir die in diesem Buch beschriebenen Therapien betrachten, gibt es eine Sache, die der Instandhaltung einer menschengemachten Maschine absolut nicht ähnelt: Diese Therapien wollen den Stoff wechsel selbst minimal verändern und zielen nur auf die zunächst inerten Nebenwirkungen des Stoff wechsels ab, wohingegen die Wartung von Maschinen darin bestehen kann, der Maschine selbst Teile hinzuzufügen (beispielsweise zum Benzin oder Öl des Autos). Wir können uns diese invasive Wartung menschengemachter Maschinen erlauben, weil wir (zumindest einige von uns!) wissen, wie sie bis ins letzte Detail funktionieren. Somit können wir ausreichend sicher sein, dass unser Eingriff keine unvorhergesehenen Nebenwirkungen haben wird. Was den Körper – selbst den einer Maus – betriff t, sind wir hinsichtlich der Details noch hochgradig unwissend. Folglich müssen wir unsere Unkenntnis umgehen, indem wir so wenig wie möglich in den Körper eingreifen. Für die Wirksamkeit von Therapien bedeutet dies: Je mehr Aspekte des Alterns wir reparieren, umso mehr neue Aspekte werden wir enthüllen. Diese neuen Dinge – der achte und folgende Punkte, die zu den in diesem Buch aufgezählten »sieben tödlichen Dingen« hinzukommen – werden bei dem derzeitigen normalen Alter nicht tödlich sein, denn wenn sie es wären, wüssten wir bereits davon. Aber letztlich werden sie tödlich sein, sofern wir nicht herausfinden, wie auch sie zu reparieren sind. Es sind aber nicht nur »acht Dinge«, um die wir uns zu sorgen haben. Innerhalb jeder der existierenden sieben Kategorien gibt es einige Unterkategorien, die einfacher zu beheben sein werden als andere. So gibt es beispielsweise viele chemisch verschiedene Querverbindungen, die für die Arterienversteifung verantwortlich sind. Einige von diesen können vielleicht mit Alagebrium und ähnlichen Molekülen aufgelöst werden, doch andere werden mit Sicherheit ausgeklügeltere Wirkstoffe benötigen, die noch nicht entwickelt wurden. Ein weiteres Beispiel: Gentherapie ist notwendig, um die mitochondriale DNA durch das Einfügen veränderter Kopien derselben in die Chromosomen der Zelle unnötig zu machen, und bis jetzt haben wir kein gentherapeutisches Liefersystem (»Vektor«), das sicher in alle Zellen gelangt. In absehbarer Zukunft werden wir vermutlich nur eine Teilmenge von Zellen vor mtDNA-Mutationen schützen können. Viel bessere Vektoren werden nötig sein, um alle Zellen zu erreichen. In der Praxis werden demzufolge Therapien, die 60-Jährige um 20 Jahre verjüngen, beim zweiten Mal nicht so gut wirken. Wenn die Therapien zum ersten Mal angewendet werden, werden die Patienten 60 Jahre »leichter« Schäden haben (die Art von Schäden, die die Therapie beseitigen kann) und auch 60 Jahre »schwieriger« Schäden. Doch wenn die Nutznießer dieser Therapien wieder ihr biologisches Alter von 60 erreicht haben werden (angenommen dies geschieht, wenn sie ihr reales Alter

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von 80 erreicht haben), wird der Schaden in ihren Körpern aus 20 Jahren »leichter« Schäden und 80 Jahren »schwieriger« Schäden bestehen. Demzufolge werden die Therapien sie nur in viel geringerem Ausmaß verjüngen, sagen wir zehn Jahre. Also werden sie die dritte Behandlung früher antreten müssen, doch diese wird ihnen noch weniger nützen … Und bald wird sie das Altern einholen, so wie Achilles in Zenons Paradoxon die Schildkröte (siehe Abb. 1). Abbildung 1: Der abnehmende Nutzen, der durch die wiederholte Anwendung einer Verjüngungsbehandlung erzielt wird. Max

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In Kapitel 3 und 4 habe ich erklärt, dass – im Widerspruch zur Intuition – eine Verjüngung einfacher erreicht werden könnte als eine Verzögerung. Jetzt ist es an der Zeit, eine noch minder intuitive Tatsache einzuführen: Wenngleich es viel schwerer sein wird, die verbleibende Lebensspanne eines Menschen in mittlerem Alter zu verdoppeln, als die einer Maus in mittlerem Alter, wird die Vervielfachung der verbleibenden Lebensspanne um viel größere Faktoren – sagen wir zehn oder 30 – beim Menschen viel einfacher sein als bei Mäusen.

Das zweistufige Tempo der Technologie Ich werde nun kurz von der Wissenschaft zur Wissenschaftsgeschichte wechseln, oder genauer, zur Geschichte der Technologie. Lange vor Beginn der Geschichtsschreibung wollten die Menschen fl iegen lernen: Dieser Wunsch ist vielleicht so alt wie der nach ewigem Leben. Doch abgesehen von der bemerkenswerten, aber leider nicht wiederholten Ausnahme von Daedalus und Ikarus gab es auf diesem Gebiet bis vor etwa einem Jahrhundert keine Erfolge. (Wir müssen diese Zahl verdoppeln, wenn wir Ballons mitzählen, aber es sollten nur Luftschiffe – Ballons, die ihre Flugrichtung gut steuern können – dazugezählt werden, und diese erschienen ungefähr zur gleichen Zeit wie das Flugzeug.) Seit

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Leonardo ersannen Techniker Möglichkeiten für kontrollierte Motorflüge und wir müssen annehmen, dass sie glaubten, ihre Entwicklungen könnten in (höchstens) wenigen Jahrzehnten realisiert werden. Doch sie irrten sich. Aber die Dinge änderten sich, als die Gebrüder Wright bei der US-amerikanischen Kleinstadt Kitty Hawk Flüge starteten. Nachdem sie die Grundlagen gemeistert hatten, scheinen Flugtechniker in einem nahezu steten Tempo in immer größere Höhen gelangt zu sein (im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn!). Um eine repräsentative Auswahl an Meilensteinen anzuführen: Lindbergh flog 24 Jahre nach dem ersten Motorflug über den Atlantik, das erste Passagierflugzeug der Welt mit Strahltriebwerken (der Comet) wurde 22 Jahre später präsentiert und das erste Flugzeug mit Überschallgeschwindigkeit (Concorde) folgte nach weiteren 20 Jahren. Dieser starke Kontrast zwischen fundamentalen Durchbrüchen und inkrementellen Verbesserungen dieser Durchbrüche ist, so würde ich behaupten, typisch für die Technologiegeschichte. Weiter würde ich behaupten, dass dies nicht überraschend ist: Psychologisch wie wissenschaftlich ist die Schwierigkeit größerer Fortschritte schwerer einzuschätzen. Ich erwähne all dies natürlich, weil es etwas über den wahrscheinlichen zukünftigen Fortschritt der Therapien zur Lebensverlängerung aussagt. So wie sich die Menschen jahrhundertelang darin täuschten, wie schwer das Fliegen sei, und es letztlich doch schaff ten, so liegen wir seit Menschengedenken falsch, was die Schwierigkeit angeht, das Altern zu besiegen, doch auch das werden wir letztendlich schaffen. So wie die Menschen nach dem ersten Flugzeug immer bessere Flugzeuge gebaut haben, können wir davon ausgehen, die altersbedingten Schäden immer vollständiger zu reparieren, wenn wir erst einmal damit begonnen haben. Das soll nicht heißen, dass es einfach sein wird. Es wird Zeit brauchen, so wie es Zeit brauchte, um vom Wright-Flugzeug zur Concorde zu kommen. Und wenn Sie 1000 Jahre alt werden wollen, können Sie sich deshalb glücklich schätzen, ein Mensch und keine Maus zu sein. Lassen Sie uns das Szenario Schritt für Schritt durchgehen: Gehen wir davon aus, dass wir die robuste Mausverjüngung 2016 erreichen, einige Dutzend zweijährige Mäuse nehmen und ihre verbleibende einjährige Lebensdauer verdreifachen. Das würde bedeuten, dass sie erst 2019 statt 2017 sterben würden. Vielleicht aber auch nicht – besonders dann nicht, wenn wir bis 2018 bessere Therapien entwickeln können, die ihre verbleibende Lebensdauer erneut verdreifachen (die bis dahin wieder auf ein Jahr gefallen sein wird). Doch bedenken Sie, dass die zweite Reparatur schwieriger sein wird: Der Gesamtschaden wird vielleicht der gleiche sein wie vor den ersten Therapien, doch ein höherer Prozentsatz dieses Schadens wird aus den Arten bestehen, die diese ersten Therapien nicht beheben werden können. Wir werden diese Verdreifachung also nur dann erreichen können, wenn die Therapien, die uns 2018 zur Verfügung stehen, viel leistungsfähiger sind als die, über die wir 2016 verfügten. Und um ehrlich zu sein, ist die Wahrscheinlichkeit äußerst gering, dass wir die relevanten Therapien in nur zwei Jahren so weit verbessern können. Tatsächlich tendiert der wahrscheinliche Grad an Verbesserung in nur zwei Jahren gegen Null. Folglich werden unsere Mäuse trotz unserer Bemühungen tatsächlich 2019 (oder bestenfalls 2020) sterben.

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Doch nehmen wir nun an, dass wir die robuste Verjüngung von Menschen 2031 entwickeln, einige Dutzend 60-jährige Menschen nehmen und ihre verbleibende 30-jährige Lebensdauer verdoppeln. Angenommen sie kommen 2051 zurück, wenn sie biologisch 60, aber chronologisch 80 Jahre alt sind, dann werden sie bessere Therapien benötigen, so wie die Mäuse 2018. Doch glücklicherweise hatten wir nicht zwei, sondern 20 Jahre, um die Therapien zu verbessern. Und 20 Jahre sind in der Technologie eine beachtliche Zeitspanne – lang genug, um mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreiche Verbesserungen der Therapien von 2031 zu entwickeln, sodass diese 80-Jährigen tatsächlich vom biologischen Alter von 60 auf das von 40, oder sogar ein bisschen jünger, zurückgesetzt werden können – trotz der Anreicherung (in Relation zu 2031) an schwerer zu reparierenden Schäden. Anders als die Mäuse werden diese Menschen, bevor sie die dritte Generation von Behandlungen erhalten, genauso viele (20 oder mehr) jugendliche Jahre vor sich haben als vor der zweiten. Und so weiter … (siehe Abb. 2). Abbildung 2: Wie der abnehmende Nutzen aus Abbildung 1 durch die wiederholte Anwendung einer Verjüngungsbehandlung, die mit jedem Mal effektiver wird, vermieden wird. Sehr schwer

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Langlebigkeits-Fluchtgeschwindigkeit Die zentrale Schlussfolgerung der soeben dargelegten Logik ist, dass es einen Schwellenwert bei der Geschwindigkeit des biomedizinischen Fortschritts gibt, der es uns erlauben wird, das Altern auf unbestimmte Zeit abzuwehren und dass dieser Wert für Mäuse unwahrscheinlich, für Menschen jedoch absolut glaubwürdig ist. Wenn wir so gute Verjüngungstherapien entwickeln können, dass sie uns die notwendige Zeit lassen, um sie zu verbessern, wird uns das genügend Zeit geben, um sie erneut zu verbessern, was … Sie verstehen, worauf ich hinaus will. Dies wird es uns erlauben, dem altersbedingten Verfall auf unbestimmte Zeit zu entkommen, wie alt wir

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auch werden. Ich finde, der Begriff »Longevity Escape Velocity« (LEV) – Langlebigkeits-Fluchtgeschwindigkeit – umschreibt dies recht gut. 1 Ein wichtiger Bestandteil von LEV, auf den ich an dieser Stelle hinweisen möchte, ist die Tatsache, dass wir dadurch einen Zeitvorsprung gewinnen. Wenn wir also eine Phase haben, in der wir die Therapien schneller entwickeln als nötig, steht uns in der darauffolgenden Phase mehr Zeit zur Verfügung. Nur die durchschnittliche Verbesserungsgeschwindigkeit, beginnend mit den ersten Therapien, die uns nur 20 oder 30 Jahre mehr bringen, muss über der LEV-Schwelle liegen. Falls es Ihnen schwer fällt, das alles zu verstehen, lassen Sie es mich mit dem menschlichen Körper vergleichen. In diesem Buch habe ich das Altern als Ansammlung diverser molekularer und zellulärer »Schäden« beschrieben und ich habe darauf hingewiesen, dass eine maßvolle Menge von Schäden kein Problem darstellt – der Stoff wechsel kommt damit klar, so wie es im Haushalt genügt, den Müll wöchentlich zu entsorgen, und nicht stündlich. So gesehen bedeutet das Erreichen und das Aufrechterhalten der Langlebigkeits-Fluchtgeschwindigkeit lediglich, dass unsere besten Therapien schnell genug verbessert werden müssen, um den fortschreitenden Wandel in der Zusammensetzung unserer Alterungsschäden hin zu stärker reparaturresistenten Formen auszugleichen, da die leicht zu beseitigenden Schäden von unseren Therapien nach und nach beseitigt werden. Wenn wir das schaffen, kann der Gesamtschaden innerhalb jeder Kategorie permanent unter dem Niveau gehalten werden, das einen funktionalen Verfall einleitet. Eine andere, vielleicht noch einfachere Betrachtungsweise ist der Vergleich mit der wortwörtlichen Fluchtgeschwindigkeit, also dem Überwinden der Schwerkraft. Angenommen, Sie springen von einer Klippe: Ihre verbleibende Lebenserwartung ist gering – und sie nimmt weiter ab, während Sie sich den Felsen unter Ihnen nähern. Genauso verhält es sich mit dem Altern: Je älter Sie werden, desto weniger Zeit bleibt Ihnen zum Leben. Die Situation des periodischen Auftauchens immer besserer Verjüngungstherapien ist dann in etwa vergleichbar mit dem Sprung von einer Klippe mit Düsenantrieb auf Ihrem Rücken. Der Düsenantrieb ist zunächst inaktiv, doch während Sie fallen, aktivieren Sie ihn, und er gibt Ihnen Auftrieb und verlangsamt Ihren Fall. Sie fallen weiter und drehen den Düsenantrieb auf, sodass Sie dem Sturzflug schließlich entkommen und sogar emporschießen. Und je höher Sie steigen, desto einfacher wird es, noch höher zu gelangen.

Die politische und soziale Bedeutung der LEV-Diskussion Es war recht schwer, meine Biogerontologie-Kollegen von der Machbarkeit der verschiedenen Bestandteile von SENS zu überzeugen, doch im Allgemeinen hatte ich Erfolg, sobald mir genügend Zeit zur Verfügung stand, die Details zu erläutern. Was jedoch LEV betrifft, so wurden meine Vorschläge mit blankem Unverständnis aufgenommen. Das ist im Nachhinein nicht allzu überraschend, denn das LEV-Konzept ist noch weiter vom gewohnten wissenschaftlichen Denken meiner Kollegen entfernt als meine anderen Ideen: Es ist nicht nur ein Wissenschaftsgebiet, das sich von der herkömmlichen Gerontologie unterscheidet, streng genommen ist es nicht einmal

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Wissenschaft, sondern vielmehr Technologiegeschichte. Für mich ist das jedoch keine Entschuldigung. Die Geschichte der Technologie ist nun einmal eine Evidenz wie jede andere auch und Wissenschaftler haben kein Recht, sie zu ignorieren. Ein anderer wichtiger Grund für den Widerstand meiner Kollegen ist natürlich folgender: Wenn sich meine Prognose, dass LEV bald erreicht werden kann, bestätigen würde, könnten sie nicht länger behaupten daran zu arbeiten, das Altern um maximal ein oder zwei Jahrzehnte hinauszuzögern. Wie ich in Kapitel 13 dargelegt habe, haben die älteren Gerontologen große Angst, den Anschein zu erwecken, mit radikaler Lebensverlängerung und all den Unsicherheiten, die sie mit sich bringt, in Verbindung zu stehen. Sie wollen damit nichts zu tun haben. Sie glauben vielleicht, dass ich darauf reagiere, indem ich mich auf kurzfristige Ziele konzentriere: Dass ich es vermeide, meine Kollegen mit dem LEV-Konzept und seinen Folgen, nämlich vierstelligen Lebensspannen, zu verärgern, und zwar zugunsten einer erhöhten Betonung der Details, um SENS in einer ersten Form zu realisieren. Aber das ist für mich aus einem ganz einfachen und unumstößlichen Grund keine Alternative: Ich bin in diesem Geschäft, um Leben zu retten. Um die Anzahl der geretteten Leben zu maximieren – gesunde zusätzliche Jahre, falls Sie ein präziseres Maß wünschen –, muss ich mich mit dem Gesamtbild befassen. Das bedeutet zu gewährleisten, dass Sie, verehrter Leser – die Öffentlichkeit – die Wichtigkeit dieser Arbeit ausreichend schätzen, um seine Finanzierung zu verteidigen. Ihr erster Gedanke ist nun vielleicht: Moment, wenn eine unbegrenzte Lebensverlängerung so schlecht ist, wäre die Finanzierung dann nicht einfacher zu sichern, indem man darüber schweigt? Nun, nein – und zwar aus einem ziemlich guten Grund: Der reichste Mann der Welt, Bill Gates, hat vor einigen Jahren eine Stiftung ins Leben gerufen, die sich hauptsächlich den Gesundheitsproblemen in den Entwicklungsländern widmet.2 Dies ist ein extrem wertvoller humanitärer Akt, den ich von ganzem Herzen unterstütze, auch wenn er SENS zunächst überhaupt nicht nützt. Ich bin auch nicht der einzige Mensch, der dies unterstützt: 2006 entschloss sich der zweitreichste Mensch der Welt, Warren Buffett, einen Großteil seines Vermögens in jährlichen Raten an die Gates Foundation zu spenden.3 Der Eifer extrem reicher Menschen, zur Weltgesundheit beizutragen, ist, allgemein betrachtet, ein enormer Antrieb für SENS. Hauptsächlich, weil eine Flut alle Boote hochhebt: Wenn es erst einmal akzeptiert (sogar lobenswert) ist, als großer Gesundheitsphilanthrop zu gelten, werden auch diejenigen, die »nur« über ein oder zwei Milliarden verfügen, den Trend eher mitmachen wollen, als wenn dies nur als eine verrückte Art gilt, sein schwer verdientes Geld auszugeben. Doch es gibt einen Haken. Das alles funktioniert nur, wenn der moralische Status von SENS mit dem der Bemühungen vergleichbar ist, die derzeit so gut finanziert werden. Und darin liegt der große Unterschied der LEV. Die SENS-Therapien werden in ihrer Entwicklung und Verabreichung zumindest anfangs sehr teuer sein. Überlegen wir einmal, wie diese Ausgaben wahrgenommen werden könnten, wenn der letztendliche Nutzen lediglich darin besteht, den Menschen, die ohnehin schon länger leben als diejenigen in den Entwicklungsländern,

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einige Jahrzehnte an zusätzlichem Leben zu geben, und die danach den gleich langen körperlichen Verfall erleiden werden wie derzeit. Das ist in moralischer Hinsicht nicht gerade das dringendste Gebot der Welt, oder? Ich würde sogar behaupten, dass ich, wenn ich ein paar Milliarden Dollar zur Verfügung hätte, recht zögerlich wäre, diese für eine so geringfügige Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität und -quantität derjenigen auszugeben, denen es in dieser Hinsicht ohnehin schon besser geht als den meisten anderen, zumal wenn die Alternative besteht, eine ähnliche oder größere Verbesserung der Lebensqualität und -quantität der weniger glücklichen Erdbewohner herbeizuführen. Natürlich macht das LEV-Konzept kurzfristig gesehen keine großen Unterschiede hinsichtlich der Menschen, die von diesen Therapien profitieren würden: Es werden die sein, die derzeit am Altern sterben, und somit werden es zunächst hauptsächlich die in den reichen Ländern der Welt sein. Doch es gibt einen allgemeinen Konsens in der industrialisierten Welt – ein Konsens, der sich meiner Meinung nach auf die reichen Gesellschaftskreise ausbreitet –, dass langfristiger Fortschritt darauf beruht, hoch hinaus zu wollen und vor allem, dass der moralische Imperativ, den Nachzüglern aufholen zu helfen, durch den moralischen Imperativ ausgeglichen wird, die durchschnittliche Geschwindigkeit der Entwicklung weltweit zu erhöhen, was zunächst bedeutet, denen zu helfen, die bereits an der Spitze stehen. Die Tatsache, dass SENS wahrscheinlich zu LEV führen wird, bedeutet, dass die Entwicklung von SENS der Lebensqualität und -quantität der Empfänger – wer immer das auch sein mag – einen enormen Schub gibt: und zwar so enorm, dass es – im Vergleich zu den Alternativen, für die eine ähnliche Summe Geld hätte ausgegeben werden können – kein Problem geben wird, die Entwicklung von SENS zu rechtfertigen. Dass die Lebensspanne auf unbestimmte Zeit und nicht nur ein paar Jahrzehnte verlängert wird, ist natürlich nur eine Veränderung, die LEV mit sich bringen wird: Noch wichtiger ist, dass das ganze Leben jugendlich sein wird, bis ein Nutznießer die Geschwindigkeit eines nahenden LKW falsch einschätzt. Die durchschnittliche Lebensqualität wird daher viel höher sein, als wenn sich das Verhältnis von gesundem zu gebrechlichem Leben von – sagen wir – 7 zu 1 auf 9 zu 1 verändern würde.

Die Langlebigkeits-Fluchtgeschwindigkeit präziser in Zahlen ausdrücken Ich hoffe, dieses Kapitel hat jenen, die die SENS-Agenda noch immer abzulehnen versuchen, die verbleibenden Fluchtwege versperrt. Ich habe gezeigt, dass SENS der vollständigen Beseitigung des Alterns gleichkommt, auch wenn es das Altern in der Praxis zu jedem beliebigen Zeitpunkt nur um eine gewisse Zeit hinauszögern kann. Ich habe auch gezeigt, dass es dadurch moralisch ebenso wünschenswert ist – sogar zwingend erforderlich – wie die vielen Bemühungen, in die bereits ein Großteil der privaten Spenden eingeht. Dennoch bin ich nicht selbstzufrieden: Ich weiß, dass Menschen recht erfindungsreich sind, wenn es darum geht, Wege zu fi nden, den Krieg gegen das Altern

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zu vermeiden. Um also ein paar Schritte voraus zu bleiben, habe ich eine Kollaboration mit einem erstaunlichen Programmierer und Futuristen namens Chris Phoenix vereinbart, in der wir das genaue Maß gesunder Lebensverlängerung bemessen, die von einer bestimmten Entwicklungsgeschwindigkeit bei der Verbesserung der SENS-Therapien erwartet werden kann. Dies führt zu einer Reihe von Publikationen, die verschiedene Szenarien darstellen werden, aber der Kern des Ganzen ist, dass Sie nicht hinters Licht geführt wurden: Die Fortschrittsgeschwindigkeit, die wir erreichen müssen, beginnt mit einer ungefähren Effizienzverdopplung der SENS-Therapien alle 40 Jahre und nimmt danach ab. Mit »Effizienzverdopplung« meine ich eine Halbierung der Schäden, die noch nicht behoben werden können. Da haben Sie es also. Wir werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Jahrhunderte brauchen, um das menschliche Altern so kontrollieren zu können wie das von Oldtimern – eine umfassende, unbegrenzte Aufrechterhaltung aller Funktionen –, aber da die Langlebigkeits-Fluchtgeschwindigkeit nicht sehr schnell ist, werden wir etwas funktional Vergleichbares vermutlich innerhalb nur einiger Jahrzehnte erreichen, und zwar dann, wenn wir Therapien entwickelt haben, die Menschen in mittlerem Alter 30 zusätzliche Jahre jugendlichen Lebens verleihen. Ich denke, wir können das als Jungbrunnen bezeichnen, oder nicht?

Anmerkungen 1

2 3

Ich habe den Ausdruck »Escape Velocity« (Fluchtgeschwindigkeit) zum ersten Mal in dem Aufsatz verwendet, der aus dem zweiten SENS-Workshop entstanden war: De Grey, A.D.N.J./Baynes, J.W./Berd, D./Heward, C.B./Pawelec, G./Stock, G.: Is human aging still mysterious enough to be left only to scientists? BioEssays 2002, 24 (7): 667-676. Meine erste ausführliche Beschreibung des Konzepts erschien jedoch erst zwei Jahre später: De Grey, A.D.N.J.: Escape velocity: why the prospect of extreme human life extension matters now. PLoS Biology 2004, 2 (6): e187. Gates finanziert dies mit den Geldern der Bill and Melinda Gates Foundation, http://www.gatesfoundation.org/ Buffetts Entscheidung, einen Großteil seines Vermögens an die Gates Foundation zu stiften, wurde im Juni 2006 bekannt und es ist die größte Spende in der Geschichte der Vereinigten Staaten.

15. Kriegsanleihen für den Feldzug gegen das Altern

Wie Sie mittlerweile wissen, bin ich fest davon überzeugt, dass Sie – der Leser bzw. die Leserin dieses Buches – mit hoher Wahrscheinlichkeit lange genug leben werden, um die biologische Verjüngung Ihres Körpers um Jahre oder Jahrzehnte zu erleben, was letztlich zu einem endlosen Sommer einer buchstäblich unbefristeten Jugend führen wird. Doch das ist eine Vorhersage für etwas, was sein könnte – nicht was sein muss. Seien Sie versichert: Sobald der Krieg gegen das Altern beginnt, muss er mit einem Sieg enden, und die Zukunft von unbegrenzter Gesundheit wird uns gehören. Doch ob dieser Prozess rechtzeitig beginnt, um unsere Eltern zu retten, oder auch nur uns selbst oder bloß unsere Kinder, ja sogar deren Kinder, hängt gänzlich davon ab, wann die erste Bombe dieses Krieges – das Gelingen der robusten Mausverjüngung (RMR) – fallen wird. Nachdem dies nun klar ist, bleibt für jeden von uns die Schlüsselfrage: Was werde ich dafür tun? Angenommen, dass der Krieg gegen das Altern schon in einem Jahrzehnt beginnen könnte, wäre es sinnvoll, sich und seine Familie schon jetzt darauf einzustellen, sodass Sie das Eintreten der robusten Mausverjüngung nicht um einige Jahre verpassen. Es gibt diesbezüglich bereits eine Reihe fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse: Mehr Obst und Gemüse essen, essentielle Fettsäuren zu sich nehmen, Sport treiben und ein gesundes Gewicht halten. Doch ein viel effektiverer Weg, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, den eigenen Körper verjüngen zu lassen – und einer, der den entscheidenden Vorteil hat, auch die Überlebenschancen der Ihnen Nahestehenden wie auch der Abertausenden, die Sie noch nicht getroffen haben, zu erhöhen – besteht darin, den Tag herbeiführen zu helfen, an dem der Krieg beginnt. Zum Glück gibt es einige entscheidende Dinge, die Sie bereits heute tun können, um Leben zu retten – ich betone erneut, zehntausende Leben pro Tag, einschließlich womöglich Ihres eigenen oder die Ihrer Lieben. Der offensichtlich wirksamste Einsatz bestünde darin, durch Briefe an Abgeordnete für mehr Spenden für die Verjüngungsforschung und für die äußerst wichtige Aufhebung der staatlichen Finanzierungsbeschränkungen der embryonalen Stammzellforschung zu kämpfen. Werfen wir einen kurzen Blick darauf, wo wir uns heute befinden und wie wir die Zukunft beeinflussen können: Erinnern Sie sich an die Blockade, die ich in Kapitel 13 skizziert habe? Dass die

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Investitionen so schwer aufzutreiben sind, die notwendig sind, um die robuste Mausverjüngung – die erste und kritische Station zur Etablierung eines absoluten Überlebenskampfes gegen das biologische Altern – voranzubringen, liegt an einem sich gegenseitig verstärkenden Kreislauf politisch gesteuerter Finanzierungsbeschränkungen, wissenschaftlicher Übervorsichtigkeit bei öffentlichen Äußerungen und Forschungsanträgen und der öffentlichen Meinung. Der schnellste Weg, um diesem Teufelskreis zu entkommen, bestünde darin, eine unabhängige Finanzierungsquelle zu gründen, die die benötigten Milliarden direkt in die Arbeit an RMR steckt. Unglücklicherweise wäre es äußerst schwierig, die benötigten Gelder in kurzer Zeit zu beschaffen, und zwar genau wegen des weitverbreiteten Pessimismus, der in der Öffentlichkeit von Wissenschaftlern erzeugt wird, die in einer Welt der Blockade um ihre Karrieren fürchten. Es gibt zwei plausible Wege, das zu ändern, und die SENS Foundation sowie die Methuselah Foundation sind die weltweiten Vorkämpfer für beide. Der erste ist die direkte Unterstützung der SENS-Forschung. Wie die National Institutes of Health oder die National Science Foundation bewertet unser wissenschaftliches Team, das von mir als wissenschaftlicher Leiter geführt wird, wissenschaftliche Publikationen und Forschungsergebnisse und verteilt weltweit Gelder an Professoren. Der Unterschied zwischen uns und anderen Einrichtungen besteht natürlich darin, dass wir uns auf ein bestimmtes Ziel konzentrieren und keine Bedenken haben, Projekte zu finanzieren, die vielleicht erst in ferner Zukunft zum Erfolg führen. Oder … sie führen gar nicht zum Erfolg. Und aus diesem Grund haben wir, um uns nach allen Seiten abzusichern, die zweite Strategie. Ich glaube, SENS ist bei weitem der vielversprechendste Weg, um zügig RMR und anschließend entsprechende Therapien für den Menschen zu erreichen – doch, wie jeder Wissenschaftler, könnte ich mich irren. Äußerst schwer zu erreichende technologische Ziele, ob in der Medizin oder anderswo, unterscheiden sich sehr darin, mit welcher Gewissheit die jeweiligen Experten sagen können, ob ihr bevorzugter Ansatz funktioniert. In manchen Fällen gibt es fast keine Zweifel an der weiteren Vorgehensweise, lediglich die Ressourcenbeschaff ung hält das Projekt zurück. Das Apollo-Projekt war ein gutes Beispiel dafür: Nachdem der Nationalstolz die notwendigen Gelder freigesetzt hatte, wurde das Projekt schneller realisiert als das Big Dig in Boston. Doch andererseits – beispielsweise der Motorflug vor 1900 oder im Grunde die gesamte Medizin vor 1800 – haben Menschen noch immer recht spekulative Vorstellungen davon, was funktionieren könnte, und ein Versuch nach dem anderen scheitert oder wird gar nicht erst gewagt. Wenn es so viele ähnlich plausible Möglichkeiten gibt, kann es sich keine Organisation, nicht einmal eine hochmotivierte Regierung leisten, alles zu testen, was vielleicht funktionieren könnte. Glücklicherweise gibt es eine bewährte Strategie, die immer wieder erfolgreich eingesetzt wurde, um derartige technische Herausforderungen zu lösen, ohne auch nur einen kleinen Teil der für die Fertigstellung des Projektes notwendigen Gesamtsumme auszugeben. Diese Strategie ist der Forschungspreis. Forschungspreise mit bestimmten Zielvorgaben haben hinsichtlich der Entwicklung effektiver Prototyp-Technologien mit nur geringen Investitionskosten eine lange

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und glorreiche Erfolgsgeschichte. Charles Lindberghs berühmter Transatlantikflug 1927, John Harrisons Erfindung, den Längengrad eines Schiffes auf See zu bestimmen (grundlegend für erfolgreiche Navigation abseits der Küste) und das dramatische Fotofinish beim Rennen um den ersten privat finanzierten suborbitalen Flug mit menschlicher Fracht, das vom Ansari X Prize angetrieben wurde – all das sind Beispiele für die Kraft, mit der solche Preise gewagte technologische Neuerungen antreiben können. Forschungspreise sind deshalb so mächtig, weil sie nur Erfolge belohnen. Nicht ein einziger Euro des Preises wird ausgegeben, bevor jemand das von den Preisstiftern vorgegebene Ziel erreicht. Demzufolge motiviert die Existenz eines einzigen Preises viele Teams aus unabhängigen Wissenschaftlern und Technikern, darum zu kämpfen – jeder wendet einen anderen Ansatz an und investiert sein eigenes Geld. Dadurch verringert das Geld, das irrtümlicherweise in Ansätze investiert wurde, die sich als nicht erfolgreich entpuppten, den Jackpot des Preises nicht um einen einzigen Cent. Letztlich hat jeder Teilnehmer für jeden Euro des Forschungspreis-Jackpots zehn oder 20 Euro ausgegeben – obwohl jeder Teilnehmer für gewöhnlich von seinem eigenen Geld weniger verspielt als im Pot liegt – und das Ziel des Preises wurde mit einem Kostenaufwand erreicht, der viel geringer ist als bei einem monumentalen Ansatz wie dem »Apollo Projekt«. Sie sehen, worauf ich hinaus will. Der Methuselah Mouse Prize (oder Mprize, als Verneigung vor dem Erfolg des X Prize) wurde um die Jahrhundertwende von einigen Biogerontologen (beginnend mit Gregory Stocks Konzept des Prometheus Prize) und vom langjährigen humanitären Visionär David Gobel – unabhängig voneinander – erdacht. Als David und ich uns kennen lernten, erlaubten es unsere sich ergänzenden Talente sehr schnell, den Preis zu realisieren. Ziel des Projektes ist es, die erwähnte Blockade durch einen Forschungspreis aufzubrechen, der dem X Prize-Modell ähnelt. Mit der Unterstützung des X Prize-Präsidenten und CEO Peter Diamandis als Hauptberater ist das größte Projekt des Mprize der Rejuvenation Prize für die größte Verlängerung der Lebensspanne bereits älterer Mäuse – anders gesagt, für Fortschritte hin zur vollständigen robusten Mausverjüngung. Der Mprize verfügt über das Potential, die Hindernisse zu beseitigen, die Wissenschaftler in Regierung und Industrie derzeit daran hindern, den Alterungsprozess als heilbare Krankheit zu behandeln. Die akademischen Wissenschaftler werden dazu angespornt, die richtigen Forschungsanträge zu schreiben. Sie hoffen durch den Preis mehr Spenden und einen größeren Prestigegewinn für ihre Institutionen zu erlangen, was wiederum mehr Finanzmittel aus anderen Quellen anziehen wird. Es ist aber auch ein Gewinn an Popularität. Das Konzept des Preises beeinflusst die öffentliche Meinung und bietet eine gute Möglichkeit, die Öffentlichkeit und die Medien darüber zu informieren, dass Wissenschaftler daran arbeiten, die gesunde Lebensspanne von Säugetieren zu verlängern. Das erhöht die Glaubwürdigkeit jedes vergleichbaren seriösen Versuchs und erhöht die Akzeptanz der Vorstellung, dass dies auf Menschen übertragbar ist. Veränderungen in der öffentlichen Meinung lockern wiederum politische Beschränkungen hinsichtlich der Finanzierung der-

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artiger Projekte aus öffentlichen Geldern und erzeugen vielleicht sogar den Druck, solche Mittel vor dem Eintreten von RMR zu gewähren. Der Mprize richtet auch die Anreize für die Industrie neu aus. Gegenwärtig gibt es für private Forscher keine besondere Motivation, die Lebensspanne von Mäusen zu erforschen: Es ist höchstens ein Sprungbrett hin zu umfangreichen und kostspieligen Versuchen am Menschen. Wenn jedoch eine erhebliche finanzielle Belohnung – und der Ausblick auf große Öffentlichkeitswirkung – lockt, lohnt es sich, einen Wirkstoff für einige Jahre, anstatt nur für einige Monate, in Mäusen zu erforschen. Sollte einem Startup die Mausverjüngung gelingen, werden ihm die großen Pharmakonzerne für die Rechte, die Erfindung auf Menschen zu übertragen, die Tür einrennen. Somit kann der Mprize den Teufelskreis durchbrechen, in dem sich die etablierte biomedizinische Gerontologie in der akademischen Forschung befindet. Mehr noch: Er kann ihn umkehren und seine konvergierenden, sich selbst verstärkenden Mechanismen in einen neuen Engelskreis verwandeln. Die Forschungsergebnisse werden den öffentlichen Optimismus verstärken, somit politisch Akzeptanz fördern und zu mehr öffentlichen und privaten Spenden führen. Diese Investitionen werden schließlich – vielleicht sehr schnell – zur robusten Mausverjüngung führen, selbst wenn der SENS-Ansatz ins Wanken geraten sollte – und dann wird der Krieg gegen das Altern wirklich beginnen.

Nachwort

Michael und ich haben uns im Winter 2006/07 bezüglich des Manuskripts zu Ending Aging den Kopf zerbrochen: Einerseits haben wir wertvolle Details aus dem Manuskript gestrichen, um sicherzustellen, dass sich die Leser nicht in allzu vielen Einzelheiten verlieren. Andererseits haben wir unseren natürlichen Impuls gezügelt, mehr Details hinzuzufügen, während Labors rund um den Globus weiter Resultate veröffentlichten, die die SENS zugrunde liegende Wissenschaft weiter entwickelten. Wir wussten natürlich auch, dass vom Einreichen unseres Manuskripts bis zum tatsächlichen Erscheinen Redaktion und Publikation Monate beanspruchen würden. Das Buch würde also überholt sein, sobald es in die Läden kommt, egal, wie viel Mühe wir uns geben, es aktuell zu halten. Die folgenden Monate würden uns aufzeigen, dass biomedizinische Gerontologie nun wie die Rechenleistung von Computern eine exponentielle Beschleunigung erfährt. Das Erscheinen der Taschenbuchauflage gibt mir Gelegenheit, die Riesensprünge mit Ihnen zu teilen, die in lediglich einem Jahr gemacht wurden. Ich habe dieses Nachwort analog dem zweiten Teil des Buches strukturiert. Ein Schlussabschnitt baut Kapitel 14 aus.

Kernschmelze der zellulären Kraftwerke Der zweite Teil begann mit einem Kapitel, das sich vom Rest dadurch unterschied, dass es nicht einen Aspekt der Alterung beschrieb, sondern die Belege dafür, ob das fragliche Phänomen – sich anhäufende mitochondriale Mutationen – für die Alterung überhaupt wichtig sei. Diese Frage ist immer noch völlig offen. Es wurden jüngst aber ein paar wichtige Resultate publiziert, die uns einer Antwort näher bringen. Ich fasse nur zwei zusammen, wobei beide von der »mitochondrialen Mutatormaus« und verwandten Modellen handeln, die in den letzten Jahren unabhängig voneinander in einer Reihe von Labors entwickelt wurden. Aus dem Labor von Nils-Göran Larsson vom Karolinska-Institut in Stockholm kam ein speziell interessanter Befund: Mäuse, bei denen nur ein Teil der Hirnzellen mutierte Mitochondrien hatten, wiesen ein Muster mitochondrialer Fehlfunktion auf, das nicht auf die mutierten Zellen beschränkt blieb. Genau gesagt: Mutierten Zellen ging es tatsächlich schlecht, da sie »erstickten« (sie konnten keinen Sauerstoff

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verwenden, um Energie aus der Nahrung zu gewinnen). Benachbarten Zellen ging es jedoch ebenfalls schlecht. 1 Meines Wissens ist dies der erste Beweis in einem lebenden Organismus für einen »Kollateralschaden«, den mitochondrial gesunde Zellen durch mitochondrial mutierte Zellen erleiden. Der Mechanismus ist wahrscheinlich nicht mit meiner Hypothese des »reduktiven Krisenherds« verwandt. Dennoch dürfte infolge dieses Befundes das Interesse an allen möglichen interzellulären Mechanismen der Pathogenität mitochondrialer Mutationen sicher steigen. Zweitens hat Larry Loebs Gruppe an der Universität Washington in Seattle untersucht, welche Arten mitochondrialer Mutationen sich in den Mutatormäusen anhäufen und welche davon schädlich sind. Indem sie nicht nur Mutatormäuse mit normalen Mäusen verglich, sondern auch »heterozygote« Mäuse untersuchte, die ein mutiertes und ein normales Gen trugen, konnte sie zeigen, dass eine erhöhte Anzahl Deletionen (und nicht Punktmutationen) die Ursache für die verkürzte Lebensspanne dieser Mäuse war. Insbesondere schien die Pathogenität mit der klonalen Expansion dieser Deletionen und dem damit einhergehenden Verlust normaler mitochondrialer DNA der betroffenen Zellen zusammenzuhängen.2 Es gibt immer noch Gründe, zurückhaltend in Bezug auf die Detailtreue zu sein, mit welcher diese Mäuse die Probleme normaler Alterung rekapitulieren, denn die am meisten betroffenen Zelltypen scheinen jeweils andere zu sein. Nichtsdestotrotz stellt diese Studie eine wichtige Unterstützung der Idee dar, dass die klonale Expansion von Deletionsmutanten, die ihren Wirten die Fähigkeit zur Sauerstoff nutzung nimmt, der ursächliche Mechanismus ist, wodurch mitochondriale Mutationen uns schaden.

Abkopplung vom Netz Sie erinnern sich, dass die mitochondrialen »Kraftwerke« eine eigene DNA haben, die in einzigartiger Weise schadensanfällig ist, da sie sich in unmittelbarer Nähe zur Hauptquelle mutagener freier Radikale der Zelle befindet. Die Lösung, die ich favorisiere, nennt man allotopische Expression: Sicherheitskopien dieser DNA in den Luftschutzbunker des Zellkerns zu bringen. Dieser Ansatz scheiterte jedoch bisher an einer Eigenschaft der von der mitochondrialen DNA kodierten Proteine: ihre Hydrophobizität (Wasserabstoßung). Durch sie kringeln sich die Proteine in eine Form zusammen, die das Mitochondrium nicht importieren kann.

Eine Zweigniederlassung gründen Wie in Kapitel 6 beschrieben, ist der historisch vielversprechendste Ansatz, das Hydrophobizitätsproblem zu bewältigen, nach Veränderungen in den relevanten Proteinsequenzen zu suchen – Veränderungen, die die Hydrophobizität des Proteins etwas senken, ohne seine Funktion zu beeinträchtigen. Daran sind wir von der SENS-Stiftung immer noch sehr interessiert, doch verfolgen wir diese Strategie nun parallel zu einem komplementären Ansatz. Dieser zweite Ansatz beinhaltet keine Sequenzänderung des zu importierenden Proteins. Er wurde von Dr. Marisol Corral-Debrinski vom Centre National des Quinze-Vingts für Ophthalmologie in Paris entwickelt. Sie

N ACHWORT | 343 hoff t, mit allotopischer Expression vererbte mitochondriale Krankheiten zu heilen, die üblicherweise zur Erblindung führen. Es war seit Jahrzehnten bekannt, dass einige der mitochondrialen Proteine, die bereits natürlicherweise im Kern unserer Zellen kodiert sind, tatsächlich sehr nahe der mitochondrialen Oberfläche selbst produziert werden. Dies dank dem Umstand, dass ihre mRNA (»Boten-RNA«; die Anweisungen, die von der Originalvorlage der nukleären DNA kopiert wurden, und die als direkte Arbeitsvorschriften für die Proteinproduktions-Maschinerie der Zelle fungieren) effektiv direkt an »Proteinfabriken« in der Nähe von Mitochondrien »adressiert« wird. Genau wie multinationale Firmen manchmal Zweigniederlassungen in verschiedenen Ländern haben, um eine den Kundenwünschen angepasste Produktlinie für den lokalen Markt zu kreieren. Verschiedene Forscher hatten gemutmaßt, dass Proteine, die an der mitochondrialen Oberfläche synthetisiert werden, trotz ihrer extremen Hydrophobizität importierbar sind, weil das Zusammenkringeln kein sofortiger Vorgang ist: Falls ein Protein gleich neben einem Mitochondrium produziert wird, kann es während des Zusammenbaus importiert werden (»kotranslationell« ist der Fachbegriff ) und bevor es eine Chance hat, sich zu kringeln. Corral-Debrinski arbeitete zu Beginn mit Hefezellen, neuerdings aber mit Säugetierzellen. Sie war die erste Person, die diese Mutmaßung Realität werden ließ. Sie entdeckte, dass die »Adress-Etikette«, die die Zelle veranlasste, gewisse mRNAs zur mitochondrialen Oberfläche zu transportieren, ganz am Ende der mRNA-Sequenz war – eine Sequenz namens »drei-Strich untranslatierte Region«. Das entscheidende Wort hier ist »untranslatiert« (nicht übersetzt) – diese Region ist ein anscheinend nutzloser Sequenzteil, da sie an einer Stelle liegt, an der die Proteinfabrik (das Ribosom), die die mRNA liest, längst abgefallen ist, weil sie auf einen Code gestoßen ist, der besagt: »Hier ist das Proteinende«. Dies bedeutet, dass man im Prinzip der DNA, die für ein hydrophobes Protein kodiert, eine Sequenz voranstellen können müsste, die der Zelle sagt, dass das Protein für die Mitochondrien bestimmt ist (siehe Kapitel 6), und eine weitere, hinten angehängt, die ihr sagt, dass die mRNA ins Mitochondrium gehört. So sollte das Protein trotz seiner Hydrophobizität effizient importiert werden. Corral-Debrinski und ihre Gruppe taten genau das in Säugetierzellen mit dem Gen für ATP6, auf welches sich die meisten publizierten Studien zu allotopischer Expression konzentriert hatten. Sie waren erfreut zu beobachten, dass ein großer Proteinanteil erfolgreich in die Mitochondrien der Zellen importiert wurde – ebenso erfreut waren die Herausgeber der Zeitschrift RNA, die die Resultate veröffentlichten.3 Dies ließ jedoch immer noch die Frage offen, ob das Protein, wenn es erstmal drin war, auch als Teil der ATP-Produktionsmaschine funktionierte. Dies bewiesen die nächsten Experimente ihrer Gruppe. Sie luden dasselbe, speziell adressierte ATP6-Genkonstrukt in Hautzellen, die dieselbe ATP6-Genmutation trugen, die in Menschen NARP (Neuropathie, Ataxie und Retinitis Pigmentosa) verursacht. Das Resultat war eine »lang anhaltende und vollständige Korrektur mitochondrialer Fehlfunktion«. Als man den Zellen verschiedene Energiequellen unter Bedingungen anbot, die sie zwang, sich zur ATP-Gewinnung völlig auf oxidative Phosphorylierung zu stützen (der weniger effiziente Pfad wird blockiert – siehe Kapitel 5), war

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die maximale Energieleistung der NARP-Hautzellen gegenüber normalen Zellen um 61 Prozent bis 74 Prozent verringert. Erhielten dieselben Zellen jedoch das doppelt adressierte, aber ansonsten normale ATP6-Genkonstrukt als nukleäre Sicherheitskopie, stieg der Energieausstoß auf volle 98 Prozent einer normalen Zelle. Um zu beweisen, dass es kein Zufall war – und um zu zeigen, dass der Ansatz benutzt werden konnte, um anderen mitochondrialen Mutationen beizukommen – wiederholten sie mit Erfolg denselben Trick mit einer anderen Mutation (LHON, Leber’sche Optikusatrophie) in einem anderen mitochondrialen Gen (ND4), welches für eine Untereinheit eines anderen Komplexes der oxidativen Phosphorylierungskette (Komplex I) kodiert. Sie benutzten sogar ein anderes, natives Doppel-Adressiersystem dafür (diesmal als ganzes von COX10 übernommen, dessen mitochondriales Protein beim Zusammenbau von Komplex IV hilft, und nicht von SOD2). 4 Sobald ich von diesen Resultaten hörte, lud ich Corral-Debrinski ein, ihre Resultate auf SENS3 zu präsentieren. SENS3 ist die dritte in einer Serie von interdisziplinären Konferenzen, die ich (beginnend mit IABG 10) in Cambridge veranstaltet habe, um Forscher von all den verschiedenen Gebieten der Wissenschaft und Technologie zusammenzubringen, die für eine Umsetzung der vollen SENS-Plattform nötig sein werden. Sie stimmte zu und als die Konferenz angelaufen war, hatte sie sogar noch aufregendere Neuigkeiten zu berichten: Sie hatte gezeigt, dass das System nicht nur in Zellen, sondern in ganzen, lebenden Ratten funktioniert. Corral-Debrinskis Gruppe reparierte nicht eine bestehende mitochondriale Mutation in den Tieren – niemand hat bisher ein Tiermodell für LHON oder NARP entwickelt. Stattdessen benutzten sie das doppelt adressierte allotopische Expressionssystem, um eine Kopie von ND4 mit der häufigsten mitochondrialen LHON-Mutation in die Augen von Ratten einzufügen. Das Gen wurde aufgenommen und in etwa 40 Prozent der retinalen Ganglionzellen stark exprimiert (RGZ – eine Nervenzellart, die Informationen von den retinalen Lichtrezeptoren zu den Verarbeitungszentren im Gehirn weiterleitet; durch LHON verursachte Defekte in diesen Zentren führen zur Erblindung). Daraufhin ging die Lebensfähigkeit der RGZ stark zurück, und viele Zellen starben gänzlich. Solchen Tieren entnommene Neuronen konnten, wenn man sie in Kulturen wachsen ließ, keine richtigen Ausläufer (Dendriten und Axone) ausbilden, die sie sonst wie Telefonkabel benutzen, um mit anderen Neuronen zu kommunizieren.5 Es ist wichtig anzumerken, dass dieses Ergebnis lediglich zeigt, dass das allotopisch exprimierte Protein für die RGZ toxisch ist – nicht weshalb. Allotopisch exprimierte Proteine könnten allein schon durch ihre Anwesenheit in der Zelle Probleme bereiten. Sogar dann, wenn sie sich nicht einmal in den relevanten Komplex des oxidativen Phosphorylierungssystems integrieren. Diese Bedenken wurden jedoch partiell durch eine weitere Studie adressiert, die zudem den Fortschritt der allotopischen Expressionstechnologie insgesamt weiter vorantrieb. Diese Studie stammte vom medizinischen Campus der Universität von Florida in Gainesville und erschien gerade, als wir Ending Aging zum Druck sandten.6 Diese Wissenschaftler berichteten, dass sie eine völlig andere Sequenz zur Adressierung des ND4-Proteins zu den Mitochondrien benutzt hatten, und sie waren nicht einmal darauf angewiesen, dass sich die mRNA des Proteins an der mitochondrialen Oberfläche befand. In dieser

N ACHWORT | 345 Studie brachte man, wie es Corral-Debrinskis Gruppe getan hatte, LHON-mutierte Versionen von ND4 in einige Rattenaugen. Zusätzlich benutzten sie jedoch eine zweite Gruppe von Ratten, in welcher sie das gesunde Protein mit demselben System allotopisch exprimierten. Das ermutigende Resultat war, dass die allotopische Version des normalen Proteins harmlos war. Die Expression des defekten Proteins hingegen bewirkte eine Toxizität gegenüber den RGZ, die vergleichbar mit derjenigen war, die Corral-Debrinskis Gruppe in Paris beobachtet hatte. Während sowohl Michael als auch MitoSENS-Forscher Mark Hamalainen auf einige Schwächen dieser Studie hinwiesen, demonstriert sie zumindest, dass ein allotopisch exprimiertes ND4 von sich aus der Zelle nicht schadet. Die Pariser Gruppe plant nun zudem, ihr allotopisches Expressionssystem einzusetzen, um beide Arme des Experiments von Gainesville in einem eleganten Machbarkeitsnachweis zu kombinieren. Ihre Gruppe wird zuerst LHON in Ratten verursachen, indem sie mutiertes ND4 in ihren RGZ allotopisch exprimieren – danach wollen sie sie heilen, indem sie die gesunde Version einbringen. Zusammengenommen zeigten mir die Resultate der beiden Labors, wie Marks Stipendium der SENS-Stiftung am besten genutzt werden konnte. Mark ist nun nach Paris gewechselt, wo ich arrangierte, dass er direkt mit Corral-Debrinskis Gruppe arbeitet, ihre Methoden lernt, ihre Zellen benutzt und ihre Protokolle optimiert, um herauszufinden, ob ihr System die Probleme lösen kann, die das Labor von Holt mit ATP6 hatte. Die Stiftung hat außerdem die Ressourcen des Pariser Labors erweitert, indem sie den Techniker Sébastien Augustin finanziert, um Mark und zukünftigen Gruppenmitgliedern wichtige Forschungsunterstützung zukommen zu lassen. Falls Marks Einsatz erfolgreich ist, wird er an der allotopischen Expression von weiteren mitochondrialen Genen mitarbeiten.

Bring einem Mann das Fischen bei … Dr. Samit Adhya von der Abteilung Molekulare and Humane Genetik des Indian Institute of Chemical Biology verfolgt einen völlig anderen Ansatz zur mitochondrialen Wiederbelebung. Seine Arbeit konzentriert sich nicht darauf, mutierten Mitochondrien fertige Proteine (wie bei allotopischer Expression) zu liefern, sondern RNA: nicht jedoch die mRNA, von der wir sprachen, sondern Transfer-RNA (tRNA). tRNAs sind Werkzeuge, die die Protein-Bausteine (Aminosäuren) zu unseren Proteinfabriken (den Ribosomen) bringen. Jede gegebene tRNA kann nur eine der 20 verschiedenen, in Proteinen vorkommenden Aminosäuren handhaben. Proteine, die in der mitochondrialen DNA kodiert sind, werden durch mitochondriale Ribosomen mithilfe mitochondrialer tRNAs zusammengebaut. Die mitochondrialen tRNAs sind in Säugetieren alle in mitochondrialer DNA kodiert. Ein paar einzellige Organismen kodieren jedoch einige von ihnen in der Kern-DNA und importieren sie nach der Produktion im Hauptteil der Zelle, genau wie Proteine. Eine Spezies (ein Hautparasit namens Leishmania tropica) macht dies mit allen seinen mitochondrialen tRNAs, indem er einen Proteinkomplex (passenderweise RNA-Importkomplex genannt, RIK) benutzt, den er zu diesem Zweck entwickelt hat. Adhya überlegte, dass Säugetiermitochondrien die RIK-gebundene tRNA vielleicht auf dieselbe Weise

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aufnehmen wie diese einfacheren Organismen, wenn er RIK in Säugetierzellen bringen könnte. Dadurch würde es keine mitochondriale Kopie der DNA brauchen, um tRNA in den Mitochondrien zu erzeugen. Dies hätte therapeutisches Potential, denn Mutationen in tRNA-Genen sind für verschiedene Mitochondrien-Krankheiten wie etwa dem MERRF-Syndrom (Myoclonal Epilepsy with Ragged Red Fibers) verantwortlich, dessen Opfer an mitochondrialem Funktionsverlust und einem Absterben von Muskelfasern leiden. Es funktionierte auch tatsächlich. Adhya zeigte zunächst, dass Säugetierzellen tatsächlich an RIK gebundene tRNA aufnehmen. 2006 behandelte er dann Zellen, deren Mitochondrien dieselbe tRNA-Mutation aufwiesen, die MERRF verursachen. Er heilte sie von ihren mitochondrialen Defekten, indem er die relevante tRNA mittels dem RIK-System einbrachte.7 Wie konnte man jedoch zeigen, dass das System in einem intakten Tier funktioniert? Ein normales Mitochondrium produziert seine eigene tRNA. Daher kann man die Funktionalität solcher Zellen nicht verbessern, indem man mehr hinzugibt. Zudem stand Adhya vor dem Problem, das die ganze Forschung an Mitochondriopathien plagt: dem Fehlen eines brauchbaren Tiermodells der Krankheit. Wie Corral-Debrinski beschloss Adhya daher als vorläufigen Test rückwärts zu arbeiten. Sie erinnern sich vielleicht an Studien, die an mehreren Stellen im Buch diskutiert wurden, mit einem molekularen Werkzeug namens »Antisense-RNA«: eine spiegelbildliche Kopie einer entsprechenden funktionellen RNA, die an letztere bindet und sie dadurch deaktiviert. Anstatt also mehr von der tRNA selbst einzubringen, benutzte Adhya den RIK, um die Mitochondrien zur Aufnahme von Antisense-RNA zu zwingen. Dadurch wurde die Proteinproduktion verhindert und die mitochondriale Funktion gestört. Tatsächlich nahmen die Mitochondrien die RIKs und die relevante Antisense-RNA auf und die Zellen wiesen auch die erwarteten Defekte bezüglich mitochondrialer Funktion und Energieproduktion auf. Nun war Adhya bereit für Versuche am intakten Tier. Seine Gruppe injizierte an RIK gebundene Antisense-RNA für ND1 (einer Untereinheit von Komplex I) in die linken Hinterpfoten von normalen, gesunden Ratten, um zu zeigen, dass die Zellen von lebenden Tieren auf dieselbe Weise reagieren wie die Zellen im Labor. Tatsächlich begannen die Tierfüße an einer Muskeldegeneration zu leiden, die humaner mitochondrialer Erkrankung unheimlich ähnlich war. Nach anfänglicher Schwellung und Entzündung ließen die Pfotenmuskeln massiv nach und die Tiere begannen deutlich zu humpeln und zogen die betroffenen Pfoten nach. Es wurde in Biopsien der betroffenen Füße gezeigt, dass die Effekte von den Muskelzellen herrühren, und es wurde eine ausgedehnte Nekrose (Absterben) des lokalen Muskelzellgewebes nachgewiesen.8 Diese RIK-Biotechnologie hat offensichtliches Potential zur Verabreichung funktioneller tRNA, um Opfer von Mitochondriopathien wie MERRF zu heilen, die durch tRNA-Mutationen verursacht werden. Es gibt jedoch, zumindest konzeptionell, auch eine Möglichkeit, wie diese entlehnte Technologie eines Tages zur Bewältigung des Problems großer Deletionsmutanten, die im Alter immer mehr unserer langlebigen Zellen kolonisieren und den oxidativen Stress verstärken, benutzt werden könnte. Dies wäre möglich, wenn sie nicht nur zur Einbringung von tRNA verwendet werden könnte, sondern auch richtiger mRNA. Diese könnte die mRNA ersetzen, für welche

N ACHWORT | 347 die angeschlagene mitochondriale DNA keine Vorlage liefern kann. Das kommt in keiner bekannten Spezies vor und könnte durch die, verglichen mit tRNAs, größere Länge der mRNA kompliziert werden. Tatsächlich teilte mir Adhya jedoch mit, dass er nun RIK erfolgreich zur Einbringung normaler mitochondrialer mRNA in Mitochondrien einsetzt. Bis Sie das lesen, wird diese Arbeit wohl bereits in Druck sein. Der nächste Schritt wird sein, funktionelle RNA in Tiere einzubringen, die funktionsgestörte mitochondriale Gene haben. Falls dies die normale mitochondriale Funktion wiederherstellt und die Symptome und die Pathologie aufhebt, die die Krankheit begleiten, dann gibt es keinen Grund anzunehmen, dass dasselbe nicht auch im Menschen möglich sei. Im positiven Fall sollte uns die Technologie nicht nur erlauben, die Mutationen mitochondrialer DNA zu umgehen, an denen alle diese seltenen, bedauernswerten Seelen leiden, die von vererbten mitochondrialen Erkrankungen betroffen sind. Sie sollte auch gegen die Mutationen einsetzbar sein, die für die universellen mitochondrialen Defekte im Alter verantwortlich sind.

Noch mehr For tschritt … Diese beiden Fortschritte waren bestimmt die wichtigsten, die seit dem Erscheinen der gebundenen Ausgabe dieses Buches publiziert wurden – aber es gibt noch weitere. Eine Gruppe unter der Leitung von Dr. Tonio Enriquez von der Universität Zaragoza, Spanien, arbeitet an einer Lösung des Hydrophobizitätsproblems der allotopischen Expression mittels einer Methode, die ich erstmals im Jahr 2000 vorschlug:9 »Stützbalken« von Proteinen, genannt Inteine, die (wie in Kapitel 6 beschrieben) allotopisch exprimierte, mitochondriale Proteine bis nach dem Import in die Mitochondrien flexibel halten würden. Von einem weiteren neuartigen Lösungsansatz berichtet Dr. Volkmar Weissig von der Northeastern Universität (Boston, USA): dem Import ganzer, neuer Mitochondrien in mitochondrial defiziente Zellen10 – ein Ansatz, der, wie sich zeigt, viel unabhängige Unterstützung genießt. Zufälligerweise berichtete eine weitere Gruppe kurz vor Weissig, dass »der aktive Mitochondrien-Transfer von adulten Stammzellen und somatischen Zellen die aerobe Respiration von Säugetierzellen mit defekten Mitochondrien korrigieren kann«. 11 Letztendlich klammere ich mich nicht an die allotopische Expression als die Lösung für dieses Problem: Als Ingenieure der Alterung konzentrieren wir uns auf Endpunkte, nicht elegante Verfahren. Je mehr Wege zu unserem Ziel (funktionelle Mitochondrien, unempfindlich gegen die selbst verursachte Mutagenese) verfolgt werden, desto früher beginnen wir Leben zu retten und die Kränklichkeit alternder Körper zu lindern, die durch die Abfälle von versagenden Kraftwerken geschwächt werden.

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Die biologischen Müllverbrennungsanlagen aufrüsten Dieses Jahr wurde viel an der Identfikation neuer Enzyme gearbeitet, die die widerspenstigen Abfälle ausräumen, die sich im Laufe der Zeit in unseren Zellen anhäufen, und die SENS-Stiftung war mittendrin. Wir unterstützen momentan zwei Labore, die an verschiedenen Ansätzen arbeiten, um Gene, Enzyme und Abbau-Stoffwechselwege zu identifizieren, die von einer Vielfalt von Mikroorganismen benutzt werden, um zwei zentrale lysosomale Abfälle abzubauen, die zur Alterung und altersbedingter Krankheit beitragen. Eine Gruppe (am Zentrum für Umwelt-Biotechnologie der Arizona State University, ASU) wird vom Doktoranden John Schloendorn geleitet und von Dr. Bruce Rittmann geführt. Sie genießt breite interne Unterstützung von jungen Wissenschaftlern, die sich der Heilung der Alterungsplage verschrieben haben. Das Labor hat bis dato substantiell von den ehrenamtlichen Bemühungen von Kent Kemmish (Universität Arizona, Tucson), Justin Rebo (Universität St. George’s, Grenada) und (in einer früheren Projektphase) dem Multitalent Mark Hamalainen profitiert. Die Gruppe wird sich bald um Tim Webb (Universität Bishop’s, Quebec) und (wenn alles klappt) Lauri Tontson (Universität Tartu, Estland) erweitern. Beide arbeiteten schon früher an ähnlichen Dingen am Zentrum und setzen sich nun stark ein, um direkt zu diesem Projekt beitragen zu können. Das andere Labor befi ndet sich im Environmental Engineering Labor der Rice Universität (Texas) und wird vom Studenten Jacques Mathieu unter der Aufsicht von Abteilungsleiter Dr. Pedro Alvarez geführt.

Drano ® triff t Bioremediation triff t Kardiologie Ein Schlüsselgebiet der Bemühungen ist bis heute 7-Ketocholesterin (7-KC) gewesen. Wie ich in Kapitel 7 erwähnte, ist es der Bestandteil von oxidiertem Cholesterin, der am meisten zu lysosomaler Fehlfunktion, Schaumzellenbildung und, schlussendlich, Herzkrankheit beizutragen scheint. Beide Gruppen identifizierten als erstes, welche von einer Vielzahl von Mikroorganismen 7-KC verdauen können, indem sie sie in ein Medium setzten, in dem dieses Abfallprodukt die einzig verfügbare Nahrungs- und damit Energiequelle war. Diese Untersuchungen identifizierten eine Reihe von Organismen mit herzhaftem Appetit auf den Abfall, inklusive Arten der Gattung Nocardia, einer Gruppe von stäbchenförmigen Bakterien, die (nicht überraschend) weit verbreitet sind in Böden, die reich an organischem Material sind. Die ASU-Gruppe untersuchte dann, welche Abbauprodukte entstanden, als sich die Mikroben durch das Material fraßen. Sie suchten nach Schlüsselmetaboliten, die Rückschlüsse auf die biochemischen Stoff wechselwege erlauben würden, mit welchen sie 7-KC Schritt für Schritt abbauten – und dadurch auf die Eigenschaften der beteiligten Enzyme. Bislang identifizierten sie zwei wahrscheinliche Schlüssel-Zwischenprodukte und einen Teil der Chemie und der Energiequellen, die die beteiligten Enzyme wohl benötigten. Sie haben auch gezeigt, dass diese Spezies veränderte Formen von 7-KC abbauen können, die wahrscheinlich in Lysosomen vorkommen und zu seiner Toxizität beitragen, bei denen es aber speziell unwahrscheinlich ist, dass unsere Makrophagen-Lysosomen sie handhaben können. Dies legt nahe, dass

N ACHWORT | 349 die fragliche Spezies tatsächlich eine Arbeit verrichtet, zu der unsere Zellen nicht fähig sind. Die Arizona-Gruppe hat auch ein spezielles Enzym identifiziert, das den Abbau von 7-KC einleiten kann. Leider baut es auch unmodifiziertes Cholesterin ab, weshalb nicht klar ist, ob wir es in seiner natürlichen Form einsetzen können. Falls nicht, sollte uns das Verständnis der Funktionsweise dieses Enzyms jedoch helfen, eine Variante davon zu identifizieren (oder zu entwerfen), die eine gezieltere Aktivität hat. John berichtete auf der SENS3 über den neuesten Stand 12 und die Gruppe arbeitet jetzt weiter an der Charakterisierung der verantwortlichen Reaktionen und Enzyme. Jacques Mathieu von der Rice Universität richtet sein Hauptaugenmerk auf eine Bakterienart, die, wie sich herausstellt, ausgiebig in der Bioremediation eingesetzt wird. Diese spezielle Spezies (namens RHA1) sah ganz besonders vielversprechend aus, da ihr Einsatz in der Bioremediation dazu geführt hat, dass ihre Gene gut charakterisiert sind. Was wichtig ist: Für diese Organismen wurden »GenexpressionsMikroarrays« konstruiert, womit Wissenschaftler bestimmen können, welche Gene zu einem gegebenen Zeitpunkt eingeschaltet sind. 13 Gene, die stärker exprimiert werden, sobald der Organismus 7-KC zu fressen beginnt, sind wahrscheinlich an der Produktion der Enzyme beteiligt, die den Festschmaus aufrechterhalten. Der Einsatz von Expressions-Mikroarrays sollte Jacques daher erlauben, die Schlüsselgene – und dadurch schlussendlich die tatsächlichen Enzyme – zu identifizieren, die es diesen einfachen Bakterien erlauben, eine Arbeit zu erledigen, zu deren Verrichtung unsere eigenen Zellen nicht imstande sind. In einer Zusammenarbeit mit Dr. William Mohn von der Universität British Columbia (Vancouver) hat Jacques zwei Gruppen solcher Gene identifiziert, die eingeschaltet werden, wenn die Bakterien 7-KC fressen – aber nicht, und das ist entscheidend, wenn sie unmodifiziertes Cholesterin bekommen. Zudem wies die Analyse dieser Gene darauf hin, dass sie am Abbau der richtigen Familie von Chemikalien beteiligt sind. Wie die ASU-Gruppe hat auch Jacques die Stoff wechselwege dieser Reaktionen studiert. Es ist ihnen nun gelungen, Kopien der Enzym-DNA herzustellen und diese in das geläufige Bakterium E. Coli einzubringen. Dies wird es ihnen erlauben, genug von dem 7-KC verdauenden Enzym zu produzieren, um es ausgiebig studieren zu können.

Lass die Aggregate wie Schuppen von Deinen Augen fallen Eine der anderen Hauptverbindungen, auf die das ASU-Programm abzielt, ist das A2E, das verstümmelte Vitamin-A-Derivat, das für eine vererbte Form der Erblindung namens Stargardts Makuladegeneration verantwortlich ist und bei anderen Menschen anerkanntermaßen hinter der »feuchten« Form der Makuladegeneration steckt. Johns Gruppe hatte den Großteil von 2006 und 2007 damit zugebracht, dieselbe Art von Mikrobendiät auszuprobieren, die bei 7-KC so gut funktioniert hatte, um etwas zu identifizieren, das A2E frisst; jedoch ohne Erfolg. Dadurch frustriert begann sich unser Forscher Kent Kemmish zu fragen, welche Art von Enzym sie schlussendlich suchten und wie verwandt sie mit Enzymen wäre, von welchen bereits bekannt war, dass sie einige enge, chemische Verwandte von

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A2E abbauen. War es möglich, dass man ein bekanntes, bereits charakterisiertes Enzym (vielleicht mit einem bisschen molekularem Engineering) zur Ausräumung des blind machenden Mülls umfunktionieren könnte? Er begann die relevante Literatur zu durchforsten und fand überraschend schnell zwei Enzyme oder Enzymklassen (nennen wir sie mal X und Y), 14 die den Anforderungen zu entsprechen schienen. Enzym X war derart alltäglich, dass es ein überraschender Kandidat für die Heilung einer verbreiteten Ursache der Erblindung war. Es gab jedoch keinen wissenschaftlichen Grund, es auszuschließen – und es war recht einfach, einen kommerziellen Anbieter zu finden. In der Zwischenzeit kontaktierte Kent einen führenden Forscher, der einige Studien zu Enzym Y publiziert hatte. Nachdem er Kents Fragen hilfsbereit beantwortet hatte, verriet der Forscher am Ende, dass er zusätzlich zu den Enzymen, die in den publizierten Berichten charakterisiert waren und zu Kents Anruf führten, eine viel größere Sammlung von ähnlichen Enzymen in seinem Labor hatte. Als das kommerzielle Enzym X eintraf, testete Kent seine Fähigkeit, A2E abzubauen. Es ist einigermaßen einfach, eine rasche Antwort auf diese Frage zu erhalten, denn als Verwandter von Vitamin A und den Karotinoiden, die den meisten orangefarbenen Gemüsen ihre Farbe verleihen, ist A2E dunkelrot. Wenn es abgebaut wird, verliert es langsam seine Pigmentation und endet typischerweise als ein bleiches Gelb. Tatsächlich fand er heraus, dass sich die Petrischale, besonders bei hohen Konzentrationen des Aggregats (wenn das Pigment zu Beginn am dunkelsten war), aufzuhellen begann, wenn man darin das Enzym für einen Nachmittag lang wirken ließ. Mit reinerem A2E und längeren Inkubationszeiten (sechs Tage) wurden die Ergebnisse noch besser. Kents Kollaboration zur Untersuchung von Enzym Y trug sogar noch größere Früchte. Er arbeitete mit dem Studenten, der die meiste Arbeit mit den bereits publizierten Mitgliedern der Enzym-Bibliothek des Labors gemacht hatte. Kent führte denselben simplen visuellen Test durch, um herauszufinden, welches Enzym das mitgebrachte, hoch konzentrierte A2E abbauen konnte. Zu seiner Freude zeigte eines von ihnen nicht nur Wirkung, sondern sogar eine ausgesprochen kräftige: ein Spritzer des Enzyms ins Reagenzglas bleichte das rote Pigment über Nacht völlig weg. Beflügelt durch diesen Erfolg rief die Gruppe Dr. Janet Sparrow von der Ophthalmologie-Abteilung der Columbia Universität (New York) an. Sie ist eine der bedeutendsten Wissenschaftlerinnen heutzutage auf dem Gebiet der Makuladegeneration und konzentriert sich speziell auf retinale Pigmentzellen und die Rolle von A2E in der Makuladegeneration. Sparrow hatte, zusammen mit Rittmann und Alvarez, am Seminar des National Institute of Aging teilgenommen, den ich organisiert hatte, um das LysoSENS-Konzept zu explorieren. Sie hatte auch geholfen den Bericht vorzubereiten, der das Vorhaben detailliert beschreibt und unterstützt. 15 Sie wiederholte und bestätigte die Resultate von John und Kent und zeigte sich interessiert, weiter daran zu arbeiten. Wir sind erfreut, eine Forscherin mit der Expertise und den Ressourcen, wie Sparrow sie hat, in diesem Projekt dabei zu haben. Sie arbeitet nun mit Mitteln der SENS-Stiftung, um die Substanzen zu bestimmen, die beim enzymatischen Abbau von A2E entstehen, und hält speziell ein Auge auf die zugrunde liegende Chemie. Als nächstes beabsichtigt sie, die Enzyme in zuvor mit A2E beladene retinale Pig-

N ACHWORT | 351 mentepithelzellen zu bringen, um zu sehen, ob in lebenden Zellen dasselbe passiert wie im Reagenzglas – und falls ja, wie gut und wie sicher. Falls der Test in Zellen erfolgreich ausfällt, werden wir sie bitten, alle brauchbaren Enzyme darauf zu testen, ob sie in Mäusen mit einer ererbten Form der Makuladegeneration ähnlich der Stargardt’schen Krankheit gefahrlos sind und ob sie die Sehkraft wiederherstellen können. Wenn alles klappt, könnten wir in ein paar Jahren beginnen, sie (oder eine biochemisch »optimierte« Version von ihnen) in andere Tiermodelle zu bringen. Die letztendliche Absicht ist es, sie zur Heilung von Patienten in klinischen Versuchen einzusetzen.

Einen Spleiß aus dem Leben nehmen? Bevor ich meine Darstellung des aktuellen Forschungsstandes zu »intrazellulärem Abfall« beende, möchte ich noch kurz eine Entdeckung erwähnen, die auf den ersten Blick vielleicht kaum in die 7-Punkte-Klassifikation von SENS zu passen scheint. Sie werden (wie ich!) erleichtert sein zu hören, dass dies nun getrost als falscher Alarm bezeichnet werden kann. Die Chancen sind groß, dass Sie Bilder von Kindern mit dem Hutchinson-GilfordProgerie-Syndrom gesehen haben (HGPS oder manchmal schlicht »Progerie«): kleine Kinder, deren faltige Haut, deren schütteres Haar und deren vorspringende Nase sie »vorzeitig gealtert« erscheinen lassen. Zusätzlich zu diesen sichtbaren Kennzeichen führt das mutierte Gen, das diese Defekte verursacht, zu dünnen, schwachen Knochen und einer Art von Herzkrankheit, sodass diese Kinder tatsächlich jung sterben (typischerweise im Teenageralter), weshalb es noch mehr danach aussieht, als ob sich ihre Körper in einem biochemischen Schnellvorlauf befinden. Und tatsächlich gibt es viele Leute, die von HGPS ohne weiteres als einer Art »beschleunigter Alterung« sprechen oder die uns zumindest überzeugt versichern, dass uns die Krankheit wichtige Dinge über »normale« Alterung sagen kann. In Wirklichkeit ist es überhaupt nicht klar, ob dem so ist. Die Mechanismen, die einigen Symptomen von HGPS zugrunde liegen, sind klar verschieden von denen, die in denselben Organen während der normalen Alterung beobachtet werden. Zudem kommen viele der anderen durchgängigen Alterungspathologien gar nicht vor: Die Sehkraft und das Gehör der Betroffenen sind in Ordnung, sie haben kein erhöhtes Krebsrisiko und ihr Verstand bleibt (ein schwacher Trost) während ihres gesamten kurzen Lebens auf der Höhe. Der Mechanismus, der ihren tragischen Symptomen zugrunde liegt, wurde 2003 entdeckt: eine ungewöhnliche Mutationsart, die man »Splice-Variante« nennt, die die Produktion der mRNA durcheinander bringt, mit der ein Protein namens Lamin A gemacht wird. Lamin A ist Teil des Gerüsts, das die Membran des Zellkerns stützt. Die Tatsache, dass der Rest der Bevölkerung diese Mutation nicht trägt, war ein weiterer Beleg dafür, dass uns HGPS vielleicht wenig über »normale« biologische Alterung lehren kann. Viele Forscher konnten sich aber nicht von der Idee trennen und 2006 bekam die Ansicht, dass es vielleicht eine Verbindung gäbe, durch eine Studie neuen Antrieb.16 Diese zeigte, dass Zellen, die man ursprünglich gesunden Leuten ohne HGPS-Mutation entnommen hatte, in Laborkultur trotzdem manchmal geringe Mengen dieser

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defekten mRNA produzierten – nicht aufgrund einer Mutation, sondern durch zufällige Fehler beim Zusammenknüpfen der mRNA. Was noch geheimnisvoller war, ist, dass die für die Krankheit charakteristischen zellulären Defekte ebenfalls auftraten. Als dann die Forscher Zellkulturen von sehr jungen (drei bis elf Jahre) mit solchen von sehr alten (81 bis 96 Jahre) Spendern verglichen, bemerkten sie, dass die produzierten Mengen verstümmelter mRNA in den kultivierten Zellen bei beiden Gruppen ähnlich waren. Das Schadensausmaß, das sie verursachten, war bei den von alten Zellen gewonnenen Kulturen jedoch deutlich höher. Oberflächlich betrachtet, entspricht dies genau der Arbeitsdefinition von echtem Alterungsschaden: Die Zelle produziert aufgrund von zufälligen Stoff wechselereignissen kontinuierlich diesen HGPS-artigen Schaden, den sie nicht reparieren kann und der sich daher über die Zeit ansammelt, bis er schließlich pathologisches Niveau erreicht. Es gibt jedoch überzeugende Gründe, sich bezüglich dieser Befunde keine Sorgen zu machen. Zunächst mal fügten die Forscher ein Konstrukt in die (von alten Spendern abgeleiteten) Zellen ein, um nachzuweisen, dass die HGPS-artigen Probleme, die in den älteren Zellen gesehen wurden, tatsächlich das Resultat defekter mRNA waren und nicht einer anderen, unabhängigen Altersveränderung. Dieses Konstrukt hinderte die unreife mRNA daran, den gelegentlichen Splicing-Fehler zu machen, der zur Produktion von defektem Lamin-A-Protein führt. Diese Behandlung verhinderte nicht nur eine weitere Verschlechterung der anormalen Begleiterscheinungen im Zellkern – sie machte diese Probleme sogar rückgängig.16 Dies wäre nicht geschehen, wenn das defekte Protein einfach mit konstanter Geschwindigkeit produziert, in die Kernmembran eingebaut und nie entfernt worden wäre: In diesem Fall hätte die Blockierung des Splicing-Fehlers schlicht den Einbau zusätzlicher Proteine in die Membran verhindert und nicht den bereits bestehenden Schaden rückgängig gemacht. Außerdem hatte dieselbe präventive Maßnahme in Zellen von jungen Spendern keinen messbaren Nutzen, wenn die Zellen noch frisch waren: Nur wenn die Zellen in Zellkultur künstlich alterten – wenn sich zusätzlicher Schaden aus anderen Quellen aufgebaut hatte –, erlaubte das Blockade-Molekül den Zellen sich zu erholen. Schließlich eliminierten die Forscher die Möglichkeit, dass die Erholung der Zellen auf einer nicht physiologischen, raschen Verwässerung des Schadens durch die viel schnellere Zellteilung beruhte, die verglichen mit intakten Organismen in der Petrischale typischerweise geschieht: Auch unter Bedingungen, die eine Zellteilung verhinderten, wurde die Erholung beobachtet. Das zeigt uns ziemlich eindeutig, dass jugendliche Zellen diesen Schaden ziemlich gut rückgängig machen können und dass der entscheidende Unterschied zwischen den Zellen von jungen und denen von alten Spendern ist, dass die alten Zellen andere Alterungsschäden angehäuft haben, die die Beseitigungsmechanismen behindern, die in jungen Zellen gut funktionieren. Wenn diese alten Zellen also durch die vorgeschlagenen SENS-Therapien ansonsten in ihren jugendlichen Zustand zurückgeführt werden, wären sie wieder in der Lage, das defekte Lamin A zu beseitigen.

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Die zellulären Spinnweben entfernen In der Zeit, seit Michael und ich das Manuskript zu Ending Aging finalisierten, explodierte die Forschung nach Impfstoffen gegen das Protein Beta-Amyloid als Therapie gegen die Hauptursache des neurodegenerativen Prozesses der Alzheimer-Krankheit förmlich. Ich kann dem Umfang des Feldes nicht gerecht werden, da es schlicht zu viele Berichte von zu vielen verschiedenen Arten von Impfstoffen mit zu vielen verschiedenen Vektoren mit zu viel verschiedenen, aber spannenden Ergebnissen in zu vielen Stadien der Entwicklung gibt. Zudem wäre jeder Versuch eines Überblicks sowieso hoff nungslos überholt in den Monaten vom Moment, in dem wir diese Seiten dem Verlag übergeben, bis Sie sie in Ihren Händen halten. Lassen wir daher neuartige oder extrem viel versprechende Konzepte mit erstem Wirknachweis in robusten Tierstudien beiseite und konzentrieren unsere Aufmerksamkeit auf die am weitesten fortgeschrittene Forschung: klinische Versuche mit Patienten. Diese beinhalten die andauernde Nachbeobachtung des ursprünglichen Versuchs von Elan Pharmaceuticals mit dem Impfstoff AN1792, der immer noch Optimismus schürt und neue Forschung nach Impfansätzen auslöst. Zusätzlich gibt es jedoch mindestens sechs neue Amyloid-Impfstoffe, die, während ich diese Zeilen schreibe, in klinischen Versuchen getestet werden: ACC-001 (Elan/Wyeth), LY2062430 (Eli Lilly), RN1219 (Pfizer), CAD106 (Cytos/Novartis) und vor allen Dingen AAB-001 (anderweitig bekannt unter dem ebenso, ähm, einprägsamen Codenamen »bapineuzumab«), ebenfalls von Elan/Wyeth, worauf ich unten im Detail eingehen werde.

Der Versuch ist noch nicht vorüber … Sie werden sich erinnern, dass Elan als erstes aus den Startblöcken kam und ihren Impfstoff AN1792 in einen relativ großen und rigorosen, aber trotzdem beschränkten klinischen Versuch der »Phase II« brachte – also der Phase zwischen kleinen, einfachen Studien, die ausschließlich dazu konzipiert sind, eine Reihe möglicher Dosierungen zu testen und gewisse vorläufige Informationen über die Sicherheit zu geben und den fortgeschrittenen »Phase III«-Versuchen, die dafür ausgelegt sind, robuste Beweise eines klinischen Nutzens für die Zulassungsbehörden zu generieren. Sie werden sich auch erinnern, dass dieser Versuch vorzeitig gestoppt wurde, weil eine kleine Zahl von Patienten eine Gehirnentzündung entwickelte. Die Analyse der verfügbaren Daten deutete jedoch darauf hin, dass bei Patienten, deren Immunsystem eine robuste Antikörper-Antwort entwickelte, das Gehirn rasch von Plaques gesäubert wurde und ihre Denkleistung erhalten blieb. Patienten, die hingegen ein Placebo nahmen oder nicht auf den Impfstoff ansprachen, rutschten weiter den entsetzlichen Hang Richtung Vergessenheit hinunter, den Alzheimer darstellt. Forscher haben diese Daten weiter durchkämmt und auch neue Daten gesammelt, indem sie die Patienten des Versuchs in den Jahren, seit der Stecker gezogen wurde, weiter beobachteten. Seit unser Buch erschien, sind zwei der verbliebenen Patienten, die eine starke Immunantwort entwickelten, gestorben (an Problemen, die nichts mit Alzheimer oder den beobachteten Nebenwirkungen des Impfstoffs zu tun hatten)

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und wurden autopsiert.17 Wie die drei zuvor untersuchten Patienten waren ihre Gehirne bemerkenswert frei von Amyloid-Plaques, obwohl sie drei respektive vier Jahre, nachdem sie ihre letzte Impfdosis erhalten hatten, starben. Der Fall des weiblichen Patienten ist speziell bemerkenswert: Ihre Punktzahl in der »Mini-Mental State Examination« (einem Test kognitiver Funktion) blieb stabil – eine Stabilität, die umso erstaunlicher ist, weil ihr Gehirn zwar durch den Impfstoff von Plaques gesäubert wurde, es aber immer noch voller Neurofibrillen (siehe Kapitel 7) war und sie zudem Lewy-Körperchen-Demenz entwickelt hatte (eine weitere Gehirnkrankheit, die mit unverdaulichen Abfallablagerungen innerhalb des Neurons einhergeht und die zu ihrer Bewältigung ihre eigene lysosomale Beseitigungsstrategie erfordern wird). Außerdem scheint der Nutzen, den die erfolgreich geimpften Leute am Schluss aus dem Versuch gezogen hatten, bei den 25 behandelten Patienten, die immer noch am Leben sind, auch viereinhalb Jahre nach der Immunisierung immer noch anzuhalten. Von diesen haben 17 immer noch einen messbaren Pegel aktiver Antikörper in ihrem System – und, nach all den Jahren, zeigt die Gruppe als Ganzes weiterhin ein »signifikant verlangsamtes Nachlassen im Test ›Disability Assessment for Dementia‹ verglichen mit Placebo-Patienten«. 18 Spannenderweise zeigt zudem keiner der kürzlich autopsierten Patienten Anzeichen der Gehirnentzündung, die den ursprünglichen Versuch zum Stillstand brachte. Dies legt nahe, dass eine solche Reaktion weder Voraussetzung noch unvermeidliches Resultat für eine erfolgreiche Plaque-Entfernung oder Stabilisierung der Gehirnfunktion ist (obwohl es durchaus möglich ist, dass jegliche initiale Entzündung in den Folgejahren nach den letzten Injektionen seither abgeklungen ist). In einer absolut überraschenden Wende der Dinge gibt es nun sogar Belege dafür, dass die im abgebrochenen Versuch beobachtete Gehirnentzündung vielleicht nicht einmal ein inhärentes Risiko des Impfstoffs selbst war! Während ich das schreibe (März 2008), erschien soeben ein Bericht, 19 der die im Blut vorhandenen Antikörper der Patienten der Phase-II-Studie mit denen aus dem Blut der Patienten der früheren und kleineren Phase-I-Studie verglich. Die Forscher stellten fest, dass, während die T-Zellen der Patienten im letzten AN1792-Versuch, wie wir in Kapitel 7 anmerkten, eine »Th1«-Antwort (entzündlich, die Zelle angreifend) entwickelten, die Patienten im früheren Versuch mit einer »Th2«-Antwort reagierten, von welcher erwartet wurde, dass sie nicht zu Entzündungen führt und sich mehr auf die Antikörper konzentriert, die den eigentlichen Nutzen der Therapie vermitteln! Eventuell ist es entscheidend, dass es eine scheinbar triviale Änderung im verwendeten Material in den beiden Versuchen gab. Im Phase-II-Versuch, in dem die Gehirnentzündung sich das erste und letzte Mal zeigte, hatte der Impfstoff einen zusätzlichen Emulgator namens Polysorbat 80, der noch nie zuvor in früheren Studien verwendet worden war und der laut den Forschern durchaus für die Entzündungsantwort verantwortlich sein könnte.20 Dies würde eine frustrierend einfache Erklärung für die Tatsache bieten, dass eine solche Reaktion weder in Tierstudien noch in den anfänglichen klinischen Tests beobachtet wurde. Mit anderen Worten könnte ein geläufiger Stabilisator für Eiscreme mehrere Leute getötet, einen absolut einwandfreien Impfstoff versenkt und Forscher unnötig auf die Suche nach Alter-

N ACHWORT | 355 nativen ohne eine tödliche Nebenwirkung geschickt haben, die mit einer einfachen Formulierungsänderung hätte vermieden werden können.

Auf höchster Ebene angelangt Was auch immer die Erklärung für die Stilllegung des Versuchs AN1792 war, Wissenschaftler haben seitdem zahlreiche alternative Impfstoffe untersucht und sich stark auf Ansätze konzentriert, die Plaques vergleichbar gut oder sogar besser auflösen können, jedoch ein geringeres Risiko zerstörerischer Entzündungen als Nebenwirkung haben. Einer der naheliegendsten, zur Zeit untersuchten Ansätze ist die Anwendung passiver Impfstoffe: aktiver Antikörper, die außerhalb des Körpers generiert und dann direkt den Patienten infundiert werden, anstatt ihnen ein fremdes Protein zu injizieren und sich auf den Körper zu verlassen, dass er mit der Bildung eigener Antikörper reagiert – eine Reaktion, die, wie soeben beschrieben, bei vielen Patienten unzuverlässig war und in ein paar wenigen toxisch gewesen sein könnte (oder auch nicht). Unter den vielen Gruppen, die diesen Ansatz verfolgen, lag Elan (in Zusammenarbeit mit Wyeth) an vorderster Front und benutzte die intern gewonnene Expertise und die Beziehungen, die sie während der Forschung an AN1792 aufgebaut hatten, um einen passiven Impfstoff namens bapineuzumab zu entwickeln. Dieser Versuch ging seinen Weg von der einleitenden Phase I (grobe Abschätzung der Gefahrlosigkeit) in einen klinischen Versuch der Phase II (mehr Sicherheits- und erste Wirksamkeitsdaten). In der Phase I wurden drei Dosierungen des Impfstoffs gegen Placebo (injizierte Salzlösung) getestet. Ermutigenderweise zeigte sich bei Patienten, die die niedrigste Dosis erhielten, trotz der Tatsache, dass Phase-I-Versuche eigentlich nicht für einen klinischen Wirksamkeitsnachweis konzipiert sind, anscheinend ein Nutzen bezüglich kognitiver Funktion – ein Nutzen, der für diejenigen, die die mittlere Dosis erhielten, statistisch signifi kant war. Überdies wiesen alle Patienten in ihrem Blutplasma einen erhöhten Spiegel an Beta-Amyloid auf, was mit Mausstudien übereinstimmt, in welchen die als passive Immunisierung verabreichten Antikörper Amyloid aus dem Gehirn zu zerren scheinen. Die Phase-II-Studie begann im Dezember 2006 und dauerte bis Mitte 2008. Zu Beginn des Jahres 2007 gab es jedoch eine zuvor geplante Interimsanalyse der Daten. Wir wissen nicht genau, was die Ermittler sahen: Die Daten sind immer noch verblindet und die Firmen haben pflichtbewusst dicht gehalten. Sie müssen jedoch gut gewesen sein. Kurz danach legte Elan alle Patienten aus ihren laufenden Phase-II-Versuchen in eine Mega-Studie zusammen, in welcher alle Patienten – sogar die, die zuvor Placebo erhalten hatten – die eine oder andere Dosis des echten Medikaments bekamen. Im Mai 2007 gab Elan dann bekannt, dass sie um Erlaubnis gebeten hatten, einen klinischen Versuch der Phase III zu beginnen – und diese Erlaubnis auch erhalten hatten.20 Dieser Versuch erstreckt sich über mehr als 350 Zentren in der ganzen Welt und umfasst eine bemerkenswerte Gesamtzahl von 4000 Patienten mit milder bis moderater Alzheimer-Krankheit. Sie werden bildgebende Gehirn-Scans und Biomarkerpegel wie Beta-Amyloid und Tau in der Rückenmarksflüssigkeit analysieren, aber die Basis für den Nachweis des klinischen Nutzens und

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die Einreichung des Zulassungsantrags werden Tests der kognitiven und funktionellen Resultate sein. Der erste Patient erhielt seine erste Injektion im Dezember 2007; man erwartet, dass der Versuch Ende 2010 abgeschlossen sein wird. Natürlich bin ich zum heutigen Zeitpunkt sehr optimistisch und werde die Zwischenberichte verfolgen, sobald sie verfügbar werden. Tatsächlich hat mich der Fortschritt mit bapineuzumab veranlasst, aggressiv die Möglichkeit zu erkunden, mit der SENS-Stiftung Arbeiten gegen andere Amyloide zu unterstützen, sobald eine geeignete und qualifizierte Forschergruppe identifiziert und ein passendes Forschungsprotokoll entwickelt ist.

Die AGE-Fesseln sprengen Soweit ich weiß, gab es 2007 leider kaum Fortschritte, wenn überhaupt, bezüglich AGE-Brechern. Die Forschung an Alagebrium, dem ersten Vorgeschmack eines Quervernetzungsbrechers, stagnierte, teilweise wegen der Restrukturierung der Firma (ehemals Alteon, heute Synvista), der es gehört. Sie kündigten Ende 2007 jedoch eine Phase II mit Patienten mit chronischem Herzversagen an. Ich hatte wenig Erfolg, Forscher zu ermuntern, ernsthaft an der Sache zu arbeiten und speziell am Problem, die entscheidende AGE-Quervernetzung aufzubrechen: Glucosepane. Die Stiftung macht sich bereit, einige höchst exploratorische Ansätze dagegen zu versuchen, aber wir erwarten keine raschen Fortschritte und die meisten externen Wissenschaftler, die sich mit Glucosepane beschäftigen, sind noch nicht daran interessiert, an dessen Zertrümmerung zu arbeiten. Dieser Stillstand veranlasste Michael und mich, intensiv über alternative Ansätze zum Problem der Quervernetzung nachzudenken und es freut mich sagen zu können, dass wir immer mehr der Ansicht sind, dass es vielleicht einfacher ist, als es zuerst schien. Nicht weil wir einen Geistesblitz bezüglich der Chemie der Glykation gehabt haben, sondern weil wir einen Schritt zurück gegangen sind und das Problem wie Ingenieure angesehen haben. In diesem Fall wie Gewebe-Ingenieure. Wie ich in Kapitel 9 beschrieben hatte, sind die durch extrazelluläre Quervernetzungen verursachten Probleme ihrem Wesen nach mechanischer Natur. Daher sind jegliche systemischen Auswirkungen, die sie eventuell haben, Folge dieses mechanischen Schadens. Das bedeutet, dass unsere Chancen, die durch Quervernetzungen entstandenen Pathologien mittels gewebespezifischer Therapien gründlich zu beseitigen, viel besser sind, als wir es bei den meisten anderen der sieben Todbringer erwarten können. Zwei Gewebe, in welchen Quervernetzungen wesentliche Auswirkungen während der Alterung haben, sind die Augenlinse und die Nieren – wir sind jedoch bereits sehr versiert im Ersetzen von Linsen, und die Arbeit an der Entwicklung künstlicher Nieren schreitet rasch voran. 21 Es gibt jedoch ein anderes Gewebe, das wir ohne Frage nicht ignorieren können: die Hauptarterien. Sie werden steifer und ihre Pufferfähigkeit nimmt immer mehr ab, weshalb immer mehr Druck des pumpenden Herzens immer tiefer ins arterielle Netzwerk übertragen wird und diese pulsatilen Anschläge in immer größerem Umfang die Zielorgane ungemildert erreichen. Dies scheint in substantiellem Maße für

N ACHWORT | 357 den altersbedingten Anstieg unter anderem von Nierenschäden and Schlaganfällen verantwortlich zu sein. Nun, es freut mich berichten zu können, dass die Lösung, die ich soeben für die Linse und die Nieren erwähnte – kompletter Ersatz – ihre prinzipielle Machbarkeit auch bereits bei Arterien gezeigt hat. In einer Tierstudie22 demonstrierten Transplantationschirurg John Mayer, Gewebe-Ingenieur Frederick J. Schoen und andere vor kurzem, dass die biotechnologisch hergestellten Arterienstücke, die sie entwickelt hatten, in einige der weniger beanspruchten Arterien des Körpers einwuchsen und zumindest andeutungsweise zu partieller Regeneration führten. Dies ist natürlich ein sehr frühes Stadium und zahlreiche weitere Untersuchungen werden nötig sein, um das volle Ausmaß des Problems und die Optionen für dessen Reparatur zu bestimmen. Es ist jedoch ein sehr vielversprechender Beginn. Das bedeutet, dass ich nun die Anhäufung extrazellulärer Quervernetzungen als den SENS-Strang ansehe, der am wahrscheinlichsten durch Gewebetechnik angegangen wird und nicht durch Stammzellen, Gentherapie oder konventionelle Medikamente. Ein wesentlicher Zusatzvorteil der Gewebetechnik ist natürlich, dass sie eine viel vollständigere Verjüngung des relevanten Gewebes bewirkt als irgendwas anderes. In diesem Fall müssten wir uns nicht durch jede wesentliche Art von Quervernetzung einzeln mühen, nur um der nächsten entgegenzutreten, sondern würden alle auf einen Schlag los. Nicht nur das, wir würden mechanische Probleme beseitigen, die nicht mit den Quervernetzungen zusammenhängen, wie etwa dem simplen Durchscheuern und Brechen von elastischem Bindegewebe: Obwohl es nicht erwiesen ist, dass sie lebensbedrohlich ist, kann diese Schadensform der Hauptarterien doch mit der Zeit zur arteriellen Versteifung und Bluthochdruck beitragen.23

Die Zombies zur Ruhe betten Der Rauchfahne folgen Als ich in Kapitel 10 die verschiedenen Arten toxischer Zellen diskutierte, die sich im Verlauf des Alterns anhäufen, entwarf ich eine allgemeine Strategie zur Identifikation der Proteine, welche die besagten Zellen in außergewöhnlich hohen Mengen produzieren, um dann entweder gegen solche Proteine zu impfen und es dem Immunsystem zu überlassen, die Zellen zu beseitigen, oder toxische Medikamente einzusetzen, die unter der Verwendung einer Vielzahl neuer und entstehender selektiver Verabreichungsformen in solchen (und keinen anderen) Zellen aktiviert werden könnten. Sie werden sich erinnern, dass wir in einigen Fällen ziemlich genau wussten, welche Marker wir anpeilen müssen, doch in anderen Fällen wiederum nicht. Am unklarsten war die Situation bezüglich viszeralem Fett. Das erste Problem beim Verständnis von viszeralem Fett ist seine Zusammensetzung. Während Fett mit bloßem Auge wie ein einziger, unförmiger Klumpen aussehen mag, beinhaltet es tatsächlich nicht nur die Energie speichernden Adipozyten, sondern auch (unter anderem) Fibroblasten, endotheliale Zellen (die auch unsere Blutgefäße auskleiden) und Zellen des Immunsystems. Da wir nicht einmal wussten, welche Zellen

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wir anpeilen mussten, waren wir eindeutig benachteiligt, als es darum ging, die charakteristischen Zelloberflächen-Marker zu identifizieren, die es uns erlauben würden, sie aus dem Körper zu entfernen, ohne dabei unschuldigen Zuschauern zu schaden. Doch die Forschung ist einer bestimmten Zellart innerhalb des viszeralen Fettes dicht auf den Fersen, die als Verursacher ihrer fortschreitenden Stoff wechsel-Entgleisung vermutet wird: die Fettgewebe-Makrophagen oder ATM (adipose tissue macrophage). Wie die Makrophagen, die Bakterien verschlingen oder versuchen (mit manchmal katastrophalem Ausgang, wie wir gesehen haben) toxische Cholesterinprodukte aus unseren Arterien zu entfernen, sind ATMs spezialisierte Immunzellen, die zum viszeralen Fettdepot rekrutiert und dort toxisch werden, wenn sie verstopfen. 24 2007 wurde eine Tierstudie veröffentlicht, die möglicherweise einen Meilenstein darstellt und den von uns gesuchten Marker anscheinend identifizierte. Die Forscher gaben einer Gruppe von Mäusen eine normale Diät, deren Menge sie zwar mehr als schlank, aber nicht fettleibig werden ließ, während eine andere Gruppe freien Zugang zu einer kalorien- und fettreichen Nahrung hatte, die zu eigentlicher Fettleibigkeit führte. Eine dritte Gruppe von Mäusen wurde mit normaler Nahrung versorgt, überfraß sich aber aufgrund eines genetischen Defekts, der sie – unabhängig davon, wie viel sie aßen – beständig Hunger verspüren ließ, immens. Die Haupterkenntnis betraf die Häufigkeit eines Zellenoberflächenproteins namens CD11c. Kaum mehr als ein Prozent der ATMs schlanker Mäuse wiesen CD11c auf. Das war zu erwarten, da CD11c für eine ganz andere Art von Zellen des Immunsystems namens dendritischer Zellen typisch ist und nur selten auf der Oberfläche von Makrophagen auftaucht. Doch nahezu ein Drittel der ATMs von Mäusen, die einer kalorienreichen Diät ausgesetzt waren, wiesen diesen Oberflächenmarker auf – ebenso wie erstaunliche 74 Prozent der genetisch bedingt fettleibigen Mäuse. In späteren Studien im Reagenzglas fand man heraus, dass Immunzellen, die dazu entworfen wurden, dieses Profi l nachzuahmen, die gleichen entzündlichen Faktoren ausstoßen, die für die Stoff wechselstörungen des viszeralen Fettes so zentral sind, und dass sie noch mehr ausstoßen, wenn sie von freien Fettsäuren (FFAs, free fatty acids) überflutet werden – wie es in aufgedunsenem viszeralen Fett der Fall ist. Unter solchen Bedingungen hemmen diese toxischen Muster-ATMs die Aktivität des Insulins in Muskelzellen – und, was noch schlimmer ist, es scheint, dass sie in eine teuflische Rückkopplungsschleife geraten und Faktoren aussenden, welche die Adipozyten dazu anregen, noch mehr ihres gespeicherten Fettes als FFAs abzuladen. Im Gegensatz dazu haben FFAs nur geringe metabolische Auswirkungen auf normale Fettgewebe-Makrophagen.25 Diese Zellen müssen nun noch genauer charakterisiert und ihre Entsprechung in menschlichem Fettgewebe identifiziert werden. Das ist keine triviale Arbeit, aber es erfordert keine neuen Werkzeuge – bloß Zeit und Geld, um die Studien durchzuführen. Mit diesen Ergebnissen sollte die glückliche Kombination einer Zelloberflächenmarker-Signatur, die man anpeilen kann, mit der ortsgebundenen Natur des viszeralen Fettdepots, das Angreifen dieser Zellen zu einer der einfachsten Aufgaben werden, mit denen wir konfrontiert sind – und das gerade rechtzeitig, denn die Übergewichtskrise droht unsere Gesellschaft mit Diabetes, Herzkrankheiten und Organversagen zu überschwemmen.

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Alte Soldaten aus der Kälte abberufen Um in der Kategorie »toxische Zellen« zu bleiben: Ein weiterer Anlass zu großer Besorgnis ist das alternde Immunsystem und die Rolle, welche die Akkumulation anergischer T-Zellen innerhalb dieses Prozesses spielt. Es wurden verschiedene Vorschläge gemacht, wie diese Zellen eliminiert werden könnten, doch es gibt derzeit keine konzertierten Bemühungen zu deren Ausführung. Sie werden sich vielleicht erinnern, dass ich einen Impfstoff-Ansatz bevorzuge, welcher derartige Zellen beseitigen würde und einer größeren Bandbreite von Zellen sowie solchen, die voll in der Lage sind, Krankheiten zu bekämpfen, erlauben würde sich auszubreiten. Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, dass ein sehr berühmter Forscher der Altersimmunologie großes Interesse daran bekundet hat, ein Projekt zu entwickeln, das eine derartige Prozedur an Mäusen erprobt und (wenn es sich als vielversprechend herausstellt) möglicherweise auch an nichthumanen Primaten. Was noch viel interessanter ist: Die vorgeschlagene Studie wird nicht nur versuchen, die anergische Zellpopulation zu beseitigen, sondern gleichzeitig auch den Thymus wiederherzustellen, der (wie ich in Kapitel 11 erwähnte) besonders stark an altersbedingtem Zellverlust leidet. Sobald wir die Prioritäten und Protokolle festgelegt haben, wird dieser Forscher Mittel aus der SENS-Stiftung bekommen, um sein Projekt zu beginnen. Wie immer wird jedes Forschungsprogramm, das aus diesen Diskussionen hervorgeht, auf der Website der Stiftung unter www.sens.org/veröffentlicht.

Neue Zellen für Alte Im Gegensatz zum ausgebliebenen Fortschritt hinsichtlich der Bewältigung der AGE-Querverbindungen innerhalb eines Jahres – ein enttäuschender Nachzügler in einer Ära sich beschleunigenden wissenschaftlichen Fortschritts – blieb vielen von uns der Atem weg angesichts der erstaunlichen Erfolge in der Stammzellforschung. Speziell auf zwei Gebieten wurden verblüffend schnelle und vielversprechende Fortschritte gemacht, und ich werde nicht zu viel Zeit darauf verwenden, da sie in den Medien viel Beachtung gefunden haben und ihre therapeutische Bedeutung weithin anerkannt ist: »therapeutisches Klonen« in nichthumanen Primaten und die Anwendung genetischer Methoden, um voll entwickelte Zellen in solche umzuprogrammieren, die alle Fähigkeiten embryonaler Stammzellen (ESZ) zu haben scheinen.

Die Zellverjüngung erklimmt den Baum der Evolution »Therapeutisches Klonen« (in der Fachsprache somatischer Zellkerntransfer, SCNT) bleibt – theoretisch – eine der bestmöglichen Quellen für Zellen im Therapiebereich, weil dadurch Zellen geschaffen werden, die all die nützlichen Eigenschaften embryonaler Stammzellen aufweisen und zudem in genetischer Hinsicht perfekt auf den Patienten passen. Abgesehen vom konfusen politischen Wirrwarr, das die Forschung auf diesem Feld behindert hat, gab es auch einige legitime technische Schwierigkeiten, wie der ungeheuerliche Fall des koreanischen Hochstaplers Hwang Woo-Suk

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zeigt. Obwohl wir SCNT bei Nagern und Nutztieren recht erfolgreich beherrschen, geht die Forschung an Primaten nur schleppend voran, was einige befürchten lässt, dass es etwas in der grundlegenden Biologie von Menschen und unseren nahen Verwandten gibt, das eine derartige Umprogrammierung verhindert oder für das wir Jahrzehnte bräuchten, um es zu klären. Doch gegen Ende des Jahres 2007 berichtete die Gruppe von Dr. Shoukhrat Mitalipov am Oregon National Primate Research Center über die erfolgreiche Gewinnung funktionaler ESZ-artiger Zellen per SCNT bei Rhesus-Makak-Affen.26 Die Prozedur war – verglichen mit dem neuesten Stand der Technik in Mäusen – noch immer recht ineffizient. Es brauchte 305 Eier von Affen, um ein Zehntel davon zu Blastozysten zu entwickeln und um letztlich auf nur zwei Zelllinien zu kommen – von denen eine genetisch abnorm war. Dennoch war der Erfolg jedes einzelnen dieser Zwischenschritte für sich selbst ein Durchbruch. Trotz Vorsichtsbekundungen nach außen zweifeln wenige meiner Kollegen daran, dass Mitalipovs Methoden verfeinert und verbessert werden können, wie wir es schon mit ihren vierbeinigen Vorfahren getan haben, um sie dann auf den Menschen zu übertragen. In der Tat erlaubte die Errichtung eines verlässlichen regulatorischen Rahmens hinsichtlich der Arbeit an humanem SCNT hier in Großbritannien Mary Herberts Stammzellengruppe an der Newcastle Universität ein Gemeinschaftsprojekt mit den Wissenschaftlern aus Oregon ins Leben zu rufen. Das genau dieses Ziel verfolgt – unter Verwendung von 500 überschüssigen menschlichen Eiern hoher Qualität, die von Frauen gespendet wurden, welche sich in Fruchtbarkeitstherapie befanden. Und es gibt Anlass zu glauben, dass es letztlich einfacher oder effizienter sein könnte, SCNT an menschlichen Eiern durchzuführen, als es die Arbeit an Affen vermuten lassen würde. Dies liegt daran, dass unser Verständnis vom Einsatz von Hormonen, um nichthumane Primaten-Eierstöcke dazu zu bringen, mehr Eier abzugeben, noch relativ grob ist. Die Behandlungen haben die Qualität der Eier vielleicht beeinträchtigt, die Mitalipov letztlich nutzte. Menschliche Fruchtbarkeitskliniken haben jedoch seit langem weniger aufreibende und verlässlichere Methoden entwickelt, um das gleiche Ziel für in vitro Befruchtungen im Menschen zu erreichen.

Die Hebel der Zellverjüngung in den Griff kriegen Was eine ESZ – mit ihren unendlichen Möglichkeiten zur Selbstreproduktion und Transformation in spezialisierte Zellen und Gewebe zum medizinischen Einsatz – natürlich letztlich von einer reifen Haut-, Muskel- oder Leberzelle unterscheidet, ist nicht die verstrichene Zeit, sondern der Unterschied in der Genexpression. Bedenken Sie, dass alle Zellen, die den erwachsenen Körper letztlich ausmachen, von ESZ abstammen und die Geheimnisse dessen, was (beispielsweise) unsere Lungen- und Leberzellen nicht nur voneinander unterscheidet, sondern auch von den embryonalen Zellen, die ihre zellulären x-fach Ur-Ahnen waren, in den verschiedenen Arten verborgen liegen, in denen diese unterschiedlichen Zelltypen die Expression ihrer gemeinsamen genetischen Bibliothek regulieren. Daher sind die meisten Forscher seit langem davon überzeugt, dass wir an einem bestimmten Punkt in der Lage sein werden, die Techniken der Molekularbiologie zu nutzen, um die Uhren gewöhnlicher,

N ACHWORT | 361 reifer Zellen zurückzudrehen, indem wir einige ihrer Gene aktivieren und andere deaktivieren. Dennoch waren ich und viele andere sehr überrascht, als Wissenschaftler des Instituts für Stammzellbiologie an der Universität von Kyoto, unter der Leitung von Dr. Shinya Yamanaka, die erfolgreiche genetische Reprogrammierung von adulten MausHautzellen in einen ESZ-artigen Zustand namens induzierte pluripotente Stammzellen (iPS) bereits 2006 meldeten.27 Viele waren in der Tat ziemlich skeptisch: Es schien ein zu einfaches Verfahren zu sein, das nur vier ausführlich untersuchte Gene beinhaltete, und die Forscher hatten lediglich einen, potentiell unzuverlässigen Marker als Beweis der erfolgreichen Reprogrammierung der Zelle verwendet. Ich habe die Publikation in Kapitel 11 kurz erwähnt, als sie gerade erst veröffentlicht worden war und ihre Bestätigung – oder je nachdem auch ihre Widerlegung – noch ausstand. Doch ich lag falsch. Nur ein Jahr später wiederholte Yamanaka das Experiment unter der Verwendung zweier zusätzlicher Marker, um seinen ursprünglichen Bericht zu verifizieren28 – und Labore am MIT (Dr. Rudolf Jaenisch) und am Massachusetts General Hospital (Dr. Konrad Hochedlinger) veröffentlichten gleichzeitig unabhängige Resultate, die dies bestätigten.29 Dies waren natürlich extrem aufregende Entwicklungen, die den Weg wiesen, Zellen mit dem vollständigen therapeutischen Potential von ESZ zu produzieren, ohne das verwirrende, pseudomoralische Händeringen angesichts der Notwendigkeit, menschliche Blastozysten zu verwenden und auch ohne die logistischen Probleme, genügend brauchbare Eier sicherzustellen, um Zellen via SCNT zu gewinnen. Jeder erwartete, dass sich die Wissenschaftler auf die Ergebnisse stürzten und anfingen, das volle Potential der Zellen zu demonstrieren, mit der letztlichen Hoffnung auf eine Forschung ohne Kontroversen, die zu echten Heilmitteln führt. Doch obwohl man damit rechnete, war der darauffolgende Fortschritt unglaublich schnell. Nur fünf Monate nach diesen Bestätigungen gelang es Yamanaka, eine Linie humaner iPS-Zellen zu gewinnen,30 und Dr. James Thompsons prestigeträchtiges Stammzellenlabor an der Universität von Wisconsin, Madison, behauptete das gleiche. Noch spannender war, dass Thompsons Gruppe zu diesem Resultat kam, indem sie zwei (von vier) Genen aktivierte, die sich von denen unterscheiden, welche alle Labore zuvor benutzt hatten.31 Das wies nicht nur auf eine Vielfalt möglicher Wege zur endgültigen Entwicklung von iPS-Zellen hin, die zur Therapie am Menschen eingesetzt werden können, sondern beruhigte auch andere Bedenken: c-Myc, eines der von Yamanaka verwendeten Gene, trägt bei Überaktivierung zu Krebswachstum bei. Tatsächlich berichteten sowohl Yamanaka als auch Jaenisch, dass es zu einer weitverbreiteten Tumorbildung kam, als sie lebende Mäuse aus gemischten konventionellen und iPSabgeleiteten Zellen gezüchtet hatten. Thompsons neue Methode kommt jedoch ganz ohne c-Myc aus, und ersetzt es (und KLF4) durch zwei andere Gene. Doch das war noch nicht alles. Nur Wochen später setzte Jaenisch weitere Meilensteine und lieferte einen Machbarkeitsnachweis für den therapeutischen Einsatz von iPS-Zellen! Beginnend mit Mäusen, die eine Mutation analog zu der aufweisen, welche im Menschen für die Sichelzellanämie verantwortlich ist, nutzte seine Gruppe das iPS-Verfahren, um ihre Hautzellen in einen embryonalen stammzellartigen Zustand zu verwandeln. Dann setzte sie in vitro Gentherapie ein, um die Mutation zu

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beheben, differenzierte die korrigierten Zellen in Blutstammzellen (das ist mit ESZ wie erwähnt möglich) und benutzte diese, um eine Knochenmarktransplantation vorzunehmen. Von diesen transplantierten Zellen – mit perfekter immunologischer Kompatibilität zur betroffenen Maus, da jede Maus als ihr eigener Spender fungierte – wurde das Blut rasch mit neuem, gesundem Blut besiedelt, was die Krankheit schließlich heilte.32 Nun, schneller konnten die Entwicklungen nicht verlaufen, oder? In diesem sicheren Glauben schickten Michael und ich dieses Nachwort Anfang April 2008 an unseren Verleger. Nun … Sie haben es erraten: Nach einer Woche musste ich ihm sagen, dass er auf ein Update warten musste. Zunächst drangen Nachrichten über einen noch nicht veröffentlichten Erfolg durch: Eine Gruppe von Wissenschaftlern an der Harvard Medical School, unter Führung von Dr. Willy Lensch, hatte das iPS-Verfahren genutzt, um neue ESZ-artige Zelllinien aus Hautzellen von Patienten mit verschiedenen spezifischen angeborenen Krankheiten – darunter anscheinend Diabetes Typ 1, Down-Syndrom, Chorea Huntington, muskuläre Dystrophie sowie möglicherweise Parkinson – zu gewinnen. Wir würden diese Zellen – die, per Definition, genau die Mängel aufweisen, die diesen schrecklichen Krankheiten zugrunde liegen – natürlich nicht als Basis für neue Zellen und Gewebe nutzen, um diejenigen zu ersetzen, die aufgrund altersbedingter oder anderer Krankheiten verloren gehen. Dennoch sind stabile Linien solcher Zellen, die sich selbst reproduzieren können und ihre wesentlichen Eigenschaften beibehalten, wenn sie sich in jene Zellen differenzieren, die von der Krankheit am stärksten betroffen sind, von entscheidender biomedizinischer Bedeutung – sowohl als Modelle, in denen die Ursprünge und die Entwicklung der Krankheiten ihrer Spender untersucht werden können, wie auch als mögliche Werkzeuge, mit denen eine enorm verbesserte Früh-Auslese von Medikamenten durchgeführt werden können. Später in derselben Woche veröffentlichte die Zeitschrift Nature Medicine ein noch wichtigeres Ergebnis: Forscher des Memorial Sloan-Kettering Cancer Centers hatten erfolgreich durch SCNT gewonnene und in dopaminerge Neuronen (diese fallen bei Morbus Parkinson aus) differenzierte Zellen benutzt, um ein Tiermodell der Krankheit zu behandeln.33 Vier Jahre zuvor hatten sie gezeigt, dass solche SCNT-abgeleiteten Zellen die im Tiermodell beobachteten abnormen Bewegungen verbessern konnten, wenn sie Tieren entnommen wurden, die von denen, die das Transplantat bekommen, verschieden waren. Diese Zellen waren, mit anderen Worten, mit allen Vorteilen der ESZ ausgestattet, aber nicht genetisch auf den Empfänger abgestimmt. Diese funktionierten aber, wie zu erwarten war, nicht optimal und verursachten vorhersehbar eine Autoimmunreaktion, die zu einer sehr geringen Überlebensquote der transplantierten Zellen sowie zu Gehirnentzündungen führte. Indem sie SCNT-Zellen von derselben Maus gewannen, die an der Parkinson ähnlichen Krankheit litt, lösten sie das Problem der Abstoßung und bewirkten eine beeindruckende funktionelle Genesung. Betrachtet man die vielversprechenden, aber beschränkten Ergebnisse ähnlicher Strategien, die in jüngsten Studien am Mensch fötale Stammzellen verwendeten, bestätigt dies die angekündigte Überlegenheit von SCNT als Quelle therapeutischer Zellen – ein entscheidender Fortschritt. Zu ihrem Pech wurden diese Ergebnisse just zu dem Zeitpunkt verkündet, als

N ACHWORT | 363 Rudolf Jaenisch die iPS-Forschung erneut auf den Kopf stellte. Jaenischs Gruppe erzeugte zunächst halb spezialisierte neurale Vorläuferzellen aus iPS-abgeleiteten Zellen von Mäusen und brachte einige von diesen dazu, sich zu dopaminergen Neuronen zu entwickeln. Die neuralen Vorläuferzellen transplantierte er in die Gehirne von Mäuseföten und zeigte, dass diese nicht nur überleben, sondern sich in verschiedene Arten spezialisierter Neuronen verwandelten, den normalen Entwicklungssignalen des Körpers folgend und sich als funktionierende Bestandteile der Gehirn-Schaltkreise der Maus integrierten. Die dopaminergen Neuronen überführte er in ein Modell der Parkinson-Krankheit, das dem früherer Experimente ähnelt. Wie ihre SCNT-Brüder halfen diese Zellen mit Erfolg, die Bewegungen der erkrankten Mäuse zu normalisieren – und wieder ohne die Notwendigkeit, einen Embryo zu zerstören, um maßgeschneiderte, immunologisch passende Zellen zu kreieren. Mehr noch: In früheren Experimenten mit konventionellen ESZ und in ihren eigenen frühen Versuchen mit iPS-Zellen hatten sich die besagten Neuronen manchmal in Tumoren verwandelt. Jaenisch reduzierte das Auftreten dieses Problems erheblich, indem er die Auswahl der Zellen für die Transplantation optimierte und nur solche Zellen wählte, die sich vollständig in ihre dopaminerge, neurale Form differenziert hatten – ein weiteres Verfahren, das wir für den therapeutischen Einsatz beim Menschen meistern müssen.34 Wir haben auch erfahren, dass ein privates Forschungsinstitut in Japan behauptet, Yamanakas Maus-iPS-Protokoll benutzt zu haben, um humane iPS-Zellen abzuleiten, nicht nur unabhängig, sondern Monate bevor Yamanaka und Thompson dies taten – und unter Verwendung eines anderen Virus, um die reprogrammierenden Gene einzuschleusen, was die Flexibilität des Grundrezepts weiter dokumentiert.35 Zudem zeigten sie, dass die Gene, mit denen die ESZ-artige Pluripotenz in ihren iPS-Zellen erzeugt wurde, in den entstandenen Zellen ausgeschaltet wurden, was die Bedenken entschärft, dass die Gene zu Krebs führen könnten. Die Firma (ein Zweig des Pharmakonzerns Bayer AG) behauptet, auf dieser Basis damals ein Patent angemeldet zu haben. Wir werden auf die Einzelheiten warten müssen und hoffen, dass dies nicht die Art von Rechtsstreitigkeiten erzeugt, welche die frühen Arbeiten an ESZ und genetischer Diagnostik im letzten Jahrzehnt hervorriefen. Wenngleich noch viel Arbeit zu tun ist – zunächst die volle Pluripotenz und die therapeutischen Kräfte dieser Zellen zu bestätigen und das Verfahren anschließend beim Menschen einsatzfähig zu machen – bin ich doch angesichts der bisherigen Fortschritte in so kurzer Zeit erstaunt. Da sich nun auch viele andere Labore (einschließlich dem berühmten Ian Wilmut vom Roslin Institute und dem Schaf Dolly) der Arbeit mit diesen Zellen zuwenden, darf man auf ein Fortschrittstempo hoffen, das vor nur wenigen Monaten noch unmöglich schien. Die Aufrufe religiöser Konservativer, die Arbeit an echten ESZ und SCNT sofort zugunsten der iPS-Technologie aufzugeben, sind noch verfrüht, doch die Sachlage deutet derzeit darauf hin, dass sie halten, was sie versprechen. Es gibt hier auch eine Lektion für diejenigen, die vorschnell zu ethischen Schlussfolgerungen gelangen: iPS-Zellen sind von einem biokonservativen Standpunkt aus nicht offensichtlich ethisch überlegen. Dies liegt in erster Linie darin begründet, dass die problematischste unter den Biotechnologien – reproduktives Klonen, die Erschaf-

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fung eines neuen lebenden Organismus, womöglich eines Menschen, durch Mittel, die ohne eine Befruchtung auskommen – durch iPS-Zellen viel einfacher erreichbar scheint, als durch andere Methoden. Es ist recht einfach, die Anzahl von Chromosomen im einzelligen Embryo zu verdoppeln, was zu einer »tetraploiden« Zelle führt, die vier Kopien jedes Chromosoms aufweist. Solche Embryos können sich für kurze Zeit entwickeln, doch nur die Plazenta entwickelt sich richtig: Die Zellen, die normalerweise den Embryo selbst bilden würden, sterben ab. Es ist nun gesichert, dass iPS-Zellen in einen fünf Tage alten, tetraploiden Mausembryo injiziert und von einer tetraploiden Plazenta erfolgreich versorgt werden können, was zu lebenden Mäusen führt, die vollständig aus iPS-Zellen hervorgegangen sind.36

Nutzbar gemachte Heilkraf t In vielen Fällen werden wir nicht nur verloren gegangene Zellen mit frischen neuen wiederaufstocken wollen, sondern funktionsfähiges Gewebe und sogar ganze Organe implantieren. In dieser Hinsicht gab es kürzlich bemerkenswerte Fortschritte. Darunter Arbeiten mit Zellen, die auf Gerüsten aufgezogen und mechanischen Kräften ausgesetzt werden, die denen in den Organen ähneln, in welchen sich die Zellen normalerweise entwickeln. Dies erlaubt es ihnen, sich in ihre vollentwickelten Formen und Strukturen zu entwickeln. Eine solche Studie erfasste die allgemeine Fantasie 2007 wie ein Lauffeuer: das Nachwachsen eines funktionierenden Herzens aus einem Eiweißgerüst, von dem alle Zellen abgestreift wurden. Dr. Doris Taylor von der Universität Minnesota entwickelte ein Verfahren, um die Muskelzellen eines Rattenherzens stufenweise von dem darunterliegenden Eiweißgerüst abzulösen und nutzte dieses Gerüst dann als Rahmen, auf welchem Herz-Vorläuferzellen eines anderen, neugeborenen Tieres ausgesät wurden. Innerhalb einer Woche lagerten sich diese lebenden Zellen am Rahmen an, verwuchsen mit ihm und untereinander – und begannen dann, sich zu kontrahieren. Schließlich gelang es diesen Zellen, diese Herzhülle wieder zum Schlagen zu bringen.37 Wenn die in diesen vorläufigen Studien entwickelten Proto-Organe weiter zu voll funktionalen Herzen entwickelt werden können, könnte dies zur Basis einer maßgeschneiderten Organproduktion werden. Unfallopfer beispielsweise könnten ihre Herzen oder andere Organe spenden, die dann von den Herzzellen des Spenders gesäubert und mit Stammzellen des Empfängers wieder aufgefüllt werden, was sowohl ein jugendliches wie auch ein funktionstüchtiges Herz schaffen und immunologisch nahezu perfekt mit dem Empfänger übereinstimmen würde. Es ist sogar möglich, dass nichthumane Herzen als Ausgangsmaterial genutzt werden könnten. Dies ist folglich ein großer Durchbruch in der Gewebetechnik, wo wirkliche Erfolge bislang auf Gewebe mit geringem Bedarf nach einer robusten Blutversorgung, wie der Haut oder der Blase, beschränkt waren. Ein anderer Ansatz ist der Versuch, die regenerativen Kräfte des Körpers selbst zu nutzen, und die Arbeit von Stammzellen in nachwachsenden Geweben und Organen am Ort der Verletzung zu begünstigen. Dr. Alan Spievack und Dr. Stephen Badylak des McGowan Instituts für Regenerative Medizin an der Universität Pittsburgh arbeiten mit Gerüsten aus extrazellulärer Matrix für eine Vielzahl von Gewebetechnik-

N ACHWORT | 365 Anwendungen, die Defekte im Brustraum, der Speiseröhre und der Harnröhre von Hunden reparieren. Dies ist die gleiche Art von Gerüst, das von Taylor als Rahmen verwendet wurde, um darauf ein Herz neu wachsen zu lassen. Zusammen mit vielen anderen Forschern erkannten Spievack und Badylak, dass solche Gerüstgewebe nicht nur passive Rahmen sind, die auf eine umhüllende Schicht lebendiger Zellen warten, sondern dass sie Faktoren beinhalten, die aktiv dabei helfen, den Prozess des Aufbaus sich entwickelnder Gewebe zu lenken und sie nach einer Verletzung wiederherzustellen. Vor Jahren entwickelte Spievack eine Reihe rechtlich geschützter Extrakte, die aus der extrazellulären Matrix von Schweinedarm und -blase abgeleitet waren. Nach einigen Versuchsreihen gelang es ihm rasch, diese in veterinäre Anwendungen zu überführen. Die Extrakte locken Vorläufer- und Immunzellen an und stimulieren auch das Wachstum von Blutzellen, um das nachwachsende Gewebe zu nähren. Was das öffentliche Interesse jedoch wirklich auf sich zog, waren Berichte über nachgewachsene Finger bei zwei Männern, einer davon Spievacks Bruder. Diese Resultate sind bislang noch nicht formell in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert worden, doch Presseberichte weisen darauf hin, dass die beiden Männer, nach einer versehentlichen Abtrennung der Fingerspitzen, ein neueres Pulverextrakt bekommen haben und intakte Fingerspitzen nachgewachsen sind – nicht nur eine Narbe, sondern Haut, Blutgefäße und in Lees Fall sogar der Nagel – und das in nur vier bis sechs Wochen. Die Stimulation latenter regenerativer Fähigkeiten wurde kürzlich auch in anderen Gewebearten gezeigt, indem diese einem Umfeld ausgesetzt wurden, das jungem Gewebe ähnelt. Wie zuvor kann ich nicht darauf hoffen, hier einen umfassenden Bericht zu erstatten, stattdessen gebe ich eine Zusammenfassung der herausragendsten Fortschritte: Eierstockverjüngung ist seit einigen Jahren der Schwerpunkt von Dr. Jonathan Tilly, Direktor des Vincent Centers für Reproduktive Biologie am Massachusetts General Hospital. Es ist schon lange »bekannt«, dass Säugetiere alle Eizellen, die sie jemals haben werden, sehr früh im Leben anlegen – und zwar noch vor der Geburt. 2004 beobachtete Tilly die Eierstöcke von unreifen und erwachsenen Mäusen jedoch sehr genau und fand heraus, dass die Eierstöcke beider Gruppen eine Gewebeschicht mit Ei-Vorläuferzellen aufwiesen, die sich aktiv teilten – ähnlich denen, aus welchen sich Eier zu Embryos entwickeln –, doch der Vorrat der älteren Tiere an solchen Zellen nahm ab. Er stellte zudem fest, dass die Existenz einer solchen Eier nachfüllenden Zellpopulation tatsächlich notwendig war, um die Größe des Eiervorrats im Eierstockfollikel in einem bestimmten Alter zu erklären, berücksichtigt man die Geschwindigkeit, mit der reife Eier beständig verloren gehen, nicht nur aufgrund des Menstruationszyklus, sondern in noch viel größerem Maße aufgrund von zufälligem molekularem Schaden. Als man zudem den unreifen Tieren ein Medikament verabreichte, das selektiv für sich teilende Keimbahnzellen giftig ist, war ihr Vorrat an Eiern eliminiert, als sie das Erwachsenenalter erreicht hatten – ein Ergebnis, das nicht hätte auftreten sollen, wenn die Tiere schon mit allen Eiern, die sie jemals haben würden, geboren worden wären.38 Michael und ich haben Ihnen in der ersten Ausgabe dieses Buches nichts davon erzählt, weil es eine Anzahl plausibler alternativer Erklärungen für Tillys Ergebnisse

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gab. Mittlerweile hat er jedoch die größten Lücken geschlossen und zudem etwas entdeckt, das wohl noch aufregender ist als seine ursprünglichen Befunde. Es scheint mittlerweile, dass neue Oozyten tatsächlich aus Ei-Vorläuferzellen generiert werden, dass dies jedoch irgendwie von Knochenmark-Stammzellen angeregt wird, die den Eierstock infiltrieren. Das Knochenmark junger Mäuse tut dies besonders gut. Der Körper ist während des gesamten Lebens immer noch in der Lage, neue Eier zu produzieren – doch wie Tillys erste Studie gezeigt hatte, macht das Altern diese Fähigkeit graduell zunichte. Doch das Verabreichen von neuem Knochenmark in den alternden Organismus bringt diese Fähigkeit wieder auf ein jugendliches Niveau, indem es schlafende Zellen weckt und das Potential erneuert, über das sie immer weniger verfügten, da der von ihnen bewohnte Körper mit dem Altern immer unwirtlicher wurde.39 Dr. Irina Conboys Gruppe an der UC Berkeley wies gleichzeitig einen ähnlichen Effekt im Muskel nach. Sie hatte zuvor gezeigt, dass alternde Muskeln langsam die Fähigkeit verlieren, Muskel-Vorläuferzellen zur Reparatur von Schäden zu mobilisieren, und dass diese Fähigkeit durch die Einwirkung von Faktoren, die im jugendlichen Körper präsent sind, wiedererweckt werden kann. 40 Nun stellt sich heraus, dass diese Faktoren der lokalen Muskelstammzell-Nische durch die Infusion embryonaler Stammzellen verfügbar gemacht werden können. 41 Schließlich zeigte Dr. Howard Changs Gruppe in Stanford, dass der nukleäre Faktor kappa-B (NF-κB) – ein Protein, welches die Reaktionen auf oxidativen Stress, ultraviolette Strahlung, viele Immunreize und Entzündungen reguliert, und welches aufgrund seiner Rolle bei chronischen Entzündungen, Autoimmunerkrankungen und Krebs intensiv untersucht worden ist – auch eine breitgefächerte Rolle spielt, wenn es darum geht, altersbedingte Veränderungen der Genexpression in der Haut von Mäusen zu bestimmen. Durch das Abschalten dieses Gens in der Haut von Mäusen konnten die Forscher eine große Anzahl altersbegleitender Expressionsveränderungen umkehren. Die Haut sah zudem wieder eher aus wie junge Haut und verhielt sich auch so – innerhalb von nur zwei Wochen. 42

Kernmutationen und der endgültige Sieg über den Krebs Die Art von Verfahren, denen Badylak, Conboy, Tilly, Chang und andere nachgehen, ist nicht die prototypische »Ingenieurs«-Lösung, da sie darauf beruht, die Stoff wechselwege zu manipulieren, die dem regenerativen System des Körpers zugrunde liegen – eine Übung, die immer mit dem Risiko behaftet ist, den Rest des Systems durcheinanderzubringen, wie wir in der Vergangenheit unzählige Male gesehen haben. So gesehen scheinen diese Ergebnisse zu gut, um wahr zu sein – zu einfach. Und das ist vermutlich so … vorläufig. Es ist mittlerweile weithin akzeptiert, dass unsere Zellen und Gewebe die regenerativen Fähigkeiten der Jugend nicht bloß aufgrund der Anhäufung von Schäden in der Regenerationsmaschinerie verlieren: Wenn dem so wäre, könnten so einfache Tricks wie das Ausschalten eines Gens niemals dazu führen, diese Veränderungen umzukehren. Nein – der Grund, warum diese Umkehrung so einfach ist, liegt darin,

N ACHWORT | 367 dass der ursprüngliche Verfall ein koordinierter, programmierter Wandel ist – und programmierte Veränderungen haben sich aus einem bestimmten Grund entwickelt. In diesem Fall liegt die Ursache höchstwahrscheinlich in einem Schutz vor Krebs. Krebs braucht Mutationen und junge Menschen hatten keine Zeit, viele Mutationen in ihren Zellen anzuhäufen. Folglich kommen sie ungestraft davon, wenn sie mit der Regeneration Schindluder treiben, doch alte Menschen können sich diesen Luxus nicht leisten. Es ist im Allgemeinen sehr schwer, mit Sicherheit zu beweisen, dass die Wiederherstellung der regenerativen Kapazitäten Krebs fördert, weil der Tumor vielleicht erst Jahrzehnte später so groß wird, dass er nachweisbar ist – doch das ist schlimm genug, wenn wir erwarten, dass wir viel länger leben werden. Dies ist ein weiterer Grund, um so intensiv wie möglich daran zu arbeiten, einen wirklich umfassenden Ansatz zum Sieg über den Krebs zu entwickeln, wie ich in Kapitel 12 beschrieben habe. Nun, wie schreitet dieses Bestreben voran?

»Allgemeine zelluläre Unpässlichkeit« Betrachten wir zunächst die Frage, die ich zu Beginn von Kapitel 12 sondiert habe: Ist Krebs wirklich das Einzige, worum wir uns hinsichtlich nukleären DNA-Schadens kümmern müssen? Intuitiv könnte die graduelle Anhäufung von Mutationen in einer beträchtlichen Anzahl von Zellen im Laufe des Alterns dazu führen, dass ausreichend Zellen in einem gegebenen Gewebe nur ein klein wenig erkranken und das Funktionieren des Gewebes als Ganzes beeinträchtigen. In Kapitel 12 legte ich dar, warum ich an dieser Intuition zweifle. Doch bis zu einem gewissen Grad führte ich diese Argumente aus einem Übermaß an Vorsicht an: Gäbe es keinen altersbedingten Anstieg an Mutationen (abgesehen von jenen, die an Krebs, Zelltod-Resistenz und Zellverlust beteiligt sind, wofür SENS andere Lösungen bereit hält), würde es schlicht keine große Rolle spielen, was diese Mutationen sonst noch tun und das wichtigste Gewebe von allen – die Großhirnrinde – zeigt tatsächlich über ein ganzes Mäuseleben hinweg überhaupt keine Anhäufung bezüglich einer breiten Vielzahl von Mutationsarten. Doch ich möchte noch sicherer sein. Insbesondere gibt es bestimmte Mutationenarten, bei denen noch nicht untersucht wurde, ob sie sich im Gehirn anhäufen. Auch haben wir keine soliden Informationen hinsichtlich Epimutationen in anderen Geweben als dem Herzen. Aus diesem Grund hoffe ich, einen Top-Experten auf diesem Gebiet dazu bringen zu können, diese Fragen ernsthaft zu untersuchen. Durch einen glücklichen Zufall wird dieser Forscher den Vorsitz einer Abteilung eines großen Forschungsinstituts der USA übernehmen, mit allem, was dies hinsichtlich der Freiheit an Forschungsmitteln mit sich bringt. Sobald wir einen Plan zur Untersuchung der »allgemeinen zellulären Unpässlichkeit« ausgearbeitet haben, der ausreichend informative Resultate verspricht, werde ich Forschungsmittel der SENS-Stiftung zur Verfügung stellen, um robustere Antworten auf diese Frage zu erlangen.

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ALT: der Telomerase ähnlicher als angenommen? Wie Sie sich erinnern werden, ist ALT ein System der Telomerverlängerung, das Krebs in rund zehn Prozent aller Fälle anstelle der offensichtlichen Telomerase benutzt. Es gab beträchtliche Bedenken, dass ALT das Verderben von WILT, meiner vorgeschlagenen Anti-Krebs-Therapie, sein könnte. Denn um ALT stillzulegen, müssen wir ein Gen identifizieren, das wir, ohne unbeherrschbare Nebenwirkungen, präventiv in allen unseren Zellen, nicht nur im Tumor, ausschalten können. Tut man dies mit der Telomerase, so gibt es beträchtliche, und wohl gerade noch handhabbare Nebenwirkungen. ALT könnte noch schlimmer sein. Ich bin jedoch seit langem überzeugt, dass diese Bedenken fehl am Platz sind. Ich bin mir sicher, dass es unter den Genen, die für ALT notwendig sind (und es gibt wohl eine Menge, wovon einige bereits identifiziert wurden), mindestens eines geben muss, das in fast allen unseren Zellen fest ausgeschaltet ist. Wäre dem nicht so, wäre ALT viel einfacher zu aktivieren als Telomerase (für welche – wie Sie sich erinnern werden – das »TERT«-Gen, welches die Eiweißkomponente des Telomerase-Enzyms kodiert, diese Eigenschaft hat) und 90, statt lediglich zehn Prozent unserer Krebsfälle würden ALT nutzen. Doch das ist nur ein theoretisches Argument. Bis wir daher ein solches Gen finden, wird immer ein Zweifel bleiben. Nun, ich kann Ihnen nicht mitteilen, dass dieses Gen gefunden wurde. Aber ich kann Ihnen sagen, dass wir einen vielversprechenden Verdächtigen identifiziert haben, und die SENS-Stiftung hat dafür gesorgt, dass zwei Forscher, in verschiedenen Laboren, diesen untersuchen – einer in ALT-Zellen von Mäusen und einer in humanen ALT-Zellen. Das sollte eine recht unkomplizierte Studie sein, sodass uns die Ergebnisse vielleicht schon vorliegen, wenn Sie dies lesen. Was noch besser ist: Das besagte Gen ist vielleicht keines, wie bislang angenommen wurde, das einem nicht-telomerischen Zweck dient und mutagenetisch von ALT-Krebsarten zweckentfremdet wird. Vielmehr gibt es deutliche Hinweise, dass es eine physiologische Rolle bei der Verlängerung von Telomeren in einigen wenigen Geweben spielen könnte, wo die Zellteilung so rasch vonstatten geht, dass die Telomerase schlicht nicht mithalten kann. Das wären wirklich fantastische Neuigkeiten, denn es würde die Furcht entkräften, dass es eine Vielzahl verschiedener möglicher Mechanismen der Telomerase-unabhängigen Telomer-Verlängerung geben könnte, die zu ihrer Aktivierung jeweils ungefähr die gleiche Anzahl von Mutationen benötigt. Ein Mechanismus, der bereits für den ausdrücklichen Zweck der Telomer-Verlängerung existiert, und den ein Krebs lediglich zu aktivieren braucht, benötigt wohl beträchtlich weniger Mutationen, als einer, der für eine Funktion rekonfiguriert werden muss, die ihm normalerweise fehlt.

Ferngesteuer te Präzisionsbearbeitung unserer Gene Parallel zur Arbeit, die notwendig ist, um die Zellen selbst zu charakterisieren, werden wir Wege entwickeln müssen, um die benötigten genetischen Kniffe vorzunehmen. Sie werden sich erinnern, dass dies bei den sich kontinuierlich erneuernden Gewebe wie Blut oder Haut nicht allzu schwer werden dürfte, da wir (sofern sich die

N ACHWORT | 369 Arbeit, auf die ich im vorherigen Absatz Bezug nahm, gut entwickelt) die Eingriffe außerhalb des Körpers vornehmen und die behandelten Zellen vorher selektieren können, sodass wir nur solche Zellen zurückführen, welche exakt die erwünschte genetische Veränderung aufweisen. Dies gilt jedoch nicht für Zellen wie den Glia oder Muskelsatellitenzellen, die sich unter normalen Umständen äußerst selten teilen und nicht von einer Stammzellpopulation erhalten werden. Wir werden dort echte somatische Gentherapie einsetzen müssen, und darüber hinaus muss es Gen-Targeting sein, die besonders schwierige Form von Gentherapie, die punktgenau existierende DNA modifiziert, anstatt nur neue DNA an einen unspezifischen Platz ins Genom einzuschleusen. Diesbezüglich war ich sehr begeistert angesichts der neuesten Entwicklungen in einer Gentherapie-Technologie, die Enzyme namens Zinkfinger-Nukleasen einsetzt, welche es erlauben, eine neue DNA an definierte Stellen des Genoms einzuschleusen. Ich präsentierte Vorträge der führenden Gruppe auf diesem Gebiet während meiner Konferenzen in den Jahren 2005 und 2007, doch die neuesten Arbeiten haben diese Methode noch verbessert, indem sie das potentielle Risiko verminderten, der Empfänger-DNA unangebrachte zusätzliche Schnitte hinzuzufügen. 43

Diese Nebenwirkungen: Handhabbar oder nicht? Wie Sie sich aus Kapitel 12 erinnern, wird die präventive Beseitigung der TelomerVerlängerungs-Fähigkeit aus all unseren Zellen potentiell verheerende Nebenwirkungen auf unsere sich kontinuierlich erneuernden Gewebearten haben, sodass wir nach geschätzten 10 bis 20 Jahren an Anämie, Darmversagen und Lungenatrophie sterben würden. Dementsprechend kann dies nur in Betracht gezogen werden, falls wir diese Nebenwirkungen zugleich verhindern können, indem wir die Stammzellpopulationen im Blut, der Haut, dem Darm und der Lunge in regelmäßigen Abständen wieder aufstocken, sodass diese Gewebe unsterblich werden, obwohl es ihre Stammzellen nicht mehr sind. Es ist wesentlich, dass den neuen Stammzellen die Gene für Telomerverlängerung fehlen werden. Werden sie immer noch wie voll funktionale Stammzellen agieren? Man könnte denken: Natürlich werden sie das – sie sind mit normalen Stammzellen identisch, sieht man vom Fehlen einer Funktion ab, die sie nicht benötigen (und für ein weiteres Jahrzehnt oder länger nicht benötigen werden). Doch in den letzten Jahren gab es eine nervenaufreibende Reihe von Berichten, dass Telomerase zusätzlich eine zelluläre Rolle spielen könnte, über seine Telomerverlängerungsfunktion hinaus. Diese Rolle muss recht unbedeutend sein, wenn man berücksichtigt, wie gesund Telomerase-Knockout-Mäuse sind, bis ihre Telomere sich über mehrere Inzucht-Generationen verkürzen – doch es bleibt eine Sorge. Darum freue ich mich sagen zu können, dass ein anderer Professor, den ich zu SENS3 eingeladen hatte, sich dieser Art von Frage angenommen hat. Dr. Lenhard Rudolph, jetzt an der Universität Ulm, forscht am blutbildenden System von Telomerase-Knockout-Mäusen, und er hat wichtige Eigenschaften der Interaktion zwischen Blutstammzellen und den Zellen im benachbarten Knochenmark (unter dem Namen »Zellnische« bekannt) identifiziert, die es uns wahrscheinlich sehr bald erlauben

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werden, die Fähigkeiten von Telomerase-Knockout-Stammzellen unter realistischen Bedingungen zu testen. 44

WILT vermeiden: Geben wir noch nicht auf Lassen Sie uns jedoch keinen Hehl daraus machen: WILT ist beängstigend. Wenngleich die uns heute vorliegenden Hinweise nahelegen, dass wir tatsächlich in der Lage sein werden, Stammzelltherapien zu entwickeln, die genügen, um die Konsequenzen dessen abwenden zu können, dass jeder Zelltyp unseres Körpers sterblich ist, bleiben berechtigte Zweifel, dass es einige Gewebe geben wird, für die ein Stammzellnachschub nicht machbar ist. Deswegen wäre niemand glücklicher als ich, wenn eine Krebstherapie entwickelt würde, die so effektiv ist, wie WILT es verspricht, doch ohne dessen Komplikationen. Es ist deswegen angebracht, hier einige neue Entwicklungen im Kampf gegen den Krebs hervorzuheben, die aufgrund ihres offenbar bemerkenswerten Potentials sowohl die öffentliche wie die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Ich erwarte derzeit nicht, dass sie so effektiv sein werden, dass wir auf WILT verzichten können, doch ich hoffe inständig eines Besseren belehrt zu werden. Die erste dieser Entwicklungen ist ein außerordentlich einfacher Eingriff und basiert auf einer Eigenschaft von Krebs, die seit mehr als 70 Jahren bekannt ist: dem Warburg-Effekt. Warburg entdeckte, dass Krebszellen – die eine ungewöhnlich niedrige Sauerstoff konzentration aushalten müssen, da ein Tumor im Allgemeinen eine schlechte Blutversorgung aufweist – den Gebrauch von Sauerstoff tatsächlich stark vermeiden, auch wenn er ihnen in Zellkultur zur Verfügung steht. Seit einiger Zeit wird diese offenkundige Anpassung als Therapiemöglichkeit vorgeschlagen: Wenn man Krebszellen dazu zwingen könnte, mehr Sauerstoff zu nutzen als sie scheinbar wollen, könnte ihnen dies irgendwie schaden. Das wurde jedoch nicht tiefgehend erforscht, zum einen weil nicht klar ist, wie die Zellen Schaden erleiden würden und zum anderen weil es leichter gesagt als getan ist, die Zellen dazu zu zwingen, mehr Sauerstoff zu benutzen. Doch jetzt wurde ein sehr einfacher Weg genau hierfür gefunden. Dr. Evangelos Michelakis und seine Gruppe an der Universität Alberta in Edmonton fanden heraus, dass ein billiges und einfaches Präparat namens Dichloracetat genau dies tut, indem es die Zelle so beeinflusst, dass sie Pyruvat (das Endprodukt des nichtmitochondrialen Teils des Kohlenhydrat-Stoff wechsels) eher in die Mitochondrien importiert, anstatt es aus der Zelle zu exportieren. 45 Der andere Fortschritt, den ich hervorheben möchte, war die wohl am meisten diskutierte Präsentation auf SENS3: die von Dr. Zheng Cui von der Universität Wake Forest (USA). 1999 entdeckte Cui durch Zufall ein erbliches Merkmal in Mäusen, das eine außergewöhnliche Krebsresistenz verleiht. Über Jahre machte Cui nur frustrierend langsame Fortschritte hinsichtlich der Erforschung der Grundlagen und Mechanismen dieses Merkmals, doch 2006 fand er heraus, welche spezielle Art von Immunzelle dafür verantwortlich ist – eine, wie sich herausstellte, unerwartete namens Granulozyt. Auf SENS3 berichtete er von den ersten Ergebnissen eines Versuchs, der die Auswirkungen von Granulozyten von krebsresistenten Menschen auf humane Krebszellen untersuchte. 46 Diese Resultate waren äußerst ermutigend und boten

N ACHWORT | 371 auch erste Hinweise für die Beteiligung anderer Faktoren, darunter Vitamin D. Er geht nun in einen Versuch der Phase II über, in dem Krebspatienten Granulozyten von hoch krebsresistenten Menschen infundiert erhalten. Es ist schon seit langem bekannt, dass die menschliche Bevölkerung eine große Streuung hinsichtlich der Anfälligkeit für Krebs aufweist, und dies ist der potentiell größte Durchbruch bisher, die Grundlage dieser Streuung zu eruieren und sie klinisch auszunutzen.

Der Weg in eine alterungslose Zukunft In Kapitel 14 verwies ich auf ein Projekt, an dem ich mit dem Programmierer Chris Phoenix arbeitete, um eine Computersimulation zu entwerfen, die sowohl das Altern als eine Anhäufung von Schäden, wie sie SENS zugrunde liegt, modelliert, als auch die Auswirkungen der Anwendungen von immer effektiveren SENS-Biotechnologien auf die Sterblichkeitsrisiken aufzeigt. Dieses Projekt sollte das intuitive Konzept der »Langlebigkeits-Fluchtgeschwindigkeit« (LEV) auf eine stabile mathematische Basis stellen, und die Arbeit daran wurde ordentlich abgeschlossen und veröffentlicht. 47 Ich freue mich sagen zu können, dass es alle meine Erwartungen erfüllt und sogar übertriff t. Die Art und Weise, in der Biogerontologen, Evolutionsbiologen und Demographen über das Altern denken, wurde wesentlich von einem britischen Versicherungsmathematiker namens Benjamin Gompertz und seiner namengebenden »Funktion« geprägt. Gompertz zeigte, dass es eine überraschend regelmäßige Beschleunigung der Todesraten im Verlauf des Alterns gibt: Zu jedem Zeitpunkt ist das Risiko einer erwachsenen Person, im nächsten Jahr zu sterben, doppelt so hoch wie sieben Jahre zuvor. Das führt natürlich zu einer exponentiellen Beziehung. Diese exponentielle Verfallsfunktion – die auch bei fast allen anderen Organismen gilt und besonders bei Säugetieren – stimmt intuitiv mit dem allgemeinen Modell überein, das von fast allen Alternstheoretikern akzeptiert wird und welches die Grundlage für eine »ingenieursmäßige« Herangehensweise an das Altern bildet: dass Altern das Ergebnis einiger individueller, aber gegenseitig synergistischer, progressiver und schädlicher körperlicher Veränderungen ist, die aufeinander rückkoppeln und eine beständige Beschleunigung des biologischen Zerfalls hervorrufen. Während jeder Mechanismus fortschreitet, macht er einen Aspekt des Körpers als homöostatisches Ganzes weniger robust: weniger anpassungsfähig gegenüber Veränderungen, verletzlicher gegenüber jedem neuen Angriff von innen oder außen, ob in der Form eines Blutgerinnsels, das Richtung Koronararterie schießt, eines Grippebazillus, der beim letzten Händedruck aufgelesen wurde oder eines Sturzes auf dem Eis an einem Wintermorgen. Jeder Schadenstyp wirkt auf die anderen zurück, sodass der Körper nicht nur kontinuierlich mit jedem Jahr immer schwächer wird, sondern sogar noch in jedem gegebenen Jahr eine größere absolute Menge biologischer Reserven als im Jahr zuvor verliert, was uns schneller schwächer werden lässt. Letztlich ist das System nicht in der Lage, sich von einem beliebigen Angriff zu erholen und er tötet uns – auch wenn uns der gleiche Schlag einige Jahre zuvor nur schwer erschüttert hätte und vor einigen Jahrzehnten noch mit einem Lächeln abgetan worden wäre.

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Chris und mir gelang es nicht nur, diesen allgemeinen Entwurf zu skizzieren, sondern das konkrete Verständnis eines Alterungsprozesses, der von mehreren Kategorien sich anhäufenden Schadens forciert wird, deren jede für sich potentiell tödlich sein kann (in anderen Worten die »sieben Todbringer«). Innerhalb dieser Kategorien modellierten wir den Umstand, dass es mehrere individuelle Beitragende gibt (wie die diversen verschiedenen Arten von AGE-Querverbindungen innerhalb der Querverbindungskategorie). Darüber hinaus bezogen wir die Tatsache mit ein, dass jeder Mechanismus sowohl eine inhärente, anhaltende Beschleunigungsrate sowie eine entsprechende Rückkopplungsfunktion aufweist, sodass sich das Maß, in dem er den Körper schwächt, im Laufe der Zeit immer schneller erhöht. Es wurden auch Faktoren eingebaut, um Unterschiede zwischen einzelnen Personen bezüglich der Alternsgeschwindigkeit zu berücksichtigen. Zuletzt wird ein gegebenes Individuum, das bei der Simulation modelliert wird, jedes Jahr einer Provokation ausgesetzt, deren Schweregrad zufällig generiert wird. Wenn das Ausmaß dieser Provokation die Belastbarkeit eines betroffenen Systems übertriff t, versagt das System und die Person stirbt. Die ersten guten Nachrichten waren, dass unser Modell mit realen Daten funktioniert. Unsere Daten für eine Modellpopulation stimmten mit realen und aktuellen versicherungsstatistischen Zahlen der Vereinigten Staaten überein – und das sogar besser als die Gompertz-Formel. Unser Hauptziel war jedoch die Modellierung dessen, was passiert, wenn wir »ingenieursmäßige« Anti-Aging-Therapien auf Menschen innerhalb dieses Modells anwenden. Um dies zu simulieren, modellierten wir das Verfügbarwerden jeder neuen SENS-Therapie als Eliminierung von lediglich der Hälfte einer einzelnen Schadenskategorie im Empfänger, womit wir anerkannten, dass Therapien im richtigen Leben nicht völlig umfassend sein werden. Dann untersuchten wir verschiedene Szenarien: wie alt eine Person ist, wenn er/sie die erste Therapie bekommt; die Geschwindigkeit, mit der neue Therapien entwickelt werden; die Wirksamkeit nachfolgender Eingriffe hinsichtlich einer weiteren Schadensverringerung dieser Kategorie insgesamt und so weiter. Glücklicherweise kamen wir zu dem von mir prognostizierten Schluss, dass eine vollständige SENS-Plattform tatsächlich einen höchst realistischen Weg zur LEV darstellt. Beginnen wir mit einem, meiner Meinung nach, höchst pessimistischen Szenario, in der wir den Schaden in der einen oder anderen der sieben Schadenskategorien alle sechs Jahre halbieren. Zunächst reduzieren wir beispielsweise die Last der Gefäßversteifung, die von AGE-Querverbindungen hervorgerufen wird, um 50 Prozent und sechs Jahre später bauen wir die Gesamtmenge des angesammelten extrazellulären Mülls (Amyloide) um denselben Anteil ab. Weitere sechs Jahre danach verbrennen wir erfolgreich die Hälfte der Last langlebiger Aggregate in unseren Lysosomen – und so weiter, bis 42 (sieben mal sechs) Jahre nach unserer ersten Therapie eine neue Therapie kommt, die den restlichen Schaden in der einen oder anderen Kategorie halbiert. Dieser Prozess hält an, mit zusätzlichen Verbesserungen in der einen oder anderen Kategorie, die alle sechs Jahre verfügbar werden. Wie gesagt halte ich es für extrem unwahrscheinlich, dass wir 42 Jahre brauchen werden, um einen so bescheidenen Fortschritt bei der Schadensbeseitigung in einer bestimmten Kate-

N ACHWORT | 373 gorie zu erzielen, sobald die erste Runde von Therapien eingeführt ist – doch lassen Sie uns trotzdem sehen, wohin das führt. Nun, die schlechte Nachricht ist, dass wir niemanden retten können, der schon 80 biologische Jahre alt ist, wenn die ersten SENS-Therapien in die Klinik kommen. Eine solche Person wird im Durchschnitt etwas länger leben, als er oder sie es ohne eine derartige Therapie getan hätte, doch selbst diejenigen unter diesen Menschen mit dem meisten Glück werden nur etwa 20 zusätzliche Lebensjahre erhalten, weil sie einfach zu nah am Abgrund standen, als die Behandlung aufgenommen wurde. (Ich betone jedoch »biologische Jahre alt«: Um es anschaulicher zu formulieren, bedeutet dies mit lediglich den heutigen medizinischen Möglichkeiten circa neun Jahre vor dem Tod. Ich spreche hier nicht von ungewöhnlich widerstandsfähigen 80-Jährigen, die chronologisch 80, aber biologisch vielleicht nur 65 Jahre alt sind.) Doch die schreckliche Logik der sich selbst verstärkenden Synergie der Alternsschäden arbeitet in beide Richtungen: Der Nutzen der ersten, das Altern rückgängig machenden Therapie, gibt selbst einem 70-Jährigen eine zehnprozentige Chance, lange genug zu überleben, sodass die Wahrscheinlichkeit, am Altern zu sterben (und nicht von einem Sturz beim Skateboarden), letztlich vernachlässigbar wird. Für 60-Jährige stehen die Chancen noch besser: nahezu gleiche Chancen auf eine unbegrenzte Jugend – und in der Zwischenzeit, eine starke Verjüngung und ein viel längeres gesundes Leben, selbst wenn man es nicht bis zur LEV schaff t. Und so weiter – siehe Abbildung 1. Je schneller wir die Therapien einführen, umso mehr Ihrer Eltern und sogar Großeltern werden Sie begleiten können, wie das Modell bestätigt. Auf SENS3 zeigte Chris, dass eine realistischere Fortschrittsrate – zum Beispiel die Halbierung jeder Schadenskategorie alle 21 Jahre – die Überlebenschancen derjenigen, die schon bei Erscheinen der ersten Therapien alt sein werden, dramatisch verbessern würde. Besser noch: Ich habe auch gezeigt, dass diese rapide Fortschrittsgeschwindigkeit nur in den ersten Zyklen benötigt wird. Danach verlangsamt sich die notwendige Geschwindigkeit, um Menschen biologisch jung zu erhalten – gute Nachrichten für diejenigen unter Ihnen, die bezüglich der Anwendbarkeit des Konzepts des »sich beschleunigenden Wandels« auf die Medizin, das von meinem Freund Ray Kurzweil verfochten wird, skeptisch sind. Statt einer Zukunft entgegenzusehen, in welcher das lügnerische Versprechen »goldener Jahre« eine gemeinhin benutzte Doppelzüngigkeit für einen dunklen, grüblerischen Wintersonnenuntergang ist, werden diese Menschen so lange sie wollen im Schein einer jugendlichen Sommersonne leben und das Leben an sich genießen, solange es ihnen eine ungewisse Welt erlaubt. Es werden immer noch von Zeit zu Zeit Menschen bei Bergsteigerunfällen oder ähnlichem umkommen, doch niemand muss an einer wachsenden Last von altersbedingten Qualen leiden – oder in Mitleid und Schrecken zusehen, wie geliebte Menschen dies tun – nie wieder.

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Abbildung 1: Überlebenskurven für Altersgruppen, die bei Verfügbarwerden der ersten Therapie 10- bis 80-jährig sind, unter dem im Text beschriebenen Therapie-Zeitplan. Die unterste Linie ist die Überlebenslinie ohne derartige Therapien. 0

Todesfallquote nach Alter N

0.1

10 Jahre

0.2

20 Jahre

0.3

30 Jahre

0.4

40 Jahre

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50 Jahre

0.6

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0.7

70 Jahre

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Niemals

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Alter (Jahre)

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Glossar

2-Deoxyglukose (2-DG): eine Verbindung, die stark dem Blutzucker ähnelt, aber im Gegensatz dazu nicht von den Mitochondrien in Energie umgewandelt werden kann. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob 2-DG ein Mimetikum der Kalorienrestriktion wäre. Adaptives Immunsystem: der Bestandteil des Immunsystems, der bestimmte fremde und »übernommene« Zellen durch ihre Antigene kennen lernt und sie angreift. Das Vorhandensein des adaptiven Immunsystems ist die Grundlage von Impfungen. Adenosintriphosphat: siehe ATP. Adulte Stammzellen: die in voll entwickelten Körpern vorkommenden Stammzellen, die nur eine beschränkte Bandbreite spezialisierter, ausgereifter Zellen hervorbringen können. Vergleiche embryonale Stammzellen. Aktive Impfung: eine Person bekommt ein Antigen, gegen das die Ärzte Immunschutz bewirken wollen, damit das Immunsystem Antikörper produziert, die das Antigen angreifen werden. Alagebrium: ein Wirkstoff, der anscheinend Quervernetzungen fortgeschrittener Glykationsendprodukte aufbricht. Chemisch 4,5-Dimethyl-3-(2-Oxo-2Phenylethyl)-Thiazoliumchlorid. Formal bekannt als ALT-711. Allotopische Expression (AE): Expression von Proteinen von einem anderen (griech. allo-) Ort (topos) aus. Die Herstellung von »Sicherungskopien« der Protein kodierenden Gene im Nukleus, die zur Zeit in der mitochondrialen DNA untergebracht sind. Alpha-Diketone: eine Quervernetzung fortgeschrittener Glykationsendprodukte. Hypothetisch das durch Alagebrium gespaltene AGE. Alpha-Sekretase: ein Enzym, das für die normale Prozessierung des Amyloid-Vorläufer-Proteins (AVP) nötig ist. AVP bildet kein Beta-Amyloid, wenn es durch dieses Enzym gespalten wird. ALT: siehe alternative Telomerverlängerung. ALT-711: ursprünglicher Codename für Alagebrium. Alternative Telomerverlängerung (Alternative Lengthening of Telomeres, ALT): ein noch wenig verstandener Mechanismus, wodurch einige Krebszellen ihre Telomere ohne Telomerase verlängern.

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Altern: ein Wort mit vielen Bedeutungen, für unsere Zwecke am wichtigsten ist die des biologischen Alterns. Alterungsschaden: vom praktischen Standpunkt der Ingenieurschule der Anti-AgingMedizin molekulare Veränderungen der Struktur eines Organismus, die einen langlebigen Organismus von einem kurzlebigen unterscheiden. Auf einer abstrakten, theoretischen Ebene würden wir nur diejenigen Veränderungen einschließen, die zum biologischen Altern beitragen – d.h. diejenigen, die zu einem erhöhten Risiko für Krankheit, Fehlfunktion und Tod während unseres Lebens beitragen. Vom Standpunkt der Anti-Aging-Medizin hingegen ist diese Unterscheidung problematisch, da sie voraussetzen würde, dass wir zuerst feststellen, welche Veränderungen wirklich zum biologischen Altern beitragen und welche nicht – was viele weitere Jahrzehnte Forschung bedeuten würde. Die Ingenieurschule der Anti-Aging-Medizin umgeht diese Unwissenheit, indem sie alle Veränderungen der Alterung, die zur biologischen Alterung beitragen könnten, als »Schaden« klassifiziert und dann eingreift, um sie zu reparieren oder zu verhindern. Amadori-Produkt: ein ziemlich stabiles Zwischenprodukt der Glykationschemie, das Schiff ’sche Basen an fortgeschrittene Glykationsendprodukte (AGE) bindet. Glykiertes Hämoglobin oder HbA1c ist ein Amadori-Produkt. Aminoguanidin: Medikament, das die Entstehung von fortgeschrittenen Glykationsendprodukten verhindert, zuerst durch Hemmung der anfänglichen Glykationsreaktion, dann durch Verminderung der Glykoxidation durch antioxidative und metallchelierende Effekte, aber vor allem durch seine Fähigkeit Oxoaldehyde zu vernichten. Handelsname Pimagidin. Amyloid: eine Reihe verketteter Moleküle, die bei Beschädigung gesunder, im Körper natürlich vorkommender Proteine entstehen, was bewirkt, dass sie sich aus ihrer normalen Konfiguration verdrehen und toxische Interaktionen miteinander oder mit anderen Bestandteilen der Zelle eingehen. Typischerweise Bildung von chemisch »klebrigen Netzen« um die Zellstrukturen, die deren Funktion behindern. Siehe zum Beispiel Beta-Amyloid-Protein. Amyloid-Beta: siehe Beta-Amyloid-Protein. Amyloidosen: Krankheiten, die durch die Ansammlung von Amyloiden verursacht werden. Amyloid-Protein-A-Amyloidose (AA): eine Amyloidose, die durch die Überproduktion von Amyloid-A-Protein entsteht, ein Protein, das an Entzündungen beteiligt ist, üblicherweise durch chronische Entzündungszustände hervorgerufen. Außerhalb der USA die meistverbreitete Amyloidose. Auch »entzündliche« oder »sekundäre« Amyloidose genannt. Amyloid-Vorläufer-Protein (Amyloid Precursor Protein, APP): ein im Gehirn produziertes Protein, das bei Spaltung Beta-Amyloid-Protein bilden kann. Spielt in unserem Körper eine entscheidende Rolle und ist vermutlich notwendig, um Neuronen zu ermöglichen, sich als Folge von neu erworbenem Lernen neu zu verknüpfen und um Neuriten wachsen zu lassen. Anergische T-Zellen: T-Zellen, die ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können. Angeborenes Immunsystem: der Zweig des Immunsystems, der nicht »lernen« muss

G LOS SAR | 381 einen spezifischen Feind zu identifizieren. Seine Aufgabe ist ähnlich derjenigen der regulären Soldaten auf Patrouille in einer demilitarisierten Zone, die versuchen Ordnung zu halten, aber unsicher sind, wer der Feind sein könnte, bereit, sich jeglichem Eindringling entgegenzustellen. Angiogenese: die Bildung neuer Blutgefäße. Anti-Aging-Medizin: Biomedizinische Ansätze, in die pathologischen Effekte des biologischen Alterns einzugreifen. Siehe Geriatrische Schule, Gerontologische Schule und Ingenieurschule der Anti-Aging-Medizin. Das meiste, was heutzutage üblicherweise »Anti-Aging-Medizin« genannt wird, ist entweder reiner Humbug oder eine Mischung aus unausgereiften und unbewiesenen Versuchen der Gerontologischen Schule der Anti-Aging-Medizin (Hormonspritzen, antioxidative Vitamine), kombiniert mit grundlegender (jedoch leider kaum praktizierter) Präventionsmedizin (verbesserte Ernährungsweise und Bewegung) sowie der Geriatrischen Schule der Anti-Aging-Medizin. Antigen präsentierende Zellen (APZ): die Aufklärungstruppen des Immunsystems, die die Antigene des Feindes durch direkten Kontakt oder Durchwühlen alter Schlachtfelder (die Überbleibsel der von ihnen verwüsteten Zellen) erkennen und anschließend T-Zellen alarmieren, die darauf spezialisiert sind, die Eindringlinge zu bekämpfen. Antikörper: Proteine, die die Antigene des von ihnen bekämpften Organismus erkennen und binden, entweder durch Kennzeichnung des Eindringlings für den Angriff durch andere Komponenten des Immunsystems oder durch Blockierung der Rezeptoren und anderer Proteine, die für das Überleben des Erregers notwendig sind. Antisense-mRNA: genetisches Material, das sich an ein vordefiniertes, transkribiertes Gen bindet, sobald es auftaucht. Somit wird verhindert, dass daraus das Protein gemacht wird, das es kodiert. Apoptose: oft als »programmierter Zelltod« oder »zellulärer Suizid« bezeichnet. Ein sorgfältig orchestrierter, programmierter Prozess der Selbstzerstörung von Zellen, die von »feindlichen Angreifern« (zum Beispiel Viren oder Krebs) übernommen worden sind, um zu verhindern, dass sie den Organismus als Ganzes bedrohen. Auch ausgiebig während der Entwicklung benutzt, um unnötige Zellen wegzuräumen. Die Apoptose läuft sorgfältig ab, um eine Beschädigung des umliegenden Gewebes zu vermeiden (siehe Nekrose). ASP-2: siehe Beta-Sekretase. ATP: Adenosintriphosphat. Die zelluläre »Energie-Währung«. Genau so, wie man viele verschiedene Kraftstoffe (angereichertes Uran, Kohle, Sonnenenergie) braucht und sie in brauchbare »universelle Energie« (Elektrizität) umwandeln kann, um eine große Anzahl von Geräten (DVD-Spieler, Küchenmaschinen, Waschmaschinen) zu betreiben, so benutzt der Körper die chemische Energie, die in verschiedenen Kraftstoffen gespeichert ist (Glukose, Aminosäuren, Fettsäuren, etc.), um ATP zu gewinnen und viele Stoff wechselprozesse durchzuführen. ATPase, vakuoläre: eine Energie (sprich ATP) verbrauchende Pumpe, die auf der Membran des Lysosoms angebracht ist, das zusätzliche Protonen vom Hauptteil der Zelle in das Lysosom führt und so dessen Säuregrad erhöht.

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BACE: siehe Beta-Sekretase. Basalmembran: das biologische Filtermaterial der Nieren. Beta-Amyloid-Protein (auch »Amyloid beta« genannt): ein Peptid, das durch das Amyloid-Vorläufer-Protein gebildet wird und sich in Form von wachsartiger »seniler Plaques« anhäuft, die sich um die Hirnzellen von Menschen mit Alzheimer ablagern und somit die Nahrungsaufnahme des Neurons abschnüren und die normale Funktionalität beeinträchtigen. Beta-Sekretase: ein Enzym mit unklarer Funktion, das manchmal irrtümlicherweise Amyloid-Vorläufer-Protein prozessiert und so zur Bildung von Beta-Amyloid-Protein beiträgt. Biogerontologie: das Studium der biologischen Alterung, das auf besseres Verständnis zielt. Biologische Alterung: der universelle, progressive und schädliche Prozess des fortschreitenden Verlustes von molekularer Funktionalität im Laufe der Zeit, stochastisch resultierend aus den intrinsischen Stoff wechselprozessen des Organismus, der seine Fähigkeit verliert, seine Homöostase gegenüber umweltbedingten Stressfaktoren zu erhalten, was zu erhöhter intrinsischer Verwundbarkeit in Bezug auf Pathologie und Mortalität führt. Biomedizinische Gerontologie: das Studium der biologischen Alterung, mit dem Ziel, es im Menschen zu bekämpfen. Blastozyste: der sehr primitive Zellklumpen, der sich innerhalb weniger Tage nach Verschmelzung von Ei und Spermium bildet. Der Embryo verbleibt nur kurz in diesem Entwicklungsstadium. Er ist viel weiter entwickelt, wenn sich der Embryo in der Gebärmutter einnistet. Blut-Hirn-Schranke: die schützende Zellschicht, die die Gehirn versorgenden Blutgefäße umgibt und vielen im Kreislauf zirkulierenden Molekülen den freien Zutritt zum Gehirn verwehrt. B-Zellen: Zellen des Immunsystems, die spezifische Marker (Antigene) auf der Oberfläche von Eindringlingen erkennen, die diese als fremd kennzeichnen, und Antikörper gegen sie produzieren. Sie tragen die Hauptverantwortung, uns gegen Pathogene wie Bakterien und Parasiten zu verteidigen, die vollständig körperfremd sind und deswegen direkt zur Zerstörung freigegeben werden können. C. elegans: siehe Caenorhabditis elegans. Caenorhabditis elegans (C. elegans): ein Nematode (Spulwurm), der heute oft genutzt wird, um die genetischen Pfade zu studieren, die an der Geschwindigkeit des Alterungsprozesses beteiligt sind. Carbonyl: ein organisches Molekül, in dem ein Kohlenstoffatom durch eine Doppelbindung an ein Sauerstoffatom gebunden ist. Diese Struktur bewirkt in Carbonylen eine hohe biologische Aktivität. Viele virulente Vorläufer der fortgeschrittenen Glykationsendprodukte sind Carbonyle, zum Beispiel Oxoaldehyde. Carboxymethyllysin: ein häufiges fortgeschrittenes Glykationsendprodukt, das aus der Glykoxidation stammt. Kann auch ein fortgeschrittenes Lipoxidationsendprodukt sein. CD28: ein Rezeptor an der Oberfläche von T-Zellen, der ermöglicht, dass Antigen-prä-

G LOS SAR | 383 sentierende Zellen (APZ) die CD8-Zellen erkennen, die auf das von APZ gefundene Antigen abzielen. CD4-Zellen: Zellen des Immunsystems, die bei Eindringen von Pathogenen anderen Immunzellen helfen, die Gegenoffensive hochzufahren. Auch als »T-Helferzellen« bekannt. CD8-Zellen: siehe cytotoxische T-Zellen. Cerebrale Amyloid-Angiopathie (CAA): eine Krankheit, die durch die Anlagerung von Beta-Amyloid an der inneren Oberfläche von Blutgefäßen im Gehirn verursacht wird. Dadurch verkrustet diese, sie wird geschwächt und ihre für das Anund Abschwellen des Pulses benötigte Elastizität wird vermindert. Das macht sie für Hirnschläge durch Bersten der Gefäße anfällig. Cerebrospinale Flüssigkeit (CSF): die Flüssigkeit um Gehirn und Rückenmark. Ceroide: Substanzen, die viele Eigenschaften mit Lipofuszin teilen (und deswegen oft mit ihm verwechselt werden), aber für die Zelle viel einfacher zu spalten sind. Sie akkumulieren nicht während der »normalen« biologischen Alterung. Chelieren: ein Metall in eine unreaktive Form binden. CMV: siehe Cytomegalovirus. Code-Ungleichheit: Unterschiede in den »Sprachen« der DNA-»Buchstaben« der Gene in den Mitochondrien und im Zellkern. Durch Code-Ungleichheit werden einige der Gene in den Mitochondrien für die Expressionsmaschinerie des Zellkerns unlesbar (und umgekehrt). Creatinin: ein Abfallprodukt der Eiweißspaltung, das von der gesunden Niere erfolgreich beseitigt wird und deswegen als Bluttest für die Nierenfunktion verwendet wird. Cytochrom-C-Oxidase: eine der Pumpkomplexe der Elektronentransportkette. Cytokin: ein Entzündungssignalmolekül des Immunsystems. Cytomegalovirus (CMV): ein hartnäckiger Virus der Herpes-Familie. Cytotoxische T-Gedächtniszellen: sind darauf programmiert, von Erregern übernommene Zellen anzugreifen, die Antigene tragen, die aus früheren immunologischen Schlachten bekannt sind. Cytotoxische T-Zellen: sind darauf programmiert, Zellen auszurotten, die ursprünglich Körperzellen waren, sich nun aber gegen den Körper richten, zum Beispiel Krebszellen oder von Viren besetzte Zellen. Wegen ihrem charakteristischen Rezeptor auch CD8-Zellen genannt. Dauerstadium: ein der Winterstarre ähnelnder Zustand in Spulwürmern wie C. elegans. Im Dauerstadium unterbricht eine Larve die Entwicklung für einige Zeit, die viel länger sein kann als die gesamte Lebensspanne eines Nematoden, dessen Entwicklung normal und nicht über das Dauerstadium verläuft. Deletion: eine Mutation, die die komplette Entfernung großer Teile der DNA einschließt und somit viele Gene zugleich zerstört, auch wenn es streng genommen nur eine Einzelmutation ist. Dendrimer: eine winzige nanotechnologische Struktur mit hochkomplexen verästelten Strukturen, die wie Sträucher nach außen abstehen und eine kugelförmige

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Gestalt bilden. Die Äste der Dendrimere sind derart konstruiert, dass eine breite Palette von Molekülen an sie gebunden werden können. Diastolischer Druck: die zweite Zahl, die man bei einer Blutdruckmessung erhält, zum Beispiel »80« bei »110 zu 80«. Sie entspricht dem Basisdruck der Arterien in Ruhe. Diastolisches Herzversagen (DHV): Herzversagen, wenn die Pumpkammer des Herzens sich nicht genügend ausweiten kann, um das nötige Blutvolumen aufzunehmen. DNA-Polymerase: Enyzm, das eine neue Kopie der DNA der Zelle herstellt. EGFR und EGFRvIII: siehe epidermaler Wachstumsfaktor-Rezeptor. Elektron: ein geladenes Teilchen in einem Atom. Der Elektronenfluss ist die Basis für Elektrizität und oxidative Phosphorylierung. Elektronentransportkette (ETK): die Reihe von »Pumpen«, die Nahrungsenergie in Form von durch NADH gelieferte Elektronen benutzen, um ein »Protonen-Reservoir« aufzufüllen, das von der inneren Mitochondrienmembran (dem mitochondrialen »Damm«) zurückgehalten wird, um die Produktion von Energie in Form von ATP vom Komplex V via oxidative Phosphorylierung anzutreiben. Embryonale Stammzellen: die ursprünglichen »Meisterzellen«, aus denen unsere reifen Zellen hervorgehen. Stammzellen, die nur im Embryo vorkommen und die Fähigkeit haben, sich zu jeder der vielfältigen reifen Zellen des Körpers zu entwickeln. Vergleiche adulte Stammzellen. Enzym: ein biologischer Katalysator, der eine chemische Reaktion im Körper unterstützt. Epidermaler Wachstumsfaktor-Rezeptor (Epidermal growth factor receptor, EGFR): ein Rezeptor, der das Zellwachstum stimuliert. Übermäßige Produktion von EGFR, oder Produktion einer mutierten Form, genannt EGFRvIII, ist an vielen Krebsarten beteiligt. Epigenetische Strukturen: das »Gerüst«, mit dem DNA in unseren Chromosomen verankert ist. Epigenetische Strukturen helfen bei der Entscheidung, welche Gene in einer Zelle an- und welche ausgeschaltet werden. Somit kann die gleiche DNA für verschiedene Zellen verwendet werden, wie zum Beispiel Leber-, Herzund Nierenzellen. Epimutation: eine permanente, unprogrammierte Strukturveränderung in der »Überstruktur« oder im »Gerüst«, das die Expression von Genen kontrolliert. Weil Veränderungen im »Gerüst« Veränderungen in der Regulation der Genexpression bewirken (Gene an- oder ausschalten), sind Epimutationen funktional gesehen gleichwertig mit Mutationen, und werden deshalb von SENS als solche behandelt. Expression: der Prozess, durch den die in den Genen vorhandenen »Baupläne« zur Bildung von Proteinen ausgeführt werden. F0/F1-ATP-Synthase: siehe Komplex V. Fenton-Reaktion: eine chemische Reaktion, in der Übergangsmetalle vorher vorhandene, aber relativ harmlose freie Radikale zu virulenteren machen.

G LOS SAR | 385 Fortgeschrittene Glykationsendprodukte (Advanced glycation endproducts, AGE): chemisch hochstabile Verbindung, die als »Endprodukt« einer Reihe von chemischen Reaktionen der Glykationschemie folgt. Fortgeschrittene Lipoxidationsendprodukte (Advanced lipoxidation endproducts, ALE): stabile chemische Beschädigung der Proteine, die durch ihre Interaktion mit Fetten verursacht wurde, ähnlich der fortgeschrittenen Glykationsendprodukte. Freie Radikale: Üblicherweise definiert als elektrisch neutrales Atom oder Molekül, in dem der »Zwilling« eines Elektrons fehlt. Dieser Mangel macht freie Radikale instabil und chemisch hochreaktiv. Viele freie Radikale »stehlen« Elektronen von anderen Molekülen, um sich selber zu stabilisieren. Dabei beschädigen sie das Molekül, von dem sie die Elektronen »stehlen«, und oft wird dieses Molekül selber zu einem freien Radikal. Ein Überschuss an freien Radikalen in der Zelle kann oxidativen Stress bewirken, was zu Fehlfunktionen in Stoff wechselgleichgewichten und direkter Beschädigung von entscheidenden Komponenten wie Proteinen, DNA und Lipidmembranen führt. Viele Substanzen verhalten sich wie »freie Radikale« und werden oft freie Radikale genannt, doch sie entsprechen, streng genommen, nicht der Definition (z.B. reduzierte Eisenionen [Fe2+]). Umgekehrt sind manche Moleküle, die streng genommen freie Radikale sind, überhaupt nicht schädlich. Gamma-Sekretase: ein für die normale Prozessierung vom Amyloid-Vorläufer-Protein benötigtes Enzym, das aber auch in der abnormen Prozessierung zu Beta-Amyloid eine Rolle spielen kann, vor allem wenn das Enzym mutiert ist und deswegen eine abnorme Form des Enzyms produziert. Geriatrische Schule der Anti-Aging-Medizin: der Versuch, in die pathologischen Folgen des Alterns einzugreifen, sobald sie aufkommen, und sie nacheinander medizinisch zu behandeln. Gerontologie: das Studium des »Alterns« unter jedem Aspekt und in jeglicher Bedeutung: die Psychologie der Betagten in unserer Gesellschaft; die Vorurteile gegenüber alten Menschen; die sozialen Strukturen, die den Zugang von gebrechlichen Älteren zur Gesellschaft unterstützen oder behindern; und die Biologie des Alterns (Biogerontologie). Gerontologische Schule der Anti-Aging-Medizin: der Versuch, in die Mechanismen des Alterns einzugreifen, indem die »unordentlichen« biochemischen Prozesse des Stoff wechsels aufgeräumt werden oder durch Neutralisierung der reaktiven Nebenprodukte des Stoff wechsels, bevor sie an den molekularen Strukturen Schaden anrichten. Gezielte Krebstherapie: eine selektive Krebsbehandlung, die gezielt auf Krebszellen gerichtet ist. Sie meint normalerweise Medikamente, die spezifische Rezeptoren oder Signalprozesse behindern, auf die ein bestimmter Krebs angewiesen ist. Gliazellen: verantwortlich für den Unterhalt und die Versorgung von Neuronen. Glioblastoma multiforme: ein seltener, extrem aggressiver und schwierig zu behandelnder Gehirnkrebs. Glucosepan: ein komplexes fortgeschrittenes Glykationsendprodukt, das der bisher wichtigste bekannte einzelne Beitragende zur AGE-Belastung des Körpers ist. Es

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fesselt bis zu 20 Prozent der wichtigen Kollagen-Strukturproteine in alten, nichtdiabetischen Menschen. Glykiertes Hämoglobin (HbA1c): ein Amadori-Produkt, das sich auf roten Blutkörperchen bildet. Weil HbA1c zwei bis drei Monate bestehen bleibt, reflektiert es den durchschnittlichen Blutzuckerspiegel für diese Zeitspanne und wird somit als Labortest gebraucht, um die Blutzuckerkontrolle insgesamt zu messen. Glykation: die spontane chemische Bindung von Zuckermolekülen an Eiweiße. Glykoxidation: die durch freie Radikale beschleunigte Umwandlung von einigen Vorläufern der fortgeschrittenen Glykationsendprodukte in deren Endprodukte. Halbmond-Glomerulonephritis: eine Form von hochentzündlicher Nierenkrankheit, benannt nach den halbmondförmigen Abnormitäten, die in Biopsien der Patientennieren gesehen werden. Wenn sie sich einmal gebildet hat, führt die Halbmond-Glomerulonephritis zu einem raschen Verlust der Nierenfunktion. HbA1c: siehe glykiertes Hämoglobin. Herceptin: ein monoklonaler Antikörper, der in der gezielten Krebstherapie verwendet wird. Herceptin zielt auf einen HER-2 genannten Rezeptor, der das Zellwachstum stimuliert. Durch die Bindung an HER-2 verhindert Herceptin das übermäßige Wachstum von Krebszellen, die von einer HER-2-Überstimulation abhängig sind, um ihre sehr hohe Reproduktionsrate aufrecht zu erhalten. Homöostase: die Fähigkeit der Zelle oder des Organismus, ein defi niertes Stoff wechsel-Gleichgewicht zu halten. Hydrolase: ein Enzym, das eine Substanz durch die Verknüpfung mit Wassermolekülen spaltet. Die meisten Enzyme der Lysosomen sind Hydrolasen. Ingenieurschule der Anti-Aging-Medizin: direkter Eingriff in die molekulare Beschädigung der Alterung. Erlaubt dem Stoff wechsel, Schäden an unseren molekularen Strukturen zu verursachen, verhindert aber, dass der erfolgte Schaden zu einer Pathologie führt, entweder durch Sanierung des Schadens (ihn auf der Schwelle zur Pathologie zu halten oder ihn unterhalb dieser Schwelle zu bringen) oder durch Entwicklung von Möglichkeiten, den Schaden harmlos zu machen. Innere Mitochondrienmembran: mitochondrialer »Damm«, der das »Reservoir« von Protonen zurückhält, die für die Produktion von ATP durch Komplex V (die »Turbine« des mitochondrialen »hydroelektrischen Damms«) benötigt werden. Insulin: das Hormon, das Kohlenhydrate und Aminosäuren in Fettgewebe und Muskelzellen bringt. Intein: Sequenzen, die temporär in manche Proteine eingefügt werden, wenn sie synthetisiert werden – möglicherweise um dem Protein zu helfen, sich korrekt in die endgültige Form zu falten. Wenn sie ihren Zweck erfüllt haben, werden sie wieder herausgeschnitten. Isolierte systolische Hypertonie (ISH): die Art Bluthochdruck, bei der der systolische Wert (die erste der beiden Zahlen, die man bei der Messung mit der Blutdruckmanschette erhält, zum Beispiel »110« bei »110 zu 80«) hoch ist, auch wenn der diastolische Wert (die zweite Zahl) im Rahmen liegt.

G LOS SAR | 387 K2P: ein bedeutendes fortgeschrittenes Glykationsendprodukt in unseren Augenlinsen und möglicherweise anderen Geweben. Kalorienrestriktion (KR): Diät, bei der die Menge an Nahrungsenergie (Kalorien) reduziert wird, während ausreichende Mengen an essentiellen Vitaminen, Mineralien, Fetten und Proteinen erhalten bleiben. In Labornagetieren und vielen anderen Arten verlangsamt Kalorienrestriktion den Alterungsprozess – dadurch wird das Leben über seine »natürlichen« Grenzen hinaus verlängert. Sie erhält die jugendliche Funktionalität und schützt vor fast allen altersbedingten Krankheiten und degenerativen Prozessen – in direkter Proportion zum Maß an Restriktion: Weniger Kalorien führen zu einer gesünderen, jugendlichen Lebenspanne. Die erste und bestuntersuchte Art, den Alterungsprozess in Säugetieren zu verlangsamen. Auch bekannt als »diätetische Restriktion«, »Energierestriktion« oder »Nahrungsrestriktion«. Katalase: ein vom Körper produziertes Enzym, das Wasserstoff peroxyd entgiftet, indem es dieses in Wasser und Sauerstoff spaltet. Klonale Expansion: der Prozess, bei dem sich eine einzelne Zelle (wie eine cytotoxische T-Gedächtniszelle) in großer Anzahl vervielfältigt und so »Klone« identischer Zellen bildet. KLRG1: ein Rezeptor, der verhindert, dass zytotoxische T-Zellen proliferieren, wenn keine Infektion vorhanden ist. Gesunde Zellen, die KLRG1 enthalten, können sich reproduzieren, wenn eine Bedrohung vorhanden ist; anergische CD8-Zellen können das wegen eines anderen Rezeptors, genannt CD57, nicht. Komplex V: die mitochondriale »Turbine«, die den Protonenfluss verwendet, um die Speicherung von Energie in Form von ATP anzutreiben. KR: siehe Kalorienrestriktion. KR-Mimetika: siehe Mimetika der Kalorienrestriktion. Krystalline: die transparenten, flexiblen Eiweiße, aus denen die Struktur der Augenlinse besteht. Langlebigkeits-Fluchtgeschwindigkeit (Longevity Escape Velocity, LEV): die Schwellenrate des biomedizinischen Fortschritts, die es uns ermöglicht, die Alterung unbegrenzt aufzuschieben. Der Punkt, an dem die nächste Verfeinerung des SENS-Therapiespektrums der Alterungs-Umkehr uns mehr Zeit erkauft als wir brauchen, um die nächste Verfeinerungsrunde zu entwickeln, bis wir schließlich dem altersbedingten Verfall unbegrenzt entkommen können, wie alt wir auch immer rein chronologisch betrachtet sein mögen. Leitsequenz: eine gewisse Serie von Aminosäuren, die, wenn sie an die Spitze eines im Hauptkörper der Zelle produzierten Proteins angehängt wird, dieses zu den Mitochondrien leitet. LEV: siehe Langlebigkeits-Fluchtgeschwindigkeit (Longevity Escape Velocity). Lipofuszin: ein umfassender Begriff für verschiedene, hartnäckige Abfallprodukte, die sich während der Alterung in den Lysosomen von langlebigen Zellen, wie denen im Herz oder Gehirn, bilden. Ein chemisches Durcheinander von fett- und eiweißhaltigem Material, das von Membranen stammt, reaktiven Metallen wie Eisen und Kupfer, sowie einer Vielfalt anderer organischer Molekülen. Die En-

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zyme in den Lysosomen wissen nicht damit umzugehen und können es nicht zersetzen, nachdem es dorthin verfrachtet wurde. Leuchtet rot, wenn es Licht einer bestimmten Wellenlänge ausgesetzt wird. Allgemein »Alterspigment« genannt. Lysosom: ein säurehaltiges Organell, das Enzyme benötigt, um auf molekularer Ebene beschädigte Zellkomponenten in einfachere Bestandteile zu spalten, die als Rohmaterial für die Biosynthese neuer Zellmembranen, Enzyme und anderer wichtiger Komponenten der zellulären Maschinerie gebraucht werden können: die biologische »Müllverbrennungsanlage« oder »Recyclingcenter«. Die zusätzlichen Protonen, die den Säuregrad des Lysosoms bewirken, werden aktiv durch eine Energie (also ATP) verbrauchende Pumpe, die auf seiner Membran sitzt (die vakuoläre ATPase), aus der Hauptkammer der Zelle in das Lysosom gepumpt. Lysosomale Speicherkrankheiten (LSK, Lysosomal storage diseases): eine Reihe genetischer Krankheiten, die durch den Ausfall, über diverse Mechanismen, von Lysosomen verursacht werden. Vielen Betroffenen fehlt das Gen für ein lysosomales Enzym vollständig oder sie tragen eine mutierte Kopie davon, was in einer falsch geformten und ineffektiven Version des Proteins resultiert. In anderen Fällen fehlt eines der spezialisierten Transportproteine auf der Oberfläche der lysosomalen Membran oder ist defekt, sodass das Lysosom den Abfall nicht in sein Inneres befördern kann, um es dort abzubauen. LSK resultieren alle in tödlichen Degenerationskrankheiten mit spezifischen Symptomen, die variieren, je nachdem welches Organ von einer bestimmten Mutation betroffen ist und in welchem Ausmaß. Maillard-Reaktion: eine Hauptform der Glykationschemie, in der ein Zuckermolekül seine Struktur öffnet und sich mit einem Proteinmolekül verbindet und eine Schiff ’sche Base bildet. Diese Struktur ist relativ instabil, da sich die Schiff ’sche Base oft spontan abspaltet. Manchmal jedoch kollabiert sie zu einem stabileren Amadori-Produkt. Matrix-Metalloproteinasen (MMP): Protein verdauende Enzyme, die als »Abrissteams« der Gewebeumgestaltung agieren, das alte, zerstörte »Gerüst«, in dem die Zellen im Gewebe eingebettet sind, wegräumen und Platz für neues Wachstum machen. Maximale Lebensspanne: siehe maximale Lebensspanne der Spezies. Maximale Lebensspanne der Spezies: wie lange die Ältesten einer Art (und nicht nur eines bestimmten Stammes dieser Art oder der Kohorte von Tieren, in welcher der Eingriff getestet wurde) unter den bestmöglichen Bedingungen leben kann. Memapsin: siehe Beta-Sekretase. Meningoencephalitis: lebensbedrohliche Schwellung des Gehirns, offenbar als Antwort auf eine Überreaktion des Immunsystems im Gehirn. Metabolismus: die Summe der physikalischen und chemischen Prozesse, die im lebenden Körper ablaufen, einschließlich des Ab- und Auf baus von Körperstrukturen und Proteinen sowie die Aufnahme und Verteilung innerhalb des Körpers, chemische und physikalische Umwandlung und letztendliche Beseitigung von Nahrung, Luft und anderen aus der Umwelt aufgenommenen Substanzen. Metastase: der Prozess, wodurch Krebszellen dem Gewebe, in das sie ursprünglich

G LOS SAR | 389 eingebettet waren, entkommen und eine neue Kolonie in weit entfernten Geweben bilden. Methylglyoxal: ein bedeutender Oxoaldehyd-Vorläufer der fortgeschrittenen Glykationsendprodukte, bis 40.000 Mal reaktiver als Blutzucker. Mikroglia: die Immunzellen des Gehirns. Mimetika der Kalorienrestriktion: eine Substanz, die metabolische Veränderungen herbeiführt, die die wesentlichen Anti-Aging-Merkmale der Kalorienrestriktion nachbilden. Mitochondrien: die zellulären »Kraftwerke«, die die Rohbrennstoffe (Glukose, Aminosäuren, Fettsäuren etc.) des Körpers in brauchbare zelluläre Energie (Adenosintriphosphat, ATP) umwandeln. Mitochondriopathien: eine Klasse von Krankheiten, hervorgerufen durch Defekte in der vererbten mitochondrialen DNA (oder seltener durch unabhängig vom Alterungsprozess erworbene Mutationen). Diese Mutationen führen zu einem Ausfall der Energieproduktion, was ein Spektrum von Fehlfunktionen in verschiedenen Organen verursacht, abhängig von der beteiligten Mutation. MMP: siehe Matrix-Metalloproteinasen. Monoklonaler Antikörper: ein Antikörper, der in großem Ausmaß im Labor produziert wird und gegen ein spezifisches Antigen gerichtet ist. Monomer, Beta-Amyloid: ein individuelles Fragment des Beta-Amyloid-Proteins, das anfänglich frei im Gehirn zirkuliert. mRNA: die Transkriptionen der DNA-Anleitungen der Zelle. Mutation: eine permanente, unprogrammierte strukturelle Veränderung in der DNA. Der Begriff schließt, wie in Kapitel 12 verwendet, Epimutationen mit ein. Myelinschicht: isolierendes Material, das die Nerven umgibt. Myeloperoxidase: ein von Makrophagen benutztes Enzym, um Bakterien durch die Erzeugung toxischer Hypochlorsäure zu töten. NAD+/NADH: ein biologisches »Transportmolekül«, das Elektronen von der Nahrung in die Mitochondrien befördert. Naive zytotoxische T-Zellen: eine Reserve von noch unspezialisierten zytotoxischen T-Zellen, die bereit sind, neue Bedrohungen zu erkennen, ihre entscheidenden Antigene »kennen lernen« und dann zum Angriff übergehen. Nanotechnologie: beschäftigt sich mit der Funktionalität und den Eigenschaften von Systemen auf molekularer Ebene. Nekrose: traumatischer, unkontrollierter Zelltod. Nekrose bewirkt üblicherweise, dass die Zelle anschwillt und auf bricht, ihren Inhalt freigibt und benachbarte Zellen beschädigt. Neuriten: die verzweigten »Faserkabel«, die Neurone miteinander kommunizieren lassen. Neuron: ein Haupttyp von Zellen im Gehirn und dem Nervensystem, der darauf spezialisiert ist, vom Körper und von anderen Neuronen Informationen zu bekommen und weiterzugeben. Neuropathie, diabetische: die schwächende Zerstörung von Nerven, von der viele Diabetiker betroffen sind und die aus der Degeneration der isolierenden Myelin-

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schichten hervorgeht, erschwert durch das langsame Wegschrumpfen der »elektrischen Kabel« (Dendriten und Axone), über welche die Nerven miteinander kommunizieren. Notch Rezeptor 1 (NOTCH1): Protein, das für die Aktivierung von Stammzellen, das Wachstum von neuen Blutgefäßen und die Reifung von gewissen Immunzellen nötig ist. N-Phenacylthiazolium Bromid (PTB): ein Thiazolium-Spalter der fortgeschrittenen Glykationsendprodukte. Chemischer Vetter und Vorgänger des Alagebriums. Nukleus: der Teil der Zelle, der ihre zentralen genetischen Instruktionen beherbergt. Oligomer, Beta-Amyloid: eine kurze Kette von Monomeren des Beta-Amyloid-Proteins, die noch frei im Gehirn zirkulieren kann. Organelle: eine separate zelluläre »Fabrik«, die außerhalb des Nukleus besteht und spezifische Stoff wechselfunktionen für die Zelle als Ganzes ausübt. Beispiele sind Mitchondrien und Lysosomen. Oxidans: Substanzen, die chemisch Elektronen »brauchen«. Beinhalten viele freie Radikale, aber auch normale biochemische Zwischenprodukte, die manchmal in diesem Zustand sein müssen. Oxidationsmittel: siehe Oxidans. Oxidative Phosphorylierung (OXPHOS): das »Aufladen« der »ATP-Batterie« durch den Komplex V, indem Phosphor an das Vorläufermolekül angehängt wird. Verbraucht Sauerstoff, produziert Kohlenstoffdioxid sowie Wasser und wird deswegen zelluläre Atmung genannt. Oxidativer Stress: das Ungleichgewicht derjenigen Substanzen im Köper, die tendenziell chemisch Elektronen »brauchen« (Oxidantien inklusive freie Radikale, aber auch normale biochemische Zwischenprodukte, die manchmal in diesem Zustand sein müssen) im Verhältnis zu den Substanzen, die chemisch Elektronen abgeben »wollen« (Reduktantien oder Reduktionsmittel). Oxidativer Stress erhöht das Risiko, dass freie Radikale entscheidende zelluläre Komponenten beschädigen statt entgiftet zu werden, und er kann auch dysfunktionale Ungleichgewichte in Stoff wechselprozessen bewirken, indem die elektrische Homöostase der Zelle verschoben wird. Oxoaldehyd: ein hochreaktives Carbonyl-Zwischenprodukt der Glykationschemie. OXPHOS: siehe oxidative Phosphorylierung. Passive Impfung: direkte Gabe von Antikörpern gegen ein Antigen, das wir durch eine Immunantwort bekämpfen wollen. Bewirkt die gleiche Immunantwort, die durch körpereigene Antikörper hervorgerufen würde. Pentosidin: eines der einfacher zu messenden fortgeschrittenen Glykationsendprodukte. Pimagidin: siehe Aminoguanidin. Prodrug: eine Substanz, die inaktiv bleibt, bis sie umgewandelt wird, und dann chemisch in ein pharmakologisch aktives Produkt umgesetzt wird. Proton: ein elektronisch geladenes Partikel im Atom. Der Protonenfluss über die in-

G LOS SAR | 391 nere Mitochondrienmembran durch Komplex V liefert die Energie, um die Speicherung zellulärer Energie in Form von ATP anzutreiben. Punktmutation: Mutationen, die nur einen oder wenige »Buchstaben« eines »Wortes« im »Satz« der Bauanleitungen für ein bestimmtes Gen verändern. Quervernetzung: molekulare »Handschellen« zwischen benachbarten Proteinen. Reduktans: eine Substanz, die charakteristischerweise Elektronen an andere Substanzen abgeben »will«. Retinopathie, diabetische: Sehverlust bei Diabetikern durch Beschädigung der feinen Blutgefäße, die die Licht absorbierenden Gewebe auf der Rückseite des Augapfels versorgen. Rezeptor: ein molekulares »Schloss« auf der Zelloberfläche, das auf den richtigen molekularen »Schlüssel« antwortet, indem es Funktionen ausübt, wie die Zelle für einen notwendigen Nährstoff zu öffnen oder eine Signalkaskade auszulösen. RMR: siehe robuste Mausverjüngung (robust mouse rejuvenation). Robuste Mausverjüngung (robust mouse rejuvenation, RMR): die unbestreitbare Umkehrung des Alterns in Mäusen. RMR wird erreicht, wenn man mindestens 20 Mäuse der Art Mus musculus (die gewöhnliche Haus- oder Labormaus) einer gesunden Linie (eine mit einer mittleren Lebensspanne von mindestens drei Jahren) nimmt und mit Anti-Aging-Behandlungen beginnt, wenn sie mindestens zwei Jahre alt sind, die ihnen ermöglichen, bei guter Gesundheit bis zu durchschnittlich fünf Jahren zu leben. SA-beta-Gal: siehe Seneszenz-assoziierte Beta-Galactosidase. Schiff ’sche Base: eine Substanz, die aus verschiedenen Glykationsreaktionen hervorgehen kann. Enthält eine Doppelbindung zwischen einem Kohlenstoff- und einem Stickstoffatom mit spezifischen Verbindungsklassen, die durch das Stickstoffatom wiederum daran gebunden sind. Die Schiff ’sche Basen, die aus der Glykation hervorgehen, sind instabil und neigen dazu, Amadori-Produkte zu bilden. SCNT: siehe Somatischer Zellkerntransfer (somatic cell nuclear transfer). Seneszente Zellen: Zellen, die durch Alterungsschäden (und üblicherweise durch die Reaktion des Körpers auf diese Schäden) ihre Teilungsfähigkeit verloren haben. Seneszenz-assoziierte Beta-Galactosidase (SA-Beta-Gal): ein Enzym, dessen Aktivität seneszente Zellen kennzeichnet. SENS: Strategien zur technischen Seneszenz-Minimierung (Strategies for Engineered Negligible Senescence). Die wissenschaftliche Plattform der Anti-Aging-Medizin, basierend auf der heuristischen Ingenieurschule der Anti-Aging-Medizin. Serotonin: ein chemischer Botenstoff in Neuronen (und anderswo), der für Gemütszustand, Appetit, Denken und Sinneswahrnehmung verantwortlich ist. Serotonin ist die Substanz, deren Stoff wechsel durch Medikamente wie Prozac verändert wird. Somatischer Zellkerntransfer (somatic cell nuclear transfer, SCNT): Der Prozess, neue, perfekt übereinstimmende embryonale Stammzellen aus einer spezialisierten ausgereiften Zelle (»somatische Zelle«) eines Patienten zu gewinnen, indem

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man sie mit einer Eizelle verschmilzt, die vom künftigen Stammzell-Empfänger stammt und deren Zellkern entfernt wurde, um Platz für denjenigen der Zelle des Patienten zu machen. Wenn die verschmolzene Zelle sich zu teilen beginnt, entstehen ESZ mit dem genetischen Code des Spenders und es besteht somit keinerlei Abstoßungsrisiko. Stammzelle: eine frühe, unspezialisierte Zelle, die sich selbst unendlich erneuern kann und sich zu einer oder mehreren der hoch spezialisierten, reifen Zellen eines jeden Gewebes im Körper entwickeln kann. Beinhaltet embryonale Stammzellen und adulte Stammzellen. Subkutanes Fett: das am ganzen Körper unterhalb der Haut liegende Fett, das eine »Birnenform« erzeugt, wenn es im Überschuss vorkommt. Vergleiche viszerales Fett. Superoxid-Radikal: ein freies Radikal, das durch irregeleitete Elektronen in der Elektronentransportkette in den Mitochondrien entsteht. Systemische AL-Amyloidose: die häufigste Form von Amyloidose in den USA und einigen anderen industrialisierten Ländern, hervorgerufen durch Überproduktion einer Komponente einer Klasse Antikörper, genannt »Leichtketten-Immunoglobulin« (L – deswegen »AL« für »Amyloidose-Leichtkette«) durch eine Blutzellenart. Systolischer Blutdruck: die erste der beiden Zahlen, die man bei der Blutdruckmessung erhält, zum Beispiel »110« bei »110 zu 80«. Ein Maß für die Stärke des Druckes, der durch den Blutstoß im Gefäß auf die Arterienwand ausgeübt wird, wenn sich das Herz zusammenzieht. Telomerase: das Enzym, das verkürzte Telomere wieder verlängert. Telomere: lange DNA-Abschnitte an den Enden unserer Chromosomen, die keine Protein-Baupläne enthalten. Telomere nutzen sich bei jeder DNA-Replikationsrunde ab. T-Helferzellen: siehe CD4-Zellen. Therapeutisches Klonen: siehe somatischer Zellkerntransfer. Thiazolium: Vertreter einer Substanzklasse mit einer dem Thiamin (Vitamin B1) verwandten chemischen Struktur. Thymidin-Kinase (TK): ein für die DNA-Synthese benötigtes Enzym. TIM/TOM-Komplex: Abkürzung für »Translokase der inneren Mitochondrienmembran« (TIM) und »Translokase der äußeren Mitochondrienmembran« (Translocase of the Outer Mitochondrial membrane, TOM). Die komplizierte Maschinerie, die gezielt Proteine durch die Mitochondrienmembran befördert (»transloziert«). TK: siehe Thymidin-Kinase. Translokase der äußeren Mitochondrienmembran (TOM): siehe TIM/TOM-Komplex. Translokase der inneren Mitochondrienmembran (TIM): siehe TIM/TOM-Komplex. Triglyzeride: Fette; vor allem im Blut zirkulierende. T-Zellen: Immunzellen, die im Thymus reifen. Beinhaltet cytotoxische T-Zellen und Helfer-T-Zellen. Übergangsmetalle: Elemente wie Eisen und Kupfer, die oxidativen Stress durch ihre Rolle in der Fenton-Reaktion verstärken können.

G LOS SAR | 393 Vakuoläre ATPase: siehe ATPase, vakuoläre. Vaskulo-endothelialer Wachstumsfaktor (Vascular endothelial growth factor, VEGF): ein chemischer Botenstoff, der die Bildung von neuen Blutgefäßen stimuliert. VEGF: siehe vaskulo-endothelialer Wachstumsfaktor. Viszerales Fett: Fettgewebe, das die inneren Organe umgibt, im Gegensatz zum subkutanen Fett, das unterhalb der Haut liegt. Ein Zuviel von viszeralem Fett ist verantwortlich für eine »apfelförmige« oder »bierbäuchige« Erscheinung des Übergewichts. Das viszerale Fett scheint mit dem gestörten Stoff wechsel von Diabetes und dem Alterungsprozess zusammenzuhängen. Wasserstoffperoxid: ein Molekül, das sich wie ein freies Radikal verhält. Es wird durch den Abbau von Superoxid-Radikalen gebildet.

KörperKulturen Anke Abraham, Beatrice Müller (Hg.) Körperhandeln und Körpererleben Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld Januar 2010, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1227-1

Franz Bockrath, Bernhard Boschert, Elk Franke (Hg.) Körperliche Erkenntnis Formen reflexiver Erfahrung 2008, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-227-6

Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel, Alois Unterkircher (Hg.) Medikale Räume Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit Mai 2010, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1379-7

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KörperKulturen Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte Mai 2010, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3

Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.) »Für Dein Alter siehst Du gut aus!« Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven Mai 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1321-6

Paula-Irene Villa (Hg.) schön normal Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst 2008, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-889-6

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KörperKulturen Corinna Bath, Yvonne Bauer, Bettina Bock von Wülfingen, Angelika Saupe, Jutta Weber (Hg.) Materialität denken Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper 2005, 222 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-336-5

Karl-Heinrich Bette Körperspuren Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit 2005, 298 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-423-2

Bettina Bock von Wülfingen Genetisierung der Zeugung Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte 2007, 374 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-579-6

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Karen Ellwanger, Heidi Helmhold, Traute Helmers, Barbara Schrödl (Hg.) Das »letzte Hemd« Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur Januar 2010, 360 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1299-8

Gerrit Kamphausen Unwerter Genuss Zur Dekulturation der Lebensführung von Opiumkonsumenten 2009, 294 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1271-4

Swen Körner Dicke Kinder – revisited Zur Kommunikation juveniler Körperkrisen 2008, 230 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-954-1

Stefanie Richter Essstörung Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen 2006, 496 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-464-5

Antje Stache (Hg.) Das Harte und das Weiche Körper – Erfahrung – Konstruktion 2006, 208 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-428-7

Martin Stern Stil-Kulturen Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken Januar 2010, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1001-7

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