Agar Agar, Zaurzaurim : Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven 3498056913

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Agar Agar, Zaurzaurim : Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven
 3498056913

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Peter Rühmkorf

agar agarzaurzaurim Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven

Rowohlt

Umschlagbild und Textillustrationen vom Autor Typographie des Umschlags Manfred Waller

i. Auflage April 1981 Copyright © 1981 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Alle Rechte Vorbehalten Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 498 05691 3

Inhalt

Lektion i Magie in den Massenmedien Seite 7 Lektion n Das Beri-Beri-Experiment Seite 27 Lektion m Das Geheimnis der Dolly Dollar Seite 47 Lektion iv Wenn die Ratio mit ihrem Latein am Ende ist - oder: Vom Auseinander- und Zusammenreimen Seite 67 Lektion v Die natürlichen Schallgrenzen zu durchbrechen Seite 93 Lektion vi In der Rolle eines Hauptdarstellers Seite 115 Lektion vn Paradiesesflöten, versetzt Seite 139

Lektion i Magie in den Massenmedien

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Meine sehr geehrten Damen und Herren Der Reim ist an sich kein Thema. Er ist als poetische Praxis ziemlich aus der Mode geraten und bietet nur wenig Anlaß für gesellschaftskundliche D ebat­ ten; er kom mt keiner herrschenden Meinung entgegen und tritt auch keiner öffentlichen Ansicht spürbar auf die Füße; eher hat ihn sein zeitlos-zerverlorenes Wesen so weit in ein extraterristisches Abseits entrückt, daß der bloße Gedanke an Wirkungsweise fast schon als Luxusanwandlung erscheint, und wer ihn überhaupt zur Kenntnis nimmt, der tut es gerade noch im Hinblick auf sein hohes Dienstalter und dann auch bloß mit halbem O hr. Die gar nicht so unerfreuliche Folge ist, daß jemand, der sich über seine H erkunft und seinen kulturellen Werdegang in Kenntnis setzen möchte, in den Staats­ und Uni-Bibliotheken offene Kammergräber einrennt: jedes Fachbuch ist auf Anhieb zu haben, jede Inauguraldissertation - und noch die entlegenste - im Handum drehen hcranzuzitieren, das sicherste Zeichen, daß wir es mit einem ziemlich esoterischen Außenseiter zu tun bekommen. Man kann sich ja selbst unter Zunftgenossen kaum noch mit Gewinn über dies jahrtausend­ alte und vielleicht menschheitsbcgleitende Lautphänomen unterhalten, wo­ bei ich gleich vorweg bemerken möchte, daß Zusammenklang und Zusam­ menhang hier schon in rätselvollen Hin-und-her-Beziehungen leben. Was dagegen gerade noch von einem gewissen - akademischen!- Interesse scheint, ist das ungewisse W irken und Weben sogenannter «Freier Verse», daran knüpfen sich dann besorgte Rundfragen wie die hilfesuchende Preisaus­ schreibung der «Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung» in Darm ­ stadt; nicht völlig zu Unrecht, wie ich meine, weil das aller sichtbaren Bin­ dungen ledige und oft nur als haltloser Flattersatz in Erscheinung kommende W ortstreuwerk schon einmal der genaueren Hinterspiegelung bedarf. 11

Glauben Sie nicht, verehrte Freunde der Poesie, liebe junge Kolleginnen und Kollegen, die Sie nachweislich zahlreich unsere Sprach- und Litseminare bevölkern, ich wollte hier innerhalb einer ohnehin für nutzlos angesehnen Gattung noch einmal künstlich Fronten aufführen helfen zwischen «ge­ reimt» und «ungereimt», zwischen traditionellen poetischen Bauverfahren und freieren Organisationsweisen; ich habe mich selbst auf beiden Turnier­ plätzen mit viel Einsatz und Eifer getum m elt; freilich auch dies nicht überse­ hen, daß wir es mit gründlich voneinander abgesetzten Schreibarten zu tun haben, kaum noch verwandten Disziplinen, denn wo es in der einen um den unverstellten Niederschlag von fassungslos gewordenen Subjekten zu gehen scheint, sucht die andere ihr Heil nun gerade in der Fassung, in der Bindung, in der Fessel, und lange nicht alles was der «Freie Vers» mit Glück zum Ausdruck bringt, macht im gereimten Gedicht noch den nötigen seriösen Eindruck. Bleibt immerhin die strömungskundlich interessante Beobachtung, daß ei­ ner, der sich werbend oder lehrend für den Reimvers stark macht, als der PR-Agent eines rechten Mauerblümchens belächelt wird. Gerade wenn man selbst auf dem randständigen Gebiet mittlerweile in den Genuß eines —sagen wir es ruhig-W eltm onopols geraten ist (etwa mit Spezialisten für Grasmükkendialekte oder Hexensalben zu vergleichen), stellt sich immer wieder die einschnürend bange Frage, ob solche Spezialitäten überhaupt noch auf ein allgemeineres Interesse hoffen dürfen, zumal in den Zusammenhängen eines Poetik-Lehrstuhls, der doch wohl dafür auf der Welt ist, die trennenden Dorngestrüppe zwischen Literatur und Leben, Poesie und Praxis, künstle­ rischem Ausdrucksverlangen und politischem Tatendrang allgemeinver­ bindlich zu durchdringen. Die Literatur als Lebenshilfe und die Poesie als ein außerparlamentarisch verankertes Handlungs- und Unterweisungsin­ strument, das sind ja durchaus verbreitete Erwartungsschablonen, und ich kenne auch die Kolleginnen/Kollegen sehr gut, die sich in die Rollen der literarischen Barfußheilerin und des lyrischen Alternativsani bestens hinein­ gefunden haben. «Dichter zum Anfassen», so verheißt es gewiß nicht grundlos jedes zweite Kunstfestival und je d e r Literaturubel, eine Kommu­ nikationsofferte, die heimlich von einem überall vorhandenen Bedürfnis 12

nach magischer Berührung und direktem Handauflegen zehrt. Trotzdem scheinen mir solche leichtfertig geschürten Hoffnungen auf einen wirksa­ men Anfaßzauber irgendwie als unsittliches Angebot, und das gewiß nicht bloß, weil es den Partizipationspoeten in die Nähe von Grabbelkino und Gemeinschaftssauna rückt. Nein: was hier zum Angebot steht, sind doch nichts als M ythen in Tüten, denn entweder gibt es diese proteischen Vor­ tragspersonen doch gar nicht, die sich in hundert oder H underte von Privat­ audienzen hinzuschwenden vermöchten; oder es scheint doch der Dichter zuletzt die Kommunikationskanone, die das Showbiz aus ihm machen möchte. Alles andere als ein locker aus der Tiefe, m unter in die Runde plau­ dernder Conferencier, ist der Poet meist der eher beklommene Mann mit der schleppenden Zunge, mit dem jammervoll vernagelten Mund, dem quälend langsam mahlenden Gedankengang; auch die Dichterin der benommen stammelnden Pythia oder der drucksenden Sibylle von Cumae sehr viel nä­ her als der ihrer Sache und ihrer Bühne sicheren Emanzipationssoubrette; und ich sage Ihnen so offen wie es diese öffentliche Vorlesung hier verlangt, daß der Eindruck einer gewissen Bühnenwendigkeit, den man selbst an gu­ ten Tagen schon einmal erwecken kann, durch unendliches Training und böse Nachtmahre erkauft werden muß. Da ich seit längerem eine subjektive Wissenschaft verfechte, in der noch die allerpersönlichsten Obsessionen und Interessenverwinkelungen einen An­ satzpunkt finden, aber auch der Traum seinen Platz hat und der phantasie­ voll aussagekräftige Ausrutscher, möchte ich Ihnen eine ständige Zwangs­ anwandlung meiner Dichternächte nicht vorenthalten, einen mindestens einmal pro Woche zur Aufführung gelangenden Angsttraum. Mir träum t - und das bei wechselnden Kostümen und in immer neu ver­ setzten Bühnenbildern - , daß ich vor ein zahlreiches und erwartungsvoll gespitztes Auditorium hintrete, geschäftig meine Unterlagen sortiere, munter und zweifelsfrei zum Vortrag ansetze, indes beginnt die Schrift auf dem Papier sich plötzlich zur Geheimschrift zu verwirren, einmal ein unentzifferliches Geschlinge von dunklen Arabesken, ein anderes Mal als befremdliche Gespensterparade bunter Hieroglyphen, einmal erU

lebte ich sogar die Transm utation meiner vertrauten O lym pia-Typen zu finsteren Keilschriftkerben und in einer ganz besonders argen N acht be­ gannen sich die eben noch so festgefügten Zeilenkolonnen vom Papier zu lösen, sozusagen zu verdunsten: ein um -und-um inszenierter Alp­ druck in jeder Bedeutung des W ortes, wobei für mich die wechselnden Camouflagen so unerklärlich sind wie der Sinn und der Zweck der gan­ zen Peinigungsprozedur. Sie ist auch schwer erklärlich und nach den Spielregeln einer heimlichen W unscherfüllung kaum noch aufzuhellen, denn die innere Dramaturgie sieht keine Katharsis vor: man versucht zu improvisieren und das wie von Geisterhand entstellte Papier mutig zu vergessen, verfängt sich aber nur im eigenen Gefasel, bis das wohlmei­ nende Publikum sich am Ende gelangweilt verkrümelt; wie gesagt, es ist von keiner Seite her Glück in dieser Nachtvorstellung zu erkennen, al­ lenfalls so etwas wie die Symbolisierung eines bohrenden Ungenügens an der Entertainerrolle. Wo kamen wir her und, vor allem, wo wollten wir hin ? Letzten Endes wohl auf eine geschichtliche Tragik zu, die dort zu sehen ist, wo ein poetisches Gesellungsmittel - mehr noch: der leiblich-körperliche Ausdruck von A n­ ruf und Echo, Frage und A ntw ort überhaupt - ganz allgemein auf ziemlich enge Hörreserven stößt. Was man jahrtausendelang als einen unersetzbaren Gemeinschaftsstimulator empfand und was unsre schönsten Bildungsgüter zwanglos mit den Grundgesängen des Volkes verbindet, ist dem nachgebo­ renen Musikliebhaber Hekuba bis Ohropax. Das angestrengte Bemühen des Zubringergewerbes, vom genauen H inhören weg und auf Zerstreuung hin­ zuleiten, ist ja ein allgemeiner Zug der Zeit, die sich kom munikations­ freundlich nennt, nur weil sie unerlöste Monaden zu dicken Klumpen ballt. Die wieder und wieder und fast schon beschwörend zitierte «verbale Kom ­ munikation» will aber gerade dort nicht stattfinden, wo die Gesangsdarbie­ tung als eine öffentliche Eingreif- und Mitmach-Veranstaltung vorabver­ kündet wird; und das nun gar nicht einmal, weil der H err oder die Dame da vorn von sich aus aussageunwillig oder gesellungsunlustig wären, sondern als unmittelbare Folge einer Dispersionspädagogik, die das Interesse statt 14

auf den gesammelten Ohrenschmaus vorsätzlich auf das anschließende Trallala lenkt. Früher, wissen Sie - und ich denke jetzt nicht an die Zeit, als Stefan George noch zum Schein von Bienenwachskerzen v o rtru g -n e in , vielviel früher, als die unterschiedlichen Künste noch an allen Ecken und Enden zusammen­ hingen : die Lyrik direkt mit den Saiten der Leier und der phrygische Dudel­ sack mit den Nervenenden der Tanzenden, oder dann, als die attische Tra­ gödie völlig selbstverständlich in den satyrischen Maskenzug überging und die Phallophorenprozession in öffentliche Lustbarkeiten, hatte das W ort Beteiligung noch einen richtig sinnlichen Sinn. Wo aber heutzutage kom ­ munale Animationsdezernenten in den menschlichen Gesellungstrieb eingreifen und auf prompte Sozialisierungserfolge getrimmte Planstelleninha­ ber den Gang der Handlung bestimmen, wird die immerhin mögliche An­ teilnahme eines resonanzwilligen Publikums schon im Vorhinein versprayt: in der Erwartung eines großangekündigten Apres-Poesie, das sich natürlich plangemäß nicht einstellt, weil die Vorlust auf die Nachlust die ins Zentrum gehörende Lust bereits im vorhinein verbraucht und aus der Bahn leitet. Kunst ist aber - und sie hat auch gar nichts anderes im Sinn als: Kommunion und Kommunikation. Desgleichen dient die W ortkunst keinem edleren Zweck und keinem höheren Ziel als Gemeinschaft zu stiften, vorzugsweise eine Gemeinschaft der Ungläubigen, Abseitigen, Ausscherenden. Wo etwas kompliziert verschaffene Menschen sich schon kaum in irgendeinem Namen oder unter irgendeiner Fahne zusammenfinden können, kann die selbst an den Pflasterstrand der Gesellschaft abgedrängte Poesie dem mit sich und der Mitwelt zerfallenen Problemträger durchaus schon mal sowas wie eine zau­ bermächtige Lösungsformel Zurufen, ein verbindendes Stichwort oder ein Wiedererkennungssignal, man darf nur nicht gerade die falschen O hren am Kopf haben. W orauf das hinauswill, ist nichts anderes, als daß Poesie sehr wohl gewisse mediale Schwingungszonen eröffnen kann, und daß sie es wirklich vermag, ist uns auf den Lyrikfestivals in Rotterdam und Berlin, in Ham burg und in Genua herzlich bewußt geworden. Auch eigene Versuche, im Verein mit Jazz- und Pop-O rchestern vorzutragen, sind immer von der Vorerwartung U

eines schwingungsbereiten, meinetwegen swingenden Auditoriums getra­ gen gewesen, man sollte sich nur eben selbst auch als ein Instrum ent verste­ hen, als Vokalisten vielleicht, der mal hervortreten kann und dann auch wie­ der zurücktreten, nicht dienend, aber auch nicht dominierend, und im En­ semble Teil eines ansteckenden Beispiels. Selbst wenn man einräumen will, daß Vibraphon, Tenorsax, Schlagzeug, Flügel und Gitarre ein nie ganz zu berechnendes Quantum des Interesses für sich beanspruchen und vom W ortlaut ablenken, liegt doch ein unabschätzbarer Gewinn in einem der Kunsterscheinung prinzipiell freundlich zugewandten Hörverhalten, das sich auch gar nicht disputativ zerreiben, sondern sich vielleicht gemeinheitlich entäußern möchte: in der orgiastischen Vergnügung und einer weltzugewandten Geselligkeit, kurzum : der alte Johann-G ottfried-H erder-Traum und die G ebrüder-H um boldt-U topie von einer neu harmonischen Vereini­ gung der arbeitsteilig zersplitterten Einzelkünste bequemten sich aus einem Himmel fader Idealität auf ein sehr irdisches Parkett herunter, denn Freunde! - auch der Feingeist möchte schließlich nichts so gern wie endlich mal wieder das Tanzbein schwingen und die seelische Komplikatesse losblühn unter Gleichgesinnten/Gleichgestimmten, archaische Menschengelü­ ste, die von den Bürohengsten unserer Veranstaltungsbetriebe kaum einmal zur Kenntnis genommen, geschweige denn verstanden wurden. Im Gegen­ teil - und gerade so, als gelte es auch in diesen höchsten Randsphären ein Marktgesetz zu verfolgen, das auf ewige Unbefriedigung aus ist —scheint es der hinterste Sinn der kulturellen Katatonie, am Ende einen innerlich zerris­ senen und äußerlich abisolierten Menschen in die N acht zu entlassen. Da die Fundamente unserer Einkaufs- und Verkaufsgesellschaft auf Disharmonie und Dauerunbehagen gegründet sind und der das System am Laufen halten­ de Frust seinen vorläufigen Reim nur in der Kauflust finden darf, wird die man kann das gar nicht oft genug nachnageln - geradezu fetischhaft be­ schworene Kommunikation mit stupider Regelmäßigkeit wieder abberufen/ zurückgepfiffen, sei es, daß programmgemäß kein Boden zum Tanzen und keine Musik zum Aufspielen da ist, sei es, daß eine schöne geistige Gesammeltheit durch die besagten Dispersionsspektren gejagt wird.

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Daß unsere Ausflüge in die Welt des Veranstaltungswesens etwas mit dem Reim zu tun haben können, wird nicht unbedingt einleuchten. Trotzdem gibt es natürlich Verbindungsfäden zwischen dem hier beschworenen Ge­ selligkeitsgeist und dem colloquialen Wesen der Reimstrophe, wobei der Verweis auf die Musik schon auf verwandte Anklangswelten hindeuten möchte. Die Präludien sind also nicht ganz planlos, wenn auch für die Zurü­ stung unserer kleinen Bühne, auf der wir am Ende gern die Stanzen tanzen lassen wollen, noch nicht hinreichend. Auf keinen Fall wollte ich Ihnen allerdings ein Interesse an gereimten Versgebilden als sozusagen höhere Bil­ dungspflicht aufschwätzen und Sie vor einem Perlenreigen der schönsten Deutschen Reimgedichte - «Spüren Sie nicht, wie hübsch es klingt?!» - auf die Knie bitten. Im Gegenteil ist, was sich hier Ihrer Aufmerksamkeit emp­ fiehlt, etwas sehr viel Allgemeineres und Primitiveres: eine uralt magische Einheit von Zusammenklang und Zusammenhang, an der wir alle Anteil haben, und wers nicht glauben will, daß aufgeklärte Leute und moderne Poesie etwas mit Zauberei zu schaffen haben, der höre sich zum Beispiel folgende kleine Geschichte an. Als ich vor einiger Zeit einen Literaturpreis ausgehändigt bekam - Seite an Seite mit dem Dichter Peter Paul Zahl (als PPZ bereits zu einer Chiffre heim­ lichen Einverständnisses und gemeinsamer Erleuchtungen aufgerückt), da eskamotierte mich ein nicht gerade alltägliches Kommunionsgeschehen so weit an den Rand der Szene, daß ich vom Kulissenwinkcl aus gewisse mir sonst nicht zugänglich gewesene Beobachtungen machen konnte. Was mei­ ne Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und mich dann zunehmend in seinen Bann zog, war ein (und ich bitte Sie herzlich-höflich, solche aufgeklärten Wahrnehmungsweisen nicht von vornherein zu verteufeln) geradezu erbit­ terter Streit von zwei sehr unterschiedlich motivierten Teilnehmergruppen um einen verbindenden Interessenmagneten (von mir bislang immer nur als wichtige Aufklärfigur im neudeutschen Restauratorium zur Kenntnis ge­ nommen): nun freilich zum besinnunglos um worbenen/umwirbelten Vo­ tivobjekt verklärt, mit aufgeregten Schnappschußschamanen auf der einen Seite und gewiß nicht minder hochgestachelten Illuminaten auf der anderen, diese die ungeliebten Antipoden apotropäisch stabgereimt als «geile Geier» 17

in die Schranken weisend, was für einen nüchternen Beobachter schon ein reichlich atavististisches Ansehen hatte. Dem gar nicht mehr zu bremsenden Ablichtungswahn der einen Partei (einer magischen Aneigungspraktik selbstverständlich) entsprachen aufs wunderlichste die Berührungsprozedu­ ren der anderen, die nun den armen Mann von Werl bei der W atte zu packen suchten, als handle es sich um den Heiligen Rock von Trier, ein äußerst seltsamer Hexenreigen insgesamt, weil beide Gruppen sich bei näherer Be­ fragung gewiß als die aufgeklärtesten Wesen von der Welt bezeichnet haben würden. Die phosphoreszente Szene soll Sie allerdings nicht gegen den Dichter Zahl und auch um Gotteswillen nicht gegen die von ihm vertretenen Ideen einnehmen. Ich meine darüber hinaus, daß das Bemühen um eine viel zu späte vorzeitige Entlassung mit allem N achdruck fortgesetzt werden soll­ te und daß wir alle aufgefordert sind, einer gnadenlosen Rechtsprechung zu widersprechen. Was mir zu beweisen wichtig scheint, ist nur, daß Literatur nicht bloß eine Formsache, sondern ein von magischen Vorstellungen noch und noch durchsetztes Zauberreich ist, in dem gewunschen und W under­ wirkung erhofft wird wie ehedem, besonders nachdrücklich allerdings dort, wo man Irrationalismus und dunkles Geisterwesen endgültig vertrieben glaubt. Wer solchen Ansichten zuneigt, muß bei der Behandlung literarischer Be­ schwörungsmittel - und nichts anderes ist der Reim - besonders umsichtig sein. Zum Beispiel habe ich mir durchaus durch den Kopf gehen lassen, ob ich meine Vortragsreihe nicht vielleicht «Der Reim und seine Wirkung» oder gar «Die soziale Stellung des Reims» hätte übertiteln sollen, ein Wag­ nis, das ich mir dann doch verkniffen habe - anders hier noch die gesammelte W irkungs- und Wissenschaftsgläubigkeit der Stadt zusammengekommen wäre, um das W under von Kana (sprich die Verwandlung von Papier und Tinte zu sozialer W irklichkeit) persönlich mitzuerleben. Nein, lieber die Leinewand zunächst ein bißchen blasser grundiert und den allenthalben auf der Lauer liegenden W irkungserwartungen ein wenig vorsichtiger begegnet; denn wen der Reim nicht auch als literarische Technik interessiert, der hat in unseren Zusammenhängen nichts verloren, ergo nicht zu suchen. Anderer­ 18

seits hat man selbst sich schon so seine Gedanken gemacht über das, was der Reim in uns wirkt und was er anrichten kann, wo er offen schaltet und waltet und wo er im Geheimen agitiert, ein ungeheuer breites W irkungsfeld, das nur seit ewigen Zeiten nicht mehr untersucht worden ist. Lassen wir es der allgemeinen Entwöhnung halber dabei langsam angehn und am besten dort beginnen, wo uns die geliebten Massenmedien (eine Alliteration nebenbei, volkstümlich Stabreim genannt) den in Frage stehen­ den Artikel täglich in die gute Stube liefern. Tatsächlich durchwest der Reim, und zwar in allen seinen Formen als reicher, rührender, männlicher, weiblicher, klingender, Binnen-, End- und Stabreim unseren Konsumen­ tenalltag weit ausgiebiger als uns gemeinhin bewußt ist, nicht bloß dort, wo uns das letzte literarische Who ist Who auf sogenannten Seilertellern serviert wird. Wo man erst einmal richtig W itterung aufgenommen hat, begegnet uns die teils liebliche, teils leidige Erscheinung auf Schritt und Tritt und in Hülle und Fülle, fliegen einen die auch in den Rahmen gehörenden D oppler­ effekte aus dem Eff-eff an und umschwirren einen die Konsonantenanlaute ohne Rast und Ruh, fragt sich bald nur noch, wo man mit dem Sammeln anfangen sollte und wo man aufhören muß. Eine einzige Woche ganz ge­ wöhnlicher Fernsehpraxis beschert beispielsweise neben den wieder und wieder stabgehämmerten Tages-Themen auch noch Hier und Heute und den Bericht aus Bonn und das Zeitzeichen und den Sport-Spiegel und die Mainzei-Männchen und den Kultur-Kalender Aas Tele-Technikum und den Siebten Sinn und die Ziehung der Lottozahlen, und wo Sie einmal die Bücher-Bar verpaßt haben sollten, können Sie sicher bald auf Titel Thesen Temperamente ausweichen, und wo Ihnen Kennen Sie Kino nicht so sehr behagt, bleiben Ihnen immer noch Filme Fakten Meinungen, es sei denn daß Sie sich gerade für Sterns Stunde oder Bios Bahnhof entschieden haben, be­ ziehungsweise die Zeugen der Zeit oder den Blauen Bock oder die MontagsMaler in Ihrem Film-, Funk-, Fernsehkalender angestrichen haben. An schließt sich hier zwanglos und will dann schier kein Ende nehmen die höhere Stabreimkultur der Belletristik, und da kom mt man zwischen Herr und H und und Götter, Gräber und Gelehrte und F ü n f Finger sind keine Faust aus dem Auflisten gar nicht mehr heraus. N u r daß der Bannkreis ins19

gesamt natürlich sehr viel weiter reicht, denn auch die Presse hat sich das wohlfeile Binde- und Beschwörungsmittel nicht entgehen lassen, die D rei­ groschenpresse nicht und auch der »Spiegel» nicht, der sich zwar ein «Nach­ richtenmagazin» in seinem Untertitel nennt und dessen suggestive Allitera­ tionsgirlanden doch bloß die andere Seite der mit Berechnung und Bedacht gepflegten Genauigkeitsfiktionen sind («Überall lauschten die Informanten der ins Exil getriebenen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands - in Kir­ chen und Kinos, in Bars und Bordellen, in Kasernen und Kantinen, in Werkhallen und W ohnküchen. Und zu Hause notierten sie das Gehörte.»