Naturgeschichte der Freiheit
 9783110872026, 9783110191110

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Naturgeschichte der Freiheit



HUMANPROJEKT Interdisziplinäre Anthropologie Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von

Detlev Ganten, Volker Gerhardt und Julian Nida-Rümelin unter Mitarbeit von

Jan-Christoph Heilinger

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Naturgeschichte der Freiheit Herausgegeben von

Jan-Christoph Heilinger

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Diese Publikation erscheint mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019111-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Martin Zech, Bremen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Vorwort zur Reihe Humanprojekt Die gegenwärtigen Fortschritte der Wissenschaften, für die exemplarisch der erfolgreiche Abschluss des Humangenomprojekts steht, stellen die Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen mit einer wohl selten zuvor erfahrenen Dramatik. Vielfältige neue Einsichten fordern beständig dazu auf, das Menschen- und Weltbild zu überdenken und nach der Einbindung des Menschen in den Zusammenhang der Natur zu fragen. Dieser Aufforderung kommt die interdisziplinäre Schriftenreihe Humanprojekt – Zur Stellung des Menschen in der Natur nach. Es wird eine Plattform für Diskussionsbeiträge geschaffen, die auf eine den Bedingungen der Gegenwart angemessene Anthropologie hinarbeiten. Dabei werden verschiedene Wissenschaften zu Wort kommen, um die Frage nach dem Menschen in der größtmöglichen Breite zu bearbeiten. Es geht somit um Beiträge zur Verständigung des Menschen über sich selbst und damit um eine letztlich unabschließbare Aufgabe: ein Humanprojekt. Dieser erste Band der Reihe enthält ausgewählte Beiträge, die im Rahmen der Arbeitsgruppe Humanprojekt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften diskutiert wurden. Die hier abgedruckten Aufsätze stellen überarbeitete und erweiterte Fassungen der mündlichen Vorträge dar. Berlin, im Juli 2007

Detlev Ganten Volker Gerhardt Julian Nida-Rümelin

Inhalt JAN-CHRISTOPH HEILINGER Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Empirie und Kausalität JENS G. REICH Zum Kausalitätsprinzip in der Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ANDREAS V. M. HERZ Neuronaler Determinismus: Nur eine Illusion? . . . . . . . . . . . . . .

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MARTIN HEISENBERG Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung . .

43

C. GIOVANNI GALIZIA Der Homunkulus und die Zeit. Warum die Neurophysiologie die Frage des freien Willens nicht lösen kann . . . . . . . . . . . . . . .

59

RANDOLF MENZEL Entscheiden mit implizitem Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

JULIA FISCHER Metakognition bei Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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MICHAEL A. STADLER Der freie Wille, die Zeit und die Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . 117 FERDINAND HUCHO Die Ursachen der Freiheit. Signaltransduktion als Grundlage von Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 GERHARD ROTH Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . 149

II. Bedingungen und Konzeptionen von Freiheit KRISTIAN KÖCHY Selbstreferentialität. Die methodologischen Vorgaben der kognitiven Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem . . . . . 179

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Inhalt

MATHIAS GUTMANN Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung . . 209 JULIAN NIDA-RÜMELIN Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen . . . . 229 MICHAEL PAUEN Ursachen und Gründe. Zwei zentrale Begriffe in der Debatte um Naturalismus und Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 JULIAN NIDA-RÜMELIN Ursachen und Gründe – eine Replik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 GEERT KEIL Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung . . . . . . . . . . . . . 281 GEORG NORTHOFF Freiheit und Einbettung in die Umwelt – ein relationales neurophilosophisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 OLAF L. MÜLLER Die Diebe der Freiheit. Libet und die Neurophysiologen vor dem Tribunal der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

III. Natur- und Kulturgeschichte der Freiheit EVA-MARIA ENGELEN Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel . . . 367 BIRGIT RECKI Technik und Natur. Eine neue Dialektik der Aufklärung oder: Wie es der weißen Frau möglich wird, den Affen zu lieben . . . . 391 NORBERT MEUTER Natur und Kultur der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 MATTHIAS JUNG Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus . 435 VOLKER GERHARDT Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherung an eine Naturgeschichte der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486

Einleitung: Naturgeschichte der Freiheit JAN-CHRISTOPH HEILINGER Die Frage nach der Freiheit beschäftigt die Menschen schon lange. Dabei wird der Begriff Freiheit jedoch auf unterschiedliche Weise gebraucht. In einem Sinne ist Freiheit die Möglichkeit zur Selbstbestimmung unabhängig von dem Willen eines anderen. In einem anderen Sinne ist Freiheit die Möglichkeit, bestimmte Handlungen aus einem Spektrum von Optionen seinem eigenen Wunsch gemäß umsetzen zu können. In wieder einer anderen Hinsicht besteht Freiheit darin, dass wir unseren eigenen Willen selbständig formen und dass wir bei dieser Herausbildung unseres eigenen Willens nicht festgelegt sind. Die verschiedenen Verwendungen des Wortes Freiheit deuten darauf hin, dass es sich bei der Freiheit um ein Phänomen handelt, das nicht nur schwer zu erklären, sondern auch nicht leicht zu beschreiben ist. Erkennbar wird dies auch durch die zahlreichen Verbindungen, die das Wort Freiheit eingehen kann: Es wird von Willens- und Handlungsfreiheit, Herrschafts- und Gedankenfreiheit, von Freiheitsgraden, Freiheitsstrafe und Ellenbogenfreiheit gesprochen. In den Diskussionen der letzten Jahre wird ein besonderes Augenmerk auf die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen gerichtet. Dabei soll geklärt werden, ob unser Wille selbst – also unser handlungsleitendes Wollen und die eigenständige Entscheidungsfähigkeit – durch bestimmte Faktoren festgelegt ist oder ob wir selbst diejenigen sind, die unseren Willen bestimmen. Das Problem der Willensfreiheit ist jedoch kein neues und die aktuellen Debatten können auf Positionen zurückgreifen, die schon in der Antike vertreten wurden. Moritz Schlick klagt im Jahr 1930 angesichts der anhaltenden Diskussionen über die Willensfreiheit darüber, dass immer noch „soviel Papier und Druckerschwärze an diese Sache verschwendet werden“ und erklärt das Problem insgesamt für eine überflüssige „Scheinfrage“ (Schlick, 1930, 155). Dennoch ist es dem Menschen offenkundig immer wieder ein dringendes Anliegen, sich mit der Frage nach der eigenen Freiheit, nach der Freiheit seines Willens und der Möglichkeit der Freiheit seiner Handlungen, auseinanderzusetzen.

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In der Gegenwart erfährt die Diskussion um die Freiheit des Willens derzeit eine Herausforderung durch die jüngeren Einsichten der Genetik und der Neurowissenschaften. Die Gene und die neuronalen Verschaltungen in unserem Gehirn seien – so heißt es – dafür verantwortlich, dass aufgrund ihrer naturgesetzmäßigen Organisiertheit und Determiniertheit das Verhalten und auch der verhaltenssteuernde Wille der Menschen durch Gene und neuronale Prozesse determiniert seien. Unser Bewusstsein, unser Wollen und unser Verhalten seien durch die in unserem Körper, insbesondere dem Gehirn, ablaufenden Prozesse getragen und festgelegt. Auf diese Weise wird die Möglichkeit tatsächlicher menschlicher Freiheit und Verantwortung infrage gestellt. Häufig wird in den Debatten von einer recht einfachen Dichotomie ausgegangen: Auf der einen Seite wird behauptet, dass durch die neuen Einsichten aus Genetik und Neurowissenschaften die Möglichkeit der menschlichen Freiheit insgesamt hinfällig geworden sei, während andererseits die Ansicht vertreten wird, dass sich in den neuen experimentellen Ergebnissen kein Widerspruch zur Möglichkeit menschlicher Freiheit erkennen lasse. Während die einen Freiheit als eine Illusion zu entlarven versuchen, halten die anderen dafür, dass die subjektive Überzeugung, frei wollen und handeln zu können, durch die neuen Einsichten nicht gefährdet sei. Ausgehend von den Einsichten, die sich durch die neueren Untersuchungen und Experimente ergeben haben, wird bisweilen auch die Notwendigkeit eines neuen Menschenbildes gefordert. Wir seien nun, so heißt es, aus naturwissenschaftlichen Gründen genötigt, unsere „herkömmlichen Überzeugungen“ grundsätzlich zu hinterfragen und ggf. aufzugeben.1 Doch hier besteht noch Klärungsbedarf und schon die Fragen, was überhaupt genau ein Menschenbild ist und welches konkret unser herkömmliches Menschenbild ist, sind nicht eindeutig beantwortet. Die aktuellen Debatten haben bislang jedenfalls vor allem eines gezeigt: dass es dem Menschen immer noch ein Bedürfnis ist, Druckerschwärze für die ausführliche Diskussion dieser Frage zu verwenden. Ob die alte Frage nach der Möglichkeit und der Bestimmung menschlicher Freiheit damit ihrer Klärung näher gekommen ist, steht auf einem anderen Blatt. 1

In Deutschland haben vor allem Gerhard Roth (Roth, 2001, 2003) und Wolf Singer (Singer, 2003) zu den Debatten beigetragen – vgl. dazu überblicksartig Gehring, 2004. Die Diskussionen über die Freiheit des Willens, die auch in den Feuilletons geführt wurden, sind teilweise dokumentiert in Geyer, 2004.

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Die in diesem Band versammelten Beiträge verstehen sich nicht als bloße Fortführung der Debatten der letzten Jahre, sondern versuchen darüber hinaus einen anderen Ansatz. Hier wird nicht von einer einfachen Dichotomie ausgegangen, die entweder radikal für oder radikal gegen die Möglichkeit von Freiheit argumentiert. Stattdessen wird ein methodischer Pluralismus erprobt, in dem besonderes Gewicht auf einer evolutionären Theorieperspektive liegt.2 So kann ein gegebenes Phänomen – wie die menschliche, subjektive Erfahrung von Freiheit – als Ergebnis von Entwicklungen und Transformationen angesehen und verstanden werden. In diesem Licht erscheinen die radikal vorgebrachten Antworten, es gebe Freiheit, bzw. es gebe sie nicht, zu einfach: Ungleich interessanter ist es, in phylo- wie ontogenetischer Hinsicht den Bedingungen, Elementen und (Vor-)Formen dessen nachzugehen, was wir Menschen subjektiv als Freiheit erfahren und leben können. Insgesamt können damit auch – entgegen einer einfachen Dichotomie – verschiedene Grade von Freiheit anerkannt werden. Damit wird die Debatte um die menschliche Freiheit in den Kontext des Lebendigen und in den umfassenden Zusammenhang der Natur eingeordnet. Wenn es Freiheit gibt, muss gezeigt werden können, wie sie sich unter den Bedingungen der Natur entwickelt hat und wie sie unter den Gesetzmäßigkeiten der Natur bestehen kann. Gelingt es, die Eigenständigkeit lebendiger Systeme in ihrer spezifischen Gesetzmäßigkeit genauer zu fassen, wäre es in der Folge möglich, die Selbstorganisation des Lebendigen mit der Selbstbestimmung gesellschaftlich handelnder Personen behutsam zu parallelisieren. Auf diesem Wege kann eine Annäherung biologischer und sozialer Beschreibungsverfahren erzielt werden. So ließe sich die (sich stets in sozialer Selbstbestimmung äußernde) menschliche Freiheit als eine irreduzibel komplexe Form lebendigen Verhaltens ausweisen. Damit hätte die Freiheit einen Ort in der Evolution des Lebens. Das Ergebnis einer solchen Untersuchung ließe sich dann als „Naturgeschichte der Freiheit“ bezeichnen. Darauf abzielend sind die hier versammelten Beiträge von einer besonderen Breite. Der jüngste Streit über die menschliche Willensfreiheit wurde im Wesentlichen zwischen Neurowissenschaftlern und Philosophen, gelegentlich auch unter Einbeziehung von Juristen und Theologen ausgefochten. Aus der systematischen Perspektive einer 2

Mit Blick auf die Evolution des Bewusstseins hat Merlin Donald einen ähnlichen Versuch unternommen (Donald, 2002). Untersuchungen zur Evolution der Freiheit finden sich außerdem bei Daniel Dennett (bes. Dennett, 2003).

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„naturgeschichtlichen“ Betrachtung erweist sich aber die Beschäftigung mit verschiedenen Entwicklungsstufen des Lebens, die über die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Gehirn hinausgeht, als fruchtbar und notwendig. Sie kann nicht allein von den Neurowissenschaften geleistet werden. So wird hier – neben den wichtigen Beiträgen aus der Neurobiologie, den Kognitionswissenschaften und der Philosophie – ein besonderes Augenmerk auf Formen der Verhaltenssteuerung und Entscheidung bei „niederen“ Organismen und (nicht-menschlichen) Tieren gelegt. Dies ist mit der Überzeugung verbunden, etwas über die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten in Erfahrung bringen zu können. Allerdings wird nicht allein die naturwissenschaftliche Grundlage des Phänomens Freiheit erläutert, es werden vielmehr auch Überlegungen über die sozialen und kulturellen Kontexte und Bedingungen von Freiheit in die Diskussion einbezogen. Auf diese Weise soll die enge Fokussierung auf ein vermutetes Primat der Neurowissenschaften zur Erklärung der Willensfreiheit aufgebrochen werden. Der „Tyrannei des Mikroskopischen“3 wird so der größere Zusammenhang der Natur gegenübergestellt. Damit bietet der vorliegende Band keine Wiederholung geführter Diskussionen über die menschliche Willensfreiheit. Er ist auch nicht als Kommentar zu einer älteren Debatte zu verstehen, sondern ordnet die Freiheitsfrage in einen neuen, wesentlich erweiterten Kontext ein. Angelegt ist vorliegender Band als ein Beitrag zu einem umfassenden Verständnis von Freiheit – im Rahmen der Natur und nicht im Gegensatz zu ihr. Das übergreifende Ziel der Arbeit an einer Naturgeschichte der Freiheit besteht darin, etwas zur Verständigung über die Stellung des Menschen im Zusammenhang der Natur beizusteuern, indem die Erkenntnisse verschiedener Wissenschaften in Bezug auf ihre Bedeutung für den Menschen analysiert, kritisch hinterfragt und substantiell ausgewertet werden. Dem Anliegen der Schriftenreihe „Humanprojekt“ gemäß – nämlich angesichts der neuen Erkenntnisse der Wissenschaften die Stellung des Menschen in der Natur zu bestimmen – ist die Beschäftigung mit der Naturgeschichte der Freiheit somit ein erster Schritt.

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John Dupré spricht von einer „tyranny of the microscopic“ und argumentiert vehement gegen einen „imperialistic scientism“ (Dupré, 2001, 109).

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Freiheit als Problem Die Verständigung darüber, was als Freiheit bezeichnet werden soll, stellt die erste wichtige und keineswegs einfache Herausforderung disziplinärer wie interdisziplinärer Arbeit dar. Die vielfältige Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Kontexten – genannt wurden schon Willens- und Handlungsfreiheit, Herrschafts- und Gedankenfreiheit, Freiheitsgrade etc. – zeigt dies deutlich an. Zugleich lässt sich erkennen, dass Freiheit in einem starken, auf Menschen anwendbaren Sinn kein genuiner Begriff der Naturwissenschaften ist. Einige grundlegende Unterscheidungen werden hier vorgestellt, um in das Problem einzuführen, auch wenn die Debatten mittlerweile einen Komplexitätsgrad erreicht haben, der jede Übersicht verkürzt erscheinen lässt. Eine erste Unterscheidung innerhalb der philosophischen Debatten über die menschliche Freiheit liegt darin, dass die Handlungsfreiheit von der Willensfreiheit geschieden wird. Diese Abgrenzung ist deshalb besonders wichtig, weil sich hier häufig Verwechslungen auftun. Handlungsfreiheit besteht, kurz gesagt, darin, dass wir – frei – tun können, was wir tun wollen, wohingegen Willensfreiheit sich darin äußern soll, dass wir auch unser eigenes Wollen frei bestimmen können. Diese Unterscheidung ist seit langem im Umlauf, wird aber trotzdem immer wieder missachtet. Beide Formen der menschlichen Freiheit seien hier kurz gesondert eingeführt und diskutiert. Handlungsfreiheit betrifft die natürliche und soziale Umwelt des Individuums. Ob ein Individuum eine bestimmte Handlung ausführen kann oder nicht, ob die Lebenswelt dem Individuum Widerstand und Hindernis ist oder stattdessen eine bestimmte Handlung erlaubt oder sogar unterstützt, ist eine Frage der Handlungsfreiheit. So ist eine Gefangene per definitionem nicht handlungsfrei zu gehen, wohin sie möchte. So bin ich auch nicht handlungsfrei in meiner Handlungsabsicht, Berge zu versetzen oder mich unsichtbar zu machen. Handlungsfreiheit ist also in besonderem Maße situations- und kontextabhängig und betrifft damit die Strukturen der Realität, die uns umgibt, in sozialer, materialer und logischer Hinsicht. Die Willensfreiheit hingegen betrifft nicht die Ebene der das Individuum umgebenden Realität, sondern das Individuum selbst. Die Frage, ob der Mensch Willensfreiheit hat, lässt sich unabhängig davon beantworten, ob der Mensch in einem engen Gefängnis gehalten wird und mit seiner Handlungsabsicht, Berge zu versetzen, an Grenzen stößt. Vielmehr geht es um die Frage, ob der Wille selbst – also das hand-

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lungsleitende Wollen sowie die Entscheidungsfähigkeit – frei oder innerhalb bestimmter Grenzen festgelegt und determiniert ist, so dass unser subjektives Empfinden von Freiheit lediglich eine Illusion darstellt. Die aktuellen Debatten über die Freiheit des menschlichen Willens gehen von einer bestimmten Interpretation neuerer Erkenntnisse der Naturwissenschaften aus, die als Herausforderung für die Existenz von menschlicher Willensfreiheit angesehen wird. Diese beruht auf der heute weitgehend unstrittigen Einsicht, dass mentale Zustände auf materialen (Gehirn-) Zuständen basieren. Die Herausforderung für die menschliche Willensfreiheit ergibt sich dann aus zwei einander scheinbar widersprechenden Aussagen: 1. Das menschliche Wollen ist nicht festgelegt, sondern wird vom Wollenden selbst bestimmt. 2. Das menschliche Wollen basiert auf Gehirnzuständen, und das Gehirn ist Teil der naturgesetzmäßig bestimmten (determinierten) Welt. Die beiden Aussagen werden in einen Gegensatz zueinander gebracht: Wenn Naturgesetzmäßigkeiten die Abläufe im Gehirn steuern, gebe es keinen Raum mehr für die Selbstbestimmung, die Autonomie und die subjektive Verantwortung des Individuums. Das subjektive Gefühl der Freiheit ist in diesem Verständnis bestenfalls eine Illusion. Exemplarisch verdeutlicht wird dies zumeist anhand der von Benjamin Libet erstmals bereits im Jahr 1983 publizierten Experimente.4 Libet untersuchte die zeitlichen Verhältnisse zwischen (1) dem Moment, in dem sich ein Individuum für eine Bewegung entschied (hier das Drücken eines Knopfes), (2) der Zeitdauer der Übermittlung des Nervensignals vom Gehirn an die Muskeln und (3) dem Zeitpunkt, zu dem die Bewegung ausgeführt wurde. Während man intuitiv wohl den Ablauf der drei Elemente in der genannten Reihenfolge erwarten würde, konnte Libet zeigen, dass bereits vor dem subjektiv erlebten Moment der Entscheidung für eine Handlung die Übermittlung des Nervensignals vom Gehirn schon vorbereitet und eingeleitet worden war. Die gemessenen Hirnaktivitäten (das sogenannte Bereitschaftspotential) gingen dem subjektiv gewahrten Willensentschluss im Durchschnitt um ca. 300 Millisekunden voraus. 4

Vgl. dazu Libet et al., 1983, und Libet, 1985, 2005.

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In einer die Debatten dominierenden Interpretation der Libet-Experimente werden diese immer wieder herangezogen, um die subjektiv erfahrene Freiheit als eine Illusion darzustellen und damit die Möglichkeit menschlicher Freiheit insgesamt zu bezweifeln. Wenn das Gehirn unabhängig vom Bewusstsein schon vor der bewusst getroffenen Willensentscheidung eine Handlung eingeleitet habe, so lautet die vorherrschende Interpretation dieser Experimente, könne unmöglich der eigene Willensentschluss die Ursache der Handlung sein. Diese Experimente könnten daher zeigen, so wird weiter behauptet, dass die bewusste Entscheidung für eine Handlung an der Auslösung der Handlung nicht beteiligt sei, sondern diese lediglich begleite.5 Weil im Gehirn aber alles „mit rechten Dingen“ zugehe, also gemäß den Naturgesetzen, zeige dies deutlich, dass das Gefühl von menschlicher Freiheit lediglich eine Illusion darstelle. Doch die Verteidiger der Freiheit haben Gegenargumente gegen diese Deutung der Libet-Experimente vorgebracht, die insgesamt die These von der Unvereinbarkeit menschlicher Freiheit mit naturgesetzmäßigen Zusammenhängen infrage stellen. Damit wird keineswegs die Gültigkeit der Experimente und der naturwissenschaftlichen Untersuchungen bezweifelt. Diese sind nicht unbedingt falsch, vermutlich aber schlichtweg unvollständig zur Untersuchung der menschlichen Freiheit. Diese Vermutung basiert auf dem Zweifel daran, dass eine derart einfache Versuchsanordnung etwas so Komplexes wie die Freiheit auf angemessene Weise untersuchen kann. Im Folgenden werden kurz vier Klassen von Gegenargumenten angesprochen. Diese kritisieren die Versuchsanordnungen und einfachen Interpretationen der Versuchsergebnisse und zielen damit darauf ab zu zeigen, wie menschliche Freiheit gerade unter den Bedingungen der Natur und ihrer Gesetzmßigkeit möglich ist und sich wirklich entwickeln konnte. a) Was ist ein Naturgesetz, wie (streng) gelten Naturgesetze? Naturgesetze werden heute selbst von Physikern nicht mehr als unumstößliche ewige Zwänge angesehen, sondern gelten lediglich unter ceterisparibus-Bedingungen und als Probabilitätsgesetze.6 So zeigt etwa das 5

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Libet räumt dem Bewusstsein allerdings eine Art „Veto-Funktion“ ein, eine vom Gehirn eingeleitete Handlung noch zu stoppen. Damit wird deutlich, dass Libets eigene Interpretation seiner Experimente nicht auf eine grundlegende Leugnung der Willensfreiheit abzielt. Nancy Cartwright (Cartwright, 1983) hat überzeugend dafür argumentiert, dass einfache physikalische Gesetze – beispielsweise das Gesetz der Gravitation – nur

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so genannte Drei-Körper-Problem, dass selbst eine recht einfache Versuchsanordnung keine präzisen Vorhersagen über zukünftige Zustände des Systems erlaubt. Schon damit kann die Möglichkeit einer einfachen gesetzmäßigen Bestimmung und Determination menschlichen Verhaltens ausgeschlossen werden. b) Lassen sich lebendige Organismen unter gesetzmßige Beschreibungen fassen oder verlangt das Leben nach einer anderen Beschreibungsweise? Für Organismen, selbst für einfache Organismen, lassen sich die Ausgangsbedingungen gar nicht herstellen, die für eine einheitlich gesetzmäßige Bestimmung der ablaufenden Vorgänge notwendig wäre. In einem Organismus sind Ursache und Wirkung aufgrund des hyperkomplexen Zusammenspiels vielfältigster Abläufe gar nicht hinreichend voneinander zu unterscheiden, um die Rede von einer einfachen Verursachung zu rechtfertigen.7 Lebendiges verfügt über eine Eigendynamik, über Spielräume variabler Reaktion, die sich in Selbstorganisation und Spontaneität Ausdruck verleiht.8 c) In welchem Zeitrahmen finden freie menschliche Willensentscheidungen statt? Genuine menschliche Entscheidungen, über deren Freiheit wir befinden wollen, finden nicht innerhalb von Sekunden oder Millisekunden statt, sondern innerhalb von Minuten, Stunden oder noch längeren Zeiträumen. Die Reduktion einer komplexen menschlichen Entscheidungskette auf ein einzelnes Glied entspricht zwar den in Laboratorien untersuchbaren Einheiten, ist jedoch der Komplexität menschlichen Handelns und Verhaltens schlichtweg nicht angemessen.9 d) Was genau untersuchen die Libet-Experimente? Insgesamt muss sogar bezweifelt werden, ob mit der gesamten Versuchsanordnung Libets tatsächlich etwas über den freien Willen in Erfahrung gebracht werden

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unter strengen ceteris-paribus-Bedingungen zutreffen. Diese Bedingung ist jedoch nicht erfüllbar. Also sind wir weit davon entfernt, die universelle Wahrheit dieser physikalischen Gesetze anzuerkennen, vielmehr erweisen sie sich – wie Cartwright pointiert feststellt – generell als falsch. Fundamentale theoretische Gesetze treffen bestenfalls auf Modelle zu. Vgl. zur Diskussion dieser Ansicht im Zusammenhang von Handeln und Verursachen Keil, 2000. Zur Diskussion über den Status von Naturgesetzen vgl. Hampe, 2005. Auch die Rede von der „causal completeness“ stellt hier keine angemessene Alternative dar. Vgl. dazu Dupré, 2001, 154–187. Vgl. dazu Gerhardt, 1999, 148–186 und Dupré, 2001, 13. Anschauliche Beispiele finden sich in der Literatur. Bieri (Bieri, 2001) diskutiert das Freiheitsproblem etwa anhand des Protagonisten aus Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“, Raskolnikow. Vgl. auch Donald, 2002, 46–91.

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kann. Die Ausführung einer Handlung (das Drücken eines Knopfes) in dem Moment, wenn eine Person „den Drang“ („the urge“) dazu verspürt – diese Formulierung findet sich bei Libet –, ist schließlich gerade keine Handlung aufgrund einer freien Willensentscheidung. Tatsächliche willentliche Handlungen basieren nicht auf einem empfundenen Drang, sondern auf Gründen.10 Hier scheint ein grundlegendes Missverständnis vorzuliegen, was überhaupt mit „Wille“ gemeint sein kann. Die Reduzierung des Willens auf den „Drang“ (dessen zeitliches Auftreten im Experiment gemessen und in Bezug zum Auftreten des Bereitschaftspotentials und zur Ausführung der Handlung gesetzt wird) verfehlt jedenfalls das grundlegende Problem. Man könnte also vermuten, dass die einzige Handlung, in der die Freiheit oder Unfreiheit des Willens der Versuchsteilnehmer zum Ausdruck kommen konnte, darin bestand, an dem Experiment überhaupt teilzunehmen. Trotz dieser Kritikpunkte hat sich im Anschluss an die Libet-Experimente und ihre neueren Wiederholungen11 eine fruchtbare Debatte entsponnen, die Erkenntnisse über diejenigen Abläufe im Gehirn zutage gefördert hat, die bei der Handlungs- und Verhaltenssteuerung eine Rolle spielen. Die Beweiskraft der Experimente muss jedoch kritisch beurteilt werden: Für eine definitive Widerlegung der Willensfreiheit sind sie ungeeignet. Das Problem der Freiheit – das ergibt sich aus dem bisher Gesagten – lässt sich nicht auf einzelne Abläufe im Gehirn, wie etwa das experimentell untersuchte Bereitschaftspotential, herunterbrechen. Bei einer angemessenen Untersuchung des Phänomens muss daher stets der Kontext eines funktionstüchtigen Systemzusammenhangs berücksichtigt werden. Zwischen der Scylla der Determination und der Charybdis der Zufälligkeit hindurch wird nach Abläufen in der Natur zu suchen sein, die – unter den Bedingungen der Natur – lebendigen Organismen Spielräume eröffnen, innerhalb derer sie sich aus eigenem Impuls verhalten können. Sollten sich solche finden lassen, wäre damit auch ein Verständnis von menschlicher Freiheit als Selbstbestimmung aufgrund eigener Gründe ohne Widerspruch zum Ganzen der Natur verständlich. Mit der Kritik an den Libet-Experimenten wurde jedoch noch keine positive Argumentation fr eine solche Möglichkeit von 10 Die Ansicht, dass in den Libet-Experimenten Gründe nicht gemessen würden, vertritt auch Lutz Wingert (Wingert, 2004). 11 Die neueren Wiederholungen der Libet-Experimente durch Haggard/Eimer, 1999, wurden viel diskutiert.

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(menschlicher) Freiheit geliefert. Diese soll mit der Rekonstruktion einer Naturgeschichte der Freiheit, die die Bedingungen des Lebens berücksichtigt, versucht werden.

Naturgeschichte und Geschichte der Natur Der Begriff Naturgeschichte ist kein geläufiger Terminus in den Debatten über die Freiheit des menschlichen Willens. Daher muss erklärt werden, in welcher Hinsicht er hier verwendet wird. Mit Blick auf den üblichen Gebrauch des Begriffs Naturgeschichte lassen sich zwei Aspekte erkennen, die für unsere Vorgehensweise von Belang sind (Kambartel, 1984). Zum einen versteht man unter Naturgeschichte die Entwicklung der Phänomene, die als Natur bezeichnet werden. Auch wenn der Begriff der Natur seinerseits facettenreich und notorisch schwer zu definieren ist,12 lassen sich darunter weitgehend unkontrovers in einem umfassenden Sinne der Kosmos, die Erde und das Leben fassen, deren Entstehung und Entwicklung aus der Perspektive der Naturgeschichte untersucht werden. Besondere Aufmerksamkeit erfährt in diesem Zusammenhang die Entwicklung des Lebens auf der Erde, dessen Naturgeschichte seit Darwin als Evolution bezeichnet werden kann. Dieser erste Aspekt stellt somit die Entwicklungsdimension der Natur in den Mittelpunkt. Der zweite Aspekt des Begriffs Naturgeschichte ist heute geläufig, wenn man an die Museen für Naturgeschichte oder Naturkunde wie etwa das Londoner Natural History Museum denkt. Hierunter verbergen sich vor allem klassifizierende Sammlungen, die die zahlreichen Phänomene, die sich in der Natur finden lassen, ordnen und vorstellen. Selbst wenn der Biologie – mit Botanik und Zoologie – eine prominente Stellung in diesem Zusammenhang zugesprochen werden kann, beteiligten sich auch zahlreiche andere Disziplinen an diesem Geschäft: Geologie, Mineralogie, Paläontologie, aber auch Astronomie und Physik. Dieser zweite Aspekt des Begriffs Naturgeschichte basiert auf einer langen Tradition, die sich auf den ursprünglichen griechischen Gebrauch des Wortes Rstoq_a (historia) zurückführen lässt. Dieser stand nämlich weniger für eine Darstellung der in der Zeit geordneten Abläufe und Entwicklungen, sondern vielmehr für die bloße Beschrei12 Die Probleme, die mit der Definition des Begriffs der Natur und dem Konzept der Natürlichkeit verbunden sind, behandelt Birnbacher, 2006.

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bung, die Sammlung und das Berichten von Phänomenen. Dabei spielten Begründungen und Erklärungen eine gänzlich untergeordnete Rolle.13 Diese beiden Aspekte des Begriffs Naturgeschichte zeigen in ihrer sachlichen Zusammengehörigkeit an, in welche Richtung auch unser Vorhaben zielt: Mit der Absicht, die Entwicklung und die tatsächliche Bestimmung eines ausgezeichneten menschlichen Charakteristikums – das wir am eigenen Leib erfahren und als Freiheit bezeichnen – zu verstehen, werden daher in methodischer Hinsicht phänomennahe differenzierte Beschreibungen ebendieser Entwicklung in ihren verschiedenen Stadien herangezogen. In der Überzeugung, dass der Mensch auch mit seinen besonderen Eigenschaften ein lebendiges Naturwesen unter anderen lebendigen Wesen ist, ist mit der Betrachtung der Entwicklung des Lebendigen die Hoffnung auf mögliche Erklärungen spezifisch menschlicher Eigenschaften verbunden.

Naturgeschichte der Freiheit Der methodische Ausgangspunkt einer derart verstandenen Naturgeschichte ermöglicht es, die Debatten über die Freiheit des Willens aus dem Korsett neurowissenschaftlicher Experimente zu befreien, die häufig auf einem zu engen Verständnis der Beweiskraft von Kausalerklärungen beruhen.14 Schließlich wird mit der Freiheit ein Phänomen untersucht, das gar nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern nur unter Berücksichtigung eines ganzen Organismus, der sich in einer sozialen und natürlichen Umwelt orientieren und verhalten muss, überhaupt angemessen beschrieben werden kann.15 Die Blickerweite13 Vgl. die voluminöse „Historia naturalis“ von Plinius d. Ä., entstanden um 79 n. Chr., eine eindrucksvolle Sammlung und Zusammenfassung des naturwissenschaftlichen Wissens der Antike mit enzyklopädischem Anspruch (Plinius d. Ä., Hist. nat.). 14 Gegen ein solches Verständnis von Kausalerklärungen vertritt Dupré – im Anschluss an Cartwright, 1983 – überzeugend die These: „a reasonable metaphysics of causality presents no special difficulties for the idea of human autonomy“ (Dupré, 2001, 177). 15 Auch innerhalb der Neuro- und Kognitionswissenschaften gewinnt die Einsicht an Bedeutung, dass eine rein computationale Analyse der im Gehirn ablaufenden Prozesse unzureichend ist. So wird die Auseinandersetzung mit dem Konzept embodied embedded cognition (EEC) zunehmend wichtiger – aufschlussreich dazu Anderson, 2003, 2007, i. Ersch. Wenn sich diese Einsicht nun

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rung auf den Kontext – den physischen Organismus als Kontext der neuronalen Abläufe und die soziale wie physische Umwelt als Kontext des interagierenden Organismus – erlaubt „in naturgeschichtlicher Absicht“ eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Phänomen Freiheit: Freiheit wird nicht allein im menschlichen Gehirn gesucht, sondern die Umstände und Bedingungen, die Freiheit allererst ermöglichen, werden auch dort aufgespürt und untersucht, wo sie noch nicht in der weiter entwickelten Form menschlicher Freiheit vorliegen. Freiheit in diesem Sinne bezieht sich somit weniger auf die Möglichkeit, dass ein Individuum auch anders hätte handeln können. Vielmehr geht es hier um die Möglichkeit von Autonomie, verstanden als diejenige Form von Selbstbestimmung, die es erlaubt, ein handelndes Individuum (den „Agent“) in einem starken Sinn als Urheber einer Handlung anzusehen. Der Mensch als ein lebendiges und soziales Wesen wird dementsprechend seine Freiheit nicht durch Analysen des Gehirns allein verstehen lernen, sondern – wenn überhaupt – nur durch transdisziplinäre Untersuchungen, die einen Bogen vom Gehirn als einem Organ eines ganzen Organismus, der in Kontexte eingebunden ist, hin zu psychologischen und historisch-soziologischen Analysen spannen. Dies erklärt, warum auf der Suche nach einer Naturgeschichte der Freiheit auch schon evolutionäre Entwicklungsschritte der Phylogenese des Menschen in den Blick zu nehmen sind, etwa indem im Tierreich oder bei anderen Erscheinungen von Lebendigem nach Elementen und Bedingungen von Freiheit gesucht wird. Damit ist eine Konzeption von Freiheit angestrebt, die davon ausgeht, dass Freiheit nicht unabhängig von der Umwelt in absoluter Reinform vorliegen kann, sondern ein graduierbares Phänomen ist, dessen Grade jedoch – auch empirisch – untersucht und bestimmt werden können.16 In gewisser Hinsicht ließe auch auf der Ebene der neuronalen Prozesse durchsetzt, gilt sie umso mehr für den ganzen Menschen: Ausgehend von „the fundamental biological fact that Homo sapiens is a social animal“ führt Dupré aus: „the causal capacities most characteristically and uniquely human are capacities that derive not solely from the internal structure of humans, or human brains, but that depend essentially on the relationship between an individual and society“ (Dupré, 2001, 181). 16 Dies gilt nicht nur für die Sphäre der Natur, sondern insbesondere für die lebensweltliche Sphäre menschlichen Handelns: „Wir sind […] in unseren lebensweltlichen Zuschreibungen von Rationalität, Freiheit und Verantwortung Gradualisten, es gibt ein Mehr oder Weniger an Rationalität, Freiheit und Verantwortung.“ (Nida-Rümelin, 2005, 186).

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sich vorsichtig von einer Art „Baustein-Theorie“ der Freiheit reden, wobei jedoch zu betonen ist, dass sich in jedem Organismus der Grad seiner Freiheit nicht allein aus der additiven Zusammenführung seiner Teile erklären lässt. Selbst wenn Elemente der Freiheit individuell erkannt werden können, bedarf es immer des Zusammenspiels derselben in einem komplexen Organismus, der auf vielfältige Weise mit seiner Umwelt interagiert. Doch zum Verständnis der stärker ausgeprägten Formen von Freiheit ist es erhellend, die weniger ausgeprägten Formen und ihre zugrunde liegenden und ermöglichenden Elemente zu untersuchen. Dieser Ansatz rechtfertigt, ja erzwingt ein vielfältiges Vorgehen und integriert unterschiedliche Methoden. Begriffliche Analysen, etwa solcher Termini wie „Ursache“, „Grund“ und „Motiv“, helfen, Klarheit über den Untersuchungsgegenstand zu erlangen. Studien mit Primaten oder anderen Lebewesen tragen dazu bei, das Zusammenspiel verschiedener Faktoren in einem Organismus – auf materialer und kognitiv-mentaler Ebene – zu untersuchen. Und auch die Untersuchung einzelner Zellen, die etwa in neuronalen Netzen organisiert sind, oder die Betrachtung der Abläufe innerhalb einzelner Zellen vermögen zur Klärung des Untersuchungsgegenstandes beizutragen. Mit der Naturgeschichte der Freiheit wird jedoch insgesamt gegen jede mögliche Bevorzugung einer einzigen Vorgehensweise argumentiert und darauf hingewiesen, dass erst unter Einbeziehung aller genannten Perspektiven eine den Phänomenen angemessene Untersuchung überhaupt möglich ist. Das Problem der Freiheit lässt sich nicht alleine in den Domänen der Philosophie oder der Naturwissenschaften verorten, es übergreift alle Disziplinengrenzen. Freiheit betrifft den Menschen als Ganzen und berührt damit alle Wissenschaften, die für das Selbstverständnis des Menschen von Bedeutung sind. Der Versuch der Rekonstruktion einer Naturgeschichte der Freiheit stellt somit ein umfassendes und interdisziplinäres Unterfangen dar, zu dem hier ein Beitrag geleistet werden soll. Der methodisch angemessene, weitere Blick, der hier mit dem Stichwort ,Naturgeschichte‘ bezeichnet werden soll, betrachtet Freiheit als ein Phänomen, das sich entwickelt hat und das über mentale wie materiale Dimensionen gleichermaßen verfügt. Damit werden sowohl dualistische als auch monistische oder reduktionistisch orientierte Positionen abgelehnt. Naturalisierungsversuche sind durchaus heuristisch angebracht und tragen viel zum Verständnis bei – freilich dürfen dabei keine relevanten Differenzierungen gänzlich verloren gehen. Die

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Grenzen des Naturalismus liegen im „Aufweis der Irreduzibilität bestimmter semantischer Gehalte“ (Keil, 1993, 15). Tatsächliches Verstehen eines humanen Phänomens, etwa der Freiheit, kommt in dieser Hinsicht nicht um einen epistemologischen Perspektivenpluralismus umhin, der die mentale und die materiale, aber auch die soziale und kulturelle Dimension gleichermaßen in den Blick zu nehmen vermag. So kann die offenkundig eigene Dynamik des Lebendigen, und insbesondere diejenige der menschlichen Existenz, akzeptiert und adäquat analysiert werden. Somit besteht auch kein bisweilen vermuteter Widerspruch zwischen Naturalismus und Humanismus.17 Vielmehr kann mit Blick auf das spezifisch Menschliche die Stellung des Menschen in der Natur untersucht und bestimmt werden.

Übersicht über die Beiträge Empirie und Kausalität Eröffnet wird der Band von zwei programmatischen Beiträgen aus biologischer Perspektive zur Rolle der Kausalitt in den Lebenswissenschaften. Eingangs hinterfragt Jens Reich die Bedeutung des Anspruchs kausaler Erklärungen in der Biologie. Kausalität und Determiniertheit sind zwar wichtige heuristische Mittel, die in biologischen Experimenten großen Erkenntnisgewinn herbeiführen können. Gleichwohl muss ihr Erklärungsanspruch begrenzt werden und darf nicht zu einem „metaphysischen Postulat“ werden. Mit Blick auf die Debatten um die menschliche Willensfreiheit und auf eine angemessene Untersuchung des Bereichs des Lebendigen offenbaren sich die Beschränkungen kausaler Erklärungen. Hier sind aufgrund der Hyperkomplexität der untersuchten Prozesse und Organismen mit bestimmten (mentalen) Eigenschaften kausale Erklärungsmuster schlichtweg unzureichend. Damit ist eine zentrale Fragestellung des vorliegenden Bandes aufgezeigt: Wie lassen sich mit den Methoden der exakten Naturwissenschaften die Vorgänge des Lebendigen überhaupt angemessen beschreiben? Ein gut konzipiertes Experiment treibt jedenfalls, so Jens Reich, „dem Leben das Leben aus“. 17 Darauf hat auch Nida-Rümelin deutlich hingewiesen (Nida-Rümelin, 2006, bes. 28–35).

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Andreas Herz unterzieht in seinem Beitrag die These vom „neuronalen Determinismus“, mit dem die Behauptung der Unmöglichkeit von Willensfreiheit gestützt werden soll, einer kritischen Überprüfung. Zentrale Eigenschaften neuronaler Prozesse – insbesondere ihre Stochastizität – führen ihn zu der Gegenthese, dass die Dynamik des Gehirns insgesamt mit dem neuronalen Determinismus inkompatibel ist. Dies erlaubt die Einschätzung, dass es für Organismen von Vorteil sein kann, die Stochastizität neuronaler Dynamik zum Erschließen neuer und besserer Handlungsoptionen zu nutzen. Eine kognitive Strategie, die sich auf diese Weise im Verlauf der Evolution entwickelt hat, empfinden wir subjektiv als Willensfreiheit. Anschließend an diese theoretischen Klärungen werden empirische Naturforschungen in den Blick genommen. Martin Heisenberg reflektiert über die Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung. Damit greift er die These der kausalen Unterbestimmtheit der Welt auf, ohne daraus eine Verletzung der Physik abzuleiten. Vielmehr postuliert Heisenberg die Existenz der Freiheit als Tatsache, an der Lebewesen „mehr oder weniger“ Anteil haben können. Dies veranschaulicht er anhand der Verhaltensbiologie der Tiere, wo sich Freiheit als wesentliches Element des Verhaltens in Form eines hohen Autonomiegrades schon bei niederen Tieren zeigen kann. In dieser Hinsicht ist Freiheit eine Eigenschaft eines bestimmten Zustandes, den wir Lebewesen zuschreiben können. Mit Blick auf die Freiheit genannte Qualität menschlichen Verhaltens untersucht Heisenberg die Aspekte Urheberschaft und Entscheidung anhand der Fliege Drosophila. Giovanni Galizia wendet sich nach einem Hinweis auf typische Schwierigkeiten interdisziplinärer Arbeit und einem Plädoyer für einen vorsichtigen Begriffsgebrauch zwischen den Wissenschaften der Bestimmung von Kompetenzen und Grenzen der Neurowissenschaften zu. Dabei stellt er fest, dass sich zwar einzelne (freie) Entscheidungen einer naturwissenschaftlichen Erklärung entziehen, dass aber die zugrunde liegenden Mechanismen sehr wohl einen wichtigen Gegenstand der Neurobiologie darstellen. Im Folgenden widmet er sich der Frage, wie Tiere Entscheidungen treffen und veranschaulicht seine Überlegungen anhand von Experimenten mit Bienen, in denen diese ein bestimmtes Verhalten erlernen. Mit Blick auf die problematische Frage nach dem Bewusstsein bei Tieren weist Galizia auf grundlegende Schwierigkeiten mit diesem Phänomen hin: Bewusstsein ist weder an einen bestimmten Zeitpunkt noch an einen bestimmten Ort gebunden

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und daher naturwissenschaftlich schwer zu untersuchen. Gleichwohl plädiert er für die Annahme menschlicher Willensfreiheit. Der Rolle des impliziten Wissens bei Entscheidungen geht Randolf Menzel nach. Untersucht werden in diesem Zusammenhang die Verbindung zwischen implizitem und explizitem Wissen sowie die Organisationsformen impliziten Wissens und die Auswirkungen desselben auf die Verhaltenssteuerung. Eine zentrale Rolle spielt hier das Arbeitsgedächtnis, dessen drei wesentliche Funktionen – Prädiktion, Selektion und Entscheiden – von Menzel unter Berücksichtigung der ihnen zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen analysiert werden. Auf dieser Basis zeigt Menzel, dass die „Reichhaltigkeit und Komplexität der nicht bewusst werdenden Gehirnaktivitäten“ Raum für das Gefühl einer bewussten und freien Willensentscheidung bestehen lassen. Dieses Gefühl gründet somit gerade in der Unkenntnis der implizit ablaufenden Operationen. Dennoch gilt es, die gegenwärtigen Grenzen der Erkenntnis zu respektieren. Bevor die Biologie zu einem abschließenden Urteil hinsichtlich der Frage der Willensfreiheit kommen kann, muss sie sich weiterhin mit der Suche nach den proximaten und ultimaten Ursachen von Wille und Freiheit befassen. Julia Fischer thematisiert in ihrem Beitrag die Frage, ob Tiere nicht nur kognitive Fähigkeiten zeigen, sondern darüber hinaus auch über Metakognition verfügen, also Wissen über das eigene Wissen (und das Wissen anderer) haben. Während heute allgemein angenommen wird, dass Tiere über kognitive Fähigkeiten verfügen, sind Studien über die Fähigkeit zur Metakognition noch recht selten. Für den Versuch, eine Naturgeschichte der Freiheit nachzuzeichnen, spielt Fischers Hinweis auf die evolutionären Ursprünge der Metakognition eine wichtige Rolle. In Auseinandersetzung mit aktuellen Studien über metakognitive Fähigkeiten bei Delphinen und Primaten und über die Verbindung von Metakognition mit exekutiven Kontrollprozessen bei Tieren (etwa selektive Aufmerksamkeit, Entscheidungen in Konfliktsituationen, Fehlerüberwachung und Impulskontrolle) kommt Fischer zu dem Schluss, diese ermöglichten differenziertere Verhaltenssteuerung und damit „womöglich auch größere Freiheitsgrade im Verhalten“. Somit trägt die Untersuchung der Metakognition bei Tieren zum Verstehen (evolutionär) zunehmender Freiheitsgrade bei. Michael Stadler geht auf die Experimente von Benjamin Libet aus dem Jahr 1983 (und ihre neueren Wiederholungen) ein und unterzieht ihren Erklärungsanspruch einer kritischen Prüfung. Dabei stellt er fest, dass vor allem aufgrund der problematischen Vermischung von physi-

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kalischer und subjektiver Zeit, die über eine unterschiedliche Struktur verfügen, der Geltungsanspruch der Experimente infrage gestellt werden muss. Dagegen konzipiert Stadler ein den Libet-Experimenten ähnliches Experiment, das aber auf die subjektive Zeitmessung verzichtet und von einem umfassenderen psychophysischen Ansatz ausgeht. Hierbei konnte eine Überlagerung des negativen Bereitschaftspotenzials durch ein positives ereigniskorreliertes Potenzial nachgewiesen werden. Ein Hinweis auf das zentralnervöse Biofeedback zeigt darüber hinaus noch die Möglichkeit einer intraphänomenalen Beeinflussung zentralnervöser Vorgänge an, die in Libets Experimenten ebenfalls nicht hinreichend berücksichtigt worden waren. Für die Frage nach der Verantwortlichkeit für Handlungen haben die Libet-Experimente und ihre neueren Ergänzungen zu einer differenzierteren Betrachtung geführt, keinesfalls aber wird mit ihnen die Verantwortung des Menschen für seine Handlungen unter Berufung auf die im Gehirn ablaufenden Prozesse völlig abgeschafft. Zwei weitere Aufsätze wenden sich den biologischen und neurologischen Grundlagen von Freiheit und Verhalten zu. Ferdinand Hucho zeichnet in seinem Beitrag die Signaltransduktion auf der molekularen Ebene als eine Grundlage von Verhalten und damit als eine mögliche Ursache von Freiheit aus, selbst wenn Freiheit, wie Hucho schreibt, kein originärer Begriff der Naturwissenschaften sei. Freiheit in diesem Sinne ist lediglich eine während der Evolution zunehmende neue Qualität einer rein physikalischen Welt, eine emergente Eigenschaft hyperkomplexer Systeme (Organismen), deren Grundbausteine – vor allem Gene und Proteine – auf vielfältige Weise miteinander interagieren. Hucho plädiert mit dieser Beschreibung dafür, Freiheit, Bewusstsein und Verhalten als biologisch zu erklärende Phänomene anzusehen. Diese These stützt er mit Belegen, die er durch die Analyse zweier Entwicklungsschritte am Anfang der Evolution (Signaltransduktion und Informationsspeicherung bei Einzellern) und durch einen Blick auf unsere genetisch nächsten Verwandten (die Schimpansen) gewinnt. Der Beitrag von Gerhard Roth beginnt mit einer Kritik an einem „starken“ Begriff der Willensfreiheit, den jedoch heute niemand mehr ernsthaft vertreten könne. In Abgrenzung dazu entwickelt Roth eine kompatibilistische Position, die von der Vereinbarkeit eines abgewandelten Willensfreiheitsbegriffs mit einem „motiv-deterministischen“ Ansatz ausgeht. Ziel seiner Studie ist es zu untersuchen, ob ein solcher kompatibilistischer Begriff mit dem heutigen Stand der Naturwissen-

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schaften verträglich ist. Ein Blick auf die Evolution zeigt, dass die drei zentralen Fähigkeiten, die einen solchen kompatibilistischen Freiheitsbegriff kennzeichnen, im Verlauf der Entwicklung des menschlichen Gehirns ausgebildet wurden. Diese sind die Fähigkeiten, (1) aufgrund eigener Motive handeln zu können, (2) sich verschiedene Handlungsoptionen und ihre Konsequenzen vorstellen und zwischen den Optionen wählen zu können sowie (3) sich Ziele setzen und nach deren Verwirklichung streben zu können. Anhand zentraler Ereignisse der Hirnevolution stellt Roth die Herausbildung dieser Fähigkeiten dar, was ihn – in Abschwächung früher von ihm vertretener Thesen – zu dem Schluss führt, dass es zwar kein vollständig rationales menschliches Handeln geben könne, dass aber gleichwohl innerhalb eines durch die Persönlichkeit festgesetzten Rahmens menschliches Handeln frei sein könne. Bedingungen und Konzeptionen von Freiheit Die nächste Sektion des Bandes wendet sich den Bedingungen und Konzeptionen von Freiheit zu. Kristian Kçchy eröffnet diese Sektion mit einem Beitrag über das Problem der Selbstreferentialität, in dem die methodologischen Vorgaben der kognitiven Neurowissenschaften mit Blick auf das Freiheitsproblem auf den Prüfstand gestellt werden. Auf diese Weise soll die Kompetenz der Biowissenschaften, einen Beitrag zu einer „Naturgeschichte der Freiheit“ zu leisten, bestimmt werden. Grundlegender geht es jedoch auch um die Bestimmung der Voraussetzungen jeglicher naturwissenschaftlicher Versuche, mentale Phänomene zu untersuchen und zu erklären. Ausgangspunkt der Überlegungen Köchys ist die Diagnose einer prinzipiell selbstreferentiellen Struktur bei der naturwissenschaftlichen Analyse des Lebendigen: Ein lebendiges und daher selbstreferentielles System untersucht andere lebendige und daher selbstreferentielle Systeme und befindet sich damit in einem besonderen Maße in einem selbstreferentiellen Akt. Akteur, Mittel und Gegenstand der Analyse sind selbstreferentielle Systeme und Beziehungen. Damit spricht Köchy explizit das Spannungsverhältnis zwischen einer beschreibenden Außenperspektive und der Introspektion an, welches eine zentrale Schwierigkeit in interdisziplinären Debatten darstellt, die den zu untersuchenden (z. B. mentalen) Phänomenen aus beiden Perspektiven gerecht zu werden versuchen. Köchy schließt mit einem Plädoyer dafür, die selbstreferentiellen Bedingungen der neurowissenschaftlichen Forschungen stärker zu berücksichtigen.

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In einem weiteren Beitrag, der die Voraussetzungen einer „naturgeschichtlichen“ Betrachtung der Freiheit zu klären versucht, setzt sich Mathias Gutmann mit dem Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung auseinander. Gutmann fragt hierbei, ob eine solche Betrachtung den Begriff der Freiheit nicht bereits voraussetzt. In dieser Absicht analysiert er die Grundzüge der Darwinschen Evolutionstheorie, deren Entstehung er in ihrer engen Verbindung mit dem Modell der künstlichen Züchtung vorstellt (bei Darwin dann: „natürliche Zuchtwahl“). Mit seinen Ausführungen stützt Gutmann die anthropologische These vom Menschen als einem geschichtlichen Wesen und versteht Geschichte ihrerseits als reflexive Selbstartikulation des Menschen. In diesem Sinne ist die Rede von einer „Evolution der Freiheit“ ein metaphorischer Ausdruck für die Bestimmung des geschichtlichen Wesens Mensch und damit die Voraussetzung für die Herausbildung einer Theorie der Evolution. Julian Nida-Rmelin vertritt in seinem Aufsatz die These, dass menschliche Freiheit aufgrund der naturalistischen Unterbestimmtheit von Gründen – insbesondere von Handlungsgründen – existiert. Dies gilt, weil Gründe nicht ohne einen Rest in Ereignisse und Zustände zerlegt werden können, die naturwissenschaftlicher Forschung zugänglich sind. Der Begründungszusammenhang, in dem ein handelndes Individuum steht, stellt ein komplexes System dar, in dem naturalistische Erklärungen allein schlicht zu kurz greifen. Schließlich verfügen handelnde Menschen über ,konative epistemische Einstellungen‘, also begründete Stellungnahmen, die sie selbst mit Distanz reflektieren können und die menschliche Freiheit und Verantwortung verständlich machen. Damit argumentiert Nida-Rümelin für einen epistemischen Kompatibilismus, insofern die naturwissenschaftlichen Erklärungen der naturalistisch beschreibbaren Welt nicht für unzutreffend erklärt, gleichzeitig aber Gründe aus dieser Beschreibung ausgeschlossen werden, da sie nicht komplett naturalisierbar sind. Dementsprechend vertritt Nida-Rümelin einen ontologischen Libertarismus, der vehement für die Annahme der Existenz menschlicher Freiheit plädiert. Michael Pauen vertritt in seinem Beitrag, der von einer kritischen Auseinandersetzung mit der Position Nida-Rümelins ausgeht, die These, die häufig getroffene Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen liefere kein adäquates Freiheitskriterium und keinen prinzipiellen Einwand gegen den Naturalismus. Gleichwohl argumentiert er dafür, dass die menschliche Fähigkeit, sich im Überlegen und Handeln durch Gründe leiten zu lassen, eine notwendige und prinzipiell erfüll-

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bare Bedingung menschlicher Freiheit darstellt. In kritischer Auseinandersetzung mit anderen Positionen der jüngeren Freiheitsdebatten schlägt Pauen schließlich vor, nicht die Handlungswirksamkeit von Gründen für die Unterscheidung zwischen freien und unfreien Handlungen heranzuziehen, sondern stattdessen das Kriterium der persönlichen Präferenzen einzuführen. Dieses umfasst neben rationalen Gründen gleichzeitig auch Emotionen und Bedürfnisse einer Person. Eine tatsächlich von den konstitutiven Präferenzen einer Person ausgehende Handlung ist in diesem Sinne eine selbstbestimmte und damit freie Handlung. Julian Nida-Rmelin reagiert auf die Kritik Pauens mit einer Replik, die einige zusätzliche Erläuterungen seiner Position beinhaltet und dabei die im ersten Beitrag aufgestellten Thesen erneuert. Geert Keil verteidigt in seinem Beitrag den Libertarismus gegen verschiedene „Mythen“, die mit Blick auf diese Position im Umlauf sind. Der Libertarismus ist diejenige Position innerhalb der Debatten um die menschliche Freiheit, die den Willen für frei, den Determinismus für falsch und damit den Inkompatibilismus für zutreffend hält. Keil benennt vier Typen von Argumenten gegen diese Konzeption – den Mythos der Unbedingtheit, des Dualismus, des unbewegten Bewegers sowie den Mythos der Lücke – und zeigt, inwiefern diese unzutreffend sind. Anschließend setzt er sich mit einem schwerer wiegenden Argument gegen den Libertarismus auseinander (dem so genannten Zufallseinwand), das nicht restlos widerlegt werden kann. Keil schließt seinen Beitrag mit kritischen Ausführungen über die Möglichkeit einer evolutionären Auseinandersetzung mit der Freiheit, die – zumindest für den Libertarismus – keine bedeutsame Annäherung an das philosophische Problem der Willensfreiheit und insgesamt keine genuin philosophische Fragestellung sei. Zwar ist eine Graduierbarkeit des Phänomens Freiheit in mehrerlei Hinsicht anzunehmen, der positive Beitrag der Philosophie im Bemühen um eine naturgeschichtliche Rekonstruktion der Freiheit muss sich jedoch auf begriffliche Präzisierungen in konstruktiver wie kritischer Absicht beschränken. Das Anliegen des Beitrags von Georg Northoff besteht darin, ein relationales, neurophilosophisches Modell von Freiheit zu entwickeln. Willensfreiheit, verstanden anhand der Kriterien der Verfügbarkeit von Alternativen und anhand des Gefühls der Urheberschaft, stehe – so wird häufig behauptet – im Widerspruch zum Determinismus. Letzterer lege auch das Gehirn und die darin ablaufenden neuronalen Prozesse fest. Gegen diese Position entwickelt Northoff sein relationales Modell von

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Freiheit, in dem die unterschiedlichen Prozesse in der Beziehung zwischen dem Organismus – einschließlich seines Gehirns – und der den Organismus umgebenden Umwelt als zentral für die Möglichkeit der Freiheit betrachtet werden. Freiheit heißt dann die Möglichkeit, verschiedene bzw. alternative Organismus-Umwelt-Relationen entwickeln und erleben zu können. Diese These erläutert Northoff u. a. unter Bezugnahme auf das Konzept der selbstreferentiellen Prozessierung und veranschaulicht diese am Beispiel eines Alkoholabhängigen. Northoff schließt seinen Beitrag mit erkenntniskritischen Bemerkungen über die Grenzen unseres Wissens in Bezug auf die Freiheit, die durch die Speziesabhängigkeit und die autoepistemische Limitation unserer Untersuchungen festgelegt werden. Im Beitrag von Olaf Mller stehen die Experimente von Libet stellvertretend für einen Typus neurowissenschaftlicher Forschung, der mit empirischen Mitteln versucht, etwas über menschliche Freiheit herauszufinden. Als metaphysisches Problem entzieht sich aber die Freiheit einer solchen Betrachtung. Den empirischen Forschungsergebnissen möchte Müller eine philosophische Herausforderung entgegensetzen, indem er ein extremes Gedankenexperiment entwirft. Er beschreibt zunächst hypothetisch die Situation eines Subjekts, das aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Überzeugungen berechtigterweise einen durchgängigen kausalen Determinismus im Gehirn postuliert und dessen Libet-Experimente für alle seine Handlungen fatal ausgehen. Daraufhin zeigt er, dass die deterministische Neurowissenschaft in dieser gedachten Situation gar nichts für oder gegen die Entscheidungsfreiheit des Subjekts aussagen kann, weil sich die Entscheidungen des hypothetischen Subjekts nicht dort abspielen, wo die Naturwissenschaft hinzielt, sondern in einem Bereich jenseits dieser Naturwissenschaft. Müller schreibt, sie fallen „ins gute alte Arbeitsgebiet der Metaphysik“. Dieses Hilary Putnams Gedankenexperimenten verpflichtete Vorgehen verweist darauf, dass die dominierende Deutung der neurobiologischen Experimente auf starken naturalistischen Voraussetzungen beruht, die jedoch nicht alternativlos sind. Somit bleibt entgegen einer die Freiheit leugnenden Auslegung der Libet-Experimente die Annahme der Existenz menschlicher Freiheit als legitime Alternative bestehen.

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Natur- und Kulturgeschichte der Freiheit Die letzte Sektion vorliegenden Bandes wendet sich Elementen einer Natur- und Kulturgeschichte der Freiheit zu. Eva-Maria Engelen prüft in ihrem Beitrag die These des streng deterministischen Weltbildes, dass alles Geschehen in der Welt nach Regeln ablaufe. In dieser Absicht wendet sie sich der spezifischen Frage zu, ob sich Tiere ausschließlich gemäß bestimmten Regeln bewegen, oder ob sie, wenn vielleicht auch innerhalb bestimmter Grenzen, selbst Kontrolle über ihre Bewegungen haben. Einen wichtigen Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Frage findet Engelen im Phänomen der „Impulskontrolle“. Diese ist als eine Vorstufe der menschlichen Freiheit (als Selbstbestimmung aus eigenen Gründen) zu verstehen. Nach begrifflichen Klärungen der Termini „Notwendigkeit“, „Regelhaftigkeit“ und „Freiheit“ wendet sich Engelen dem Phänomen des Spiels bei Tieren zu. Ihre zentrale These lautet: Spielen, das sich auch schon bei Tieren findet, ist Ausdruck von Freiheit. Damit schlägt sie einen Ausgangspunkt für eine naturgeschichtliche Betrachtung der Freiheit vor. Die Verbindung zur Sphäre menschlicher Freiheit stellt Engelen abschließend mit Friedrich Schiller her, denn dieser schreibt bekanntlich, der Mensch „ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Der Beitrag von Birgit Recki nimmt den Film King Kong von Peter Jackson aus dem Jahr 2005 zum Anlass, um anhand der filmischen Darstellung vier Schritte auf dem Weg zunehmender Vermenschlichung des Protagonisten nachzuzeichnen, in denen das Phänomen „Spiel“ eine zentrale Rolle einnimmt. Auf der Basis einer „ersten Regung“ von Freiheit – der „Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck“ – sind diese vier Schritte der Menschwerdung (1) das Wahrnehmen spielerischen Handelns bei anderen, (2) der Respekt vor der Entscheidung und dem Willen des anderen, (3) das Erproben des eigenen (Handlungs-) Spielraums und (4) die Kontemplation als freies Spiel der Erkenntniskräfte. Damit zeigt Recki, wie der Film als Veranschaulichung anthropologischer Theoreme verstanden werden kann: Nicht nur wird die genannte These vom Spiel als Medium der Menschwerdung thematisiert, sondern der Film taugt – aufgrund seiner realistischen Illusionsqualitäten – zugleich auch als Illustration eines Naturalismus der Freiheit. Norbert Meuter bemüht sich um eine Annäherung zwischen den Perspektiven der Natur- und der Kulturwissenschaften bei der Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff. Der Perspektivendualismus ist

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vor allem in pragmatischer Hinsicht gerechtfertigt und sollte daher nicht ontologisch verstanden werden. In der Absicht, zu einer beide Perspektiven umfassenden „Metasprache“ beizutragen, sucht Meuter nach möglichen gemeinsamen Bezugspunkten. Auf Seiten der Naturwissenschaften erläutert er daher – u. a. am Beispiel von Primaten, ihrem Spiel und ihrem Symbolisierungsvermögen – die Komplexität neuronaler Systeme und sozialer Verhaltensweisen. Bezüglich der Kultur der Freiheit erinnert Meuter an die in den einschlägigen jüngeren Freiheitsdebatten nicht berücksichtigte (lebensphilosophische) Konzeption von Henri Bergson, die um die positive Bedeutung des Symbolischen für die Prozesse der Identitätsbildung und Selbstbefreiung angereichert werden kann. Der theoretische Rahmen für produktive interdisziplinäre Forschung besteht daher nach Meuter maßgeblich in der Evolutionstheorie als gemeinsamer Basis und in der Berücksichtigung der Eigendynamik kultureller Symbolisierungen. Matthias Jung diagnostiziert in den neueren interdisziplinären Debatten zur Willensfreiheit eine explanatorische Weltverdoppelung und dementsprechend eine missglückte Verständigung darüber, worin eigentlich das Explanandum der Diskussionen besteht. Jung plädiert daher für eine „dichte Beschreibung“ des untersuchten Phänomens, die der Teilnehmerperspektive bei der Identifizierung des Explanandums – keineswegs auch zwangsläufig bei dessen Erklärung – einen normativen Vorrang einräumt. In dieser Absicht präsentiert er die Perspektive des klassischen Pragmatismus als eine alternative Lesart. Hier lässt sich eine Aufwertung lebensweltlicher Erfahrung und sinnhafter Strukturen innerhalb eines evolutionistischen Rahmens finden. Der Pragmatismus, wie Jung insbesondere anhand von John Dewey zeigt, betrachtet die Naturgeschichte der Freiheit als einen kontingent-ergebnisoffenen Prozess, in dem die Entwicklung der basalen Selektivität hin zu einer echten Wahl vollzogen wird. Hiermit wird ein gemeinsamer Bezugspunkt für Philosophie und Neurowissenschaften angeboten. Im Beitrag von Volker Gerhardt wird die Frage nach der Naturgeschichte der Freiheit ausdrücklich in den Kontext der Frage nach dem Leben gestellt. Gerhardt beginnt mit einer an Alltagserfahrungen anknüpfenden kleinen Phänomenologie der Freiheit, die das individuelle Bewusstsein der Freiheit und Lebendigkeit betont. Ein solches Freiheitsbewusstsein ist grundsätzlich jedoch nur unter den Bedingungen der Naturgesetzmäßigkeit denkbar. Eine Betrachtung der eigenen Dynamik des Lebendigen am Beispiel des Organismus – der hoch komplex organisiert ist, auf vielfältige Weise mit der Umwelt interagiert und in

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dem reflexive Prozesse ablaufen – führt Gerhardt zu seiner These von der natürlichen Freiheit. Diese nimmt in der Spontaneität der Selbstorganisation ihren Anfang und führt schließlich zur menschlichen Freiheit als Selbstbestimmung aus eigenen Gründen. Bei alldem gilt jedoch, dass der Kontext des Lebens und die Eigenarten des Lebendigen allererst die Bedingungen schaffen, unter denen einen Naturgeschichte der Freiheit zu verstehen ist. Somit erweist sich das Leben als das im Vergleich zur Freiheit vorrangige Problem. Danksagung Mein herzlicher Dank für Diskussionen und kritische Anmerkungen zur Einleitung gilt Volker Gerhardt, Matthias Jung, Asmus Trautsch und besonders Verina Wild. Elke Witt und Nicole Wloka haben engagiert und kompetent die gesamte editorische Arbeit an den Texten unterstützt und vorangetrieben. Im Verlag haben Gertrud Grünkorn, Renate Mannaa und Christoph Schirmer die Entstehung des Bandes mit Rat und Tat begleitet, und in der Akademie wäre die Arbeit der AG Humanprojekt – Zur Stellung des Menschen in der Natur ohne die Unterstützung von Renate Neumann und Regina Reimann undenkbar gewesen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank!

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I. Empirie und Kausalität

Zum Kausalitätsprinzip in der Biologie JENS G. REICH Kausalitt und Determiniertheit sind heuristische Annahmen, die der Sinnhaltigkeit biologischer Experimente dienen. Ihre Setzung als metaphysisches Prinzip im Bereich des Mentalen ist nicht berzeugend begrndet. Mit den neuen neurobiologischen Verfahren ist es möglich geworden, Bewusstseinsvorgänge, die zuvor nur über den Weg der Reportage aus der Perspektive der ersten Person studiert werden konnten, der direkten Untersuchung aus der Perspektive der dritten Person zugänglich zu machen. Die Ergebnisse dieser Forschungsrichtung und mehr noch die Aussichten in die Zukunft, die sie eröffnen, haben zu einem erheblichen Naturalisierungsschub bei der Aufklärung psychologischer und philosophischer Probleme geführt, der eine lebhafte Kontroverse ausgelöst hat. Ein zentraler Streitpunkt dieser Debatte ist die Frage, ob bewusst erwogene Entscheidungen und ihre Umsetzung in Handlungen frei sein können. Immer wieder wird argumentiert, dass neuronale Prozesse ihr Korrelat in Gehirnprozessen haben und ihrem Wesen nach determiniert ablaufen. Die Freiheit von Willensentscheidung und Handlungsentschluss sei deshalb ein subjektiv konstruiertes Phänomen. Die Möglichkeit, Kausalketten aus dem Bewusstsein heraus in Gang zu setzen, sei ebenso illusionär wie die Vermutung, man könne wirklich auch anders gehandelt haben, hätte sich anders entschieden können. Die zur Debatte stehenden Vorgänge laufen im modular organisierten, massiv parallel informationsverarbeitenden neuronalen Netzwerk des Gehirns ab. Eingeräumt wird, dass diese Prozesse so komplex sind, dass es auf lange Zeit hin und vielleicht für immer unmöglich sein wird, sie genau zu verstehen und vorherzusagen. Das jedoch ist eine Entscheidung, die nicht „aus dem Lehnstuhl heraus“ vorentschieden werden kann, sondern nur als Ergebnis des Forschungsprogramms, das den Phänomenen eine natürliche Beschreibung geben soll. Wenn dies gelungen sein wird, dann wird für die geheimnisvolle kausale Kraft des Bewusstseins ebenso wenig Raum sein wie im vergleichbaren Fall für die „vis vitalis“, wenn die physikochemische Beschreibung der Physiologie etwa der Leber-

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oder Nierenfunktion vollständig sein wird. Bewusstsein und freier Wille sind dann alltagstaugliche Zusammenfassungen von emergenten Makroeigenschaften komplexer Vorgänge auf der physikochemischen Mikroebene. Ebenso wie die meisten anderen Biologen bin ich fasziniert von dem Forschungsprogramm, das kognitive und Bewusstseinsprozesse mit objektiven neurobiologischen Verfahren studiert. Wir werden in den kommenden Jahrzehnten viel Neues erfahren. Es wird auch viel Denkstoff für Anthropologen, Psychologen und Philosophen geben. Konzepte wie die Einheit des individuellen Selbstbewusstseins etwa oder die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption (Kant, 1968, B 132) wird man auf dem Hintergrund der neuen Tatsache darstellen müssen, dass es im Gehirn keine cartesische Bühne für diese Einheiten gibt. Verwunderlich erscheint mir allerdings die Leichtigkeit, mit der wir Biologen als Teilnehmer dieser Diskussion dazu neigen, die kausale Determination von einem methodisch-heuristischen Prinzip, das wir erfolgreich bei der Gewinnung und Ordnung von Wissen voraussetzen, in ein metaphysisches Postulat umsetzen. Ich meine, wir überziehen seinen Geltungsbereich. Diese letzte Aussage möchte ich in mehrerlei Hinsicht diskutieren und erläutern: 1) Kausaler Determinismus ist methodische Voraussetzung jeder biologischen Erkenntnis ( jeder?). 2) Wir leiten unser heuristisches Kausalprinzip aus dem Programm der Reduktion von Biologie auf klassische physikochemische Grundlagen ab, ohne dass wir uns auf die modernen Probleme in diesen Fächern einlassen. 3) Das vom Physikalismus abgezogene Determinismusprinzip ist nur nach a-biologischer Zurichtung des biologischen Objekts verwendbar. 4) Die empirische Unterfütterung des Determinismusprinzips reicht nicht aus, um weitreichende metaphysische Folgerungen plausibel zu machen. Zu 1): Es gibt hervorragende biologische Erkenntnis ohne Inanspruchnahme des Determinismus-Postulates. Die klassische Biologie nahm zunächst die Welt, wie sie uns erscheint, und beobachtete. Dieser heute absterbende oder in den Hintergrund rückende Zweig der Bio-

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logie bedurfte überhaupt nicht des Postulats, dass jeder Ablauf auch anders verlaufen könnte. Der Anatom ebenso wie der „Naturalist“ beschrieben die Strukturen und Bewegungen, die sie sahen, und konnten ihnen trotz ihrer Regelhaftigkeit durchaus das Erscheinungsbild des nicht notwendig Ablaufenden lassen. Einer der Gipfelpunkte dieser Epoche waren die „Vögel Amerikas“ von John James Audubon – prächtige Zeichnungen und Gemälde von lebenden Tieren in der Illusion der Spontaneität ihres vitalen Verhaltens (Audubon, 1994). Nach Ursachen und Wirkungen wird da nicht gefragt: Stattdessen wird die Kreation wundervoller Phänomene durch die Natur als Kunstwerk beschrieben. Auch die gesamte Evolutionslehre war zu Anfang eine historische Beschreibung dessen, was vorgefallen war. Sie begann mit den Fossilienfunden vergangener Lebensformen, mit gigantischen Reptilien z. B., die es zu historischer Zeit nie gegeben hatte, und legte eine sich selbst definierende Zeitskala über die Phänomene (z. B. zur Frage, wie lange es gedauert haben mag, bis eine offensichtlich durch Ablagerung entstandene Kalkschicht entstanden war). Mit Hilfe von Zeitzuordnung und Phänomenologie betrieb man Naturgeschichte, ganz analog wie der Historiker aus Zeitangaben und erinnerten Ereignissen Universalgeschichte ableitet. Selbst Darwins Evolutionstheorie konnte die kausale Beschreibung nur induktiv und extrapolierend einführen, nämlich in Form seines universellen Ausleseprinzips. Sie blieb jedoch offen, da er die verursachenden Agenten für die beobachtete universelle Variation nicht ausfindig machen konnte. Zu 2): Determinismus als methodisch notwendiges Postulat trat erst mit dem Siegeszug der experimentellen Biologie in den Vordergrund. Um glaubwürdig zu sein, muss ein biologisches Experiment wiederholbar sein. Hinter dem Postulat der Reproduzierbarkeit steht daher denknotwendig das Postulat der Determiniertheit, nämlich dass sich natürliche Prozesse im Experiment so einrichten lassen, dass sie determiniert ablaufen. Wo das nicht vollständig gelingt, versieht man die Aussage mit statistischen Schwankungsbreiten und anderen Spezifikationen, die das Postulat der Determiniertheit vor Falsifizierung schützen. Eine nicht reproduzierbare Aussage wird ins Reich der grundlosen Spekulation oder bestenfalls der Hypothesen verwiesen. Die experimentelle Methode ist Teil des Reduktionsprogramms von Biologie auf physikochemische Elementarwelt. Das Determinismuspostulat, das dieses Programm mit sich bringt, setzen wir unkritisch

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als metaphysisches Prinzip an und sehen über die epistemischen und ontologischen Probleme der modernen Physik hinweg. In der Quantenmechanik zieht sich das Postulat auf die Aussage zurück, dass die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen und nicht deren Realisierung streng determiniert sei. Es gibt sogar Wissenschaftler, die das Kausalitätsprinzip der unbelebten Welt ablehnen (wie Bertrand Russell, oder vor ihm Ernst Mach: „In der Natur gibt es keine Ursache und keine Wirkung“ (Mach, 1988)). Es gibt andere Wissenschaftler, die den gesetzesstrengen Determinismus bestreiten (z. B. N. Cartwright „How the Laws of Physics lie“ (Cartwright, 1983)). Gegen den strengen kausalen Determinismus ist also bereits in Physik Skepsis angebracht oder zumindest Erklärungsbedarf anzumelden. Zu 3): Das gut konzipierte Experiment treibt zuvor dem Leben das Leben aus. Es konstruiert eine geschlossene Teilwelt, die plausibel als von der gesamten Biosphäre und des sonstigen Universums hinreichend isoliert angesehen werden darf, und bemüht sich um die Herstellung einer möglichst ausnahmslosen Sukzessionsbeziehung zwischen Auslöser und Effekt. Es gibt kein Experiment, das eine Aussage der Natur, wie sie ist, ermöglicht, sondern eine Aussage, die ihr abgepresst wurde. Oft kann man die Natur zur Antwort zwingen und diese „verwenden“ – oft jedoch weicht die Natur geschickt einer klaren Antwort aus. Beim interpretierenden Übergang vom Experiment in die natürliche Welt verflüchtigt sich die Kausalität. Den isolierten Vorgang kann ich noch plausibel als kausale Sukzessionsbeziehung beschreiben, im gesamten System gelingt das nicht mehr. Das ist übrigens bereits in der klassischen Physik der Fall. Jeder der unzähligen Himmelskörper übt die Gravitationskraft auf jeden anderen aus, und jeder ist Ursache der Beschleunigung aller anderen und damit seiner eigenen. So auch in der Biologie: In dem gigantischen Netzwerk von „wechselwirkenden“ Faktoren, den Genen, den Genprodukten, den niedermolekularen organischen Effektoren, den membranösen Strukturen und dem osmotisch-ionischen wässrigen Milieu, in dem alles Leben sich abspielt, ist für die gradlinige kausale Interpretation kein Platz mehr. Die Schwierigkeit liegt nicht nur darin, dass die vorhandenen Kausalketten so komplex sind, dass Vorhersagen unsicher bis unmöglich werden, analog zum chaotischen Verhalten des Wetters oder zum nicht-linearen Dreikörperproblem in der Physik. Es trifft nicht zu, dass zwar die Vorhersagbarkeit leide, die Kausalität aber intakt sei, sondern schon deren Konstruktion funktioniert überhaupt nicht. Die Imputation von Kausalität

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erscheint als reine Willkür im Auge des Betrachters. Schon die einfachste Regulationsschleife hat einen Zweig, in dem Vorwärts-„wirkung“ stattfindet, die durch Rückwärts-„wirkung“ begrenzt wird. Es ist beliebig, was man hier als Ursache und was als Wirkung klassifiziert, zumal noch dazu alles Geschehen nicht als Sukzession erscheint, sondern im „steady-state“ jedes lebenden Systems gleichzeitig stattfindet. Die mathematische Beschreibung mit der Zeit als laufender Meistervariable und Evolution nach Setzung von Anfangs- und Randbedingungen ist nur dort adäquat, wo das biologische Experiment als physikalisierter Sonderfall vorliegt. In jeder auf Ganzheitlichkeit zielenden Betrachtung, also der eigentlich adäquaten eines biologischen Systems, müssen wir rekursive Abbildungen von Zustandsfunktionen sowie implizite funktionale Beziehungen zwischen Parametern und Variablenzuständen einführen, wo die Definition von Ursache und Wirkung, also von unabhängigen und abhängigen Größen, reduktionistische Willkür bedeutet. Auf die Spitze formuliert: Es gibt keine metaphysische Kausalität, sondern nur die heuristische und dabei notwendig reduktionistische Anwendung des Kausalprinzips als Beschreibungsform des experimentellen Ansatzes. Zu 4): Die Schwierigkeit, von den unzähligen Einzelbefunden auf eine kohärente und schlüssige Gesamtsicht zu kommen, dokumentiert die „Unschärferelation“, dass jedes Experiment die Natur verändert oder von ihr hinreichend isoliert ist. Wie immer die Synthese einst gelingen oder misslingen mag, die Übertragung des heuristischen Prinzips der kausalen Bestimmtheit aus der experimentellen Sphäre in den mentalen Bereich ist eine metaphysische Setzung, die nicht zwingend ist. Ich behaupte also, dass das kausale Gesetzesprinzip in der Biologie sowohl empirisch wie theoretisch unzureichend fundiert ist. Seine Extrapolation in die unüberschaubar komplexe Welt der menschlichen Bewusstseinsphänomene ist nicht zulässig. Dies könnte sich ändern – ich bin kein Mystiker, der ihnen die objektive Erklärbarkeit prinzipiell abspräche. Ignoramus – Ignorabimus: Das erste trifft zu, und das zweite ist Vermutung.

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Bibliographie Audubon, John J. (1994): Die Vçgel Amerikas. Hanau: Werner Dausien. Cartwright, Nancy (1983): How the Laws of Physics Lie. Oxford/New York: Oxford University Press. Kant, Immanuel (1968): Kritik der reinen Vernunft. Berlin/New York: Akademie Verlag. Mach, Ernst (1988): Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Neuronaler Determinismus: Nur eine Illusion? ANDREAS V. M. HERZ Zusammenfassung Verschiedentlich ist die Meinung geäußert worden, dass Willensfreiheit allein schon deshalb eine Illusion sein muss, weil bewusste wie unbewusste Entscheidungen vollständig durch neuronale Prozesse bestimmt und diese deterministischen Gesetzen unterworfen seien. Im folgenden Beitrag wird dieser auch als „Neuronaler Determinismus“ bekannte Denkansatz im Hinblick auf seine physikalische Plausibilität und logische Stringenz hin betrachtet. Dabei wird deutlich, dass die zugrunde liegenden Annahmen aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht haltbar sind. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Fragen der Willensfreiheit werden kurz angerissen und ein pragmatischer Lösungsansatz im Rahmen der Evolutionären Spieltheorie skizziert.

1. Alle neuronalen Prozesse unterliegen thermischen Fluktuationen Lebensvorgänge laufen bei Temperaturen oberhalb des absoluten Nullpunktes ab. Damit sind sie thermischen Schwankungen ausgesetzt und müssen in letzter Konsequenz als stochastische Prozesse beschrieben werden. Die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten eines Ereignisses gehorchen dabei zwar deterministischen Gesetzen; ob das Ereignis jedoch auch eintritt, und wann dies geschieht, ist unvorhersagbar. Zusätzlich stellt ein Organismus kein abgeschlossenes System dar, sondern steht andauernd mit seiner beliebig hochdimensionalen Umwelt in Verbindung. Aus beiden Gründen kann die zukünftige Entwicklung eines Organismus selbst bei vollständig bekannten internen Anfangsbedingungen nicht exakt vorausgesagt werden.1 1

In einem komplementären Ansatz leitet J.R. Searle diese Erkenntnis aus der Quantennatur der Welt ab (Searle, 2001). Sein Ansatz ist radikaler und damit

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Thermische Fluktuationen mögen sich in großen Systemen näherungsweise herausmitteln und deshalb auf den ersten Blick nicht sichtbar sein, sie sind jedoch dennoch immer vorhanden. Diese Situation ist in gewisser Weise mit der Erkenntnis vergleichbar, dass Quanteneffekte selbst in makroskopischen Systemen existieren. Damit kann die Struktur der Welt prinzipiell nicht mit Konzepten der klassischen Physik erklärt werden (siehe unter anderem Baumann/Sexl, 1984), vollkommen unabhängig von der Tatsache, dass viele makroskopische Prozesse auch ohne Quantenphysik präzise beschrieben werden können: Es ist eben ein fundamentaler qualitativer Unterschied, ob das Plancksche Wirkungsquantum von Null verschieden ist oder nicht, seine Größe wirkt sich „nur“ darauf aus, wie offensichtlich Quanteneffekte sind. In ähnlicher Weise ist es von grundlegender Bedeutung, dass Lebensvorgänge bei von Null verschiedenen absoluten Temperaturen ablaufen und deshalb als nicht-deterministische Prozesse begriffen werden müssen. Nervensysteme sind jedoch nicht nur prinzipiell als Systeme mit stochastischer Dynamik aufzufassen; die thermischen Fluktuationen sind so groß, dass sie direkt in physiologischen Experimenten messbar sind. Dies betrifft insbesondere die Erzeugung von Aktionspotentialen und die synaptische Übertragung dieser Nervensignale (siehe unter anderem Johnston/Wu, 1994; Schneidmann et al., 1998). In beiden Fällen können selbst unter optimalen experimentellen Bedingungen Schwankungen von Versuchsdurchgang zu Versuchsdurchgang auftreten. Der Grund für diese Variabilität liegt darin, dass sowohl die Erzeugung eines Aktionspotentials als auch die Ausschüttung von Neurotransmittern aus einem synaptischen Vesikel keine kontinuierlichen Vorgänge sondern „Alles-oder-Nichts“ Prozesse sind: Ein neuronales Aktionspotential wird entweder erzeugt oder nicht erzeugt, ein synaptisches Vesikel entweder entleert oder nicht entleert. In beiden Fällen handelt es sich um sprunghafte Übergänge zwischen diskreten Zuständen. Damit auch umfassender als der hier vorgestellte Zugang, der mir dennoch aus zwei Gründen vorteilhafter erscheint: Zum einen wird das gleiche Ziel erreicht – die Erkenntnis, dass die zukünftige Entwicklung der inneren Zustände eines Organismus nicht exakt vorhersagbar ist – ohne dass konzeptionell schwierige Gedankengänge der Quantenphysik zu Hilfe gezogen werden müssen. Zum anderen sind thermische Fluktuationen unter Normalbedingungen so groß, dass sie makroskopisch messbare Konsequenzen in neuronalen und anderen biologischen Systemen haben. Die grundlegende Notwendigkeit einer stochastischen Beschreibung von (verhaltens-)physiologischen Prozessen ist damit auch intuitiv verständlich.

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können selbst geringste thermische Schwankungen zu makroskopischer Variabilität führen. Dieses Phänomen muss bei jedem SchwellenwertProzess mit stochastischen Komponenten auftreten, und ist dann besonders stark ausgeprägt, wenn das System in der Nähe seiner Schwelle operiert. Umgekehrt wirkt sich die Variabilität von SchwellenwertProzessen umso weniger aus, je weiter entfernt das System von der Schwelle operiert. Damit können beispielsweise elektronische Schaltelemente durch entsprechendes Design mit einer beliebig kleinen Fehlerrate operieren. Doch kann die Variabilität nie exakt auf Null heruntergedrückt werden. An dieser Stelle mag man sich fragen, ob die stochastische Natur neuronaler Prozesse nur ein unerwünschter Nebeneffekt der Tatsache ist, dass Lebensprozesse nicht am absoluten Nullpunkt stattfinden. Oder sind Fluktuationen unter funktionellen Gesichtspunkten vielleicht sogar hilfreich? In letzter Zeit haben sich eine ganze Reihe von Wissenschaftlern mit dieser Frage auseinandergesetzt und in verschiedenen Organismen Hinweise dafür gefunden, dass viele neuronale Prozesse nicht fern sondern in unmittelbarer Nähe der betreffenden Schwellenwerte ablaufen. Diese Beobachtung betrifft auch Nervenzellen der Großhirnrinde, die unter in-vivo Bedingungen knapp unterhalb der Schwelle zur Auslösung von Aktionspotentialen operieren. Dieser Netzwerkzustand ist dynamisch ausbalanciert, so dass kleine Fluktuationen durch Rückkopplungseffekte verstärkt und große Aktivitätsschwankungen gedämpft werden. Damit führen selbst identische äußere Stimuli zu von Reizwiederholung zu Reizwiederholung deutlich unterschiedlichen Antworten (Destexhe/Contreras, 2006). Einige Forscher argumentieren sogar, dass eine stochastische Dynamik in idealer Weise geeignet sei, um die probabilistische Natur sensorischer Information in neuronalen Systemen zu repräsentieren und mit früheren Gedächtnisinhalten zu verrechnen (Ma et al., 2006): Sinneseindrücke geben oft nur ein unvollständiges und mit Unsicherheit behaftetes Bild der Umwelt. Man denke nur an eine Autofahrt, bei der man in dichten Nebel oder starken Regen geriet. In diesen Situationen müssen unzuverlässige Signale unserer Sinnesorgane mit früher gespeicherter Information abgeglichen werden. Oft muss sogar die Verlässlichkeit des sensorischen Signals selbst (im Vergleich zum Vorwissen) abgeschätzt werden, um erfolgreich agieren zu können. Aus der Technik ist weiterhin bekannt, dass stochastische Algorithmen bei der Lösung schwieriger Optimierungsprobleme große Vorteile gegenüber deterministischen Varianten bieten, da Barrieren um lediglich lokal

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optimale Lösungen mit Hilfe zufälliger Schwankungen überwunden werden können. Einige dieser Algorithmen lassen sich direkt auf Modelle neuronaler Netzwerke abbilden (Hopfield/Tank, 1985). Bei all diesen komplexen Entscheidungsprozessen könnte eine intrinsisch stochastische Repräsentation im Nervensystem von Vorteil sein, was dann auch erklären würde, warum viele neuronale Prozesse in der Nähe von Schwellenwerten ablaufen. Doch selbst wenn sich diese Interpretation als unzulänglich herausstellen sollte, bleibt die Tatsache, dass die neuronale Dynamik des Gehirns aus prinzipiellen Gründen stochastischen Fluktuationen ausgesetzt ist und diese Fluktuationen von beträchtlicher Größe sind.

2. Die Dynamik des Gehirns ist inkompatibel mit neuronalem Determinismus Wenn aber neuronale Prozesse thermischen Fluktuationen unterliegen, dann kann die Dynamik des Gehirns nicht als deterministischer Prozess aufgefasst werden. Vielmehr muss sie als probabilistischer Vorgang verstanden werden. Da sich die Fluktuationen nicht exakt herausmitteln können, betrifft diese einfache Erkenntnis alle Ebenen neuronaler Organisation – von subzellulären Prozessen bis zu Erregungsmustern des gesamten Gehirns. Dies bedeutet insbesondere, dass Versuche, die Entscheidungsprozessen zugrunde liegenden neuronalen Abläufe als deterministische Vorgänge zu beschreiben, nicht haltbar sind. Als Beispiel für diese trotz ihrer Unzulänglichkeit immer wieder propagierte Sicht sei das folgende Zitat genannt: Auf Grund evolutionärer Anpassung sind Gehirne daraufhin ausgelegt, fortwährend nach den je optimalen Verhaltensoptionen zu suchen. Sie wenden dabei Verarbeitungsstrategien an, die in ihrer Architektur durch genetische Vorgaben eingeschrieben und/oder durch Erfahrung eingeprägt wurden. Um zu entscheiden, stützen sie sich auf eine ungemein große Zahl von Variablen: auf die aktuell verfügbaren Signale aus der Umwelt und dem Körper sowie auf das gesamte gespeicherte Wissen, zu dem auch emotionale und motivationale Bewertungen zählen. In dutzenden, räumlich getrennten aber eng miteinander vernetzten Hirnarealen werden Erregungsmuster miteinander verglichen, auf Kompatibilität geprüft, und, falls sie sich widersprechen, einem kompetitiven Prozess ausgesetzt, in dem es schließlich einen Sieger geben wird. Das Erregungsmuster setzt sich durch, das den verschiedenen Attraktoren am besten entspricht. Dieser distributiv angelegte Wettbewerbsprozess kommt ohne übergeordneten

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Schiedsrichter aus. Er organisiert sich selbst und dauert solange an, bis sich ein stabiler Zustand ergibt, der dann für den Beobachter erkennbar als Handlungsintention oder Handlung in Erscheinung tritt. Welches der vielen möglichen Erregungsmuster als nächstes die Oberhand gewinnt, ist demnach festgelegt durch die spezifische Verschaltung und den jeweils unmittelbar vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns. Falls diese Bedingungen Übergänge in mehrere gleich wahrscheinliche Folgezustände erlauben, dann können auch zufällige Schwankungen in der Signalübertragung zum Tragen kommen und dem einen oder anderen Zustand zum Sieg verhelfen. (Singer, 2004)

Der vorletzte Satz der zitierten Passage ist ganz im Geist des Determinismus der klassischen Mechanik gehalten, in der die zukünftige Entwicklung eines abgeschlossenen Systems durch seine Dynamik („spezifische Verschaltung“) und Anfangsbedingungen („Gesamtzustand des Gehirns“) eindeutig festgelegt ist. Entscheidungsprozesse werden also auf neuronale Vorgänge zurückgeführt, ohne dass deren stochastische Natur berücksichtigt würde – der zentrale Fehlschluss im „neuronalen Determinismus“. Dieser Zugang widerspricht nicht nur den eingangs beschriebenen Fakten, er wird zudem im letzen Satz des Zitats sofort wieder relativiert, wo nun doch die Existenz von „zufälligen Schwankungen“ eingeräumt wird. Diesen soll aber nur in ausgewählten Situationen („gleich wahrscheinliche Folgezustände“) eine verhaltensrelevante Bedeutung zukommen, eine Einschränkung, die physikalisch gesehen unverständlich bleibt. Das Konzept des „neuronalen Determinismus“ scheint demnach ungeeignet, menschliche Entscheidungsprozesse zu beschreiben: Dieses Konzept ist weder mit physikalischen Erkenntnissen verträglich noch ist es ohne innere Widersprüche. Damit kann der neuronale Determinismus vor allem auch nicht dafür eingesetzt werden, die subjektiv erfahrene Willensfreiheit als Illusion zu entlarven. Vielmehr ist der „Neuronale Determinismus“ selbst eine Illusion. Zur Vollständigkeit sei noch erwähnt, dass, selbst wenn das Gehirn ein deterministisches System wäre, dieses aufgrund der vielen Rückkopplungsschleifen und starken Nichtlinearitäten mit hoher Wahrscheinlichkeit ein im mathematischen Sinn chaotisches System wäre, und damit in seiner dynamischen Entwicklung nicht vorhersagbar: „Auch wenn das Gehirn deterministisch funktioniert, ist es in seiner Komplexität niemals vollständig beschreib- und verstehbar.“ (Rösler, 2004). Doch ist dieser Aspekt von nachrangiger Bedeutung, da das Gehirn permanent thermischen Fluktuationen ausgesetzt ist und daher prinzipiell nicht als deterministisches System aufgefasst werden kann.

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3. Neuronale Fluktuationen, Handlungsspielräume, Willensfreiheit Nachdem gezeigt ist, dass das Konzept eines neuronalen Determinismus aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht haltbar ist, stellt sich die Frage, welche Konsequenzen die prinzipielle Unbestimmtheit neuronaler Prozesse für die Diskussion der Willensfreiheit hat. Unbestimmtheit und Freiheit sind ja zwei unterschiedliche Dinge. Wenn man (wie im neuronalen Determinismus) davon ausgeht, dass Bewusstsein, Gefühle und Willensakte durch neuronale Vorgänge bedingt sind – eine sehr starke Annahme, die hier aber nicht weiter hinterfragt werden soll – ergibt sich folgendes Bild: Wegen der Unbestimmtheit neuronaler Vorgänge ist auch das verhaltensrelevante Ergebnis eines Entscheidungsprozesses nicht eindeutig festgelegt. In „einfachen“ Fällen, bei denen für eine von zwei oder mehreren Entscheidungsoptionen deutlich mehr (neuronal repräsentierte) Argumente sprechen, wird die Entscheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit dieser unter den gegebenen Bedingungen besten Option folgen. Wegen der auf allen Ebenen neuronaler Organisation auftretenden Fluktuationen muss dies jedoch nicht unbedingt so sein. Zufällig können andere und in ihren Konsequenzen schlechtere Entscheidungsalternativen realisiert werden, was subjektiv im Nachhinein als Fehlentscheidung empfunden werden mag. Zu diesen „einfachen“ Fällen zählen viele Entscheidungsvorgänge des alltäglichen Lebens: Es spricht beispielsweise einiges dafür, eine stark frequentierte Straße nicht blindlings zu Fuß zu überqueren. Komplexere Entscheidungsaufgaben zeichnen sich dadurch aus, dass alternative Handlungsoptionen schwerer bezüglich ihrer Vor- und Nachteile eingeschätzt werden können. Dies kann daran liegen, dass die Anzahl der entscheidungsrelevanten Komponenten steigt, das Wissen über diese Komponenten nicht verlässlich ist oder die Konsequenzen der verschiedenen Handlungsoptionen nicht übersehen werden können. Geht man wie schon weiter oben davon aus, dass Entscheidungsprozessen neuronale Vorgänge zugrunde liegen, so bedeutet dies, dass bei komplexen Aufgaben viele neuronale Repräsentationen aktiviert werden und so die Variabilität von Entscheidungen stark anwächst. Unabhängig von ihrer Komplexität steht der Ausgang einer Entscheidung also nie eindeutig fest; mit zunehmender Komplexität wird es aber immer wahrscheinlicher, dass eine ungünstige Handlungsoption zur Ausführung kommt.

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Dieses prinzipielle Unvermögen, in schwierigen Situationen optimale Entscheidungen verlässlich zu treffen, stellt eine starke Einschränkung der Anpassungsfähigkeit eines biologischen Organismus dar. Interne neuronale Bewertungssysteme erlauben es jedoch (auch wenn sie selbst ebenfalls fehlerhaft sind), die Vor- und Nachteile früherer Entscheidungen zu analysieren und darauf aufbauend Lernprozesse zu initiieren, die die Wiederholung einer „falschen“ Entscheidung zwar nicht ausschließen, sie aber deutlich verringern können. Die aktive Exploration verschiedener Handlungsoptionen wird dabei durch die stochastische Natur neuronaler Prozesse unterstützt und trägt zusammen mit Lernprozessen dazu bei, zukünftige Fehlerraten zu verringern. Es ist damit für einen Organismus von Vorteil, über Mechanismen zu verfügen, die die Stochastizität neuronaler Dynamik geschickt nutzen, um neue und bessere Handlungsoptionen zu eröffnen. In diesem Sinn könnte im Lauf der Evolution schrittweise eine kognitive Strategie entstanden sein, die wir selbst als Willensfreiheit empfinden: Die prinzipielle neuronale Unbestimmtheit von Entscheidungsprozessen muss dann nicht mehr fatalistisch als eine uns aufgezwungene Willkür empfunden werden, sondern kann subjektiv als Chance interpretiert werden, in zukünftigen Situationen neue Wege einzuschlagen (auch wenn diese nur teilweise unserer Kontrolle unterliegen). Daraus ergibt sich eine grundlegend veränderte motivationale Situation, die Lernprozesse gezielt fördern und so die Wahrscheinlichkeit nachteiliger zukünftiger Entscheidungen verringern kann. Es wäre eine interessante Herausforderung, zu untersuchen, unter welchen Umständen das hier skizzierte Szenario eine im Sinne der Evolutionären Spieltheorie (Maynard Smith, 1982) „evolutionär stabile Strategie“ darstellt: Könnte es gar sein, dass allein schon die Annahme einer eigenen Willensfreiheit dem einzelnen Individuum auf lange Sicht Vorteile verschafft, die von alternativen Verhaltensstrategien nicht übertroffen werden können? Dann wäre jeder schlecht beraten, der aufhörte, von Freiheit zu reden, selbst wenn diese vielleicht letztlich nur eine Illusion ist. Post Scriptum: Unbefriedigend bleibt im jetzigen Ansatz, dass aus dem rein pragmatischen Konstrukt „Freiheit“ keine Handlungsverantwortung abgeleitet werden kann. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass hier eine umfassende Analyse der oben angesprochenen Lernprozesse unter Berücksichtigung ihres sozialen Kontextes neue Einsichten liefern wird.

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Dank Volker Gerhardt danke ich herzlich für die Einladung zu einem Vortrag im Rahmen der Arbeitsgruppe „Humanprojekt – Zur Stellung des Menschen in der Natur“ und sein beharrliches Drängen, zentrale Punkte des Vortrags in schriftliche Form zu gießen. Wolf Singer bin ich für das lebhafte Gespräch zum Thema „Neuronaler Determinismus“ am Rande der 94. International Titisee Conference „The dynamical brain“ (Boehringer Ingelheim Fonds, November 2006) dankbar, Benedikt Grothe, Peter Hammerstein, John-Dylan Haynes, Michael Pauen und Dominik Perler für kritische und überaus hilfreiche Anmerkungen zu früheren Versionen des hier vorgelegten Textes.

Bibliographie Baumann, Kurt/Sexl, Roman U. (1984): Die Deutungen der Quantentheorie. Braunschweig: Vieweg. Destexhe, Alain/Contreras, Diego (2006): Neuronal Computations with Stochastic Network States. In: Science (314), 85 – 90. Hopfield, John J./Tank, David W. (1985): Neural Computation of Decisions in Optimization Problems. In: Biological Cybernetics (52), 141 – 152. Johnston, Daniel/Wu, Samuel M. (1994): Foundations of Cellular Neurophysiology. Cambridge, Massachusetts: MIT Press. Ma, Wei J./Beck, Jeffrey M./Latham, Peter E./Pouget, Alexandre (2006): Bayesian Inference with Probabilistic Population Codes. In: Nature Neuroscience (9), 1432 – 1438. Maynard Smith, John (1982): Evolution and the Theory of Games. Cambridge: Cambridge University Press. Rösler, Frank (2004): Es gibt Grenzen der Erkenntnis – auch für die Hirnforschung! In: Gehirn und Geist (6), 32. Schneidmann, Elad/Freedman, Berry/Segev, Idan (1998): Ion Channel Stochasticity may be Critical in Determining the Reliability and Precision of Spike Timing. In: Neural Computation (10), 1679 – 1703. Searle, John R. (2001): Free Will as a Problem in Neurobiology. In: Philosophy (72), 298. Singer, Wolf (2004): Entscheidungsgrundlagen: Keiner kann anders als er ist. Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu reden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (6), 33.

Naturalisierung der Freiheit aus Sicht der Verhaltensforschung MARTIN HEISENBERG Naturgesetz und Zufall Im 19. Jahrhundert, als die Wirklichkeit noch als vollständig determiniert angesehen werden und man sich vorstellen konnte, dass es für alles lückenlose Ursachen gäbe, jede Veränderung also vom Beginn bis zum Ende des Universums im Prinzip zu jeder Zeit feststünde, war es naheliegend, ja vielleicht sogar denknotwendig, die Freiheit im Protest gegen diese Doktrin oder als „Alleinstellungsmerkmal“ des Menschen mit der Verletzung der Naturgesetze in Verbindung zu bringen. Da aber, wie uns die Physik des 20. Jahrhunderts lehrt, die Fäden von Ursachen und Wirkungen wegen der Quantenunbestimmtheit nicht von Anfang bis Ende durchgehen, sondern anfangen und abreißen, muss man heute die Verletzung der Physik als Bedingung für Freiheit nicht mehr fordern. Was immer wir unter Willensfreiheit verstehen, die Zukunft ist offen. Es kann objektiv einen Unterschied für den Lauf der Welt machen, ob wir uns Mühe geben oder nicht. Mir ist bewusst, dass der Widerstand gegen die Ursachenlosigkeit unter den Philosophen immer noch groß ist. Aber die Annahme, man könne das Plancksche Wirkungsquantum unterlaufen, d. h. es gäbe unterhalb der Elementarteilchen noch eine weitere Ebene der Analyse, auf der man eines Tages z. B. die konkrete hinreichende Ursache für das einzelne Ereignis im b-Zerfall werde finden können, ist in der Physik intensiv diskutiert worden. Man denke nur an Einsteins berühmtes „Gott würfelt nicht!“. Heute sind die meisten Physiker der Meinung, die Annahme einer solchen weiteren Ebene sei mit der Physik unvereinbar, und die Suche danach wurde eingestellt. Ich finde die Ursachenlosigkeit nicht so skandalös, wenn ich mir klar mache, dass die Physik eine Abstraktion ist, und mir die schier unendliche Kreativität dieses Daseins vergegenwärtige. Das verbissene Festhalten an der Vorstellung, nichts geschehe ohne hinreichende Gründe, ist das Relikt einer

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schon seit 100 Jahren überwundenen Fehlinterpretation der Naturwissenschaften. Ich werde jedenfalls die mögliche Ursachenlosigkeit von Ereignissen für meine weiteren Ausführungen voraussetzen. Freiheit macht nur unter dieser Prämisse Sinn.

Zufall und Freiheit Erst wenn man den Determinismus ganz und gar abgeschüttelt hat, kann die Freiheit wieder selbstverständlich werden. Sie ist Teil unserer Wirklichkeit, eine Qualität des Lebens, ein Element unserer Existenz. Sie gibt es einfach, wie es Gedanken, die Temperatur oder das Licht gibt. So wie der Zufall an allen Vorgängen in der belebten und unbelebten Natur seinen Anteil hat, einmal mehr, einmal weniger, so haben die Lebewesen mehr oder weniger Anteil an der Freiheit. Wir schreiben Lebewesen Zustände zu, und zu den Eigenschaften solcher Zustände gehört die Freiheit. Man entlässt einen Vogel, der sich ins Haus verirrt hat, in die Freiheit. Man spürt die Freiheit nicht wie Kälte oder Schmerz, aber man reagiert auf den Mangel oder Überfluss dieser elementaren Bedingung unseres Daseins äußerst empfindlich. Zu viel und zu wenig davon können Gewalt, Angst oder Depression auslösen. Dem Gefühl der Freiheit lässt sich nicht immer trauen, aber eine Welt ohne Freiheit lässt sich nicht denken. Wäre denn z. B. das Denken selbst ohne Freiheit möglich? Kann sich nicht jemand einfach Freiheit nehmen, außer man tötete ihn? Die Freiheit steht nicht zur Disposition, trotz der verbreiteten Zweifel unter Neurobiologen (vgl. Roth, 2004; Singer, 2006).

Freiheit als Thema der Biologie Nicht erst die Soziologie, Pädagogik, Ökonomie oder Jurisprudenz, sondern auch die Humanbiologie würde ihrem Gegenstand nicht gerecht werden, wenn sie die Freiheit im menschlichen Verhalten auszuklammern oder zu leugnen versuchte. Schon in der Verhaltensbiologie der Tiere lässt sich die Freiheit nicht übersehen. Im Gegenteil: Aus diesem Thema kann man Gewinn für die biologische Forschung ziehen. Ich will im Folgenden Beispiele aus der Gehirn- und Verhaltensforschung schildern, die schon bei Tieren die Freiheit als wesentliches Element des Verhaltens erkennen lassen. Vielleicht können meine

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Ausführungen dazu beitragen, unter Biologen und Gehirnforschern die verbreiteten Missverständnisse über Freiheit zu beseitigen. Wenn man den Determinismus nicht ganz abgeschüttelt hat, kann die Beschäftigung mit den Naturgesetzen leicht zu der Vorstellung führen, dass alles, was prinzipiell der naturwissenschaftlichen Betrachtung entgeht, nicht eigentlich Teil der Wirklichkeit sein könne. Aus dieser Einstellung resultiert m. E. oft die oben erwähnte Ablehnung der Freiheit unter Naturwissenschaftlern. Das Argument gegen die Freiheit scheint mir etwa so zu lauten: Alles Abwägen von Gründen geschieht im Gehirn. Dort gibt es Nervenzellen, Botenstoffe und Ionenströme. Was man mit diesem Inventar im Prinzip machen kann, wissen wir schon. Es kommen dabei nur Verursachungen vor, und sollte aufgrund der Quantenmechanik doch einmal etwas unverursacht geschehen, so wäre das der reine Zufall. Aber weder verursachte Handlungen noch solche, die durch einen Zufallsprozess im Gehirn ausgelöst wurden, bezeichnen wir als frei. Und etwas Drittes gibt es nicht. Zwischen Gesetzmäßigkeit und Zufall ist kein Platz für etwas Drittes. Wenn es nicht die Gründe sind, die einer der Handlungsalternativen den Zuschlag verschaffen, kann es nur der Zufall sein.

Das Erlebnis der Freiheit ist keine Illusion Wer die Freiheit im Verhalten ablehnt, bezeichnet das Erlebnis der Freiheit in der Regel als Illusion (Wegner, 2002). Illusionen kennen wir z. B. aus Zaubervorstellungen oder aus der Sinnesphysiologie. Dort spielen sie eine wichtige Rolle. Wir bezeichnen die Deutungen von eigenen Erfahrungen als Illusionen, wenn sie im Widerspruch zu einem großen in sich konsistenten Verbund anderer Erfahrungsdeutungen stehen. So z. B. die Halluzinationen, die sich mit unzähligen Erfahrungen anderer, wie auch mit anderen Erfahrungen der Patienten selbst, nicht in Einklang bringen lassen. So wird auch nicht das Erlebnis der Freiheit in Frage gestellt, sondern seine Deutung als wirkliche Freiheit in unseren Handlungen. Aber mit welchen anderen Erfahrungsdeutungen sollte die der relativen Handlungsfreiheit im Konflikt stehen? Die Erfahrung, dass nichts ohne Gründe geschehe, kann hier sicher nicht angeführt werden. Sie gibt es nicht. Das entsprechende Postulat ist

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ein theoretisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts.1 Wir erleben oft Ereignisse ohne hinreichende Gründe und die Physik bescheinigt uns seit der Quantenmechanik, dass das keine Illusion sein muss. In Wirklichkeit ist die überwältigende Erfahrung, dass wir fast immer ohne hinreichende Gründe handeln. Unser Verhalten ist so „fehlerfreundlich“, dass selbst ein völlig unvorhersehbarer neuer Grund im letzten Moment noch berücksichtigt werden kann. So zufallsdurchtränkt wie die Ergebnisoffenheit ist auch schon das Abwägen von Gründen. Die Erfahrung von relativer Handlungsfreiheit kann also nicht als Illusion eingestuft werden, weil es keinen anderen Erfahrungsschatz gibt, zu dem sie in Widerspruch steht.

Naturgesetze und Einmaligkeit Die Naturgesetze sind nicht die Natur. Unser persönliches Dasein ist ein existenzielles Ereignis, ein Einzelfall. In den Umständen, in denen wir leben, sind wir mit der Bewältigung von lauter Einzelfällen beschäftigt. Unsere Wahrnehmungen und Gefühle, unsere Gedanken und Erinnerungen, unser Bewusstsein und unsere Freiheit sind zunächst solche singulären Lebensmomente. Sie gibt es einfach, wie es diesen Baum und jenen Bach, diese Wolke oder den Abendstern gibt. Das ist der metaphysische Hintergrund, vor dem sich das Dasein abspielt. Untrennbar davon, aber doch erst in zweiter Linie, können wir unser Dasein reflektieren, unsere Erfahrungen in Begriffe fassen, darüber nachdenken, miteinander reden und schließlich auch Wissenschaft betreiben. Selbst wenn in der naturwissenschaftlichen Mikroanalyse der Handlungsfreiheit nur Verursachungen und Zufälle auftreten, ist die Handlungsfreiheit deswegen nicht weniger wirklich. Auch bei der Mikroanalyse der Temperatur finden wir nur die Bewegung von Atomen und Molekülen. Wer würde behaupten, dass es die Temperatur deswegen in Wirklichkeit nicht gäbe. Dann könnte man uns ja auch den Schmerz ausreden, der ja „in Wirklichkeit“ nur eine Kette physiologischer Vorgänge im Gehirn sei. Handlungen können in Wirklichkeit unfreie und freie Handlungen sein. An dieser Stelle sei erwähnt, dass viele Menschen immer noch eine Verletzung der Physik als notwendige Bedingung von Handlungsfrei1

Ältere theologische Vorstellungen der Allmacht Gottes seien hier übergangen, so interessant sie in diesem Zusammenhang auch sind.

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heit ansehen. Es macht m. E. keinen Sinn anzunehmen, wir könnten mit jedem Willensakt die Physik aus den Angeln heben. Mir ist noch kein seriöser Gehirnforscher begegnet, der zur Begründung der Handlungsfreiheit im Gehirn nach Verletzungen der Physik sucht. Wir nehmen immer nur Verursachungen und Zufälle an. Eine Verletzung der Physik ist, wie gesagt, seit der Quantenmechanik nicht mehr nötig. Um diese kurze Positionierung zusammenzufassen: Die Willensfreiheit lässt sich nicht durch naturwissenschaftliche Befunde im Gehirn widerlegen. Freiheit hat mit Risiko und Möglichkeit zu tun. Es geht darum, dass wir, die Akteure, existenzielle Subjekte sind. „Bin so frei!“ sagt der Wiener. Was ist diese Qualität menschlichen Verhaltens, die wir Freiheit nennen? Ich will vier Aspekte nennen: Die Urheberschaft, das Wollen, die Entscheidung und die Gedankenfreiheit. In der Verhaltensbiologie oder Bio-Psychologie können alle diese Aspekte untersucht werden. Es versteht sich, dass wir im Gehirn immer nur Verursachungen und Zufälle am Werk finden werden, vermutlich in faszinierendem Zusammenspiel. Dieses Zusammenspiel könnte sich bei der ergebnisoffenen Abwägung von Gründen in menschlichen Angelegenheiten als unentwirrbar erweisen. Ich will aber auch nicht bei den Psychologen „wildern“, sondern lieber Beispiele aus meinem Erfahrungsbereich bringen – der Gehirnforschung an der Fliege Drosophila. Zwei so wichtige Elemente unserer Freiheit wie die Urheberschaft und die Entscheidung findet man schon bei den niederen Tieren.

Urheberschaft Würde nichts ohne hinreichende Ursachen geschehen, wäre es unsinnig, jemandem Urheberschaft zuzuschreiben. Wo sollte man die unendliche Kette der Verursachungen durchtrennen? Ist jedoch die Ursachenlosigkeit erst einmal zugestanden, können die Gründe vollständig im jeweiligen Individuum liegen. Mit dieser theoretischen Klarstellung wollen wir uns dem raffinierten Gemisch von Gründen und Zufällen zuwenden, das wir Urheberschaft nennen. Dazu muss ich weit ausholen. Die Gene sichern den Entwicklungsweg vom befruchteten Ei bis zum ausgereiften Gehirn. Viele Gene sind dabei unentbehrlich, ohne sie bricht die Entwicklung zusammen. Man kann vom genetischen Entwicklungsprogramm sprechen, wenn man dabei z. B. an das Programm

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eines Kindergeburtstags denkt. Der Ablauf muss immer wieder kontrolliert, gebündelt, stabilisiert und mit Information versorgt werden. Im genetischen Programm der Gehirnentwicklung gibt es aber auch Flexibilität und Freiräume. Eine durch einen Unfall abgestorbene Nervenzelle kann u. U. durch eine andere ersetzt werden. Der Embryo passt sich frühzeitig an die jeweiligen Lebensumstände an und in jeder Entwicklung sorgen kleine und größere Zufälle für die Einmaligkeit des jeweiligen Lebewesens, selbst bei eineiigen Zwillingen mit gleichem Erbgut. Die Gene sind weitgehend dafür zuständig, dass aus dem Ei einer Meise wieder eine Meise entsteht, aus dem eines Finken ein Fink. Im Zeitalter der Genomik haben die Gene viel von ihrem mystischen Flair verloren. Im Prinzip glauben wir zu verstehen, was die Gene für das Gehirn und das Verhalten leisten. Jedes Gen ist die Bauvorschrift für ein oder mehrere Proteine. Diese bestimmen direkt oder im Verbund mit dem Stoffwechsel die Eigenschaften der Zellen. Mit der Entstehung höherer Lebewesen haben die Zellen vielfältige Formen der Kommunikation untereinander entwickelt. Viele Nervenzellen sind zusätzlich auf besonders rasche Signalübertragung im Bereich von Millisekunden spezialisiert. Eine der Errungenschaften dieser Kommunikation sind Nervennetze aus einigen Dutzend oder einigen tausend Zellen, die Sequenzen von Muskelaktivierungen programmieren können, die der Verhaltensforscher als Verhaltensmodule kennt, wie das Greifen des Säuglings, die Silben des Vogelgesangs oder die rhythmische Bewegung der Beine beim Laufen. Manche Module, wie der Herzschlag, dauern von der Embryonalzeit bis zum Tod. Andere, wie das Zuschlagen der Kiefer des Krokodils, dauern nur Bruchteile von Sekunden. Einige können parallel zueinander ablaufen, wie Gehen und Singen, einige verhindern sich gegenseitig, wie Schlafen und Klavier spielen, wieder einige schließen notwendig aneinander an, wie das Landemanöver des Vogels, der nur so das Fliegen beenden kann, usw. Das Leben von Tieren und Menschen ist von Anfang bis Ende ein fortlaufendes Geflecht solcher Verhaltensmodule. Viele dieser Verhaltensakte sind stereotyp, wie die Lautmuster der meisten Insekten und vieler Vögel. Andererseits können auch Tiere schon lernen, Verhaltensmodule zu Sequenzen zusammenzusetzen und ihren Ablauf zu perfektionieren. Andere Nervennetze kontrollieren das Auftreten und die Feinstruktur dieser Bausteine, indem sie z. B. Hormone in die Körperflüssigkeiten oder Modulatoren direkt in das Nervensystem abgeben. Wieder andere bereiten die Kontrollnetzwerke mit vorverarbeiteten

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Daten auf ihre Kontrollfunktionen vor und passen das ganze System mittel- und langfristig den Umständen und den damit verbundenen wechselnden Erwartungen an die Zukunft an. Diese Kontrolle ist weich, d. h. sie verändert die Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten der Verhaltensmodule. Eine der ursprünglichsten Wurzeln der Verhaltensfreiheit ist der hohe Grad der Autonomie von Lebewesen. Fast alle Prozesse, die in einem Organismus ablaufen, beziehen sich auf den Organismus selbst. Der Austausch mit der Umgebung erscheint im Vergleich dazu zweitrangig. Eine kleine Veränderung der Temperatur führt zu einer Fülle von Vorgängen im Organismus, die dafür sorgen, dass ihm daraus kein Nachteil erwächst. Organismen unterhalten Heerscharen von Schutzmaßnahmen gegen Fremdeinwirkung, nicht nur als Reaktionen, sondern auch als Vorsorge. Ein Beispiel für diese Autonomie ist die Fähigkeit, zwischen selbst- und fremdverursachten Sinnesreizen zu unterscheiden. Die Autonomie ist der entscheidende Grund, warum Organismen Urheber sein können. Sie können von sich aus Verhaltensmodule aktivieren, ohne Anstoß von außen. Für das Gehirn gilt in ganz besonderem Maße, dass es vorwiegend mit sich selbst beschäftigt ist. Diese initiale Aktivität werden wir gleich noch ausführlicher betrachten. Hinsichtlich ihrer Verhaltensfreiheiten stellen autonome Wesen höchst spezifische Ansprüche an ihr Erbgut. Genetische Fehler können die Autonomie einschränken, die Menge der Verhaltensoptionen verkleinern, aber auch das Verhalten erratischer machen und damit die Qualität des Entscheidungsprozesses beeinträchtigen. Mit anderen Worten, unsere Gene ermöglichen einerseits überhaupt erst unsere Freiheit, andererseits begrenzen sie sie und können sie in krassen Einzelfällen auch weitgehend verhindern.

Über die Freiheit des Ortes Kaum etwas hat das Verhalten so sehr geformt wie die Fortbewegung im Raum. Als Hinweis auf die Verhaltensfreiräume, die sich durch die Fortbewegung auftun, wird Niels Bohr sinngemäß mit dem Ausspruch zitiert, man könne kein Auto bauen, das nur von Hamburg nach Bremen zu fahren in der Lage wäre. Die Freiheit des Ortes geht vermutlich bis auf die Frühphase der Evolution zurück, als der Wettbewerb zwischen chemischen Verbindungen durch den Wettbewerb zwischen Membranbläschen abgelöst wurde, die frei im Wasser der Urmeere

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suspendiert waren. Die Tiere haben dieses Prinzip der örtlichen Ungebundenheit nicht aufgegeben, im Gegensatz zu den ortsfesten Pflanzen. Dadurch kann sich für die Tiere einerseits die Umgebung viel schneller und radikaler ändern als für Pflanzen, andererseits besitzen sie ein einzigartiges Mittel dieser Herausforderung zu begegnen: die aktive Fortbewegung. An die Freiheit des Ortes lassen sich die beiden Fragen „Frei wovon“ und „Frei wozu“ sinnvoll stellen. Tiere sind frei von einem bestimmten Ort, und sie sind in der Lage, Orte aufzusuchen. Die Struktur des Raumes bedingt, dass kleinste Unterschiede in der Richtung nach einer gewissen Zeit der Vorwärtsbewegung zu weit auseinander liegenden Orten führen. Tiere sind im Prinzip aktiv, und nur deswegen können sie auch passiv sein. Unsere Sprache verfügt über eine aktive Form des Verbs, die in der Regel angibt, dass ein Wesen aus seiner Autonomie heraus und von sich aus initial etwas tut (Heisenberg, 1983). Die Amsel pickt an einem Wurm, die Schildkröte springt ins Wasser. Unter dem Einfluss des Determinismus war aus der initialen Aktivität heimlich eine Reaktivität gemacht worden. Nach dem Motto: „Von nichts kommt nichts!“ hatte die Verhaltensforschung versucht, die initiale Aktivität als mangelndes Wissen des Beobachters wegzuerklären. Aber so wie heute noch die Motorik ihre Unabhängigkeit von der Sensorik dadurch dokumentiert, dass sie jener in der Entwicklung ein wenig vorausgeht, so war vermutlich auch in der Naturgeschichte die Entwicklung der Motorik von der Sensorik zunächst unabhängig, weil schon allein die Verbreitung im Raum aktive Mobilität evolutionär begünstigte. Wie dem auch immer gewesen sein mag, die initiale Aktivität ist ein Grundelement der Freiheit des Ortes und überhaupt der Verhaltensfreiheit. Verhaltensmodule können, wie gesagt, ohne Anstoß von außen aktiviert werden (Heisenberg/Wolf, 1979), was nicht heißt, dass diese Aktivierung keine physiologischen Ursachen hätte. Nur muss sie auch ein Element des Zufalls enthalten. Die Aktivierung antwortet nicht auf einen Reiz oder ein anderes Verhalten, sondern sucht nach einer Antwort, nach noch unbekannten Wirkungen, die neue Möglichkeiten eröffnen. Verhalten um zu…, das nennt man im Fachjargon operant. Darunter fallen die verschiedensten Formen des Suchens und Ausprobierens. Operantes Verhalten gehört zu den elementarsten Grundlagen des Verhaltens überhaupt (Wolf/Heisenberg, 1991). Im Ausprobieren erklärt sich das Verhalten nicht aus seinen Ursachen, sondern aus seinen Konsequenzen. Das Tier muss seinen Zustand

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vor und nach dem Verhaltensakt mit einem erstrebten Zustand vergleichen. Verringert sich der Abstand zwischen dem aktuellen Zustand und dem erstrebten, setzt das Tier das Verhalten fort, vergrößert er sich, bricht es das Verhalten ab und probiert etwas anderes. Beim Ausprobieren kann das Tier etwas über die Folgen seines Verhaltens lernen und damit u. U. später unangenehmen Situationen zuvorkommen. Diese Leistung wird operante Konditionierung genannt und kann bei Drosophila in den verschiedensten Versuchsbedingungen studiert werden.

Entscheidung Man kann der Meinung sein, schwierige moralische Entscheidungen treffen zu können sei eine rein menschliche, soziokulturelle Leistung. Wenn man hier die Betonung auf die Moral legt, mag das so zutreffen. Trotzdem muss gelten, dass unser Gehirn das Abwägen von Gründen ermöglicht. Wir können also – mit Blick auf eine mögliche Naturgeschichte der Freiheit – die Verhaltensbiologie fragen, was sie über die Entscheidung weiß. Die Antwort ist überraschend: Die Organisation der Entscheidung ist stammesgeschichtlich vermutlich so alt, dass wir sie fast überall im Tierreich vorfinden. Tiere können nicht nur Verhaltensmodule initial aktivieren, sondern auch Vorgänge im Gehirn, so z. B. Repräsentationen der möglichen Folgen von Verhaltensoptionen, um sie mit möglichen Folgen anderer Verhaltensoptionen zu vergleichen. Ein Beispiel, aus dem hervorgeht, dass schon im Drosophila-Gehirn Verhaltensmodule angeborenermaßen mit ihren möglichen Konsequenzen repräsentiert sind, ist die sogenannte schnelle Phototaxis, die Flucht zum Licht. Wenn nichts Dringendes ansteht, putzen Fliegen sich. Dabei spielen die Flügel eine wichtige Rolle; stäubt man sie ein, verlängert sich das Flügelputzen – Flugbereitschaft ist offenbar sehr wichtig. Warum rennen die Fliegen in engen, dunklen Röhren zum Licht, wenn man sie erschreckt? Vermutlich, weil sie dort wegfliegen können. Auf dem Boden, im Dunkeln lauert Gefahr. Sie verraten uns mit ihrer Flucht zum Licht, dass ihnen die Konsequenzen des eigenen Verhaltens „einprogrammiert“ sind. Diese Schlussfolgerung wird erst so richtig deutlich, wenn man die Flügel mit einem winzigen Tropfen Zuckerwasser oder Klebstoff zusammenklebt. Das Laufen wird dadurch nicht beeinträchtigt. Aber die Flucht zum Licht findet nicht statt. Egal wie man den Gebrauch der Flügel verhindert, durch Amputation, Muta-

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tionen in den Flugmuskel-Proteinen oder Blockade des Flugkontrollnetzwerks, wenn das Fliegen nicht funktioniert, flüchtet die Fliege nicht zum Licht, und sie hat auch keinen Anlass das zu tun (erwähnt in Heisenberg/Wolf, 1984). Entscheidungen setzen also offenbar initiale Gehirnaktivität voraus. Diese kann man bei Drosophila direkt sichtbar machen: Die Fliege kann z. B. ihre Aufmerksamkeit selektiv auf bestimmte Stellen in ihrem Sehfeld lenken. Meist folgt sie mit ihrer Orientierung rasch nach. Aber das können wir experimentell verhindern. Im folgenden Versuch hängt sie starr an einem Messgerät, das die Drehmomente aufzeichnet, mit denen sie im freien Flug ihre Rechts- und Linkskurven ausführen würde. Wenn man in dieser Situation links von der Fliege einen schwarzen Balken hin und her bewegt, versucht die Fliege dieser Bewegung mit charakteristischen Manövern zu folgen, die sich in den beiden Phasen, in denen der Balken sich mit der Flugrichtung der Fliege beziehungsweise gegen sie bewegt, unterscheiden. Wiederholt man das Experiment auf der anderen Seite, beobachtet man das entsprechende Verhalten, welches sich im Drehmoment natürlich spiegelsymmetrisch zeigt. Nun kommt der entscheidende Versuch: Wir präsentieren der Fliege jetzt zwei Balken, einen links, einen rechts, symmetrisch zur Mittelachse, und bewegen diese Balken im Gleichtakt hin und her, immer zusammen nach vorn und nach hinten. Was macht die Fliege? Sie bezieht sich mit ihren Flugmanövern eine Weile lang auf den einen Balken, dann auf den anderen. Sie blendet wechselnde Teile des Sehfeldes aus (Wolf/Heisenberg, 1980). Das Fliegengehirn generiert also von selbst, d. h. unabhängig vom Verhalten und von spezifischen Sinnesreizen, hoch geordnete, verhaltensrelevante Aktivität.

Ziele Wenn Tiere ausprobieren, haben sie auch Ziele. Damit können Tiere, wie wir, Absichten und Wünsche, vielleicht auch in bescheidenem Maße Hoffnungen haben. Der Regenwurm probiert aus, wo er am besten durch das Erdreich dringt, der Vogel, ob ein neuartiges Material sich für sein Nest eignet. Dabei muss dem Vogel ein Ziel vorschweben, so primitiv diese „Vorstellung“ sein mag. Auch die Fliege Drosophila probiert aus, wie sie z. B. eine bekömmliche Umgebungstemperatur finden oder ihren Flug stabilisieren kann. Das wird in einem Versuch

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besonders deutlich, der ursprünglich in der Humanpsychologie entwickelt worden ist und dort Berühmtheit erlangt hat. Es ist das sogenannte Umkehrbrillen-Experiment. Die Probanden müssen eine Brille tragen, die z. B. rechts und links vertauscht, und müssen damit zu leben lernen. Am Anfang des Experiments werden sie von Helfern geführt, bis sie in der Lage sind, die krassesten Fehler in ihrer visuomotorischen Koordination zu vermeiden. Stellen Sie sich vor, Sie trügen eine solche Brille. Sie stünden hier und wollten sich einer freundlichen Dame links von Ihnen zuwenden. Die sähen Sie jedoch mit der Umkehrbrille auf der rechten Seite und während Sie sich dorthin wendeten, verschwände sie rechts aus Ihrem Blickfeld. Das Experiment ist so berühmt, weil man sich an die Brille gewöhnt. Nach ein paar Tagen mit sehr unangenehmen Erlebnissen hört man auf, sich daran zu stören, dann merkt man nicht mehr, dass rechts und links vertauscht sind, außer wenn man danach gefragt wird, und schließlich, nach einer Woche, ist links wieder links und rechts rechts, selbst wenn man auf die Brille aufmerksam gemacht wird. Was lehrt uns dieses Experiment? Z.B., dass die Wahrnehmung ein ganzheitlicher Vorgang ist. Der Sehsinn ist im Streben nach erfolgreicher Orientierung im Raum und nach Konsistenz der Summe der anderen Erfahrungen untergeordnet. Mit den Fliegen kann man ein ganz ähnliches Experiment durchführen. Wir hängen sie wieder an besagtes Messgerät, wo sie sich nicht drehen können, ihre Drehversuche aber aufgezeichnet werden. Aber jetzt bauen wir das Messgerät zu einem Flugsimulator aus. Ein Computer errechnet aus den Messwerten, wie schnell sich die Fliege drehen würde, wenn sie frei wäre und bewegt das Panorama, in dem die Fliege hängt, entsprechend in die andere Richtung. Im Flugsimulator führt also ein Drehversuch nach rechts zu einer Drehung des Panoramas nach links und umgekehrt. Dann setzen wir der Fliege im Flugsimulator sozusagen die Umkehrbrille auf. Das geht mit einem einfachen Schalter in der Steuerungselektronik. Jetzt führt plötzlich ein Drehversuch der Fliege nach rechts zu einer Drehung des Panoramas ebenfalls nach rechts und damit passiert der Fliege das, was vorhin dem Herrn auf dem Podium mit der Dame im Zuschauerraum passiert ist. Die Fliege versucht, sich auf eine Landmarke zuzudrehen, und diese verschwindet auf der gleichen Seite nach hinten aus dem Blickfeld. Auch die Fliege lernt, sich mit ihrer neuen Situation zu arrangieren und nach ca. 40 Minuten ist sie wieder „Herrin der Lage“ (Heisenberg/ Wolf, 1984). Sie hat gelernt, dass sie sich der Landmarke zuwenden

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kann, wenn sie das entgegengesetzte Flugmanöver macht, das sie normalerweise durchführen würde. Das konnte sie nur durch Ausprobieren herausfinden. Setzt man ihr die Umkehrbrille wieder ab, ist sie für einen kurzen Moment verwirrt, kehrt dann aber rasch in ihre normale Verhaltensweise zurück. Auf die Frage, wo im Gehirn die initiale Aktivität entsteht, die dem Tier das Ausprobieren ermöglicht, sind wir noch auf Spekulation angewiesen. Im Verdacht steht jedoch eine Region in der Mitte des Gehirns, der so genannte Zentralkomplex. Wie reagiert eine Fliege, der man die Entscheidung schwer macht? Fliegen im Flugsimulator wurden mit Bestrafungen konditioniert, bestimmte Flugrichtungen relativ zu Landmarken zu vermeiden. Die Landmarken unterschieden sich durch ihre Form und ihre Farbe. Ein blaues „T“ etwa war „gefährlich“, ein umgedrehtes grünes „T“ „sicher“. Das konnten die Fliegen rasch lernen, und schon eines der beiden Parameter, Form oder Farbe, reichten aus, der Fliege die sichere Flugrichtung zu weisen. Nun wurden aber für den Test die Formen und Farben umgekehrt kombiniert (Tang/Guo, 2001). Auf einmal waren die aufrechten Ts grün und die umgedrehten blau. Was tun? Die Fliegen entschieden sich einmal so, das nächste Mal anders. Das Experiment war so eingerichtet, dass im Mittel alle Fliegen zusammen in ihrem Verhalten die erwartete Pattsituation widerspiegelten. Das eigentlich Interessante an diesem Experiment zeigte sich, als die Wissenschaftler die Reizstärke der Formen oder Farben im Test variierten. Sobald die Farben auch nur eine Nuance weniger rein waren, richteten sich die Fliegen nach den Formen, wenn dagegen die Formen auch nur eine Spur weniger unterschiedlich waren, richteten sich die Fliegen nach den Farben. Entgegen aller Erfahrungen aus früheren Versuchen zogen die Fliegen in diesem Konfliktfall auf einmal die Reizstärken der Testmuster für ihre Entscheidung mit heran. Die Zuverlässigkeit der Reize, die ohne die Pattsituation fast belanglos gewesen wäre, bekam eine entscheidende Bedeutung. Dieses Beispiel beleuchtet ein Funktionselement der Entscheidung, das sich offenbar bei Fliegen wie Menschen findet: In schwierigen Entscheidungssituationen werden weitere Kriterien in die Abwägung einbezogen. Man kann ahnen, welche interessanten Zusammenhänge uns erwarten, wenn wir eines Tages in die Verhaltensbiologie der Entscheidung tiefer eindringen können. Man wird die wichtigsten Kriterien finden, die die Philosophen an eine freie Entscheidung stellen: Keine Fremdbestimmung und keine unmittelbaren Sachzwänge, d. h. es muss Verhaltensoptionen mit hinreichend günstiger Prognose geben. Zu einer freien Entscheidung gehört auch,

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dass sie ohne zu große Fehler und Nachlässigkeiten in den Abwägungsvorgängen zustande kommt.

Andere Verhaltensfreiheiten des Menschen Andere Verhaltensfreiheiten – wie das Wollen und die Gedankenfreiheit – habe ich hier ausgeklammert. Beide fallen nicht in meine Fachkompetenz. In beiden wird ein anderes Verhaltenselement zentral, der soziale Bezug. Wenn wir nach dem „Frei wovon“ und „Frei wozu“ fragen würden, müssten wir über die Beziehungen in der Gruppe und in größeren Sozietäten reden. Aber beide Themen zeigen die Wucht, die von dem in die Welt gesetzten Verhaltensakt ausgehen kann. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Er versetzt Berge. Die Trennung von Wollen und Tun wird schon bei unseren Haustieren deutlich, z. B. wenn eine Katze sich überlegt, ob sie auf eine Mauer springen soll. In der Sozietät ist der Wille des Einzelnen zunächst nur eine Stimme in einem Konzert von Willensäußerungen. Um seinen Willen durchzusetzen, muss man sich in dieses Kräftespiel einfügen. Wer seinen Willen in der Gruppe durchgesetzt hat, trägt eine erhöhte Verantwortung für das Gelingen der gemeinsamen Aktion. Das Wollen ermöglicht einem die nachträgliche (wenn auch nicht reale, so doch mentale und soziale) Revision der Entscheidung. Man kann unterscheiden, was man tun wollte und was man getan hat. Genauer: In der Rekapitulation der Handlung verschafft einem die Trennung von Wollen und Tun die Möglichkeit, die Entscheidung im Licht ihrer Konsequenzen noch einmal zu vollziehen. Wieder ein ganz neues Kapitel ist die Gedankenfreiheit. Philipp II. meinte zu wissen, warum er in seinem Reich keine Gedankenfreiheit zulassen konnte. Einmal in die Welt gesetzt, lassen sich Gedanken u. U. nicht mehr unterdrücken. Aber die meisten hinterlassen kaum eine Spur, sind verflogen, noch ehe sie zur Rede gerinnen konnten. Wie frei sind Gedanken? Woher kommen sie? Woher kommt der Einfall, von dem der, der ihn hat, selbst überrascht wird? Gibt es Gesellschaften, in denen zwar Meinungsfreiheit, aber keine Gedankenfreiheit herrscht? Beide Themen, die Willens- und die Gedankenfreiheit, könnten wie die Entscheidungsfreiheit zentrale Themen der Gehirn-, Verhaltensund Psychobiologie sein.

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Zusammenfassung In der Freiheit finden wir uns vor. Wir können versuchen, die biologischen Voraussetzungen dieses Befundes zu verstehen. Die Diskussion der letzten Jahre über Handlungs- und Willensfreiheit ist von den Nachwirkungen des Determinismus geprägt. Meine Pointe ist, dass wir mit der Überwindung des Determinismus nicht mehr um die Ursachenlosigkeit im Verhalten kämpfen müssen, sondern gerade das äußerst subtile Gefüge von Ursachen und Zufällen zum Thema machen können. Freiheit ist möglich, weil sie der Physik und Chemie des Gehirns nicht widerspricht. Als Beispiele für Verhaltensfreiheiten habe ich Urheberschaft, Wollen, Entscheidung und Gedankenfreiheit erwähnt, mich dann aber nur mit der Urheberschaft und der Entscheidung beschäftigt. Die Urheberschaft verdankt sich dem hohen Autonomiegrad tierischer Organismen. Die Entscheidung ist dadurch gekennzeichnet, dass dem Individuum Verhaltensoptionen offen stehen, zwischen denen es selbst abwägen muss. Abwägen zwischen Verhaltensoptionen bedeutet, dass die möglichen Folgen der zur Verfügung stehenden Verhaltensweisen repräsentiert, aktualisiert, verglichen und bewertet werden und dass die initiale Aktivierung des Verhaltens von dieser Abwägung abhängig gemacht wird. Die Entscheidungsfreiheit ist eine Freiheit von Fremdeinflüssen, die fr eine verantwortliche Güterabwägung genutzt wird. Alle diese Eigenschaften kann man im biologischen Zusammenhang diskutieren und an Tieren beobachten. In der allgemeinen Organisation tierischen Verhaltens zeigen sich die Urheberschaft und die Grundelemente der Entscheidung. Schon niedere Tiere sind initial aktiv und können ausprobieren. Sie haben Ziele und Verhaltensoptionen, die in ihrem Gehirn durch ihre möglichen Folgen repräsentiert sind. Freiheit ist überall im Verhalten von Tieren und Menschen zu entdecken. Sie ist für die Organisation des Verhaltens so wichtig, dass die Verhaltensforschung nicht umhin kann, sie zu thematisieren, auch wenn die Freiheit uns dabei auf der Mikroebene nur in unpersönlicher Verkleidung als Zufall entgegentritt. Die naturwissenschaftliche Erforschung der (naturalisierten) Freiheit wird unser Erleben der Freiheit beeinflussen. Wir werden klarer sehen, was Handeln frei macht.

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Bibliographie Heisenberg, Martin (1983): Initiale Aktivität und Willkürverhalten bei Tieren. In: Naturwissenschaften (70), 70 – 78. Heisenberg, Martin/Wolf, Reinhard (1979): On the Fine Structure of Yaw Torque in Visual Flight Orientation of Drosophila melanogaster. In: Journal of Comparative Physiology A (130), 113 – 130. Heisenberg, Martin/Wolf, Reinhard (1984): Vision in Drosophila. Genetics in Microbehavior. Berlin/Heidelberg/New York: Springer. Roth, Gerhard (2004): Das Problem der Willensfreiheit aus Sicht der Hirnforschung. In: Debatte (1), 83 – 92. Singer, Wolf (2006): Neurobiologische Anmerkungen zum Freiheitsdiskurs. In: Debatte (3), 17 – 26. Tang, Shiming/Guo, Aike (2001): Choice Behavior of Drosophila Facing Contradictory Visual Cues. In: Science (294), 1543 – 1547. Wegner, Daniel M. (2002): The Illusion of Conscious Will. Cambridge, Massachusetts: MIT Press. Wolf, Reinhard/Heisenberg, Martin (1980): On the Fine Structure of Yaw Torque in Visual Flight Orientation of Drosophila melanogaster II. Visual Attention. In: Journal of Comparative Physiology A (140), 69 – 80. Wolf, Reinhard/Heisenberg, Martin (1991): Basic Organization of Operant Behavior as Revealed in Drosophila Flight Orientation. In: Journal of Comparative Physiology A (169), 699 – 705.

Der Homunkulus und die Zeit. Warum die Neurophysiologie die Frage des freien Willens nicht lösen kann C. GIOVANNI GALIZIA Zur Frage nach der Evolution der Freiheit und nach der Funktion des Bewusstseins berichte ich aus dem Blickwinkel meiner eigenen Disziplin, nämlich den Neurowissenschaften.1 Ich werde dabei auf vier Aspekte eingehen: 1. Die Rolle einzelner Disziplinen im interdisziplinären Diskurs. 2. Das Ausmaß der Kompetenz und die Grenzen der Neurowissenschaften. 3. Die Frage, wie Tiere Entscheidungen treffen.2 1

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Auch in den Neurowissenschaften – wie in jeder anderen Disziplin – werden durchaus unterschiedliche Positionen bezogen. Meine Stellungnahme kommt aus den Neurowissenschaften, aber ich spreche nicht für alle Neurowissenschaftler. In jedem interdisziplinären Diskurs kann die Wahl eines Wortes zu Missverständnissen, manchmal zu Abwehrreaktionen und gelegentlich zu direkter Ablehnung eines Gedankenganges führen, ohne dass diese Reaktion durch den Inhalt der Abhandlung begründet wäre. Ein solches Wort ist „Entscheidung“. Für viele ist „Entscheidung“ ein intentionaler Akt und setzt damit Bewusstsein voraus. Der Satz „ein Tier entscheidet sich“ würde also voraussetzen, dass ein Tier Bewusstsein hat. Ein Leser, der a priori dem Tier Bewusstsein abstreitet, würde ab dieser Stelle den Text nicht mehr wohlwollend, sondern ablehnend lesen. Ein Leser, der die Bewusstseinsfrage offen lässt, würde ab dieser Stelle jede Argumentation über Bewusstsein für zirkulär halten, da die Wortwahl schon eine Stellungnahme impliziert. Leider habe ich aber kein Wort gefunden, das nicht entweder für manche ein Bewusstsein impliziert oder gerade ein Bewusstsein ausschließt (etwa „Reaktionsmechanismus“). Hinzu kommt, dass innerhalb der Neurowissenschaften „Entscheidung“ ausdrücklich nicht Intentionalität impliziert. Bei Menschen kann man von „bewusster Entscheidung“ und „unbewusster Entscheidung“ sprechen oder sich bei Entscheidungen fragen, ob sie intentional waren oder nicht (was nicht ginge, wenn das Wort per se schon die Intentionalität voraussetzen würde). Bei Tieren können wir beobachten, dass in einer Verhaltenssituation, in der mehrere Verhaltensweisen (sagen wir A, B und C) möglich sind, ein Tier eine Verhaltensweise ausführt – es hat sich für ein Verhalten entschieden. Wir sagen „das Tier hat sich für A

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4. Die Tatsache, dass „Bewusstsein“ weder zeitlich noch räumlich zu verorten ist. Letzteres hat unter anderem zur Folge, dass unsere umgangssprachliche Verwendung des Begriffs „Bewusstsein“ in den Neurowissenschaften nicht brauchbar ist. Der Begriff „Bewusstsein“ und auch der Begriff „Freiheit“ sind neurobiologisch nicht so definierbar, wie sie in der Philosophie verwendet werden. Auch hier herrscht jedoch keine Einigkeit über den angemessenen Begriffsgebrauch. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollten diese Begriffe in den Neurowissenschaften mit großer Vorsicht benutzt werden.

1. Die Rolle einzelner Disziplinen im interdisziplinären Diskurs Im Antrag für den vom BMBF geförderten Forscherverbund „Funktionen des Bewusstseins“3 findet sich folgender Satz: „In Bezug auf hervorragende Interdisziplinarität, die eine Chance hat, die mit Sicherheit auftretenden Schwierigkeiten der terminologischen Verständigung über die Fachgrenzen hinaus zu meistern, sind wir der Überzeugung, dass die erste Voraussetzung der beteiligten Wissenschaftler disziplinäre Exzellenz sein muss. Nur mit hinreichender fachlicher Kompetenz innerhalb der einzelnen Disziplin stellt sich die nötige Souveränität ein, die Terminologie der eigenen Disziplin zu hinterfragen und für neue Einflüsse zu öffnen, ohne dabei die Verbindung zur ursprünglichen Ausgangsdisziplin zu verlieren.“ (Gerhardt/Heilinger, 2005) An den diesem Sammelband zugrunde liegenden Treffen beteiligten sich Philosophen, Psychologen, Psychiater, Neurowissenschaftler, Biologen – eine weit gefasste Gruppe, und noch andere Disziplinen könnten mitreden, etwa Theologen, Mystiker oder auch nachdenkliche

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entschieden“ („the animal has decided for A“ – das Fehlen des reflexiven „sich“ im Englischen macht diese Wortwahl im angelsächsischen Sprachraum weniger kompromittierend). Die Frage nach dem Bewusstsein und der Freiheit ist innerhalb der neurowissenschaftlichen Sprachwahl vom Wort „Entscheidung“ entkoppelt. In diesem Sinne verwende ich in meinem Text „Entscheidung“ und vertraue auf die geistige Flexibilität bei den Lesern mit anderen disziplinären Wurzeln. Die Forschergruppe Funktionen des Bewusstseins arbeitet seit 2006 an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

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Nichtintellektuelle. Diese Vielfalt hat Konsequenzen für den Diskurs, der zwischen den Beteiligten stattfindet. Wir denken über das Gleiche nach: „Bewusstsein“. Aber wir sprechen andere Sprachen, denn unsere Wissenschaften haben andere Fragestellungen, gehen von anderen Grundlagen aus und bauen auf unterschiedlichen Methoden auf. Darum ist es gerade im interdisziplinären Diskurs nötig, die Voraussetzungen jeder Disziplin klar zu benennen. Ich bin kein Philosoph, wenngleich ich gerne philosophischen Beiträgen lausche und aus meiner Laienposition heraus mitphilosophiere. Trotzdem ist mir klar, dass ich die philosophischen Beiträge nicht mit der Tiefe durchdringen kann, die jemand hat, der oder die über Jahre hinweg philosophisch geschult wurde. Ich denke, dass dies auch in der anderen Richtung gilt: Wir stoßen im interdisziplinären Diskurs an Grenzen.4 Hiermit meine ich nicht die intellektuellen Grenzen der Beteiligten. Wohl sind es zum Teil Grenzen, die durch ungleiches Wissen entstehen. Vor allem aber sind es konzeptionelle und methodische Grenzen, die tiefer greifen. Die Philosophie ist eine nachdenkliche Wissenschaft, auch dann, wenn sie sich an der Realität orientiert. Die Neurowissenschaften sind eine rein empirische Wissenschaft, auch wenn wir gelegentlich nachdenken. In dem Moment, in dem wir uns auf der Basis unseres neurowissenschaftlichen Wissens ein Bild über philosophische Fragen machen, verlassen wir aber den Boden der Neurowissenschaften. Ich sage das nicht negativ wertend, im Gegenteil: Ich denke, dass gerade diese Grenzüberschreitungen notwendig sind und das Potenzial bieten, Neuland zu betreten. Aber ich sage es einschränkend: Es muss klar sein, dass Erkenntnisse, die durch solche Exkurse gewonnen werden, nicht aus der Neurobiologie kommen. Wenn also, um ein Beispiel zu nennen, die Willensfreiheit von einem Neurobiologen negiert wird, so geschieht das nicht in seiner Funktion als Neurobiologe, sondern als Philosoph, der auf der Basis seiner neu-

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Die oben erwähnte Problematik bei der Wortwahl („Entscheidungen“) ist ein gutes Beispiel. Hier müssen wir beim Zuhören die Definition der anderen Disziplin akzeptieren, beim Sprechen sollten wir aber die eigene Definition benutzen und nicht versuchen, eine uns fremde zu nehmen. Im interdisziplinären Diskurs ist die Flexibilität auf der Seite der Zuhörer gefragt. Darin unterscheidet sich der interdisziplinäre Diskurs grundsätzlich von der Popularisierung der Wissenschaften: Bei allgemeinverständlichen Vorträgen muss die Flexibilität auf der Seite des Redners gegeben sein.

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robiologischen Kenntnisse argumentiert.5 Vielleicht kann man ihn einen Neurophilosophen nennen. Um solche Grenzziehungen treffen zu können, müssen die Grenzen klar definiert sein.

2. Wo sind die Kompetenzen, wo die Grenzen der Neurowissenschaften? Die Neurowissenschaften sind eine rein empirische Wissenschaft: Nur das Experiment und die Reproduzierbarkeit haben Autorität, nur an dieser empirischen Beobachtung lässt sich die Qualität neurowissenschaftlicher Aussagen messen. Jede gebildete Theorie ist nur so gut, wie sie mit experimentellen Daten, die nach der Theoriebildung erhoben wurden, kompatibel ist. Ziel der Neurowissenschaften ist es, die Funktionsweise des Gehirns zu verstehen. Wir sind eingebettet in den Naturwissenschaften, und alles was wir machen, muss nach „unten“ kompatibel sein – „unten“ in Anführungsstrichen, denn damit ist keine Hierarchie, aber wohl eine Inklusivität gemeint. Keines unserer Modelle darf zur Biochemie im Widerspruch stehen, so wie nichts aus der Biochemie im Widerspruch zur Chemie sein darf und diese wiederum nicht im Widerspruch zur Physik. Dies ist die Neurowissenschaft, die ich hier vertrete. Die Inklusivität der Naturwissenschaften heißt aber nicht, dass der Physiker der bessere Neurowissenschaftler ist. Aus dem Anspruch auf Widerspruchsfreiheit mit der Physik entsteht kein Anspruch der Physik auf Vereinnahmung der Neurowissenschaften. Wofür sind die Neurowissenschaften nun die „unteren“ Disziplinen? Das sind zum Beispiel die Psychologie und die Soziologie. Ich denke, die Neurowissenschaften sollten sich in Bescheidenheit üben: Wir können nicht die Soziologie ersetzen, selbst wenn wir verlangen können, dass Befunde aus der Soziologie nicht im Widerspruch zu den neurobiologischen Grundlagen sein dürfen. Und wir müssen an das 5

Dieses Beispiel hinkt in dieser verkürzten Form. Gäbe es eine aus neurobiologischer Sicht eindeutige Definition von „Willensfreiheit“, dann wäre die Aussage falsch, denn die Neurobiologie könnte innerhalb ihrer Disziplin über die Willensfreiheit forschen. Kann es aber keine neurobiologische Definition geben (weil jede Definition nur tautologisch möglich wäre), so ergibt sich die obige Aussage. Ich benutze diese hier also als Vorgriff auf den nächsten Abschnitt, in dem ich argumentiere, dass es für die „Willensfreiheit“ eben keine Definition aus der Neurobiologie geben kann, da diese methodisch an eine statistische Analyse gebunden ist.

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Selbstbewusstsein der anderen Disziplinen appellieren, denn oft sind es gar nicht die Neurowissenschaftler, die sich aufdrängen, sondern z. B. Journalisten und Hobbywissenschaftler, die meinen, dass alles Menschliche mit der Gehirnforschung erklärbar sein muss. Um ein Beispiel zu nennen: Immer wieder kommt es vor, dass aus sportlichen, religiösen oder politischen Anlässen heraus Menschenmengen eine große zerstörerische Kraft entwickeln. Viele würden den einzelnen Menschen in einer solchen Menge den freien Willen absprechen. Kann ich das neurobiologisch begründen? Natürlich sind in jedem dieser Gehirne bestimmte Areale aktiv, Botenstoffe und Hormone werden ausgeschüttet, Schwellwerte in einzelnen Zellen sind so eingestellt, dass dieses Verhalten entsteht – aber genauso gut könnte ich sagen, dass bestimmte Wasserstofforbitale mit bestimmten Sauerstofforbitalen interagieren. Auf dieser Betrachtungsebene können wir den Kern des Geschehens nicht auf befriedigende Weise beschreiben und untersuchen. Um zu verstehen, was in Amok laufenden Menschenmassen passiert, ist die geschichtswissenschaftliche Sprache und die Sprache der Soziologen der Analyse von Neurowissenschaftlern überlegen.6 Die Grundfesten der Neurowissenschaften liegen in der Empirie. „Nihil est in intellectu quod non fuerit prius in sensu“ lautet der Grundsatz des Sensualismus, einer Form des Empirismus. Hinzu kommt, dass ein Befund in dieser Hinsicht nur dann glaubwürdig ist, wenn er wiederholt werden kann. Die Statistik ist unser wichtigstes Werkzeug: Wir untersuchen nur Phänomene, die zuverlässig reproduzierbar sind. Was nicht statistisch signifikant ist, fällt aus unserem Horizont heraus. Was nicht statistisch signifikant belegbar ist, darüber 6

Was für eine Erklärung kann aus den verschiedenen Disziplinen kommen? Die Soziologie könnte zum Beispiel verstehen, unter welchen Bedingungen in einer Menschenmasse Gewaltbereitschaft entsteht. Dies ist eine Ebene, auf der wir durch die gewonnenen Erkenntnisse solche Bedingungen gezielt vermeiden können (oder auch Konfliktanschürer solche Bedingungen erzeugen können, um gezielt Gewalt zu erreichen). Die nächste Ebene – die Psychologie des Einzelnen – ist schon schwieriger. Auf neurobiologischer Ebene könnte die Erkenntnis darin liegen, dass ein bestimmter Botenstoff A, wenn er in Areal X ausgeschüttet wird, die Gewaltbereitschaft erhöht, und man könnte die physiologischen Bedingungen erforschen, unter denen dies passiert. Und man will wohl wissen, welche Wasserstoffbrückenbindungen dabei gebildet werden, wenn man noch weiter die Disziplinkette verfolgt. Wohl sind die verschiedenen Erklärungsebenen gleich „wahr“, und doch ist für das Verständnis der Situation die soziologische Erklärung im Allgemeinen die nützlichere.

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können wir nichts aussagen: Uns ist Wittgensteins Satz in die Seele geschrieben: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ (Wittgenstein, 1963, 115) – dies beziehen wir gerne auf uns Naturwissenschaftler. Dies gilt für alle experimentellen Wissenschaften. Wir können den Zufall mathematisch beschreiben, und wenn wir einen Versuch machen, dann beurteilen wir das Ergebnis durch einen Vergleich mit dem errechneten Zufallsergebnis. Dadurch wissen wir, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Versuchsergebnis ein Zufallsergebnis ist und mit welcher (komplementären) Wahrscheinlichkeit es nicht zufällig ist. Um das machen zu können, müssen wir den Versuch öfter wiederholen. Das hat eine ganz grundlegende Konsequenz: Die Einmaligkeit entzieht sich dem Forschungsgegenstand einer empirischen Wissenschaft. Wir können Michelangelo nicht darum bitten, die Sixtinische Kappelle ein zweites Mal auszumalen, um zu wissen, ob er sie auch anders hätte ausmalen können. Und auch Beethovens Entscheidung, einen Text von Schiller in einer Symphonie zu vertonen, ist nicht wiederholbar. Wir können grundsätzlich nicht testen, ob es sich um eine freie oder eine nicht-freie, ob es sich um eine bewusste oder eine nicht-bewusste Entscheidung gehandelt hat. Dies gilt sowohl für die Entscheidungsfreiheit einzelner Menschen als auch für die Entscheidungsfreiheit ganzer Gruppen: Die Entscheidung, diese Musik zur Europäischen Hymne zu machen, ist nicht unter gleichen Bedingungen reproduzierbar.7 Das heißt natürlich nicht, dass solche Phänomene nicht wissenschaftlich untersuchbar sind – wie Phantasie sich entwickelt und unter welchen Bedingungen sie gedeiht, ist ein wichtiger Forschungsgegenstand der Psychologie. Viel Forschungsenergie befasst sich genau mit dieser Problematik: Wie lassen sich aufschlussreiche Experimente gestalten, die einmalige und nicht wiederholbare Ereignisse (wie etwa die Phantasie, die Individualität einer Person oder eine freie Entscheidung) in einen statistisch analysierbaren, methodisch reproduzierbaren Rah7

Mit diesen Ausführungen stehe ich in meiner Disziplin nicht alleine da. Im Rahmen der Diskussionen im Humanprojekt hat Peter Hammerstein in seinem Beitrag gesagt: „In der Biologie wird nicht über Freiheit geredet“, Andreas Elepfandt hat das in der Diskussion präzisiert: „Freiheit ist nicht das Suchobjekt der Biologie, weil hier die Regelmäßigkeit aufhört.“ Ferdinand Hucho hat diese These folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Freiheit ist kein biologischer Begriff“. Vgl. dazu den Beitrag von Ferdinand Hucho in diesem Band.

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men zwängen.8 Während sich also die einzelne freie Entscheidung grundsätzlich der naturwissenschaftlichen Erklärung entzieht, so bleiben die Mechanismen, die eine freie Entscheidung ermöglichen, durchaus einer der wichtigsten Gegenstände auch der Neurobiologie. Das ist ein feiner, aber wichtiger Unterschied. Auf diesem Gebiet stehen uns noch große Herausforderungen bevor.

3. Was also kann die Neurowissenschaft? Wie Tiere Entscheidungen treffen Ich arbeite an Insekten und will deswegen einige Beispiele aus der Welt der Bienen vorstellen. Bienen treffen tagtäglich Entscheidungen: Welche Blüte wird angeflogen, welcher Heimweg wird geflogen. Soll eine Biene lieber im Stock dem Hausdienst frönen und die Brut pflegen, oder soll sie lieber hinaus in die Welt und Pollen oder Nektar sammeln? Jede Biene muss sich einzeln entscheiden.9 Ob Bienen Bewusstsein haben, wissen wir nicht, denn es gibt kein anerkanntes Experiment, das uns eine Aussage darüber erlauben würde, ob Tiere Bewusstsein haben – dazu ist die Definition von „Bewusstsein“ nicht eindeutig genug. Auch wenn wir nicht wissen können, ob Bienen Bewusstsein haben, können wir dazu eine Meinung haben, und ich denke, dass die meisten 8

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Wir können durchaus untersuchen, wie viel Entscheidungsfreiheit in einem Bild von Michelangelo oder in einem Bild von Jackson Pollock ist. So sind kürzlich Verfahren entwickelt worden, die einen „echten“ von einem „falschen“ Pollock unterscheiden können: Bei einem „echten“ Pollock folgen die Muster einer fraktalen Geometrie, während man bei einem falschen Pollock diese Regelmäßigkeit nicht findet. (Dieser Befund ist jedoch kürzlich wieder in Frage gestellt worden.) Ist die Kontrolle, die Pollock offensichtlich über fließende Farbe ausübte, für uns eine nützliche Information, wenn wir über sein Bewusstsein oder seinen freien Willen reden? Ich denke: nein. Dies „ich denke“ basiert aber nicht auf meiner Kompetenz als Neurowissenschaftler, denn es ist grundsätzlich sinnlos, für diese Frage auf kompetente Antworten aus den Neurowissenschaften zu hoffen. Über die Schwierigkeit mit dem Begriff „Entscheidung“ habe ich oben berichtet. Hier wird „Entscheidung“ sehr allgemein eingesetzt und beschreibt Verhaltenssituationen, in denen verschiedene Verhaltensmöglichkeiten bestehen, von denen ein Tier eine realisiert. Was zur Ausprägung des einen und nicht des anderen Verhaltens führt, ist genau der Gegenstand der Untersuchung: angeboren, reflexiv, erlernt, abwägend, aus Gründen heraus – welche Faktoren zum Tragen kommen, soll durch die Wortwahl „Entscheidung“ nicht vorweg genommen werden.

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erwachsenen Menschen meine Meinung teilen, nämlich dass Bienen kein Bewusstsein haben.10 Und trotzdem: Bienen treffen Entscheidungen, und alles, was wir in der Neurobiologie lernen, spricht dafür, dass dabei im Gehirn die gleichen Mechanismen wirken wie bei uns Menschen, wenn wir Entscheidungen treffen. Das Erforschen der Entscheidungsfindung bei Bienen kann uns also helfen, Entscheidungen von Menschen besser zu verstehen. Entscheidungen können auf angeborenem Wissen basieren (etwa dass Bienen auf Blüten und nicht auf Steinen Nektar suchen) oder auf erlerntem Wissen (etwa dass derzeit die Lindenblüten Nektar haben). Nehmen wir das Beispiel einer erlernten Entscheidung, nämlich die, auf eine bestimmte Blüte zu fliegen. Bienen sind blütenstet: Der Imker beobachtet seinen Bienenstock, und wenn er sieht, dass die Bienen gerade die Linden entdeckt haben, dann schleudert er schnell den alten Honig aus und produziert reinen Lindenblütenhonig, denn jetzt werden alle Bienen im Stock mit Vorliebe Linden ernten. Jede Biene einzeln entscheidet sich jetzt für Lindenblüten. Diese Entscheidung führt zu weiteren Entscheidungen: Kommt die Biene an eine Blüte, muss sie entscheiden, ob dies eine Linde ist, um zu wissen, ob sie auf der Blüte landen soll oder nicht. Das tut sie anhand der erkannten Merkmale der Blüte: Aussehen und Duft. Derartige Entscheidungen können wir experimentell untersuchen. Wir können eine künstliche Wiese schaffen und beobachten, wie lange eine Biene braucht, um eine bestimmte Blüte zu besuchen oder um die Blüte abzulehnen. Aus solchen Versuchen an frei fliegenden Bienen haben wir gelernt, dass die Zeit, die die Biene für eine Entscheidung benötigt, nicht von der Schwierigkeit der Aufgabe abhängt. Im Gehirn findet also für diese Entscheidung – weiterfliegen oder bleiben – ein bestimmter Ablauf statt, der nicht durch den Schwierigkeitsgrad der Duftunterscheidung beeinflusst wird. Was hier passiert, können wir genauer untersuchen. Wir können unsere reduktionistische Schraube weiter andrehen, noch mehr Variablen ausschalten, dem Tier weniger Freiheitsgrade lassen. Damit schaffen wir Umstände, die zu besser reproduzierbaren Ergebnissen führen, damit wir einen aussagekräftigeren statistischen Zugang haben. Bienen können im Experiment einen Blütenduft auch lernen, wenn sie nicht mehr fliegen. Dazu werden einzelne Bienen in Röhrchen festgehalten. Wenn man einer Biene einen Duft anbietet, reagiert sie 10 Kinder sind da meist anderer Meinung.

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nicht, wenn man aber den Bienenrüssel mit Zuckerwasser berührt, so löst dies den Rüsselreflex aus: Die Biene streckt den Rüssel aus und leckt am Zuckerwasser, das für die Biene wie Nektar ist. Wenn man nun einen Duft anbietet und gleich darauf das Zuckerwasser, so lernt die Biene, dass auf Duft Zuckerwasser folgt. Und das nächste Mal, wenn der Duft allein gegeben wird, streckt die Biene erwartungsvoll den Rüssel aus, selbst wenn gar kein Zuckerwasser gegeben wird. Dies ist eine klassische Konditionierung nach Pavlow. Grundlage für dieses Lernen ist ein Reflex, und daher würden wir in diesem Zusammenhang intuitiv nicht von einer freien Entscheidung reden. Die Biene hat gelernt, dass das Ereignis „Duft“ das Ereignis „Zuckerwasser“ vorhersagt. Sie reagiert auf den Duft damit, dass sie uns die Zunge entgegenstreckt. Aber ganz so einfach ist das Bild nicht, denn die Bienen lernen nicht zu 100 %, sondern nur zu einem Teil. Wenn wir also 100 Bienen trainieren und dann alle testen, so wird nur ein Teil davon antworten, und zwar mit einer Quote von ca. 70 %. Was ist passiert? Entweder 70 % der Bienen haben gelernt und 30 % nicht. Vielleicht erlaubt es das Experiment, „dumme“ und „intelligente“ Bienen zu unterscheiden, und tatsächlich macht dies einen Teil der Antwort aus, aber eben nur einen Teil. Die größte Komponente ist nämlich für den Beobachter zufällig. Wenn wir die 70 % der Tiere, die auf den Duft reagiert haben, erneut testen, finden wir denselben Prozentsatz von Antworten wie zuvor. Ebenso, wenn man die restlichen 30 % einem erneuten Test unterzieht. Mit anderen Worten: Eine Lernquote von 70 % bedeutet nicht, dass 70 % der Tiere intelligenter sind und gelernt haben, sondern dass jedes Tier einzeln mit 70 % Wahrscheinlichkeit auf den Duft mit dem Rüsselreflex antworten wird. Von außen betrachtet hat also jede Biene Entscheidungsfreiheit, mit dem Zungenreflex zu reagieren – oder auch nicht. Hat die Biene einen freien Willen, trifft sie gar eine bewusste Entscheidung? Nicht nur die Antwort auf diese Frage entzieht sich unserem Zugang, sondern die Frage selbst bewegt sich außerhalb unserer Grenzen. Was wir aber sagen können ist, dass bei dieser Aufgabe die „Freiheit“ klare statistische Grenzen hat. Wo diese Freiheit im Gehirn entsteht – also wodurch die statistische Verteilung zustande kommt – wissen wir noch nicht. Aber wir wissen schon einiges darüber, was dabei im Gehirn passiert. Wir können die Aktivität der Neurone, die auf einen Duftreiz antworten, mit bildgebenden Verfahren messen. Die Aktivität in den für Düfte zuständigen Neuronen ist die Voraussetzung dafür, dass die Biene den Duft riecht. Diese Neurone sind Teil eines Schaltkreises von den

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Sinneszellen über die neuronalen Netzwerke im Gehirn zu den Muskeln der Zunge, die das Lecken ausführen. Was tun diese Zellen, wenn es keinen Duft gibt? Sind sie im schlafenden Zustand, still, bis zu einem neuen Dufterlebnis? Mitnichten! Wir können auch ohne einen Reiz zu präsentieren ihre Aktivität messen, und dann zeigt sich, dass ununterbrochen praktisch alle Neurone aktiv sind. Bei solchen Messungen schauen wir dem Gehirn in seiner Aktivität zu. Wäre dies ein menschliches Gehirn, so würden wir sagen: Wir schauen dem Gehirn beim Denken zu. Da wir nicht wissen, was „Denken“ für ein Tier bedeutet (außer wir definieren „Denken“ so restriktiv, dass es nicht mehr unserem Sprachgebrauch entspricht – wir haben es hier mit einer ähnlichen begrifflichen Unschärfe zu tun wie beim „Bewusstsein“), reden wir pragmatisch und etwas unpoetisch von „Spontanaktivität“ oder „Hintergrundaktivität“. Wir schauen also dem Gehirn bei seiner Spontanaktivität zu. Ist diese Spontanaktivität zufällig oder ist sie geordnet? Können wir gar, wie Andreas Herz angeboten hat,11 in der Stochastizität solcher Spontanaktivitäten die Grundlage für die Unvorhersagbarkeit einzelner Handlungen finden, also die Grundlage für die Freiheit des Handelns? Wie gesagt, die Frage nach der Freiheit ist nicht beantwortbar. Aber die Frage nach der statistischen Zufälligkeit ist untersuchbar, und tatsächlich: Die Muster sind nicht zufällig. So finden wir, kurz nachdem die Biene einen Duft gerochen hat, dass sich die Folge der spontanen Muster stärker an dem gerochenen Duft orientiert. Wohlgemerkt: Die spontane Aktivität bleibt in jedem Augenblick für uns unvorhersagbar und chaotisch, aber sie ist mitnichten zufällig, sondern folgt beschreibbaren statistischen Gesetzen. Ebenso ist es nicht möglich vorherzusagen, ob die einzelne Biene, nachdem sie konditioniert wurde, den Rüssel herausstreckt, obwohl wir die Wahrscheinlichkeit, mit der sie den Rüssel herausstreckt, benennen können. Müssen wir also vor der Statistik kapitulieren oder können wir uns doch tiefer in die mechanistischen Zusammenhänge hineinwagen? Ich möchte letzteres anhand eines Beispiels versuchen. Ich habe schon erwähnt, dass Bienen im Stock viele Aufgaben übernehmen müssen. Das Leben einer Biene ist wohl geordnet: Nach dem Schlüpfen sorgt sich die junge Biene um das Innenleben im Stock, putzt und pflegt die Brut. Später wird sie zur Wächterin, die am Stockeingang fremde Tiere fernhält, eine Aufgabe, die sie vornehmlich aufgrund des Geruchs lösen kann: Wer fremd riecht, gehört nicht dazu und wird abgestochen. 11 Vgl. den Beitrag von Andreas Herz in diesem Band.

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Schließlich wird sie zur Sammlerin, fliegt aus und bringt Nektar und Pollen mit nach Hause. Diese Stadien werden auch Kasten genannt. Das geregelte Leben, bei dem das Alter die Kaste einer Biene bestimmt, lässt sich experimentell durcheinanderbringen. Wir können Bienenstöcke so manipulieren, dass alle Bienen gleich alt sind, z. B. alle jung und dem Alter nach im Innendienst. Das hat keine schwerwiegenden Folgen: In einem wunderbaren Prozess der Selbstorganisation ändern einige Bienen ihre Aufgaben und beginnen auszufliegen, um Nektar und Pollen zu sammeln. Wie entscheidet die einzelne Biene nun, was sie tun soll? Ist jede Biene gewissermaßen „frei“ in ihrer Entscheidung, ihre Kaste zu ändern oder beizubehalten? Als Experimentalisten können wir nur nach denjenigen Mechanismen suchen, die zu einer Entscheidungsfindung beitragen. Der Beitrag dieser Mechanismen reduziert den Anteil, der von außen als „frei“ betrachtet werden kann, da er nicht erklärt ist. Dieses Verbleibende ist Zufall, Varianz oder Freiheit – und selbst wenn wir diesen Teil statistisch über viele Tiere hinweg beschreiben können, bleibt die Entscheidung des Einzelnen immer eine Überraschung und somit nicht erklärbar. Wie bei der Frage der individuellen Handlung entzieht sich also der Beweis der Freiheit grundsätzlich dem Instrumentarium der empirischen Wissenschaft. Bei den Bienen kennen wir einige der Faktoren, die für das einzelne Tier bei der Entscheidung auszufliegen oder im Innendienst zu bleiben eine Rolle spielen. Nehmen Sie die experimentelle Situation, in der alle Bienen gleich alt sind, das Alter also kein solcher Faktor ist. Unter solchen Bedingungen lassen sich andere Faktoren untersuchen. Es gibt ein Gen – das forager Gen – das hier eine große Rolle spielt: Jedes Tier exprimiert dieses Gen, aber nicht alle in gleichem Maße. Tiere, die dieses Gen stark exprimieren, neigen dazu, den Stock zu verlassen, während die, die weniger davon exprimieren, eher im Inneren bleiben. Man könnte sagen, das Gen regelt das Verhalten – aber auch dieses Gen funktioniert nicht allein, sondern im Netzwerk mit anderen Genen und vor allem im Zusammenspiel mit den anderen Individuen im Stock, denn die Schwelle, die zu einer Entscheidung „Ausfliegen“ führt, ist nicht durch das Gen selbst gegeben, sondern durch die Futterversorgung im Stock sowie durch die Anzahl anderer Individuen, die schon im Hausdienst tätig sind. Es ist etwa so wie in einer Wohngemeinschaft: Die Schwelle, endlich die Teller zu waschen (auch das ist eine Verhaltensentscheidung, mal mehr, mal weniger bewusst, mal mehr, mal weniger frei) ist bei jedem unterschiedlich und hängt von der Tages-

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form, dem Geruch in der Küche, der Müdigkeit und vielem mehr ab. Und doch: Es sind immer dieselben, deren Schwelle zum Abspülen als erste überschritten wird. Was ist dieses forager Gen, das die Entscheidungsschwelle bei Bienen beeinflusst? Es kodiert ein ganz bestimmtes Enzym (eine cGMP-abhängige Proteinkinase). Bei Bienen steuert dieses Gen die Lichtempfindlichkeit – und zwar nicht in den Sinneszellen, sondern im Gehirn. Lichtempfindlichere Bienen bleiben lieber im Stock und erledigen den Innendienst, während es die, bei denen das forager Gen stärker aktiv ist, eher nach außen ans Licht zieht: Sie werden zu Sammlerinnen. Ein ganz einfaches System, das in der Selbstorganisation des Stocks eine große Wirkung zeigt. Dieses Gen ist kein besonderes Bienengen, auch bei Fruchtfliegen führt es zu unterschiedlichen Entscheidungen in der Futtersuche: Die Fliegenlarven, die forager stärker exprimieren, wandern bei der Futtersuche stärker umher als die Tiere, deren Aktivität in diesem Gen geringer ist. Hier haben wir also ein einzelnes Gen, das eine wichtige Stellschraube im Entscheidungsprozess eines Tieres darstellt. Solche Gene haben auch Menschen, und sie beeinflussen bei uns die Schwellen, nach denen wir unser Verhalten steuern. Welches Gen an den Schwellen für das Tellerwaschen in Wohngemeinschaften beteiligt ist, muss noch untersucht werden. Es könnte sich durchaus um ein Gen handeln, das die Geruchsempfindlichkeit beeinflusst und ganz ähnlich wie forager wirkt.

4. Bewusstsein ist weder in einem Zeitpunkt noch in einem Ort definierbar Ich habe bei den Begriffen „Bewusstsein“ und „Freiheit“ darauf hingewiesen, dass diese schlecht definiert sind und sie sich deswegen der neurowissenschaftlichen Analyse entziehen. Die Problematik entsteht auch dadurch, dass sich beide Begriffe im allgemeinen Verständnis als etwas sehr Konkretes darstellen: Ich bin mir bewusst, dass ich frei handle. Die Ich-Person und das Jetzt sind klare Bestandteile unserer Vorstellung des Bewusstseins, und so wundert es nicht, dass mit Descartes einer der einflussreichsten Denker des Abendlandes sich bei der Frage nach der Ortung des Bewusstseins im Gehirn einen konkreten Ort dachte – das Pinealorgan. Sicher hat er die Rolle des Bewusstseins immer in der

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Gegenwart gesehen – in der Gegenwart des „Jetzt“, also zu einem bestimmten Zeitpunkt. Für Descartes gibt es einen Homunkulus im Gehirn, der das Bewusstsein darstellt. Dieses Bild steht klar im Widerspruch zur heutigen neurobiologischen Forschung: Wenn es ein Bewusstsein gibt, egal wie es geartet sein mag, dann ist es weder an einem Ort, noch an einem Zeitpunkt festzumachen.12 Ich will dies an einem Beispiel verdeutlichen: Was passiert, wenn wir etwas bewusst und laut lesen? Prima facie beschreibt das Wort „lesen“ das, was wir tun. Uns ist genau in dem Moment, in dem wir einen Satz lesen, der Inhalt dieses Satzes, die Bedeutung der einzelnen Wörter, der Zusammenhang der verschiedenen Sätze bewusst. Aber so einfach ist es nicht: Wenn wir uns genau anschauen, was im Gehirn passiert, stellen wir fest, dass verschiedene Vorgänge, die in unserem Bewusstsein gleichzeitig ablaufen, in Wirklichkeit zeitversetzt sind, ohne dass uns das einschränkt. Wir sehen die Buchstaben mit den Augen. Die optische Information gelangt aus der Netzhaut zuerst in den Thalamus und daraufhin in den visuellen Kortex, was über 40 ms dauert und mindestens vier Synapsen weit entfernt ist. Dann werden die Bilder in zwei parallel verlaufenden Kaskaden im Gehirn verarbeitet. Schließlich formen die Sprachzentren die Wörter, das motorische Zentrum kontrolliert – unter Einbezug eines seitlichen Abzweigs im Kleinhirn – die Muskelbewegungen in Mund und Rachen, und wir sprechen aus, was wir gelesen haben. Das, was wir sprechen, ist nicht gleichzeitig mit dem, was wir sehen. Aber hier hört der Vorgang nicht auf. Das ausgesprochene Wort wird vom Ohr wahrgenommen. Wieder findet eine Kaskade von neuronalen Ereignissen statt: Aus den Sinneszellen im Ohr über mehrere Schaltstellen bis zum akustischen Zentrum. Die Information vom akustischen System, die identisch sein muss mit der aus dem optischen System, kommt in Wirklichkeit erst viel später in gemeinsamen Gehirnarealen an – und doch haben wir nicht das Gefühl, dass wir wie in einem Echo alles zwei oder gar dreimal durchmachen: sehen, sprechen, hören. Unser bewusster Eindruck ist, dass alles gleichzeitig stattfindet. Man könnte sich vorstellen, dass wir nur einen dieser Eingänge wirklich verarbeiten, doch das ist nicht der Fall: Die Verzögerung ist feststehend, ähnlich wie im oben erwähnten Beispiel, bei dem die vor Blüten flie12 Michael Stadler hat in seinem Beitrag in diesem Band darauf hingewiesen, dass die psychologische „Gegenwart“ kein Zeitpunkt ist, sondern ein Zeitraum, der mehrere Sekunden lang dauert.

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genden Bienen für ihre Entscheidung, entweder zu landen oder nicht zu landen, ein festes Zeitintervall benötigen. Wenn wir diese zeitliche Verzögerung manipulieren – also wenn wir die Ungleichheit stören – dann gerät das ganze System durcheinander. Dies lässt sich experimentell leicht zeigen: In einem solchen Experiment liest jemand einen Text in ein Mikrophon und hört seine eigene Stimme in nach außen isolierten Kopfhörern. Normalerweise kann man unter solchen Bedingungen sehr gut vorlesen. Wenn die Stimme aber elektronisch verzögert kommt, z. B. um 200 ms, so gerät der Leser ins Stottern und der Lesefluss wird langsamer: Die zu falscher Zeit erfolgende akustische Rückkopplung bringt den Leser durcheinander. Dieses Phänomen ist unter der Bezeichnung DAF für „delayed auditory feedback“ bekannt. Es wird in der Sprachforschung eingesetzt, unter anderem in der Stottertherapie. Es zeigt aber auch, dass unser bewusstes „Ich“ im Gehirn nicht in einem einzigen Zeitpunkt zu verorten ist: Unser Gehirn funktioniert nicht wie ein Computer, der sequenziell arbeitet. Es gibt kein Jetzt, sondern das Jetzt ist ein – neuronal gesehen – ausgedehnter Zeitraum.13 Aus der Innenperspektive bleibt das Bewusstsein ein Zeitpunkt, der notwendigerweise am Ende aller Gehirnaktivitäten, die mit der Handlung zusammenhängen, stehen muss. Wenn Sie nach einem Glas greifen, muss das bewusste Gefühl mit der Handlung und nicht mit der Entscheidung zu handeln zusammenfallen, sonst würden Sie, wie beim DAF, Entscheidung und Handlung zeitversetzt erleben und ins „Handlungsstottern“ kommen. Die Gehirnströme, die am ehesten mit „Bewusstsein“ korrelieren, können also nur nach denen kommen, die am ehesten mit „Entscheidungsfindung“ korrelieren. Dies wird von manchen dann so beschrieben, als sei das Bewusstsein eine aufgesetzte Illusion. Wenn wir aber das Bewusstsein aus seinem Zeitpunkt befreien und verstehen, dass es sich um eine Zeitspanne handelt, dann löst sich der Widerspruch auf. Analog zur Relativität der Zeit in der physikalischen Welt muss auch der Zeitbegriff für das Bewusstsein relativiert werden. 13 Darum ist das Libet-Experiment in seinen Grundannahmen falsch, denn es macht überhaupt keinen Sinn, die Entscheidungsfindung in einen Zeitpunkt quetschen zu wollen. Allerdings ist aus diesem Fehler der logische Schluss unzulässig, dass die Schlussfolgerungen des Libet Experiments auch falsch sein müssen. Wichtig ist: Selbst wenn wir individuell das Gefühl haben, dass wir uns unserer selbst immer zum jetzigen Zeitpunkt bewusst sind, so ist das ein Irrtum. Für das Gehirn ist „Jetzt“ eine Zeitspanne und kein Zeitpunkt.

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Ähnlich wie es keinen Zeitpunkt für das Bewusstsein gibt, ist es mit dem Ort des Bewusstseins: Es hat keinen Ort; aus grundsätzlichen Erwägungen heraus kann es keinen Ort für das Bewusstsein geben. Wenn aber das Bewusstsein eine Netzwerkeigenschaft ist, die sich über die neuronalen Netzwerke des Gehirns sowohl räumlich als auch zeitlich erstreckt, dann bedeutet das, dass es nicht sinnvoll ist, die Funktion des „Bewusstseins“ des Gehirns getrennt von allen anderen Funktionen des Gehirns, ja selbst des gesamten Körpers zu betrachten. Es hat einmal jemand gesagt, er wisse nicht, wie viele Kriege ihre Ursache in einer Magenverstimmung hätten. Mit anderen Worten: Die Peristaltikbewegung des Darmes ist genauso ein Bestandteil im Entscheidungsprozess einer Handlung wie unser Gefühl des Bewusstseins.

5. Zusammenfassung und Schlussbemerkung Ich denke, wir haben einen freien Willen. Ich formuliere bewusst „ich denke“ und nicht „ich weiß“, denn dies ist kein empirischer Befund. Das Bewusstsein, so wie auch Moral und Ästhetik, haben sich in der Evolution durchgesetzt, um bessere Entscheidungen im sozialen Kontext zu ermöglichen. Aber diese Aussage treffe ich nicht als Neurowissenschaftler, sondern als denkender Mensch. Selbst die Evolutionsbiologie kann diese Aussage nicht belegen, denn um einen kausalen oder auch nur korrelativen Zusammenhang nahezulegen, bräuchten wir mehrere Arten, die wir vergleichen könnten. Doch Bewusstsein kennen wir bisher nur beim Menschen. Aus neurobiologischer Sicht lässt sich jedoch klar sagen, dass die Willensfreiheit, die wir haben, nicht der freie Wille unseres bewussten Ichs ist – denn solch ein Bewusstsein, das wie ein Homunkulus als eigene Entität zu betrachten wäre, kann es nicht geben. Es ist der freie Wille von uns als ganzer Person. Forschungsgegenstand und Aufgabe der Psychologie ist es zu untersuchen, wie wir – als einzelne Menschen – in bestimmten Situationen bestimmte Entscheidungen treffen. Wie wir als Gruppen Entscheidungen treffen, wird von der Soziologie untersucht. Die Konsequenzen dieser Einsichten für unser Denken über uns selbst aufzuspüren, ist Aufgabe der Philosophie. Wie das Gehirn das tut, das können die Neurowissenschaften eruieren – aber nicht begründen, dass das Gehirn es tut. Damit wir über die Disziplinen hinweg unsere Grenzen sehen und uns trotzdem über diese Grenzen hinweg verstehen, benötigen wir den interdisziplinären Diskurs.

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– Die Neurowissenschaften sind eine experimentelle und empirische Wissenschaft – wenn sie diesen Boden verlassen, werden sie zu einer anderen Disziplin, etwa der Neurophilosophie, und es gelten andere Regeln. – Tiere treffen – genauso wie wir Menschen – Entscheidungen, und in manchen Fällen kennen wir die rückgekoppelten Entscheidungsnetzwerke, zu denen Gene, Gehirne und Gemeinschaften beitragen. – Sowohl „Freiheit“ als auch „Bewusstsein“ sind Begriffe, die innerhalb der Neurowissenschaften nicht sauber definierbar sind und sich dem Instrumentarium der Neurowissenschaften entziehen. – Wir können aber beweisen, dass Bewusstsein weder an einem Ort noch an einer Zeit festzumachen ist. Deswegen muss man anders über Bewusstsein nachdenken, als es üblicherweise der Fall ist.

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Entscheiden mit implizitem Wissen RANDOLF MENZEL Das Gehirn verfügt über viele Wissensformen. Für Geisteswissenschaftler ist es selbstverständlich, dass das Wissen bewusst zugänglich ist und in Sprache ausgedrückt wird (deklaratives bzw. explizites Wissen). Dies ist aber nur eine Wissensform. Eine Fülle von anderen Wissensformen wird als implizites Wissen bezeichnet, all jenes Wissen, das dem Menschen nicht bewusst zugänglich ist, über das auch Tiere verfügen und das unser Verhalten (inklusive unseres Denkens und unserer Emotionen) in hohem Maße bestimmt. Ich stelle hier die Frage: Was leistet das implizite Wissen und in welchem Bezug steht es zum expliziten Wissen? Wie ist es organisiert und wie steuert es Verhalten so, dass zwischen zwei oder mehreren Optionen entschieden wird? Auf welchen Ebenen der Kognition spielen sich Operationen an implizitem Wissen ab? Es wird sich herausstellen, dass es angemessen ist, Begriffe wie Planen, Wählen, Entscheiden nicht auf explizites Wissen zu beschränken. Dies ist für unser Nachdenken über die Naturgeschichte der Freiheit in zweierlei Hinsicht von eminenter Bedeutung. Einmal wird die Vorstellung korrigiert, dass nur bewusst werdende Vorgänge unsere Entscheidungen bestimmen. Zum anderen werden die bewusst werdenden Entscheidungen in eine Kontinuität neuronaler Vorgänge eingebettet, für die eine Dichotomie zwischen „freien“ bewussten Entscheidungen und „unfreien“ vorbewussten Entscheidungen wenig Sinn macht. Um die Radikalität meines Ansatzes gleich zu Anfang deutlich zu machen: Meine Argumente werden mich dazu führen, die Differenzierung in implizites und explizites Wissen als eine vorübergehende, pragmatische und nicht grundsätzliche Unterscheidung von Wissensformen zu betrachten. Das hat weit reichende Folgen. So entfällt dann auch die häufig zitierte Unterscheidung zwischen leichten und schweren Problemen bei der Suche nach den Ursachen und Prozessen des Bewusstseins. Allerdings werde ich ebenfalls aus pragmatischen Gründen statt von „dem bewusst werdenden Teil der Gehirnarbeit“ abgekürzt von „Ich“ reden.

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Die Unterscheidung zwischen implizitem und explizitem (deklarativem) Wissen, die in der kognitiven Neurowissenschaft heute eine zentrale Rolle spielt, hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert und begann mit der Einsicht von Johannes Müller, wonach für jede Erfahrung eine für das betreffende Sinnessystem spezifische neuronale Leitungsbahn zuständig ist (er nannte das die „spezifische Nervenenergie“). Sein Schüler Hermann von Helmholtz, der als erster die Leitgeschwindigkeit der Aktionspotentiale maß, erklärte für den Sehsinn, dass ein Großteil der geistigen Prozesse, die mit der visuellen Wahrnehmung und dem Handeln zusammenhängen, auf unbewusster Ebene stattfinden. Diesen Gedanken griff Sigmund Freud in seinen Traumdeutungen auf und machte ihn zur zentralen Prämisse seiner psychoanalytischen Theorie. Der englische Psychologe William James unterschied in seinem klassischen Lehrbuch „The Principles of Psychology“ zwischen Gewohnheiten (unbewusstes, mechanisches, reflexhaftes Handeln) und Gedächtnis (bewusste Handeln aus der Kenntnis der Vergangenheit) ( James, 1981). In der Mitte des 20. Jahrhunderts führte der Philosoph Gilbert Ryle die Unterscheidung zwischen „Wissen wie“ (Kenntnis von Fertigkeiten) und „Wissen was“ (Kenntnis von Fakten und Ereignissen) ein (Ryle, 1969). Für die heutige Begriffsbestimmung, wie sie in der Neurowissenschaft verwendet wird, ist die von Squire und Schacter vertretene Differenzierung bedeutsam, in der zwischen bewusst erlebtem Erinnern (explizites oder deklaratives Gedächtnis), das sich beim Menschen auf Orte, Objekte, Fakten und Ereignisse bezieht, und unbewusstem Erinnern (implizites oder prozedurales Gedächtnis), das Habituation, Sensitivierung, Konditionierung, Wahrnehmungs- und Bewegungsfertigkeiten umfasst, unterschieden wird (Squire, 1987; Schacter, 1999). Diese Begriffsbestimmungen wurden wesentlich geprägt durch Analysen neurologischer Patienten wie dem Patienten H.M. (Milner et al., 1998), bei denen die Bildung des bewusst werdenden Langzeitgedächtnisses in Folge einer Zerstörung des Hippokampus beeinträchtigt ist, aber das prozedurale Gedächtnis nicht gestört ist. Letzteres beruht auf Funktionen anderer Gehirnstrukturen wie z. B. der Amygdala beim Furchtlernen oder dem Striatum und Kleinhirn beim motorischen Lernen. Auf der Grundlage solcher Struktur-Funktionsbeziehungen lässt sich dieses Begriffspaar auch auf Säugetiere (und über evolutive Argumente auf Vögel, Reptilen, Amphibien und Fische) anwenden. Ich werde in meinem Beitrag unter implizitem Wissen all jene Wissensformen subsumieren, die beim Menschen unbewusst bleiben

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(oder wieder unbewusst werden, wie das bei vielen automatisierten Wahrnehmungs- und Bewegungsleistungen der Fall ist), und über die auch Tiere verfügen. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass ich mich zuerst in die Denkweise der Neurobiologie einklinken kann und die Frage erst einmal offen lasse, ob es einen prinzipiellen Unterschied zwischen Handeln mit impliziten oder expliziten Wissen gibt. Ich werde am Ende meiner Ausführungen schließen, dass ich keine erkenntnistheoretisch begründbaren Argumente für eine solche Unterscheidung sehe. Die Begrifflichkeit erscheint mir ausschließlich pragmatischer Natur, so etwa wie in der Neurowissenschaft zwischen Willkürmotorik und nicht-willkürlicher Motorik unterschieden wird und dann gezeigt wird, dass damit auf die unterschiedliche Beteiligung von Gehirnarealen Bezug genommen wird. Das Gehirn mit seinem impliziten Wissen passt Verhalten an neue Bedingungen an, erwartet zukünftige Ereignisse und wählt Wahrnehmungs- und Handlungsweisen entsprechend den erwarteten Zuständen aus mehreren Optionen aus. Dabei lernt das implizite Wissenssystem (fügt also neues Wissen dem Gedächtnis zu), selektiert innere und äußere Zustände und entscheidet, ohne dass uns von all dem etwas bewusst wird. Hierbei verwende ich die Begriffe „Erwarten“, „Selektieren“, „Wählen“, „Entscheiden“ nicht im übertragenen oder metaphorischen Sinne, sondern genau so wie die Begriffe es in ihrer ursprünglichen Aussage ausdrücken: nämlich, dass da ein „Etwas“ ist (das sind natürlich Teile des Gehirns und ihre Verschaltungen), das die relevante Information gespeichert hat, diese situationsgerecht aufruft, über eine Ebene zur Verhandlung zwischen erwarteten und bewerteten Optionen verfügt und Wahrnehmungen wie auch Handlungen steuert. Im Verlaufe meines Beitrages wird deutlich werden, warum es mir gerechtfertigt erscheint, diese Begriffe ohne Einschränkung auf das implizite Wissen anzuwenden. Ich werde am Schluss auf diese Frage nochmals eingehen.

1. Informationsquellen des impliziten Wissens Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie gehen eine Treppe hinunter, plötzlich erschrecken Sie, weil Sie ins Leere treten. Viel später als Ihr Körper (Gehirn, Muskel), der dem drohenden Stolpern und Hinfallen entgegen gewirkt hat, wird Ihnen bewusst, dass „Sie“ keine weitere Treppenstufe erwartet hatten, dass da aber eine war und „Sie“ deshalb fast gestürzt wären, hätten „Sie“ nicht eine geschickte und schnelle

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Ausweichbewegung gemacht. Allerdings wird Ihnen das erst bewusst, nachdem der ganze Vorgang längst abgelaufen ist und der Schrecken Ihnen in die Glieder gefahren ist. Ihr bewusstes „Ich“ war an dem ganzen Vorgang nicht beteiligt, weder beim Erwarten der weiteren Stufe noch bei den schnellen Ausweichbewegungen. Erst der Schrecken und der Rückblick auf das gerade Geschehene werden Ihnen bewusst.1 Wo kam also die Information über die Erwartung der weiteren Treppenstufe her und was hat die schnellen Bewegungen gesteuert? Natürlich war es Ihr Nervensystem, das aufgrund vorangegangener Lernerfahrungen all die komplexen Vorgänge beim Treppensteigen erlernte und die entsprechenden Prädiktionen für die nächsten Bewegungsabfolgen und Sinneserfahrungen erzeugte. Auch die schnellen Ausweichbewegungen hat Ihr Nervensystem mit rasanter Geschwindigkeit und zum Vorteil für Ihre Knochen generiert. Verhaltensbiologen haben in den letzten 150 Jahren Begriffssysteme entwickelt mit denen die Quellen der Information, die für die Verhaltenssteuerung eingesetzt werden, erfasst werden. Ethologen betonen die angeborenen Verhaltensweisen, die Auslösemechanismen, die unbedingten Reflexe, die rhythmischen Koordinationen, die genetische/ phylogenetische Vorbereitung von Lernvorgängen und die Spontaneität der Verhaltensgenerierung nach inneren Bedürfnissen. All diese Quellen der Information können wir als das „phylogenetische Gedächtnis“ zusammenfassen, jenes Gedächtnis, das im Verlaufe der Evolution der Spezies zukommt und das Gehirn mit Information ausstattet bevor individuelles Lernen einsetzt, und das auch Anweisungen enthält, wie und was gelernt werden kann. Pavlov in Russland und die experimentellen Psychologen in Amerika (erst Thorndike, dann Skinner, Hull und andere) betonten den Informationsgewinn durch assoziatives Lernen. 1

An dieser Stelle möchte ich das gerade Gesagte in der unpraktischen Formulierungsweise wiederholen, weil sie zutreffender wäre: Der Körper und sein Gehirn gehen eine Treppe hinunter, plötzlich erschreckt der bewusst werdende Teil des Gehirns, weil der Körper ins Leere getreten ist. Die Diskrepanz zwischen Erwartungszustand des Gehirns und tatsächlichem Zustand der Welt wurde von dem nicht bewusst machenden Teil des Gehirns schnell reguliert, der Körper wurde am Abstürzen mit einer schnellen Ausweisbewegung gehindert und erst viel später hat der bewusst machende Teil des Gehirns die unzutreffende Vorhersage des nicht bewusst machenden Gehirns als Schrecken registriert. Es ist offenkundig, warum wir mit dem jetzigen Kenntnisstand der Neurowissenschaften und der Art der sprachlichen Mitteilung die pragmatische Formulierung mit Bezug auf ein „Ich“ wählen.

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Stimuli und eigene Verhaltenweisen werden durch diesen Vorgang mit prädikativer Stärke ausgestattet, die von der Kontiguität (der zeitlichen Paarung der Ereignisse) und der Kontingenz (der Wahrscheinlichkeit ihrer Paarung) abhängt. Damit dieses „Individualgedächtnis“ erweitert werden kann, bedarf es einer Abweichung von der Erwartung: Nur das, was nicht bereits sicher erwartet wird (vom Individualgedächtnis sicher vorhergesagt wird), wird gelernt (Rescorla/Wagner, 1972). Diese Differenzregel stellt die Grundlage für außerordentlich starke Theorien der Verhaltensgenerierung dar, die zunehmend mit neuronalen Mechanismen untermauert werden (Schultz, 2006). Grundlage dieser Theorien ist die Annahme, dass jede Verhaltensweise mit Bezug auf den erwarteten Effekt generiert wird, also vor ihrer motorischen Verwirklichung „innerlich verhandelt“ wird. Bei einfachen Handlungsabläufen ist dies ein neuronales Signal, das als Efferenzkopie (eine Kopie derjenigen neuronalen Erregungsmuster, die an den motorischen Apparat geschickt werden) die zu erwartende sensorische Konstellation nach Ausführen der Handlung bereits enthält, vom zentralen Nervensystem generiert wird und an neuronale Instanzen geschickt wird, in denen es mit den später sich tatsächlich einstellenden sensorischen Rückmeldungen verglichen wird. Für komplexere Verhaltensweisen ist die Ebene der „inneren Verhandlung“ das Arbeitsgedächtnis, auf das ich unten eingehe. „Inneres Verhandeln“ auf der impliziten Ebene spielt auch bei der spontanen Generierung von Verhaltensweisen eine Rolle. Die Konzepte der experimentellen Psychologen der amerikanischen Schule sind letztlich daran gescheitert, dass sie die Spontaneität der Verhaltensgenerierung durch das Nervensystem ignorierten oder unterbewerteten. Gehirne produzieren sinnvolle Verhaltensweisen auch ohne äußere Auslöser, mögen dies so einfache Bewegungsabfolgen wie rhythmische motorische Muster, erhöhte Sensibilität für bestimmte sensorische Eingänge oder gerichtete Aufmerksamkeit sein. Hier soll nicht der Frage nachgegangen werden, welche Ursachen diese Spontaneität des Gehirns hat, obwohl dies eine spannende Thematik wäre und sich zeigen ließe, dass es keinen Grund gibt, vom „radikalen Physikalismus“, wie ihn Alfred Gierer in seinem Beitrag im Humanprojekt vertreten hat, abzuweichen. Entscheidend für unsere Argumentation ist, dass solche spontanen Aktionen und Wahrnehmungseinstellungen jeweils der aktuellen inneren wie äußeren Situation des Menschen/Tieres angemessen sind, dass also auch diese „innerlich verhandelt“ werden bevor sie sich auswirken und dass sie durch Vergleich zwischen Erwartung aufgrund

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des vom Nervensystem generierten Signals und den Rückmeldungen aus Umwelt und Körper angepasst werden. Zwei Prinzipien wirken zusammen, um sinnvolles und eindeutiges Verhalten und Wahrnehmung zu erzeugen, das oben genannte Prinzip der Efferenzkopie und das der lateralen Hemmung, auf beide werde ich noch eingehen. Im hungrigen Zustand zum Beispiel werden Erwartungsbilder (-gerüche, -töne) für die Ernährung vom Gehirn generiert, diese werden dann besonders sensibel und differenzierend wahrgenommen und von anderen Eindrücken durch spezifische Hemmung hervorgehoben. Andere Wahrnehmungs- und Verhaltensoptionen werden durch laterale Hemmung unterdrückt. Diese Mechanismen sind zielorientiert, enthalten also Informationen über die erwarteten Umweltereignisse, werden vom Gehirn als Prädiktionen zukünftiger Ereignisse erzeugt, und alle Abweichungen in der Umwelt werden durch Differenzbildung zur Efferenzkopie selektiv verstärkt.

2. Wie wird mit implizitem Wissen entschieden: Die Rolle des Arbeitsgedächtnisses Oben habe ich zwischen phylogenetischem und individuellem Gedächtnis unterschieden. Für die neuronalen Mechanismen der Informationsspeicherung ist diese Differenzierung nicht bedeutsam. Für die Verhaltenssteuerung über implizites Wissen ist es eher nebensächlich, ob die Inhalte des Gedächtnisses mehr oder weniger aus dem phylogenetischen oder individuellen Gedächtnis stammen, da die neuronalen Mechanismen, die für die Speicherung und Nutzung im Nervensystem von Bedeutung sind, sich, nach all dem, was wir wissen, nicht grundlegend unterscheiden. Im obigen Beispiel der unerwarteten Stufe stammt die Erwartung aus dem Individualgedächtnis, während die schnellen Schutzreaktionen überwiegend mit Informationen aus dem phylogenetischen Gedächtnis gesteuert werden. Was uns von all dem im Nachhinein bewusst wird, hängt nicht davon ab, aus welcher Informationsquelle die Reaktionen gesteuert wurden (allerdings wird es Bereiche des phylogenetischen Gedächtnisses und des frühkindlichen, erworbenen Gedächtnisses geben, die uns nicht bewusst zugänglich sind, ebenjene, die Sigmund Freud so nachhaltig beschäftigt haben). Ich werde daher im Weiteren von „dem“ Gedächtnis sprechen und dar-

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unter einen Informationsspeicher verstehen, der sich aus phylogenetisch und individuell erworbener Information speist. Das Gedächtnis ist keine einheitliche Funktion und hat keinen einzelnen Ort im Gehirn. Vielmehr stellt es eine dynamische Eigenschaft des Nervensystems dar. Für unsere Gedankengänge sind folgende Eigenschaften bedeutsam: (1) Gedächtnis entsteht durch Lernvorgänge, in die phylogenetisches Gedächtnis mit eingeht (nicht alles kann gelernt werden; bestimmte Lernvorgänge führen schnell, andere nur sehr langsam zur Gedächtnisbildung, in manchen Entwicklungsphasen kann ein Gedächtnis rasch und effektiv gebildet werden, in anderen nicht). (2) Die Gedächtnisbildung ist ein dynamischer Vorgang, in dem sich die selbstorganisierende Funktion des Nervensystems ausdrückt. Dies spiegelt sich in der zeitlichen Aufeinanderfolge von Kurz-, Mittel- und Langzeitgedächtnis wider, denen verschiedene physiologische Mechanismen und unterschiedliche Orte im Gehirn zukommen, und während denen die Gedächtnisinhalte sowohl hinsichtlich ihrer Stabilität wie auch hinsichtlich ihrer Inhalte verändert werden. (3) Gedächtnisinhalte sind im Gehirn örtlich verteilt, wobei vor allem solche Lokalisationen in unserem Zusammenhang von Interesse sind, die sich auf abgeleitete, nicht direkt mit sensorisch-motorischen Leistungen zusammenhängende Eigenschaften beziehen. Ein Beispiel hierfür wäre die Rolle des Hippokampus beim Menschen für die Bildung (nicht aber die langzeitige Speicherung) von deklarativem (explizitem) Gedächtnis. (4) Für das Aufrufen aus dem Langzeitspeicher, den Vergleich mit der aktuellen äußeren und körpereigenen Situation und das „Verhandeln“ von zielgerichteten Optionen ist das Arbeitsgedächtnis zuständig. Dem Arbeitsgedächtnis kommen folgende Funktionen zu (Abb. 1): (1) Vorübergehender Speicher mit begrenzter Kapazität (Kurzzeit-Gedächtnis); (2) Wechselseitige Kommunikation mit dem Referenzgedächtnis (Langzeit-Gedächtnis), wobei relevante Inhalte aus dem Referenzgedächtnis aufgerufen werden und solche aus dem Arbeitsgedächtnis ins Referenzgedächtnis übergeführt werden; (3) „Inneres Verhandeln“ durch Produzieren von Verhaltensoptionen, die „innerlich“, d. h. auf der Ebene des Arbeitsgedächtnisses ausgeführt werden, und deren erwartete Folgen mit den Zielvorgaben verglichen werden; (4) Entscheiden nach wenigen oder vielen Iterationen des „inneren Verhandelns“. Auf der Verhaltensebene werden die Funktionen des Arbeitsgedächtnisses durch eine Reihe standardisierter Tests untersucht, zu denen etwa das Vergleichslernen (matching-to-sample, MTS bzw. matching-

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Abb. 1: Schema der Verknüpfung des Arbeitsgedächtnisses mit dem Referenzgedächtnis und der Außenwelt.

to-non sample MTNS), der sternförmige Irrgarten und der serielle Positionstest gehören. In all diesen Tests merkt sich ein Tier oder ein Mensch einen Stimulus oder ein Verhalten für einige Zeit und richtet sein folgendes Verhalten nach einer entsprechenden Regel aus. Beim MTS Test besteht die Regel etwa darin, dass derselbe Stimulus zu wählen ist, beim MTNS muss gerade ein verschiedener Stimulus gewählt werden; im sternförmigen Irrgarten gilt die Regel, nicht wieder den bereits gewählten Arm erneut zu wählen. Im seriellen Positionstest drückt sich das Arbeitsgedächtnis darin aus, dass z. B. in Wortlisten oder in Bilderfolgen die jeweils ersten und letzten Items besonders gut erinnert werden. Das Arbeitsgedächtnis ist also nicht nur ein zeitlich begrenzter Speicher, sondern enthält auch Regeln, nach denen Entscheidungen an den Inhalten getroffen werden sollen. Dass die Regeln, nach denen das Arbeitsgedächtnis seine Entscheidungen an Inhalten fällt, die sprachlich zugänglich sind, nicht bewusst werden müssen, wird z. B. mit folgender Beobachtung belegt: Versuchspersonen werden lange Listen von Buchstaben gezeigt (etwa H D S S O H D F S S A H D…), wobei nach einiger Zeit gefragt wird, welcher Buchstabe einem anderen folgt. Die Versuchspersonen geben an zu raten und erkennen keinerlei Struktur in der Buchstabenfolge, nennen aber solche Buchstabenfolgen häufiger, die einer Regel unterliegen (im obigen Beispiel, dass auf H ein D folgt, dass auf S ein Vokal folgt und dass Vokale stets von einem H gefolgt werden). Das Arbeitsgedächtnis wendet also implizit Regeln an, nach denen seine Operationen verlaufen. Die begrenzte Speicherkapazität des Arbeitsgedächtnisses wird durch die berühmte 7+/-2 Formel von Inhalten (items) charakterisiert. Bereits 1890 wurde die „Intelligenz“ von Schülern von einem Londoner Lehrer mit dem so genannten „digit span test“ untersucht, wobei die Aufgabe darin bestand, vorher genannte Zahlenreihen rückwärts zu wiederholen. Dabei ereichten „intelligente“ Schüler eine digit span von

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Abb. 2: Schema der Vernetzung des Arbeitsgedächtnisses nach Baddeley und Hitch (1974).

6 – 7 (Baddeley, 1986). Heute weiß man, dass die so gemessene Kapazität des Arbeitsgedächtnisses von der Komplexität der zu merkenden Objekte abhängt (etwa bei Sehobjekten) und dass verschiedene Gehirnregionen für abstrakte Objekte, wie Zahlen, und konkrete Objekte, wie Sehobjekte, zuständig sind. Baddeley und Hitch schlugen 1974 eine Struktur des Arbeitsgedächtnisses vor, die sie aus Beobachtungen und Messungen von sprachlichem und visuellem Lernen beim Menschen ableiteten (Baddeley/Hitch, 1974) (Abb. 2). Im Zentrum steht ihre Annahme, dass das Arbeitsgedächtnis Substrukturen aufweist und dass diese in rückgekoppelter Weise miteinander verknüpft sind. Diese Rückkopplungsschleifen können über die Außenwelt laufen (äußeres Handeln) oder auf die „Innenwelt“ des Gehirns beschränkt sein („inneres Handeln“). Letztere Schleifen dienen in ihrem Modell den drei zentralen Funktionen des Arbeitsgedächtnisses, der Prädiktion, der Selektion und der Entscheidung. Für diese zentralen Funktionen des Arbeitsgedächtnisses lassen sich korrespondierende neuronale Mechanismen angeben, die auf einer elementaren Ebene als ursächlich für die damit beschriebenen Leistungen betrachtet werden können. Hierauf will ich im Folgenden kurz eingehen. Prdiktion: Wie bereits oben betont, nimmt jedes neuronale Kommando zum Handeln bereits die Folgen des Handelns vorweg (Efferenzkopie), ein Ausdruck des impliziten Erwartens der Folgen. Die Neurowissenschaft kennt eine riesige Anzahl von Beispielen. Ich will hier noch ein im Anschluss an Helmholtz besonders detailreich untersuchtes Beispiel nennen. Wenn Tiere und Menschen eine Augenbewegung (Sakkade)

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durchführen, dann erscheint ein Gegenstand anschließend auf einer anderen Stelle der Retina und damit in einem anderen räumlichen Bezug zu dem visuellen Referenzsystem im Auge und Gehirn. Das Kommando, das die Sakkade auslöst, verstellt gleichzeitig die Raumwahrnehmung so, dass sie der erwarteten Raumverschiebung entspricht. Diese Verstellung der Raumwahrnehmung lässt sich bis auf die Ebene der rezeptiven Felder in der primären visuellen Kortex-Region verfolgen, in der nun die Position der rezeptiven Felder so verschoben wird, dass sie der erwarteten nach der durchgeführten Augenbewegung entspricht (Sundberg et al., 2006). Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil man den Effekt im Selbstversuch gut feststellen kann: Bei leichtem seitlichen Druck auf Ihren Augapfel fehlt diese Efferenzkopie und die Welt bewegt sich, die neuronale Raumverstellung wird also nicht prospektiv eingestellt. Ein weiterer Grund für die Wahl dieses Beispiels ist, dass Helmholtz dieses Phänomen als Ausgangspunkt für seine oben zitierte Schlussfolgerung von der Fülle der nicht bewusst werdenden Vorgänge im Gehirn nahm. Der Efferenzkopie-Architektur kann man eine sehr wichtige Rolle bei der Identifikation des Gehirns mit seinem Körper, also der Generierung eines „Ichs“, zuschreiben. Diese Architektur führt notwendigerweise zu einer Klassifizierung von Signalen als entweder extern oder intern generiert und liefert damit die Grundlage, eine innere Verursachung („Agency“) zu vermuten. Gäbe es nämlich keine EfferenzkopieArchitektur, gäbe es auch keine Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen „Selbst“ und dessen Taten, und keine zwischen der Welt und ihren Ereignissen. Selektion: Wenn zwei oder mehrere Handlungs- oder Wahrnehmungsoptionen durch Aufrufen aus dem Referenzgedächtnis ähnlich wahrscheinlich sind, dann muss eine Selektion erfolgen. Das elementare Schaltprinzip wurde bereits genannt, die laterale Inhibition. Ich will wieder nur ein Beispiel geben, das ebenfalls auf der neuronalen Ebene beim Tier sehr genau untersucht wurde. In unserer Wahrnehmung ist dies das Phänomen der Kippbilder. Sie kennen das Bild einer Vase, deren Konturen auch als zwei gegenüberstehende Gesichter wahrgenommen werden können. Diese beiden Wahrnehmungen treten nie gemeinsam auf, sondern kippen von dem einen in den anderen Zustand, bei längerem Hinsehen häufig in einem regelmäßigen Rhythmus. Vergleichbare Phänomene ließen sich aus dem motorischen Bereich anführen, wenn es also darum geht, zwischen zwei möglichen Bewe-

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gungsabfolgen eine auszuwählen. Die neuronale Implementierung der lateralen Inhibition lässt sich auf der Ebene der einzelnen Neurone, der Netzwerke von Neuronen und der Verschaltung zwischen Arealen des Gehirns verfolgen. Es handelt sich demnach um ein universelles Prinzip mit dem im Nervensystem Eindeutigkeit erzeugt wird, eine Eindeutigkeit, die grundlegend wichtig für die Verhaltenssteuerung ist, kann doch zu jedem gegebenen Zeitpunkt nur eines getan werden. Die so erzielte Eindeutigkeit ist bei nahe beieinander liegenden Optionen häufig mit einem rhythmischen Wechsel zwischen diesen Optionen verbunden, eine Eigenschaft, die weiter unten nochmals von Bedeutung sein wird. Entscheiden: Vorraussetzung für eine Entscheidung ist die Wahl zwischen zwei oder mehreren Optionen und ein Prüfen der Folgen dieser Wahl ohne ein äußeres Handeln im Sinne eines Ausprobierens. Aus dem oben Gesagten wird ersichtlich, dass dem Arbeitsgedächtnis bei nahe beieinander liegenden Optionen ein zeitlicher Wechsel in der neuronalen Aktualität der Optionen zur Verfügung steht, wie uns dies etwa bei den Kippbildern in der Wahrnehmung zugänglich wird. Entscheiden besteht nun auf der neuronalen Ebene des Arbeitsgedächtnisses darin, dass die nacheinander aktivierten Optionen die für sie relevanten Handlungsabfolgen so auslösen, dass nur die Efferenzkopie entsteht, nicht aber das motorische Muster ausgeführt wird. Die Efferenzkopie wird nun mit den Erwartungen verglichen, die aus dem Referenzgedächtnis aufgerufen werden, wobei das Referenzgedächtnis die Funktion der (inneren) Wirklichkeit übernimmt. Dieser Vergleich führt nun zu einer spezifischen Aktivierung, und das tatsächliche Ausführen einer der Optionen wird mehr oder weniger wahrscheinlich. Welche Hinweise für solch ein inneres Verhandeln an impliziten Inhalten auf der Ebene des Arbeitsgedächtnisses gibt es? In der Neurowissenschaft wurde eine Reihe von Paradigmen experimentell überprüft, die einen Hinweis auf neuronale Korrelate des nicht bewussten Entscheidens an Optionen geben. Eine lesenswerte Zusammenstellung findet man bei Smith-Churchland (Smith-Churchland, 2002, 142–156). Ein weiteres Beispiel sind die von Rizzolati gefundenen Spiegelneurone. Vielleicht ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass zwei Gesprächspartner häufig die gleiche Körperhaltung einnehmen (Arme verschränken, Hände in die Hosentaschen, etc.). Im inferioren parietalen Lobus (IPL), einem Bereich des prämotorischen Kortex, wurden von Rizzolatti Neurone im Affengehirn (und neuerdings mit fMRI

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auch im menschlichen Gehirn) entdeckt, die er als Spiegelneurone bezeichnete. Sie sind für die gleichen Arm-Hand-Bewegungen zuständig, ob nun diese Bewegung von dem Tier ausgeführt werden oder ob das Tier diese bei einem anderen Tier (oder beim Menschen) beobachtet (Rizzolatti/Craighero, 2004). Diese Neurone erhalten ihre Eingänge von visuellen Neuronen im superioren temporalen Sulkus (STS) und senden eine Efferenzkopie für geplante Aktionen zurück zu den STS Neuronen, wo sie mit der erwarteten Bewegung verglichen werden (Iacoboni, 2005), sie stellen also neuronale Implementierungen von Entscheidungsstrukturen dar. Auch wenn die Bewegungen nicht ausgeführt werden, sind sie aktiv und stellen Optionen für Handlungen im sozialen Kontext zur Verfügung. Subjektiv zugänglich ist uns der Vorgang des Entscheidens an impliziten Entscheidungsvorgängen bei dem Phänomen des Namensuchens. Ihnen fällt ein Name oder Begriff nicht ein. Sie sagen vielleicht, ,das blockiere ich gerade‘, geben die Suche auf, und nach einer gewissen Zeit stellt sich der Name oder Begriff wie von selbst ein, wenn Sie gerade nicht daran denken oder bewusst danach suchen. Der Suchvorgang war also kein bewusster und hat sich in ihrem Arbeitsgedächtnis „automatisch“ abgespielt.

3. Die globale Struktur des Arbeitsgedächtnisses Die bisher genannten Teilfunktionen des Arbeitsgedächtnisses wurden in einem Schema zusammengefasst, in dem den Teilfunktionen bestimmte Gehirnareale des Säuger- und Menschengehirns zugeordnet werden (Abb. 3). Zwei Schaltkreise sind für zwei Aspekte des Arbeitsgedächtnisses, seine eher starren und seine hoch flexiblen Eigenschaften, zuständig: (1) Die „modellfreien Systeme“, bei denen die Funktion des Auslesens aus dem Referenzgedächtnis (mit seinen phylogenetisch und individuell erworbenen Inhalten) im Vordergrund steht. Diese werden z. B. von den Basalganglien (etwa dem Belohnungssystem im ventralen Tegmentum mit seinen Dopamin-Neuronen) dominiert. (2) Die „modellbasierten Systeme“ im präfrontalen Kortex mit ihrem flexiblen Umgang mit nur kurze Zeit zurückliegenden Ereignissen. In beiden Systemarten ergeben sich die Funktionen des Arbeitsgedächtnisses aus den Verschaltungen insbesondere über die rekurrenten Schleifen zwischen den Gehirnarealen (Abb. 3). Die Dopamin-Neurone des ventralen Tegmentums passen sich z. B. nach der Differenzregel für Lernen (s.o.) an,

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Abb. 3: Die globale Struktur des Arbeitsgedächtnisses. Abkürzungen: DA System: System der Dopamin Neurone im ventralen Tegmentum, Inf. priet.: Inferiorer parietaler frontaler Kortex; Sup. temp.: Superiorer temporaler Sulkus.

integrieren über längere Zeit und stellen so ein Referenzgedächtnis für die erwartete Belohnung einer geplanten Aktion dar (Daw et al., 2005). Der präfrontale Kortex speichert kürzlich erfahrene Signal-Bewertungszusammenhänge in Form von anhaltenden, hochspezifischen neuronalen Erregungen (Wang et al., 2006; Fransen et al., 2006). Diese neuronale Aktivität wird als das Substrat für zielgerichtete Lernvorgänge betrachtet, bei denen ein „inneres Modell“ dem Lernvorgang zugrunde liegt. Die rekurrenten Schleifen werden als das Substrat für die Abschätzung der Sicherheit der Vorhersage angesehen. Je sicherer die Vorhersage, je mehr also die einzelnen Instanzen in ihren Prädiktionen übereinstimmen, desto rascher und mit höherer Wahrscheinlichkeit wird entschieden und die Aktion ausgeführt. Je widersprüchlicher die jeweiligen Meldungen sind, umso langsamer wird entschieden und umso unterschiedlicher fallen wiederholte Entscheidungen aus (Dehaene et al., 1998). Alle diese Überlegungen gelten für implizites Wissen. Wie wird nun die Verbindung zum expliziten Wissen hergestellt? In Abb. 3 markiert die gestrichelte vertikale Linie auf der rechten Seite den Kontakt zur bewusst werdenden Ebene, ein Übergang, der noch weitgehend unbekannt ist. Ralph Schumacher2 beleuchtet dieses Problemfeld von 2

In seinem Vortrag im Rahmen der AG Humanprojekt am 16. Mai 2006.

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psychologischer Seite und betrachtet hierbei besonders die Rolle der Aufmerksamkeit für den Übergang von nicht bewusst werdenden und bewusst werdenden Vorgängen. Ich will hier nur auf zwei Aspekte hinweisen. (1) In Verhaltensanalysen lässt sich zeigen, dass bei einem stärkeren Priming (also dem unbewussten Wiedererkennen z. B. von vorher gezeigten Bildern oder Abfolgen von Zahlen wie in dem oben angegebenen Beispiel) auch das bewusste Erinnern an die Testobjekte stärker ist. Daraus kann man schließen, dass die implizite Ebene des Arbeitsgedächtnisses die explizite antreibt. (2) Die besondere Rolle des Hippokampus beim Menschen für den Übergang von der impliziten auf die explizite Ebene wird auch durch fMRI Studien belegt, die zeigen, dass Bilder, die eine stärkere Aktivierung einer für Sehobjekte zuständigen Region des Hippokampus beim Lernen von Bildfolgen auslösen, später besser bewusst erinnert werden. Daraus kann man ebenfalls schließen, dass sich die Stärke des impliziten Wissens auf das explizite auswirkt, möglicherweise im Sinne einer Schwellenfunktion. Die impliziten Funktionen des Arbeitsgedächtnisses sind aber von denen des expliziten Arbeitsgedächtnisses unabhängig.

4. Ebenen der Kognition mit implizitem Wissen Nun könnte eingewandt werden, dass all diese Funktionen des impliziten Verhandelns von Wissen elementare Formen der Kognition betreffen, so dass die hier vorgetragenen Argumente nicht wirklich für die dem Menschen explizit zugänglichen Gehirnvorgänge relevant sind. Um sich dieser Frage zu nähern, kann man verschiedene Forschungsstrategien anwenden. Auf eine habe ich bereits am Ende des vorigen Abschnitts hingewiesen: Man sucht nach Korrelaten für implizites Verhandeln im Arbeitsgedächtnis (Priming, fMRI Studien) und fragt dann, wie diese mit den bewusst werdenden Vorgänge zusammen hängen. Oder man betrachtet die Zeitebene etwa so wie dies in den berühmten Experimenten von Libet geschieht (Libet, 1990), bei denen sich ergibt, dass ein elektrophysiologisch messbares Ereignis der bewusst werdenden Entscheidung vorangeht. Oder man betrachtet die neuronalen Bedingungen, die eine bewusst werdende Leistung verhindern, so wie dies Crick und Koch mit dem Paradigma der binokularen Konkurrenz getan haben (Crick/Koch, 2005). Hierbei werden den beiden Sehfeldern unserer Augen zwei verschiedene Sehobjekte gezeigt (z. B. horizontale und vertikale Streifen). Wir können unsere Aufmerksamkeit

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bewusst auf das eine oder andere Bild lenken. Hierbei stellt sich mit fMRI heraus, dass die frontale und parietale Kortexregion in besonderer Weise beteiligt ist (Lumer et al., 1998). Menschen mit einer Schädigung in diesem Bereich haben Schwierigkeiten mit dieser Aufgabe. Ich möchte mit zwei Beispielen auf einen weiteren Zugang zu dieser Frage eingehen. Hierbei stellt man die Frage, ob Tiere über kognitive Leistungen verfügen, die wir aus unserer Introspektion eindeutig als bewusste Leistungen erfahren. Episodisches Gedchtnis: Tulving und Wheeler et al. prägten den Begriff „episodisches Gedächtnis“ und beschrieben damit unser explizites Wissen um frühere Ereignisse und das Wissen darum, dass es sich um solche früheren Ereignisse handelt (Tulving, 1985; Wheeler et al., 1997). Wichtige Aspekte dieses Gedächtnisses sind, was geschah, wann es geschah und wo es geschah. Es lässt sich fragen, ob Tiere über ein solches wann-, wo- und was-Gedächtnis verfügen. Clayton und Dickinson nennen das ein „episodic like memory“ und zeigen, dass Eichelhäher und andere Tiere, die Futter verstecken, über ein solches Gedächtnis verfügen (Clayton/Dickinson, 1989). Sie erinnern sich nicht nur an tausende von Futterverstecken, die sie angelegt haben, sondern auch, wann sie welche Art von Futter (eine leicht verderbliche Mehlwurmlarve oder ein dauerhaftes Futterkorn) versteckt haben. Darüber hinaus beobachten sie andere Eichelhäher wenn diese Futter verstecken und räubern die Verstecke aus. Das wiederum beobachten Tiere, wenn sie Futter verstecken und merken sich, wer sie beobachtet hat (Dally et al., 2006). Wenn sie erfahren, dass sie an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit hungrig sein werden, dann speichern sie dort ein anderes und mehr Futter als an einem Ort, an dem sie nicht hungrig sein werden. Für diese Art von Gedächtnis übernimmt der Hippokampus bei Vögeln wie bei Nagern und Menschen eine wichtige Rolle. Da der Hippokampus beim Menschen eine essentielle Struktur für deklaratives (explizites) Wissen ist, lässt sich vermuten, dass es zwischen dem episodischen Gedächtnis des Menschen und dem „episodic-like memory“ der Tiere keine prinzipiellen sondern nur graduelle Unterschiede gibt (Suzuki, 2006). Kausales Schließen: Tiere lernen aus der Kontiguität und der Kontigenz von Ereignissen die kausalen Zusammenhänge dieser Ereignisse in der Umwelt (s.o.). Haben sie aber auch ein Verständnis für solche kausalen Zusammenhänge? Blaisdell et al. zeigten kürzlich, dass Ratten kausale

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Schlüsse nach dem Erlernen einfacher Dressuraufgaben ziehen, in denen sie das Angebot von Futter entweder als Folge von selbst erzeugten Signalen oder nicht von ihnen verursachten Signalen einzuordnen hatten (Blaisdell et al., 2006). Dies bedeutet, dass die Tiere den kausalen Zusammenhang zwischen der eigenen Aktion erkannten. Die kausale Verknüpfung haben die Ratten nach mehrmaligen Lerndurchgängen erschlossen. In anderen Situationen werden solche Zusammenhänge ohne vorheriges Probieren erkannt. Berühmte Beispiele hierfür sind die in allen Lehrbüchern der Verhaltensbiologie angeführten Schimpansen von Wolfgang Köhler, die Stäbe zusammen stecken und Kisten aufeinander türmen, um Futter zu erreichen. Ein anderes Beispiel sind die Raben von Heinrich und Bugnyar (Heinrich/Bugnyar, 2005). Sie beobachteten Raben, die an ein Stück Fleisch gelangen, das an einem Strick befestigt ist, indem sie schrittweise mit dem Schnabel den Strick ein Stück hochziehen, dann diesen mit einem Fuß festhalten und die Prozedur solange wiederholen bis sie das Futter erreichen. Dies tun sie nicht, indem sie schrittweise das Verhalten erlernen, sondern beim ersten Mal und mit vollständigem Ablauf aller komplizierten Bewegungen. Mit diesen Beispielen will ich das Argument vertreten, dass implizites Handeln nach Strukturen erfolgt, die wir als charakteristisch, ja geradezu als für bewusst werdendes Handeln reserviert erachten.

5. Erwarten, Planen, Entscheiden: Eine abschließende Bemerkung Neurobiologen argumentieren, dass explizite Willensentscheidungen zur Gänze (oder in überwiegenden Teilen, darüber wird innerhalb der Neurobiologie diskutiert) post-hoc-Erfahrungen sind, mit denen sich die Teile des Gehirns, die das Substrat des bewussten Ichs darstellen, mit seinem übrigen Gehirn und seinem Körper derartig innig identifizieren, dass sich das bewusste Ich die alleinige Urheberschaft für alle Entscheidungen zuschreibt (Smith-Churchland, 2002; Kandel, 2006; Roth, 2001; Singer, 2004; Wegner, 2002). Wenn dem so ist, dann stellt sich natürlich die Frage, wer verhandelt und entscheidet denn zur Gänze (oder überwiegend), damit im Nachhinein eine solche Zuschreibung erfolgen kann? Die hier vorgetragenen Charakterisierungen der Operationen an implizitem Wissen sollen verdeutlichen, dass die Reich-

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haltigkeit und Komplexität der nicht bewusst werdenden Gehirnaktivitäten genügend Raum für die als willentlich und als frei empfundenen Entscheidungen geben. Es ist gerade diese Nicht-Kenntnis der impliziten Operationen, die das Freiheitsgefühl erzeugt, und es muss gute evolutive Gründe für diese Unabhängigkeit in der Wahrnehmung der Aktionen des eigenen Gehirns gegeben haben. Möglicherweise stellt sie eine Voraussetzung für die enge Identifikation zwischen einem Gehirn und seinem Körper dar. Ich wollte weiterhin verdeutlichen, dass „inneres Verhandeln“ bei implizitem Wissen nicht mit einfachen UrsacheWirkungs-Gefügen gleichgestellt werden kann. Die Aktivierung verschiedener, auch widersprüchlicher Gedächtnisinhalte, ihr iteratives und zyklisches Aktivieren und Deaktivieren, die Vergleiche über rekurrente Schleifen (Edelman, 1993, nennt dies die „reentrant loops“) und die Spontaneität der neuronalen Netzwerke, angetrieben von Motivation und Aufmerksamkeit kontrollierenden Gehirnstrukturen, bedingen Ursachen-Wirkungs-Ketten, die einen Grad an Komplexität erreichen, der uns zur Zeit Grenzen der Erkenntnis auferlegt. Ein Eindringen in diese Ursachen-Wirkungs-Ketten wird zu einer Erweiterung, nicht zu einer Verengung der Kenntnisse führen, gibt aber keinen Anlass zur Annahme von nicht-physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Voraussetzung für dieses Eindringen ist allerdings eine radikale Abkehr von einem kartesianischen Dualismus und einer wie auch immer versteckten Annahme einer nur dem Menschen zukommenden geistigen Tätigkeit. So ist es auch nicht angemessen, Begriffe wie „Wählen“, „Planen“, „Abwägen“, „Verhandeln“, „Entscheiden“ auf die explizite und deklarative Ebene zu begrenzen. Dies sind Eigenschaften des Gehirns im Umgang mit allem Wissen, mag es nun als implizit oder explizit erfahren werden. Die Erfahrung von Wille und Freiheit im Entscheiden sind wie alle Gehirnleistungen Produkte der Evolution von Gehirnen. Insofern ist auch die Frage, wie ausgehend von diesen Operationen die Empfindung der Freiheit von eben denselben Operationen entsteht, eine originäre neurobiologische Fragestellung. Biologen werden daher nach den proximaten und ultimaten Ursachen suchen.

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Metakognition bei Tieren JULIA FISCHER „Sie haben sich also fr Antwort ,C‘ entschieden! Sind Sie sich auch ganz sicher?“ Die Lichter senken sich, dramatische Musik wird eingespielt. Die Kandidatin lehnt sich entspannt zurck, lchelt und nickt: „Ja, ganz sicher“. Solche oder ähnliche Szenen spielen sich tagtäglich im Vorabendprogramm des Fernsehens ab. Ob sich die Kandidatin in der Hoffnung auf Geld und kurzfristigen Ruhm entspannt zurücklehnt oder nervös auf ihrem Hocker hin und her rutscht, hängt vor allem davon ab, ob sie meint, die Antwort zu kennen. Im Quiz geht es also nicht nur darum, was die Kandidatin weiß, sondern auch, ob sie weiß, was sie weiß. Das Wissen über das eigene Wissen – also die Fähigkeit zur Metakognition, zur Reflektion des eigenen Informationszustands, gilt als eine wichtige Grundlage für die Entstehung von Bewusstsein (Terrace/Metcalfe, 2005) und berührt damit verschiedene Disziplinen wie die Entwicklungspsychologie, die Evolutionsbiologie und auch die Philosophie. Die frühe Forschung zur Metakognition beschäftigte sich vornehmlich mit dem Metagedächtnis – der Beurteilung, ob man sich an etwas erinnern kann oder nicht („es liegt mir auf der Zunge“, „feeling of knowing“) – sowie den verschiedenen Strategien, gelerntes Wissen abzurufen (Flavell, 1979; Nelson/Narens, 1990; 1994). Metakognition gilt manchen Forschern als ein spezifisch menschliches Charakteristikum;1 dies ist aber wie bei allen anderen als spezifisch menschlich identifizierten Fähigkeiten wie Sprache, Werkzeuggebrauch oder Kultur Gegenstand intensiver Debatte (s. z. B. Wallmann, 1992; Marks, 2002; Fischer, 2003; 2007, im Druck).

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„One of the truly unique characteristics of human memory: its knowledge of its own knowledge“ (Tulving/Madigan, 1970, S.477); „The ability to reflect upon our thoughts and behaviors is taken, by some, to be at the core of what makes us distinctively human“ (Metcalfe/Shimamura, 1994, xi)

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Die evolutionären Ursprünge der Metakognition Aus einer evolutionsbiologischen Perspektive stellt sich die Frage, ob metakognitive Fähigkeiten – zumindest in rudimentärer Form – auch bei Tieren2 entwickelt sind. Die üblichen Verdächtigen für solche vergleichenden Analysen sind hier dem Menschen phylogenetisch nahe stehende Taxa wie nichtmenschliche Primaten sowie Arten, die ein komplexes soziales Leben haben, in einer variablen Umwelt leben und/ oder ein großes Gehirn besitzen, wie zum Beispiel Delphine oder Rabenvögel.3 Eine wichtige Prämisse der Erforschung der metakognitiven Fähigkeiten von Tieren ist allerdings, ihnen überhaupt kognitive Fähigkeiten zuzusprechen. Dies war nicht immer der Fall. Einen wesentlichen Anstoß zur Beschäftigung mit der Mentalität von Tieren gab Darwin, der auch das Motiv der psychologischen Kontinuität zwischen Mensch und Tier4 in die Diskussion einbrachte, welches die gesamte Geschichte der Tierpsychologie durchzieht. Sein Zeitgenosse Georges Romanes, der mit Darwin in den Jahren 1874 – 1877 einen ausgedehnten Briefwechsel führte, gilt als eigentlicher Vater der vergleichenden Psychologie. Romanes setzte wie Darwin auf Erkenntnis durch Introspektion (Romanes, 1882; 1884). Die experimentelle, hypothesengetriebene Forschung erlebte ihren Aufschwung Anfang des 20. Jahrhunderts. 1911 veröffentlichte Edward L. Thorndike sein Buch „Animal Intelligence“, in dem er die anekdotische Methode kritisierte.5 Thorndike gilt als einer der Begründer der experimentellen Tierpsychologie und ebnete dem Behaviorismus die Bahn. Ihm zufolge lernen Tiere ebenso wie Menschen dadurch, dass sie Zusammenhänge zwischen Ereignissen registrieren. Sein Zeitgenosse 2 3

4 5

Für die Biologen unter den Lesern: „…bei anderen Tieren“. Gemäß der „social brain hypothesis“ ist ein großes Gehirn Folge des Lebens in einer komplexen sozialen Umwelt ( Jolly, 1972; Humphrey, 1976). Diese Annahme genießt derzeit größere Aufmerksamkeit als die Vermutung, eine frugivore Lebensweise und die damit verbundene aufwändige Suche nach den verteilten Futterquellen könne die Entwicklung eines großen Gehirns erklären (Harvey et al., 1980). „Nevertheless the difference in mind between man and the higher animals, great as it is, certainly is one of degree and not of kind.“ (Darwin, 1871, 495). „Most the books do not give us a psychology, but rather a eulogy of animals. They have all been about animal intelligence, never about animal stupidity.“ (Thorndike, 1911, 22).

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John B. Watson publizierte zwei Jahre darauf das „Behavioristische Manifest“ (Watson, 1913), in dem er die Ansicht vertrat, dass sich nur das beobachtbare Verhalten von Tieren untersuchen lasse, nicht aber die zugrunde liegenden internen Prozesse. Dieser Forschungsansatz wurde erstmals von Edward Tolman angezweifelt, der nicht umhin kam, Tieren Erwartungen und kognitive Karten – also mentale Repräsentationen ihres Raumes – zuzusprechen, um seine Forschungsergebnisse erklären zu können (Tolman, 1932). Tolman postulierte außerdem „intervenierende Variablen“, die zwischen der Wahrnehmung eines Reizes und dem ausgeführten Verhalten geschaltet seien. Populär wurde die Beschäftigung mit den mentalen Fähigkeiten von Tieren aber erst in den 1960er/70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der einsetzenden kognitiven Revolution (Gardner, 1989). Während also heute allgemein angenommen wird, dass Tiere über kognitive Fähigkeiten verfügen und der Forschungszweig derzeit eine Expansion erfährt (Vauclair, 1996; Tomasello/Call, 1997; Shettleworth, 1998; Wasserman/Zentall, 2006 – um nur einige zu nennen), gibt es noch relativ wenige Studien, die sich mit der Frage der Metakognition bei Tieren befassen. Einen Anschub erhielt die Beschäftigung mit den metakognitiven Fähigkeiten von Tieren durch den 1978 erschienenen Artikel „Does the chimpanzee have a theory of mind?“ von David Premack und John Woodruff (Premack/Woodruff, 1978). Premack und Woodruff führten in diesem Beitrag den Begriff „theory of mind“ („Theorie des Geistes“) in die Diskussion ein, unter dem sie sowohl die Zuschreibung von mentalen Zuständen zu anderen als auch die Zuschreibung von mentalen Zuständen zu sich selbst subsumierten.6 In der Folge entwickelte sich die Begrifflichkeit allerdings so, dass sich „Theorie des Geistes“ vornehmlich auf die Zuschreibung von mentalen Zuständen zu anderen bezieht. Diskutiert wird hier, auf welche Weise ein Wesen zu einer solchen Zuschreibung gelangen kann, zum Beispiel ob dies eher auf abstrakten Überlegungen beruht oder durch eine Form von Simulation vermittelt wird (Übersicht in Carruthers/Smith, 1996). Der Begriff Metakognition bezieht sich heute in der Regel auf die Zuschreibung von mentalen Zuständen zu sich selbst. Hier geht es um die Entwicklung der Fähigkeit der Introspektion, der Selbstreflexion und schließlich auch der Entstehung von Bewusstsein (Terrace/Metcalfe, 2005). Der Begriff ,Metakognition‘ wird auch häufig mit John 6

„An individual has a theory of mind if he imputes mental states to himself and others.“ (Premack/Woodruff, 1978, 515).

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Flavell (Flavell, 1979) in Verbindung gebracht. Flavell nahm an, dass Metakognition auf der Wirkung und Interaktion von vier verschiedenen Phänomenen beruht, nämlich metakognitivem Wissen, metakognitiven Erfahrungen, Zielen (oder Aufgaben) sowie Aktionen (oder Strategien).7 Die Forschung an Tieren widmet sich vornehmlich der Frage nach metakognitivem Wissen (siehe aber Kornell et al., 2007).

Experimentelle Untersuchungen der Metakognition bei Tieren Während Kandidaten in Quiz-Shows einfach sagen können, dass sie sich für Antwort ,C‘ entschieden haben, und auch viele Untersuchungen an Menschen zur Frage der Metakognition sprachbasiert sind, gestalten sich solche Tests an Wesen, die nicht sprachfähig sind, meist komplizierter.8 Eine große Herausforderung in diesem Gebiet ist daher die Entwicklung von Paradigmen, die für den Einsatz bei Tieren (und Kleinkindern) geeignet sind (Shettleworth, 1998; Shettleworth/Sutton, 2003). Die Analogie zur Quizshow allerdings ist durchaus gegeben, nur wird den Tieren zunächst beigebracht, die Antwort durch Knopfdruck bekannt zu geben. Dies ist leichter gesagt als getan – in den meisten Studien wird der größte Teil der Zeit dafür aufgewendet, dem Tier eben dies beizubringen. Aufwändiges Training bringt aber auch immer die Gefahr mit sich, am Ende nicht abzufragen, was das Tier weiß, sondern was es im Laufe des Trainings gelernt hat. Doch dazu später mehr.

Das Unsicherheitsparadigma Wie also kann man sich der Frage der Metakognition nähern, wenn es nicht möglich ist, die Probanden sprachlich zu befragen? Als Durchbruch in diesem Gebiet galt hier eine Studie von David Smith und 7

8

Flavell versuchte, mit diesem Artikel ein neues Forschungsgebiet anzustoßen. Er konstatierte aber nicht nur ein Mangel an Forschung in diesem Gebiet, sondern auch einen Mangel an Metakognition insgesamt („I am absolutely convinced that there is, overall, far too little rather than enough or too much metacognitve monitoring in this world.“; (Flavell, 1979, 910). Eine Ausnahme ist Alex, der sprechende Graupapagei, der seit Jahren von Irene Pepperberg untersucht wird (Übersicht in Pepperberg, 2000).

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Kollegen. Die Autoren entwickelten das aus der psychophysikalischen Forschung abgeleitete so genannte Unsicherheitsparadigma (Smith et al., 1995). Ein wesentlicher Zweig der Psychophysik widmet sich der Frage, welcher Reizunterschied gerade noch wahrnehmbar ist („just noticeable difference“). Beispielsweise können Menschen je nach Lautstärke bei etwa 2 kHz zwei aufeinander folgende Töne noch unterscheiden, wenn der Unterschied in der Frequenz 2 – 10 Hz beträgt (Levine, 2000). Das so genannte Unsicherheitsintervall umfasst dementsprechend diejenigen physikalisch verschiedenen Reize, die noch die gleiche Empfindung auslösen. Verkompliziert wird die Feststellung des Unsicherheitsintervalls durch die Tatsache, dass die Signalerkennung und damit auch die Wahrnehmung eines Unterschiedes nicht einem Stufenmuster folgt, bei dem beispielsweise jede Differenz über der Unterscheidungsschwelle erkannt und jede Differenz unterhalb der Schwelle nicht erkannt wird. Vielmehr streuen die Antworten: Es gibt Fälle, in denen ein eigentlich erkennbarer Unterschied zwischen zwei Reizen nicht erfasst wird („verpasst“), oder umgekehrt angeben wird, es gebe einen Unterschied, obwohl faktisch kein wahrnehmbarer Unterschied besteht („falscher Alarm“). Hinzu kommen dann noch die jeweiligen „richtigen“ Antworten, also die korrekte Erkennung eines Unterschiedes bzw. keines Unterschiedes („Treffer“ bzw. „richtige Ablehnung“). Die Festlegung von Unterscheidungsschwellen kann darum nur statistisch erfolgen.

Will man das Unsicherheitsintervall bei einem Tier feststellen, muss es dazu in der Regel trainiert („operant konditioniert“) werden. Auch die hier vorzustellenden Studien bedienten sich in der Mehrzahl der operanten Konditionierung. Zunächst wird das Tier belohnt, wenn es bei der Präsentation eines Reizes zum Beispiel eine bestimmte Taste drückt, und bei der Präsentation des anderen Reizes eine andere. Im Experiment von Smith und Kollegen wurde ein Delphin (Tursiops truncatus) belohnt, wenn er nach dem Vorspiel eines Sinus-Tons von 2100 Hz ein bestimmtes Symbol berührte, und beim Vorspiel eines

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Abb. 1: Prozent der Reaktionen des Delphins. Grau unterlegt ist der Bereich des Unsicherheitsintervalls. Verändert nach Smith et al., 1995.

Tons, der darunter lag, etwa bei 1900 Hz, ein anderes. In dieser Aufgabe ging es also darum, zu entscheiden, ob ein angebotener Ton dem Standard von 2100 Hz entsprach oder nicht. Bei einem „Fehler“ erfolgte ein so genanntes „Time-Out“, das heißt, das Experiment wurde abgebrochen. Erst nach einiger Zeit erhielt das Tier in einer neuen Runde wieder die Möglichkeit, eine Belohnung zu erlangen. Zusätzlich lernte der Delphin die Bedeutung eines dritten Symbols, des sogenannte „Escape“ oder Abbruch-Symbols. Wählte er den Abbruch, so erhielt er eine geringe Belohnung, ohne dass er die Unterscheidungsaufgabe hätte lösen müssen. Um einem übermäßigem Gebrauch des Abbruch-Symbols entgegenzuwirken, wurde die Belohnung bei häufigem Gebrauch immer weiter reduziert, so dass es sich irgendwann nicht mehr „lohnte“, immer nur das Abbruch-Symbol auszuwählen. Sobald der Delphin die Funktion der verschiedenen Symbole bzw. die Konsequenzen ihrer Auswahl gelernt hatte, konnte der eigentliche Test beginnen. Nun wurden Frequenzen angeboten, die sukzessive immer näher an 2100 Hz und zum Teil innerhalb des Unsicherheitsintervalls lagen. Auch wenn das Verhalten des Delphins ebenso wie das der im gleichen Paradigma getesteten Studenten bezüglich der Belohnungsmaximierung suboptimal war, wählte er den Abbruch vorwiegend dann, wenn der dargebotene Ton innerhalb des Unsicherheitsintervalls lag. Smith und Kollegen zufolge hatte der Delphin (ebenso wie die Studenten) sowohl Zugriff auf das Wissen darüber, ob ein angebotener Ton dem Standard entsprach oder nicht, als auch auf das Wissen darüber, ob er sich dessen sicher war oder nicht. In letzterem Fall wählte er den Abbruch. Smith und Kollegen folgerten, dass auch Delphine über

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metakognitive Fähigkeiten verfügen, und sie stützten sich bei dieser Interpretation erstens auf die Ähnlichkeit des Verhaltens der Studenten und des Delphins und zweitens auf die Berichte der Studenten, die nach dem Experiment angaben, sie hätten die Escape-Taste gedrückt, wenn sie sich nicht sicher gewesen wären. Ob diese Übertragung zulässig ist, soll später diskutiert werden. Smith und Kollegen führten eine weitere Studie durch, bei der sie das Unsicherheitsparadigma in einer anderen sensorischen Modalität und bei einem anderen Taxon anwendeten (Smith et al., 1997). Sie trainierten zwei Rhesusaffen (Macaca mulatta), Abel und Baker, visuelle Reize zu unterscheiden. Als Standard diente hier ein Rechteck mit einer gewissen Pixeldichte, als Alternativreize Rechtecke mit einer geringeren Anzahl von hellen Pixeln pro Flächeneinheit. Auch hier gab es für die Tiere die Möglichkeit, nicht zu entscheiden, ob es sich beim angebotenen Reiz um den Standard oder die Alternative handelte, sondern das Experiment abzubrechen und sich eine garantierte geringere Belohnung zu sichern. Die Ergebnisse entsprachen im Prinzip denen, die am Delphin bzw. den Studenten gewonnen worden waren: im Bereich des Unsicherheitsintervalls wählten Abel und Baker signifikant häufiger die Abbruchmöglichkeit. Problematisch bleibt an diesen Versuchen, dass sich das beobachtete Verhalten auch einfacher erklären lässt, und zwar durch die Anwendung der einfachen Regel ,wähle A bei einem hohen, B bei einem niedrigen Ton und C bei Tönen, die dazwischen liegen‘. Mit anderen Worten: Bei einer gleichzeitigen Präsentation des zu bewertenden Stimulus und der Möglichkeit, den Versuch anzunehmen oder abzulehnen, reicht eine einfache Wiedererkennung aus (Metcalfe, 2003). Überzeugender als Tests, in denen der Stimulus und Abbruchmöglichkeit gleichzeitig angeboten werden, seien deshalb Paradigmen, die auf die Abfrage von Gedächtnisinhalten abzielten (Hampton, 2001).

Wissen, ob man sich erinnert Robert Hampton ging dieser Frage in seiner viel beachteten Studie „Rhesus monkeys know when they remember“ nach. Er trainierte dazu zwei Rhesusaffen in einer so genannten „verzögerten Match-to-Sample“ Aufgabe (Hampton, 2001). Dabei wurde auf einem Bildschirm zunächst ein Muster A (das Sample) angeboten, und nach einer Verzögerungszeit eine Auswahl von vier Mustern A, B, C, D. Die Auswahl von A wurde

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belohnt. Vor der Präsentation der Auswahl wurde jedoch ein Zwischenschritt eingeschaltet, bei dem die Tiere die Möglichkeit hatten, zu entscheiden, ob sie den Test zu Ende bringen oder abbrechen wollten. Dadurch sollte abgefragt werden, ob sie zu diesem Zeitpunkt noch davon ausgingen, sich an das Sample zu erinnern. Erst wenn sie das „Weiter“-Feld berührten, wurden die vier Testmuster auch angeboten. Wenn die Tiere dagegen den Abbruch wählten, erhielten sie analog zu den Smithschen Versuchen eine garantierte geringe Belohnung. In zwei von drei Experimenten hatten die Tiere die Möglichkeit zum Abbruch, im restlichen Drittel wurden sie gezwungen, die Auswahl zwischen den Mustern A, B, C und D zu treffen, ohne die Möglichkeit zu haben, das Experiment abzubrechen. Hampton sagte voraus, dass die Fehlerquote in erzwungenen Versuchen signifikant höher sein sollte als in freiwillig gewählten: Diese Vorhersage beruht auf der Annahme, dass die Tiere nur dann freiwillig an dem Versuch teilnehmen würden, wenn sie annahmen, sich an das Testmuster zu erinnern. Dies wurde von den Ergebnissen bestätigt. Zudem gab es einen deutlichen Effekt der Verzögerungszeit: Je länger die Zeitspanne war zwischen der Präsentation des Samples und der Frage danach, ob der Affe den Test annehmen wolle, desto häufiger brachen die Affen den Versuch ab. Allerdings gab es hier deutliche Unterschiede zwischen den beiden Individuen; darüber hinaus wiesen die Ergebnisse ein paar merkwürdige Inkonsistenzen auf.9 Dennoch gelten diese Versuche als ein Zeugnis dafür, dass zumindest ein Affe in der Lage ist, seinen eigenen Kenntnisstand (hier das soeben Gemerkte) abzufragen und zur Grundlage einer Handlung zu machen.10 Mit anderen Worten: Das Tier scheint expliziten Zugriff auf die ihm zur Verfügung stehende Information zu haben.

9 So zeigte sich z. B. bei einem der beiden Affen, der in den Versuchen ohne Verzögerungszeit signifikant schlechter in den erzwungenen Versuchen war, bei den Versuchen mit Verzögerung keinen Unterschied mehr zwischen den erzwungenen und den freiwilligen Tests. 10 Janet Metcalfe bemerkte (vor der Veröffentlichung der im Folgenden beschriebenen Tests von Son und Kornell) dazu: „the entire burden of the conjecture that nonhuman animals are capable of metacognition rests on the thin shoulders of a single rhesus monkey“ (Metcalfe, 2003, 351).

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Affen in der Spielbank Lisa Son, Nate Kornell und Herbert Terrace untersuchten, ob es auch möglich ist, die Entschiedenheit zu quantifizieren, mit der ein Affe seine Wahl trifft (Son/Kornell, 2005; Kornell et al., 2007). Sie trainierten dazu zwei Rhesusaffen, Ebbinghaus und Lashley, in einem relativ komplexen experimentellen Ablauf. Zunächst wurde den Affen eine eher einfache Diskriminierungsaufgabe beigebracht, bei der auf einem Bildschirm neun Balken angezeigt wurden. Einer dieser Balken war länger als die anderen, und seine Auswahl wurde belohnt.11 Im nächsten Schritt lernten die Tiere, dass sie zunächst Punkte sammeln mussten, die bei einem gewissen Punktestand in materielle Belohnung in Form von Futter umgewandelt wurden. Der jeweilige Punktestand wurde graphisch durch einen mit Kugeln gefüllten Zylinder auf dem Bildschirm dargestellt. Bei einer korrekten Wahl zeigte eine Animation, wie weitere Punkte in den Zylinder fielen. Als nächstes wurden die Tiere damit konfrontiert, dass ihnen auch wieder Punkte abgezogen werden konnten, und zwar wenn sie eine falsche Wahl getätigt hatten, was sich für die Motivation der Tiere als überaus problematisch erwies12. Schließlich wurden sie mit der Möglichkeit des Wetteinsatzes vertraut gemacht. Dazu wurden zwei Symbole („confidence icons“) präsentiert. Die Auswahl des einen Symbols hatte zur Folge, dass die Tiere bei richtiger Antwort zwei (in späteren Experimenten drei) Punkte gewannen, bei falscher Antwort aber auch zwei (bzw. drei) Punkte verloren. Wurde das andere Symbol gewählt, gewannen die Tiere in jedem Fall einen Punkt. In den Tests waren Ebbinghaus und Lashley in Durchgängen, in denen sie zuvor den hohen Einsatz gesetzt hatten, signifikant besser als in den anderen Durchgängen (etwa 60 % korrekt vs. 20 % korrekt). Die Autoren schlossen aus diesem Ergebnis, dass die Tiere in der Lage sind, ihre Sicherheit zu quantifizieren. Es bleibt aber fraglich, ob der Erkenntniswert wesentlich über den des Experiments von Hampton hinausgeht, da nur zwei verschiedene Möglichkeiten des Wetteinsatzes angeboten wurden, nämlich die garantierte geringe Belohnung, die in den anderen Experimenten einem Abbruch entsprach, 11 Um sich klar zu machen, wie überaus fremd derartige Aufgaben für Affen sein können, sei bemerkt, dass dieses Training ein volles Jahr in Anspruch nahm. 12 „When finishing the first session of punishment training, both monkeys seemed almost stunned, staring at the reservoir on the screen for a while and showing obvious frustration behaviors.“ (Son/Kornell, 2005, 308).

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oder den hohen Wetteinsatz, der im Prinzip der Hampton‘schen „Weiter-Taste“ entsprach. In weiteren Experimenten waren die Tiere in der Lage, die Einschätzung des eigenen Kenntnisstandes ohne weiteres Training auch auf andere experimentelle Arrangements zu übertragen, in denen zum Beispiel der größte oder kleinste Kreis ausgewählt werden musste (Kornell et al., 2007). Schließlich wurden Ebbinghaus und Lashley noch darauf trainiert, eine Aufgabe zu lösen, die insbesondere das Arbeitsgedächtnis fordert. Zunächst wurden den Tieren sechs Photographien gezeigt. Um die Aufmerksamkeit der Tiere aufrecht zu erhalten, mussten sie jedes einzelne Bild auf dem Bildschirm berühren, bevor der Versuch weiterlief. Anschließend erschienen neun Photographien auf dem Bildschirm, von denen eine zuvor gezeigt worden war. Für die Auswahl des bereits bekannten Bildes wurden die Tiere belohnt. Sobald die Tiere ein gewisses Erfolgskriterium erreicht hatten, wurden zusätzlich die confidence icons eingeblendet. Die beiden Rhesusaffen waren ohne weiteres Training auch hier in der Lage, die confidence icons entsprechend ihrer Entscheidungssicherheit zu verwenden. Auch in diesem Experiment waren beide Tiere in den Durchgängen, in denen sie zuvor den hohen „Wetteinsatz“ getätigt hatten, signifikant besser als in den Durchgängen mit niedrigem Einsatz (Kornell et al., 2006, im Druck).

Das Modell von Nelson und Narens Welche Erklärungen stehen derzeit für die beobachteten metakognitiven Leistungen bei Tieren zur Verfügung? Eines der wichtigsten Modelle, um metakognitive Prozesse zu beschreiben, stammt von Thomas Nelson und Louis Narens (Nelson/Narens, 1990). Es galt ursprünglich vor allem für Lern- und Gedächtnisprozesse. Nelson und Narens unterschieden zwischen der so genannten Objekt-Ebene und der MetaEbene, wobei die Objekt-Ebene gewissermaßen den Informationsspeicher und die Meta-Ebene eine darüber geschaltete Instanz darstellt (Abb. 2). Laut Nelson und Narens sind die beiden Ebenen durch zwei Prozesse miteinander verbunden: Erstens speist die Objekt-Ebene Information in die Meta-Ebene ein, wodurch der Zustand der ObjektEbene beurteilt werden kann (im Original: Monitoring); zweitens übt die Meta-Ebene Kontrolle über die Objekt-Ebene aus. Dies betrifft insbesondere die Frage nach der Steuerung weiterer Informationsaufnahme

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Abb. 2: Modell metakognitiver Prozesse von Nelson und Narens („ein theoretischer Mechanismus, bestehend aus zwei Strukturen [Meta-Ebene und Objekt-Ebene] und zwei Beziehungen, die die Richtung des Informationsflusses charakterisieren“). Nach Nelson/Narens, 1990, 126.

in die Objekt-Ebene.13 Eingebettet in dieses Modell ist die Annahme, dass das Verhalten nicht direkt von der Objektebene gesteuert wird, wie es bei einer reinen Reiz-Reaktionsbeziehung der Fall wäre, sondern durch die Meta-Ebene vermittelt wird. Abbildung 3 verdeutlicht das Zusammenspiel der verschiedenen Beurteilungs- und Kontrollprozesse, die bei der Aufnahme, der Speicherung und dem Abruf von Information eine Rolle spielen (sollen). Die Kontrollprozesse beschreiben Aktionen, bei denen auf der MetaEbene Aktionen initiiert werden, die den Informationsgehalt auf der Objekt-Ebene verändern. Man stelle sich beispielsweise vor, man müsse eine Reihe von Wörtern lernen, die auf Karten gedruckt sind. Die Meta-Ebene kontrolliert, wie viel Zeit in jede Karte investiert wird. Wird also auf der Meta-Ebene festgestellt, dass das Wort nun gespeichert ist, kann die nächste Karte genommen werden. Per definitionem liefert die Kontrollfunktion keine Information von der Objekt-Ebene an die Meta-Ebene; aus diesem Grund muss das Modell durch den eingangs erwähnten Beurteilungsprozess ergänzt werden, der logisch und vielleicht sogar psychologisch unabhängig vom Kontrollprozess ist (Nelson/ Narens, 1990; siehe auch Koriat, 1993). Als ein Beispiel für die getrennte Verarbeitung auf der Objekt- und der Meta-Ebene gilt das Phänomen der „Blindsight“ (Weiskrantz/ 13 Es ist unschwer zu erkennen, wie sehr diese Vorstellungen von einem kybernetischen Denkansatz geprägt sind.

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Abb. 3: Gedächtnismodell von Nelson und Narens. Die Abbildung zeigt die „wichtigsten Stationen im theoretischen Gedächtnismodell […] und einige Beispiele von Überwachungs- und Kontrollkomponenten“. Nach Nelson/Narens, 1990, 129.

Warrington, 1975), welches manche neurologischen Patienten betrifft, die Läsionen am visuellen Cortex erlitten haben. Diese Patienten können zwar zum Beispiel einen Lichtpunkt auf einem Bildschirm berühren; sie geben aber an, nichts zu sehen. „Blindsight“ wurde auch an Affen untersucht (Cowey/Stoerig, 1995). Hierzu wurden die Tiere darauf trainiert, entweder ein Quadrat auf einem Bildschirm zu berühren, wenn dieses eingeblendet wurde, oder auf ein großes Rechteck zu tippen, wenn nichts gezeigt wurde. Drei Tiere, deren visueller (striater) Cortex der linken Hemisphäre operativ entfernt worden war, berührten zwar die Quadrate, die ihnen im rechten Gesichtsfeld präsentiert worden waren; sie tippten aber auch jedes Mal auf das große Rechteck – mit anderen Worten, sie meinten, nichts gesehen zu haben. Diese Dissoziation zwischen prozeduralem und deklarativem14 Antwortverhalten wirft ein interessantes Licht auf die Form der Verbindung zwischen verschiedenen Instanzen der Verarbeitung von Information. Entsprechend den Vorstellungen von Nelson und Narens wäre hier 14 Fahrradfahren, Klavierspielen und andere automatisierte motorische Programme gelten als Resultat prozeduraler Lernprozesse. Prozedurales Verhalten kann abgerufen werden, ohne dass man sich dessen gewahr wird. Deklaratives Wissen bezieht sich dagegen auf faktische Zusammenhänge; im angegebenen Beispiel also auf die Frage, ob man etwas gesehen hat oder nicht.

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davon auszugehen, dass der „Überwachungsprozess“ beeinträchtigt ist, die Abfrage des Inhaltes der Objekt-Ebene durch die Meta-Ebene also gestört ist. Eine Klärung der zugrunde liegenden Mechanismen des Phänomens der Blindsight wird vermutlich auch dazu beitragen, die postulierten Kontroll- und Beurteilungsprozesse bei metakognitiven Leistungen zu erhellen. Ein Großteil der Forschung und alle bislang erwähnten Studien an Tieren beschäftigten sich mit der Beurteilung des eigenen Wissens, also der Frage des Monitorings. Wie aber steht es um metakognitive Kontrollprozesse? Hierzu liegt meiner Kenntnis nach bislang erst eine Studie vor. Kornell, Son und Terrace (Kornell et al., 2007) testeten dazu zwei Rhesusaffen, Macduff und Oberon, die beide jahrelange Erfahrung mit dem Lernen von Bildsequenzen hatten, die ihnen am Bildschirm dargeboten wurden. In diesen Tests wurden den Tieren jeweils vier Bilder angeboten, die sie in einer vorgegebenen Reihenfolge berühren sollten. Normalerweise mussten die Tiere diese Reihenfolge durch Versuch und Irrtum lernen – wenn sie also das Bild A zufällig zuerst berührten, bekamen sie ein kurzes positives Feedback; tippten sie jedoch zuerst auf C, erfolgte ein Time-Out. Eine Belohnung erhielten sie erst, wenn sie eine ganze Sequenz korrekt erfasst hatten. Dieses Verfahren wurde nun dahingehend modifiziert, dass die Tiere sich einen „Tipp“ geben lassen konnten. Wenn sie einen solchen Hinweis verlangten, blinkten kurz vier Linien an dem Bild auf, das sie als nächstes zu berühren hatten. Allerdings musste ein solcher Hinweis auch bezahlt werden, denn nur für selbständig gelöste Sequenzen gab es ein „highly desirable M&M candy“, während nach der Anforderung eines Hinweises lediglich ein einfaches „banana pellet“ geliefert wurde. Oberon und Macduff ließen sich mit zunehmender Treffsicherheit immer seltener einen Hinweis geben, und wenn sie die Serien bereits kannten, verzichteten sie fast immer darauf. Offensichtlich verfügten zumindest diese beiden Rhesusaffen auch über metakognitive Kontrolle: Sie wussten, ob sie die richtige Reihenfolge kannten. Während die auf dem Unsicherheitsparadigma beruhenden Studien zur Metakognition bei Tieren problematisch sind und die Ergebnisse mit großer Wahrscheinlichkeit auch einfacher erklärt werden können, zeigte zumindest einer der beiden von Hampton getesteten Affen sowie die vier von Son und Kornell untersuchten Tiere ein Verhalten, welches auf metakognitive Kapazitäten hinweist. Rhesusaffen scheinen also über eine wie auch immer geartete Instanz zu verfügen, die differentielles Verhalten in Abhängigkeit vom Zugriff auf das Wissen bzw. die Erin-

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nerung hervorbringt; und dies umfasst sowohl Beurteilungs- als auch Kontrollaspekte.

Suchen, Sehen und Wissen Alle bislang erwähnten Studien waren mit einem außerordentlichen Trainingsaufwand verbunden, wodurch nicht immer ausgeschlossen werden kann, dass bestimmte Verhaltensneigungen durch die Experimente selbst erst erzeugt werden (vgl. Problem der Erfolgsmaximierung im Unsicherheitsparadigma). Um dieser Kritik zu begegnen und außerdem einen etwas natürlicheren Zugang zur Untersuchung der Metakognition zu finden, verwendeten Josep Call und Malinda Carpenter (Call/Carpenter, 2001) ein sehr einfaches Paradigma. Hier wurde kleinen Kindern im Alter von zweieinhalb Jahren sowie Schimpansen und Orang-Utans die Möglichkeit gegeben, zwischen zwei oder drei Röhren auszuwählen, von denen eine die Belohnung enthielt – Futter für die Affen und kleine Aufkleber für die Kinder. In einigen Versuchen konnten die Versuchsteilnehmer sehen, in welcher Röhre die Belohnung versteckt wurde, in anderen nicht. Es bestand aber in manchen Versuchen die Möglichkeit, noch zusätzliche Information einzuholen, und kurz in die Röhren hineinzugucken, bevor die Wahl getroffen wurde. Kaum überraschend schauten die Teilnehmer öfter nach, wenn sie zuvor nicht beobachten konnten, in welcher Röhre die Belohnung versteckt worden war. Call und Carpenter zufolge suchten sowohl die Kinder als auch die Tiere gezielt nach Information, wenn sie unsicher waren – dies sei indirekte Evidenz dafür, dass die Probanden wüssten, was sie wissen (siehe auch Hampton et al., 2004). Allerdings gab es auch hier kritische Stimmen. Kornell und Kollegen (Kornell et al., 2007) bemerkten, die Tiere (bzw. Kinder) hätten auch einer einfachen Suchstrategie (in einem neuen Kontext) folgen können, bei der sie einfach die Regel befolgen, solange zu suchen, bis sie wissen, wo die Belohnung steckt.15 Tatsächlich müssen fast alle Tiere über Mechanismen verfügen, die steuern, ob weitere Informationen eingeholt werden müssen, bevor eine bestimmte Handlung vollzogen werden kann. Ein anschauliches Beispiel liefern hierfür die Honigtopfameisen (Myrmecocystus mimicus), 15 „They did not have to know what they knew. Instead they simply needed to know where the food was. If not, they searched for it“ (Kornell et al., im Druck).

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die sich nicht nur von selbst gesammeltem Futter ernähren, sondern auch regelrechte Raubzüge durchführen, bei denen sie die Vorräte (Speichertiere) und Puppen anderer Kolonien an sich bringen. Treffen Vertreterinnen zweier Kolonien im Gelände aufeinander, so betasten sie sich gegenseitig und stellen anhand einer geeigneten Stichprobe fest, ob die eigene Kolonie in der Mehrheit ist oder nicht. Tiere, die in der Überzahl sind, gehen zum Angriff über; die anderen ziehen sich zurück (Hölldobler/Wilson, 1994). Auch für die Steuerung dieses Verhalten muss es eine Instanz geben, die darüber wacht, ob genügend Information vorliegt, oder ob weitere Interaktionen nötig sind, um zu entscheiden, ob man in der Unter- oder Überzahl ist. Vermutlich würde hier jedoch niemand auf den Gedanken kommen, die Ameisen verfügten über metakognitive Fähigkeiten. Es muss also jeweils geklärt werden, inwiefern sich (vermeintlich kognitive) Leistungen möglicherweise auch durch relativ einfache assoziative Lernvorgänge oder eine Kombination verschiedener einfacherer kognitiver Module (s. z. B. Fischer et al., 2004; Kaminski et al., 2004) erklären ließen.16 Insgesamt ist aber zu konstatieren, dass sich das von Call und Carpenter gewählte Suchverhalten schlecht dafür eignet, metakognitive Prozesse zu beleuchten, da es – wie Kornell und Kollegen bemerkten – eher Ausdruck einer Motivation ist, das Suchverhalten so lange aufrecht zu erhalten, bis die „Endhandlung“, zum Beispiel das Fressen, vollzogen werden kann. Allerdings zeigen solche Vergleiche, wie problematisch es ist, von einer phänomenologischen oder funktionalen Ähnlichkeit eines Verhaltens auf eine strukturell ähnliche Repräsentationen zu schließen – eine prominente Vorgehensweise, wenn es sich um die Untersuchung von Affen oder Delphinen handelt (siehe hierzu auch die Kritik von Povinelli et al., 2000; Povinelli/Vonk, 2003).

Metakognition und exekutive Kontrollprozesse Fernandez-Duque, Baird und Posner (Fernandez-Duque et al., 2000) verglichen metakognitive Prozesse mit anderen kognitiven Kontrollprozessen wie selektiver Aufmerksamkeit, Entscheidungen in Konfliktsituationen, Fehlerüberwachung und Unterdrückung von Impul16 „In no case may we interpret an action as the outcome of the exercise of a higher psychical faculty, if it can be interpreted as the outcome of the exercise of one that stands lower in the psychological scale“ (Morgan, 1906, 53).

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sen. Sie betonten die grundsätzliche Ähnlichkeit kognitiver Kontrollprozesse und versuchten, die beiden bislang relativ unabhängig voneinander laufenden Forschungszweige (Metakognition und exekutive Kontrolle) zusammen zu führen. Eine zunehmend wirksame exekutive Kontrolle verschiedener kognitiver Prozesse ermöglicht letztendlich ein differenziert gesteuertes Verhalten und womöglich auch größere Freiheitsgrade im Verhalten. Die Unterdrückung spontaner Impulse, die Abfrage und mögliche Deliberation verschiedener Handlungsoptionen ergänzt den in der Stammesgeschichte beobachtbaren Übergang zu so genannten „offenen Programmen“ bei langlebigen Tieren, die in einer sich wandelnden Umwelt leben. Im Gegensatz zu „geschlossenen Programmen“, bei denen die Entwicklung und der Einsatz verschiedener Verhaltensmuster(ketten) mehr oder weniger genetisch festgelegt sind, basieren offene Programme vor allem auf der Disposition zu lernen. Dies ermöglicht eine Anpassung des Verhaltens innerhalb der Individualentwicklung. Komplexere kognitive Leistungen und damit auch größere Freiheiten bei der Lösung von Problemen entstehen phylogenetisch also aus der Kombination der Fähigkeit (und Notwendigkeit) zu lernen und andererseits einer immer feineren Steuerung und Überwachung der Lernvorgänge selbst. Die Untersuchung der metakognitiven Fähigkeiten von Tieren kann zwar nichts über die „Evolution der Freiheit“ aussagen, da „Freiheit“ kein innerhalb der Biologie fassbares Konzept darstellt, wohl aber etwas über die zunehmenden Freiheitsgrade im Verhalten.

Offene Fragen Inwiefern sind nun metakognitive Fähigkeiten mit phänomenalem oder gedanklichem Bewusstsein verknüpft? Kornell und Kollegen zufolge können die von ihnen getesteten Tiere metakognitive Beurteilungen vornehmen, ohne sich dessen bewusst zu sein (siehe auch Reder/ Schunn, 1996). Auch Menschen könnten metakognitive Beurteilungen leisten, bevor sie in der Lage seien, diese auch dem Bewusstsein zugänglich zu machen und verbal zu äußern. Stellt man sich Bewusstsein als eine emergente Eigenschaft vor, die aus der (mehrfach geschachtelten) Repräsentation repräsentierten Wissens hervorgeht (also weitere Meta-Ebenen eingezogen werden), könnten die Prozesse, die Metakognition hervorbringen, gewissermaßen das Strickmuster für die Entstehung von Bewusstsein liefern.

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Unklar bleibt bislang, inwieweit metakognitive Prozesse Voraussetzung für die Entwicklung einer Theorie des Geistes sind. Josep Call beklagte die fehlende Verbindung dieser beiden Forschungszweige und sah das von ihm und Carpenter (Call/Carpenter, 2001) eingesetzte Paradigma als einen möglichen Zugang zu der Frage, wie Tiere Sehen mit Wissen verbinden – sowohl bei sich selbst als auch bei anderen (Call, 2003). Aus den dargelegten Gründen gilt die erwähnte Studie aber als wenig aussagekräftig. Bislang gibt es meiner Ansicht nach keinen überzeugenden Nachweis dafür, dass Tieraffen anderen Artgenossen Wissen oder Wünsche zuschreiben (Tomasello/Call, 1997; siehe aber Tomasello et al., 2003 für eine Diskussion der Fähigkeiten von Menschenaffen). Auch scheinen Affen keine Intentionen zu haben, andere Gruppenmitglieder über irgendetwas zu informieren (Seyfarth/ Cheney, 2003). Der positive Befund bezüglich der metakognitiven Fähigkeiten bei Affen legt den Schluss nahe, dass die beiden Komplexe Metakognition und Theorie des Geistes nicht notwendigerweise miteinander verknüpft sind. Handelt es sich bei den beschriebenen metakognitiven Prozessen tatsächlich um eine Zuschreibung von Wissen zu sich selbst, so scheint sich dies phylogenetisch vor der Fähigkeit entwickelt zu haben, auch anderen Wissen zuzuschreiben. Somit könnte Metakognition eine Vorstufe für die Entwicklung einer Theorie des Geistes sein. Andererseits berichteten Lockl und Schneider (Lockl/ Schneider, 2006), dass sich bei Kindern im Vorschulalter eine Vorstellung von den mentalen Zuständen anderer vor ihren (verbalen) metakognitiven Fähigkeiten entwickelt. Da sich die experimentellen Paradigmen in der genannten Studie von den hier vorgestellten Untersuchungen an Tieren erheblich unterscheiden, bleibt unklar, ob diese allein den möglichen Widerspruch zwischen den phylogenetischen und ontogenetischen Befunden erklären können. Wünschenswert wären in jedem Fall weitere vergleichende Untersuchungen, die sich einer ähnlichen Methodik bedienen. Interessanterweise spielt bei der gesamten Diskussion über Metakognition die emotionale Bewertung von Situationen als Zugang zur Frage der Entscheidungssicherheit in der Forschung bislang nur eine untergeordnete Rolle. In den in Behavioural and Brain Sciences erschienenen Kommentaren zur Arbeit von Smith und Kollegen (Smith et al., 2003) beispielsweise geht kein einziger der Autoren auf die mögliche Rolle oder Funktion von Emotionen bei der Beurteilung von uncertainty oder beim feeling of knowing ein – obwohl doch schon der Name des Phänomens diese Frage nahe legt. Und auch Flavell beschrieb

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einen möglichen introspektiven Zugang zur Metakognition explizit als ein Gefühl: „An example would be the sudden feeling that you do not understand something another person just said“ (Flavell, 1979, 906). Da Emotionen wieder mehr wissenschaftliches Interesse auf sich ziehen, wird sich vielleicht bald jemand der Frage annehmen, inwieweit emotionale Bewertungen von Situationen Zugang zum eigenen Informationszustand vermitteln (siehe dazu Engelen, 2003; Naqvi et al., 2006).

Introspektion als Falle Wer sich mit dem Phänomen der Metakognition beschäftigt, fängt unweigerlich an, in sich selbst hineinzuhorchen. Wie kommt man zu der Gewissheit, etwas eigentlich zu wissen, sich im Moment aber partout nicht daran erinnern zu können? Wie entscheidet man, ob alle Formen des unregelmäßigen Verbs jetzt wirklich gelernt worden sind? Introspektion bleibt ein mächtiger, ja fast unvermeidbarer Mechanismus, Hypothesen über mentale Vorgänge zu bilden. Es sollte jedoch klar geworden sein, dass die Übertragung von durch Introspektion gewonnenen Erkenntnissen auf andere Organismen erkenntnistheoretisch höchst problematisch bleibt, seien es andere Menschen oder Tiere. Auch wenn Analogieschlüsse in der Alltagspsychologie typisch sind, so bleiben sie erstens konzeptuell schwach, da sie lediglich auf der Übertragung von Verhältnissen beruhen; und zweitens sind sie nicht immer gerechtfertigt, da sich – wie gezeigt – hinter einer ähnlichen Phänomenologie ganz unterschiedliche Mechanismen verbergen können (Povinelli et al., 2000). Die Neigung zur Übertragung von durch Introspektion gewonnenen Erkenntnissen der kognitiven Grundlagen von Verhalten ist dazu bei der Untersuchung der nächsten lebenden Verwandten – wenig überraschend – ein Vielfaches höher als bei der Untersuchung des Verhaltens von Wasserläufern oder Honigtopfameisen. Erschwert und moralisch aufgeladen wird die Debatte dadurch, dass es in den Studien, in denen der Mensch einbezogen wird, auch unweigerlich um das Selbstverständnis des Menschen geht. Mit der Definition dessen, was den Menschen ausmacht, sind nolens volens Werturteile verbunden (Marks, 2002). Forscher, die postulieren, eine bestimmte Fähigkeit sei dem Menschen vorbehalten, sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, ihr Anliegen sei lediglich, dem Menschen als „Krone der (evolutionären) Schöpfung“ seinen Platz auf dem Thron zu sichern. Umgekehrt wird es zum Forschungsziel, den Menschen von

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eben diesem Thron zu stoßen und die Gemeinsamkeiten im Verhalten von beispielsweise Mensch und Schimpanse zu betonen (McGrew, 2004). Die immer wiederkehrende Frage ist, ob etwaige Unterschiede zwischen Tier und Mensch graduell oder diskontinuierlich, bzw. quantitativer oder qualitativer Natur seien. Der prominenteste Vertreter der kontinuierlichen Sichtweise ist – wie erwähnt – Charles Darwin, und seine Annahme steht im Einklang mit der Beobachtung, dass bei der Entstehung von Arten das Prinzip der kontinuierlichen Veränderung gilt. Bestehendes wird nur leicht abgewandelt, und die Neuerfindungen von Arten, die „de novo“ Synthese komplexer mehrzelliger Organismen ist in der Natur nicht beobachtet worden (die synthetische Biologie eröffnet hier allerdings ganz neue Perspektiven). Andererseits stellen zum Beispiel Punktmutationen diskrete Ereignisse dar, die durchaus qualitative Folgen haben können – die Frage der Kontinuität bleibt entsprechend schwierig zu entscheiden und muss jeweils spezifiziert werden, indem zum Beispiel die Skala berücksichtigt wird oder der Zeithorizont. Bei all dem sollte man außerdem daran denken, dass sich die Frage nach Gemeinsamkeiten nicht von der Frage nach den Unterschieden trennen lässt. Danksagung Ich danke Elisabeth Scheiner, Ricarda Schubotz, Brunhild Ritzenhoff und Christoph Teufel für Diskussionen und die kritische Durchsicht des Manuskripts.

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Der freie Wille, die Zeit und die Verantwortlichkeit MICHAEL A. STADLER 1. Der freie Wille auf dem Prüfstand 1983 veröffentlichte die Arbeitsgruppe um Benjamin Libet ein Experiment (Libet et al., 1983), welches vielerorts als Generalangriff auf den freien Willen – verstanden als die Möglichkeit, sich für dies oder jenes oder auch für gar nichts zu entscheiden – interpretiert wurde. Libet und seine Mitarbeiter hatten festgestellt, dass 200 ms vor der äußeren Bewegung (gemessen durch das Elektromyogramm) das Bewusstsein der Bewegungsabsicht auftritt, aber bereits 350 ms vorher ein Bereitschaftspotenzial gemessen werden kann, das die Bewegung einleitet. Das Gehirn entscheidet etwas zu tun, lange bevor die Absicht etwas zu tun, von den Versuchpersonen wahrgenommen wird. Wolfgang Prinz formulierte das Paradox, dass die Handlungsentscheidung längst gefallen ist, wenn die bewusste Intention erst ausgebildet wird, durch die folgende Dialektik: „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“ Zu diesem Schluss muss man kommen, wenn man annimmt, dass das Bereitschaftspotenzial genauso wenig bewusst wahrgenommen wird, wie der Prozess, der der bewussten Entscheidung vorausgeht. Allerdings ist nur das Bereitschaftspotenzial messbar, was zu seiner stillschweigenden Priorisierung führt. Benjamin Libet versicherte immer wieder, dass er den freien Willen nicht abschaffen wollte – was ihm als erklärtem Dualisten auch nicht gut angestanden hätte. Er erfand dazu ein weiteres Experiment, in dem nachgewiesen werden konnte, dass bis zu 100 ms vor der Bewegungsausführung diese noch gestoppt werden kann. Dieses sogenannte „Veto-Experiment“ ließ die Situation noch komplizierter erscheinen, da wir nunmehr zwar keine Handlungsentscheidung treffen können, es wohl aber in unserer Macht steht, etwas nicht zu tun. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Experiments erschien ein Aufsatz von Libet in The Behavioural and Brain Sciences (Libet, 1985), einer open-peer-commentary Zeitschrift: Libet betonte hier noch einmal ausdrücklich, dass seine experimentellen Befunde und Analysen nichts über individuelle

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Verantwortlichkeit und die Möglichkeit freier Willensentscheidungen aussagen. Nichtsdestoweniger vertraten sehr renommierte Wissenschaftler – Neurobiologen, Psychologen und Philosophen – die Ansicht, dass mit Libets experimentellen Befunden der freie Wille zur Illusion degradiert würde. In den 22 Kommentaren zu dem Aufsatz von 1985 (Libet, 1985) werden eine Reihe von Kritikpunkten an Libets Experiment aufgezeigt. Diesen möchte ich hier noch einige grundsätzlichere Einwände hinzufügen und gleichzeitig Ideen für weiterführende experimentelle Ansätze entwickeln.

2. Was ist das Faszinierende an der Kritik des freien Willens? Bereits mit der Entdeckung des Bereitschaftspotenzials durch Kornhuber und Deecke (Kornhuber/Deecke, 1965) waren die Voraussetzungen für Libets Experimente gegeben. Es dauerte allerdings noch 18 Jahre bis diese tatsächlich durchgeführt wurden und weitere zehn Jahre bis die Ergebnisse über den Kreis der Fachleute hinaus ins Bewusstsein der weiteren Öffentlichkeit traten. Nun begann in Deutschland eine intensive Dokumentation und Diskussion dieser Forschungsergebnisse. Kaum eine größere Tageszeitung brachte nicht ganzseitige Artikel auf der Feuilletonseite, kaum eine populäre Wissenschaftszeitschrift, in der nicht einer der Apologeten das Ende des freien Willens propagierte, kaum eine Richterakademie, die sich nicht einen Neurobiologen einlud, um die Frage, ob nach den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen der richtige Angeklagte verurteilt würde, zu reflektieren. In den USA, in England oder Frankreich ist diese publikumswirksame Diskussion in ähnlicher Intensität nicht geführt worden. Dies mag in den unterschiedlichen philosophischen Traditionen im angloamerikanischen und im deutschen Raum seine Ursache haben. Dem kritischen Beobachter stellt sich aber die Frage, warum die Schlussfolgerungen aus dem Libet-Experiment nicht nur in die Rechtsphilosophie hineinreichten sondern in Deutschland sogar zu Konkretisierungen im Gerichtssaal führten. Es wäre denkbar, dass die nationale Präferenz daher rührt, dass in Deutschland, angesichts seiner Geschichte, jede Möglichkeit der Entlastung des Gewissens und der Verlagerung der Verantwortlichkeit auf einen deterministischen Mechanismus – nämlich das Gehirn – dankbar angenommen wird.

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3. Physikalische und psychologische Zeit Libets Experiment basiert auf verschiedenen Zeitmessungen: Der Beginn des Bereitschaftspotenzials (BP) und der Beginn der elektromyographischen Aktivität (EMG) werden auf dem physikalischen Zeitstrahl gemessen. Die bewusste Handlungsentscheidung hingegen wird mit einer Art Uhr durch Angabe eines Ortes auf einem Kreis identifiziert. Auf der physikalischen Zeitachse werden sodann zeitliche Relationen zwischen physikalischen und subjektiven Zeitstrecken hergestellt. Hier ist nicht nur ein philosophischer Kategorienfehler anzumerken, sondern auch eine empirische Problematik festzuhalten. Zudem besitzt die subjektive oder psychologische Zeit eine völlig andere Struktur als die physikalische Zeit. Der Kategorienfehler besteht darin, dass Libet annimmt, der Willensakt müsse die Gehirnprozesse steuern können. Tatsächlich aber können wir bestenfalls unsere Handlungen steuern, nicht aber beispielsweise das Bereitschaftspotenzial, wie es Libet hypostasiert. Auch steckt eine empirische Problematik in der Vermengung subjektiver und physikalischer Zeit. Jeder weiß aus der Alltagserfahrung, dass die Zeit unterschiedlich schnell vergehen kann, dass Zeitstrecken unterschiedlich lang sein können, manchmal vergeht die Zeit wie im Fluge und manchmal kann eine Minute zur Ewigkeit werden (Abb. 1) . Die Tatsache der positiven und negativen Beschleunigung des erlebten Zeitverlaufs wurde vielfältig empirisch nachgewiesen, indem Zeitschätzungen bei angenehmen Tätigkeiten mit Zeitschätzungen unter der Bedingung des Wartens verglichen wurden (Fraisse, 1966). Der physikalische Zeitstrahl lässt sich deshalb nicht eindeutig dem psychologischen zuordnen, ebenso wenig wie sich psychologische Zeitpunkte eindeutig auf dem physikalischen Zeitstrahl abbilden lassen.

Abb. 1: Subjektive und physikalische Zeit.

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Abb. 2: Die Struktur der psychologischen Zeit.

Die psychologische Zeit, darauf hat Bischof (Bischof, 2005) kürzlich hingewiesen, hat eine gänzlich andere Struktur als die physikalische Zeit. Der physikalische Zeitstrahl verläuft, wenn wir einmal von den relativistischen Zeitstauchungen und Streckungen absehen, mit Null Beschleunigung und ohne Struktur. Ob der Zeitstrahl reversibel ist oder nicht, lässt sich derzeit nicht entscheiden (Hawking, 1988). Auf jeden Fall haben Vergangenheit und Zukunft – unter der Annahme der Gültigkeit der Naturgesetze – keine Präferenz. Die psychologische Zeit ist demgegenüber ganz klar durch das Jetzt determiniert (Bischof, 2005). Zwischen der Vergangenheit und der Zukunft liegt ein Überschneidungsbereich, der etwa 1–3 Sekunden lang ist (Abb. 2). Das phänomenale Jetzt ist also kein mathematischer Punkt sondern in dieser „psychischen Präsenzzeit“ findet die Integration von Vergangenheit und Zukunft statt (Pöppel et al., 1990). Die Ausgedehntheit des Jetzt ermöglicht uns antizipatorisches Verhalten (z. B. das Fangen eines Balles). Gleichzeitigkeit kann nur innerhalb des Jetzt festgestellt werden. Hier nähern wir uns der Grundidee von Libets Untersuchungen wieder an. Dieser machte die Idee der Gleichzeitigkeit zur Grundlage der wichtigen Frage des zeitlichen Zusammenhangs zwischen Gehirnprozessen und Erlebnissen. Dabei verlegte er aber beide Zeitpunkte auf die physikalische Zeitachse, ohne das daraus entstehende Paradox zu reflektieren. Die Problematik der impliziten Gleichsetzung von psychologischer und physikalischer Zeit wird sofort deutlich, wenn wir dieses Problem auf das Verhältnis von physikalischem und psychologischem Raum übertragen. Der psychologische Anschauungsraum lässt sich unter keinen Umständen auf den physikalischen Raum projizieren. Den Anschauungsraum können wir durch eine Umkehrbrille um 180 Grad verdrehen, ohne dass dies irgendeinen Einfluss auf die Koordinaten des physikalischen Raumes hätte. Der sog. Neckerwürfel (Abb. 3) offenbart eine Multistabilität, die spontan auftritt und nur bis zu einem gewissen

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Abb. 3: Der multistabile Neckerwürfel.

Grad unserer Kontrolle unterliegt (Strüber/Stadler, 1999). Weder hier noch anderswo lassen sich die Koordinaten des Anschauungsraumes denen des physikalischen Raumes zuordnen. Und das gilt in ähnlicher Weise für die Zeit.

4. Verführungen durch den Dualismus Die Untersuchungen von Benjamin Libet sind durch einen tiefen Glauben an den Dualismus geprägt. Wie viele Naturwissenschaftler geht er von einem Interaktionismus aus, der sowohl eine Kontrolle des Bewusstseins durch die Gehirnprozesse wie auch eine Kontrolle der Gehirnprozesse durch das Bewusstsein erlaubt. Schon Libets Lehrer, der Nobelpreisträger Sir John Eccles, war überzeugter Dualist und hat diese epistemologische Richtung zusammen mit Sir Karl Raimund Popper neurophilosophisch begründet (Popper/Eccles, 1977). Ursprünglich wollte Benjamin Libet die Willensfreiheit experimentell beweisen. Es war seine Hypothese, dass eine rein geistige Willensentscheidung dem Bereitschaftspotenzial vorauseilen kann, wodurch die Existenz eines „freien“ Willens, der Handlungen verursachen könne, bewiesen wäre. Libet war außerordentlich überrascht, dass seine Untersuchungen eher für das Gegenteil sprachen, da ja in seinen empirischen Befunden das Bereitschaftspotenzial schon mehr als 300 ms vor dem Willensakt gemessen werden konnte. Er betonte immer wieder, dass seine experimentellen Befunde die Existenz eines freien Willens und damit auch die individuelle Verantwortlichkeit jedes Menschen für sein Handeln nicht ausschlössen. Zumindest könne durch den freien Willen entschieden werden, eine Handlung nicht auszuführen, wie er es in seinen Veto-Experimenten gezeigt hatte. Eccles bestärkte Libet darin, indem er das frühe Auftreten des Bereitschafts-

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potenzials auf die angewandten Mittelungstechniken zurückführte und zu dem Schluss kam: „There is no scientific basis for the belief that the introspective experience of initiating a voluntary action is illusory“ (Eccles, 1985, 543). Die dualistische Sichtweise auf das Problem der Willensfreiheit ist verlockend, weil wir es uns damit im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage der moralischen Verantwortlichkeit für unser Handeln leicht machen können. Gerhard Roth spricht sich in seinem jüngsten Buch (Roth, 2003) auch eindeutig in diese Richtung aus: Das Ich sei nicht verantwortlich für die Taten des Gehirns, auch wenn dieses uns die Illusion vermittelt, selbst über unser Tun und Lassen bestimmen zu können. Strafrechtlich verantwortlich könne aber niemand sein, der nicht schuldig geworden ist. Schuldgefühle bekommen wir aber immer dann, wenn wir glauben Unrecht getan zu haben, was uns von unserem Gehirn vermittelt wird. Hier wird also dem Gehirn unterstellt, es habe ein Handeln verursacht und dem Handelnden gleichzeitig auch noch vorgegaukelt, er habe keine Schuld an dem, was er getan hat. Dieser dualistischen Argumentation lässt sich nur schwer entkommen, wenn das Gehirn für alles verantwortlich ist, was wir tun – die Handlungsentscheidung und die Entscheidung efferente Nerven zu aktivieren. Was könnte das Gehirn motivieren, seinen Träger zu täuschen, ihm die Illusion zu vermitteln, er habe schlecht gehandelt, was er ja, im Verein mit seinem Gehirn, auch tatsächlich getan haben könnte? Um sich selbst zu exkulpieren, um von sich abzulenken, die Schuld von sich abzuwälzen? Das schiene mir doch reichlich weit hergeholt. Derartige Äußerungen werden durch den latenten Dualismus provoziert. Das Gehirn ist verantwortlich und produziert gleichzeitig die einzig erkennbare Illusion, dass das Bewusstsein die Verantwortung trage. Damit ist das Gehirn schuldig und unschuldig zugleich. Auch Wolf Singer versucht in seinen Äußerungen zum Thema dem Dualismus zu entkommen. So argumentiert er in einem Interview des „Spektrum“ auf die Frage, ob es eine Entscheidung von „innen heraus“ gebe, damit, dass man ja wiederum auf Zustände rekurriere, die vom Gehirn zuvor erzeugt wurden. Der Dualismus besteht also nicht nur in der Annahme, dass der Geist das Gehirn steuere, sondern genauso in der epiphänomenalistischen Annahme, dass das, was der Geist tue, zuvor vom Gehirn programmiert wurde. Als Konsequenz aus der letzteren Äußerung zieht Singer den Schluss, dass man doch „verständnisvoller“ mit Kriminellen umgehen solle (Singer, 2001).

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5. Phänomenologie und Psychophysik In der Gestaltpsychologie wurden verschiedene Grundsätze aufgestellt, die in unserem Zusammenhang von Interesse sind.

5.1 Der phänomenologische Grundsatz „Das Vorgefundene zunächst einfach hinzunehmen, wie es ist; auch wenn es ungewohnt, unerwartet, unlogisch, wiedersinnig erscheint und unbezweifelten Annahmen oder vertrauten Gedankengängen wiederspricht.“ (Metzger, 2001). Dies bedeutet, die Gegenstände unserer Wahrnehmung uninterpretiert aufzunehmen und erst nach der unvoreingenommenen Beschreibung der Phänomene zur Theoriebildung über sie anzusetzen. Dies bedeutet in unserem Zusammenhang, dass das Erlebnis, freie Willensentscheidungen treffen zu können, ernst genommen werden muss und nicht durch einen Sprung auf eine andere Erkenntnisebene eliminiert werden darf. Auch würde sich die Interpretation von Erlebnissen als pure Illusion verbieten. Der phänomenologische Grundsatz würde erst in einem zweiten Schritt eine Wahrnehmung als Täuschung interpretieren lassen. In noch schärferer Fassung haben die Gestalttheoretiker vom Primat des Anschaulichen gesprochen, um damit zu verdeutlichen, dass es keine „falschen Erlebnisse“ geben kann, lediglich eine Unkenntnis ihrer Ursachen.

5.2 Der psychophysische Grundsatz Allem Erleben liegen gleichzeitige Hirnvorgänge zugrunde. Es gibt kein Erleben ohne zeitlich korrelierte neuronale Prozesse. Der Geist – so formulierte es Wolfgang Metzger – wurde noch nie außerhalb von hirnbegabten Lebewesen angetroffen. Andererseits ist aber nicht jeder Hirnprozess mit Erleben verkoppelt. Viele Hirnprozesse unterhalb der Großhirnrinde finden ohne jegliche Erlebniskorrelate statt. Mit den korrelierten neuronalen Vorgängen gleichzeitiges Erleben findet nur auf dem sog. psychophysischen Niveau (Köhler, 1929) bzw. in heutiger Terminologie in den neural correlates of consciousness (N.C.C.) statt (Haynes et al., 1998).

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Der psychophysische Grundsatz beinhaltet die Überzeugung, dass es nur Korrelationen zwischen gleichzeitig auf dem psychophysischen Niveau ablaufenden phänomenalen und neuronalen Prozessen gibt. Viele Naturwissenschaftler glauben aber, dass die neuronalen Prozesse die Ursache von Erlebnistatbeständen sind. Von daher ist die Annahme naheliegend, dass neuronale Prozesse immer ein wenig vor den durch sie bewirkten Erlebnisprozessen auftreten. Dies ist sicherlich einer der Gründe, warum Libets Experiment so weitgehende Akzeptanz unter Naturwissenschaftlern gefunden hat. Der psychophysische Grundsatz schließt dualistische Interpretationen der Vorgänge auf dem psychophysischen Niveau aus. Im Weiteren werden wir versuchen die neural correlates of consciousness (N.C.C.) identistisch zu begreifen. Wir unterscheiden bei der Operationalisierung psychophysischer Prozesse prinzipiell drei Möglichkeiten: Eine physikalische Erklärung, eine Erklärung der Korrelation zwischen physischen und psychischen Prozessen sowie eine intraphänomenale Vorgehensweise. Das LibetExperiment ist der Versuch einer psychophysischen Erklärung, jedoch mit den im dritten Abschnitt genannten Schwierigkeiten der Zeitmessung versehen. Eine intraphänomenale Erklärung von Erlebnistatbeständen, insbesondere sog. Qualia, existiert bisher noch nicht. Ein dem Libet-Experiment analoges Vorgehen, welches sich aber ausschließlich auf physikalische Parameter beruft, soll im folgenden Abschnitt dargestellt werden.

6. Ein Experiment zur Messung der Bewegungsintention ohne das Problem der subjektiven Zeit Im Folgenden beschreiben wir ein neues Experiment, das so geplant und ausgewertet wurde, dass keine Vermengung physikalischer und subjektiver Zeit stattfinden konnte. Außerdem lag dem Experiment eine nicht-dualistische Hypothese zugrunde. Das Experiment war im Großen und Ganzen ähnlich wie das von Libet et al. aufgebaut (Libet et al., 1983). Es unterschied sich lediglich dadurch, dass keine subjektive Messung des Zeitpunkts der Entscheidung stattfand. Anstelle der bei der Messung des Bereitschaftspotenzials üblichen Gleichspannung (DC) fand die bei der Messung ereigniskorrelierter Potenziale übliche EEGVerstärkung (AC) der Hirnströme statt. Dies hatte zur Folge, dass zwar

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der Beginn des Bereitschaftspotenzials (BP) etwas schwerer zu identifizieren war, dafür aber das ereigniskorrelierte Potenzial (EKP) deutlicher zum Vorschein kam. Kornhuber und Deecke, die Entdecker des Bereitschaftspotenzials, hatten ihre EEG-Ableitungen links und rechts präzentral sowie parietozentral durchgeführt. Abb. 4 zeigt unsere Ergebnisse, die präzentral abgeleitet wurden, obere Abb. 0,5 – 15 Hz und mittlere Abb. 0,5 – 4 Hz (Delta) gefiltert. Die Kurven sind das Ergebnis einer Mittelung aus 28 artefaktfreien Epochen von je 4 Sekunden (von denen jedoch nur 2,5 Sekunden dargestellt sind). Unsere Ergebnisse in Abb. 4 zeigen den Beginn des negativen Bereitschaftspotenzials bei etwa 1000 ms vor dem Knopfdruck. Bei 550 ms vor dem Knopfdruck zeigt sich der Beginn einer starken Positivierung1 von 4 mV. Die Positivierung endet etwa bei -200 ms, und der Zeitpunkt 0 zeigt den Knopfdruck an. Was bedeuten diese Ergebnisse: Die starke Positivierung im Bereich zwischen -550 und -200 ms ist nichts anderes als die Positivierung, wie sie im ereigniskorrelierten Potenzial 250 – 500 ms nach der Reizdarbietung regelmäßig auftritt. Diese als P 300 bezeichnete positive Welle wird 300 – 500 ms vor der Positivierung durch einen externen Reiz oder durch ein internes Ereignis ausgelöst. Die Auslösung dieses Ereignisses liegt in unserer Messung bei -1000 ms, genau an dem Zeitpunkt, an dem auch das Bereitschaftspotenzial seinen Anfang nimmt. Dass nicht nur äußere Reize sondern auch interne kognitive Vorgänge ein EKP auslösen, wurde durch meine Arbeitsgruppe in vielen Untersuchungen mit multistabilen Reizmustern (siehe z. B. Abb. 3) gefunden (Basar-Eroglu et al., 1993, Basar-Eroglu et al., 1996). Dem Umkippzeitpunkt des multistabilen Musters folgte in all diesen Untersuchungen eine P 300-ähnliche Positivierung, die ca. 150 – 200 ms vor dem Knopfdruck der Versuchsperson auftrat. Diese positive Welle ist in der Neurokognitionsforschung häufig untersucht und tritt z. B. bei Entscheidungen, Diskriminationsaufgaben, Suchoperationen im Gedächtnis und bei der Zeitschätzung auf. Von daher können wir die Positivierung in unserer Untersuchung als den Zeitpunkt auffassen, an dem der Versuchsperson ihre Entscheidung bewusst wird, die 500 ms vorher gleichzeitig mit dem Bereitschaftspotenzial iniziiert wurde. Der Vorteil dieser Untersuchung gegenüber der von Libet und Mitarbeitern liegt darin, dass wir nicht auf die subjektive Zeitmessung mittels der Drehscheibe zurückgreifen müssen und dass wir das Bereitschaftspo1

Im EEG werden traditionell positive Werte nach unten und negative Werte nach oben aufgetragen.

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Abb. 4: Bereitschaftspotenzial (BP) und ereigniskorreliertes Potenzial (EKP) bei zwei verschiedenen Filterungen. Das BP beginnt gleichzeitig mit dem von der P 300 um ca. 550 ms zurückgerechneten EKP.

tenzial mit dem EKP zusammen durch die unterschiedlichen Filterbereiche darstellen können. Die von Kornhuber und Deecke sowie von Libet gemessenen DC-Kurven stehen durchaus in Übereinstimmung mit unserem Ergebnis. Allerdings ist die P 300 in den DC-Aufzeichnungen dieser Autoren nicht zu erkennen. Ein besonderes Messproblem besteht bei Libets Experimenten noch darin, dass die Versuchspersonen sich stark auf den Kreis mit dem sich drehenden Punkt konzentrieren mussten, um eine subjektiv einigermaßen korrekte Schätzung des Entscheidungszeitpunktes abzugeben.

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Daraus resultiert mit Sicherheit ein weiteres EKP verbunden mit einer Frequenzverschiebung in den hochfrequenten b- und c-Bereich des EEG. Wir haben es hier mit einer Art Unschärferelation zu tun, dass nämlich der Messvorgang den zu messenden Parameter selbst beeinflusst und damit verfälscht wird. Unsere Ergebnisse sprechen für ein gleichzeitiges Auftreten des Bereitschaftspotenzials und des EKPs. Damit ist der Zeitpunkt der Vorbereitung einer Bewegung und der Vorbereitung einer Entscheidung identisch. Auf neuronaler Ebene beginnen beide Prozesse gleichzeitig, auf phänomenaler Ebene wird aber die freie Handlungsentscheidung erst später sichtbar. Wenn dieser Zeitpunkt auf den Beginn nur des Bereitschaftspotenzials bezogen wird, ist eine dualistische Deutung des Libet-Experiments unausweichlich, während die Ergebnisse unseres Experiments eine identistische Deutung erlauben. Weiter wahrscheinlich gemacht wird die identistische Deutung der Oszillationen dadurch, dass etwa 1100 ms vor dem Knopfdruck eine plötzliche Alpha-Blockade erkennbar ist (siehe untere Abb. 4), die darauf hinweist, dass in eben dem präzentralen Bereich eine starke Aufmerksamkeits-Konzentration eintritt, die gleichzeitig das BP und das EKP auslöst.

7. Ein intraphänomenales Experiment: Zentralnervöses Biofeedback Das zentralnervöse Biofeedback ist eine Technik, bei der allein durch kognitive Aktivitäten gleichzeitig die Vorgänge auf dem N.C.C. und das Wahrnehmungsbewusstsein gesteuert werden können. Das funktioniert folgendermaßen (Abb. 5): Die zentralnervösen Vorgänge auf dem N.C.C. werden mit EEG-Techniken abgeleitet und die Frequenzen 8 – 13 Hz des sog. Alpha-Rhythmus herausgefiltert. Diese elektrischen Signale werden moduliert und verstärkt und gelangen als akustische Reize ins Bewusstsein. Durch kognitive Aktivitäten auf der Ebene des Bewusstseins wird gelernt, ein Display zu steuern, dessen Objekte als visuelle Reize ins N.C.C. und Bewusstsein gelangen. Diese beiden miteinander verschränkten Regelkreise interagieren ausschließlich auf der Erlebnisebene mit der Versuchsperson. Die Gehirnprozesse des N.C.C. werden in bewusstseinsfähige Vorgänge übersetzt. Hier ergibt sich ein wichtiger Hinweis auf die kausalen Auswirkungen des Eintritts neuronaler Vorgänge in das N.C.C. Beim zentralnervösen

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Abb. 5: Schema des zentralnervösen Biofeedback.

Biofeedback wird ein globaler zentralnervöser Prozess durch entsprechende Signalmodulation und Verstärkung den äußeren Sinnesorganen der Versuchperson direkt zugänglich, und dieser Gehirnprozess kann zeitgleich bewusst wahrgenommen werden. Das Interessante ist dabei, dass durch die zeitgleiche Betrachtung des kognitiven und des neurophysiologischen Aspekts globaler Hirnprozesse nicht nur deren Zuordnung möglich wird, sondern auch deren bewusste Beeinflussung (Haynes et al., 1998). Dies entspricht der These von Hermann Haken, dass in selbstorganisierenden Systemen Musterbildung und Mustererkennung zwei analoge, im Grenzfall identische Prozesse sind (Haken/ Stadler, 1990). Die ersten Versuche zur willentlichen Beeinflussung zentralnervöser Prozesse durch Biofeedback wurden schon seit Ende der 60er Jahre mit dem EEG gemacht (Kamiya, 1969). Es zeigte sich, dass Versuchspersonen bei der Aufgabe, die Frequenzen ihres spontanen EEG zu modulieren, bis zu 70 % mehr Alpha-Aktivität erzeugen konnten. Dass die meisten Autoren diese erstaunliche und für das Gehirn-Geist-Problem höchst relevante Leistung zunächst als einen operanten Konditionierungsprozess deuteten, verschleiert die eigentlich interessante Tatsache, dass hierbei die Beeinflussung eines globalen neurophysiologischen Vorganges gerade durch seine Repräsentation im N.C.C. möglich wird. Das Entscheidende bei dem intraphänomenalen Paradigma des zentralnervösen Biofeedbacks ist die Zeitgleichheit des zentralnervösen Prozesses und seiner Wahrnehmung. Dadurch wird das wichtigste Kriterium für eine identistische Auffassung gewährleistet und es existiert keine Notwendigkeit, einen kausalen Zusammenhang zwischen Vorgängen auf dem N.C.C. und bewusstem Erleben herzuleiten.

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Wir hatten festgestellt, dass Libets Annahme einer so oder so gearteten Kausalbeziehung zwischen einem Willensakt und der Bewegungsvorbereitung im Bereitschaftspotenzial der dualistischen Auffassung geschuldet ist. Nun lässt sich dagegen einwenden, dass es unzulässig sei, aus Korrelationen auf Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu schließen. Um die vorhandene Korrelation zu erklären, würden dann das Bereitschaftspotenzial und der subjektive Wille einer gemeinsamen dritten Ursache bedürfen, die selbst wiederum nicht bewusst gewesen sein kann. Libet folgert daraus, dass Willenshandlungen unbewusst und subkortikal zustande kommen. Die beiden Experimente, das auf physikalischen Parametern basierende EEG-Experiment und das auf phänomenalen Parametern basierende Biofeedback-Experiment haben deutlich gemacht, dass die Annahme einer linearen Kausalbeziehung zwischen dem N.C.C. (Wille) und dem Bereitschaftspotenzial unnötig ist. Ist das neuronale Korrelat des Bewusstseins aber mit diesem identisch, ist es allein der zeitliche Konnex, der jedes weitere Agens überflüssig macht.

8. Das Ende der Verantwortlichkeit? Roth und andere Neurobiologen sind nach dem Libet-Experiment überzeugt davon, dass „das bewusste, denkende und wollende Ich […] nicht im moralischen Sinne verantwortlich ist für dasjenige, was das Gehirn tut, auch wenn dieses Gehirn ,perfiderweise‘ dem Ich die entsprechende Illusion verleiht.“ (Roth, 2003, 180). Und er fährt fort: „Wenn also Verantwortung an persçnliche moralische Schuld gebunden ist, wie es im deutschen Strafrecht der Fall ist, dann können wir nicht subjektiv verantwortlich sein, weil niemand Schuld an etwas sein kann, das er gar nicht begangen hat“ (Roth, 2003, 180). Kein Wunder, wenn Strafrichter, denen solche Thesen auf ihren Richterakademien vorgetragen werden, in eine tiefe Verunsicherung verfallen. Roth scheint aber selbst nicht daran zu glauben, dass mit dem Argument des LibetExperiments das Ende des Strafrechts gekommen ist, und er plädiert dafür, das Strafvollzugssystem mehr als Besserungssystem auszugestalten. Auch Wolf Singer äußert sich im Anschluss an seine deutlichen Thesen im Hinblick auf deren Konsequenzen eher halbherzig. Keiner der Autoren möchte sich wohl zu der Konsequenz versteigen, dass tatsächlich alle Schuld beim Gehirn liegt und wir getrost die Gerichtssäle schließen und die Gefängnistore öffnen können, da es keine Missetäter im herkömmlichen Sinn mehr geben kann. Ob das Libet-

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Experiment eine solche Konsequenz tatsächlich fordert, ist jedoch eher fraglich. Es wurde ja auch mehrfach darauf hingewiesen, dass wir nicht für die Intention bestraft werden sondern für die unakzeptable Handlung. Und über die unakzeptable Handlung sagt das Libet-Experiment nur wenig aus. Singer äußert sich dementsprechend am Ende eines ausführlichen Interviews auf die Frage nach den Konsequenzen: „Wir würden hübsch das Gleiche tun wie jetzt auch schon. Allein die Betrachtungsweise hätte sich geändert.“ (Singer, 2001, 75). Hier scheint ein Ansatz zu liegen, um der Wahrheit näher zu kommen. Betrachten wir noch einmal die Situation im Gerichtssaal: – Der Richter tritt nach Beratung in den Gerichtssaal ein und verkündet: Der Angeklagte wird zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Der Gerichtsgendarm kommt und legt dem Angeklagten die Handschellen an. Beide verlassen den Gerichtssaal nicht ohne das Gehirn des Angeklagten, das treu wie immer seine Schritte lenkt. – Oder der Richter tritt nach Beratung wieder in den Gerichtssaal ein und verkündet: Das Gehirn des Angeklagten wird zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Der Gerichtsgendarm legt dem Angeklagten die Handschellen an und verlässt den Gerichtssaal mit dem Missetäter, dem Gehirn, nebst seinem Träger, der sich wortlos fügt, da er ohnehin alles durch die Brille seines Gehirns sieht. Wie sagte doch Singer? Wir tun nach Libet das Gleiche wie bisher – „allein die Betrachtungsweise hat sich geändert.“

9. Zusammenfassung Thema dieser Untersuchung war die Frage, ob aus den Experimenten von Benjamin Libet tatsächlich weitreichende Schlussfolgerungen gezogen werden dürfen, die im Grenzfall die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen in Frage stellen. Es wurden Überlegungen angestellt, warum gerade in Deutschland die Kritik der Verantwortlichkeit auf fruchtbaren Boden fällt. Im darauf folgenden Abschnitt wurde die Zeitmessung in Libets Experiment zum Gegenstand gemacht. Es zeigte sich, dass die Ergebnisse subjektiver und physikalischer Zeitmessung nicht aufeinander abbildbar sind. Außerdem hat die psychologische Zeit eine andere Struktur als die physikalische Zeit. Es wurde sodann argumentiert, dass die Probleme der Interpretation von Libets Experimenten im Wesent-

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lichen auf den zugrundeliegenden Dualismus zurückgeführt werden können. Dem wurde der phänomenologische und der psychophysische Grundsatz gegenüber gestellt, die beide eine identistische Interpretation nahelegen: Es gibt keine geistigen Vorgänge, die nicht gleichzeitig neuronale Vorgänge sind. Es wurde ein Experiment konzipiert, welches dem von Libet weitgehend gleicht, aber auf die subjektive Zeitmessung verzichtet. In dem Experiment konnte gezeigt werden, dass das negative Bereitschaftspotenzial von einem positiven ereigniskorrelierten Potenzial überlagert wird. Beide haben zugleich ihren Ursprung. Ein zweites experimentelles Paradigma, das zentralnervöse Biofeedback, zeigte die Möglichkeit der intraphänomenalen Beeinflussung zentralnervöser Vorgänge auf. Am Schluss wurde noch einmal auf die Frage der Verantwortlichkeit eingegangen. Nicht die Verantwortung für das Handeln hat sich nach Libet verändert, nur die Betrachtungsweise.

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Die Ursachen der Freiheit Signaltransduktion als Grundlage von Verhalten FERDINAND HUCHO Ursachen und Gründe – Schlüsselbegriffe der Zwei Kulturen? Freiheit ist kein originärer Begriff der Naturwissenschaften.1 Experimentell arbeitende Lebenswissenschaftler untersuchen Kausalitätsketten. Sie fragen nach den Ursachen eines bestimmten Verhaltens und beschreiben die physikalischen Gesetzmäßigkeiten von Lebensvorgängen. Erst als die Quantentheorie im 20. Jahrhundert den Determinismus der Newtonschen Physik durchbrach, wurde auch für den Naturwissenschaftler die Überwindung strenger Kausalität denkbar, ohne dass er in einen vorwissenschaftlichen Dualismus abgleiten musste. Seither kann er sich an der Suche nach den Mechanismen von Freiheit, Normen und Gründen menschlichen Verhaltens beteiligen, ohne notwendigerweise in seinem Sinn unwissenschaftlich zu werden. Er kann nach physikalischen Ursachen von nicht determinierten Vorgängen suchen. Für die Betrachtung komplexer Systeme, für die Modellierung von Phänomenen der Natur (z. B. Klima, Verhalten, Chaos), gibt es heute mathematische Ansätze, die ein System als deterministisch beschreiben, ohne dessen Berechenbarkeit vorauszusetzen. Komplexe physikalische Systeme, im Grunde bereits ein System von drei interagierenden Körpern, sind prinzipiell (also nicht einfach nur computertechnisch) nicht berechenbar, weil es das Heisenbergsche Unschärfeprinzip nicht gestattet, die Anfangsbedingungen hinreichend genau festzulegen. In diesem Bereich der prinzipiellen Unberechenbarkeit sind möglicherweise Wurzeln der Freiheit zu suchen. Es ist die submikroskopische Welt der Moleküle, in der die Gesetze der Quantenphysik herrschen. Allerdings ist dies eine stochastische Welt, während Freiheit nicht zufallsbedingt, sondern durchaus intentional und ,gerichtet‘ ist. Niemand 1

Vgl. in Bezug auf diese These auch die Beiträge von Julia Fischer, Giovanni Galizia, Martin Heisenberg und Olaf Müller in diesem Band.

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weiß heute, wie die molekularen Zufälle ihre ,Richtung‘ bekommen und zu einer beabsichtigten Handlung werden. Man mag zum Zweck der Klärung Ursachen von Gründen unterscheiden. Erstere beschreiben die naturwissenschaftliche, letztere die kulturelle Basis menschlichen Verhaltens. Die Ergebnisse der molekular- und zellbiologischen Forschung unserer Tage versetzen uns in die Lage, Umwandlungen dieser in jene zu beschreiben, d. h. zu verfolgen, wie Ererbtes und Erlerntes, Tradiertes und Erfahrenes in molekularen Mustern gespeichert und aus diesen abgerufen werden. Es kann hier nur angedeutet werden: Wir beginnen zu verstehen, was nature und nurture auf der Ebene der Mechanik der Zellen und Moleküle vereint.

Das menschliche Hirn als Materie des Geistes Zwar stehen wir noch ganz am Anfang, aber das naturwissenschaftliche Projekt macht sich daran, unbiologische Begriffe wie ,Freiheit‘ und ,Gründe‘ in die Begriffswelt der Naturwissenschaften zu „übersetzen“. Denn wie Gerhardt Roth es einmal formulierte: „Auch die Gründe müssen durch das Gehirn.“ Das heißt: Auch die Gründe, die unser freies Verhalten steuern, haben organische Grundlagen und beruhen auf bestimm- und messbaren physikochemischen Prozessen. Gerhard Roth hatte in seinem Vortrag im Rahmen des Humanprojekts ausgeführt, die Großhirnrinde des Menschen sei „Ort von Bewusstsein, Problemlösen, Abwägen von Alternativen und Handlungsplanung und zugleich Ort der internen Repräsentation sozialer Regeln und Normen“. Weiter sagte er: „In der Interaktion des Cortex mit den Basalganglien und dem Limbischen System werden Gründe in verhaltenssteuernde Ursachen überführt.“2 Basalganglien und Limbisches System sind jedoch unbewusst agierende Gewebe. Ich möchte in diesem Text an die Überlegungen von Gerhard Roth anknüpfen, indem ich die biologischen Fundamente der Freiheit in einer noch höheren Auflösung betrachten und von der Ebene der Gewebe und Zellen auf die Ebene der Moleküle übergehen werde. Dabei soll deutlich werden, dass die Fähigkeit der freien Entscheidung des Menschen in einem gesellschaftlichen, kulturellen, historischen Kontext nur auf der organischen Grundlage physikalisch-chemischer Prozesse möglich ist, die bereits bei einfachsten Organismen angelegt 2

Vgl. die verschriftlichte Form des Vortrags von Gerhard Roth in diesem Band.

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sind und die sich im Verlauf der Evolution so weit entwickelt haben, dass sie nun komplexes menschliches Verhalten, das wir als Freiheit bezeichnen, ermöglichen. Der Schlüsselbegriff, der aus meiner Wissenschaft – der Biochemie – in die Diskussion der „Naturgeschichte der Freiheit“ eingebracht werden soll, ist die Signalverarbeitung, fachwissenschaftlich: Signaltransduktion. Ich werde im Folgenden also quer durch die Evolution darstellen, wie in der belebten Natur Signale von Zellen und Molekülen aufgenommen, verrechnet und in Entscheidungen umgesetzt werden.3 Grundlage des Lebens ist die Verarbeitung von Signalen zu Verhalten. Worum handelt es sich also bei der „Signalverarbeitung“? Jeder Organismus nimmt physikalische und chemische Signale aus seiner Umgebung auf und verarbeitet sie mit Signalen aus seinem Innern. Andere Signale als physikalische und chemische gibt es aus der Perspektive meiner Wissenschaft nicht. Da die Chemie eigentlich eine Subdisziplin der Physik ist, könnte man ebenso gut sagen: Es gibt nur physikalische Signale. Information, welcher Art auch immer, ist in Form von Signalen codiert, d. h. sie muss zu Signalen physikalisiert werden. Musik wird in Form akustischer, bildende Kunst und Literatur in Form von optischen Signalen aufgenommen, denn es gibt nur die bekannten „fünf Sinne“ für die Aufnahme von Informationen aus der Außenwelt – sicherlich jedoch kein Sinnesorgan für Gründe und Normen. Der „inhaltliche Mehrwert“ der das von außen kommende physikalische Signal für den Organismus zur Information macht, entsteht durch Wechselwirkung mit anderen Informationsträgern aus den physikalischen und chemischen Speichern im Innern des Organismus, mit den Gedächtnisinhalten der Zellen also, einschließlich ihres Genoms (s.u.). Die Aufnahme von Informationen in den Organismus geschieht ausschließlich über Moleküle, die quasi physikalische Messinstrumente darstellen. Der „Mehrwert“ wird umso größer je komplexer die Speicher – vor allem die Proteine, die Genome und (später in der Evolution) die Nervensysteme – werden. Zum Beispiel registrieren die Haarzellen, 3

Ich werde versuchen, dies ohne die bei uns Naturwissenschaftlern üblichen Bilder zu verbalisieren, denn ich glaube, eine Ursache der Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Disziplinen liegt in der nur scheinbar anschaulichen, in Wirklichkeit jedoch hochgradig abstrakten Symbol- und Bildersprache, die wir molekular-mechanistisch denkenden Lebenswissenschaftler verwenden und die in die eher bildfreien Darstellungen philosophischer Argumentationen keinen Eingang finden kann.

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d. h. das physikalische Messinstrument unseres Ohrs, einen Ton mit 440 Schwingungen pro Sekunde. Die Information, dass dies der Kammerton A ist, entsteht erst im Hirn. Ich werde die Signaltransduktion am Beispiel zweier Entwicklungsstufen vom Anfang der Evolution schildern und schließlich bei unserem genetisch nächsten Verwandten, dem Schimpansen enden. Denn die Prinzipien der Signaltransduktion, die Aufnahme und Verarbeitung von Signalen durch Moleküle und molekulare Strukturen, und die Speicherung wiederum in Molekülen, wurden bereits sehr früh in der Evolution „erfunden“ und bis heute konserviert.

Chemotaxis – Frühe Mechanismen des Erkennens und Entscheidens Seit einer Milliarde Jahren gibt es Bakterien auf unserem Globus, einzellige Organismen ohne Zellkern, einen Millionstelmeter kleine, von einer dünnen Membran umhüllte Tröpfchen. Sie sind die erfolgreichste Organismengruppe auf Erden, an Biomasse und Vielfalt bis heute von niemandem übertroffen. Bakterien haben keinen Zellkern, nur ein ringförmiges DNA-Molekül als Chromosom (und Plasmide genannte Satelliten-DNA). Sie werden daher als Prokaryonten bezeichnet. Viele der Grundmechanismen des Lebens auch höherer Organismen sind bei ihnen bereits vorhanden; so auch das Prinzip der Signaltransduktion. Bakterien leben in einer komplexen Umgebung, aus der sie nur einige wenige lebenswichtige Informationen selektiv wahrnehmen. Sie müssen Nahrungsstoffe aufnehmen und schädliche Stoffe meiden. Hierbei ist es notwendig, dass sie zunächst Moleküle ihrer Umgebung erkennen und unterscheiden können. Dafür besitzen sie Rezeptoren, Eiweißmoleküle mit spezieller „Passform“ für z. B. das lebenserhaltende Zuckermolekül oder abstoßende Bitterstoffe. Die Information über die Moleküle in der Umgebung wird durch die Rezeptoren an das Zellinnere weitergegeben und auf molekulare Motoren übertragen, die das Bakterium über fadenförmige Geißeln (Flagellae) in Bewegung setzen, auf die Quelle des Nahrungsmoleküls zu oder von der des Bittermoleküls weg. Das Prinzip der Transduktion von Signalen aus der zellulären Umgebung über die Zellmembran in das Zellinnere, am Anfang der Evolution „erfunden“, wurde bis zu den vielzelligen komplizierten Pflanzen und Tieren unserer Tage ein-

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schließlich des Menschen erhalten (wenn sich auch wichtige molekulare Details verändert haben). Die Chemotaxisforschung, die sich mit dem Phänomen der gerichteten Bewegung von Organismen in Folge eines chemischen Reizes aus der Umwelt befasst, hat erstaunliche Analogien zu höheren Lebensfunktionen entdeckt. Man spricht auf diesem Gebiet nicht nur von Wahrnehmung (über die Rezeptoren) sondern auch von Entscheidung, Anpassung (Habituation), ja sogar von Gedächtnis. Ohne hier die molekularen Einzelheiten zu beschreiben, möchte ich betonen, dass dies mehr als anthropomorphe Wortspiele sind. Daniel Koshland, einer der Urväter der Chemotaxisforschung, ließ sich allerdings einmal in seiner Begeisterung für sein Forschungsobjekt zu der Bemerkung hinreißen: „Bakterien können alles – außer beten“. Betrachten wir nun einen Eukaryonten, d. h. einen Organismus, dessen DNA sich in einem echten Zellkern im Inneren der Zelle befindet. Das Pantoffeltierchen Paramecium bewegt sich ebenfalls durch Rotation von geißelähnlichen Gebilden, hier Cilien genannt, wenn auch der Mechanismus der Fortbewegung ein etwas anderer ist, als bei den begeißelten Bakterien. Paramecium bewegt sich taumelnd vorwärts, bis es auf einen Widerstand stößt. Seine Geißeln spüren diesen, ändern ihre Drehrichtung und schwimmen zurück. Nach kurzer Zeit „vergessen“ sie den Widerstand, stellen ihre Geißeln zurück in die ursprüngliche Drehrichtung und schwimmen wieder vorwärts, diesmal vielleicht an dem Widerstand vorbei. Die Einzelheiten der molekularen Mechanik dieser Vorgänge sollen hier nicht weiter ausgeführt werden. Hierzu nur so viel: Der Zusammenstoß zwischen Paramecium und Widerstand öffnet in der Membranhülle des Einzellers einen so genannten Ionenkanal; Calciumionen strömen ein und drehen den Cilienmotor um. Dadurch schwimmt das Tier rückwärts und entfernt sich von dem Widerstand. Das „Vergessen“ des Widerstands beruht darauf, dass der Calciumkanal sich nach kurzer Zeit von selbst schließt, so dass der ursprüngliche molekulare und ionische Zustand wieder hergestellt wird – und damit das ursprüngliche Verhalten „Vorwärtsschwimmen“. Nehmen wir nun die Gene hinzu, die das Verhalten mitbestimmen. Es gibt Mutanten des Pantoffeltierchens, die sich ganz anders verhalten: Sie haben mutierte Gene, die den Calciumkanal verändern. Eine dieser Mutanten heißt „pawn“, weil sie wie der Bauer im Schachspiel (engl. pawn) nur vorwärts schwimmen kann. Eine andere heißt „dancer“, weil sie langsamer „vergisst“, also sehr viel länger rückwärts schwimmt und ein gestörtes Bewegungsmuster aufweist. Beide genetische Mutanten besitzen eine Veränderung in jenem Calciumkanal – ein Beispiel für

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eine Wechselwirkung zwischen Umwelt (hier repräsentiert durch den Widerstand) und Genen, eine Wechselwirkung die sich auf der Ebene der Physikochemie der signaltransduzierenden Moleküle abspielt.4

Evolution, Hyperkomplexität und Determinismus Ich möchte nun nicht etwa den Baum der Evolution hinauf und hinab springen und weitere, immer komplexere Beispiele für den Zusammenhang zwischen Signaltransduktion und Verhalten, zwischen extrazellulären Signalen und Genen vorbringen. Bei Mehrzellern kommen die Signale benachbarter Zellen hinzu, bei höheren Lebewesen gibt es Signalaustausch zwischen Geweben und Organen. Das Prinzip ist immer das gleiche: Die Welt, sagen wir besser, die Umwelt einer Zelle besteht aus physikalischen und chemischen Signalen. Die Zelle besitzt hierfür Empfänger, Rezeptoren genannt. Rezeptoren und Ionenkanäle (und noch eine Reihe anderer Moleküle) verarbeiten diese Signale und übertragen sie auf „Motoren des Verhaltens“ der Zelle – oder des Organismus. Rezeptoren und Ionenkanäle sind große Eiweißmoleküle, die Signale verarbeiten können. D.h. Signale bestimmen ihre Aktivität u. a. indem sie sie verformen. Zwei unterschiedliche Signale können sich hierbei verstärken, abschwächen oder aufheben. Die Verarbeitung kann von dem Molekül vorübergehend oder auf Dauer festgehalten werden. Die Mechanismen hierfür gelten als weitgehend bekannt. Die Aktivität der Proteinmoleküle hängt vom intraorganismischen Milieu ab; Signale aller Art sind Bestandteil dieses Milieus. Was ich soeben „Motoren des Verhaltens“ nannte, sind somit Proteinmoleküle, die von Genen kodiert sind, und deren Eigenschaften letztlich von der Struktur ihres Gens abhängen. Nehmen wir jetzt noch hinzu, dass Signale sich über die signalverarbeitenden Moleküle gegenseitig und zusätzlich auch die Gene und deren Expression verändern können, erhalten wir ein Netzwerk molekularer Interaktionen, das bei höheren Organismen beliebig kompliziert und deshalb wie das Wetter letztlich nicht berechenbar ist. Und dies obwohl es doch nur auf phy4

Ich hätte hierfür auch ein weniger anschauliches Beispiel einer früheren Evolutionsstufe wählen können, denn auch bei Prokaryonten gibt es Verhaltensmutanten.

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sikalischen Ursachen und Wirkungen beruht – ohne Gründe und ohne Dualismus.5 Aus der Evolution lässt sich vor allem eins ableiten: Die Verhaltensvielfalt, die Komplexität nimmt zu und mit ihr die Freiheit. Die Freiheit ist offenbar eine emergente neuartige Eigenschaft hyperkomplexer Systeme, keine Illusion, sondern eine während der Evolution zunehmende neue Qualität einer rein physikalischen Welt, die sich wie das Wetter nicht durch Reduktion auf Elementarereignisse berechnen oder auch nur beschreiben lässt. Reduktion kann in diesem Zusammenhang nur bedeuten, Theorien zu erdenken, die die mechanistischen Details zu einem System vereinigt – Reduktion also nicht „nach unten“, zu Funktionselementen und molekularen Bausteinen, sondern „nach oben“, zum „System“. Unsere Hoffnung ist in diesem Zusammenhang die Systembiologie. Nur sie besitzt der Komplexität der Natur angemessene theoretische Werkzeuge. Komplexität bedeutet dabei nicht etwa notwendigerweise Chaos (im populären und im mathematischen Sinn), nicht einmal deterministisches Chaos. Komplexität setzt der Vorhersagbarkeit, im Grunde auch der klassischen Kausalität physikalischer Prozesse, Grenzen. Denn die durch Systeme nicht-linearer Gleichungen determinierten chaotischen Systeme sind von sehr präzisen Anfangsbedingungen abhängig, die zu bestimmen durch die Heisenbergsche Unschärferelation, also letztlich durch quantenmechanische Nichtkausalität unmöglich wird. Derartige komplexe physikalische Prozesse können durchaus „kreativ“ sein, d. h. Unvorhersagbares, sogar nie Dagewesenes hervorbringen. Hyperkomplexe Systeme können sich auf nicht berechenbare Weise selbst organisieren. 6 Unser Hirn enthält 100 Milliarden Nervenzellen. Nervenzellen sind über durchschnittlich 10.000 Synapsen mit einander verknüpft. Das ergibt (1011 x 104) ein Netzwerk von 1015 Verknüpfungen (eine Million Milliarden). Nervenzellen und Synapsen bestehen aus buchstäblich unzählbaren Molekülen, die durch ebenfalls ,unzählbare‘ Interaktionen und Reaktionen unter einander vernetzt sind. Die Eigenschaften des 5 6

Man muss immer wieder daran erinnern, dass ,Unberechenbarkeit‘ kein Widerspruch zum reinen Physikalismus ist. Wie eingangs angedeutet ist völlig unklar, wie aus der Nichtdeterminiertheit hyperkomplexer Systeme ein absichtsvolles und zielgerichtetes freies Handeln werden kann. Sowohl die Nichtdeterminiertheit als auch die Intentionalität sind jeweils notwendige, nicht aber hinreichende Eigenschaften der Freiheit. Es wird Aufgabe der Biowissenschaften sein, beide in einen mechanistisch plausiblen Erklärungszusammenhang zu bringen (s.u.).

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molekularen Netzwerkes bestimmen den Zustand der Zelle (hier der Nervenzelle), d. h. sie legen fest, ob eine Zelle ruht oder erregt ist, ob sie Informationen im Sinne von Signalen aufnimmt, speichert, abgibt. Die Kausalkette vom Molekül zum Verhalten ist lückenlos (unter Berücksichtung des oben über Komplexe Systeme Gesagten). Drogenmoleküle etwa blockieren Rezeptorproteine bestimmter Synapsen und „erzeugen Verhalten“. Psychische Krankheiten können auf veränderten Rezeptorproteinen beruhen und sind phenotypisch manifest als krankheitstypisches Verhalten. Verhalten jedoch „top down“ in einzelne molekulare Mechanismen und Ursachen aufzubrechen, oder es „bottom up“ aus Moleküleigenschaften und molekularen Signalwegen zu berechnen, ist prinzipiell nicht möglich. Zu zahlreich sind die möglichen Interaktionen, der „cross-talk“ im neuronalen und molekularen Netzwerk. Zu kompliziert sind die nicht-linearen Reaktionsgleichungen der UrsacheWirkungsbeziehungen. Zu sehr thermisch verrauscht sind die molekularen Einzelereignisse am Anfang der Kausalitätsketten. Das Paradoxon ist ein naturwissenschaftliches: Die Kausalkette ist lückenlos, hängt jedoch von den prinzipiell nicht ganz „scharf“ bestimmbaren Anfangsbedingungen ab. Sie besitzt in jedem ihrer Glieder Optionen (Bifurkationen), ist also nicht berechenbar, nicht determiniert. Die hyperkomplexe, nicht berechenbare Maschine Mensch verhält sich jedoch zielgerichtet, reproduzierbar, absichtlich, d. h. intentional, nicht chaotisch, nicht stochastisch, zufällig. Die Gesetze der Thermodynamik geben über die große Zahl der molekularen Einzelereignisse gemittelt den zufälligen Wegen der Atome und Moleküle ihre Richtung. Es wird daher die Aufgabe der Naturwissenschaften sein – nicht der Philosophie –, die Mechanismen des geordneten Verhaltens eines „nichtdeterminierten“ zellulären und multizellulären Systems aufzuklären. Ebenso wird es Aufgabe der Naturwissenschaften sein, in diesem System die Freiheit zu definieren. Willensfreiheit ist keine „Illusion“ im populären Sinn eines „falschen Eindrucks“. Sie ist eine Wahrnehmung des bewussten cortex cerebri, der die unbewussten Prozesse tiefer liegender Bereiche des Hirns erfährt und kontrolliert.7 7

Der Ehrlichkeit halber muss der Naturwissenschaftler anmerken, dass er keine Ahnung hat, wie dies alles funktioniert: Wahrnehmung, bewusster Cortex, Erfahren, Kontrollieren, vor allem aber letztendlich die Willensfreiheit… Jedes dieser Worte steht für ein gigantisches Forschungsvorhaben, für eine Bringschuld der experimentellen Naturwissenschaften – nicht etwa der Philosophie oder auch nur des interdisziplinären Diskurses.

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Ein erster Erfolg der Naturwissenschaften war es, den vermeintlichen Widerspruch zwischen Determinismus und Freiheit in der Natur des Menschen aufzulösen: Den simplen Determinismus linearer Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen gibt es im System der 100 Trillionen menschlicher Zellen mit unzählbar zahlreichen Molekülen und Wechselwirkungen nicht. Es wird sich zeigen, ob Freiheit der unscharfe Begriff für sehr komplexe Kausalketten und Netzwerke ist oder ob das Gefühl von Freiheit eine physikalisch/mathematisch neu zu benennende Eigenschaft in einem komplexen Organismus ist. Schon gar nicht gibt es den gefürchteten genetischen Determinismus. Gene kodieren für Proteine (und Nukleinsäuren). Gene werden von ihren eigenen Produkten, den Proteinen, reguliert. Die regulatorischen Proteine stehen selbst wiederum in Wechselwirkung mit anderen Proteinen, mit Signalen, physikalischen und chemischen Bedingungen der Zelle und ihrer Umgebung. Und alles dies wiederum ist nicht „digital“, nicht eins zu eins, sondern analog zu beschreiben durch komplizierte nichtlineare Gleichungen und Gleichungssysteme. Also auch hier wieder ergibt sich ein „System“, ein hyperkomplexes Netzwerk von Ursachen und Wirkungen, das sich unserer Berechnung und Vorhersage prinzipiell entzieht.

Genom und Komplexität So korreliert denn auch die Zahl der Gene eines Organismus keineswegs mit seiner Kompliziertheit. Die Komplexität entsteht durch Anzahl und Wechselwirkungen der Moleküle, innerhalb und außerhalb eines Organismus. Zwar besitzen Bakterien nur wenige Tausend Gene, aber auch der Mensch unterscheidet sich von diesen nur um knapp eine Größenordnung (er besitzt nur ca. 25.000 Gene, wie übrigens auch Maus, Ratte, Affe). Die Fruchtfliege bringt es mit 13.600 auf die Hälfte der Gene des Menschen, die „soziale“, d. h. in einem interagierenden System einzelner Organismen lebende Amöbe Dictyostelium discoideum benötigt ca. 12.500 Gene, der Fadenwurm Caenorhabditis elegans ca. 19.000. C. elegans benötigt diese 19.000 Gene für Entwicklung, Vermehrung und Überleben von nur 959 Zellen, (davon sind 302 Nervenzellen), während der Mensch für seine 100 Trillionen Zellen nur 50 % mehr Gene besitzt. Zu ganz anderen Relationen kommen wir, wenn wir hinüber in das Pflanzenreich sehen: Das kleine Pflänzchen Arabidopsis thaliana besitzt 25.498 Gene. Das kürzlich sequenzierte

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Reisgenom übertrifft mit seinen 37.544 Genen sogar das des Menschen deutlich – usw. Die Gründe für diese Diskrepanzen zwischen der Komplexität des Organismus und der Genomgröße sind nur teilweise verstanden. Es wird vermutet, dass es weniger auf die Zahl als auf die Aktivität der Gene und Genprodukte ankommt, auf die regulierbare Expressionsrate und die ebenfalls regulierbare Funktion der Proteine, letztlich also auf das, was wir oben Signaltransduktion genannt hatten.

Das Schimpansen- und das Humangenom Alles dies ist allerdings noch sehr neu, sehr unverstanden. Die Hoffnungen der Forschung auf prinzipiell neue Erkenntnisse sind groß. Im zweiten Teil dieses biologischen Exkurses soll ein Sprung über eine Milliarde Jahre Evolution hinweg bis zur vorletzten Stufe auf dem Weg zum Menschen erfolgen. Ich möchte über einen Hoffnungsträger der Forschung mit besonderer Relevanz für das Menschenbild und für das Problem der Freiheit referieren: Im September 2005 wurde die DNASequenz des Schimpansengenoms in Nature (Consortium, 2005) veröffentlicht, noch nicht die endgültige, sondern eine so genannte „draft sequence“, aber immerhin: Die Reihenfolge von drei Milliarden Nukleotidbausteinen wurde der sich schnell verlängernden Liste der sequenzierten Genome hinzugefügt. Die Bedeutung dieser Arbeit gerade für die Humanwissenschaften ist erheblich: Der Schimpanse ist unser nächster Nachbar im Stammbaum der Evolution. Vor etwa fünf bis sieben Millionen Jahren trennten sich Mensch und Schimpanse in ihrer Entwicklung von ihrem gemeinsamen Vorfahren und voneinander.8 In dieser relativ kurzen Zeit entstanden die wesentlichen biologischen Voraussetzungen für die besonderen Eigenschaften des Menschen. Zwei Dinge erhofft sich die Wissenschaft von diesem Sequenzierprojekt. Zum einen erwartet man Einblicke in die Mechanismen der Evolution: Wie ermöglichten Änderungen von Struktur und Inhalt des Genoms unserer Vorfahren die Entwicklung, an deren vorläufigem Ende wir stehen? Zum anderen sollte der Vergleich der Schimpansen- und Menschen-DNA-Sequenzen Hinweise auf die Besonderheiten der 8

Zum Vergleich: Seit einer Milliarde Jahren gibt es Leben auf der Erde, seit 4,5 Milliarden Jahren existiert die Erde, seit 14,7 Milliarden Jahren das Universum.

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beiden Spezies geben, auf die Grundlagen der phänotypischen Unterschiede, vor allem aber auch der evolutionären Zugewinne wie Sprache, Kognition, etc. Schimpansen- und Humangenom sind sich sehr ähnlich: Nur 1,23 % der Sequenzen unterscheiden sich. Dabei muss man allerdings bedenken, dass 1,23 % von 3.3 Milliarden Nukleotiden noch immer einige Millionen sind! 35 Millionen Nukleotide sind in den beiden Sequenzen unterschiedlich. Es gibt fünf Millionen deletierte oder eingeschobene Nukleotide. Daneben gibt es mehrere ChromosomenUmorganisationen. Diese Zahlen beruhen noch auf nur einer Sequenz. Man weiß also nicht, inwieweit die beobachteten Unterschiede evtl. auf Variationen innerhalb der einen Spezies beruhen. Auch wir Menschen haben individuell verschiedene Genome. Die Signifikanz der beobachteten Unterschiede erfordert vor allem weitere Genomsequenzen: Erst die Summe der Genome von Gorilla, Orang Utan und Schimpanse, der großen Menschenaffen also, wird die Konstanten und die Variablen der molekularen Evolution erkennen lassen.

„Humanprojekt“ und „Schimpansenprojekt“ Wie funktioniert Evolution auf der molekularen Ebene? Drei Mechanismen werden diskutiert und warten auf Unterstützung oder Widerlegung durch die vergleichende Analyse von Genomsequenzen: Erstens wird Evolution primär als Entwicklung der Proteine, der überwiegenden Genprodukte, gesehen. Durch Austausch einzelner oder mehrerer Aminosäuren, die durch jeweils drei Nukleotide der DNA kodiert werden, kann ein Protein in seiner Aktivität, Stabilität, Regulierbarkeit, Fähigkeit zur Signalverarbeitung usw. verändert werden und damit einen Selektionsvorteil für den Organismus erzielen. Die zweite Hypothese zum Mechanismus der Evolution, genannt die „Weniger-ist-mehr-Hypothese“, vermutet Ausfälle, Deletionen, als Grundlage der Entwicklung hin zum Menschen. Sichtbares Beispiel ist die Unbehaartheit des Menschen und der Erhalt bestimmter jugendlicher Vorgänge bis in spätere Entwicklungsphasen. Zum Beispiel erhalten sich die Vorläuferzellen menschlicher Neuronen die Fähigkeit zur Teilung sehr viel länger. Dies führt z. B. zur Vergrößerung des Hirns, insbesondere des Cortex. Die dritte Hypothese postuliert Mutationen in den genregulatorischen Sequenzen als Ursache neuer Ei-

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genschaften. Da die Anzahl der Gene bei Mensch und Schimpanse ungefähr gleich ist, sollten Anzahl, Qualität und Menge der Genprodukte entscheidend sein. – Überflüssig zu sagen, dass sich die drei Hypothesen keineswegs wechselseitig ausschließen. Ein Kernelement ist in allen Modellen die Epigenetik und die Evolution der Signaltransduktion. Nature widmet einen Grossteil seines Heftes vom September 2005 dem Schimpansen und stellt den molekulargenetischen Fortschrittsbericht in den Kontext von Ethologie, Evolution und Anthropologie. Nature bricht, allein schon aus wissenschaftlichen Gründen, eine Lanze für die Erhaltung der Arten und den Schutz der nicht-menschlichen Primaten: Die großen Menschenaffen sind vom Aussterben bedroht. Ihre DNA lässt sich zwar konservieren. Einzelne Spezies lassen sich im Zoo bewahren, ihr Verhalten im natürlichen Habitat, ihre „zweite Evolution“, kulturelle Vorstufen des Menschen, lassen sich jedoch nicht erforschen, wenn die Urwälder vom Globus verschwinden. Doch das Wissen, dass es analog zu unserem Humanprojekt auch ein „Schimpansenprojekt“ gibt, ist in der Öffentlichkeit kaum verbreitet: Die Forschungsleiter der verschiedenen Schimpansenprojekte sind zu einem Projekt zusammengeschlossen und tauschen ihre Beobachtungen zum Verhalten von Schimpansen in voneinander isolierten Gruppen und Habitaten aus. Sie extrahieren aus ihren kumulierten Daten Verhaltensmuster, die sie als kulturelles Verhalten deuten.9 Verhaltensforscher kennen das Phänomen der Tradition bei Tieren (Fischen, Vögeln, Säugern). Vögel lernen z. B. ihren durchaus regionalspezifischen Gesang von ihren Eltern; nur die Fähigkeit zum Gesang, zum „Tönemachen“ ist genetisch determiniert. Schimpansen jedoch können mehr: Statt einzelner Traditionen können sie 39 Verhaltensweisen durch „Nachäffen“ anderer Gruppenmitglieder erwerben – und beim Orang Utan wurden bisher 19 derartige Traditionen nachgewiesen. Die Ethologen bezeichnen derartige Sätze von Traditionen als Kultur und sehen in der menschlichen Kultur nur einen höheren Komplexitätsgrad der Traditionssätze. 9

Die Schimpansengenomik wird als unmittelbarer Zugang zum Zusammenhang zwischen Gen, Umwelt und Verhalten gesehen. Prinzipiell sind die molekularen Netzwerke, die DNA, Proteine und Signaltransduktionskaskaden verknüpfen, über weite Bereiche der Evolution konserviert. Die Details der Differenzen zwischen nahe verwandten Organismen auf der molekularen Ebene werden die beträchtlichen phänotypischen Unterschiede zwischen Lebewesen auf verschiedenen Stufen der Evolution erklären.

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Was ist bisher aus der Analyse des Schimpansengenoms herausgekommen? Unmittelbar nach der Vollendung der Draftsequenz noch nicht viel: Die Genetiker können aus dem Vergleich des Schimpansenund des Humangenoms eine Reihe von Informationen erhalten, die sich auf die Mutationsraten verschiedener Genombereiche und Genklassen beziehen, und die z. B. für die Populationsgenetik wichtig, für unseren Zusammenhang jedoch weniger interessant sind. Wir stehen offenbar erst am Anfang aufregender Erkenntniszuwächse. Ein zentrales Problem sei hier erwähnt: Die meisten Abweichungen zwischen menschlichem und Schimpansengenom findet man in so genannten nicht-kodierenden Bereichen, dort wo keine Gene zu finden sind. Obwohl diese Sequenzen Dreiviertel des Genoms ausmachen, kennt man ihre Funktion nicht. Hier sind Überraschungen zu erwarten. Im Mittelpunkt steht natürlich die Frage: Was macht uns zu Menschen? Die Antwort wird durch die Tatsache erschwert, dass zahlreiche Mutationen neutral sind, also keinen Selektionsvorteil bedeuten. Derartige Mutationen führen zu verschiedenen Phänotypen innerhalb einer Spezies, ohne für die Evolution unmittelbar relevant zu sein. Solide Aussagen sind ohnehin erst auf der Basis der verfeinerten endgültigen Sequenz möglich. Ein besonderes Augenmerk wird sich jedoch zweifellos auf gehirnspezifische Gene richten. Das Schimpansenhirn hat etwa ein Drittel der Größe des menschlichen Gehirns, sowohl absolut als auch relativ zum Körpergewicht. Ein wesentlicher Teil der Zunahme in der Entwicklung zum Menschen betrifft den Cortex. Um ihn im begrenzten Raum des Schädels unterzubringen, wird er zunehmend gefurcht und gefaltet. Er besitzt beim Menschen etwa doppelt so viele Neuronen wie beim Schimpansen.10 Die Vergrößerung des Cortex bei Primaten beruht offenbar auf einer längeren pränatalen Entwicklung: Bei Mäusen durchlaufen die cortikalen Vorläuferzellen elf Teilungszyklen, bei Makaken mindestens 28, beim Menschen vermutlich sehr viel mehr (Hill/ Walsh, 2005). Welche genetischen Mechanismen liegen diesen und anderen Entwicklungen des Hirns zugrunde, z. B. der funktionellen Spezialisierung der Cortexareale, der Asymmetrie etc.? Der Genomvergleich zeigt schon jetzt weniger Hinweise auf wirklich neue Gene beim Menschen. Unterschiede ergeben sich eher durch Eliminierung von Genen (wie z. B. von olfaktorischen Genen), vor allem aber durch Änderungen in der hirnspezifischen Genexpression (die durch Signal10 Vgl. den Beitrag von Gerhard Roth in diesem Band.

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transduktion gesteuert wird). – Von besonderem Interesse sind die seltenen Fälle so genannter „nicht-synonymer DNA-Änderungen“, d. h. Nukleotidaustausche, die zu einer veränderten Aminosäure im Genprodukt führen. Die Forschung wird sich z. B. auf das für die Sprache wichtige FOXP2-Gen konzentrieren. – Die Wissenschaft vom Menschen, von der Humangenetik über die Anthropologie bis zur Philosophie – und auch das Humanprojekt – wird sich mit den Fortschritten des „Schimpansenprojekts“ zu beschäftigen haben.

Zusammenfassung Die These meines Beitrags lautet: In der Biologie (auch der des Menschen) gibt es keine Gründe sondern nur Ursachen. Auf der Ebene der Zellen und Moleküle finden wir die physikalischen Ursachen, für das, was wir als Gründe bezeichnen. Hier werden Informationen als Signale aufgenommen. Der molekularbiologische Schlüsselbegriff dieser Betrachtungsweise ist die Signaltransduktion. Die Umgebung eines Lebewesens wirkt auf den Organismus über physikalische (und chemische) Signale. Diese und die Mechanismen ihrer Aufnahme und Verarbeitung sind in allen Organismen prinzipiell ähnlich und wurden über den Zeitraum der Evolution konserviert. Das bedeutet im Einzelnen: 1) Um sich die Umwelt als Lebensraum zunutze zu machen, muss von einem Organismus eine nützliche Auswahl von Informationen aufgenommen und in Verhalten umgewandelt werden. 2) Informationen aus der Umgebung eines Organismus werden zu Signalen physikalisiert, molekularisiert und in seine Zellen hineingetragen. Diesen Vorgang bezeichnet man als Signaltransduktion. 3) Molekulare Elemente der Signaltransduktion sind Rezeptoren, Ionenkanäle, Zellmembranen, intrazelluläre Effektormoleküle, die meist zu vielstufigen Proteinkaskaden zusammengeschaltet sind. Ihre Eigenschaften werden vom Genom kodiert, dessen Produkt und, über Rückkopplungsschleifen, dessen Regulatoren sie sein können. 4) Es gibt keine „Rezeptoren für Gründe“. Sämtliche Sinnesorgane sind letztlich Zugänge physikalischer Signale zum Hirn. 5) Sämtliche Elemente der Signaltransduktion sind veränderbar („plastisch“), d. h. ihre Eigenschaften können aufgrund vorhergehender Ereignisse („Erfahrungen“) durch chemische und physikali-

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sche Prozesse variieren. Sie können somit Information speichern („lernen“) und in Form modifizierter Signaltransduktion weitergeben. 6) Zustand und Aktivität einer Zelle und somit auch eines Gewebes, Organs, Organismus werden durch „Signale von außen“, von gespeicherten vorhergehenden molekularen Abläufen „im Innern“ und von der genetischen Information im Sinne eines komplexen „Systems“ bestimmt. 7) Die einzelnen Schritte der Signaltransduktion sind nicht im Sinne einer vorhersagbaren Ursache-Wirkungsbeziehung determiniert. Das Netzwerk der molekularen Interaktionen ist (ebenso wie das der Hundertmilliarden Neuronen unseres Nervensystems) aufgrund seiner Komplexität und der Nichtlinearität seiner Wechselbeziehungen prinzipiell nicht berechen- und vorhersagbarbar. 8) Das Problem des freien Handelns hat für die naturwissenschaftliche Betrachtung zwei Komponenten: (1) Freies Handeln unterliegt keinem berechenbaren physikalischen Determinismus. (2) Es ist dennoch zielgerichtet. Während die erste Komponente unproblematisch ist, bleibt es ungelöste Aufgabe der Naturwissenschaft, die Mechanismen der Umsetzung nicht determinierter stochastischer Prozesse in zielgerichtetes Handeln und die des Bewusstseins freien Handelns auf der molekularen/zellulären Systemebene aufzuklären. Die Philosophie muss der Naturwissenschaft hierfür klare Vorgaben machen.

Bibliographie The Chimpanzee Sequencing and Analysis Consortium (2005): Initial Sequence of the Chimpanzee Genome and Comparison with the Human Genome. In: Nature (437), 69 – 87. Hill, Robert S./Walsh, Christopher A. (2005): Molecular Insights into Human Brain Evolution. In: Nature (437), 64 – 67.

Evolution des Gehirns – Evolution der Freiheit GERHARD ROTH 1. Der inkompatibilistische und der kompatibilistische Begriff der Willensfreiheit Die gegenwärtige Debatte um die Willensfreiheit, insbesondere zwischen Philosophen und Strafrechtstheoretikern auf der einen Seite und Psychologen und Hirnforschern auf der anderen, leidet unter der Tatsache, dass sie oft positiv wie negativ von einem Begriff von Willensfreiheit ausgeht, den heute niemand ernsthaft vertreten kann, und der weder im gesellschaftlichen Alltag noch im subjektiven Freiheitsempfinden der Individuen eine wirkliche Rolle spielt. Dieser traditionelle oder „starke“ Begriff von Willensfreiheit ist durch drei Kernaussagen charakterisiert (Walter, 1998; Roth, 2003): (1) Indeterminismus des Willens: Meine Handlungen werden durch meinen Willen verursacht, der nur durch sich selbst bestimmt und damit extern in-determiniert ist. Der freie Wille steht also außerhalb des (aus herkömmlicher Sicht) in der Natur herrschenden Determinismus; entsprechend ist willensfreies Handeln unverträglich, inkompatibel, mit der Annahme eines universell geltenden Determinismus. (2) Alternativismus des Wollens und Handelns: Ich kann unter identischen physikalisch-physiologischen Bedingungen anders handeln bzw. hätte anders handeln können, wenn ich nur (anders) will bzw. (anders) gewollt hätte. (3) Intelligibilitt menschlichen Handelns: Wir Menschen handeln aus Grnden, nicht aus Ursachen. Gründe unterliegen nicht der physischen Kausalität. Die Mängel dieses „starken“, inkompatibilistischen Begriffs von Willensfreiheit, wie er auch dem deutschen Strafrecht zugrunde liegt (vgl. Roxin, 1997), sind bekannt und betreffen zusammengefasst die folgenden Punkte. (1) Nach mehrheitlicher Auffassung der Psychologie und der Hirnforschung handeln Menschen so, wie es ihre bewussten und unbewussten Motive festlegen (dies sei im folgenden Motiv-Determinismus genannt), die in der jeweiligen Persçnlichkeitsstruktur verwurzelt sind

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(Amelang/Bartussek, 1997; Asendorpf, 1999). Diese Persönlichkeitsstruktur ist ihrerseits bestimmt durch genetische Faktoren, frühkindliche prägende Erlebnisse und frühe psychosoziale Erfahrungen und in schwächerem Maße durch die Erfahrungen im Jugend- und Erwachsenenalter. Sie bestimmt, in welcher Weise innere und äußere Reizsituationen verarbeitet, mit früheren Erfahrungen verglichen und in Handlungsentscheidungen überführt werden. Der Wille ist ein psychischer Zustand, der vornehmlich in der motivationalen Fokussierung auf ein bestimmtes Handlungsziel und im Abschirmen dieses Ziels vor alternativen Handlungszielen besteht (Heckhausen, 1987; Goschke, 1995). Er wird umso stärker erlebt, je stärker externe und interne Widerstände sind und je mehr alternative Handlungsziele bestehen. Ein Wille, der von personalen Motiven losgelöst ist, ist kein Wille dieser Person, er kann ihr deshalb auch nicht verantwortlich zugerechnet werden (Pauen, 2004). Menschliches Handelns setzt einen Motiv-Determinismus voraus; andernfalls wäre es zufällig, da un-motiviert. (2) Ein Alternativismus ist selbst-widersprüchlich, denn er verlangt, dass wir gegen unsere Motive handeln können. Um aber gegen ein starkes Motiv handeln zu können (zum Beispiel eine Straftat zu begehen), benötigen wir ein noch stärkeres Motiv (z. B. die Angst vor der Entdeckung oder das Rechtsgewissen). Menschliches Handeln beruht in der Regel auf einer Konkurrenz von Motiven, in der sich letztlich ein einziges Motiv durchsetzt. Dabei ist es unerheblich, ob die Motive eher bewusst oder unbewusst, eher emotional oder rational sind. Allerdings müssen bewusste rationale Motive auch immer mit emotionalen Motiven verbunden sein, um handlungswirksam zu werden. (3) Es gibt keinen scharfen Gegensatz zwischen Gründen und Ursachen. Gründe sind bewusste, in der Regel sprachlich kommunizierbare Handlungserklärungen, die als solche allein nicht handlungswirksam werden können, sondern nur durch Umsetzung in unbewusste Handlungsantriebe und schließlich in physiologisch-motorische Vorgänge, also Ursachen (Roth, 2003, 2005). D.h. Grnde mssen zu Ursachen werden, um Handlungen auszulösen und zu steuern. Aufgrund dieser (und anderer) Unzulänglichkeiten hat es seit jeher alternative Konzepte gegeben, die von einer Verträglichkeit (Kompatibilitt) eines abgewandelten Willensfreiheitsbegriffs mit einem motivdeterministischen Ansatz ausgehen. Die wichtigsten kompatibilistischen Argumente lauten: (1) Ich bin frei, wenn ich bei Abwesenheit äußerer und innerer Zwänge tun kann, was ich will; der Bedingtheit meines Willens bin ich mir dabei nicht bewusst (Hobbes, Locke, Hume,

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Schopenhauer). (2) Ich bin frei, wenn mein Wille zweiter Ordnung meinem Willen erster Ordnung zustimmt (Frankfurt, 1993). (3) Ich bin frei, wenn ich selbstbestimmt, d. h. auf der Basis meiner persönlichen Antriebe und Überzeugungen handle (vgl. Pauen, 2004). (4) Ich bin frei, wenn ich über meine Handlungsabsichten reflektieren kann (vgl. Bieri, 2001). Für einen motiv-deterministischen und kompatibilistischen Begriffs von Willens- und Handlungsfreiheit ist im Übrigen die Annahme eines durchgängigen Determinismus nicht zwingend erforderlich. Es ist zur Zeit unklar, ob quantenphysikalische, „objektiv zufällige“ Ereignisse auf der Ebene der Verhaltensentscheidungen und -steuerung im menschlichen Gehirn wirksam werden. In jedem Fall würden solche Ereignisse auf dieser Ebene als Handlungsmotive erscheinen, unabhängig von ihrer „Zufälligkeit“. Im Folgenden werde ich aus Sicht der Hirnforschung untersuchen, ob und inwieweit ein solcher kompatibilistischer Begriff von Willensfreiheit mit dem heutigen Wissen über die bewusste und unbewusste Steuerung von Willkrhandlungen verträglich ist, also von solchen Handlungen, bei denen wir das unabweisliche Gefühl haben, wir seien es, die diese Handlungen steuern. Ich definiere dabei Handlungsfreiheit im kompatibilistischen Sinne anhand dreier Fähigkeiten: 1) aufgrund eigener (personaler) Motive handeln können, 2) sich verschiedene Handlungsoptionen und ihre Konsequenzen vorstellen und zwischen den Optionen wählen können; 3) sich Ziele setzen und nach deren Verwirklichung streben können. Ich werde zeigen, in welcher Weise die Evolution des menschlichen Gehirns als ein Prozess verstanden werden kann, der diese drei Fähigkeiten ermöglicht (ob zufällig, aufgrund von Mutation und Selektion oder zielgerichtet sei dahingestellt). Dabei geht es im Wesentlichen um vier Ereignisse der Hirnevolution, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen: – Die Evolution sensorischer und motorischer Areale in der Großhirnrinde der Säugetiere – Die Ausbildung „exekutiver“ Handlungsvorbereitungs- und Handlungssteuerungs-Schleifen zwischen Großhirnrinde und Basalganglien der Säugetiere – Die Evolution des Stirnhirns als Sitz bewusster Handlungsplanung bei Menschenaffen – Die Evolution der menschlichen Sprache.

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2. Die Evolution sensorischer Areale in der Großhirnrinde Es gibt zahlreiche Annahmen über das menschliche Gehirn, die dazu dienen sollen, eine Sonderstellung des Menschen in der Natur zu untermauern. Dem steht die fundamentale Tatsache gegenüber, dass das menschliche Gehirn ein typisches Wirbeltier- und Säugergehirn und im engeren Sinne ein typisches Primatengehirn ist. Nahezu alle Eigenschaften des menschlichen Gehirns sind Ergebnis einer Entwicklung, wie sie für das Gehirn der Wirbeltiere und Säugetiere insgesamt und der Primaten im Speziellen gelten (Nieuwenhuys et al., 1998; Roth/Dicke, 2005a). Der Mensch hat dabei weder absolut gesehen noch relativ zu seiner Körpermasse das größte Gehirn (die absolut größten Gehirne finden sich bei Zahlwalen, die relativ größten Gehirne bei kleinen Insektenfressern) (Roth/Dicke, 2005a; Liste 1; Abbildung 1a,b). Dasselbe gilt für die menschliche Großhirnrinde als „Sitz des Bewusstseins“: Sie ist weder absolut noch relativ gesehen die größte Hirnrinde unter den Säugetieren, sondern so groß, wie sie nach den Gesetzen des Hirnwachstums bei Säugern sein muss. Schließlich unterscheiden sich Feinaufbau und Funktion der Großhirnrinde, des sechsschichtigen „Isocortex“, bis auf ein einziges Merkmal nicht vom Cortex anderer Primaten (Zilles, 2005). Dieses Merkmal ist der Besitz eines BrocaAreals, das eine syntaktisch-grammatikalische Sprache ermöglicht (Abbildung 2a). Aber auch hier werden wir sehen, dass der Besitz eines Broca-Areals und einer syntaktisch-grammatikalischen Sprache nicht etwas fundamental Neues ermöglicht, sondern bereits vorhandene Fähigkeiten verstärkt. Wir müssen entsprechend von einem evolutionren Kontinuum ausgehen, das ein „freies“ menschliches Handeln in dem oben definierten Sinne ermöglicht. Dieses evolutionäre Kontinuum beginnt mit der Umgestaltung des Endhirns (Telencephalon) im Zusammenhang mit der Entstehung der Säuger, also vor 200 – 150 Millionen Jahren. Ausgangspunkt war ein Telencephalon, wie es sich heute noch bei Amphibien findet (Dicke/ Roth, 2006; Abbildung 3). Das aus zwei Hemisphären bestehende und von Hohlräumen (Ventrikeln) durchzogene Telencephalon setzt sich aus einem im Querschnitt oben (dorsal) liegenden Pallium („Mantel“) und einem unten (ventral) liegenden Subpallium zusammen Das Subpallium umfasst bei allen Landwirbeltieren (Amphibien, Reptilien, Säuger, Vögel) im wesentlichen drei funktionelle Systeme, nämlich den Septum/basales Vorderhirn-Komplex, den Amygdala-Komplex und

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Abb. 1a: Serie von Säugetiergehirnen, die zeigt, dass der Mensch keineswegs das größte Gehirn und die am meisten gewundene Großhirnrinde besitzt.

den Striato-Pallidum-Komplex. Septum und basales Vorderhirn haben mit vegetativen und endokrinen Funktionen zu tun und mit der (unbewussten) Steuerung von Aufmerksamkeit. Der Amygdala-Komplex ist der Ort der Verarbeitung stresshafter Reize und Erfahrungen und des unbewussten Entstehens negativer Gefühle wie Furcht, Angst und Ekel

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Abb. 1b: Das Verhältnis von relativem Hirngewicht (in Prozent Körpergewicht) und Körpergewicht bei Säugern in doppelt-logarithmischer Darstellung. Die Abbildung zeigt, dass mit zunehmendem Körpergewicht das relative Gehirngewicht zum Teil dramatisch abnimmt von über 10 % bei Mäusen und Spitzmäusen auf unter 0,01 % beim Blauwal. Der Mensch hat angesichts der Tatsache, dass er ein „großes“ Säugetier ist, ein relativ sehr großes Gehirn, findet sich aber in Gesellschaft mit anderen Primaten und mit Delphinen. Nach (van Dongen, 1998), verändert.

(LeDoux, 1998). Der Striato-Pallidum-Komplex besteht aus einem größeren oberen Teil, der handlungssteuernde (exekutive) Funktionen hat (das dorsale Striato-Pallidum) und einem unteren, kleineren Teil, der zusammen mit anderen Teilen der Basalganglien das Belohnungs- und Belohnungserwartungszentrum und damit das „Motivationszentrum“ repräsentiert (das ventrale Striato-Pallidum) (Roth/Dicke, 2005b; Dicke/Roth, 2006). Während sich diese subpallialen Teile bei allen Landwirbeltieren in sehr ähnlicher Weise wiederfinden, gibt es zwischen dem Pallium der Amphibien und dem Cortex der Säuger deutlichere Unterschiede. Den Säuger-Cortex unterteilt man in einen drei- bis fünfschichtigen Allocortex (früher „Archicortex“ und „Palaeocortex“ genannt), zu dem der Riechcortex, die Hippocampus-Formation und „limbische“ Cortexanteile (orbitofrontaler, ventro-medialer, cingulärer und insulärer Cortex) gehören (vgl. Abb. 2a), und einen durchgehend sechsschichtigen Isocortex (früher und teilweise auch heute noch „Neocortex“ genannt). Der Isocortex der Säuger wird in einen Hinterhauptslappen (Occipitalcortex), einen Scheitellappen (Parietalcortex), einen Schläfenlappen

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Abb. 2a: Anatomisch-funktionelle Gliederung der Hirnrinde von der Mittellinie aus gesehen. Abkürzungen: ACC = anteriorer cingulärer Cortex (Gyrus cinguli); CMAc = caudales cinguläres motorisches Areal; CMAr = rostrales cinguläres motorisches Areal; ITC = inferotemporaler Cortex; MC = motorischer Cortex; OC = occipitaler Cortex; OFC = orbitofrontaler Cortex; prae-SMA = praesupplementär-motorisches Areal; PFC = präfrontaler Cortex; PPC = posteriorer parietaler Cortex; SMA = supplementär-motorisches Areal; SSC = somatosensorischer Cortex; VMC = ventromedialer (präfrontaler) Cortex. Weitere Erläuterungen siehe Text. Nach (Nieuwenhuys et al., 1991); verändert.

(Temporalcortex) und einen Stirnlappen (Frontalcortex) eingeteilt (Nieuwenhuys et al., 1991; Zilles, 2005; vgl. Abbildung 2a). Innerhalb des Amphibien-Pallium unterscheidet man ein mediales, dorsales, laterales und ventrales Pallium (Dicke/Roth, 2006; Abbildung 3). Das mediale Pallium der Säuger lässt sich mit der Hippocampus-Formation der Säuger vergleichen, die im Querschnitt bei den Säugern ebenfalls eine mediale, d. h. an der Mittellinie des Gehirns liegende Position einnimmt. Auch die Funktion scheint ähnlich zu sein: Mediales Pallium und Hippocampus-Formation haben beide mit Lernen und Gedächtnisbildung zu tun. Das laterale Pallium der Amphibien entspricht dem Riech-Cortex der Säuger, der dort ebenfalls eine laterale bis ventrale Position einnimmt. Das ventrale Pallium der Amphibien hat mit einem besonderen Riechsystem zu tun, nämlich dem VomeronasalSystem, das innerartliche Geruchssignale (Pheromone) verarbeitet. Es entspricht bei Säugern dem akzessorischen olfaktorischen System und Teilen der corticalen und medialen Amygdala. Ungelöst ist die Frage,

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Abb. 2b: Anatomisch-funktionelle Gliederung der Hirnrinde von der Seite aus gesehen. Die Zahlen geben die übliche Einteilung in cytoarchitektonische Felder nach K. Brodmann an. Abkürzungen: AEF = vorderes Augenfeld; BSC = BrocaSprachzentrum; FEF = frontales Augenfeld; ITC = inferotemporaler Cortex; MC = motorischer Cortex; OC = occipitaler Cortex (Hinterhauptslappen); OFC = orbitofrontaler Cortex; PFC = präfrontaler Cortex (Stirnlappen); PMC = dorsolateraler prämotorischer Cortex; PPC = posteriorer parietaler Cortex; SSC = somatosensorischer Cortex; TC = temporaler Cortex (Schläfenlappen).

welchen Teilen des Säuger-Cortex das dorsale Pallium der Amphibien entspricht. Eigene Untersuchungen legen nahe, dass es sich um ein „assoziativ-limbisches“ Hirnareal handelt, also um ein Pallium, das sensorische Informationen sammelt, miteinander und mit Informationen aus dem subpallialen limbischen System vergleicht. Dieselbe Funktion findet sich auch beim Isocortex der Säuger, allerdings gibt es wesentliche Unterschiede. Der deutlichste Unterschied ist anatomischer Art: Während das Pallium der Amphibien zweigeschichtet ist, d. h. aus einer tiefen, um die Ventrikel herum liegenden Zellschicht und einer oberflächlichen Faserschicht besteht (vgl. Abbildung 3), weist der Allo- und Isocortex der Säuger, wie bereits erwähnt, 3 bis 6 Schichten auf. Diese Schichtung ist größtenteils dadurch bedingt, dass Eingänge und Ausgänge sowie interne Verbindung, die sich beim Amphibien-Pallium zum Teil vermischten, im Cortex der Säuger räumlich weitgehend voneinander getrennt sind.

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Abb. 3: Querschnitt durch das Gehirn des Frosches Bombina orientalis auf Höhe des Amygdala-Komplexes und des Striato-Pallidum. Abkürzungen: cMS: caudales mediales Septum, DPAL: dorsales Pallidum, DPl: laterales dorsales Pallium, DPm: mediales dorsales Pallium, LP: laterales Pallium, MA/BNST/CA: mediale-zentrale Amygdala/BNST, MP: mediales Pallium, NDB/MS: basales Vorderhirn/mediales Septum, sdm: sulcus dorsomedialis, sd: sulcus dorsalis, srh: sulcus rhinalis, ser: sulcus entorhinalis, VPAL: ventrales Pallidum, VPd: dorsaler Teil des ventralen Pallium, VPv: ventraler Teil des ventralen Pallium. Nach (Roth et al., 2007).

Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass der Isocortex neben assoziativen Arealen primäre und sekundäre sensorische Areale aufweist (Zilles, 2005). Die sensorischen corticalen Areale sind visueller, auditorischer, somatosensorischer und vestibulärer Natur (Sehen, Hören, Körpersinn und Gleichgewichtssinn). Die visuellen Areale befinden sich im Occipitalcortex und unteren Temporalcortex, die auditorischen Areale im oberen und mittleren Temporalcortex, die somatosensorischen Areale (Repräsentationen der Haut, der Muskeln, Sehnen und Gelenke) sowie die vestibulären Areale (Repräsentation der Körperlage und der Körperbewegungen) im vorderen Parietalcortex (Abbildung 2b). Geschmacksinformationen (Gustatorik) werden nicht im Isocortex, sondern im insulären Allocortex abgebildet, und Ge-

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ruchsinformationen (Olfaktorik) im olfaktorischen Allocortex sowie in der corticalen und medialen Amygdala. Die visuellen Informationen gelangen von der Netzhaut (Retina) zuerst zu einem Teil des dorsalen Thalamus, dem lateralen Kniehöcker (Corpus geniculatum laterale) und von dort zum hinteren Occipitalcortex. Die auditorischen Informationen durchlaufen mehr Schaltstationen: Vom Innenohr geht es zum verlängerten Mark (Medulla oblongata) von dort zu den „hinteren Hügeln“ (Colliculi inferiores) im Mittelhirndach, von dort aus zum medialen Kniehöcker (Corpus geniculatum mediale) des dorsalen Thalamus, und von dort aus zum auditorischen Cortex im oberen Rand des vorderen Temporallappen (den Heschlschen Querwindungen). Die somatosensorischen und die vestibulären Informationen ziehen, wenngleich getrennt, ebenfalls zuerst in das verlängerte Mark, von da aus in weitere Bereiche des dorsalen Thalamus und von dort in den vorderen Parietallappen direkt hinter der Zentralfurche des Cortex. Die Geschmacksinformationen haben ähnliche Stationen bis auf die letzte, d. h. vom dorsalen Thalamus aus ziehen die Geschmacksbahnen in den insulären Allocortex und nicht in den Isocortex. Die Geruchsinformationen „umgehen“ dagegen den dorsalen Thalamus und ziehen von der Riechschleimhaut der Nase direkt in den Riechcortex und die Amygdala. Die sensorische Cortexareale weisen sensorische Karten auf, d. h. sie sind in einer räumlichen Weise organisiert, die mehr oder weniger genau die Nachbarschaftsverhältnisse in der Netzhaut, der Basilarmembran des auditorischen Innenohres, in den Bogengängen und anderen Anteilen des vestibulären Innenohres, des Körpers (Haut, Muskeln, Sehnen, Gelenke), der Geschmacksoberflächen und den Geruchsepithelien wiedergeben. Dies ermöglicht eine sehr genaue rumlich-zeitliche Repräsentation der äußeren und inneren Sinneswelt. Umgeben werden diese primären sensorischen Areale von einer größeren Zahl sekundärer und tertiärer sensorischer Areale, in denen die jeweiligen sensorischen Informationen teils in kartenartiger, teils in kategorialer Weise repräsentiert und weiterverarbeitet werden. Diese höherstufigen sensorischen Areale schließlich leiten zu assoziativ-integrativen Arealen über. Im visuellen System zum Beispiel werden im primären visuellen Cortex Grundmerkmale wie Kontrast, Kantenorientierung, Bewegungsrichtung und Wellenlänge des Lichts verarbeitet, in sekundären und tertiären visuellen Cortexarealen die Merkmale Ausdehnung, räumliche Tiefe, Umriss, Form, Bewegungsmuster, Farbe usw., woraus

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dann in den assoziativen visuellen Arealen Merkmalskomplexe wie Gesichter, Gestalten und dreidimensionale Szenen mit ihren Bewegungen und Farbmustern werden (Kandel et al., 1996). Die 30 – 40 unterschiedlichen visuellen Cortexareale der Primaten und des Menschen sind untereinander sowohl aufsteigend wie absteigend eng miteinander verknüpft, was insgesamt eine parallel-konvergent-divergente Informationsverarbeitung ergibt. Man kann dabei als einen „Pol“ eine sehr detailgetreue, aber bedeutungsfreie sensorische Repräsentation und als einen anderen „Pol“ eine detailarme, aber hoch bedeutungshafte und motivationale Repräsentation unterscheiden. Ähnliche Verhältnisse finden sich in den anderen Sinnessystemen, die allerdings nicht so genau erforscht sind wie das visuelle System. Solche primären und sekundären sensorischen corticalen Verarbeitungssysteme finden sich nicht im Pallium der Amphibien oder der Reptilien. Zwar gibt es dort sensorische Verbindungsbahnen zwischen dorsalem Thalamus und Pallium, aber diese enden vorwiegend im medialen Pallium, das dem Hippocampus der Säuger entspricht, und weniger im dorsalen Pallium. Außerdem leiten die Nervenfasern vom dorsalen Thalamus zum medialen und dorsalen Pallium bereits gemischte, d. h. visuell-auditorisch-somatosensorische und überdies auch noch „limbische“, d. h. motivationsbezogene Informationen weiter (Dicke/Roth, 2006). Dies bestätigt die Vermutung, dass das dorsale Pallium der Amphibien nicht primäre oder sekundäre sensorische, sondern bedeutungshafte und motivationale Informationen verarbeitet, wie dies der assoziative und der limbische Cortex der Säuger tun. Amphibien können ihre Beutetiere und Artgenossen ziemlich gut wahrnehmen und erkennen und besitzen auch ein gutes Farbwahrnehmungs- und Tiefenwahrnehmungssystem, sie können sehr gut hören und tasten, obwohl sie keine visuellen Cortexareale besitzen. Was die Säugetiere beim Sehen, Hören und Tasten im Wesentlichen mit der Großhirnrinde machen, findet bei den Amphibien (und den Reptilien) im Mittelhirndach, dem Tectum mesencephali statt. Hier finden sich visuelle, auditorische und somatosensorische Karten wie im Cortex der Säuger, und entsprechend ist das Tectum der Amphibien und Reptilien deutlich geschichtet – sogar noch mehr als der Cortex der Säuger. Warum haben also die Säuger einen sensorischen Isocortex entwickelt, wenn man das alles bereits mit dem Tectum machen kann, das Säuger ebenfalls besitzen? Die Antwort lautet: Der Isocortex bietet sehr viel mehr Platz als das Tectum, und dies bedeutet größere und insbesondere spezialisiertere Netzwerke. Hinzu kommt ein weiterer und entschei-

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dender Vorteil: Die corticalen Netzwerke können sich viel schneller „umverdrahten“ als die Netzwerke im Tectum oder an anderen Stellen außerhalb des Cortex. Sie werden damit zur Grundlage des sensorischkognitiven Gedchtnisses, das bei Säugern einschließlich des Menschen im Cortex angesiedelt ist, und zwar in denselben Netzwerken, die auch für die Sensorik zuständig sind. Ein wichtiger Teil der Evolution des Säugetiergehirns besteht also in der Ausbildung corticaler sensorischer Areale. Je größer an Zahl und Ausdehnung diese Netzwerke, desto genauer kann die sensorische Umwelt erfasst und interpretiert werden. Darin sind Säuger den Amphibien (und Reptilien) eindeutig überlegen. Interessanterweise haben die Vögel diesen „evolutiven Trick“ ebenfalls angewendet, und zwar offenbar unabhängig von den Säugern. Dies kann man daran erkennen, dass die sensorischen Bahnen, die vom dorsalen Thalamus der Vögel zum Pallium/Cortex der Vögel ziehen, ganz anders verlaufen als diejenigen der Säuger, und dass auch die Großhirnrinde der Vögel ganz anders aufgebaut ist als der Säugercortex und auch anderem embryologischen „Material“ entstammt (Nieuwenhuys et al., 1998). Es liegt also eine konvergente Evolution sensorischer corticaler Felder vor.

3. Die Ausbildung corticaler motorischer Areale In einer weiteren Hinsicht unterscheidet sich die Großhirnrinde der Säugetiere vom Pallium/Cortex der anderen Wirbeltiere, nämlich im Vorhandensein primärer und sekundärer motorischer Areale (Nieuwenhuys et al., 1991; Nieuwenhuys et al., 1998; Zilles, 2005). Diese Areale befinden sich im oberen Frontallappen (Abbildung 2a,b). Das primre motorische Areal liegt direkt vor der Zentralfurche und gegenüber dem primären somatosensorischen Cortex und ist vornehmlich mit der Steuerung einzelner Muskeln und hierüber mit der Kontrolle von Feinbewegungen befasst, z. B. der Hand, der Finger und des Gesichts einschließlich des Sprechapparats. Nach vorn schließt sich das prmotorische Areal an, das an der Planung und Steuerung von größeren und gröberen Bewegungsabläufen beteiligt ist, ebenso wie das auf der oberen Innenseite der Großhirnhemisphäre liegende supplementrmotorische Areal. Schließlich gibt es das pr-supplementrmotorische Areal, das immer aktiv ist, wenn wir etwas bewusst wollen (vgl. Abbildung 2a). Es ist auch dann aktiv, wenn wir uns Bewegungen nur vorstellen, und wenn wir beobachten, dass andere Personen etwas Bestimmtes, insbesondere

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Anstrengendes oder Auffallendes tun ( Jeannerod, 1997). Von diesen corticalen motorischen Arealen zieht eine aus Millionen von Fasern bestehende Bahn, die Pyramidenbahn, durch das Gehirn ins Rückenmark bis zu denjenigen Abschnitten, die direkt bestimmte Muskelgruppen kontrollieren, die für einzelne Bewegungsabläufe zuständig sind. Eine solche direkte corticale Kontrolle der Motorzentren des Rückenmarks findet sich nicht bei Amphibien und Reptilien und offenbar auch nicht bei Vögeln (Roth/Wullimann, 2001). In deren Endhirn gibt es zwar subpalliale Zentren, die in die Verhaltenssteuerung eingreifen, nämlich das Striato-Pallidum, aber keine pallialen bzw. corticalen motorischen Areale. Die Frage, was der Vorteil für die Säuger war, solche Areale im Cortex auszubilden, kann in derselben Weise beantwortet werden wie bei den sensorischen Arealen, nämlich dass der verfügbare Platz für große, vielfältige und überdies sehr plastische, d. h. schnell verschaltbare Netzwerke groß ist, die über die Pyramidenbahn zugleich direkt die für Einzelbewegungen zuständigen Rückenmarksabschnitte beeinflussen können. Dies ergibt eine viel feinere und flexiblere Steuerung der Bewegungen, insbesondere hinsichtlich der Feinmotorik der Hand, der Finger, des Gesichts und des Sprachapparats, wie sie sich insbesondere bei den Primaten findet. Interessanterweise können Vögel zwar ihre Umwelt ebenso präzise und detailreich erkennen wie die Säuger, aber sie verfügen über keine auch nur annähernd vergleichbare Motorik mit Ausnahme der Lautproduktion.

4. Die Ausbildung spezifischer Schleifen zwischen Großhirnrinde und Basalganglien Es wurde bereits erwähnt, dass sich im Subpallium bzw. Subcortex des Telencephalon der Landwirbeltiere das Striato-Pallidum befindet. Dieses besteht aus dem Corpus striatum („Streifenkörper“), meist einfach „Striatum“ genannt, und dem bei Primaten innen angelagerten Globus pallidus („bleiche Kugel“), meist einfach „Pallidum“ genannt. Das Striatum besteht seinerseits aus dem Putamen („Schalenkörper“) und dem Nucleus caudatus („geschweifter Kern“), das Pallidum aus einem „inneren“ und einem „äußeren“ Teil (Pallidum internum et externum) (Abbildung 4). Striatum und Pallidum stehen mit kleineren Strukturen im Zwischenhirn und im Boden des Hirnstamms (Tegmentum, Brücke und verlängertes Mark) in Verbindung, nämlich mit dem Nucleus sub-

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Abb. 4: Querschnitte durch das menschliche Gehirn: (A) Querschnitt auf Höhe des Hypothalamus, der Amygdala und des Striato-Pallidum; (B) Querschnitt auf Höhe des Thalamus und des Hippocampus. 1 Neocortex, 2 Ncl. caudatus, 3 Putamen, 4 Globus pallidus, 5 Thalamus, 6 Amygdala, 7 Hippocampus, 8 Hypothalamus, 9 Insulärer Cortex, 10 Claustrum, 11 Fornix (Faserbündel), 12 Mammillarkörper (Teil des Hypothalamus), 13 Infundibulum (Hypophysenstiel), 14 Nucleus subthalamicus, 15 Substantia nigra, 16 Balken (Corpus callosum). Nach (Kahle, 1976); verändert.

thalamicus und der Substantia nigra, und bilden zusammengenommen die Basalganglien (Nieuwenhuys et al., 1991; Kandel et al., 1996; Roth/ Dicke, 2005b). Die Basalganglien sind generell an allen Handlungen und Bewegungen beteiligt, insbesondere auch bei denen, die mit bewusster Planung und bewusstem Willen zu tun haben. Sie stellen eine Art „Handlungsgedächtnis“ dar, in dem alle Bewegungsmuster niedergelegt sind, die sich als erfolgreich erwiesen haben. Alles, was wir tun wollen, insbesondere wenn es neu und ungewohnt ist, muss mit diesem Handlungsgedächtnis abgeglichen und in ihm gespeichert werden. Das ist am Anfang schwierig, und deshalb laufen viele neue Bewegungsweisen „ungelenk“ ab, und zugleich müssen wir uns auf den Ablauf konzentrieren. Je häufiger wir aber diese Bewegung ausführen bzw. üben, desto flüssiger laufen sie ab, und desto weniger müssen wir darauf achten, und schließlich machen wir die Bewegung oder Handlung „wie im Schlaf“. Zu Beginn, wenn es noch ungelenk zugeht, müssen die

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prämotorischen und motorischen Areale der Großhirnrinde sich intensiv mit den Basalganglien „absprechen“, und später bewältigen die Basalganglien (zusammen mit dem Kleinhirn) die Aufgabe weitgehend allein, und dies ist dem Bewusstsein nicht mehr im Detail zugänglich. Das Striato-Pallidum schickt bei allen Landwirbeltieren Bahnen zu nachgeordneten Motorzentren im Mittelhirntegmentum (z. B. dem Nucleus ruber), im Kleinhirn, verlängerten Mark bis ins Rückenmark. Bei Amphibien, Reptilien und Vögeln gibt es keine oder nur sehr schwache Verbindungen zwischen Striato-Pallidum und Pallium/Cortex, während bei den Säugern das Striato-Pallidum und andere Teile der Basalganglien massiv mit dem Cortex verbunden sind. Hier stehen die primären motorischen, prä- und supplementärmotorischen Cortexareale, aber auch Areale im hinteren Parietallappen, die für die Vorbereitung und Ausführung von Willenshandlungen zuständig sind, in Verbindung mit unterschiedlichen Gebieten der Basalganglien. Diese Gebiete schicken ihrerseits Bahnen zu unterschiedlichen Teilen des dorsalen Thalamus, und dieser wiederum sendet Bahnen zu den corticalen Ausgangsarealen. Es bestehen also zwischen Cortex, Basalganglien und Thalamus mehrere parallel verlaufende „exekutive“, d. h. mit unterschiedlichen Aspekten der Handlungsvorbereitung und Handlungssteuerung befasste Schleifen (Abbildung 5). Die Basalganglien ihrerseits stellen ein kompliziertes System von sich gegenseitig hemmenden und erregenden Zentren dar, zu denen neben dem Striatum und dem inneren und äußeren Pallidum der Nucleus subthalamicus und die beiden Teile der Substantia nigra gehören, nämlich ein „dichtgepackter“ Teil (Substantia nigra pars compacta) und ein lose arrangierter Teil (Substantia nigra pars reticulata) (Nieuwenhuys et al., 1991; Roth/Dicke, 2005b; Abbildung 6). Dabei wirkt das Striatum hemmend auf die „retikuläre“ und die „kompakte“ Substantia nigra und das innere und äußere Pallidum ein, wird aber seinerseits durch die „kompakte“ Substantia nigra teils erregt und teils gehemmt. Der Nucleus subthalamicus wird vom äußeren Pallidum gehemmt und erregt sowohl das innere Pallidum und die „retikuläre“ Substantia nigra. Diese letzteren Strukturen bilden denjenigen Ausgang des Systems der Basalganglien, der zurück zur Großhirnrinde führt. Dies geschieht aber nicht direkt wie beim Eingang, sondern inneres Pallidum und „retikuläre“ Substantia nigra wirken hemmend auf Umschaltzentren im Thalamus, einem Teil des Zwischenhirns, ein, die ihrerseits Bahnen zu genau denjenigen Teilen der Großhirnrinde zurückschicken, die Bahnen zum Striatum schicken (Abbildung 5).

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Abb. 5: Steuerung der Willkürmotorik durch die Interaktion zwischen Cortex, Basalganglien und Thalamus. Nervenbahnen (corticostriäre Fasern) ziehen von verschiedenen Teilen der Grosshirnrinde (präfrontaler Cortex, motorischer, prämotorischer und supplementärmotorischer Cortex, somatosensorischer Cortex, posteriorer parietaler Cortex) zu den Basalganglien, von dort zum Thalamus und schliesslich zurück zum präfrontalen, motorischen, prämotorischen und supplementärmotorischen Cortex. Vom motorischen und prämotorischen Cortex aus zieht die Pyramidenbahn zu Motorzentren im Rückenmark, die unsere Muskeln steuern. Bewußt (im Stirnhirn) geplante Handlungen gelangen über die Pyramidenbahn nur dann zur Ausführung, wenn sie vorher die „Schleife“ zwischen Cortex, Basalganglien und Thalamus durchlaufen haben und hierbei die unbewußt arbeitenden Basalganglien der beabsichtigten Handlung „zugestimmt“ haben. Die Basalganglien ihrerseits werden von Zentren des limbischen Systems (s. Abb. 4) kontrolliert, in denen die individuelle Lebenserfahrung gespeichert ist. Nach (Roth/ Prinz, 1996).

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Abb. 6: Verschaltung zwischen Cortex und Basalganglien bzw. innerhalb der Basalganglien. Exzitatorisch wirkende Einflüsse sind mit schwarzen Pfeilköpfen dargestellt, inhibitorische mit offenen Pfeilköpfen. Dicker schwarzer Pfeil: dopaminerge Projektion von der Substantia nigra zum Striatum. Abkürzungen: D1/D2 = dopaminerge Rezeptortypen; GPe = Globus pallidus, äußerer Teil; GPi = Globus pallidus, innerer Teil; NMDA = glutamaterger Rezeptorentyp; SNc = Substantia nigra, pars compacta; SNr = Substantia nigra, pars reticulata; STN = subthalamischer Nucleus; THAL = Thalamus. Nach (Roth, 2003).

Das Ganze kann man als eine Vorrichtung ansehen, die über hemmende und erregende Mechanismen sehr abgestuft teils „Gas geben“ und teils „bremsen“ kann. Wenn nämlich ein Hemm-Mechanismus erregt wird, dann wird die Hemmung stärker. Wird dieser Hemm-Mechanismus selbst gehemmt, so reduziert sich die von ihm bewirkte Hemmung oder fällt ganz fort. Damit löst das Gehirn das Grundproblem der Bewegungssteuerung, das darin besteht, dass man zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Regel nur eine Art von Bewegung ausführen kann. Es muss in einem bestimmten Handlungszusammenhang also jeweils genau eine Handlung „freigeschaltet“ werden, und alle konkurrierenden Handlungen müssen völlig unterdrückt werden. Bemerkenswert ist dabei ein besonderer Umstand. Wie geschildert, wird die „kompakte“ Substantia nigra vom Striatum gehemmt, und sie wiederum wirkt teils hemmend und teils erregend auf das Striatum zurück. Dies geschieht dadurch, dass der Transmitter bzw. Neuromodulator Dopamin ausgeschüttet wird und auf das Striatum einwirkt. Dopamin hat dabei zwei Wirkungen: Es wirkt auf einen Typ von hemmenden Ausgangsbahnen des Striatum erregend und verstärkt dadurch die Hemmungsfunktion der Bahnen, und wirkt auf einen zweiten

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Typ von hemmenden Ausgangsbahnen hemmend und reduziert deren Hemmungsfunktion oder hebt sie ganz auf. Damit kann im Weiteren genau das erreicht werden, was nötig ist, nämlich eine bestimmte Bewegung frei zu schalten (d. h. die Hemmung aufheben) und alle Alternativerregungen zu unterdrücken (d. h. die Hemmung verstärken). Woher weiß die „kompakte“ Substantia nigra, welche Bewegung sie durch ihr Dopamin-Signal im Striatum freischalten soll? Hier gilt, dass es im Gehirn überhaupt kein Zentrum gibt, das etwas tut, ohne wiederum von anderen Zentren beeinflusst zu sein. Im Gehirn beeinflussen sich letztendlich alle Zentren gegenseitig, wenngleich nicht in jeder Richtung in derselben Stärke. Wir dürfen also davon ausgehen, dass die Dopamin-produzierende Substantia nigra von anderen Zentren beeinflusst wird, die dadurch festlegen, wann das Dopamin-Signal erfolgt und wann nicht. Es handelt sich dabei um den Hippocampus, die Amygdala und das mesolimbische System, wozu das ventrale StriatoPallidum (einschließlich des Nucleus accumbens) und die Substantia nigra gerechnet werden. Sie bilden zusammen das unbewusste Erfahrungsgedchtnis, wobei die Amygdala eher die negativen, stresshaften Erlebnisse vermittelt, das mesolimbische System eher die positiven und motivierenden Erlebnisse, während der Hippocampus die Details der Geschehnisse und den räumlich-zeitlichen Kontext liefert, insbesondere den autobiographischen Rahmen. Diese Zentren legen unbewusst fest, was angestrebt und was vermieden werden soll (Roth/Dicke, 2005b). Den Amphibien, Reptilien und offenbar auch den Vögeln fehlt ein solches kompliziertes System der Vorbereitung und Steuerung von Willkürverhalten. In deren Gehirn steuern die sensorischen Zentren des Pallium bzw. Cortex und die Basalganglien weitgehend unabhängig voneinander die Vorbereitung und Ausführung von Handlungen, und zugleich weisen die Basalganglien der Amphibien, Reptilien und Vögel nach heutiger Kenntnis nicht das komplizierte Netzwerk von gegenseitiger Erregung und Hemmung auf. Bei den Säugern und hier vornehmlich bei den Primaten können die ausgedehnten sensorischen und motorischen Cortexareale direkt die Basalganglien und diese über den Thalamus die Cortexareale beeinflussen und können die Willkürmotorik sehr fein abgestuft und flexibel steuern.

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5. Die Evolution des Stirnhirns als Sitz bewusster Handlungsplanung Das vordere Stirnhirn, der prfrontale Cortex des Menschen gilt als Sitz von Verstand und Vernunft. Der Verstand im Sinne von Intelligenz ist dabei vornehmlich im oberen und seitlichen Teil, dem dorsolateralen präfrontalen Cortex (PFC) angesiedelt (Abbildung 2a,b). Der PFC hat mit dem Erfassen der handlungsrelevanten Sachlage zu tun, mit zeitlichräumlicher Strukturierung von Wahrnehmungsinhalten, mit planvollem und kontextgerechtem Handeln und Sprechen und mit der Entwicklung von Zielvorstellungen (Kolb/Wishaw, 1993; Förstl, 2002). Er ist eng mit den sensorischen und assoziativen Arealen des Scheitel-, Schläfen- und Hinterhauptslappen verbunden und verarbeitet die dort lokalisierten Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalte im Kontext der kognitiven Bewertung der gerade herrschenden Situation, der Handlungsplanung und -auswahl. Eine besondere Rolle spielt hierbei das Arbeitsgedchtnis. Es ist Grundlage dessen, womit wir uns gerade aufmerksam beschäftigen, z. B. einen Vorgang oder ein Ding genau betrachten, über ein Problem nachdenken, intensiv an etwas denken oder sich etwas ganz Bestimmtes merken. Der PFC ist eng mit dem sekundären motorischen und supplementärmotorischen und besonders eng mit dem prae-supplementärmotorischen Cortex verbunden (s. oben). Die Vernunft hat ihren Sitz vornehmlich im unteren Teil des Stirnhirns, im orbitofrontalen (d. h. über den Augenhöhlen, Orbita, liegenden) Cortex (OFC; Abbildung 2a,b) (Kolb/Wishaw, 1993; Förstl, 2002). Der OFC überprüft die längerfristigen Folgen unseres Handelns und bestimmt dessen Einpassung in soziale Regeln und Erwartungen. Eine wesentliche Funktion besteht in der Kontrolle impulsiven, egoistischen Verhaltens. Der OFC ist in diesem Zusammenhang Adressat sozialer Erziehung und Sitz von Moral, Ethik und Gewissen. Es gibt erstaunlich wenige Verbindungen zwischen dem dorsolateralen und dem orbitofrontalen Cortex; überdies ist der OFC, anders als der PFC, eng mit den subcorticalen limbischen Zentren verbunden, insbesondere mit der Amygdala und dem mesolimbischen System, also denjenigen Zentren, die unsere unbewussten positiven und negativen Emotionen und Motive erzeugen. Die Bahnen vom OFC zu diesen Zentren sind im Wesentlichen hemmend und repräsentieren die erwähnte Kontrollfunktion unserer impulsiven und egoistischen Antriebe. Der Besitz von Verstand/Intelligenz und Vernunft ist kein exklusives Merkmal des

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Menschen; man kann entsprechende Funktionen zumindest auch bei Menschenaffen (Schimpansen, Gorillas, Orang-Utan) finden (Byrne, 1995). Eine Läsion oder Erkrankung des PFC führt bei diesen Tieren ebenso wie beim Menschen zu einem typisch „un-intelligenten“ Verhalten etwa beim Problemlösen oder bei der Werkzeugherstellung, und eine Läsion oder Erkrankung des OFC führt bei Menschen wie Menschenaffen zu einem krass egoistischen, asozialen Verhalten. Dabei können Verstand/Intelligenz und Vernunft durchaus unabhängig voneinander ausfallen (d. h. „dissoziieren). Bekanntlich gibt es hochintelligente, aber gewissenlose Menschen ebenso wie sozial hochmotivierte, aber geistig „minderbemittelte“ Personen. Wir sehen also, dass der Besitz eines PFC und eines OFC und damit von Verstand und Vernunft keineswegs ein ausschließlich menschliches Merkmal ist. Auch sind der menschliche PFC und OFC weder absolut gesehen noch relativ zum restlichen Gehirn besonders groß. Es ist umstritten, ob Säugetiere außerhalb der Ordnung der Primaten einen PFC oder OFC besitzen. Anatomisch gesehen finden sich durchaus Ähnlichkeiten, aber es ist schwierig, bei diesen Tieren Fähigkeiten zu finden, die der Intelligenz bzw. dem moralischen Verhalten von Menschen und Menschenaffen zu finden. Am ehesten ist dies noch bei Walen und Delfinen sowie bei Elefanten zu finden, die alle ein sehr großes Stirnhirn (zum Teil sehr viel größer als das des Menschen), eine beträchtliche Intelligenz und ein hochgradig soziales Verhalten zeigen. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die Verstandes- und Vernunftfunktionen beim Menschen wesentlich höher entwickelt sind als bei den anderen Primaten, den Walen/Delfinen oder etwa beim Elefanten. Alle diese Tiergruppen besitzen ein beeindruckendes Problemlöseverhalten und komplexe Kommunikations- und Empathiesysteme, und der Elefant besitzt ein sehr leistungsfähiges Langzeitgedächtnis. Die deutlichsten Unterschiede zwischen ihnen und dem Menschen bestehen in der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses und entsprechend in der mittel- und langfristigen Handlungsplanung. Bei den Entscheidungen darüber, was wir in welcher Weise und Reihenfolge tun wollen, müssen wir zahlreiche Vorstellungen möglicher Handlungen im Arbeitsgedächtnis integrieren, insbesondere was das Abwägen der Konsequenzen der Handlungsalternativen betrifft. Menschenaffen können nur für wenige Stunden in die Zukunft planen, und diese Planung ist stets auf ein enges Ziel beschränkt (z. B. die Herstellung eines bestimmten Werkzeugs, Nahrungsmittelbeschaffung oder eine bestimmte soziale Interaktion), während der Mensch auch ohne Hilfe der Sprache über

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mehrere Tage bis Wochen sein Handeln planen kann, wobei er sich gesetzmäßige Abläufe in seiner natürlichen Umwelt (Tages-, Monatsund Jahresrhythmen) als Referenzen nutzbar macht.

6. Die Evolution der menschlichen Sprache Der Besitz von Sprache im Sinne einer vokalisierenden innerartlichen Kommunikation ist keineswegs auf den Menschen beschränkt, sondern findet sich bei Fischen, Fröschen und insbesondere bei Vögeln und fast allen Säugetieren. Hinzu kommen andere Kommunikationssysteme, z. B. Elektrokommunikation bei Fischen, visuelle Kommunikation mithilfe von Farbsignalen, Körperhaltung und Gestik bei vielen Wirbeltieren, Geruchssignale bei vielen Säugern und Mimik bei allen Säugern, die ein „Gesicht“ mit beweglichen Muskeln haben. Nichtmenschliche Primaten und viele andere Säugetiere besitzen ein multidimensionales Kommunikationssystem, mit dem sie sich über ihre Befindlichkeit, ihre individuellen und sozialen Bedürfnisse und Absichten (Kampf, Interaktion, Kooperation), die Anwesenheit von Nahrung bzw. Beute, Artgenossen oder Feinde gegenseitig informieren oder auch täuschen können (Byrne, 1995). Dies trifft natürlich auch für den Menschen zu, wenn wir an die große Bedeutung von Körperhaltung, Gestik Mimik und affektiv-emotionaler Lautäußerung in unserer Kommunikation denken. Schwieriger wird es, wenn wir an eine Kommunikation denken, die nicht ausschließlich affektiv-emotional oder auf eine spezifische Situation (Nahrung, Freund, Feind, Kampf) ausgerichtet ist. Es gibt vereinzelte Hinweise darauf, dass nichtmenschliche Primaten und eventuell auch einige andere Säugetiere Informationen über Gegenstände oder Sachverhalte übermitteln können, die nicht präsent sind, z. B. über weiter entfernte Sammelstellen, Feinde oder Futterplätze. Aber sofern solche Fähigkeiten vorhanden sind, sind diese im Vergleich zum Menschen wenig ausgeprägt. Eine Sonderstellung des Menschen zeigen auch alle Versuche, Gorillas und Schimpansen die menschliche Sprache beizubringen, indem man sie in einer menschlichen Familie, z. T. zusammen mit menschlichen Kindern aufzog. Es zeigt sich, dass die Vokalisationsmöglichkeiten der Menschenaffen aufgrund der Konstruktion ihres Kehlkopfes und Mundraumes denen des Menschen zumindest hinsichtlich menschlicher Sprachlaute weit unterlegen sind. Der Gebrauch der Taubstummensprache, künstlicher Symbole oder einer

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Computertastatur anstelle der Vokalsprache zeigte zwar, dass Menschenaffen durchaus in der Lage sind, mehrere hundert Wörter der menschlichen Sprache zu lernen und sinnvoll zu verwenden (SavageRumbaugh, 1984). Fachleute sind sich jedoch inzwischen einig, dass große Affen auch bei intensivstem Training nicht über die sprachlichen Leistungen eines zweieinhalb- bis dreijährigen Kindes hinausgehen, d. h. über das Stadium von zwei- bis drei-Wort-Sätzen. Erklärt wird dieses Defizit mit dem Fehlen eines Broca-Sprachzentrums. Wir Menschen besitzen zwei Sprachzentren, nämlich das in der Regel im oberen linken Temporallappen angesiedelte WernickeSprachzentrum, und das meist im linken Frontallappen vor dem motorischen Mund-, Lippen- und Zungenareal lokalisierte BrocaSprachzentrum (Abbildung 2b; Kolb/Wishaw, 1993). Das WernickeAreal kontrolliert nach heutiger Auffassung den Zugriff auf das „Bedeutungs-Lexikon“ für Wörter und Sätze sowie nicht-zeitgebundene Aspekte der Grammatik. Das Broca-Areal hingegen regelt die komplizierten Zugriffs- und Integrationsprozesse, die bei der Syntax, also den Merkmalen des zeitabhngigen Satzbaus, nötig sind. Das Verstehen und Produzieren menschlicher Sprache zeichnet sich durch eine hochautomatisierte und daher bewusstseins-unabhängige Anwendung vieler hundert syntaktischer Regeln aus (Friederici/Hahne, 2001). Umstritten ist, ob beide Sprachzentren echte evolutive Neuerwerbungen des Menschen darstellen. Alle bisher untersuchten Säugetierarten besitzen ein Zentrum für intraspezifische Kommunikation, das sich im Temporallappen (und zwar meist links) befindet und wahrscheinlich dem menschlichen Wernicke-Zentrum entspricht. Überdies wird argumentiert, dass der hintere Teil des menschlichen BrocaZentrums, (das Brodmann-Areal A44), und das ventrale prämotorische Areal von Makakenaffen homolog sind. Ebenso wie der hintere Teil des Broca-Areals kontrolliert das ventrale prämotorische Areal Muskeln des Gesichts und des Mundes (Preuss, 1995; 2000). Was also innerhalb der Evolution des menschlichen Gehirns wirklich neu hinzugekommen zu sein scheint, ist danach nur der vordere Teil des Broca-Areals (Brodmann-Areal 45, vgl. Abbildung 2b). Dieser evolutive Schritt könnte darin bestanden haben, dass das vorhandene Sprachvermögen mit gesteigerten Funktionen des präfrontalen Cortex zusammengefügt wurde, insbesondere hinsichtlich des Umgangs mit komplizierten Zeitfolgen, wie sie nichtsprachlich für eine komplexe Handlungsplanung notwendig sind.

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Die Voraussetzung hierfür scheint in einer Verfeinerung der Funktionen des präfrontalen Cortex beim Menschen zu liegen, zu dem der vordere Teil des Broca-Areals gehört. Es ist vorstellbar, dass sich während der Evolution des menschlichen Gehirns die Fähigkeit des Arbeitsgedächtnisses, wahrgenommene, erinnerte oder vorgestellte Ereignisse in ihrer zeitlichen Abfolge zu erfassen und zu manipulieren, beträchtlich gesteigert hat, was nicht nur komplexeres Handeln, sondern auch komplexeres Vorstellen und Denken ermöglichte. Diese Fähigkeit zum Erfassen und Manipulieren der zeitlichen Struktur realer und mentaler Ereignisse wurde im Zuge der Ausbildung des Broca-Areals offenbar auf die Steuerung des Sprachapparats ausgeweitet. Dies wiederum ermöglichte es dem Menschen, lange Abfolgen von Lautäußerungen beim Sprachverstehen und bei der Sprachproduktion zeitlich zu gliedern und zu gestalten. Dadurch konnten im Bereich der Kommunikation und auch des „Redens zu sich selber“ völlig neue Dimensionen sprachlicher Bedeutungen geschaffen werden. Wenngleich sich sprachlich-symbolische Kommunikation auch bei anderen Tieren findet, so ist doch klar, dass die Entwicklung einer grammatikalisch-syntaktischen Sprache große Vorteile bot und die geistigen und kulturellen Fähigkeiten des Menschen außerordentlich steigerte. Hierzu gehört vor allem das Setzen von Zielen und das Abwägen der Art und Weise, wie diese Ziele zu realisieren sind.

7. Willens-/Handlungsfreiheit und Motiv-Determinismus Zu Beginn dieses Aufsatzes habe ich menschliche Willens- und Handlungsfreiheit anhand dreier Fähigkeiten definiert: (1) aufgrund eigener Motive handeln können; (2) sich verschiedene Handlungsoptionen und ihre Konsequenzen vorstellen und zwischen den Optionen wählen können; (3) sich Ziele setzen und nach deren Verwirklichung streben können. Diese Fähigkeiten setzen Eigenschaften voraus, die sich während der Evolution der Säugetiere und ihres Gehirns entwickelt haben. Sie umfassen (1) eine gesteigerte Wahrnehmung der Umwelt und entsprechende Gedächtnisbildung durch die Ausbildung corticaler sensorischer Areale; (2) die Ausformung primärer motorischer, prämotorischer und supplementärmotorischer Areale, die eine sehr flexible Steuerung der Willkürmotorik (insbesondere der Hand, des Gesichts und des Sprechapparats) ermöglichen und gleichzeitig direkt in den

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Motorapparat des Rückenmarks eingreifen; (3) eine enge Verknüpfung dieser motorischen und exekutiven corticalen Areale mit den Basalganglien, die sich ihrerseits zu einem komplexen Mechanismus der Erregung und Hemmung von Handlungsakten entwickeln und unter dem Einfluss des limbischen Systems stehen; (4) eine Leistungssteigerung des dorsolateralen präfrontalen und des orbitofrontalen Cortex im Zusammenhang mit der zeitlichen Segmentierung und Manipulation realer und mentaler Ereignisse, der Handlungsplanung, des Abschätzens individueller und sozialer Folgen des Handelns und des daraus folgenden Abwägens von Handlungsoptionen; und (5) die Evolution einer syntaktisch-grammmatikalischen Sprache, die nicht nur die Effektivität der zwischenmenschlichen Kommunikation steigerte, sondern auch eine bewusste und sprachbasierte mittel- und langfristige Handlungsplanung ermöglicht. Die Schritte (1) bis (3) finden sich bei allen Säugetieren verwirklicht, wenngleich sie bei den Primaten deutlich gesteigert sind. Schritt (4) findet sich vornehmlich bei den Menschenaffen einschließlich des Menschen, und Schritt (5), nach allem, was wir wissen, nur beim Menschen. Wichtig ist, dass diese evolutiven Schritte sich gegenseitig verstärken: Eine bessere Wahrnehmung und eine verbesserte Motorik sind die Voraussetzung für eine verbesserte Steuerung von Willkürhandlungen, deren Planbarkeit durch die Weiterentwicklung von Verstand (Intelligenz, Arbeitsgedächtnis) und Vernunft (Abschätzen der mittel- und langfristigen Konsequenzen des Handelns) und schließlich einer syntaktisch-grammatikalischen Sprache enorm gesteigert wird. Dabei ist es, wie bereits betont, gleichgültig, ob diese Steigerung reiner Zufall oder das Produkt von Selektion und Mutation war. Das Ergebnis ist, dass Menschen nicht nur eine viel größere Bandbreite an möglichen Handlungen haben als andere Tiere, sondern dass sie sich mithilfe ihrer gesteigerten Vorstellungskraft mittel- und langfristige Ziele setzen, über die Realisierbarkeit dieser Ziele und ihre positiven oder negativen Konsequenzen nachdenken können. Dadurch entsteht eine faktische Freiheit des Wollens und Handelns, die sich in dieser Form nicht bei nichtmenschlichen Tieren findet. Eine solche Freiheit ist mit dem eingangs geschilderten MotivDeterminismus vereinbar, der darin besteht, dass wir dasjenige tun bzw. lassen, was unser unbewusst-bewusstes, kognitiv-emotionales Erfahrungsgedächtnis vorschreibt. Dieses Erfahrungsgedächtnis entsteht und erweitert sich durch die kontinuierliche Bewertung der individuellen und sozialen Konsequenzen unseres Handelns durch das limbische

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System. Entsprechend hat das limbische System bei allen unseren Entscheidungen das erste und das letzte Wort. Das erste beim Entstehen unserer Wünsche und Zielvorstellungen, das letzte bei der Entscheidung darüber, ob das, was Vernunft und Verstand vorschlagen, auch wirklich getan werden soll. Der Grund hierfür ist, dass alles, was Vernunft und Verstand an Ratschlägen erteilen, für die Person emotional akzeptabel sein, d. h. in ihre emotionale Erfahrung hineinpassen muss. Es gibt ein rationales, d. h. von Verstand und Vernunft geleitetes Abwgen von Handlungen und Alternativen und ihren jeweiligen Konsequenzen, es gibt aber kein rein rationales Handeln. Die Chance von Verstand und Vernunft ist es, mögliche Konsequenzen unserer Handlungen so aufzuzeigen, dass damit starke Emotionen und Motive verbunden sind, die zur Entscheidung führen. Die Persönlichkeitsstruktur eines jeden Menschen gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen er frei handeln kann.

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II. Bedingungen und Konzeptionen von Freiheit

Selbstreferentialität Die methodologischen Vorgaben der kognitiven Neurowissenschaften und das Freiheitsproblem KRISTIAN KÖCHY 1. Einleitung: „Der Beobachter als lebendes System“ Die folgenden Ausführungen sind der Erklärungskompetenz der Biowissenschaften, konkret der kognitiven Neurowissenschaften, zum Kontext der Fragen nach der „Evolution von Freiheit“ gewidmet. Wie sich zeigen wird, geht es dabei auch um die Bestimmung der Aussagekraft und der Grenzen biologischer Befunde und Deutungsansätze im Fall der Konstatierung oder Leugnung von „Willensfreiheit“. Letztlich liefern die folgenden Überlegungen jedoch auch einen Ansatz zum Verständnis der metatheoretischen Voraussetzungen einer naturwissenschaftlichen Untersuchung mentaler Phänomene insgesamt, und sie tun dieses vor dem Hintergrund eines bestimmten Verständnisses der Forschungssituation in den Biowissenschaften. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die These, dass die Forschung in der Biologie insgesamt, in den kognitiven Neurowissenschaften in besonderem Maße und mit besonderen Konsequenzen, durch ein komplexes – und je nach Forschungsgegenstand und Forschungsfrage unterschiedlich auf den Forschungsvollzug einwirkendes – Gefüge von Selbst- und Fremdthematisierung geprägt ist. Anders formuliert: Die Forschung der Biologie ist durch die Tatsache bestimmt, dass diese Wissenschaft sich mit der Untersuchung lebender Systeme beschäftigt. Dadurch besitzt sie eine prinzipiell selbstreferentielle Struktur. Nicht nur, dass die Untersuchungsgegenstände eine selbstreferentielle Organisation aufweisen,1 auch die methodologisch-episte-

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Roth definiert: „Selbstreferentielle Systeme sind solche Systeme, deren Zustände miteinander zyklisch interagieren, so daß jeder Zustand des Systems an der Hervorbringung des jeweils nächsten Zustands konstitutiv beteiligt ist.“

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mologischen Bedingungen der Untersuchung haben selbstreferentielle Qualität. Hier untersucht ein spezielles lebendes System – der Mensch – mit den Mitteln der Naturwissenschaften andere lebende Systeme.2 Wie es Humberto Maturana in seiner Biologie der Realitt formuliert: „Der Beobachter ist ein menschliches Wesen, d. h. ein lebendes System, und alles was lebende Systeme kennzeichnet, kennzeichnet auch ihn.“ (Maturana, 1998, 25) 3 Diese grundsätzlich selbstreferentielle Struktur sei mit Blick auf den Aspekt einer Befragung oder Untersuchung von Phänomenen als „Selbstthematisierung“ bezeichnet. Selbstthematisierung kann über die allgemeine Form einer wissenschaftlichen Untersuchung von Lebewesen durch das forschende Lebewesen Mensch hinaus noch spezifischere Züge tragen. Dieses ist der Fall, wenn in humanbiologischen Fragestellungen der Mensch den Menschen als lebendes System zum Gegenstand seiner Untersuchung wählt4 oder wenn in der kognitiven Neurowissenschaft gerade diejenige Fähigkeit des Menschen, sich selbst zum Thema zu machen, zum Gegenstand der Untersuchung werden soll und darüber hinaus ebenfalls wieder als ein selbstreferentieller Prozess aufgefasst wird (Singer, 1991, 96–126). Mit der methodologischen Ausrichtung auf die (selbstreferentielle) Form des methodischen Zugangs zu einem selbstreferentiellen Phänomen grenzt sich die folgende Untersuchung bewusst von rein logischen Analysen der referentiellen

2 3 4

(Roth, 1986, 157).Vgl. dazu auch Mocek (Mocek, 1990), sowie Küppers und Krohn (Küppers/Krohn, 1992, 21 ff.). „In contrast, it is difficult for biologists to deny the reality of living things. Given this insight, moreover, they can more easily recognize that they are themselves living things among living things.“ (Grene/Depew, 2004, 351). Vgl. dazu auch Fischer (Fischer, 1993, 26). Vor allem gilt das für die naturwissenschaftliche Medizin. Ein historisches Beispiel dafür ist die Präsentation dermatologischer Befunde in Form von Moulagen. Schnalke, verweist in seiner Arbeit über diese Technik auf die Ambiguität solcher Abbildungen, die einerseits dem wissenschaftlichen Ideal der Verallgemeinerung und Distanzierung folgen und die andererseits die individuellen Krankheitsmerkmale eines konkreten, historisch identifizierbaren Patienten wiedergeben sollen (Schnalke, 2001, 67 f.). Damit wird der wissenschaftlich nüchterne Blick einerseits auf die Anatomie der Krankheit gelenkt, andererseits wird dieser Blick auf „den Betrachter zurückgelenkt“. Der Beobachter ist „nicht mehr nur der neutrale wissenschaftliche Observator, sondern auch ein involviertes Subjekt, ein (Noch-)Gesunder, oder, anders gesagt, ein potentieller Patient“. Beachtenswert ist, dass diese Repräsentationsform im Zuge der Verwissenschaftlichung der Medizin zugunsten wissenschaftlich nüchterner Darstellungsformen ausgeklammert wurde (Schnalke, 2001, 69).

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oder selbstreferentiellen Struktur von Aussagen ab.5 Sie ist deshalb auch nicht als sprachlogische Analyse, sondern als methodologische Untersuchung von historischem Material aus den Biowissenschaften zu entwickeln. Der Aspekt der Selbstthematisierung wird allerdings gerade durch den methodischen Ansatz der naturwissenschaftlichen Untersuchung bewusst und gezielt ausgeblendet. Es ist das Grundcharakteristikum des Vorgehens, das wir „naturwissenschaftlich“ nennen, auf solche Zugänge zu verzichten, die als direkte Formen der Selbstthematisierung verstanden werden müssen. Der gesamte Erfolg des naturwissenschaftlichen Programms basiert auf diesem Ausschluss. Anders formuliert: Die Naturwissenschaften sind auf eine distanzierte Außenperspektive festgelegt.6 Dabei werden einerseits nur bestimmte Aspekte des natürlichen Geschehens als relevant und zugänglich erachtet – solche nämlich, die als Veränderungen in Raum und Zeit aufzufassen sind –, und andererseits nimmt der Forscher die neutrale Forschungshaltung eines externen Beobachters ein – die als Ausschluss subjektiver Vorurteile, Stimmungen, Phantasien und Einbildungen verstanden wird (Daston, 2003). Beide Aspekte werden hier zusammengefasst als „Fremdthematisierung“ bezeichnet.7 5

6

7

Etwa Shoemaker, 1981. Der Perspektivenwechsel von der Aussagenlogik zur Methodologie der wissenschaftlichen Zugänge auf Phänomene erklärt auftretende Differenzen in der Einschätzung der Bedeutung der jeweiligen Beobachtungsverfahren. Von der aussagenlogischen Perspektive Shoemakers aus ist die Berücksichtigung der Spezifität des Beobachtungsverfahrens „eine überflüssige Hypothese“, wenn es um die Frage der Erklärung von Immunisierung der Selbstzuschreibung gegen den Irrtum durch Fehlidentifikation im Falle des Wissens um sich selbst geht. Sachsse betont, dass die Naturwissenschaften auf die äußere Wahrnehmung festgelegt seien (Sachsse, 1968, 1 ff.). Naturwissenschaftliche Begründung ist demnach Bestätigung durch Beobachtung. Dennoch basiert gerade Sachsses Ansatz auf dem Zugeständnis eines prinzipiell doppelten Zugangs auf das organische Geschehen (Sachsse, 1968, 5) durch äußere und innere Wahrnehmung. Ähnlich findet sich bei Gerhardt der Verweis auf die Doppelaspektivität des Zugangs zum Leben als einerseits „innere[n] Anschaulichkeit“ und andererseits Phänomen „in der belebten Natur außer uns“ (Gerhardt, 1999, 148). Aus diesem Grund gilt: „Jede Erkenntnis des Lebens setzt nicht nur unsere Lebendigkeit, sondern zugleich auch unsere intime Anteilnahme, das Erleben voraus“ (Gerhardt, 1999, 149). Böhme hat dieses für die gesamte moderne Naturwissenschaft als kennzeichnend formuliert: „Seit Galilei gilt das methodische Sich-Fremdmachen des Menschen als Prinzip kontrollierter Forschung“ (Böhme, 1989, 127). Bischof

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Im Folgenden wird die obige These schrittweise entfaltet und belegt, indem von Phänomenen des Ausdrucks, über solche der Sinnlichkeit bis hin zum Mentalen aufgestiegen wird oder – an den entsprechenden biowissenschaftlichen Disziplinen festgemacht – indem ausgehend von den Forschungsfragen der Verhaltensforschung und der Sinnesphysiologie zur kognitiven Neurophysiologie vorangeschritten wird. Ziel dieses Vorgehens ist es, die Konsequenzen der grundsätzlich „dialektischen“ Forschungssituation an der neurowissenschaftlichen Untersuchung der Willensfreiheit aufzuzeigen. Bei diesem Durchgang wird deutlich, dass sich die Spannung zwischen Selbst- und Fremdthematisierung umso gravierender bemerkbar macht, je weiter man in den Bereich des Mentalen vordringt. Einen ersten Hinweis auf diese Tatsache liefern bereits die methodischen Schwierigkeiten, die bei dem Versuch auftreten, naturwissenschaftlich begründete Aussagen über die Metakognition von Tieren zu formulieren. Hier wirkt sich der stets nur mittelbare Charakter des naturwissenschaftlichen Verfahrens (Fremdthematisierung) einschränkend auf die Aussagekraft aus, und zur eindeutigen Interpretation der Befunde fehlen vor allem sprachbasierte Hinweise oder verbale Reports.8 Die Beziehung zwischen diesem Faktum und der genannten Struktur der biologischen Forschungssituation wird am Ende des Beitrags deutlich werden. Zunächst eine abschließende Vorbemerkung: Auf den ersten Blick könnte der oben skizzierte Ansatz eine Nähe zu lebensphilosophischen oder romantischen Positionen suggerieren und die Einwände gegen diese Konzepte heraufbeschwören. Erinnert sei exemplarisch an die zeitgenössische Kritik am lebensphilosophischen Dogma „Leben wird durch Leben erkannt“ (etwa in der Position Bergsons, 1991, 645 f.). Max Scheler macht trotz Sympathie mit lebensphilosophischen Einsichten deutlich,9 dass die Erkenntnis des Lebendigen, seiner physiolo-

8 9

hat mit Bezug auf die Humanbiologie den Ansatz einer naturwissenschaftlichen Erklärung, die von ihrem Gegenstand zurücktritt, von dem alternativen Ansatz einer auf Nähe ausgerichteten Teilnahme unterschieden (Bischof, 1970). Der naturwissenschaftliche Beobachter befinde sich in der Suche nach Erklärung stets an einem exzentrischen Ort, er stehe daneben. „Dies gilt auch dann, wenn er zugleich der Adressat seiner eigenen Erklärungen ist – dann tritt er neben sich selbst.“ (Bischof, 1970, 180). Vgl. dazu den Beitrag von Julia Fischer in diesem Band sowie Perler/Wild, 2005. „Das Tier hört und sieht – aber ohne zu wissen, daß es hört und sieht. Die Psyche des Tieres funktioniert, lebt – aber das Tier ist kein möglicher Psychologe und Physiologe!“ (Scheler, 1998, 41 f.)

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gischen und psychologischen Beschaffenheit gerade durch die Gleichsetzung mit dem Leben verunmöglicht wird. Nur dort, wo reflexive und methodische Distanz vorliege, könnten die vitalen Funktionen gegenständlich gemacht werden. In ähnlicher Weise wird dieser Einwand in den Reihen der Logischen Empiristen erhoben. So hat Moritz Schlick betont, dass das unmittelbar Erlebte uns zwar direkt bekannt sei, aber erst dann erkannt werde, wenn man in der Lage sei, eine symbolisch vermittelte Beziehung – eine intersubjektive Mitteilbarkeit – herzustellen (Schlick, 1926). Nun zielt allerdings die kognitive Neurowissenschaft nicht auf die für Schlicks Ansatz maßgebliche Analyse der „rein formale[n], jeglichen Inhaltes entkleidete[n]“ Beziehung zwischen Begriffen ab, sondern sie sucht nach den neuronalen Korrelaten bestimmter inhaltlicher Erlebnisse und Vorstellungen. Darüber hinaus wird in den modernen Lebenswissenschaften insgesamt deutlich, dass trotz aller berechtigten Einwände gegen die methodologische Bedeutung der selbst-referentiellen Beziehung zwischen lebenden Systemen für den biologischen Forschungsvollzug stets Aspekte dessen nachweisbar bleiben, was man als Konsequenz des Vorliegens einer solchen verstehen muss. Dieses belegen wissenschaftshistorische und -soziologische Studien zu Molekularbiologie und Gentechnik:10 In der Studie von Evelyn Fox Keller wird deutlich, dass selbst noch die molekularbiologische Forschungssituation durch ein „feeling for the organism“ geprägt bleibt (Fox Keller, 1995). Ähnlich haben unter wissenschaftssoziologischen Gesichtspunkten Karin Knorr Cetina (Knorr Cetina, 2002, 157 ff.) und Klaus Amann (Amann, 1994) gezeigt, dass in molekularbiologischen Laboren eine spezifisch wechselseitige Interaktion zwischen den lebendigen Forschungsgegenständen und den Forschern stattfindet,11 bei der den „Forschungsgegenständen“ unter bestimmten Gesichtspunkten ein Akteursstatus zugesprochen wird (Köchy, 2006a). Selbst wenn es sich 10 Vergleichbares gilt auch für die Verhaltensforschung Lorenz, 1992, 304 f. 11 In einem fiktiven Dialog von Karin Knorr Cetina mit einer Molekularbiologin über die spezifischen „Resistenzen“ des molekularbiologischen Forschungsgegenstandes heißt es: „KK: Ist es wie eine Person? Wie jemand, mit dem du interagierst? DS: Nein, nicht notwendigerweise eine Person. Allerdings nimmt es Aspekte der Persönlichkeit an, die fühle ich, je nachdem, ob es unkooperativ war oder nicht. Wenn es kooperativ ist, dann wird es für eine Weile mein Freund, dann bin ich glücklich und schreibe Ausrufezeichen in mein Protokoll(buch), aber später wird es dann wieder Material.“ (Knorr-Cetina, 2002, 160).

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hierbei um Anthropomorphismen handeln mag, die sich auch in anderen Forschungsfeldern und bei anderen Problemlagen finden, so ist doch – mit Knorr Cetina – zu berücksichtigen, dass diese epistemische und rhetorische Strategie im Kontext eines spezifischen biologischen Forschungsstils erfolgt, der „in der Praxis mit widerständigen Materialien und Lebewesen ausgehandelt“ (Knorr Cetina, 2002, 132) wird.

2. Verhalten – „Das Tier als Erbauer seiner Welt“ Die Spannung zwischen Selbstthematisierung und Fremdthematisierung sowie ihre Auswirkungen auf den Forschungsvollzug und die Aussagekraft biologischer Erklärungen wird bereits auf der Ebene des intersubjektiv Wahrnehmbaren, öffentlich zugänglichen Ausdrucksverhaltens deutlich und ist insofern schon in der Verhaltensforschung nachweisbar. Dieses ist für die Frage nach der Rolle der kognitiven Neurowissenschaften bei der Erklärung mentaler Phänomene insofern bedeutsam, als damit das Forschungsparadigma der experimentellen Neurobiologie klassischer Provenienz angesprochen ist.12 Wie es die Überlegungen von Eric Kandel deutlich machen, beschränkt sich die experimentelle Neurobiologie gezielt auf die Verfahren der ethologischen Verhaltensbeobachtung und des physiologischen Experiments (Kandel, 1976, 3 ff.). Zugleich nimmt sie einen Ausschluss aller Formen der Selbstthematisierung vor, wie sie etwa in der Introspektion und im übertragenen Modus in der Empathie erforderlich wären. Man setzt in der experimentellen Neurobiologie gezielt auf die Fremdthematisierung in Form einer behavioristisch verstandenen Analyse von öffentlich wahrnehmbaren und intersubjektiv vermittelbaren Ereignissen. Alleiniger Ausgangspunkt des neurobiologischen Ansatzes ist das, was Organismen machen – ihr Verhalten als ein in Raum und Zeit stattfindender Prozess (Fraenkel/Gunn, 1940). Nur das Verhalten ist dem experimentellen und messenden Ansatz zugänglich und verweist seinerseits auf strukturelle oder funktionelle Änderungen der Gewebe des untersuchten Organismus. Fragen wir zunächst, was mit dieser Vorgabe der experimentellen Neurobiologie und Verhaltensforschung eigentlich ausgeschlossen wird und betrachten dazu den Bedeutungsumfang von „Introspektion“ (Ziche, 1999, 1 ff.). Dann zeigt sich, dass es grundsätzlich zwei ver12 Vgl. zum Folgenden Köchy, 2006b.

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schiedene Lesarten und Verständnisweisen von „Introspektion“ gibt: Im ersten Fall steht „Introspektion“ für ein epistemisches Verfahren oder eine Methode der Untersuchung von mentalen Phänomenen. „Introspektion“ ist dann ein spezieller Zugang zu Phänomenen des Denkens, der sich von dem auf experimentelle Objektivierung ausgerichteten physiologischen Verfahren zur Untersuchung der Phänomene des Gehirns unterscheidet. Im zweiten Fall steht „Introspektion“ für eine Fähigkeit, bezeichnet selbst ein mentales Phnomen. So ist Introspektion, nach dem „inner sense“ Modell von Armstrong (Armstrong, 1968, 94), eine Form der „Metabeobachtung“, eine Art Metaprozess, der den Gehirnprozess der Datenaufnahme und -verarbeitung selbst zum Datum hat. Nach dem alternativen Modell von Lyons und Dretske ist Introspektion ein Spezialfall der Wahrnehmung („verschobene Wahrnehmung“, displaced perception). Nach Dretske ist Introspektion ein Prozess, bei dem Informationen über interne Zustände im Akt der Repräsentation externer Objekte gewonnen wird (Dretske, 1995, 54). Man könnte diese Einteilung erweitern, da sich nun drittens die Frage nach einer geeigneten epistemischen Strategie zur Untersuchung des Phänomens „Introspektion“ stellt. Auf diese Frage hin – und auch das ist ein Aspekt der Selbstreferenz – kann man entweder die Selbstbeobachtung oder alternativ die naturwissenschaftliche Fremdthematisierung als adäquate Untersuchungsstrategie wählen. Darüber hinaus – so in den Ansätzen der Würzburger Schule der Psychologie – kann man der Introspektion selbst den Status eines auf Objektivierung angelegten experimentellen Verfahrens zusprechen. In diesem Fall könnte sie als ein spezielles wissenschaftliches Verfahren in methodischen Kontakt mit den anderen experimentellen Verfahren der Objektivierung treten. Dieses zeigt, dass die Methode der Introspektion als eine Vergegenständlichung des Introspezierten ihrerseits wieder eine „Außenperspektive“ oder Fremdthematisierung repräsentiert. Fassen wir die Ergebnisse aus der Analyse der Begriffsverwendung von „Introspektion“ zusammen, so wird mit der methodologischen Festlegung der experimentellen Neurobiologie und Neuroethologie auf die Seite des Verhaltens also einerseits eine bestimmte Festlegung in methodischer Hinsicht getroffen, andererseits werden zugleich bestimmte Phänomene und wissenschaftliche „Gegenstände“ aus dem Zugriff der Neurobiologie ausgeklammert. In dieser Vorgabe stimmen experimentelle Neurobiologie und Verhaltensbiologie überein. Letztere hat sich als biologische Spezialdisziplin im 20. Jahrhundert in expliziter Abgrenzung von ihren tierpsychologischen Vorläufern konstituiert ( Jahn/Sucker, 2000). Eine

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genaue Analyse einzelner Elemente des Forschungsprogramms der Verhaltensforschung macht dabei deutlich, dass trotz dem betont auf Fremdthematisierung ausgerichteten Ansatz bestimmte Momente der Selbstreferentialität im Forschungsvollzug und in der Interpretation des Forschungsvollzugs nachweisbar bleiben (Cheney/Seyfarth, 1990). In Reaktion auf diese Tatsache deutet deshalb Rupert Riedel das Verhalten von Versuchsleiter und Versuchstier im Dressurversuch als wechselseitig sich beeinflussendes Kreisgeschehen (Riedel, 1980, 144 f.) und Franz M. Wuketits weitet dieses Modell auf sämtliche experimentellen Ansätze der Verhaltensphysiologie aus (Wuketits, 1973, 88 ff.). Die Konsequenzen und Grenzen des auf Fremdthematisierung oder Objektivierung setzenden verhaltensbiologischen Ansatzes werden deshalb in vielen einzelnen Forschungen deutlich. Vor allem jedoch werden sie in den daraus abgeleiteten theoretischen Konzepten erkennbar. Als ein diesbezüglich aufschlussreiches historisches Fallbeispiel13 sei die Konzeption von Jakob von Uexküll untersucht – dessen Schema des Funktionskreises (Uexküll/Kriszat, 1973, 11) sei dabei als bekannt vorausgesetzt. Im Folgenden werden die Aspekte herausgegriffen, die für die Spannung von Selbst- und Fremdthematisierung aussagekräftig sind. Dabei ist Uexkülls Forschungsansatz (Hassenstein, 2001) insofern im obigen Sinne naturwissenschaftlich, als seine Maxime lautet, dass uns

13 Die Auswahl der für diesen Aufsatz ausgesuchten Fallbeispiele (Uexküll, Purkinje und Roth) basiert auf mehreren Kriterien: Erstens wird in allen Fällen Pionierarbeit in den jeweiligen Bereichen der biologischen Forschung geleistet oder auf diese reagiert. Zweitens stoßen die Forscher in ihrer Forschung auf die genannte selbstreferentielle Struktur der Untersuchungssituation und tragen ihr praktisch und theoretisch Rechnung. Drittens verlassen die Biologen aufgrund dieser speziellen Forschungssituation die naturwissenschaftliche Fragestellung und gehen zu Überlegungen über, die in den Bereich der Theoretischen Biologie oder der Philosophie gehören. Die jeweiligen philosophischen Orientierungspunkte sind verschieden: Uexkülls Konzept zeigt Anleihen an Leibniz’ Monadenkonzept, Purkinje orientiert sich an Fichtes Modell der Tathandlung, Roth am Selbstorganisationsmodell und Autopoiesekonzept. Auch die philosophischen und methodischen Konsequenzen sind unterschiedlich. Übereinstimmend wird jedoch – und darauf wurde in den Überschriften der Teilkapitel meines Beitrags Bezug genommen – die jeweils aktive Rolle betont, die das entsprechende Untersuchungsobjekt (Verhalten, Auge, Gehirn) besitzt und die konstruktivistische Note, die damit in die methodologischen Modelle einzieht, hervorgehoben.

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die „Empfindungen“ von Tieren für immer verschlossen bleiben (Uexküll, 1973, 107). Betrachten wir jedoch in einem ersten Schritt das Bild, das aus Uexkülls Perspektive von der Beschaffenheit des Forschungsobjektes – des im Verhaltensexperiment untersuchten Lebewesens – entsteht. Das Modell des Funktionskreises besagt hier erstens, dass Lebewesen von ihren Umwelten nicht abzulösen sind. Die Reaktionen, die Tiere auf Sinnesreize hin ausführen, werden als geschlossener Regelkreis gedeutet. Ein „Rezeptor“ nimmt selektiv Informationen aus der Umwelt auf, leitet sie an ein (zentralnervöses) „Merkorgan“ weiter, die ein (ebenfalls zentralnervöses) „Wirkorgan“ zu Ausführungsbefehlen in Richtung auf einen „Effektor“ hin veranlasst. Zweitens bedeutet die feste Verkoppelung von Lebewesen mit bestimmten Eigenschaften der Umwelt, dass einerseits ihre Reaktionen als durch Umweltsituationen veranlasst interpretiert werden können, und dass diese Umwelten andererseits je artspezifisch selektive Ausschnitte einer abstrakten allgemeinen Wirklichkeit darstellen. Unter dem Aspekt dieser Selektion läuft das Modell drittens auf ein Verständnis von Lebewesen hinaus, bei denen das lebendige Individuum sowohl hinsichtlich seiner Sinneswahrnehmung, als auch seiner zentralnervösen Verarbeitung als auch seiner Verhaltensleistungen ein aktiver Erbauer und Erzeuger einer je eigenen Umwelt ist. Für die Seite der Forschungssituation in der Verhaltensbiologie und fr das Selbstbild des forschenden Menschen haben diese Überlegungen eine doppelte Konsequenz. Zunächst handelt es sich dabei um Interpretationen der Ergebnisse aus naturwissenschaftlichen Untersuchungen und damit nach der eingangs festgelegten Terminologie um Ergebnisse einer Fremdthematisierung des lebendigen Prozesses „Verhalten“. Dennoch können die aus der Modellvorstellung gewonnenen Einsichten auch im Sinne einer Selbstthematisierung des Menschen als Lebewesen fungieren (oder leiten sich selbst in Teilen aus einer solchen Selbstthematisierung ab). Man kann sie deshalb auf den Forscher übertragen und sie gelten dann auch für ihn, als ein sich in seiner spezifischen Umwelt verhaltendes Lebewesen. Demnach besitzt der Mensch entsprechend seiner biologischen Ausstattung eine spezifische epistemische Umwelt. Er verfügt über eine seinen rezeptiven und perzeptiven Fähigkeiten entsprechende perspektivische Erfassung der Gesamtwirklichkeit. Darüber hinaus ist die Umwelt des Naturforschers noch einmal als spezifizierte, durch einen Forschungsvollzug festgelegte Teilumwelt aufzufassen (Uexküll/Kriszat, 1973, 94 ff.).

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Bedenkt man dieses genauer, dann ergeben sich weitere Konsequenzen. Erstens sind die Umwelten von Tier und Mensch je unterschiedlich. Beide sind monadenhaft voneinander getrennt. Zweitens erweist sich die naturwissenschaftliche Untersuchung und Beschreibung von tierischem Verhalten als eine Möglichkeit unter mehreren – eine durch die methodologischen Vorgaben und die wissenschaftliche Tradition geprägte gerichtete Beobachtung, die bestimmte Aspekte des Beobachteten selektiv hervorhebt und anderes ausblendet (Fleck, 1983, 61 f.). Unter diesem Gesichtspunkt besitzen sowohl naturwissenschaftlich-experimentelle als auch bewusst auf die Ableitung innerer Zustände zielende Verhaltensbeobachtungen ihren jeweils durch das Forschungsprogramm bedingten blinden Fleck14. Humberto Maturana hat dieses unter Verwendung von Uexkülls Terminologie folgendermaßen ausgedrückt: Der Beobachter betrachtet Organismus und Umwelt gleichzeitig; er betrachtet jenen Teil der Umwelt als die Nische des Organismus, den er als in dessen Interaktionsbereich liegend beobachtet. Mit Bezug auf den Beobachter erscheint die Nische daher als ein Teil der Umwelt, für den beobachteten Organismus stellt die Nische hingegen den gesamten ihm zugehörigen Interaktionsbereich dar. […] Nische und Umwelt überschneiden sich daher nur in dem Maße, in dem der Beobachter (einschließlich seiner Instrumente) und der Organismus vergleichbare Organisationen besitzen. (Maturana, 1998, 28 f.)

Diese Überlegung macht zudem deutlich, dass jede der methodenrelativen Deutungen von tierischem Verhalten stets nur vor der Folie des menschlichen Selbstverständnisses erfolgen kann, der genuin menschlichen Umwelt also.15 Alle Deutungsversuche, die der Forscher im

14 In diesem Sinne verweist Konrad Lorenz auf die Einschränkungen der experimentell vorgehenden „mechanistischen“ Strömung in der Verhaltensforschung, die Tiere nur unter der experimentellen Bedingung einwirkender Außenreize betrachtet und so nicht sieht, „was Tiere von selbst tun“, so dass sie deren „Spontaneität“ missachtet (Lorenz, 1992, 296 ff.). Umgekehrt kennen die „vitalistischen“ Ansätze zwar das Phänomen der Spontaneität, ihnen fehlt jedoch der Blick für die „vernünftige[n] physiologische[n] Schlüsse“, weshalb sie das Phänomen als unerklärbar einstufen. Ein aktuelles Beispiel für die methoden- und theorienrelative Blindheit bei der Durchführung und Deutung von Verhaltensexperimenten nennt Juan D. Delius (Delius, 1990, 118). 15 „Befindet sich ein Beobachter einem Tier gegenüber […] so muss er sich vor allem darüber klar sein, dass die Merkmale, aus denen sich die fremde Welt zusammensetzt, seine eigenen Merkmale sind und nicht aus den Merkzeichen

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verhaltensbiologischen Experiment zur Erklärung tierischen Verhaltens vornimmt, haben damit ihre epistemologische Grenze in der monadenhaften Struktur tierischer und menschlicher Umwelten. Diesbezüglich gilt der Ansatz von Thomas Nagel in vollem Umfang: Wir können nie wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein (Nagel, 1981). In vielen Fällen jedoch – so etwa auch in Nagels Ideal der Perspektivenunabhängigkeit der Wissenschaft (Nagel, 1981, 267) oder in Uexkülls Wissenschaftsbild (Uexküll, 1973, 107) 16 – wird der methodische Vollzug der Naturwissenschaften als ein Vademecum gegen die nur ausschnitthafte und perspektivische Erfassung der Wirklichkeit verstanden. Man blendet damit die auch dem wissenschaftlichen Zugang eigene denkstilhafte Charakteristik aus. Vernachlässigt man jedoch in diesem Sinne den methodenrelativen Charakter der naturwissenschaftlichen Erfassung von Verhaltensleistungen, dann müsste angesichts der obigen Festlegung der Naturwissenschaften auf die Fremdthematisierung ein ganz anderes Bild des Lebewesens und damit auch des Menschen entstehen, als es sich in Uexkülls Konzept des „aktiven Gestalters“ darstellt. Konzentriert man sich auf den Aspekt der Fremdthematisierung, dann ist die Verhaltensbiologie der Versuch, tierisches Verhalten auf öffentlich wahrnehmbare und intersubjektiv vermittelbare Eigenschaften, also etwa Bewegungen in Raum und Zeit, zu reduzieren. In diesem Sinne ist es der methodische Ansatz der Verhaltensphysiologie, durch Analyse experimentell untersuchter, also gemessener, Verhaltensweisen die physiologischen Mechanismen aufzuklären, die diesem Verhalten zugrunde liegen. Damit wird das tierische Verhalten zum mathematisch messbaren und mechanisch erklärbaren Vollzug. Unterschlägt man nun den methodenrelativen Charakter dieses Ansatzes, dann ist mit diesem Ergebnis die „volle Wahrheit“ über die Beschaffenheit von Lebewesen ausgedrückt. Bei der Anwendung auf den Menschen muss diese Konzeptualisierung folglich auch den Menschen als sich verhaltendes Lebewesen adäquat und vollständig beschreiben. In diesem Fall sind auch dessen Verhaltensäußerungen rein physiologische Ereignisse des Körpers. Wäre damit jedoch die reine und vor allem volle Wahrheit ausdes fremden Subjekts entstanden sind, die er gar nicht kennen kann.“ (Uexküll, 1973, 104) 16 Aber einschränkend: „Trotzdem werden wir nie außer Acht lassen, dass wir, solange wir Biologie treiben, niemals unseren Posten als außenstehende Beobachter verlassen dürfen.“ (Uexküll, 1973, 110)

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gedrückt, dann stellte sich schon auf dieser Ebene der Analyse die Frage, woraus sich diese epistemischen Geltungsansprüche der naturwissenschaftlichen Verhaltensanalyse – als Elemente der „Welt der Gründe“ – ableiten ließen. Das Verhalten und die (als Verhalten zu deutende) Erstellung von Theorien des Verhaltensforschers wären dann ebenfalls nur Vollzüge in Raum und Zeit. Es stellte sich darüber hinaus konkret am Fallbeispiel von Uexküll die Frage, wie man auf der Basis der verhaltensbiologischen Analyse zum Konzept des „aktiven“ Gestalters kommen kann. Geht man dieser Frage nach, dann wird deutlich, dass Uexkülls Theorie ohne die Einbeziehung der Qualitäten spezifisch menschlicher Wahrnehmungserlebnisse sowie den Rückschluss von den Umwelten der Tiere und deren Merkmalen auf analoge Qualitäten im tierischen Erleben nicht auskommen kann (Uexküll, 1973, 110).

3. Sinnlichkeit – „Das Auge als Künstler“ An diesen Befund kann der zweite Schritt der Untersuchung in Form eines skizzenhaften Abrisses der Geschichte der naturwissenschaftlichen Analyse der Sinneswahrnehmungen anschließen. Dabei wird die eine Seite von Uexkülls Funktionskreis genauer fokussiert – die Seite der Rezeptoren und die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer naturwissenschaftlichen Untersuchung von Sinnesleistungen bei Tier und Mensch. Diese Frage wurde in der Phase vor der Entwicklung von Fechners Psychophysik im 19. Jahrhundert brisant und ist – denkt man etwa an die Theorie von Humberto Maturana – noch heute für die philosophische Reflexion über die Bedingungen der Sinnesphysiologie einschlägig. Sie prägt beispielsweise auch die These vom selbstreferentiellen Gehirn und seiner Umwelt.17 Erneut handelt es sich um ein Problemfeld, das auf die Ansätze der kognitiven Neurowissenschaften vorausweist, weil in diesen Bereich Fragen nach dem sensorischen Erlebnisbewusstsein fallen und die Beziehung zwischen sinnespsychologischen und sinnesphysiologischen 17 „Niemand hat eine Erklärung dafür, wie aus diesen Erregungszuständen [im Sinnesorgan Auge K.K.], wie komplex sie auch sein mögen, visuelle Empfindung wird. Wir sind aber berechtigt anzunehmen, daß diese Empfindung ihren Inhalten nach durch eben die interne zirkuläre Bedeutungszuweisung entsteht, d. h. jede Komponente in diesem System definiert die spezifischen Eigenschaften aller anderen Komponenten.“ (Roth, 1986, 171)

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Ansätzen oder zwischen subjektiver Erfahrung eines Sinneserlebnisses und dem Versuch, dafür ein naturwissenschaftlich fassbares Korrelat zu finden. Auch mit diesen Aspekten ist ein komplexes philosophisches Problemfeld verbunden.18 Fokussiert man dazu auf das Auge, dem seit Platons Sonnengleichnis analogieträchtigsten Sinnesorgan für epistemische Bedingungen ( Jonas, 1973, 198 ff.), dann beginnt dessen physiologische Erforschung im 19. Jahrhundert im Umkreis von Johannes Müllers Schrift Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns des Menschen und der Tiere (1826) und sie reicht bis zur aktuellen – paradigmatisch durch die Arbeiten von Hubel und Wiesel zur Organisation des visuellen Systems und des Sehkortex geprägten – systemischen Analyse der Struktur und Funktion des Sehsystems. Die naturwissenschaftliche Erforschung basiert anfangs auf vergleichenden Studien des histologischen und anatomischen Aufbaus des Sehsystems. Es folgt eine experimentellquantitative Untersuchung unter psychophysischen Vorzeichen. Dabei geht es vor allem darum, Empfindungsstärken zu quantifizieren, indem man messbare Relationen zwischen Erlebnissen und „physikalischen“ Reizgrößen herstellt. Ein weiteres methodisches Standbein ist der Einsatz und Ausbau des verhaltensphysiologischen Repertoires zur Untersuchung von Sinnesleistungen bei Tieren. Schließlich sind die Möglichkeiten der elektrophysiologischen Messung der Aktivität von Sinnes- und Nervenzellen sowie systemneurobiologische Ansätze zu nennen. Die Bedingungen der immanenten Selbstreferentialität der naturwissenschaftlichen Untersuchung der Sinnesleistungen des Auges lassen sich wieder am historischen Fallbeispiel demonstrieren. Wenden wir uns dazu der Phase zu, in der noch keine naturwissenschaftlichen Routinen in der Untersuchung der Sinnesleistungen bestanden, und blicken auf den Beginn der Sinnesphysiologie des Auges zurück. Hier fällt ein Forscher auf, dessen Ansatz wegen seiner vielfältigen Implikationen für die These der selbstreferentiellen Struktur des biowissenschaftlichen Forschungsvollzugs aufschlussreich ist: Jan Evangelista Purkinje (1787 – 1869). Purkinje verstand sich als Naturwissenschaftler und 18 Es handelt sich um die Qualia-Debatte und die in ihrem Zusammenhang erhobene These einer „Erklärungslücke“. Auf die umfängliche Diskussion zu den einschlägigen Gedankenexperimenten, von invertierten Spektren bis zu abwesenden Qualia, kann und soll hier nicht näher eingegangen werden. Erneut geht es lediglich um den Nachweis einer Spannung zwischen Selbst- und Fremdthematisierung, die sich aus der selbstreferentiellen Struktur des biologischen Forschungsvollzugs auf der Ebene des Sinnlichen ergibt.

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Physiologe und sah seine Aufgabe darin, den Erscheinungen der Sinneswahrnehmungen methodisch nachzugehen (Purkinje, 1951). Zu seinem heuristischen Arsenal rechnete er allerdings auch die subjektive Empirie, also das innere Erleben der eigenen Sinneswahrnehmung.19 Der methodische Einsatz von Selbstbeobachtung zur Untersuchung der Sinnesleistungen des Auges zeigt, dass auch in den Anfängen der Erforschung der Sinnlichkeit Momente der Selbstthematisierung im Kontext der auf Fremdthematisierung ausgerichteten Programmatik der Naturwissenschaften nur bedingt ausgeblendet wurden. Grundsätzlich gilt auch hier: Der Mensch untersucht sich selbst hinsichtlich seiner Fähigkeiten, Sinneswahrnehmungen zu haben. Bei aller Hervorhebung der Möglichkeiten der Selbstbeobachtung erfolgt jedoch die Untersuchung Purkinjes zugleich unter Berücksichtigung der naturwissenschaftlichen Vorgaben einer Fremdthematisierung. Dieses belegt etwa der deutlich herausgestellte experimentelle Charakter von Purkinjes Untersuchungen sowie der Anspruch einer Kontrolle über die Phänomene (Purkinje, 1951, 31). In dieser Kombination von Selbst- und Fremdthematisierung stehen mit Blick auf die Selbstbeobachtung Verfahren und Phänomen erneut in einer selbstreferentiellen Beziehung zueinander. Purkinje bezeichnet diese partielle Selbstbezüglichkeit als „Heautognosie“. Die Sinne und ihre Erscheinungen sind der Untersuchungsgegenstand, die Methode der Untersuchung ist die gezielt befragende Selbstbeobachtung. Es sollten dabei die Erlebnisse beim Sehen von Gegenständen sowie das Sehen selbst mittels einer dem Sehen analog gedachten Beobachtung erfasst werden. Das gesuchte Vermögen ist jedoch für Purkinje nicht immer schon gegeben, sondern ist vielmehr eine Kunst, deren Einsatz lange Übung und eine willentliche Beherrschung der Wahrnehmungstätigkeit erfordert. Interessanterweise entsteht von diesem Ansatz aus ein ähnliches Bild des Untersuchungsgegenstandes wie bei Uexküll. Wie für jenen das Verhalten in einer Umwelt, so wird für Purkinje das Sehen zur aktiven Gestaltung der Wirklichkeit. Reizübertragung, Empfindung und Wahrnehmung gelten nicht mehr wie in den mechanistischen Modellen der angelsächsischen Empiristen als passive mechanische Ereignisse, die 19 Dieses macht bereits seine Dissertation Beitrge zur Kenntnis des Sehens in subjektiver Hinsicht (1819) deutlich, die im Ansatz nicht nur Goethes Farbenlehre entspricht, sondern auch auf die im Kontext der These der „spezifischen Sinnesenergie“ stehenden Selbstversuche von Johannes Müller voraus weist (vgl. Rothschuh, 1968, 221; Geus, 2000, 352).

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auf Reizeingänge erfolgen, sondern vielmehr als aktive Gestaltungsweisen. Das Sehen wird in seiner grundsätzlichen Eigenaktivität und Autonomie anerkannt und von Purkinje unter Bezug auf Fichtes Konzept der Tathandlung gedeutet. Wie für Uexküll das sich verhaltende Tier zum Erbauer und Erzeuger einer Welt wird, so wird für Purkinje das Auge zum Künstler (vgl. Müller-Tamm, 2001, 157). Gesteht man jedoch diese gestalterische Leistung des Auges zu, dann gilt für die Selbstbeobachtung des Sehens im Fall von Purkinjes Ansatz das Gleiche, wie es oben für die naturwissenschaftliche Verhaltensbeobachtung festzustellen war. Auch die Untersuchung des Auges und seiner Leistungen mittels eines dem Sehen analogen Verfahrens ist ein methodenrelativer gestaltender Akt. Damit ist für die Seite des Beobachters und seiner Methodik zu konstatieren, dass es sich bei der Selbstbeobachtung um ein konstruktiv-selektives Verfahren handelt und nicht um ein „reines“ Sehen wie es Purkinje meinte. Die Heautognosie, als ein „Sehen des Sehens“, birgt stets die Gefahr einer subjektiven Verfremdung und Färbung des zu untersuchenden Phänomens. Diese „Subjektivität“ des Verfahrens ist für die Gegner des Ansatzes ein Grund dafür, auf den Zugang der Selbstbeobachtung in der Sinnesphysiologie zu verzichten. Stattdessen setzten sie allein auf objektivnaturwissenschaftliche Untersuchungsmethoden. Erneut gilt der naturwissenschaftliche Ansatz als Vademecum für die Gefahr einer anthropomorphen oder subjektiven Verfälschung der Daten. Allerdings lässt sich mutatis mutandis auf der Ebene der Sinnlichkeit Ähnliches feststellen wie bei der Untersuchung des Verhaltens. Auch die als Alternative zur Selbstbeobachtung propagierten naturwissenschaftlich-objektiven Ansätze unterliegen in ihrem Vollzug den besonderen Bedingungen der Selbstreferentialität. Zumindest lassen sich bei ihnen selbstreferentielle Effekte nachweisen. Dieses belegt die Untersuchung der als Alternative genannten naturwissenschaftlichen Ansätze: Für den anatomischen und histologischen Ansatz zeigt Jutta Schickores Studie, dass auch hier Auge und Sehen „zugleich Mittel und Thema“ der Untersuchung sind (Schickore, 2001, 165). Erneut betrifft die „selbstreferentielle[n] Struktur der ,empirischen Wissenschaft vom Sehen‘“ (Schickore, 2001, 167) das Verhältnis zwischen Untersuchungsobjekt (dem Sehsinn) und Untersuchungsverfahren (Analyse mittels des Mikroskops). Hinsichtlich der Ausdeutung der Selbstreferentialität treten allerdings deutliche Veränderungen ein. Die Mikroanatomen identifizieren das Sehorgan mit einem optischen Instrument und lehnen zugleich Purkinjes Lehre von der organischen Eigenge-

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setzlichkeit des Sehens vehement ab. Nun gelten sowohl Sehorgan als auch optisches Instrument als durch mathematisch-physikalische Gesetzmäßigkeiten bestimmt. Die Momente der „Eigengesetzlichkeit“ des Sehens – seit Johannes Müller als subjektive Gesichtswahrnehmung zusammengefasst – können allerdings auch bei diesem Ansatz nicht vollkommen ausgeschaltet werden, nur erklärt man sie nun zu Täuschungen und schreibt den Fehler nicht dem (naturwissenschaftlich beschreibbaren) Prozess des Sehens selbst zu, sondern verweist sie in den Bereich fehlbarer Urteils- und Einbildungskraft (vgl. dazu auch Daston, 2003, 99–126). Analoges gilt für die neuro- und sinnesphysiologischen Untersuchungen. Im Zeithorizont der beiden vorhergehenden Beispiele bleibend, kann man auf die Selbstversuche Johann Wilhelm Ritters und Alexander von Humboldts zur Erklärung der Bioelektrizität verweisen. Nach Olaf Breidbach gilt hier: „Sie registrieren dabei nicht nur einfache motorische Muster. Sie beschreiben ihr Empfinden, in dem diese Elektrizität sich in ihrem Körper abbildet.“ (Breidbach, 2005, 33 f.) So verwundert es nicht, wenn es gerade die selbstreferentiellen Bedingungen der Untersuchung sind, die frühe Vertreter der Elektro- und Sinnesphysiologie zur Zurückhaltung hinsichtlich der Analysierbarkeit mentaler Phänomene veranlassten. Emil Du Bois-Reymonds berühmtes „Ignorabimus“ (Du Bois-Reymond, 1961, 39 ff.) steht dafür, dass die Erforschung von Auge und Gehirn mit physikalischen Methoden eben nur zu physikalisch formulierbaren Ergebnissen führen wird. Die Kluft zur subjektiven Seite der erlebten Wahrnehmungen, Emotionen und Gedanken wird hier für überbrückbar erklärt. Auch das seit den Ansätzen Webers und Fechners angewandte Verfahren der Psychophysik muss als „objektivierende“ naturwissenschaftliche Antwort auf Purkinjes Selbstbeobachtung verstanden werden. Für elementare Empfindungsvorgänge, wie das subjektive Empfinden von Schwere (später durch Stevens auch die Wahrnehmung von Helligkeit), gelingt es hier durch eine spezielle experimentelle Versuchsanordnung und die geschickte Konzentration auf die kleinsten erkennbaren Reizunterschiede,20 ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Sinnesempfindungen und Reizsituation zu konstatieren und in seiner mathematischen Regelmäßigkeit zu erfassen. Allerdings ist auch für diesen Fall die Selbstreferentialität nachzuweisen. So führt der neue 20 Zum Verfahren vgl. Campenhausen, 1981, 29 f.; zur philosophischen Bedeutung im Kontext der Debatte um das Autopoiese-Konzept Riegas, 1990, 102 ff.

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Ansatz für Fechner lediglich zwei Standpunkte21 zusammen – den „äußern Standpunkt“ der Naturwissenschaft, in der mein Gehirn und Sehnerv „äußerlich in Form einer weißen schwingenden Nervenmasse“ (Fechner, 1901, 137) erscheinen, und den „innern Standpunkt“ der Selbsterscheinung, in der wir „den Namen Gehirn und Sehnerv nicht mehr für die Erscheinung brauchen“.22 Aus den genannten Gründen sind sich noch heutige Vertreter der biologischen Psychophysik darüber im Klaren, dass vor allem diejenige Kritik an psychophysischen Theorien ernst zu nehmen ist, die darauf abzielt, dass sie nicht beweisbar sind, „weil das wahrnehmende Subjekt zwar die Regelhaftigkeit der Wahrnehmungsvorgänge ergründen, nicht aber sich selbst zum Gegenstand der Untersuchung machen kann“. Das Subjekt kann demnach nicht gleichzeitig und unabhängig Beobachter und Objekt der Beobachtung sein (Campenhausen, 1981, 4). Hier wird deutlich, dass auch das psychophysische Experiment durch eine spezifische Inanspruchnahme von Introspektion und Selbstbeobachtung ausgezeichnet ist und sich in dieser Hinsicht von einem physikalischen Experiment unterscheidet (Wellek, 1955, 184). Dieses äußert sich u. a. darin, dass die Notwendigkeit der „Instruktion“ der Versuchsperson durch den Versuchsleiter keinerlei Analogie in physikalischen Experimenten hat. Darüber hinaus bleibt zu bedenken, dass die im psychophysischen Experiment nachweisbare Korrelation vor allem den Zusammenhang zwischen physikalischen Merkmalen der Reizsituation und elementaren 21 Fechner konzipiert ein analoges Gedankenexperiment, wie wir es unten bei Roth erläutern werden (Fechner, 1901, 129–179): Ein externer Beobachter kann bei einem äußeren Blick auf das Gehirn eines anderen keine Gedanken und Empfindungen wahrnehmen und ein Empfindender und Denkender kann keine physischen Bewegungen im Nervensystem empfinden (Fechner, 1901, 132 f.) Daraus leitet sich die Unterscheidung von äußerem und innerem Standpunkt ab (Fechner, 1901, 134). Körper und Geist sind deshalb nach dem Standpunkt der Auffassung oder Betrachtung verschieden (Fechner, 1901, 135). 22 Der dem Parallelismus anhängende, frühere Naturphilosoph konstatiert: „So macht der doppelte Standpunkt der Betrachtung die Erscheinung immer verschieden und unterscheiden wir immer das Geistige, Psychische und Leibliche, Physische danach, ob wir die Erscheinung als eigene innere Selbsterscheinung oder als Erscheinung eines andern fassen.“ (Fechner, 1901, 137) Und weiter heißt es über die Selbstreferentialität der Situation: „Sieht einer Teile seines eigenen Leibes, ist’s doch nur mit andern Teilen seines Leibes, also vermöge einer Gegenüberstellung des Wahrnehmenden und Wahrgenommenen, die in ihm eintritt und über welche das Ganze in höherer Selbsterscheinung hinweggreift“.

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subjektiven Empfindungen aufzeigt und unter Laborbedingungen erfolgt. Bei komplexeren Wahrnehmungsvorgängen – so weiß man seit der Gestaltpsychologie – sind die Verhältnisse nicht so einfach. Sie stellen sich nicht als Summation dieser elementaren Empfindungsprozesse dar, sondern sind vielmehr komplexe Integrationsprodukte, die dann etwa Maturana und Varela auf der Basis ihrer Untersuchungen der integrativen Prozesse in den retinalen Ganglienzellen der Tauben zu der – wohl einseitigen – These der operationalen Geschlossenheit des selbstreferentiellen Nervensystems veranlassten.

4. Kognition – „Das Gehirn als Konstrukteur“23 Mit dem obigen Verweis auf die Theorien von Maturana und Varela ist die Grenze zwischen Sinnlichkeit und Kognition überschritten. Setzen wir unsere Untersuchung deshalb weiter auf der Ebene des Mentalen fort. Hier ist der Punkt erreicht, an dem die menschliche Fähigkeit zur Selbstthematisierung (Selbsterfahrung, Selbstbewusstsein, Selbsterkenntnis) direkt zum Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung gemacht werden soll. In Anlehnung an das evolutionsbiologische Forschungsprogramm werden hierbei zunächst komplexe Verhaltensleistungen des Menschen als Weiterentwicklungen einfacherer tierischer Verhaltensleistungen verstanden. Diese gelten deshalb mit demselben methodischen Arsenal und vor dem Hintergrund des gleichen Forschungsprogramms als zugänglich, das auch für die Untersuchung einfacher tierischer Verhaltens- und Sinnesfunktionen eingesetzt wurde. Darüber hinaus werden dann auch die mentalen Korrelate der komplexen menschlichen Verhaltensleistungen als durch das naturwissenschaftliche Verfahren zugänglich erachtet. Kandel, Schwartz und Jessell betonen, es sei das Forschungsziel der kognitiven Neurowissenschaften, die interne Repräsentation mentaler Ereignisse zu untersuchen (Kandel et al., 1996, 327). Es geht um die Etablierung eines naturwissenschaftlichen Zugangs zu den bisher im Vollzug der Fremdthematisierung explizit ausgeklammerten Phänomenen. Nun sollen die charakteristischen erlebten Begleitzustände von Wahrnehmen, Erkennen, Vorstellen, Erinnern und Handeln auf bestimmte neuronale Bedingungen zurückgeführt werden (Roth/Menzel, 1996, 554; 557). 23 Die folgende Argumentation basiert auf meinen Ausführungen in Köchy, 2006b, c.

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Es ist bezeichnend für die innere Dialektik dieses Vorhabens, dass die Resultate des Versuchs, einen naturwissenschaftlichen Zugang zu den Prozessen der Selbstthematisierung zu gewinnen, derzeit zu dem Ergebnis führen, dass, vor dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Befunde, das Selbstbewusstsein und der freie Wille (Wegner, 2002) vielfach als bloße Illusion oder als bloßes Konstrukt erscheinen. Die Neurowissenschaften provozieren das alltägliche Selbstverständnis des Menschen, indem sie etwa an der Existenz eines „Ich-Kerns“ als dem stabilen Referenzpunkt aller unserer Vorstellungen zweifeln (Singer, 2003, 56). Das „ich denke“, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss, wird zur bloßen Illusion (Blackmore, 2005; Roth, 2003, 396). Wieder rückt allerdings erst der Blick auf die selbstreferentielle Struktur der neurobiologischen Forschungssituation die genannten Befunde und deren Deutung in das richtige Licht. Man hat im Sinne der bisherigen Ausführungen zu berücksichtigen, dass auch in der kognitiven Neurobiologie von Menschen unter naturwissenschaftlichen Voraussetzungen bewusste Handlungen im Labor vollzogen werden, deren Ziel es ist, die Bedingungen von Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Willensfreiheit zu untersuchen und zu erklären. Einerseits entsteht damit eine bestimmte selbstreferentielle Beziehung im Sinne der Selbstthematisierung zwischen Forscher und „Forschungsgegenstand“, andererseits ist die methodische Haltung des Ansatzes weiter durch die Position der Fremdthematisierung, also den Ansatz der „objektiven“ naturwissenschaftlichen Distanz bestimmt. Die Neurobiologen sind sich dieser selbstreferentiellen Struktur ihrer Forschungsbedingungen durchaus bewusst. Als Fallbeispiel diene Gerhard Roth (Roth, 1997, 314–363; 2003, 395 ff.),24 der an vielen Stellen seiner Arbeiten unter konstruktivistischen Prämissen eine Modifikation von Fechners Gedankenexperiment entworfen hat. Er widmet sich hier den Bedingungen, die vorliegen, wenn ich (mittels meines Gehirns) mich selbst (mein Gehirn) in der Außenperspektive betrachte. Bei dieser „Selbstbeobachtung“ ist das Subjekt der Betrachtung („Ich“) in der Sphäre des betrachten Objekts (das von mir beobachtete Gehirn als „meins“) offensichtlich nicht aufzuweisen. Gleiches gilt auch für die neurowissenschaftliche Analyse dieses (meines) Gehirns durch mich (als Forscher). Umgekehrt setzt jedoch gerade die neurowissenschaftliche Theorie voraus, dass das betrachtete und neurobiologisch erforschte 24 Vgl. dazu die Überlegungen und Einwände von Eidam, 2006, 282 ff.

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Gehirn diejenige biologische Instanz ist, die für die Existenz der Vorstellung, ein Subjekt zu sein, verantwortlich ist und die auch die Fähigkeit, Beobachtungen zu machen oder wissenschaftliche Analysen durchzuführen ursächlich bedingt. Roth versucht, diesem Dilemma zu entgehen, indem er eine terminologische Differenzierung einführt. Er unterscheidet die Sphäre des betrachtenden und experimentell handelnden Subjekts als „Wirklichkeit“ von der Sphäre der natürlichen Objekte (wie Gehirne und Neuronen) als „Realität“. In der Sphäre der Wirklichkeit sind alle Gegenstände stets nur „für mich“ (d. h. phänomenal und ideell). Die realen neuronalen Strukturen und Funktionen des Gehirns hingegen bringen alles Wirkliche („mich“ und die „für mich“ existierenden Objekte) allererst hervor. Die meine Wirklichkeit erzeugende Tätigkeit weist Roth dem „realen Gehirn“ zu. Das reale Gehirn unterscheidet sich nach dieser Disjunktion kategorial von allen durch das Gehirn hervorgebrachten Phänomenen. Dieser Unterschied betrifft auch das von mir beobachtete Gehirn (als „meins“) des obigen Gedankenexperiments, das Roth als „wirkliches Gehirn“ dem „realen Gehirn“ gegenüber stellt. Nach dieser Überlegung ist das „reale Gehirn“ jedoch meinem (phänomenalen) Zugang grundsätzlich enthoben, der sich immer nur auf das beobachtete, wirkliche Gehirn beziehen kann. So erklärt sich das obige Postulat einer „Illusion“ der Existenz des „Ich“. Nach Roth ist das reale Gehirn Produzent der Sphäre der Wirklichkeit, in der ein „Ich“ allein vorkommen kann. Alle dem „Ich“ zugeschriebenen Eigenschaften – wie Freiheit oder Autonomie – machen nach diesem Ansatz nur innerhalb der Sphäre der Wirklichkeit Sinn. Da aber diese Sphäre vom realen Gehirn hervorgebracht ist – also dessen Konstrukt darstellt –, sind auch alle Eigenschaften dieses Ichs Konstruktionen, und das Ich selbst ist nicht der reale „Autor meiner Handlungen“ (Roth, 1997, 331). Die vorgeschlagene Lösung hebt allerdings die grundlegende Dialektik im Gegensatz zu Roths Hoffnung keinesfalls auf. Man bedenke folgendes – und hier kann ich mich auf die Ausführungen von Heinz Eidam (Eidam, 2006, 283) beziehen: Das nicht Objekt der Betrachtung werden könnende „reale Gehirn“ ist nach Roth realer Grund der ideellen Wirklichkeit. Es ist Konstrukteur dieser Wirklichkeit und besitzt als Ursache der phänomenalen Wirklichkeit transphänomenalen Charakter. Andererseits handelt es sich jedoch bei der Annahme der Existenz eines realen Gehirns (durch Roth) um eine Setzung. Eine solche Setzung kann aber nur innerhalb der Sphäre der Wirklichkeit

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vorgenommen werden, und das wirkliche Gehirn wird dann zum Konstrukteur der Annahme des ontologischen Status des realen Gehirns. In dieser dialektischen Konsequenz wird deutlich, dass alle Modellvorstellungen und Postulate der kognitiven Neurowissenschaften – so auch die naturwissenschaftliche Vorstellung, das neuronale Geschehen des Gehirns bedinge die Entstehung der phänomenalen Wirklichkeit des „Ichs“ und seiner Eigenschaften – eben den Status von Vorstellungen haben und insofern wieder in die Sphäre des „wirklichen Gehirns“ (nach Roth) fallen. Betrachten wir deshalb im Folgenden die Konsequenzen der selbstreferentiellen Struktur der Forschungssituation in der kognitiven Neurowissenschaft, indem wir sie auf die Ergebnisse und Konsequenzen dieser neurowissenschaftlichen Forschung rückbeziehen. Dazu diene exemplarisch die obige Behauptung, das Konzept der Willensfreiheit basiere auf einer Illusion oder sei eine nachträgliche Selbstkonstruktion. Wieder gilt es, zwei sich ergänzende Aspekte zu unterscheiden: Die Situation auf Seiten des Forschers und seines Vorgehens und die Situation auf Seiten des „Untersuchungsgegenstandes“, d. h. des Probanden, dessen Gehirn mit neurobiologischen Methoden hinsichtlich seiner neuronalen Aktivität während einer kognitiven Verhaltensleistung untersucht wird. Es gilt weiter zu berücksichtigen, dass beide Seiten erneut in einem selbstreferentiellen Verhältnis zueinander stehen. Für die Seite des Forschers hat Michael Heidelberger in einer überzeugenden Replik auf die neurobiologischen Einwände gegen die Existenz der Willensfreiheit gezeigt, dass die experimentellen Untersuchungsverfahren der Neurobiologie die geleugneten Eigenschaften des Menschen selbst wieder notwendig voraussetzen (Heidelberger, 2005). Für die Umsetzung und Auswertung eines Experiments in der kognitiven Neurowissenschaft müssen dem Neurowissenschaftler diejenigen Vermögen zugeschrieben werden, die er auf der Basis seiner Befunde glaubt leugnen zu können: die Fähigkeit, zwischen Handlungsalternativen zu wählen (Wahlfreiheit), die Fähigkeit, die eigenen Handlungen selbst zu bewirken (genuine Urheberschaft) und die Fähigkeit, sich als handelnde Wesen zu begreifen (reflexiv kognitive Fähigkeit). Ein neurowissenschaftliches Experiment, als freie Handlung verstanden, setzt somit notwendig das Ausprobieren von alternativen Möglichkeiten, die bewusste Kontrolle von Parametern und Störgrößen sowie die Reflexion über die experimentelle Handlung voraus. Für die Seite des Forschungsgegenstandes zeigen die Einsichten der Kognitionsforscher Jack und Shallice, dass in allen Verfahren der ko-

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gnitiven Neurobiologie die bisher ausgeblendete Dimension der Introspektion – das private Erleben aus der Perspektive der ersten Person – sowie deren Vermittlung über verbale Protokolle implizit wieder eine entscheidende Rolle in der Forschung spielen müssen ( Jack/Shallice, 2001). Es werden Aussagen und Hinweise der Probanden über deren inneres Erleben benötigt, damit der Experimentator überhaupt einen Anhaltspunkt dafür bekommt, welches Phänomen er gerade mit seinem experimentellen Instrumentarium untersucht – das Fehlen einer solchen Möglichkeit ist das eingangs erwähnte Manko aller Fragen zur tierischen Metakognition. Die Introspektion erfüllt nach diesem Verständnis nicht nur Funktionen bei der Hypothesenbildung (Oeser/Seitelberger, 1995, 167), sondern sie ist vielmehr ein maßgebliches Moment bei der Hypothesenprfung. Nun gibt es hinsichtlich des epistemischen Status der Introspektion und der intersubjektiven Mitteilbarkeit des Introspezierten zwei mögliche Positionen (Carrier/Mittelstrass, 1989, 193 ff.): Die eine geht davon aus, dass sich subjektive oder private Erlebnisse prinzipiell eines sprachlichen Ausdrucks entziehen. Dieses würde allerdings bedeuten, dass sie jeglicher Form einer verallgemeinernden, intersubjektiven Erörterung in naturwissenschaftlicher oder philosophischer Form unzugänglich wären. Lassen wir aus diesem Grund diese Überlegung beiseite. Die andere Position hingegen geht davon aus, dass alle subjektive Beobachtung intersubjektiv geprägt und theoriengeladen ist. Aus dieser zweiten Behauptung kann man – je nachdem, wie man „Theoriengeladenheit“ versteht – unterschiedliche Konsequenzen ziehen. Für die Selbstdeutung des Menschen scheint vor allem eine davon bedeutsam zu sein: Das Zugeständnis der Theoriengeladenheit von Berichten über Introspektion bedeutet doch zunächst nur, dass die Adäquatheit dieser Berichte von derjenigen Theorie abhängt, in deren Rahmen sie formuliert wurden. Nimmt man zur Beförderung des Arguments die Position der Neurowissenschaften ein, dann ist der adäquate Rahmen dieser Theorie – also einer Theorie, die für die Probanden gilt, die ihre Introspektion im Versuch verbalisieren – eine solche, die zur Eigenbeschreibung des Selbst und zur adäquaten Erfassung der Möglichkeit sozialer Kommunikation die Annahme von freien und verantwortlichen Entscheidungen sowie das Konzept der Autorschaft der eigenen Handlung als konstitutiv voraussetzt (Roth, 2003, 529; Pauen, 2002, 288 ff.). Wenn dieses jedoch zutrifft, dann bedeutet die Notwendigkeit einer innermethodischen Bezugnahme auf die introspektive Evidenz der Probanden im Verfahren der kognitiven

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Neurowissenschaften, dass man sich im methodischen Vollzug notwendig auf eine Theorie stützen muss, für die die Annahme der Freiheit des Willens konstitutiv ist. Dabei ist diese Bezugnahme nach den Thesen von Jack und Shallice nicht nebensächlich, sondern vielmehr ihrerseits konstitutiv für die Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes. Das würde jedoch weiter bedeuten, dass die kognitiven Neurowissenschaften auch auf Seite des Untersuchungsobjekts implizit die von ihnen auf der Basis ihrer Befunde negierte Existenz von Bewusstsein, Selbstbewusstsein oder Willensfreiheit im methodischen Vollzug anerkennen müssten. Letztlich erweist sich damit die Behauptung, gegen die Existenz der Willensfreiheit sprächen die empirischen Befunde der Naturwissenschaften, eher als Artefakt des naturwissenschaftlichen Ansatzes. Sie wäre eine Konsequenz der methodischen Position der Fremdthematisierung, die sich bei Einblick in die selbstreferentielle Struktur der Forschungssituation wieder relativiert. Entscheidend für die Deutung der Befunde der kognitiven Neurobiologie ist somit drittens, dass die beiden Seiten des Forschers und des Forschungsgegenstandes im neurobiologischen Forschungsvollzug weiterhin in einer grundsätzlich dialektischen Beziehung der Selbstreferenz zueinander stehen. Insbesondere Oeser und Seitelberger haben diesen Aspekt als konstitutiv für die gesamte „Neuroepistemologie“ bestimmt. Das bedeutet auch, dass die naturwissenschaftliche Hirnforschung eine prinzipielle Unvollständigkeit aufweist, die auf der selbstreferentiellen Struktur des zu untersuchenden Problems basiert. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine rein philosophische Erörterung der kognitiven Phänomene – ohne empirische Kenntnisse aus den Neurowissenschaften – zwar „leer“, eine rein empirische Erörterung allerdings allein auf Basis der Naturwissenschaften „kommt stets zu spät“. Die vollständige Bestimmung des mentalen Systems mit Hilfe der Neurowissenschaften würde vielmehr „den jeweiligen Systemzustand immer wieder diskret verändern und damit exakte Voraussagen unmöglich machen“ (Oeser/Seitelberger, 1995, 147).

5. Resümee Der Fehler der obigen Schlussfolgerungen der kognitiven Neurobiologie aus ihren Befunden besteht nach dem Ausgeführten im Vernachlässigen der selbstreferentiellen Bedingungen des neurowissenschaftlichen Forschungsvollzugs in einer bestimmten Hinsicht. Hierbei

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wird die reflexive Struktur in einer bestimmten Weise unterschätzt, die etwa Kant in seiner Untersuchung der Vernunft durch die Vernunft berücksichtigt hatte: Die Frage nach den Bedingungen und Grenzen vernünftiger (begründeter) Erkenntnis wird nämlich nicht in ausreichendem Maße gestellt. So blenden einige aktuelle Interpreten der neurobiologischen Befundlage die methodischen Bedingungen der Möglichkeit zur Erreichung ihrer naturwissenschaftlichen Erkenntnisse aus. Sie gehen zwar bei ihrer Untersuchung durchaus von der Annahme einer selbstreferentiellen Struktur des Untersuchungsgegenstandes aus. Auch übertragen sie diese Einsicht auf die Untersuchungssituation – etwa indem sie wie Roth oder Singer ihre Theorie mit Versatzstücken aus Autopoiesekonzept und Selbstorganisationsmodell kombinieren und diesbezüglich eine Erkenntnistheorie befürworten, in der die Selbstreferentialität eine wichtige Rolle spielt. Sie wenden diese Einsicht jedoch nicht auf den eigenen naturwissenschaftlichen Ansatz der neurobiologischen Erforschung des Gehirns an. So werden die dem Denkmodell von Maturana zugrunde liegenden Einsichten in die aktiv-konstruktive Qualität unserer Weltsicht nur einseitig berücksichtigt. Es gelten etwa bei Roth zwar die Gestaltungen unserer inneren Vorstellungswelt – das „wirkliche Gehirn“ – als Konstruktionen des realen Gehirns; der methodenrelative Charakter der naturwissenschaftlichen Welterfahrung aber und der aus diesem Ansatz resultierenden Erklärungsansätze wird ausgeblendet. Zwar gilt nun – in Analogie zu den Überlegungen von Uexküll und Purkinje – das Gehirn als Erzeuger und Gestalter der Wirklichkeit; die Konsequenzen für die damit dem Menschen (als demjenigen Organismus, der dieses Gehirn hat) zugeschriebenen Eigenschaften werden allerdings nur bedingt gezogen. Die Schlussfolgerung der kognitiven Neurobiologie, die Willensfreiheit (oder auch das Selbstbewusstsein) erweise sich auf der Basis naturwissenschaftlicher Befunde als Illusion oder Täuschung, muss deshalb als Folge der Vernachlässigung der spezifischen selbstreferentiellen Forschungsbedingungen einerseits sowie der methodenrelativen Bedingungen auch der naturwissenschaftlichen Forschung andererseits verstanden werden. Man scheint hier vor einem Aspekt zurückzuschrecken, den die ehemaligen Sinnesphysiologen Maturana und Varela als typisch für ihr Leben und Erkennen umgreifendes Konzept der Autopoiesis kennzeichnen: Wenn wir, um das Instrument einer Analyse analysieren zu können, eben dasselbe als Instrument benutzen müssen, so bereitet uns die dabei ent-

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stehende Zirkularität ein schwindelerregendes Gefühl. (Maturana/Varela, 1991, 29 f.)

Zieht man jedoch angesichts der aufgezeigten zirkulären Bedingungen der Erforschung von Verhalten, Sinnesleistung und Bewusstsein auf der Basis eines naturwissenschaftlichen Ansatzes einseitig naturalistische Konsequenzen – etwa indem man letztlich nur die raum-zeitlichen Bewegungsvorgänge der Physik für „real“ (im Sinne Roths) anerkennt und alle mentalen Phänomene in den Bereich illusionärer Konstruktion („wirklich“ im Sinne Roths) verweist –, dann ergibt sich jedoch eine Situation, deren Ironie Alfred North Whitehead in einem Bonmot auf den Punkt bringt: Ich finde, Wissenschaftler, deren Lebenszweck in dem Nachweis besteht, dass sie zwecklose Wesen sind, sind ein hochinteressanter Untersuchungsgegenstand. (Whitehead, 1974, 16)

Im Fall der aktuellen Frage der Willensfreiheit hat man anzuerkennen, dass sowohl dem Forscher für die Durchführung seines Experiments (als Akt freien Handelns) als auch dem Erforschten für die Umsetzung der Instruktionen des Forschers und seine verbale Auskunft über seine Erlebnisse, Wünsche und Motive im methodischen Vollzug der Forschung diejenigen Eigenschaften zuerkannt werden müssen, die es nach bestimmten Interpretationen der naturwissenschaftlichen Befunde gar nicht gibt.

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Zum Verhältnis von Evolution und Naturgeschichtsschreibung MATHIAS GUTMANN 1. Vorbemerkung Das Problem, welches hier erörtert werden soll, lässt sich zunächst auf die Frage reduzieren, ob „Freiheit“ überhaupt ein Gegenstand naturhistorischer Betrachtung sein kann. Zur systematischen Behandlung dieser Frage ist eine kurze Vorverständigung zur Verwendung des Ausdrucks „Naturgeschichte“ notwendig. Wir werden danach auf die Frage zurückzukommen haben, ob – und wenn ja in welcher Form – auf Freiheit (zumindest als Handlungsfreiheit) nicht schon außerhalb des naturhistorischen Kontextes Bezug genommen werden muss, um Naturgeschichte selbst zu ermöglichen. In diesem Fall, wenn wir also geltungsmäßig einen notwendigen Selbstbezug des Menschen, der Naturgeschichte als Gegenstand betreibt, ausmachen könnten, wären apriorische Aspekte jeder Naturgeschichtsschreibung anzunehmen, die, ganz unabhängig von einer Einbeziehung des Menschen als Gegenstand naturhistorischer Beschreibungen, außerhalb derselben verblieben. Der Ausdruck „Mensch“ fungierte dann in einem zweifachen Sinne: 1. Er bezeichnet zum einen das Gattungswesen Homo sapiens zu dem der Einzelne in einer reinen Type-token-Relation steht. 2. Zugleich zeigt der Ausdruck „Mensch“ die Besonderung eines Allgemeinen an. Im ersten Fall ist es vermutlich unstrittig anzunehmen, dass Evolutions- wie Entwicklungsbiologie einschlägige Beschreibungen für die Transformation sowohl zu Homo sapiens als auch von Homo sapiens liefern. Der zweite Fall liegt insofern anders, als er zum einen den ersten nicht ausschließen, zum anderen aber dieser nicht wieder seinerseits auf jenen gegründet werden darf. Wenn wir nun annehmen, dass „Freiheit“ zum Explanandum im ersten Sprachspiel werden soll, dann lässt sich, mit Blick auf unsere Unterscheidung, auf zwei Weisen argumentieren:

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1. Mit Kambartel (Kambartel, 1989) könnten wir den Anspruch der Einschlägigkeit evolutionsbiologischer Beschreibungen für das Freiheitsproblem generell zurückweisen und uns dabei auf den Standpunkt zurückziehen, dass der Übergang von einer semantisch reicheren zu einer ärmeren Beschreibung nur unter Aufgabe der Begründungsansprüche möglich sei, die im ersten Sprachspiel angezielt werden; evolutionstheoretische Beschreibungen der „Freiheit des Menschen“ (hier notwendig als Gattungswesen) wären dann nur „Narrationen“ zur Freiheit des Menschen (als sich entwickelnden Wesens). 2. Wir könnten darauf verweisen, dass zur Anfertigung der evolutionstheoretischen Ableitung oder Erklärung die Beschreibung des Explanandums schon geleistet sein muss, bevor die Explanata bereitgestellt werden kçnnen. In diesem Fall verfügten wir also außerhalb einer evolutionsbiologischen Beschreibung schon über einen Begriff „Freiheit“, der in dieser nicht aufginge; wollten wir die Freiheit nun nochmals mit Rückgriff auf eine evolutionäre Begründung ableiten dann läge ein methodischer Zirkel vor. Während die erste Argumentation nur eine Reduktion des zweiten auf das erste Sprachspiel abwehrt, geht die zweite einen Schritt weiter, indem sie die Geltung evolutionstheoretischer Aussagen ihrerseits zurückbindet an eine Konzeptualisierung des Menschen als Gattungswesen innerhalb seiner Beschreibung als eines sich entwickelnden Wesens. Evolutions- und entwicklungsbiologische Beschreibungen wären also nur eine Sorte von Konzeptualisierungen des Menschen als Gattungswesen, denen vorgelagert die Rede von Freiheit schon entfaltet sein muss. Wir wollen im Folgenden den zweiten Weg beschreiten und dabei in drei Schritten verfahren: 1. Zunächst müssen wir uns Sicherheit über die Verwendung der Ausdrücke „Naturgeschichte“ und „Evolutionstheorie“ verschaffen. Es wird zu zeigen sein, dass mit dem historischen Übergang von ersterer in die letztere auch ein systematischer Bruch verbunden war, der den Bezug auf menschliche Handlungen und insofern auf menschliche Handlungsfreiheit mit sich brachte. 2. In einem zweiten Schritt wollen wir die Ausdrücke „Natur“ und „Geschichte“ soweit rekonstruieren, dass deutlich wird, inwiefern hier gerade kein Bezug auf evolutionstheoretische Investitionen nötig ist.

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3. Schließlich soll ein Anfang der Rede vom Menschen als geschichtlichem Wesen angezeigt werden, ohne dass auf evolutionstheoretische Beschreibungen überhaupt Bezug zu nehmen ist.

2. Transformation von Naturgeschichtsschreibung in Evolutionstheorie Der Ausdruck „Naturgeschichte“ wird äußerst umfassend verwendet, wobei „Geschichte“ keinesfalls mit Transformationsvorgängen gleich welcher Art identifiziert werden darf (istoria gilt hier einfach als Bericht). Plinius etwa gibt eine – nach heutigem Verständnis – systematisch wenig zusammenhängende Schau alles dessen, was Gegenstand „der“ Naturgeschichte und damit in sehr weitem Sinn eben auch Naturgeschichtsschreibung sein kann. Diese gegenständliche Heterogenität ändert sich bis in das 19. Jahrhundert hinein kaum, wobei allerdings spätestens mit der innerhalb der Geistphilosophie als Kontrapost zur Geistphilosophie auftretenden Naturphilosophie der Versuch systematischer und begrifflicher Konstruktion zu erkennen ist. Ganz unabhängig von der Frage, welche Gegenstnde überhaupt im Rahmen von Naturgeschichte beschrieben wurden, oder wie die Ordnungen dieser Gegenstände selber gerechtfertigt werden können, handelt es sich hier jedoch stets um Beschreibungen. Wenn wir nun den Übergang zu anfänglichen begrifflichen Bestimmungen von Naturgeschichte versuchen, dann kann der Ausgangspunkt also nur in der Beantwortung der Frage gefunden werden, zu welchen Zwecken und mit welchen Mitteln Gegenstände als Gegenstände der Naturgeschichte beschrieben werden. Da auch dies eine rein doxographische Deutung erlaubt, wollen wir einen Übergang auszeichnen, der es uns erlaubt, eine systematische Begründung des Wandels selber anzuzeigen. Dieser Übergang wird die – üblicherweise als Beginn der wissenschaftlichen Evolutionsbiologe (mitunter sogar der Biologie im Ganzen) angesehene – Verselbständigung der Evolutionstheorie als eigenständiger Theorieform innerhalb der Naturgeschichtsschreibung sein. Um die Spezifik dieses Bruches zu erfassen, ist es hilfreich, sich Grundzüge der Begründungsstruktur des Darwinschen Argumentes zu vergegenwärtigen, das sich – wie zu zeigen sein wird – aus systematisch wohl bestimmten Gründen, als Anfang moderner Evolutionstheorie ansehen lässt.

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2.1 Die Züchtung als Modell Für eine methodische Rekonstruktion der Darwinschen Theorie muss ein expliziter Sprachebenenwechsel vollzogen werden, der es auf der einen Seite gestattet, das aus der Züchtung gewonnene Know-how im engeren Sinne konstitutiv zu nutzen;1 auf der anderen Seite sollen aber eben jene Schwierigkeiten umgangen werden, die sich im Vollzug der Mayrschen Rekonstruktion an der Behauptung einiger, methodologisch prekärer Äquivalenzen zeigen (vgl. Mayr, 1984; 1994). Die Struktur der genannten Äquivalenzen ist die einer Isomorphiebehauptung zwischen dem zu erkundenden Prozess (hier: der Evolution) und einem weiteren, der insofern er bekannt ist, als Explanans des ersteren gelten soll. Der zweitgenannte entspricht im hier vorliegenden Fall der Züchtung. Folgt man üblichen Darstellungen, dann hätte Darwin in der Konstruktion grundlegender Komponenten seiner Theorie von ebensolchen Isomorphiebehauptungen Gebrauch gemacht: 1. Es muss eine strikte Isomorphie zwischen solchen Wissensbeständen behauptet werden, die sich gar nicht auf Lebewesen im biologischen Sinne beziehen, sondern z. B. auf menschliche Gesellschaften,2 und Aussagen, die explizit Beschreibungen natürlicher Gegenstände oder deren Zustände betreffen (wie eben die Evolution). Dies mag exemplarisch am Übergang von künstlicher zu natürlicher Auswahl deutlich werden. Soll der genannte Übergang gelingen, so müssten die der oben postulierten Isomorphie entsprechenden Äquivalenzen in der Natur ausgemacht werden, was damit das eigentliche Begründungsproblem nur um eine Stufe verschöbe. Soll der Übergang umgekehrt verlaufen, dann allerdings wäre nicht einzusehen, warum man überhaupt über künstliche Selektion reden muss, und nicht

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Dazu Gutmann, 1996; Janich, 1997; Gutmann/Janich, 1998. Dies ist insofern ein ernst zunehmendes Problem, als ein Schluss von solchen Wissensbeständen auf Gegenstände der natürlichen Evolution (dann oft entsprechend Populationen genannt, ein Begriff, der seine Herkunft aus der Beschreibung menschlicher Gemeinschaften nur zu offensichtlich kundgibt) dann Geltung beanspruchen kann, wenn man diese menschlichen Gemeinschaften selber als biologische Gegenstände bezeichnet. Das methodologische Ungenügen solcher Naturalisierungen ist hinlänglich bekannt; eine Grundlegung naturwissenschaftlicher Theorien auf dieser Basis schließt sich damit schon deshalb aus, weil die genannten Theorien oder Teile derselben schon je in die erste Beschreibung zu investieren wären.

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direkt bei natürlicher einsetzte. Die Rede über natürliche Selektion bliebe damit aber weiterhin begründungsbedürftig. 2. Durch die unzureichende Trennung von Züchtung auf der einen und dem Explanandum Evolution auf der anderen Seite, müsste Evolution als eine sukzessive Steigerung in Wirkung und Folge eben jener Vorgänge bestimmt werden, die unter dem Titel Züchtung zusammengefasst sind. In diesem Falle aber träfen die Beobachtungen zu Grenzen der künstlichen Züchtung (immerhin nur empirischer Geltung) ganz unmittelbar auch diese Rekonstruktion der Evolution; das heißt, dass die Beobachtung von Malthus, die Unmöglichkeit der beliebigen Veränderung von Lebewesen durch Züchtung, als Argument gegen eine Evolutionstheorie verwendet werden könnte, die Züchtung konstitutiv für die Grundlegung der Rede über Evolution verwendet. Eine Alternative tut sich auf, wenn Züchtungs-Know-how zum Ausgangspunkt der Gegenstandskonstitution der Biologie und darüber hinaus auch der Evolutionsbiologie genommen wird. Diesem Ansatz gemäß liegt ein Wissen über die Bedingung der Möglichkeit von Evolution in der Verfügung über generative Praxen. Der Sprachebenenwechsel vollzieht sich dann dergestalt, dass etwa zunächst von solchen aus der Züchtung wohlbekannten Gegenständen wie den Züchtungsgruppen und -kollektiven, deren zweckgeleiteter Zusammenstellung und verfahrensorientierter Veränderung gesprochen wird. In einem zweiten Schritt kann nun die Rede von Populationen, deren Merkmalen oder generativen Eigenschaften eingeführt werden. Hierbei wird explizites Züchtungswissen zum Zwecke der Einführung einer Normsprache verwendet und damit der Übergang von der Rede über lebensweltlich vertraute biotische (eben Lebewesen, Pflanzen, Tiere, Kreuzung etc.) zu konstituierten biologischen Gegenständen vollzogen. Diese Verwendung der Züchtung soll hier im Weiteren als die Verwendung expliziten Handlungswissens, als ein „Modell für“ die Einführung standardisierter Normsprachen bezeichnet werden. Im Gegensatz zu der von Mayr bei Darwin unterstellten Verwendung von Züchtung im Sinne eines „Modells von“ Evolution3 sind die Adäquatheitskriterien hier prinzipiell different: 1. Im Falle der Verwendung als eines „Modells von“ ist eine wie auch immer geartete Isomorphie zwischen Modelatum und Modell in 3

Dies drückt sich in der Rede von der Züchteranalogie aus.

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ihrer Adäquatheit an Kriterien zu überprüfen, die nicht ihrerseits unter Rückgriff auf eines der beiden eingeführt wurden. Geschieht dies dennoch, droht ein Zirkel oder ein Regress; wird z. B. die Evolution selbst als Referent angenommen, um geeignete von ungeeigneten Modellen zu unterschieden, so muss das Wissen um Evolution aus anderen als den durch das Modell bereitgestellten Quellen stammen, womit sich die Frage nach dem Sinn der jeweiligen Modellierung stellt. 2. Im Falle der hier vorgeschlagenen Verwendung der Züchtung als Modell fr die Konstitution evolutionsbiologischer Gegenstände, bildet das Handlungswissen selber das tertium comparationis. Evolution ist mithin ein von dem Züchtungswissen abhängiger wissenschaftlicher Gegenstand. Diese unter 2. dargestellte Alternative ist allerdings in mehrfacher Hinsicht radikal, denn es geht nun Evolution als ein Naturgegenstand verloren; durch die starke Bindung an Züchtung wird jede konstruktive Reflexion über Evolution zu einer abgeleiteten Reflexion menschlicher Handlungsformen. Zugleich, und dies dürfte für den hier verhandelten Gegenstand von größtem Interesse sein, erhält die biologiehistorische Rekonstruktion ein externes, außerhalb der rein historischen Betrachtung liegendes Gelingenskriterium.

2.2 Der Ansatz der Rekonstruktion der Darwinschen Evolutionstheorie Fragt man im Lichte unserer Überlegungen nach der Begründung des Terminus „natürliche Zuchtwahl“, dann muss jedem Leser eigentlich sofort ins Auge fallen, dass Darwin diesen Terminus weder als induktive Verallgemeinerung von natürlicherweise vorfindlichen Sachverhalten und Tatsachen noch als keiner Begründung bedürftig, weil nämlich selbstevident, vorstellt. Vielmehr beginnt er seine Argumentation in „Die Entstehung der Arten…“ mit einer Rekonstruktion des menschlichen Züchtens. Und erst nachdem er die menschliche Züchtungspraxis analysiert hat und als Resultat seiner Analyse einen Begriff von „künstlicher Zuchtwahl“ vorweisen kann, führt er den für seine evolutionstheoretischen Überlegungen grundlegenden Begriff der „natürlichen Zuchtwahl“ ein. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht muss daher die Vermutung plausibel sein, dass über den Begriff „natürliche Zuchtwahl“ nicht unabhängig von der Rede über „künstliche Zucht-

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wahl“ verfügt werden kann, dass vielmehr in der rekonstruierenden Analyse der menschlichen Züchtungspraxis die Begründung des Terminus natürliche Züchtungspraxis gesucht werden muss. Damit soll Darwin nicht unterschoben werden, er hätte schon mit (faktisch) erst heute zur Verfügung stehenden wissenschaftstheoretischen Mitteln argumentiert;4 der „linguistic turn“ in der Philosophie hat ja bekanntlich erst lange nach Darwins Tod eingesetzt. Wir können aber durchaus seine Theorie heute so rekonstruieren und damit überprüfen, ob die von Darwin vorgetragenen Gründe für seine Theorie auch uns noch als Gründe überzeugen; oder aber ob wir sie ihm und seiner Zeit als Gründe zwar zugestehen können, ohne sie auch für uns als solche noch zu akzeptieren.

3. Die Transformation der Beschreibungsmittel Wir können nun eine These hinsichtlich des Bruches wagen, der die Transformation der Naturgeschichtsschreibung in evolutionstheoretische Beschreibungen der Veränderung reproduktiver Einheiten charakterisiert. Er besteht weder in einem signifikanten Wechsel der Gegenstände (nicht selten sind die von Darwin „okkupierten“ Beispiele für sein Modell der natürlichen Zuchtwahl, der Adaptation etc. gerade den Naturbeschreibungen seiner Opponenten – etwa den Physikotheologen – entlehnt), noch in einer grundlegenden Neuentdeckung empirischer „Indizien“, aus denen die Struktur einer Evolutionstheorie irgendwie abzuleiten gewesen wäre. Die eigentliche Veränderung dürfte vielmehr die Durchbrechung eines letztlich noch aristotelischen Naturkonzeptes sein, das seinen großen Vorzug in einer mehr oder minder klaren Differenzierungsmöglichkeit zwischen „vom Menschen Bewirkten“ und „nicht vom Menschen Bewirkten“ hatte. Während etwa für die Physik schon lange der zumindest indirekte Bezug auf experimentelles (und damit menschliches) Handeln konstitutiv war, galt dies für die sich im Verlaufe des Jahrhunderts erst konstituierende Biologie nur mit Blick auf einige der Teildisziplinen (vgl. Jahn, 1982). Insbesondere die Evolutionsbiologie erschien als ein vom experimentellen Standard prinzi4

Im Gegenteil finden sich bei Darwin immer wieder deutliche Versuche einer Naturalisierung der eigenen Beschreibungsmittel (dazu Gutmann/Weingarten, 1999).

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piell unerreichbares Refugium mehr oder minder stark analogisierender Spekulation. Wenn auch der Bezug auf standardisiertes menschliches Handeln bei Darwin – wie oben angedeutet – heutigen Ansprüchen kaum mehr genügen wird,5 so ist es gerade die Strukturierung dessen, was, mit Bezug auf menschliches Handeln, als natürlicher Verlauf beschrieben werden soll, was den entscheidenden Unterschied zur klassischen Naturgeschichtsschreibung erzeugt. Das, was unter methodologischem Gesichtspunkt ausdrücklich Quelle des Wissens war, „die“ Natur, wird nun zum Gegenstand menschlicher Tätigkeit, dessen Strukturierung im Lichte menschlicher Herstellung oder Manipulation überhaupt erst gelingt. Damit wird eine „erste“ innerhalb der „zweiten Natur“ erzeugt, die weniger Skopus wissenschaftlicher Beschreibung, Erklärung oder Manipulation, als vielmehr das Medium ist, innerhalb dessen und durch das sich wissenschaftliches Handeln (als naturwissenschaftliches) überhaupt artikuliert und hervorbringt. Wissenschaft selber wird zur „symbolischen Form“ menschlicher Tätigkeit. Wir kehren nun zu der Frage zurück, welche Bedeutung unsere (notwendig exemplarisch bleibende) Rekonstruktion der Transformation von Naturgeschichtsschreibung in Evolutionstheorie für die Rede von „menschlicher Natur“ haben kann, wenn wir das Augenmerk auf den Bezug auf menschliches Handeln richten.

4. Innere und äußere Natur als Verhältnisse Will man einer rein doxographischen und daher wesentlich arbiträren Aufführung der Referenten des Ausdruckes „Natur“ enthoben sein, so bleibt der Bezug auf ein systematisch-begriffliches Zentrum. Um ein solches zu gewinnen, kann unter diesem Ausdruck zunächst der Gegenstandsbereich moderner empirischer Wissenschaften verstanden werden. Diese sind – im Gegensatz zu Erfahrungswissenschaften im weiteren Sinne – durch eine (direkte oder indirekte) experimentelle Stützung charakterisiert. Ihr Wissenserwerb ist also wesentlich auf 5

Man sehe sich nur den erheblichen Aufwand an, der innerhalb der Populationsgenetik betreiben werden musste, um zu belastbaren Modellierungen „natürlicher Populationen“ zu gelangen; für Meerschweinchen etwa Wright, bei Drosophila etwa bei Muller oder Dobzhansky etc. Dazu weiterführend Provine, 1986.

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Zweck-Mittel-Verknüpfungen bezogen. Das „Beherrschen von etwas“ drückt dabei nicht nur direkt die Art und Weise des Gegenstandsumganges aus, es bezeichnet vielmehr zugleich auch die Erwartungen, die an die Ausfhrenden dieser Handhabungen gerichtet sind. Denn experimentelle Strukturierung von Gegenständen läuft nicht nur – zumindest regulativ6 – auf die Möglichkeit hinaus, dasjenige, was als verstanden behauptet wurde, in seinen ( je relevanten) Eigenschaften reproduzierbar manipulieren zu können. Es ist vielmehr die beständige Entwicklung der experimentellen Handlungsform selber, um die es hier geht. Der Ausdruck „Natur“ erhielte in diesem Sinne den Index der Zeit, denn, was als Natur angesprochen würde, wäre nur mit Blick auf die jeweils geltenden wissenschaftlichen Beschreibungen auszumachen. Doch so selbstverständlich dieser Bezug auf Wissenschaften wie Physik, Chemie oder Biologie auch sein mag, es handelte sich um eine zweifache Verkürzung: 1. Zum einen nämlich ist auch in anderen Erfahrungswissenschaften „Natur“ Gegenstand der jeweiligen wissenschaftlich-methodischen Betrachtung. 2. Zum zweiten ist der einfache Verweis auf „Wissenschaftsgeschichte“ insofern mit Vorsicht zu verwenden, als es sich dabei ja schon um 6

Möglicherweise speist sich ein guter Teil der kritischen Betrachtung insbesondere der modernen Produktionsgenetik genau aus der Verwechslung der regulativen mit der konstitutiven Perspektive. Janich und Weingarten ( Janich/ Weingarten, 2002) haben also zum einen unbestreitbar recht, wenn sie auf die faktische Differenz von vorgesetzter Behauptung des eigenen Könnens der Genetik zum einen und der tatsächlichen Lage zum anderen verweisen. Die Begründung erfolgt unter Identifikation der letztlich immer noch maschinenanaloger Anschauung entstammender ingenieurstechnischer Leitmetaphorik. Es lässt sich aber gerade diese Leitmetapher auch regulativ verstehen. Danach bliebe etwa dem Entwicklungsgenetiker gar nichts anderes übrig, als den Erfolg seiner Manipulationsleistung anzustreben und im Versagensfalle dennoch an eben dieser Unterstellung festzuhalten. Anders formuliert: wenn es eben erst das „Immer-wieder-erzeugen-Können“ z. B. bestimmter phänotypischer Effekte durch gezielte (wie ungenau im Einzelnen auch immer) genetische Eingriffe ist, das es erlaubte zu sagen, dass man nun verstanden habe, wie diese oder jene Eigenschaft, Leistung oder Fähigkeit eines Lebewesens zustande komme, dann liegt im faktischen Verfehlen kein Argument, das Ziel selber aufzugeben. Janich und Weingarten entgehen dem Gegenargument, es handele sich eben nur um ein „Noch-nicht-erreichen-Können“ mit dem Verweis auf die besonderen Materialeigenschaften, mit denen der Genetiker umgeht; zugleich scheint mir die Dialektik der Unverfügbarkeit hier überhaupt erst zu beginnen.

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Resultate eigenständiger „bewährungsgeschichtlicher“ Vorgänge handelt, die mögliche innerwissenschaftliche Alternativen notwendig ausblenden. Sieht man von beiden Problemfeldern ab, so kann immerhin der Verweis auf die Form der Ansprache von etwas als Natur eine Invariante der Betrachtung freilegen helfen, der gemäß eine bestimmte Art und Weise des „Sich-zu-etwas-Verhaltens“ als Referent dieses Ausdruckes bezeichnet werden kann. Dieser Überlegung gemäß wäre etwas – gleichsam schon vor jeder Beschreibung – nicht einfach Natur; es würde vielmehr als solche innerhalb menschlichen Tun und Handelns erst bestimmt. Experimentelles wie allgemein erfahrungswissenschaftliches Handeln wäre so zu rekonstruieren, dass – allen Unterschieden im Einzelnen zum Trotz – die Form dieser Tätigkeit das einheitsstiftende Moment abgäbe. Die systematisch-begriffliche Entwicklung der Rede von Natur lässt also gerade jene Grundstruktur zutage treten, die im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Rekonstruktion von Wissensverhältnissen investiert wird, und sowohl das Wissen von etwas (als einem gegenstndlichen „Wissen von“) als auch das Wissen um sich als Wissenden je schon voraussetzt. Diese Doppelläufigkeit lässt sich begrifflich in das Ausdruckspaar „Leib-Körper“ übersetzen; das Paar verdoppelt sich dabei, da der Bezug auf Ttigkeiten als Explikationshintergrund für das je individuelle Tun hergestellt werden muss. In Bezug auf individuelles Tun unterscheidet sich zunchst der Ttige vom Gegenstand seines Tuns. Betrachten wir den Tätigen als Ausgang der Eingriffe und Manipulationen von Gegenständen, so erscheinen Gegenstände überhaupt nur in Hinsicht auf das Tun selber. Das also, was als Gegenstand anzusprechen ist, kann nicht als tätigkeitsinvariantes Ding einfach vorfindlich gedacht werden, sondern ist überhaupt nur, insofern es in Bezug zu einer Tätigkeit steht. Wir können dies mit Cassirer als Nutzenform eines Gegenstandes (insofern er ein Gegenstand ist) beschreiben (Cassirer, 1985,64). Hinsichtlich dessen, was getan wird, erscheint der Tätige nun als „Einlageort“ seines Tuns. Er ist gleichsam das nicht in den Blick geratende Zentrum, von dem her sich sein Tun einstellt. Gehen wir grammatisch zur adjektivischen resp. adverbialen Form über, so bezeichnen wir diese Funktion des Tätigen innerhalb des individuellen Tuns als leibliches Verhältnis. Dieses Verhältnis ist unmittelbar-mittelbar insofern der Leib innerhalb von Tätigkeiten, dort aber – für das Indi-

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viduum – als Leib außerhalb des Tätigkeitsverhältnisses fungiert. Der Ausdruck „Leib“ wird über solche leiblichen Verhältnisse, als „gegenstandsgleiche“ aber funktionsverschiedene Konstruktion, aus der Sicht des tuenden und Tätigkeiten vollziehenden Individuums gebildet. Für das Individuum erscheint der Leib als einfach unmittelbar gegeben, so wie dies auch für den bearbeiteten Gegenstand selber gilt. Der Leib also ist genau genommen ein leiblicher Kçrper, da er in der Form eines gegenständlichen Verhältnisses gedacht wird. Eine Erweiterung dieses Verhältnisses erreichen wir, wenn das Fungieren des Leibes selber zum Gegenstand der Reflexion wird. Er ist nun nicht mehr einfach das „Wovon-her“ des Tuns, er ist vielmehr das in Hinsicht auf die gezielte Veränderung von Gegenständen beherrschte und insofern als „Verhalten-zu“ in Erscheinung Tretende.7 Bezeichnen wir das Resultat dieser Reflexion als Herstellung körperlicher Verhältnisse, dann bestimmt sich „Körper“ wiederum als Konstruktion über dieses mittelbar-unmittelbare Verhältnis im Tun des Individuums als dessen körperlicher Leib, da über ihn das Verhältnis zum Leib in der Tätigkeit hergestellt wird. Diese Doppelung leiblicher und körperlicher Verhältnisse beschreibt aber lediglich das als „äußere Natur“ bestimmte Verhältnis, da der Ausgangspunkt das gegenständliche Verhalten im Vollzug der Bearbeitung von Gegenständen war. Der Ausdruck „Natur“ bezieht sich damit nicht auf Dinge, sondern beschreibt ein gedoppeltes, individuelles Verhältnis innerhalb von Tätigkeiten. Kehren wir die Betrachtung nun um und beschreiben gegenständliche Tätigkeit als interindividuelles Tun, so gelangen wir zu einer Kehrfigur leiblicher Verhältnisse. Denn nun ist das Tun in Bezug auf Tätigkeiten selber das Definiens des leiblichen, das insofern es als Tun nur in der Form leiblichen Verhaltens in den Blick gerät, unmittelbarmittelbar als Leib angesprochen werden kann. Der leibliche Körper ist in diesem Verhältnis der auf das Tun anderer leiblicher Körper bezogene leibliche Körper. Der Bezug auf den Bezug anderer Leiber charakterisiert dasjenige, was als Leib unmittelbar hinsichtlich der mittelbaren Selbstheit des je unvertretbaren Tuns fungiert, das durch das erste Verhältnis zweier leiblich/körperlicher Verhältnisse beschrieben war. 7

Tun bzw. Handeln als dessen Reflexionsform sind leibliche Bestimmungen, wie deren kollektive Formen der Tätigkeit und Arbeit; „Habitualisierung“ oder „Gewohnheiten“ sind nicht Tun an einem Etwas, das als Leib bezeichnet, gleichsam dessen biotische Substanz wäre – sie sind vielmehr selber diese Substanz und also Leib.

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Das zweite Verhältnis scheint die individuelle Beschreibung des Tuns als Hervorbringung eines leiblichen „Verhaltens-zu“ zu bezeichnen. Als innere Natur lässt sich die Verdoppelung dieser Verhältnisse deshalb ansprechen, weil es nicht zunächst eine Reflexion auf Gegenstände als Gegenstnde war, die den Anfang bildete, als vielmehr das gegenständliche Verhalten selber. Das „Innere“ des Individuellen ist das veräußerlichte Innere des Interindividuellen und vice versa ist das Innere des Interindividuellen das äußerlich – als Tun – „In-Erscheinungtreten“ des verinnerlichten Individuellen. Folgen wir unserer strukturellen Deutung, dann zeigt sich aber für den (zweifach) gedoppelten Naturbegriff, dass der Ausdruck der „Naturbeherrschung“ eben nicht einsinnig in einem festen Objekt-SubjektSchema gedacht werden darf, da er sich sowohl auf die äußere wie die innere Natur bezieht. Dies gilt umso mehr, als der Referent des Ausdruckes „Natur“ dann zugleich auch nicht mit dinglichen Bestimmungen identifiziert werden darf, wie sie etwa für lebenswissenschaftliche Beschreibungen nahe lägen. Die Darstellung leiblicher wie körperlicher Verhältnisse zeigt vielmehr, dass ein nicht substantialistisches Verständnis des Ausdruckes „Natur“ auch die Rede von der Beherrschung in entsprechender Weise zu doppeln hätte. Leib und Körper bezeichnen dann Formen des „Sichzueinander-Verhaltens“ und nicht das je spezifische Haben von Eigenschaften, die sich jederzeit in eine lebensweltliche Beschreibung von Merkmalen einbringen ließen (Gutmann, 2005).

5. Geschichte als reflexive Selbstartikulation Schon die Analyse der Verwendung des Ausdruckes „Natur“ brachte eine (gedoppelte) Doppelläufigkeit. Diese erfährt eine weitere Entfaltung, wenn wir nun den Übergang zur „Geschichte“ vollziehen. Darunter verstehen wir dasjenige, was geschehen ist, den Bericht dieses Geschehens und möglicherweise die Erzhlung über diesen oder diese Berichte. Schon „vor-narrativistisch“, unter nur grammatischer Perspektive ist der Ausdruck „Geschehen“ aber mehrstellig; denn es wird wohl zunächst ein Geschehen sein, das fr jemanden in einer bestimmten Weise abläuft und von ihm in einer bestimmten Weise beschrieben wird. Dieselbe Doppelung der Adressaten-AdressandenVerhältnisse ergibt sich, wenn wir die Erzählung über diese(n) Bericht(e) zum Gegenstand nehmen. Denn nun gelten sowohl die

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Adressaten-Bindung der Erzählung wie die Adressanden-Bindung. Doch ist die angezeigte Doppelung der Bericht- und Erzählverhältnisse nicht das eigentliche Problem; dieses ergibt sich erst, wenn wir nach Geltungsbedingungen der Erzählung selber fragen. Diese Geltungsfrage kann schlechterdings nicht mit dem Verweis auf eine beschreibungsinvariante Basis (etwa „Ereignisse“ die in Raum und Zeit wie mithilfe eines Cartesischen Koordinatensystems abzutragen wären) beiseite geschoben werden (s. etwa Danto, 1980 sowie White, 1990). Die Einschränkung resultiert nicht so sehr aus der Tatsache, dass jede Aussage über vergangene Ereignisse mit einer Unsicherheit verbunden ist, die allen empirischen oder erfahrungswissenschaftlichen Aussagen zu eigen ist. Sie scheint sich vielmehr aus der besonderen Form der Erzählung, insofern sie eine historische Erzählung ist, zu ergeben. Die Form solcher Erzählungen ist notwendig rekonstruktiv. D.h. es wird von Vergangenem bezüglich eines Wissens gesprochen, das selber geltungsmäßig verfügbar ist. Von diesem methodischen Anfange her werden über Berichte von Geschehnissen Erzählungen angefertigt, die nun allerdings in spezifischer Weise, d. h. je nach Gegenstand unterschiedliche, Plausibilisierung mit sich führen oder erfordern. Empirisch oder erfahrungsbezogen sind aber sowohl die Quellen, von denen her Ereignisse oder Berichte verfügbar werden, wie die möglichen Plausibilisierungen ( je etwa nach Art der Quelle). In jedem Fall aber ist der Geltungsausweis nur mit Bezug auf die je angefertigte Rekonstruktion möglich. Hieraus ergibt sich die eigentümliche Doppelläufigkeit aller historischen Erzählungen: Sie weisen durch den methodischen Anfang einen unaufhebbaren Bezug auf eine bestimmte Fragestellung in der gegenwärtigen Situation sowie das bereitstehende Beschreibungswissen auf, einen Bezug, der sich geltungsmäßig durch die Betrachtungsrichtung kundgibt, die nämlich von der Gegenwart in die Vergangenheit verläuft. Zugleich aber ist jede historische Erzählung selbst Bericht der Resultate eben dieser Rekonstruktion. Es wäre ein zu einfaches Bild, wollte man den Unterschied von Rekonstruktion und Bericht der Rekonstruktionsergebnisse analog der Differenz von Objekt- und Metaebenen auffassen – wiewohl er dies notwendig immer auch ist.8 Die Doppelung geht einfach deshalb nicht in die Analogie auf, weil die Ergebnisse der Rekonstruktion und die Anfertigung des Berichtes selber den methodischen Anfang nicht un8

Notwendig erscheint dies vor allem, weil nur dann die Frage nach der Möglichkeit der Plausibilisierung beantwortet werden kann.

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berührt lassen. Dieser ergab sich ja gerade aus einer besonderen Form des Selbstbezuges des Fragenden. Wir können das Besondere dieses Selbstbezuges mit der Interpretation des Dilthey-Satzes „was der Mensch ist, erfährt er nur aus der Geschichte“ ersehen. Folgten wir der Identifizierung von Rekonstruktions- und Berichtperspektive (wobei wir nun unter Bericht die Erzählung, also den Bericht-Bericht verstehen), dann wäre die von Dilthey aufgestellte Behauptung entweder trivial wahr oder vermutlich falsch. Das erste träfe zu, wenn wir den generischen Singular auflösten indem wir den Menschen als eben das Wesen definierten, das Geschichte hat. Verstehen wir das Prädikat in einem grammatisch identischen Sinne wie bei der Aussage „der Mensch hat 22 Autosomen-Paare“, hätten wir es mit „diskursiver“ Rede in einem theoretischen Modus zu tun.9 Unabhängig davon, ob eine solche Verwendung des Ausdruckes „Geschichte haben“ sinnvoll ist, läge darin keine Überraschung mehr. Eine andere Weise sich dem Diktum zu nähern bestünde darin, entweder dem Ausdruck „Erfahren“ eine weitere Bedeutung zuzugestehen, oder dem Ausdruck „Sein“. Verstehen wir unter „erfahren“ zunächst eine – noch nicht weiter bestimmte – Form des Wissens, dann könnte man an dem Diktum festhalten, wenn das Wissen, um das es geht, sich als Wissen von jenem Wissen unterschiede, von dem im Falle des diskursiven Sprechens die Rede ist. Im ersten Falle würden wir vermutlich das Wissen um das es als Erfahren hier nur zu tun sein kann als ein Wissen „um sich als der, der um sich weiß“ ansehen. Es bezeichnet also der Ausdruck „Geschichte“ gerade jene besondere Form des „Um-sich-als-um-Sich-Wissenden“-Wissens. Die andere Möglichkeit bestünde darin, die Prädikation „was er ist“ nicht im Sinne einer diskursiven sondern einer evozierenden Aussage zu lesen. Das „Sein“ ist nicht eine Folge von Prädikationen (wiewohl sie dies immer auch ist), sondern bezeichnet die Art und Weise, in der der Mensch sich tätig zu sich und zu anderem verhält. König drückt diese merkwürdige Mehrdeutigkeit des Ausdrucke „Sein“ in der Terminologie Mischs wie folgt aus: Auch dieser Satz ist nicht als eine rein diskursive Feststellung zu verstehen, so daß das gemeinte in der Aussage voll aufgehoben und rein aus ihr zu entnehmen wäre, sondern als Ausspruch, der nach der Art einer evozierenden Formulierung auf die Sache hier also das Verfahren des geschichtlichen Verstehens zurückweisen. Hingegen würde Misch einen Satz 9

Zu dieser Unterscheidung s. Misch, 1994.

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wie „welche Nummer ein Fernsprechteilnehmer hat, erfährt er aus dem amtlichen Telephonbuch“ wahrscheinlich als eine rein diskursive Feststellung ansehen. (König, 1967, 223)

Das diskursive Sprechen unterschiede sich vom evozierenden also gerade dadurch, dass es den konstitutiven Selbstbezug nicht explizit zur Geltung bringt, sondern ihn schon voraussetzt. Wir können an dieser Stelle Königs spezifische Weiterführung der Mischschen Unterscheidung von diskursivem und evozierendem Sprechen aufnehmen, indem wir im Falle der Aussage „der Mensch hat 22 Autosomen-Paare“ von einer determinierenden Prädikation im theoretischen Modus sprechen. Denn als biologisches Wesen (das Gegenstand der theoretischen Betrachtung ist) wird „der Mensch“, d. h. das Gattungswesen Homo sapiens durch die Chromosomenzahl – und eine ganze Reihe weiterer Merkmale – bestimmt, während wir es bei der Bestimmung des Menschen als geschichtlichem Wesen mit einer modifizierenden Prädikation zu tun hätten (auch diese lässt sich jederzeit in eine determinierende überführen; sie geht nur eben nicht in ihr auf). Für „modifizierende Prädikate gilt, dass sie „Sein“ ursprünglich geben und nicht Bestimmungen an ihm vornehmen: In meinem Sprachgebrauch hingegen ist z. B. „vergangen“ Ausdruck für das Wie und also für den Modus des Wirkens und Seins. In sachlicher Hinsicht sowohl als auch in sprachlicher könnte ich gleich gut von modalen Prädikaten sprechen. Im philosophischen Sprachgebrauch besteht aber eine Neigung, nur Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit „Modi des Seins“ zu nennen, so daß die Vermeidung des Ausdrucks „modal“ ratsam scheint. (König, 1937, 222)

Der Unterschied lässt sich mit König darstellen, wenn wir die Rede vom „so-Wirken“ etwa dem „Leer-Wirken“ eines Zimmers auf den Betrachtenden untersuchen. Hier gilt nämlich, dass das „Wirken“ des Zimmers nicht einfach zum Zimmer hinzukommt. Die Rede beschreibt vielmehr ein Verhältnis zwischen dem Gegenstand (das leer wirkende Zimmer) und dem Empfindenden: Das so-Wirkende, das intensiv-verbale so-Seiende und also das Seiende, das nicht das Vorhandenseiende ist, ist ursprünglich das, als welches wir es aussprechen: es ist ursprünglich das Seiende. Der Ausdruck das Seiende entspringt hier keiner Umwandlung von Sätzen, Reden über als eine und einige vorausgesetzte Subjekte. Denn die Subjekte des so-Wirkens (z. B. ein Zimmer, das leer wirkt) sind, wie gezeigt nichts anderes als das soWirkende, also nichts als das Seiende. (König, 1937, 63)

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Ein Zimmer, das leer wirkt, muss nicht notwendig leer sein (das eben wäre determinierende Prädikation). Das „Sein“ von dem die Rede ist, darf nicht als gleichsam Heideggernde Volte in eine irgend vorsprachliche Ontologie verstanden werden. Es ist vielmehr das intensiv-verbale „ist“, das in der Frage nach dem „was der Mensch sei“, mit Hinweis auf seinen Lebensvollzug beantwortet werden muss. „Leben“ ist also gerade dasjenige, was als vollzogen reflektiertes und reflektierend vollzogenes die besondere Form menschlichen Seins als Tätigsein ausmacht. Das Verstehen dieses Seins ist Aufgabe dessen, was im Gegensatz zur philosophischen Hermeneutik (etwa Gadamerschen Zuschnittes) als hermeneutische Philosophie (oder hermeneutische Logik) bestimmt werden kann: Die hermeneutische Logik ist eine Art Kunst der Auslegung des Lebens, und so ist diese Logik wenn man so will, selber eine Art Hermeneutik. Aber bei solchem Sprechen muß man zugleich auch den Unterschied zur Hermeneutik im üblichen Sinne sehen und festhalten. In diesem üblichen Sinne ist Hermeneutik die Kunst der Auslegung geistiger Schöpfungen, z. B. eines Dichtwerks oder auch eines philosophischen Textes. Der Ausleger ist ein Mensch, und er muß was er auslegt, z. B. einen philosophischen Text schon vor seiner Auslegung irgendwie verstanden haben und eben überhaupt vor sich haben. Wenn ich nun Misch angemessen interpretiere, so ist das bei der als eine Art Hermeneutik aufgefaßten Logik anders. Da ist der Ausleger die Sprache oder, dasselbe anders formuliert, der sprechende Mensch als solcher und also nicht einfach ein Mensch; und der Mensch als solcher hat, was er auslegt, – das Leben – in gewisser Weise erst nach geschehener Auslegung vor sich; deshalb ist diese Auslegung des Lebens auch nicht so etwas wie ein Nachdenken oder ein Reflektieren über das Leben. (König, 1967, 228)

Das Auszulegende „vor sich“ zu haben wäre gerade jene Form des Selbstbezuges, die für determinierend-theoretische Prädikate relevant ist, während die „Hervorbringung“ dessen, was als Leben des Menschen bezeichnet wird, mit dem Resultat der Auslegung zusammenfällt (denn es wird das „vor sich bringen“ überhaupt erst in der Auslegung her-vorgebracht), gerade jene Selbstbestimmung bildenden Sprechens ist, wie es etwa in der Form der modifizierenden Rede geschieht. Unabhängig davon, ob man die Königsche Interpretation oder die Mischsche Darstellung der Interpretation des Dilthey-Satzes zugrundelegt, das Resultat ist in der einen, für uns entscheidenden Hinsicht identisch: Soll die Alternative von Trivialität oder Falschheit umgangen werden, so bestimmt der Ausdruck „Geschichte haben“ sich in der

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Perspektive Diltheys als Anzeige der besonderen Selbstbezüglichkeit in menschlicher Tätigkeit.

6. Unaufhebbarkeit des Selbstbezuges im methodischen Anfang Wir können nun zum Schluss unserer Darstellungen zum Problem der Rede von Naturgeschichte und der Anzeige der spezifischen Transformationen, die diese im Übergang zur Evolutionstheorie erfahren hat, zumindest grundsätzlich auf das Problem der Rede von „Evolution der Freiheit“ zurückkommen. In einer Hinsicht jedenfalls hat sich nämlich eine Asymmetrie ausmachen lassen, die es als problematisch erscheinen lässt, „Freiheit“ einfach zum Gegenstand evolutionsbiologischer Rekonstruktion zu nehmen: Während wir die Möglichkeit züchterischer Praxis als evolutionsbiologischer Rekonstruktion vorgngig erweisen können, gilt dasselbe nicht umgekehrt (es ist historisch wie systematisch züchterische Praxis möglich, ohne deshalb wahre evolutionstheoretische Sätze vorauszusetzen). Mit dieser Rückverlagerung ist zunächst ein Bezug auf menschliche Praxis hergestellt, der für Evolutionstheorie konstitutiv ist. Zugleich aber ist diese Konstitution von Evolutionstheorie in einer bestimmten Form menschlicher Praxis ein Selbstbezug auf die Rede vom Menschen als tätiges Wesen. Dieser Selbstbezug bleibt unaufhebbar. Er ist Bedingung der Möglichkeit einer Einheit des Herknftigen, die nicht einfach als Ursprung vor jeder Rekonstruktion zu haben wäre. Es kann also nicht – nach Konstitution evolutionstheoretischer Grundlagen – gleichsam hinter diese Konstitution zurückgegangen werden, den gewählten methodischen Anfang in der menschlichen Tätigkeit vergessend und das Resultat nun scheinbar rein und ohne Rekonstruktionsmittel in den Blick nehmend. Eine besondere Form der Strukturierung körperlicher Leibverhältnisse bildet die Gruppe der Entwicklungstheorien des Menschen als biologisches Naturwesen. Diese Strukturierung – im Lichte der jeweiligen kultürlichen Naturverhältnisse – artikuliert den wissenschaftlichen Selbstbezug. Naturhistorische oder evolutionsbiologische Beschreibungen des Menschen sind nicht Beschreibungen seines Seins oder so-Seins. Sie artikulieren das Selbstverhältnis des Menschen als Naturwesen; Natur aber ist die Bestimmung dieses Selbstbezuges in Tätigkeitsver-

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hältnissen. Folgt die logische Grammatik der Rede von „Evolution des Menschen“ aber der logischen Grammatik des Menschen als geschichtlichem Wesen, wie dies unserer Darstellung entspricht, dann kann „Evolution der Freiheit“ nur ein metaphorischer Ausdruck für eine Bestimmung eben dieses geschichtlichen Wesen sein und nicht etwa eines ontisch als vorgängig betrachteten Naturwesens, dessen Beschreibung in der von Homo sapiens aufginge. In eigentlicher Rede genommen, kann die „Evolution der Freiheit“ nur ein Missverständnis jener Mittel sein, die wir zur Bereitstellung einer Evolutionstheorie überhaupt schon benötigen.

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Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen JULIAN NIDA-RÜMELIN Die Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und natürlicher Determination hat das menschliche Denken seit der Antike beschäftigt. Für die Stoa stand sie sogar im Zentrum der Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Schulen. Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert hat man den Eindruck, dass das in der Antike schon einmal erreichte Niveau der Debatte in Folge kollektiver Vergesslichkeit erst einmal nicht erreicht wurde. Dies gilt in besonderem Maße für die analytische Philosophie, die zunächst in ihrem Bestreben, an die Einzelwissenschaften Anschluss zu gewinnen, dazu neigte, ganze Problembereiche voreilig zu entsorgen. Moritz Schlick hat dazu in Fragen der Ethik (Schlick, 1930, Kap.6) einen unrühmlichen Beitrag geleistet, der zeigt, wie man mit dieser Problematik sicher nicht umgehen kann. Ein Blick in das eine oder andere stoizistische Fragment, insbesondere von Chrysipp hätte helfen können, die Debatte auf ein höheres Niveau zu bringen. Interessanterweise hat sich die Situation in der allerjüngsten Zeit deutlich verändert. Unterdessen sind die Argumente skrupulös und differenziert geworden mit der Begleiterscheinung, dass sich das Spektrum der philosophischen Positionen in einer kaum mehr überschaubaren Weise aufgefächert hat. Die Debatten beginnen sich zu verästeln und die Details werden nur noch von Spezialisten verfolgt. Dieser Gefahr der Detailhuberei und des Spezialistentums will ich in diesem Vortrag vor einem interdisziplinären Auditorium dadurch vorbeugen, dass ich mich auf einen einzigen Punkt konzentriere, nämlich den der naturalistischen Unterbestimmtheit unserer Handlungsgründe. Wenn ich jetzt diesen Punkt isoliert vorbrächte, dann entstünden jedoch vermutlich so viele Missverständnisse, dass unsere Diskussionszeit nicht ausreichte, diese wieder auszuräumen. Daher beginne ich mit der Skizze einiger Kontexte, in denen meine Argumentation steht.

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I Der erste Kontext ist ein rationalittstheoretischer. Ich halte es für einen großen Irrtum eines Gutteils der modernen Rationalitätstheorie, dass sie meint, sie könnte Kriterien bestimmen, ich nenne das „punktuelle“ Kriterien, die die einzelne Handlung als rational oder irrational durch die Bewertung ihrer Folgen auszeichnen, wobei hier natürlich an die langfristigen Folgen gedacht ist, etwa in Gestalt eines unendlichen zeitlichen Integrals, was sich durch die Einführung multidimensionaler Wertfunktionen verfeinern lässt. Dieser konsequentialistische Ansatz geht jedoch in die Irre und ich denke, ich habe die Gründe dafür sorgfältig in meiner Konsequentialismuskritik herausgearbeitet (Nida-Rümelin, 1993). Aber auch wenn ich diese Kritik nach wie vor für zwingend halte, sie bleibt eben nur eine Kritik, solange nicht zugleich eine Alternative angeboten wird. Ich habe versucht diese Alternative in der Konzeption struktureller Rationalitt zu entwickeln, wonach es nicht jeweils die Abwägung im Einzelfall ist, die eine Entscheidung rational macht, sondern ihre Einbettbarkeit in einen größeren strukturellen Kontext, wobei dieser strukturelle Kontext selbst nicht als etwas Gegebenes, sondern als Resultat der Abwägung von Gründen verstanden werden sollte. Die Gründe bestimmen den strukturellen Kontext nicht ohne Rest – es bleibt ein Spielraum für Spontaneität und bloße Entscheidung. Ich vertrete hier eine kohärentistische Auffassung ohne ihre üblichen anti-realistischen Implikationen.1 Der zweite Kontext ist der der Ethik. Wir schreiben uns selbst und anderen Verantwortung zu und diese Zuschreibung ist zentral für unser Selbstbild und für die Art und Weise, wie wir miteinander interagieren. Aus Hochachtung gegenüber Peter Strawson nenne ich das gerne die „Strawsonsche Perspektive“, obwohl ich in der Gegenübersetzung von objektiv und subjektiv eine doch deutlich andere Akzentuierung vornehme (Nida-Rümelin, 2005, Kap.1). Das Wichtigste der Strawsonschen Perspektive ist jedoch, dass die Zuschreibung von Verantwortung nicht ohne die simultane Zuschreibung von Freiheit im Sinne eines freien Akteurs, der Autor seiner Handlungen ist, möglich ist. Diese Autorschaft wiederum hängt eng mit der Tatsache zusammen, dass wir (moralische) Gründe austauschen und uns von Gründen affizieren lassen, d. h. die Zuschreibung von Freiheit beruht auf – oder ist besonderer Aspekt – der Zuschreibung von Rationalität. Wir nehmen uns selbst 1

Vgl. Nida-Rümelin, 2001.

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und andere als Akteure in dem Sinne wahr, dass wir fragen können, warum wir etwas getan oder unterlassen haben und indem wir andere befragen, warum sie so und nicht anders gehandelt haben. Wir tauschen Gründe aus und nehmen uns als von Gründen affiziert wahr, d. h. wir sehen uns als rationale Akteure, und in diesem Sinne sind wir frei und verantwortlich für das was wir tun. Diese Perspektive hängt allerdings in der Luft, wenn sie nicht rationalitätstheoretisch eingebettet ist. Die Gründe, die wir anführen, müssen kohärent sein in der Zeit, es müssen Strukturen sichtbar werden, die die unterschiedlichen Typen von Gründen miteinander verknüpfen. Sonst verstehen wir uns wechselseitig nicht, sonst fallen wir wieder zurück in die optimierenden Punktwesen, werden zu homunculi oeconomici, zu denen uns die anthropologische Überhöhung der Mikroökonomik machen möchte. Diese Punktwesen tun jeweils das, was angesichts ihrer Kenntnisse und angesichts der je auftretenden Wünsche optimal ist und es bleibt dunkel, wie der Akteur Fritz Meier zum Zeitpunkt t mit dem Akteur Fritz Meier zum Zeitpunkt t’ zusammenhängt. Eine Person manifestiert sich in kohärenten Strukturen ihrer Lebensform, d. h. in den sich durchhaltenden Gründen, die angeführt werden, um Handlungen zu rechtfertigen. Die Person würde unklar werden oder ganz verschwinden, wenn dieser strukturelle Zusammenhang nicht deutlich wäre. Kurz: Der erste und der zweite Kontext hängen miteinander zusammen, ja ich glaube sogar, in letzter Konsequenz lassen sich Rationalitätstheorie und Ethik nicht trennen, aber ich will hier kein weiteres Fass aufmachen. Der dritte Kontext ist ein wissenschaftstheoretischer. Viele praktische Philosophen und Ethiker malen sich ein Zerrbild moderner Naturwissenschaft und setzen dann die Ethik in einen falschen Gegensatz dazu oder fühlen sich von einer so verstandenen Naturwissenschaft bedroht. Ich will zwei Aspekte herausgreifen: In den Naturwissenschaften spielen deterministische Verlaufsgesetze so gut wie keine Rolle, wenn man einmal von Ausschnitten der physikalischen Kosmologie absieht. Es ist auffällig, dass sich die Physiker bisher nicht auf die Seite der philosophierenden Neurowissenschaftler geschlagen haben, die behaupten, es sei sichergestellt, dass das Hirn ein deterministisches System sei. Physiker wissen um die Komplexität und die Schwierigkeiten aus einer Kette kausaler Erklärungen eine zeitliche Abfolge von Systemzuständen herzuleiten. Sie wissen, dass schon das Vier-Körper-Problem nicht mehr berechenbar ist und dass die Welt aus einer solchen Vielzahl von aufeinander wirkenden Teilchen besteht, dass die Vorstellung determinis-

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tischer Verlaufsgesetze reine Science Fiction ist. Zudem ist dieser in der Philosophie naiv gebrauchte Kausalitätsbegriff in der naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplin Physik an seine Grenzen gestoßen. Der alte, an deterministische Gesetze gebundene Kausalitätsbegriff wurde ohnehin mit der Entwicklung der Quantenmechanik obsolet, neue sind von der allgemeinen Wissenschaftstheorie entwickelt worden, unter denen der probabilistische von besonderem Interesse ist. Jedenfalls kann festgehalten werden, dass der Konflikt von Freiheitsintuitionen mit deterministischen und kausalen Verlaufsgesetzen seriöse Naturwissenschaft keineswegs erschüttert, da diese nicht zu ihrem Kernbestand zählen.2 Der vierte Kontext ist, wenn man so will, ein metaphysischer. Philosophen sind gegenwärtig, ja im Grunde schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts, in ihrer überwiegenden Mehrheit sorgsam darauf bedacht mit dem wissenschaftlichen Weltbild nicht in Konflikt zu geraten. Ich verstehe diese Einstellung sehr gut und teile sie. Die Philosophie hat sich allzu oft in ihrer modernen Geschichte in einen Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Entwicklung, die ja in ihrem Schoße ihren Anfang nahm, gebracht und damit die Möglichkeiten philosophischer Erkenntnis weit überspannt. Die Strategie der unbedingten Konfliktvermeidung führt jedoch bei unserer Thematik zur Dominanz eines Kompatibilismus, der weniger durch Argumente, denn durch eine metaphysische Grundhaltung gestützt ist: Selbst wenn die Naturwissenschaft auf deterministischen und kausalen Verlaufsgesetzen beruhte, müsse unser Verständnis von Freiheit so gefasst sein, dass es damit in Einklang gebracht werden kann. Dieses muss führt in der Literatur zu den groteskesten Verrenkungen und entwertet scheinbar schlichte, aber wirksame Argumente, wie die, dass es in einer Welt, deren Zustände in alle Zukunft durch die geltenden Naturgesetze und einen beliebigen Zustand lange vor dem Aufkommen der Menschheit, festgelegt sind, keine menschliche Verantwortung, keine Rolle für das Abwägen von Gründen und damit keine Freiheit geben kann.3 Auch Immanuel Kant war darauf bedacht, die Philosophie an die Naturwissenschaft seiner Zeit – und die hatte einen Namen: Isaac Newton – anzubinden, und dies geschieht in der für ihn charakteristi2 3

Unterdessen habe ich diesen Zusammenhang etwas detaillierter dargelegt in: Nida-Rümelin, 2006. Dieses alte Argument wurde von Peter van Inwagen sorgfältig als KonsequenzArgument ausgearbeitet (Inwagen, 1983).

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schen Form eines Dualismus des Noumenalen und des Phänomenalen, der nicht wirklich überzeugt. Dieser Dualismus wird von der so genannten ordinary language philosophy in der für sie charakteristischen Trennung der Sprachebenen oder in jüngster Zeit bei Hilary Bok in ihrer Trennung von theoretischen und praktischen Gründen fortgeführt (Bok, 1998). Es wird deutlich werden, dass die Charakterisierung von Freiheit über naturalistische Unterbestimmtheit einen epistemischen Kompatibilismus impliziert, d. h. die Theoriebildung und den Erklärungsanspruch naturwissenschaftlicher Theorien nicht tangiert. Zugleich aber hält diese Charakterisierung eine zentrale libertre Intuition aufrecht, nämlich die, dass die Gründe, die wir haben, uns so und nicht anders zu verhalten, eine genuine Rolle spielen, die sich nicht auf naturwissenschaftliche Sachverhalte reduzieren lässt. Wenn dieser Libertarismus nach einer „Lücke“ verlangt,4 dann ist es eine Lücke, die unauffällig ist, die in der naturwissenschaftlichen Analyse unbemerkt bliebe.

II Freiheit sollten wir verstehen als naturalistische Unterbestimmtheit von Handlungsgrnden. Man kann diese Unterbestimmtheit noch auf einer weiteren Ebene fortführen und eine Unterbestimmtheit der Handlung durch Gründe hinzufügen, dann hat man die Spontaneittsproblematik mit einbezogen – ich werde diese Erweiterung in meinem Vortrag heute ausklammern. Um diese Definition von Freiheit zu erfassen, ist zu klären, was hier unter „Gründen“ verstanden werden soll. Man kann sich dem am besten dadurch nähern, dass man sich die Rolle propositionaler Einstellungen vor Augen führt und eine fundamentale Zweiteilung dieser propositionalen Einstellungen vornimmt: Auf der einen Seite kommen die epistemischen zu liegen, also diejenigen Einstellungen, die auf das Bestehen deskriptiver oder empirischer Sachverhalte gerichtet sind. Innerhalb der epistemischen Einstellungen gibt es allerdings ein weites Spektrum. Dazu gehören nicht nur feste Überzeugungen, dass etwas der Fall ist oder der Fall war, sondern auch Vermutungen, Hypothesen, Erwartungen (im epistemischen Sinne).5 Eine kohärentistisch interpre4 5

Vgl. Searle, 2004. „Ich erwarte, dass Du gehst“ kann als Vermutung ein zukünftiges Ereignis betreffend gemeint sein oder als Aufforderung gerichtet an die Person, die man

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tierte Entscheidungstheorie erlaubt es, alle Arten epistemischer Einstellungen in der Weise zu vereinheitlichen, dass sie durch Zuschreibungen subjektiver Wahrscheinlichkeiten an rationale Akteure repräsentiert werden.6 Ein zweiter Typus propositionaler Einstellungen hat einen ganz anderen Charakter, nennen wir diese in Anlehnung an die Stoa konative. Wünsche sind etwa paradigmatische Formen konativer Einstellungen. Ich wünsche mir, dass etwas der Fall ist. Die Proposition ist das, von dem ich mir wünsche, dass es der Fall ist. Mein Wunsch ist die entsprechende konative Einstellung zu dieser Proposition. Hoffnungen verbinden eine konative und eine epistemische Einstellung, denn zu hoffen, dass p, impliziert beides: zu wnschen, dass p, und zu erwarten, dass p. Unser Handeln ist immer Ausdruck eines ganzen Komplexes von propositionalen Einstellungen dieser beiden Typen. Diese Zweiteilung sollte uns aber nicht dazu verführen, im Sinne des desire-belief-Modells7 einem praktischen Positivismus zu verfallen, für den Wünsche etwas Gegebenes sind, während Überzeugungen begründet werden können, sofern es sich nicht um unmittelbar aus Wahrnehmungen sich kausal ergebende Überzeugungen handelt. Dieser praktische Positivismus korrespondiert mit einem theoretischen Positivismus, der das Gesamt unseres deskriptiven Wissens aus vermeintlich unmittelbar gegebenen empirischen Daten logisch (d. h. hier über die Methoden der induktiven Logik) konstruieren will.8 Der Mainstream der analytischen Philosophie ist nach wie vor einem Humeschen Schema verhaftet: Menschen haben bestimmte Wünsche, die können als gegeben angenommen werden und dann haben sie bestimmte Überzeugungen, und diese Überzeugungen geben der Erfüllung der Wünsche gewissermaßen erst die Richtung und orientieren dadurch das Handeln. Die Wünsche sind das treibende Moment, gewissermaßen die Energie oder eigentlich besser der Impuls, der die Menschen antreibt, während die Überzeugungen diesen Impuls

6 7 8

auffordert zu gehen. Im zweiten Fall würden wir nicht von einer epistemischen Einstellung sprechen. Vgl. Bovens/Hartmann, 2006. Ich vertausche bewusst die übliche Reihenfolge der Terme. Carnaps „Der logische Aufbau der Welt“ ist dafür die klassische Referenz (Carnap, 1928). Dieses, wenn auch vielfältig modifizierte, Programm hält sich nach wie vor in einer sich als empiristisch und naturalistisch verstehenden Philosophie.

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nicht geben können und daher inert bleiben. Das treibende Moment wird dann den desires, den Wünschen oder in kantischer Terminologie den Neigungen zugeschrieben. Ich glaube nicht, dass das die richtige Sichtweise ist.9 Ich würde es folgendermaßen auf den Punkt bringen: Wenn wir handeln und uns nicht nur verhalten, dann geht dem eine spezifische Form der Distanzierung voraus. Der Prozess des praktischen und theoretischen Deliberierens kommt zu einem Halt, wird unterbrochen und zum Abschluss gebracht durch eine Entscheidung. Diese Entscheidung wird als vorausgehende Intention durch eine Handlung erfüllt. Das ist der entscheidende Unterschied zu einem Reflex. Eine Handlung hat immer dieses Element einer und sei es auch noch so kurzen Verzögerung, die die Möglichkeit gibt Stellung zu nehmen im Sinne des stoizistischen prohairesis krisis estin. Jede Wahl, jede Präferenz, jeder Wunsch, jede Entscheidung ist eine Stellungnahme, ein Urteil, oder bringt ein solches zum Ausdruck. Die Präferenz, der Wunsch ist nicht einfach gegeben und äußert sich dann in der Handlung, wie die desire-belief-Theorie meint, sondern es gibt eine Dynamik propositionaler Einstellungen, die teilweise kausal und teilweise durch Gründe gesteuert ist. Handlungen markieren jeweils – wenn auch noch so kleine – Diskontinuitäten im alltäglichen Strom propositionaler Einstellungen. Ein (guter) Grund für eine Handlung ist ein (guter) Grund, davon überzeugt zu sein, dass diese Handlung die richtige ist. Ein guter Grund für mich, etwas zu tun, ist ein guter Grund für mich, anzunehmen, dass diese Handlung die richtige für mich ist. Ich kann diese Gründe gegenüber Kritikern geltend machen und damit mein Handeln rechtfertigen. Gründe geben und Gründe nehmen ist ein interpersoneller Prozess, der lebensweltlich etablierten Regeln folgt. Wir können diese als Philosophen oder Wissenschaftler nicht neu erfinden. Mit meinen propositionalen Einstellungen nehme ich Stellung zu der Frage, ob diese oder jene Handlung für mich die richtige ist. Die Handlung ist Ausdruck einer Stellungnahme. Sofern sie das nicht ist, etwa bei zweieinhalbjährigen Kindern, sind die betreffenden Akteure auch nicht oder nur in rudimentärem Maße verantwortlich. Akteure dieser Art weisen in der Regel ebenfalls konative epistemische Einstellungen auf, was ihnen fehlt, ist dieser Moment der Distanzierung, der begründeten Stellungnahme. Ich sollte hier anmerken, dass ich die Rolle von Gründen nicht fundamentalistisch verstehe. Es gibt kein sicheres Fundament von dem 9

Vgl. Nida-Rümelin, 2001.

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aus sich die Rationalität des Urteilens, des Unterscheidens und des Handelns ableiten lässt. Ich habe ein gradualistisches und holistisches im umfassenden Sinne, eben kohrentistisches Bild praktischer und theoretischer Deliberation. Vieles ist so selbstverständlich und so klar, dass ich nicht erst Gründe abwägen muss, um eine epistemische oder konative propositionale Einstellung auszuprägen. Wenn ich vor einem Baum stehe und zweifle, dass da ein Baum steht, bin ich, um Wittgenstein aus ber Gewissheit zu zitieren, ein „Halb-Irrer“ (Wittgenstein, 2002). Es bedarf keines Abwägens von Gründen um zu dieser Überzeugung zu kommen. Aber das heißt nicht, dass bestimmte Überzeugungen jeder Deliberation entzogen wären. Die gleiche Wahrnehmungssituation auf einem Jahrmarkt und nach der Erfahrung von Spiegelkabinetten und Täuschungssalons wird die Leute nicht unbesehen zu der Überzeugung führen, dass dort ein Baum steht. Ich habe dann den Eindruck, vor einem Baum zu stehen, und bezweifle dennoch, dass dort ein Baum steht – und zwar aus guten Gründen. Das Spiel des Begrndens setzt ein Gefälle subjektiver Gewissheiten voraus. Es ist dieses Gefälle, der graduelle Unterschied in meiner Zustimmung oder Bekräftigung bestimmter epistemischer Einstellungen, die das Spiel erst in Gang setzen. Diese Spiele sind vielfältig und es ist ein rationalistischer Irrglaube anzunehmen, dass es eine kanonische Form gibt oder dass sich diese Vielfalt auf eine solche zurückführen ließe.

III Wenn ich glaube, dass der philosophisch interessante Kern unserer Freiheitsintuitionen als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen zu fassen ist, dann muss ich klarmachen was hier genau mit naturalistischer Unterbestimmtheit gemeint ist. Wir könnten versuchen den Begriff der natürlichen Tatsache von der der nicht-natürlichen zu unterscheiden. Naturalistische Beschreibungen und Erklärungen nehmen ausschließlich auf natürliche Tatsachen Bezug und naturalistische Gesetzmäßigkeiten werden ausschließlich durch natürliche Sachverhalte bestätigt oder widerlegt. Diese Form der Präzisierung liefe über ein ontologisches Kriterium. Ich will nicht sagen, dass dies aussichtslos ist, aber der einfachere Weg ist der epistemologische: Wir identifizieren eine naturalistische Beschreibung oder Erklärung schlicht über einen spezifischen und vertrauten Korpus wissenschaftlicher Theorien. Natürliche Tatsachen sind solche, die grundsätzlich im Rahmen dieses Korpus erklärbar und

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beschreibbar erscheinen. Damit ist nicht gesagt, dass der aktuelle Stand der naturwissenschaftlichen Disziplinen dazu ausreicht. Bislang besteht eine ziemlich klare Demarkationslinie, die die Begriffswelten der Naturwissenschaften von denen der Geistes- und Sozialwissenschaften abgrenzt. Unter naturalistischer Bestimmtheit eines Phänomens verstehe ich nun seine vollständige naturwissenschaftliche Beschreibbarkeit und Erklärbarkeit. Naturalistische Unterbestimmtheit eines Phänomens besteht dann, wenn dieses Phänomen nicht ohne Rest naturwissenschaftlich beschreibbar und erklärbar ist. Erklärbarkeit und Prognostizierbarkeit stehen in einem komplexen Zusammenhang,10 aber einmal angenommen Erklärbarkeit würde Prognostizierbarkeit implizieren, dann wäre unvollständige Prognostizierbarkeit mit den Mitteln der Naturwissenschaft hinreichend für naturalistische Unterbestimmtheit. Der Zusammenhang zwischen Erklärbarkeit und Prognostizierbarkeit löst sich bei probabilistischen Gesetzmäßigkeiten auf. Dennoch möchte ich den Begriff der naturalistischen Bestimmtheit bzw. Unterbestimmtheit soweit fassen, dass er auch den probabilistischen Fall einschließt. Wenn der Probabilismus der Quantenphysik das letzte Wort in der Grundlagendisziplin der Naturwissenschaften ist, dann gibt es eine grundsätzliche Grenze der Beschreibung und Erklärung mit Hilfe deterministischer naturwissenschaftlicher Gesetze. Diese Grenze ist aber nicht mit der der naturalistischen Beschreibbarkeit und Erklärbarkeit generell zu identifizieren. Wenn die Grundlagendisziplin der Naturwissenschaft probabilistisch ist (und die Quantenphysik ist irreduzibel probabilistisch), dann müssen wir uns mit schwächeren Kriterien der Beschreibung und Erklärung natürlicher Phänomene zufrieden geben. Wir können dann nicht mehr als Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Zuständen erreichen und wir können die Beschreibungsgenauigkeit wegen der Unschärferelation nicht beliebig, d. h. in Abhängigkeit von technischen Apparaturen, verfeinern. Es gibt dann eine prinzipiell nicht überschreitbare Grenze der Beschreibungspräzision. Auch der mit der Entwicklung der Naturwissenschaft so eng verbundene analytische Ansatz, d. h. die Zerlegung von Prozessen in Teilprozesse und die Beschreibung und Erklärung von Gesamtprozessen durch die Beschreibung und Erklärung von Teilprozessen findet eine prinzipielle Schranke, die man als einen unhintergehbaren Holismus der quantenphysikalischen Beschreibungsform bezeichnen kann. Unterhalb 10 Vgl. Stegmüller, 1969.

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eines bestimmten Zerlegungsmaßes sind die Einzelphänomene nicht mehr erklärbar und das Verhalten des Gesamtsystems lässt sich nicht aus der Zusammensetzung seiner Teilsysteme verstehen. Wir verstehen naturalistische Unterbestimmtheit also nicht so, dass sie schon dann erfüllt ist, wenn die prognostischen und die beschreibenden Kapazitäten der Naturwissenschaft an eine Grenze stoßen, wie sie durch den Probabilismus der Quantenphysik gezogen ist. Dies entspricht einer wichtigen philosophischen, älteren Einsicht, dass auch menschliches Handeln, das durch Zufälligkeiten determiniert ist, kein Ausdruck menschlicher Freiheit ist. Insofern war die Zurückweisung der Hoffnung mancher Philosophen während der Kinderjahre der Quantenphysik, der quantenphysikalische Probabilismus würde das Postulat menschlicher Freiheit retten, berechtigt. Es ist nicht entscheidend, ob probabilistische oder deterministische naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten menschliches Handeln bestimmen. Wenn sie dies vollständig tun – so jedenfalls meine These – dann gibt es menschliche Freiheit nicht, dann beruht menschliche Freiheit auf einer Illusion. Die These lautet: Freiheit sei die naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen generell und von Handlungsgründen, also praktischen Gründen, speziell. Zur menschlichen Freiheit gehört auch die Verantwortung für das eigene Urteil, die eigenen Überzeugungen und für bestimmte Gefühle (nicht-propositionale Einstellungen), also nicht nur für die eigene Handlung.11 Wir sind verantwortlich für das, was unter unserer Kontrolle ist und das ist genau derjenige Bereich unserer Existenz, der von Gründen affiziert ist. Gründe spielen für das, was wir glauben und für das, was wir tun, auch für bestimmte Gefühle, eine ausschlaggebende Rolle. Uns ist der innere Zusammenhang zwischen Deliberationen und Gefühlen, Urteilen und Handlungen lebensweltlich vertraut. Die abgeschlossene Deliberation, bzw. im Grenzfall die kurze Verzögerung, in der die Deliberation suspendiert und das Urteil geformt oder die Entscheidung getroffen wird, ist das ausschlaggebende Element unserer Freiheit und die Tatsache, dass der Übergang zu konkretem Verhalten oder zu konkreten Äußerungen im Wesentlichen in kausalen Begriffen rekonstruierbar ist, tut dieser Freiheit dann keinen Abbruch mehr. Wenn jedoch die Gründe selbst durch naturwissenschaftlich 11 Der dritte Teil der kleinen Trilogie, deren erster Teil unter dem Titel „Strukturelle Rationalität“ (Nida-Rümelin, 2001) und deren zweiter unter dem Titel „Über menschliche Freiheit“ (Nida-Rümelin, 2005) schon publiziert sind, wird sich mit diesem erweiterten Verantwortungsbegriff befassen.

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beschreibbare Ereignisse und Zustände ohne Rest erklärbar wären, dann könnten wir nicht verstehen, worin eigentlich Freiheit und damit menschliche Verantwortung besteht. Das Argument setzt voraus, dass Gründe kein möglicher Gegenstand naturwissenschaftlicher Beschreibung und Erklärung sind. Wenn Gründe nichts anderes wären als etwa neurophysiologische Prozesse, wenn also eine extreme (type-type und token-token) Variante der mindbody-Identitätstheorie zuträfe, dann allerdings ließe sich das Argument nicht mehr durchhalten. Es setzt impliziter voraus, dass diese extreme Form der Identitätstheorie unzutreffend ist, dass Gründe sich in dieser Form nicht in ein naturwissenschaftliches Beschreibungsschema einbetten lassen. Das Argument setzt voraus, dass diese Fassung der Identitätstheorie unzutreffend ist. Es sieht etwa folgendermaßen aus: In einem ersten Schritt werden unsere Freiheitsintuitionen expliziert und dies verlangt unsere Sprachpraxis und unsere Interaktionspraxis generell ernst zu nehmen, ernster jedenfalls als es über viele Jahrzehnte in der analytischen Sprachphilosophie der Fall war. Eine umfassende Irrtumstheorie all dieser Praktiken, die tief in unsere Lebenswelt eingelassen sind, ist nicht plausibel. Eine solche Irrtumstheorie verlangt, dass man sich außerhalb der lebensweltlichen Begründungsspiele stellen kann und von welchem fiktiven Punkt auch immer theoretische Überzeugungen neu und ganz anders begründen kann. Vernünftigerweise gehen wir von derjenigen Praxis aus, die etabliert ist und an der wir täglich teilhaben. Zu dieser Praxis gehört es zentral, dass wir uns wechselseitig Freiheit und Verantwortung zuschreiben – nennen wir das die Strawsonsche Perspektive. Die Lücke bei Strawson ist, dass er dem dritten Element, nämlich dem der Rationalität, einen unzureichenden Ort zuweist. Es sind die Gründe, von denen wir uns affizieren lassen, die uns als freie und verantwortliche Akteure konstituieren. Wir sind daher frei und verantwortlich nur insofern wir rationale Akteure sind. Unsere reaktiven Einstellungen rechtfertigen sich durch diese wechselseitige Wahrnehmung als rationale Akteure und nur dadurch. Es ist angesichts dieser etablierten Praxis unangemessen, andere rationale Akteure lediglich als Gegenstand der Beeinflussung zu sehen und die Strategien der Einwirkung, sei es mit sprachlichen oder außersprachlichen Mitteln, davon abhängig zu machen, ob sie das betreffende Verhalten oder die betreffenden Reaktionen, die man sich wünscht, hervorrufen oder nicht. Hier gibt es keinen Kausalzusammenhang, sondern einen Begründungszusammenhang, d. h. die angemessene Haltung zeigt sich darin, dass man an Gründe appelliert

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und hofft, dass die betreffende Person sich von den angeführten theoretischen und praktischen Gründen, den Gründen etwas zu glauben oder zu tun, überzeugen lässt. Wir sind auch dann gehalten, an Gründe zu appellieren, wenn es andere Erfolg versprechendere Wege gäbe, die Überzeugungen und die Handlungen anderer Personen zu beeinflussen. Wir nehmen uns wechselseitig nur ernst, wenn wir an Gründe appellieren und dieses besondere Phänomen hebt den Anderen aus einem bloßen Naturzusammenhang, d. h. aus naturalistisch vollständig beschreibbaren Kausalzusammenhängen heraus. Es ist diese kantische Theorie menschlicher Würde, die letztlich auf dem Spiele steht, wenn man auf eine naturalistische Anthropologie zurückfällt. Man kann ein vertieftes Verständnis dieser Praxis gewinnen, indem man die unterschiedlichen normativen Institutionen, die diese steuern, analysiert, wie es etwa in der Sprachphilosophie – ich denke da sowohl an die intentionalistische Semantik, wie an die Sprechakt-Theorie, aber auch an die Bereichsethiken – praktiziert wird. Wenn jemand glaubt, dass sich eine Person durch Gründe affizieren lässt, dann geht er mit ihr anders um als wenn er der Meinung ist, dass für deren Verhalten generell oder in diesem speziellen Fall Gründe keine Rolle spielen. Bei kleinen Kindern oder bei Alzheimer-Patienten ist dieses Spiel des Begründens nur beschränkt oder gar nicht sinnvoll. Es ist aber nicht die Effektivität, die über die Angemessenheit entscheidet. Das, worauf wir uns mühselig genug einlassen – nämlich auf das Spiel des Begründens: Gründe zu entwickeln und zu zeigen, dass diese mit anderen vereinbar sind, sie gegeneinander abzuwägen, gemeinsame Überzeugungen ausfindig zu machen, von denen aus das Begründungsspiel beginnen kann etc. –, ist in vielen Fällen nicht der effektivste Weg, um auf eine andere Person einzuwirken. Es gibt die auch in der Politik weit verbreitete „Rationalität von Irrationalität“: Leitz-Ordner schmeißende Minister mögen gelegentlich effektiver beim Verfolgen ihrer Ziele sein als diejenigen, die sich auf das mühselige Spiel des Begründens einlassen. Aber dieses bleibt Ausdruck der angemessenen Haltung zueinander als verantwortungsfähige, rationale und freie Personen. Wenn nun unser Verhalten vollständig naturalistisch bestimmt wäre, sei es im Rahmen deterministischer und/oder probabilistischer Gesetzmäßigkeiten und Begriffe, dann hieße das, dass Gründe in letzter Instanz für das, was wir tun, und für das, was wir glauben, keine Rolle spielen. Das verstehen manche nicht und meinen, dass eine naturalistische Sicht auf menschliches Handeln und Urteilen doch bestens ver-

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einbar sei mit der Rolle der Deliberation. Dies beruht jedoch auf einem Irrtum. Wenn das Abwägen von Gründen eine Rolle spielt, dann wirkt das Ergebnis dieser Deliberation – die Entscheidung, das Urteil – kausal auf den weiteren Verlauf der Welt ein. Und diese kausale Einwirkung bezieht sich auch auf den naturalistischen Aspekt des Weltverlaufes. Unser Handeln hat einen „äußeren“, physikalischen oder weiter gefasst naturalistischen Aspekt: Wenn wir uns äußern bringen wir die Luft in spezifische Schwingungsmuster, wenn wir handeln, bewegen wir uns in der einen oder anderen Weise durch den Raum. Wenn Gründe also naturalistisch unterbestimmt sind, dann ist eine vollständige naturwissenschaftliche Beschreibung, Erklärung und Vorhersage des physikalischen Weltverlaufes, aller physikalischen Ereignisse in dieser Welt unter Einschluss der von unserem Handeln beeinflussten, nicht möglich. Es kann nicht beides gelten, dass Gründe diese Rolle spielen, dass unser Handeln und Urteilen von Gründen beeinflusst ist und dass es eine vollständige Beschreibung und Erklärung unseres Handelns und Urteilens gibt, das nicht auf Gründe Bezug nimmt. In diesem Fall wären John Mackies INUS-Bedingungen für Kausalität verletzt. Gründe wären kein notwendiger aber unzureichender Teil eines nicht notwendigen aber zureichenden Ganzen einer Erklärung.12 Wenn Gründe für die Erklärung dessen, was jemand tut und was jemand glaubt, eine wesentliche Rolle spielen, dann kann es keine vollständige naturalistische Erklärung dessen geben, was jemand tut und was er glaubt.

IV Was ergibt sich denn aus dieser These für die Frage der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus? Sie sagt nichts darüber aus, ob ein Universal-Determinismus mit unserem Freiheitsverständnis vereinbar ist. Die These legt sich nur insofern fest, als ein naturalistischer Determinismus mit menschlicher Freiheit unvereinbar ist. Dies ist ein wesentlicher Unterschied. Ich selbst bin mir bis heute nicht im Klaren darüber, ob ein Universal-Determinismus, der den Bereich der Gründe mit einschließt, mit Freiheit, Verantwortung und Rationalität kompatibel wäre. Ich will das auch hier offenlassen. Ich bin mir aber ganz sicher, dass ein naturalistischer Determinismus mit Freiheit, 12 „INUS“ steht für: „insufficient“, but „non-redundant“ part of an „unnecessary“, but „sufficient“ condition (Mackie, 1980).

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Verantwortung und Rationalität unvereinbar ist. Diese Form des „Libertarismus“, wenn Sie denn meine Auffassung noch so charakterisieren wollen, ist den üblichen anti-libertären Einwänden nicht ausgesetzt.13 So ist die Frage ganz unerheblich, ob eine Person von ihrem Charakter her wirklich in der Lage wäre, ganz etwas anderes zu tun als sie tatsächlich tut, um sie als frei zu bezeichnen. Wichtig ist lediglich, dass für diese Person das Abwägen von Gründen eine für ihr Handeln und ihr Urteilen ausschlaggebende Rolle spielt. Wenn sie einen Charakter hat, den bestimmte Handlungsweisen für sie unmöglich machen, dann schlägt sich das in den Ergebnissen ihrer Abwägungsprozesse regelmäßig nieder. Solange diese Abwägungsprozesse eine kausale Rolle für den weiteren Verlauf ihres Verhaltens spielen, bedroht das ihre Freiheit, ihre Verantwortung und ihre Rationalität in keiner Weise. Aber es kann nicht sein, dass eine naturalistische Beschreibung ihrer genetischen Ausstattung, der epigenetischen Einflüsse, der Perzeptionsgeschichte und der Perzeptionssituation im betreffenden Augenblick allein ausreicht, um in jeder einzelnen Situation das Verhalten der Person zu bestimmen. Es ist das gesamte System propositionaler Einstellungen, dessen Dynamik wenigstens teilweise durch das Abwägen von Gründen bestimmt ist, das zusammen mit äußeren Einflüssen und Zufälligkeiten aller Arten die individuellen Lebensgeschichten schreibt. Die oben angesprochene gradualistische und holistische, eben umfassend kohrentistische Sichtweise ist hier wesentlich für ein angemessenes Verständnis. Die Rationalitt der einzelnen Handlung wird nicht punktuell bestimmt, sondern vor dem Hintergrund dieses ganzen Komplexes. Die Freiheit der Person wird ebenso wenig punktuell bestimmt, sondern bezüglich der Rolle, die Gründe für ihre Lebensgeschichte insgesamt spielen. Die Freiheit ist nicht die radikale Freiheit, nach der wir uns in jedem Zeitpunkt neu erfinden können, wie etwa Avishai Margalit meint (Margalit, 1996) 14, sondern es ist die graduelle und bedingte Freiheit, die dem Abwägen von Gründen eine gewisse Rolle in unserem Leben einräumt. Die Tatsache, dass man unterdessen sehr viel deutlicher sieht, wie minimalste Abweichungen der Anfangssituation weit reichende und einschneidende Folgen haben können, hilft dieses Bild plausibler zu machen. Der Probabilismus der Quantenphysik tritt hinzu, um die Vorstellung streng deterministischer Verlaufsgesetze der 13 Vgl. dazu den Beitrag von Geert Keil in diesem Band. 14 Deutsch: Margalit, 1999, 91 ff.

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Natur ganz abwegig erscheinen zu lassen. Zusammen mit den Singularitäten, die auch in einem geschlossenen deterministischen System eine Unterbestimmtheit der zeitlichen Zustandsfolgen nach sich ziehen, macht sie die Annahme einer naturalistischen Unterbestimmtheit weniger exotisch, als sie zunächst erscheinen mag. Meine These besagt jedoch nicht lediglich, dass es eine solche Unterbestimmtheit gibt, sondern dass diese Unterbestimmtheit das kausale Wirken der Gründe in menschlichem Handeln und Urteilen zulässt, ohne uns bekannte Naturgesetze zu verletzen. Die bloße Unterbestimmtheit der Verlaufsgesetze allein sichert keine Freiheit. Es ist das Wirken der Gründe und ihre naturalistische Unterbestimmtheit, die zusammen Freiheit ausmachen. Und damit bin ich schon bei meinem letzten Stichwort, nämlich dem des epistemischen Kompatibilismus. Die Position, die mir am plausibelsten erscheint und für die ich hier argumentiere, ist im Hinblick auf den Kompatibilismus hybrid: Sie ist non-kompatibilistisch und libertär im ontologischen und sie ist kompatibilistisch im epistemologischen Sinne. Die Annahme der naturalistischen Unterbestimmtheit unserer Gründe und ihres kausalen Wirkens in der Welt ist ohne jede Revision naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse möglich. Man kann sich dies an einem Beispiel leicht klarmachen. Stellen Sie sich vor, jemand verhält sich in irgendeiner Weise, geht durch einen Raum, versucht dies und jenes, hebt etwas auf und stellt etwas hin usw. Nehmen wir an, dieses Verhalten wird vollständig und sehr genau mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschrieben, beschränken wir uns hier auf die Mittel der Physik. Es werden die elektrostatischen Felder, die aufgebaut werden und dieses Verhalten begleiten, beschrieben, die Kraftwirkungen, Impulse usw. Keines der physikalisch beschriebenen Ereignisse, die dieses Verhalten ausmachen, wird irgendein physikalisches Gesetz verletzen. Jedes dieser Ereignisse – physikalisch beschrieben – lässt sich physikalisch erklären. Aber glaubt irgendjemand, dass die Zustandsfolge in diesem Raum, die durch das Verhalten herbeigeführt wird, mit den Mitteln der Physik erklärbar ist? Natürlich nicht, es besteht keinerlei Aussicht, dass die Rolle der Intentionen in die Sprache der Physik übersetzbar wäre. Dies gilt wohlgemerkt, obwohl keines der physikalisch beschriebenen Ereignisse physikalisch unerklärbar ist. Alles ist vollständig erklärbar, vorausgesetzt die Rechner sind hinreichend groß, um die ungeheuren Datenmengen zu verarbeiten. Die physikalische Beschreibung ist für sich genommen lückenlos und doch kann sie den Prozess als Ganzen nicht erklären. Ohne Bezugnahme auf Intentionen gibt es keine vollständige Erklärung dieses Vorganges. Alles was diese

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Person tut, verletzt kein physikalisches Gesetz. Ihre Intentionen wirken epistemologisch betrachtet unauffllig in der physikalischen Welt. Die Annahme, dass ihre Intentionen eine kausale Rolle spielen, ist kompatibel damit, dass alle physikalischen Vorgänge, die mit ihrem Verhalten verbunden sind, vollständig physikalisch erklärt werden können. Die Herausforderung des naturwissenschaftlichen Weltbildes durch die Bestimmung der Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit ist sehr moderat. Wenn wir die Rolle von Rationalität, Freiheit und Verantwortung nicht überzeichnen, scheinen mir die bisherigen empirischen Befunde der Neurophysiologie unser Selbstbild nicht zu erschüttern und die kausale Rolle von Deliberationen nicht zu widerlegen. Die Neurophysiologie hilft, die empirischen Bedingtheiten unserer Überzeugungsbildung und unserer Handlungswahlen genauer zu erfassen. Sie macht die Bedingtheiten unserer Freiheit und unserer Verantwortung deutlich. Die Deliberation spielt eine strukturierende kausale Rolle und lässt den kausalen neurophysiologischen Prozessen doch hinreichend Spielraum, um auf der neurophysiologischen Beschreibungsebene keine Spuren zu hinterlassen.

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Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen

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Searle, John (2004): Freiheit und Neurobiologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Stegmüller, Wolfgang (1969): Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Berlin/Heidelberg/New York: Springer. Wittgenstein, Ludwig (2002): ber Gewissheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Ursachen und Gründe Zwei zentrale Begriffe in der Debatte um Naturalismus und Willensfreiheit MICHAEL PAUEN Eines der zentralen Merkmale von Personen besteht in deren Fähigkeit, sich in Handlungen und Überlegungen durch Gründe leiten zu lassen. Handlungsleitende Gründe zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie eine Handlung nicht einfach bewirken, so wie ein Reiz oder ein Affekt eine Reaktion herbeiführt, vielmehr vermag eine Person zu ihren Gründen Stellung zu nehmen, sie kann sie akzeptieren oder verwerfen. Dies erklärt, warum Harry G. Frankfurt in der Fähigkeit zu reflexiven, also offenbar von Gründen geleiteten Stellungnahmen zu eigenen Willensakten das Kriterium von Personalität sehen konnte (Frankfurt, 1971). Willensakte, die in einem solchen reflexiven Akt von einer Person akzeptiert werden, sind in Frankfurts Augen frei. Im Gegensatz dazu liegt es nahe, kausal determiniertes Verhalten als unfrei zu bezeichnen – schließlich scheint der Person in diesem Falle auch die Möglichkeiten zu fehlen, zu den Ursachen ihres Verhaltens Stellung zu nehmen. Bedeutsam sind diese Überlegungen in zweierlei Hinsicht. Zum einen liefern sie offenbar ein Kriterium für die Unterscheidung zwischen freien und unfreien Handlungen bzw. Verhaltensweisen: Freie Handlungen scheinen sich auszuzeichnen durch ihre Rückführbarkeit auf Gründe. Zum anderen sieht es so aus, als sei aus diesen Überlegungen ein Argument gegen den Naturalismus zu gewinnen: Wenn Willensakte wie alle anderen geistigen Prozesse neuronale Prozesse sind, dann sind sie offenbar grundsätzlich von Ursachen und eben nicht von Gründen bestimmt. Wollen wir an unserer Vorstellung von Personen als Wesen festhalten, deren Handeln zumindest manchmal von Gründen geleitet wird, dann müssen wir den Naturalismus wohl zurückweisen. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass beide Behauptungen unzutreffend sind: Die Unterscheidung von Gründen und Ursachen liefert weder ein adäquates Freiheitskriterium noch einen prinzipiellen Einwand gegen den Naturalismus. Allerdings ist damit nichts darüber

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ausgesagt, ob der Naturalismus wahr oder falsch ist. Ich werde weiterhin davon ausgehen, dass die Fähigkeit, sich im Handeln und Überlegen von Gründen leiten zu lassen, ein auszeichnendes Merkmal von Personen und eine notwendige Bedingung von Freiheit ist; schließlich werde ich unterstellen, dass Menschen dieses Kriterium prinzipiell erfüllen können.

Begriffliche Klarstellungen Ursachen und Gründe Ich unterstelle, dass Gründe verstanden werden können als propositionale Einstellungen. Die Überzeugung, dass Diebstahl verwerflich ist, kann für mich ein Grund sein, die Waren in meinem Einkaufskorb zu bezahlen. Gründe sind also Abstrakta: Die Überzeugung, dass Sokrates ein Mensch ist, ist weder räumlich noch zeitlich bestimmbar, mehrere Menschen können zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten dieselbe Überzeugung haben. Gründe unterscheiden sich damit von Ursachen, bei denen es sich üblicherweise um raum-zeitlich bestimmbare Ereignisse handelt. So könnte der Aufprall eines Balles die Ursache dafür sein, dass eine Scheibe zerbrochen ist. Schon allein dieser Unterschied zeigt, dass Ursachen und Gründe nicht einfach miteinander identifiziert werden können, doch es gibt noch weitere Differenzen. Charakteristisch für Gründe bzw. propositionale Einstellungen ist es nämlich, dass sie es rational machen, bestimmte Handlungen auszuführen oder gewisse Aussagen zu akzeptieren. Wenn ich also die Überzeugung habe, dass Sokrates ein Mensch ist, und gleichzeitig glaube, dass alle Menschen sterblich sind, dann ist es für mich rational, die Behauptung zu akzeptieren, dass Sokrates sterblich ist. Gründe stehen also in Rechtfertigungskontexten. Im Gegensatz dazu stehen Ursachen in kausalen Kontexten: Der Ball bewirkt, dass die Scheibe zerbricht. Typischerweise sind Ursache-Wirkungsbeziehungen Gegenstand von gesetzesartigen Verallgemeinerungen. Wir können daher sagen, dass eine Scheibe üblicherweise zerbricht, wenn sie von einem Ball mit einem bestimmten Gewicht und einer bestimmten Geschwindigkeit getroffen wird. Wir würden jedoch nicht sagen, dass das Zerbrechen der Scheibe unter diesen Umständen gerechtfertigt war. Das wird spätestens dann deutlich, wenn unsere Erwartungen verletzt werden: Wenn eine Person gegen gute Gründe handelt, werden wir sagen, dass sie keinen Grund hatte. Wenn jedoch ein Ereignis stattfin-

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det, dass von unseren Regeln nicht vorhergesagt wird, werden wir nicht sagen, dass das Ereignis keine Ursache hatte, vielmehr werden wir unsere Regeln korrigieren. Ein weiterer Unterschied zwischen Ursachen und Gründen hängt eng mit dem zuletzt beschriebenen Merkmal zusammen. Gründe führen eine Handlung oder Aussage nämlich nicht direkt herbei, sondern erlauben dem Subjekt eine Stellungnahme, in der der Grund bewertet, akzeptiert oder gegebenenfalls verworfen werden kann. Es mag sein, dass ich einen Grund habe, vom Schreibtisch aufzustehen und eine Besorgung in der Stadt zu machen, doch ich kann diesen Grund als unwichtiger bewerten als den Grund, den ich habe, am Schreibtisch zu bleiben und weiter an meinem Aufsatz zu arbeiten. Eine solche Bewertung kommt bei Ursachen nicht in Frage. Entweder sie sind wirksam oder sie sind es nicht: Die Scheibe wird sich nicht überlegen, ob der Aufprall des Balles so stark ist, dass es sich lohnt, zu zerbrechen oder nicht. Soweit es um Handlungsgründe geht, müssen in der Regel ein Wunsch und eine Überzeugung zusammenkommen: Ich werde also nur dann einen Grund haben, bei Regen einen Regenschirm mitzunehmen, wenn ich nicht nur überzeugt bin, dass mich der Schirm vor Regen schützt, sondern auch den Wunsch habe, nicht nass zu werden. Donald Davidson spricht in diesem Zusammenhang von einem „primären Grund“ (Davidson, 1990).

Reduktion und Realisierung Diese – zugegebenermaßen skizzenhafte – Analyse zeigt, dass Ursachen keine Gründe sein können; genauso wäre es verfehlt, davon zu sprechen, dass Gründe physisch realisiert sind. Bevor ich auf die Konsequenzen dieser Überlegung eingehe, scheinen mir noch drei weitere begriffliche Klarstellungen erforderlich. Zum einen werde ich im Folgenden häufig von der „Realisierung“ mentaler Zustände sprechen. Der Begriff der Realisierung wird dabei zumeist eher metaphorisch verwendet. Ich verstehe unter einer Realisierung die Beziehung zwischen einer Klasse von – in der Regel höherstufigen – Eigenschaften und materiellen Objekten, die neben den genannten höherstufigen auch gewisse niederstufige Eigenschaften aufweisen. So könnten z. B. die Funktion von Auslassventilen bei Verbrennungsmotoren durch Objekte aus Stahl, Aluminium oder Keramik realisiert sein. Doch egal wie diese

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Funktion realisiert wird, in jedem Falle müssen die realisierenden Objekte die Merkmale aufweisen, die ein Auslassventil auszeichnen. Davon abgesehen unterscheiden sich die unterschiedlichen Realisierungen voneinander durch ihre mikrophysikalischen Merkmale. Dies zeigt gleichzeitig, dass die Definition der vor allem in der Philosophie des Geistes wichtigen Intuition gerecht wird, dass mentale Zustände multipel realisierbar sind. Zu klären bleibt schließlich der Begriff der Reduktion. Während Realisierungs- und Identitätsbehauptungen metaphysische Aussagen über Dinge in unserer Welt sind, stellen Reduktionsbehauptungen epistemische Aussagen über die Beziehungen zwischen Theorien oder Beschreibungen dar. Im Gegensatz zu einem auch in der Philosophie noch weit verbreiteten Verständnis hat Reduktion dabei nichts mit „Verminderung“ zu tun. Gemeint ist vielmehr die Zurückführung z. B. eines aus dem Alltag bekannten höherstufigen Phänomens auf wissenschaftlich verstandene Elementareigenschaften. Damit soll es möglich werden, die für die Elementareigenschaften geltenden wissenschaftlichen Theorien zur Erklärung des höherstufigen Phänomens zu nutzen. So kann man z. B. die Alltagseigenschaften von Wasser zurückführen auf bestimmte Elementareigenschaften von H2O-Molekülen. Selbstverständlich wird die Existenz des Alltagsphänomens damit nicht angetastet: Wasser verschwindet nicht dadurch, dass wir verstehen, wie H2 O-Moleküle die für Wasser charakteristischen Eigenschaften hervorbringen. Naturalismus Klärungsbedürftig ist schließlich die Frage, was man sinnvollerweise unter Naturalismus verstehen kann. Festhalten möchte ich zuerst, dass im Folgenden nicht von einem methodischen Naturalismus im Sinne Quines die Rede sein wird, der die Verfahren der modernen Naturwissenschaften als vorbildhaft auch für die Geisteswissenschaften ansieht. Im Gegensatz zu dieser Position gehe ich davon aus, dass die Geisteswissenschaften ein eigenes methodisches Instrumentarium benötigen, insbesondere dann, wenn sie sich – wie dies hier der Fall ist – mit begrifflichen oder normativen Problemen befassen. Es erscheint mir daher sinnvoll, Naturalismus durch die Annahme zu definieren, dass den zentralen menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften prinzipiell diejenigen natürlichen Prozesse und Regularitäten zugrunde liegen, die auch in der nichtorganischen Natur beobachtet werden können. Mit

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natürlichen Prozessen meine ich dabei Interaktionen zwischen prinzipiell beobachtbaren Objekten oder Substanzen, wie das Aufeinanderprallen von Körpern oder chemische Reaktionen; mit Regularitäten sind Abfolgen von Ereignissen gemeint, die wiederholt unter bestimmbaren Bedingungen auftreten, dabei muss die Regel nicht deterministisch sein. Akzeptiert wird damit u. a. das so genannte Prinzip der kausalen Geschlossenheit, d. h. die Annahme, dass alle Ursachen als physische oder eben natürliche Ursachen beschrieben werden können. Das Prinzip besagt nicht, dass alle Ursachen deterministische Ursachen sein müssen. Diesem Verständnis von Naturalismus entsprechen z. B. die Versuche der Humoralpathologie, Charaktereigenschaften auf die Zusammensetzung bestimmter Körperflüssigkeiten zurückzuführen; ihm entsprechen auch die Theorien der modernen Neurobiologie. Beide unterscheiden sich nur dadurch, dass erstere nach dem heutigen Stand des Wissens eine falsche, letztere eine im Wesentlichen richtige Erklärung liefern. Im Gegensatz dazu würde man bei den intentionalen Handlungen eines überirdischen Wesens, den Aktivitäten einer immateriellen Seele oder aber den Wirkungen der Lebenskraft nicht von einem natürlichen Prozess sprechen. Erklärungen, die sich auf solche Entitäten berufen, wären daher keine naturalistischen Erklärungen.

Nida-Rümelins transzendentalphilosophisches Argument In Anlehnung an Peter F. Strawson (Strawson, 1982) sucht Julian NidaRümelin aus der konstitutiven Bedeutung von Gründen für Personen einen prinzipiellen Einwand gegen den Naturalismus abzuleiten (NidaRümelin, 2005). Danach ist die Zurückweisung des Naturalismus eine Möglichkeitsbedingung unserer lebensweltlichen Moralität, insbesondere der Überzeugung, dass unser Handeln von Gründen bestimmt wird. Die Prämissen dieses Argumentes sind unstrittig: Selbstverständlich ist die Fähigkeit, nach Gründen zu handeln, nicht nur die Voraussetzung für die Zuschreibung von Verdienst und Verantwortung, sondern für sich genommen auch ein unaufgebbarer Bestandteil unseres Selbstverständnisses. Ergänzen könnte man eine Variante des alten Apelschen Letztbegründungsargumentes: Jeder, der argumentiert und damit Gründe nennt, muss faktisch die Wirksamkeit dieser Gründe bei sich und anderen voraussetzen. Wer also die Wirksamkeit von Gründen argumentativ bestreitet, der verwickelt sich in einen performativen Selbstwiderspruch.

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Nida-Rümelin geht jedoch einen entscheidenden Schritt weiter. Er argumentiert, dass die Wirksamkeit von Gründen ihrerseits den Verzicht auf den Naturalismus voraussetzt. Wäre unser Handeln vollständig durch physische Prozesse bestimmt, dann könnte es nicht unter dem Einfluss von Gründen stehen: Es ist eine transzendentale Bedingung unserer lebensweltlichen Moralität, dass wir uns selbst und andere als von kausalen Ursachen nicht vollständig determiniert ansehen. Was wir, belegt durch unsere reaktiven moralischen Einstellungen voraussetzen, ist, dass Gründe unser Handeln leiten oder jedenfalls leiten können. […] Wenn unser Handeln durch Anderes als Grnde vollstndig bestimmt wre, dann wre diese Bedingung de facto nicht erfllt. Da in naturwissenschaftlichen Beschreibungen und Gesetzen Gründe keinen Ort haben, können wir diesen Konflikt auch in der Weise formulieren: Eine vollstndige naturalistische Beschreibung und Erklrung menschlichen Handelns ist mit unserer lebensweltlichen Moralitt unvereinbar. (Nida-Rümelin, 2005, 35)

Der entscheidende Schritt, der von der Unverzichtbarkeit von Gründen zur Zurückweisung des Naturalismus führt, folgt aus der Annahme, dass „in naturwissenschaftlichen Beschreibungen und Gesetzen Gründe keinen Ort haben“. Dies bedeute nämlich, dass eine vollständige naturwissenschaftliche Beschreibung menschlichen Handelns, genauer der handlungssteuernden kognitiven Prozesse, die Wirksamkeit von Gründen ausschließt. Nun scheint mir auch die zitierte Ausgangsvoraussetzung unstrittig: Selbstverständlich ist auf der naturwissenschaftlichen bzw. neurobiologischen Beschreibungsebene niemals von Gründen die Rede: Neurone reagieren nicht auf Gründe, sondern auf Neurotransmitter und Aktionspotentiale. Wir haben es hier also mit rein kausalen Prozessen zu tun. Wie ich weiter unten noch etwas genauer deutlich machen möchte, trifft es zudem zu, dass Gründe keine Ursachen sind: Es ist also nicht möglich, die Wirksamkeit von Gründen dadurch zu sichern, dass man sie mit Ursachen identifiziert, deren Wirksamkeit niemand bezweifelt. Doch wird damit die Wirksamkeit von Gründen ausgeschlossen? Wenn ich richtig sehe, dann verweist die Argumentation Nida-Rümelins auf zwei Schwierigkeiten einer naturalistischen Konzeption von rationalen Überlegungen: Zum einen muss eine solche Konzeption deutlich machen, wie Gründe überhaupt wirksam werden können, wenn man unser Handeln vollständig auf physische Prozesse zurückführen lässt, ganz gleich ob diese Prozesse nun determiniert sind oder nicht. Zum anderen, dies hat neben Nida-Rümelin (Nida-Rümelin, 2006) auch Rafael Ferber betont (Ferber, 2003), kann man die Wirk-

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samkeit von Gründen insbesondere dann bezweifeln, wenn man davon ausgeht, dass unser Handeln durch determinierte neuronale Prozesse festgelegt und daher selbst durch Naturgesetze determiniert wird.

Der erste Einwand Kommen wir zunächst zum ersten Einwand. Dieser erscheint sehr plausibel: Wenn Gründe keine Ursachen sind, unser Handeln bzw. – in diesem Falle – Verhalten jedoch vollständig durch Ursachen determiniert wird, wie sollten Gründe dann noch handlungswirksam werden können? Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass mit dem Argument etwas nicht stimmen kann: Es beweist nämlich zuviel. Würde man ihm folgen, dann müsste man auch behaupten, die Funktion von Computern werde nicht durch deren Programme bestimmt, schließlich sei alles, was in Computern passiert, von der elektronischen Aktivität in Siliziumchips abhängig. Offensichtlich ist diese Überlegung jedoch falsch: Die Programmfunktionen werden überhaupt erst durch die Aktivitäten der Chips realisiert; ähnlich beschreibt der Naturalismus auch das Verhältnis von psychischen und physischen Prozessen im menschlichen Gehirn. Dazu muss man sich allerdings nicht auf die falsche Identifikation von Gründen und Neuronen versteifen. Genausowenig ist man zu der nicht minder abwegigen Behauptung gezwungen, Neurone ließen sich durch Gründe beeinflussen: Dazu dürfte es einzelnen Neuronen nun doch an der erforderlichen Intelligenz fehlen. Wie Gründe wirksam werden Das tatsächliche Bild ist um einiges komplizierter. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass Gründe offenbar in unseren Überlegungen wirksam werden. Überlegungen verstehe ich dabei einfach als kognitive Prozesse, die typischerweise bewusst ablaufen. So könnte also meine Überlegung darüber, ob Sokrates sterblich ist, von den beiden Überzeugungen geleitet werden, dass Sokrates ein Mensch ist und alle Menschen sterblich sind. Lasse ich mich tatsächlich von diesen Überzeugungen leiten, dann werde ich in meinen Überlegungen zu dem Ergebnis kommen, dass Sokrates sterblich ist. Angesichts der beiden Gründe, auf die ich mich dabei stütze, wäre dieses Resultat zudem rational gerechtfertigt.

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Nach wie vor bleibt es jedoch mysteriös, wie die Gründe in unseren Überlegungen wirksam werden. Die Behauptung, dass Abstrakta plötzlich Wirkungen in der physischen Welt entfalten sollten, klingt noch wesentlich unglaubwürdiger als die, eine immaterielle Seele könne solche Wirkungen entfalten. Offenbar würde man damit gegen einen ehernen Grundsatz des Naturalismus, nämlich das Prinzip der kausalen Geschlossenheit verstoßen. Ich glaube, dass dies einer der Gründe ist, die hinter der Position von Nida-Rümelin stehen. Tatsächlich erweist sich die Sache aber als völlig unproblematisch. So könnte mir z. B. das schlechte Wetter einen Grund liefern, mich warm anzuziehen. Wie ich zu diesem Grund komme, ist nicht schwer zu erklären: Ich muss dazu gegebenenfalls nur nach draußen blicken. Durch simple Wahrnehmung1 kann ich eine Überzeugung erwerben, die dann handlungswirksam werden kann. Wenn man also davon sprechen will, dass die Überlegungen einer Person von Gründen geleitet waren, dann müssen dazu offenbar zwei Bedingungen erfüllt sein: Zum einen müssen die Überlegungen rationalen Prinzipien entsprechen. Wenn ich der Überzeugung bin, dass alle Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch ist, dennoch aber behaupte, Sokrates sei unsterblich, dann wird man nicht sagen, dass ich mich in meinen Überlegungen von Gründen habe leiten lassen. Hier handelt es sich also um eine Rationalittsbedingung: Die Gründe einer Person müssen ihre Handlung oder Behauptung rational machen. Dies allein reicht jedoch nicht aus. Es ist nämlich ohne Weiteres denkbar, dass ich die beiden obigen Überzeugungen habe und am Ende meiner Überlegungen zu dem Schluss komme, dass Sokrates sterblich ist, dies jedoch nicht tue, weil ich die beiden anderen Überzeugungen besitze. Auch in diesem Falle würden wir nicht sagen, dass mein Handeln von Gründen geleitet ist. Zweitens muss also gefordert werden, dass die Überzeugungen einer Person, die die Handlung oder Schlussfolgerung rechtfertigen, auch faktisch wirksam werden: Meine Überzeugungen, dass Sokrates ein Mensch ist und dass alle Menschen sterblich sind, müssen also unter den Ursachen dafür sein, dass ich zu der Überzeugung komme, dass Sokrates sterblich ist. Man könnte diese 1

Selbstverständlich ist die Wahrnehmung eine notwendige und keine hinreichende Bedingung für den Erwerb solcher Überzeugungen. Ich benötige schon ein vergleichsweise umfassendes Wissen, um aus einer Wahrnehmung die Überzeugung, dass das Wetter schlecht ist, ableiten zu können. Für den Erwerb des erforderlichen Wissens gelten jedoch dieselben Anforderungen.

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Bedingung auch als Kausalittsbedingung bezeichnen. Es dürfte unnötig sein zu bemerken, dass damit nicht doch noch Abstrakta als Ursachen in Anspruch genommen werden: Kausal wirksam werden müssen hier die Überzeugungen und nicht etwa die Gründe selbst. Neuronale Realisierung Auch damit ist das ursprüngliche Problem noch immer nicht gelöst. Von der neuronalen Ebene und den dazugehörigen naturalistischen Beschreibungen war ja bislang noch keine Rede. Dennoch sind damit die entscheidenden Voraussetzungen für die Lösung geschaffen: Wenn die obigen Überlegungen zutreffen, dann kommt es jetzt nur noch darauf an, dass die kognitiven Prozesse, in denen Gründe wirksam werden, neuronal realisiert sind. Es ist nicht zu erkennen, welche prinzipiellen Schwierigkeiten für eine neuronale Realisierung aus der Tatsache erwachsen sollten, dass in den zu realisierenden psychischen Prozessen Gründe wirksam sind. Plausibel sein sollte das insbesondere dann, wenn man sich vor Augen hält, dass solche Gründe – wie in dem obigen Beispiel – aus bloßen Wahrnehmungsprozessen erwachsen können. Ebenso wie man ein und denselben Computer also auf der Ebene der Hardware und auf der Ebene der Software beschreiben kann, so wäre es dann möglich, geistige Prozesse in einer mentalistisch-intentionalen und einer neurobiologischen Sprache zu beschreiben. Von Gründen und natürlich auch von Normen und Normkonflikten wäre nur in der mentalistisch-intentionalen Sprache die Rede.2 Doch wenn die Überlegungsprozesse, in denen Gründe und Normen wirksam werden, durch neuronale Aktivitäten realisiert sind, dann kann man zu deren Beschreibung auch die Sprache der Neurobiologie verwenden. Dass man zu Gründen Stellung nehmen kann, wäre hier kein Gegenargument: Auch solche Stellungnahmen sind kognitive Prozesse, die prinzipiell neuronal realisiert sein können. Wie gesagt: Ob eine solche Realisierung faktisch vorliegt oder nicht, kann hier offen bleiben. Zur Diskussion steht nur die Frage, ob damit die Wirksamkeit von Gründen ausgeschlossen wäre: Dies scheint nicht so zu sein. 2

Dies zeigt noch einmal, warum Gründe handlungswirksam sein können, auch wenn sie nicht mit Ursachen identifiziert werden und in den neurophysiologischen Beschreibungen nicht vorkommen; vgl. Nida-Rümelin, 2006, 35 f. und Nida-Rümelin, in diesem Band.

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Nida-Rümelin akzeptiert diese naturalistische Lösung jedoch nicht. In seinen Augen setzt die Wirksamkeit von Gründen voraus, „dass intentionale Vorgänge auf natürliche Vorgänge einwirken“ (Nida-Rümelin, 2005, 94).3 Behauptet wird damit die Notwendigkeit einer Interaktion zwischen naturalistisch unterbestimmten Intentionen und physischen Zuständen. Doch wie lässt sich diese Forderung, die weit über das ursprüngliche Programm Strawsons hinausgeht, begründen? Der Verweis darauf, dass Gründe keine Ursachen sind, entfällt, weil der Naturalist auf diese falsche Behauptung nicht angewiesen ist. Denkbar ist allenfalls die Annahme, dass Gründe bzw. rationale Überlegungsprozesse aus begrifflichen Gründen nicht im Vokabular der Neurobiologie erfassbar sind. Doch worauf sollte sich eine solche begriffliche Annahme stützen? Die Tatsache, dass Gründe propositionale Einstellungen sind, die in Rechtfertigungsbeziehungen stehen und faktisch in unseren Überlegungen wirksam werden, sagt natürlich noch nichts darüber aus, wie diese Überlegungen realisiert sein müssen. Prinzipiell würden hierfür bestimmte Zustände in einer immateriellen Seele ebenso in Frage kommen wie die nicht-physischen Eigenschaften eines Gehirns oder eben die Aktivitätszustände neuronaler Assemblies. Zwar gibt es ein ernst zu nehmendes begriffliches Argument, demzufolge phnomenale Bewusstseinseigenschaften, die berühmten Qualia, nicht neuronal realisiert sein können (Nagel, 1974; Levine, 1983; Chalmers, 1996; Pauen/Stephan, 2002). Das Argument basiert allerdings auf der Voraussetzung, dass phänomenale Eigenschaften nicht in funktionalen Kategorien zu erfassen sind. Diese Voraussetzung gilt jedoch – auch nach Meinung der Vertreter dieses Argumentes – nicht für kognitive Zustände und ist daher auf Überzeugungen nicht zu übertragen. Gegen die Annahme, rationale Überlegungen könnten prinzipiell nicht neuronal realisiert sein, spricht schließlich auch der folgende Gedankengang: Nehmen wir an, wir lebten in einer Welt, in der es wirksame Gründe und damit Überlegungen gibt, die – wie von NidaRümelin gefordert – naturalistisch unterbestimmt sind. Die Unterbestimmtheit soll dabei für viele, jedoch nicht für alle kognitiven Prozesse einer Person gelten. Nehmen wir weiterhin an, ich sei zunächst über3

In seiner Replik auf eine frühere Fassung dieses Aufsatzes behauptet NidaRümelin, dass „der Libertarier […] nicht zum Kartesianer mutieren“ müsse (Nida-Rümelin, in diesem Band, S. 276). Generell trifft dies natürlich zu, doch ich sehe nicht, wie anders man Nida-Rümelins Version des Libertarianismus, wie sie etwa an der gerade zitierten Stelle formuliert wird, verstehen kann.

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zeugt, dass meine derzeitigen Überlegungen von Gründen bestimmt sind. Nachträglich würde sich herausstellen, dass diese kognitiven Prozesse vollständig neuronal realisiert sind. Müsste ich daraufhin meine ursprüngliche Annahme aufgeben? Auf die Unaufgebbarkeit der Präsumtion, dass Gründe wirksam sind, kann ich mich nicht berufen, schließlich wäre diese Wirksamkeit nicht grundlegend in Frage gestellt; es geht ja nur um einen einzigen Fall. Dennoch wäre eine Rücknahme der ursprünglichen Behauptung offenbar abwegig; der skizzierte Befund würde einfach nur zeigen, dass meine geistigen Prozesse in diesem Falle neuronal realisiert sind – nicht mehr und nicht weniger.

Der zweite Einwand Von zentraler Bedeutung für den Zusammenhang von Gründen und Ursachen ist noch ein zweiter wichtiger Aspekt, nämlich der Determinismus. Ich hatte oben bereits darauf hingewiesen, dass sich kein Naturalist darauf festlegen muss, dass unsere Welt determiniert ist; ich bin sogar der Meinung, dass Naturalisten sich darauf nicht festlegen sollten. Auf der anderen Seite glaube ich aber, dass ein Naturalist die Mçglichkeit von Determination akzeptieren sollte. Setzt Begründung Freiheit voraus? Selbst wenn man der Ansicht ist, dass Überlegungsprozesse neuronal realisiert sein können, stellt sich die Frage, ob man determinierte Überlegungsprozesse noch als von Gründen geleitet bezeichnen kann. In genau diesem Sinne lässt sich auch der zuvor zitierte Passus aus NidaRümelins Schrift ber menschliche Freiheit interpretieren. Der Verdacht, dass dies nicht der Fall ist, taucht bereits bei Epikur auf: „Wer sagt, alles geschehe mit Notwendigkeit, vermag demjenigen nichts vorzuhalten, der sagt, nicht alles geschehe mit Notwendigkeit. Denn ebendies, so behauptet er, geschehe mit Notwendigkeit.“ (Epikur, 2000). In dieser Form ist der Einwand sicherlich schnell durch den Hinweis darauf abzuwehren, dass die deskriptive Frage, ob eine Antwort notwendigerweise gegeben wurde, zu unterscheiden ist von der normativen Frage, ob sie richtig oder falsch ist. Dieses Gegenargument trifft allerdings nicht eine weiterentwickelte Form des Einwands, die von Rafael Ferber vorgebracht worden ist. Ferber meint, schon die bloße Behauptung des Determinismus führe in

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einen Selbstwiderspruch, weil der Determinist sich die Möglichkeit entzieht, seine eigene Behauptung zu begründen, „denn der Determinist“ wird „nicht durch Gründe, sondern durch Wirkursachen dazu bestimmt, seine Ansicht für wahr zu halten“ (Ferber, 2003, 185). Die vermeintlich rationalen Überlegungen eines Deterministen stehen daher auf einer Stufe mit unkontrollierten Körperreaktionen: „Der Beweis eines Deterministen wäre einem ‘Rülpsen‘ vergleichbar, das er nicht unter Kontrolle hat“ (Ferber, 2003, 185). Die Behauptung eines Selbstwiderspruchs basiert auf der Voraussetzung „Begründung […] setzt Freiheit voraus“.4 Die Behauptung erweist sich jedoch selbst dann als unzutreffend, wenn man Ferbers Voraussetzung akzeptiert. Der Determinist kann einen Selbstwiderspruch nämlich einfach dadurch vermeiden, dass er sich zum Kompatibilismus bekennt: Er könnte sich dann auch in einer determinierten Welt als frei betrachten und würde die genannte Voraussetzung erfüllen. Doch – ist diese Voraussetzung akzeptabel? Ich glaube nicht. Der Zusammenhang zwischen Freiheit und Begründung scheint mir genau umgekehrt zu sein: Nicht Begründung setzt Freiheit, sondern Freiheit setzt Begründung oder allgemeiner: Rationalität voraus. Mit anderen Worten: Sicher würden wir bestreiten, dass eine Person in der Lage ist, frei und selbstbestimmt zu handeln, wenn sie prinzipiell unfähig ist, sich von Gründen leiten zu lassen. Der umgekehrte Zusammenhang gilt jedoch nicht: Wir würden auch dann davon sprechen, dass eine Person sich bei einer einzelnen Handlung oder Aussage von Gründen leiten ließ, wenn sie keine freie Entscheidung zwischen den zur Verfügung stehenden rationalen Optionen getroffen hat, und zwar ganz unabhängig davon, was man unter einer freien Entscheidung versteht. Jemand, der die Regeln der Arithmetik kennt, hat Gründe dafür, die Frage nach der Summe von zwei und zwei mit „vier“ zu beantworten. Wir würden dies auch dann nicht bestreiten, wenn er keine freie Auswahl zwischen den Antworten „eins“, „zwei“ oder „drei“ getroffen hat. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine bloße Konvention, sondern um eine unumgängliche Bedingung jeder sinnvollen Konzeption rationalen Handelns und Entscheidens. Die entgegengesetzte Annahme, derzufolge jeder einzelne rationale Akt – so wie von Ferber 4

Vgl.: „Eine freie Beweiswürdigung kann es nach dem Determinismus gar nicht geben, da das Ergebnis jeder Beweiswürdigung schon im voraus bestimmt ist“ (Ferber, 2003, 185).

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vorausgesetzt – eine freie Wahl zwischen den zur Verfügung stehenden Gründen erfordert, führt nämlich entweder in einen Regress oder zwingt zu der Annahme, dass Rationalität Irrationalität voraussetzt bzw. eine Entscheidung nur dann als begründet betrachtet werden kann, wenn sie auf einer unbegründeten Entscheidung basiert. Dies lässt sich an dem obigen Beispiel deutlich machen: Wenn meine Entscheidung zwischen den zur Lösung einer Mathematikaufgabe zur Verfügung stehenden Antwortoptionen rational sein soll, dann muss ich dafür Gründe haben. Diese erfordern voraussetzungsgemäß ihrerseits wieder eine freie Entscheidung, für die dann das Gleiche gilt, etc.: Hier droht also ein Regress. Der wäre nur dann zu vermeiden, wenn man an irgendeiner Stelle in der Begründungskette eine unbegründete freie Entscheidung zulässt. Dies mag unter bestimmten Bedingungen faktisch akzeptabel sein: Wenn wir nicht wie Buridans Esel verhungern wollen, müssen wir bei zwei exakt gleich guten Alternativen notfalls eine unbegründete Entscheidung für eine der beiden Optionen treffen. Doch unter der von Ferber angenommenen Voraussetzung wäre dies eine Bedingung von Rationalität – sofern man dem ansonsten drohenden Regress entgehen will. Mit anderen Worten: Ein bestimmter Überlegungsprozess könnte nur dann als begrndet gelten, wenn er sich auf eine unbegrndete Entscheidung zurückführen ließe. Er wäre auf der anderen Seite insbesondere dann nicht begründet, sondern hätte den Status der oben genannten unwillkürlichen Körperreaktion, wenn er durch die rationalen Überzeugungen der Person festgelegt würde. Dies scheint mir klarerweise abwegig zu sein; die von Ferber zugrunde gelegte Voraussetzung sollte man daher besser aufgeben. Sind determinierte Entscheidungen unwirksam? Ebenso wie Ferber versucht auch Nida-Rümelin die Unvereinbarkeit von Rationalität und Determination zu erweisen, allerdings verfolgt er insbesondere in seiner Antwort auf eine frühere Fassung dieses Papiers eine andere Strategie. Er scheint der Ansicht zu sein, dass Gründe in einer determinierten Welt nicht wirksam werden können. In seinen Augen bringt der Naturalist die Wirksamkeit von Gründen in Gefahr, wenn er den Determinismus akzeptiert: Die entscheidende Frage ist, ob unser Selbstbild als Menschen […] damit vereinbar [ist], dass das Ergebnis der Abwägung von Gründen und damit der kausale Einfluss unserer Deliberationen auf unser Verhalten immer schon durch naturalistische Gesetzmäßigkeiten vorab (also vor aller Deli-

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beration) festliegt. Ich meine, dass die Antwort „Nein“ lauten muss. […] Wenn es tatsächlich so wäre, lebten wir in einem großen Illusionstheater. (Nida-Rümelin, in diesem Band, S. 276) 5

Warum sollte unser Selbstbild nicht mit der Annahme vereinbar sein, dass die Ergebnisse unserer Überlegungen durch Naturgesetze festgelegt sind? Soweit ich sehe, kann man sich hier auf zwei Überlegungen stützen. Erstens könnte man der Ansicht sein, dass Entscheidungen in diesem Falle unwirksam wären, zweitens könnte man argumentieren, dass die Abwesenheit von Determination zu einer Steigerung von Freiheit führe. Die Bemerkung, dass wir uns in einem großen Illusionstheater vorfinden würden, sollte der naturgesetzliche Determinismus wahr sein, deutet darauf hin, dass Nida-Rümelin Gründe in einer naturgesetzlich determinierten Welt für unwirksam hält. In genau diesem Sinne lässt sich auch der zuvor zitierte Passus aus der Schrift ber menschliche Freiheit interpretieren. Ich gehe wieder davon aus, dass das, was wir sinnvollerweise verlangen können, der Einfluss von von Gründen geleiteten Überlegungen auf Handlungen, Entscheidungen und Schlussfolgerungen ist. Das sinnvollste Kriterium für die Wirksamkeit solcher Überlegungen scheint mir die kontrafaktische Frage zu sein, ob die Handlung auch in Abwesenheit der betreffenden Überlegung in einer determinierten Welt so ausgefallen wäre, wie sie faktisch ausgefallen ist. Dies wäre jedoch sicherlich nicht der Fall: Naturalistischen Vorstellungen zufolge müssen die Überlegungen neuronal realisiert sein; in Abwesenheit der Überlegung würden daher auch die realisierenden neuronalen Prozesse entfallen, doch der Wegfall bestimmter kausal wirksamer physischer Aktivitäten hätte in einer determinierten Welt selbstverständlich Auswirkungen. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass die rationalen Überlegungen auch im Falle von naturgesetzlicher Determination wirksam wären. Man kann sich denselben Sachverhalt auch in einem lebensnäheren Beispiel verdeutlichen. Stellen Sie sich eine Parlamentsentscheidung zu einer Kriegserklärung vor. Sie wissen, dass etwa die Hälfte der Abgeordneten für, etwa die andere Hälfte der Abgeordneten gegen den Krieg sind; lediglich ein Abgeordneter schien bis kurz vor der Abstimmung unentschlossen. Er entscheidet sich schließlich mit der Begründung, der 5

Vgl. außerdem Nida-Rümelin, 2005, 94.

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Krieg sei unmoralisch, für den Frieden und verhilft den Kriegsgegnern damit zur Mehrheit; die bereits vorbereitete Kriegserklärung wird nicht abgegeben und die Soldaten müssen in ihre Kasernen zurückkehren. Im Nachhinein erfahren Sie, dass sich der fragliche Abgeordnete schon vor längerer Zeit aufgrund rationaler Überlegungen für einen weitgehenden Pazifismus entschieden hat; die Entscheidung war also determiniert. Doch würde dies bedeuten, dass die Entscheidung unwirksam oder illusionär war oder dass sie nicht von rationalen Überlegungen abhing? Dies ist sicherlich nicht der Fall. Auch unter den zuletzt skizzierten Bedingungen hing der Kriegsausbruch ja von der Parlamentsentscheidung ab, die ihrerseits wesentlich auf die rationalen Überzeugungen des genannten Abgeordneten über die Verwerflichkeit des Krieges zurückzuführen wäre. Dass aber bestätigt die These, dass auch eine determinierte Entscheidung wirksam sein kann und daher nicht illusionär ist. Sind rationale Überlegungsprozesse unter den Determinanten, dann kann man zudem von einer rationalen Entscheidung sprechen. Zusätzlicher Spielraum für gute Gründe in einer nichtdeterminierten Welt? In einer determinierten Welt müssen rationale Entscheidungen also nicht unwirksam sein. Von einem Illusionstheater kann man somit unter diesen Bedingungen nicht sprechen. Das aber lässt die Möglichkeit offen, dass sich unsere rationalen Entscheidungsspielräume in einer indeterminierten Welt vergrößern würden. Unterstellen wir also, dass eine Person sich in einer determinierten Welt aufgrund physisch realisierter, rationaler Überlegungsprozesse für eine Option A und gegen eine Option B entschieden hat. Stellen wir uns nun vor, die Determination würde zu bestimmten Zeitpunkten aufgehoben, so dass auch ein Laplacescher Dämon vor der Aufhebung nicht vorhersagen kann, wie die Person sich entscheiden wird. Zunächst könnte man die Determination vor der Geburt der Person aufheben und damit die oftmals bemängelte Abhängigkeit von Ereignissen beseitigen, auf welche die Person einfach deshalb keinen Einfluss haben kann, weil sie vor ihrer Geburt eingetreten sind (Inwagen, 1982). Doch liefert das einen zusätzlichen Spielraum für rationale Entscheidungen? Offenbar ist dies nicht der Fall, denn selbst wenn die Aufhebung der Determination einen solchen Spielraum schaffen würde, könnte die Person ihn vor ihrer eigenen Geburt nicht nutzen.

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Dieser Gegeneinwand entfällt, wenn wir uns vorstellen, die Determination würde unmittelbar vor der Entscheidung aufgehoben, so dass zumindest zu diesem Zeitpunkt völlig offen ist, wie die Entscheidung ausfallen wird. Ergibt sich hieraus eine Ausweitung des Entscheidungsspielraumes? Dies ist mehr als fraglich. Die Aufhebung der Determination führt nämlich dazu, dass auch die Wünsche, Überzeugungen und Erfahrungen der Person ihren Einfluss auf die Entscheidung verlieren, schließlich soll es ja völlig offen sein, wie die Entscheidung ausfällt. Selbst wenn meine Erfahrungen und Überzeugungen mir sehr gute Gründe für die Option B liefern, würden diese Gründe unter den gegebenen Bedingungen neutralisiert, und es könnte sein, dass ich mich gegen meine Erfahrungen und Überzeugungen und ohne einen weiteren guten Grund „einfach so“ für A entscheide. Letztlich würde dies bedeuten, dass die Handlung von einem Zufall abhinge. Im Gegensatz zu den Annahmen Nida-Rümelins hieße dies, dass Gründe hier unwirksam würden. Die Aufhebung der Determination hätte zur Folge, dass eine Handlung bzw. Entscheidung von „anderem als Gründen“ bestimmt würde. Natürlich muss die Aufhebung der Determination nicht in puren Zufall führen, doch auch dies rettet die inkompatibilistische Position nicht: Auch eine nur mäßige Chance, dass eine Entscheidung zustande kommt, die den Überzeugungen und Erfahrungen des Handelnden widerspricht, schränkt allenfalls dessen Fähigkeit ein, zu einer rationalen Entscheidung zu gelangen. Bleibt die Wahrscheinlichkeit eines abweichenden Handlungsverlaufs unterhalb einer bestimmten Schwelle, dann kann man sie vermutlich gänzlich ignorieren, wird sie größer, dann steigt die Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung, die – bezogen auf die Überzeugungen und Wünsche des Handelnden – einfach irrational ist. In keinem Falle aber ergibt sich hieraus eine Ausweitung des Spielraums für rationale Entscheidungen. Es kann unter diesen Voraussetzungen nicht weiter überraschen, dass auch die Aufhebung der Determination whrend des Entscheidungsprozesses nicht zu einem Gewinn an Rationalität führt. Nehmen wir zu Zwecken einer vereinfachten Darstellung an, die Aufhebung geschehe in der Mitte des Deliberationsprozesses. Das aber heißt nichts anderes, als dass die erste Phase dieses Prozesses ihre Wirkung auf die endgültige Entscheidung verliert; dies gilt dann gleichermaßen auch für die Gründe, die in dieser Phase erörtert wurden. Hat man also in dieser Phase vornehmlich die Gründe für die Option A erörtert, in der zweiten Phase dann vornehmlich die Gründe für die Option B, dann

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bleiben nur letztere wirksam. Dies bekräftigt noch einmal die Einwände, die oben gegen die Position von Ferber vorgebracht wurden: Von einem Gewinn an Rationalität durch die Aufhebung von Determination wird man unter diesen Voraussetzungen schwerlich sprechen können – ganz im Gegenteil. Ein letzter Einwand bleibt. Offenbar gehört es zu unseren substantiellen Intuitionen in Bezug auf rationale Deliberationsprozesse, dass wir zu Gründen Stellung nehmen, sie verwerfen und neue Gründe akzeptieren können. Genau das macht die Erfahrung der Offenheit eines Deliberationsprozesses aus, in dessen Verlauf sich möglicherweise ganz neue Aspekte ergeben mögen, die uns zu einer anderen Entscheidung führen, als wir ursprünglich vorausgesehen hatten. Ich glaube, dass jede sinnvolle Theorie rationaler Entscheidungen Raum für solche Entwicklungen lassen muss: Ein Überlegungsprozess, der gute Gründe ignorieren würde, die erst während dieses Prozesses sichtbar werden, wäre offenbar nicht wirklich rational. Doch wie soll dies in einer determinierten Welt möglich sein? Festzuhalten bleibt zunächst, dass der Determinismus keine Annahmen über die Komplexität von Entscheidungs- und Deliberationsprozessen enthält. Genausowenig muss der Determinist unterstellen, dass sich eine Person bereits zu Beginn des Entscheidungsprozesses des Ausgangs dieser Entscheidung bzw. der entscheidungswirksamen Überzeugungen bewusst ist. Natürlich kann es genauso determiniert sein, dass sich innerhalb des Prozesses Aspekte zeigen, die der Person vorher nicht bekannt waren. Entscheidungsprozesse lassen sich hier in einem gewissen Maße mit anderen Prozessen des Erkenntnisgewinns vergleichen, und natürlich ist es nicht weiter verwunderlich, dass wir am Beginn eines solchen Prozesses noch nicht wissen, zu welchem Ziel uns der Prozess führt und welchen Verlauf er dabei nehmen wird. Natürlich ist es überhaupt nicht auszuschließen, dass der Verlauf solcher Prozesse an manchen Stellen nicht festliegt. Doch einen Gewinn an Rationalität wird man daraus schwerlich ableiten können. Auch der Reflexionsprozess, dem ich einen meiner Gründe unterziehe, kann doch nur rational sein, wenn ich dabei meinen anderen Gründen folge – nicht, wenn dieser Reflexionsprozess unabhängig von diesen Gründen variieren kann. Tatsächlich verstößt eine Person, die sich unter gleich bleibenden Bedingungen einmal so und einmal anders verhält oder gar im Widerspruch zu ihren eigenen guten Gründen handelt, schon gegen unser alltagssprachliches Verständnis von Rationalität.

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Wie gesagt: Ob unsere Welt determiniert ist oder nicht, steht nicht zu Debatte. Der Naturalist kann sich hier mit guten Gründen der Stimme enthalten. Doch wenn die Einführung von Indetermination offenbar nicht zu einem zusätzlichen Spielraum für rationale Entscheidungen führt, dann kann die Abwesenheit von Indetermination nicht zu einem Verlust der Möglichkeit rationaler Entscheidungen führen. Insofern gibt es keinen Grund, zugunsten unserer Fähigkeit, nach Gründen zu handeln, auf der Indetermination zu bestehen. Stimmen diese Überlegungen, dann kann auch ein Naturalist davon ausgehen, dass Überlegungsprozesse, in denen Gründe wirksam werden, eine vollständige neuronale Beschreibung haben können. Es mag viele Einwände gegen den Naturalismus geben – die Präsumtion, dass unser Handeln von Gründen geleitet wird, gehört jedoch offenbar nicht dazu.

Wingert und Habermas Selbst wenn man Nida-Rümelins Einwand gegen den Naturalismus zurückweist, bleibt allerdings ein Problem bestehen, auf das Lutz Wingert und Jürgen Habermas hingewiesen haben. Ihr Einwand ist schwächer, weil er sich nicht gegen den Naturalismus generell, sondern nur gegen dessen reduktionistische Varianten richtet. So räumt etwa Wingert eine Abhängigkeit geistiger von physischen Prozessen ein, besteht jedoch gleichzeitig auf einer prinzipiellen Differenz zwischen beiden Bereichen: Die kognitiven Prozesse und Leistungen sind in dem Sinn von neuronalen Prozessen abhängig, daß sie nicht ohne diese möglich sind. Aber daß etwas nicht ohne etwas anderes vorkommen kann, bedeutet nicht, daß es damit zusammenfällt. (Wingert, 2004, 202)

Neuronale Prozesse scheinen hier eine Art notwendiger, nicht jedoch hinreichender Bedingungen für mentale Zustände zu bilden; dabei ist der Vorbehalt gegen das „Zusammenfallen“ offenbar als Ablehnung der Reduktion psychischer auf physische Phänomene zu verstehen. Entschiedener noch wird diese Position von Jürgen Habermas vertreten (Habermas, 2004). Anders als Nida-Rümelin plädiert Habermas für einen „weichen Naturalismus,“ der zwar an monistischen Grundintuitionen festhält, gleichzeitig aber die Irreduzibilität des mentalistischen Sprachspiels betont. Habermas sieht hierin eine notwendige Bedingung für die Wirksamkeit von Gründen; seine Vorbe-

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halte gegenüber reduktionistischen Varianten des Naturalismus sind also im Wesentlichen epistemologisch begründet. Schon aufgrund der wohlbekannten Probleme bei der Naturalisierung von Intentionalität halte ich eine Reduktion kognitiver Prozesse auf physische Prozesse für undurchführbar (Stich, 1994; Pauen, 1996). Doch selbst wenn dies gelänge, würden damit weder Wirksamkeit und Existenz von Gründen noch die Existenzberechtigung unserer mentalistischen Sprache in Frage gestellt. Eine solche Reduktion würde Aussagen über kognitive Prozesse lediglich auf Aussagen über neuronale Prozesse zurückführen, so dass wir das Auftreten der kognitiven Prozesse mit neurobiologischen Erkenntnissen verständlich machen könnten. Ganz ähnlich verschafft uns die Reduktion von Wasser auf H2O den Zugang zu mikrophysikalischen Erklärungen z. B. für das Frieren von Wasser. Natürlich geben solche Erklärungen keinen Anlass, an der Existenz von Wasser zu zweifeln oder daran, dass Wasser friert. Das Gleiche würde für die Existenz und Wirksamkeit kognitiver Prozesse einschließlich der in ihnen erwogenen Gründe gelten. Habermas’ Befürchtungen scheinen auf der Annahme zu beruhen, dass eine solche Rückführung Gedanken, also die propositionalen Gehalte kognitiver Zustände, „ohne semantischen Rest in ein empiristisches […] Vokabular übersetzen“ müsse (Habermas, 2004, 882). Selbstverständlich wäre ein solches Ziel völlig verfehlt; sieht man einmal vom eliminativen Materialismus ab, dann spielt es seit der Abkehr vom semantischen Physikalismus in den sechziger Jahren praktisch keine Rolle mehr. Die Kritik an dieser Position hatte sich ja an der Einsicht entzündet, dass eine solche Zurückführung faktisch unmöglich ist: Auch in den funktionalen Beschreibungen mentaler Zustände kann nicht auf mentalistische Ausdrücke verzichtet werden. Doch nehmen wir an, dieses Ziel würde dennoch verfolgt und auch erreicht – würde damit nicht doch die Wirksamkeit von Gründen oder aber die Geltung von Normen in Frage gestellt? Im utopischen, äußersten Fall wären mentalistische Aussagen über einen kognitiven Zustand problemlos in rein naturalistische Aussagen über einen neuronalen Prozess übersetzbar und umgekehrt – die Beziehung zwischen diesen beiden Sprachspielen wäre also völlig transparent. Wir könnten dann das faktische Auftreten einer Überzeugung innerhalb eines kognitiven Prozesses durch den Rückgriff auf frühere neuronale Prozesse verständlich machen, wobei anzunehmen ist, dass es sich bei letzteren um kognitive Prozesse handelt, in denen Argumente für oder gegen die fragliche Überzeugung abgewogen wurden – die Wirksamkeit von

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Gründen bliebe also erhalten und sie wäre wegen des problemlosen Übergangs zwischen den Sprachspielen sogar relativ leicht nachzuvollziehen. All dies wäre jedoch eine rein deskriptive Herangehensweise. Die normative Frage nach der Geltung bestimmter Behauptungen könnte so nicht beantwortet werden. Die skizzierte Erklärung würde also nichts darüber sagen, ob die Überzeugung richtig ist bzw. ob sie durch die zuvor angestellten Überlegungen gerechtfertigt wird: Bei der Verletzung logischer, moralischer oder grammatischer Regeln werden schließlich keine Naturgesetze gebrochen. Zur Beantwortung solcher Fragen müssten wir weiterhin auf die mentalistischen bzw. evaluativen Sprachspiele zurückgreifen, in denen wir solche Fragen auch heute beantworten. Schon allein dies zeigt, dass auch die Vertreter eines dogmatischen Naturalismus die mentalistischen Sprachspiele nicht einfach als überflüssig oder gar illegitim abtun könnten. Abgesehen davon dürften auch naturalistische Fundamentalisten ein Interesse am Fortbestand logischer, grammatischer und moralischer Regeln haben und damit an der Erhaltung von Bezugssystemen, in denen diese Regeln begründet und angewendet werden können. Kurz: Selbst wenn man gegen alle Vernunft versuchte, die Idee einer vollständigen Reduktion mentaler Zustände auf neurobiologische Prozesse wieder zu beleben und damit Erfolg hätte, würde man damit weder die Wirksamkeit von Gründen noch die Geltung von Normen in Frage stellen. Habermas hat jedoch nicht nur den Naturalismus als eine philosophische Position im Auge, sondern auch einzelne empirisch begründete Aussagen. So wirft er Gerhard Roth vor, dass dieser „Gründe und die logische Verarbeitung von Gründen als Epiphänomene“ einstufe (Habermas, 2004, 880). Dies ist insofern überraschend, als Roth in dem von Habermas zitierten Abschnitt (Roth, 2003, 525–528) ausführlich auf „die Bedeutung des bewussten und distanzierten Abwägens“ (so der Titel des Abschnitts) eingeht. Auch wenn die „Letztentscheidung“ dabei den Emotionen vorbehalten bleibt, so wird man kaum mit Habermas davon sprechen können, dass das „Geben und Nehmen von Gründen als Epiphänomen abgetan“ werde; noch weniger kann von einem „Epiphänomenalismus des bewussten Lebens“ gesprochen werden – auch Emotionen sind schließlich Bewusstseinsphänomene. Wichtiger noch scheint mir ein methodischer Punkt: Offenbar macht Roth hier keine philosophische Aussage über das Verhältnis von Ursachen und Gründen, der gegebenenfalls rein philosophisch-argumentativ zu begegnen wäre, vielmehr geht es um das faktische Verhältnis

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von emotionalen und rationalen Einflüssen auf Handlungen und Entscheidungen. Ebenso wie die Aussagen selbst muss auch die Kritik an ihnen durch empirische Befunde oder deren Interpretation gestützt werden – philosophische Grundsatzüberlegungen helfen bei solchen Tatsachenaussagen nicht weiter.

Gründe als Kriterien freier Handlungen Die Zweifel, ob die Unterscheidung von Gründen und Ursachen wirklich prinzipielle Einwände gegen den Naturalismus begründen kann, werden schließlich auch dadurch bestärkt, dass Naturalisten wie z. B. Ansgar Beckermann sich dieser Unterscheidung in ihren Konzeptionen von Willensfreiheit bedient haben (Beckermann, 2004). In der Regel handelt es sich hier um kompatibilistische Positionen, die die Vereinbarkeit von Freiheit und Determination behaupten. Diesen Theorien zufolge hängt die Freiheit einer Handlung nicht davon ab, ob die Handlung determiniert ist, sondern davon, wie sie determiniert ist. Ist sie durch die Person bestimmt, dann ist sie selbstbestimmt und damit frei. Der bloße Verweis auf die Person liefert allerdings noch kein ausreichend trennscharfes Kriterium für die Unterscheidung zwischen freien und unfreien Handlungen, immerhin können Personen eine Reihe von Eigenschaften wie Süchte und psychopathische Dispositionen haben, die ihre Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit offenbar einschränken. Viele Kompatibilisten sind der Ansicht, dass erst der Verweis auf handlungsbestimmende Gründe das geeignete Kriterium liefert. Ich werde mich im Folgenden ausschließlich mit diesem Kriterium befassen und nicht weiter für den Kompatibilismus argumentieren.6 Zieht man in Betracht, dass es ein auszeichnendes Merkmal von Personen ist, dass ihr Handeln von Gründen bestimmt werden kann – während Süchte, psychopathische Dispositionen und andere äußere Faktoren, die den Freiheitsspielraum einschränken, typischerweise als Ursachen zu beschreiben sind – dann liegt es in der Tat nahe, Handlungen, die durch Gründe, genauer: durch rationale Überlegungsprozesse einer Person bestimmt werden, als selbstbestimmt zu bezeichnen. In diesem Sinne hat z. B. Peter Bieri argumentiert (Bieri, 2001); auch 6

Vgl. jedoch Pauen, 2001, 2004a, b.

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die skizzierten Positionen von Habermas und Wingert lassen sich so verstehen. Attraktiv ist diese Position deshalb, weil sie Schwierigkeiten zu umgehen scheint, die auftreten, wenn man auch Emotionen und Bedürfnisse als mögliche Motive einer freien Handlung einbezieht. Angesichts der Tatsache, dass Emotionen und Bedürfnisse die Freiheit einer Person offensichtlich auch einschränken können, würde man nämlich Kriterien für die Unterscheidung zwischen solchen Emotionen und Bedürfnissen benötigen, die einer freien Handlung zugrunde liegen können, und anderen, bei denen dies nicht akzeptabel ist. Viele Autoren sind der Ansicht, dass die Schwierigkeiten bei der Formulierung und Legitimation solcher Kriterien nur schwer zu bewältigen sind.

Ein weiter Begriff von Gründen Ich möchte jedoch zeigen, dass der Rückgriff auf Gründe keine Erfolg versprechende Alternative bei der Suche nach einem angemessenen Kriterium ist, vielmehr führt er geradewegs in ein Dilemma. Geht man nämlich von einem umfassenden Begriff von Gründen aus, dann muss man auch solche Handlungen als selbstbestimmt bezeichnen, die wir normalerweise nicht als frei betrachten würden. Arbeitet man dagegen mit einem engen, an starke Rationalitätskriterien gebundenen Begriff von Gründen, dann würden Handlungen, die gegen moralische Prinzipien verstoßen, nicht als frei gelten. Beginnen wir mit einem relativ weiten Begriff von Gründen: Eine Handlung würde in diesem Falle generell als selbstbestimmt und frei gelten, wenn sie von Gründen geleitet wird. Dies impliziert die oben bereits erwähnte kontrafaktische Annahme, dass die Person in Abwesenheit der relevanten Gründe anders gehandelt hätte. Ein trivialer, aber dennoch typischer Fall wäre eine Person, die den Wunsch hat, ein Glas Wein zu trinken, und weiß, dass im Kühlschrank eine Flasche Wein steht. Diese Person hat einen Grund, in die Küche zu gehen. Lässt sie sich in ihrem Handeln durch diesen Grund leiten, dann handelt sie diesem Kriterium zufolge frei, sofern sie den Gang unterlassen hätte, falls sie diesen Grund nicht gehabt hätte. Problematisch ist dieses Kriterium, weil es auch von Handlungen erfüllt wird, die offenbar nicht frei sind, z. B. von dem Griff eines Rauschgiftsüchtigen nach seiner Droge. Wenn er einen Wunsch hat, seine Entzugssymptome zu beseitigen, und überzeugt ist, dass er dies

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durch seine Droge erreichen kann, dann hat er einen Grund, seine Droge zu nehmen. Lässt er sich in seinem Handeln durch diesen Grund leiten, so dass er in Abwesenheit des Grundes anders handeln würde, dann erfüllt er das obige Kriterium, doch offensichtlich handelt er nicht frei: Der weite Begriff von Gründen liefert also ein zu schwaches Kriterium. Ein enger Begriff von Gründen Es liegt nahe, diese Schwierigkeit dadurch zu beseitigen, dass man nur „gute Gründe“ zulässt, d. h. Gründe, die bei einer Berücksichtigung aller handlungsrelevanten Aspekte einer rationalen Rechtfertigung standhalten, so dass die Handlung im „objektiven Interesse“ des Handelnden wäre. Für den Weintrinker würde sich nichts ändern, doch der Rauschgiftsüchtige erfüllt dieses Kriterium nicht: Bei Berücksichtigung aller relevanten Aspekte würde er nur dann rational handeln, wenn er seine Entzugssymptome durch eine Therapie bekämpfte. Leider stellt sich bei näherer Betrachtung sehr schnell heraus, dass wir damit dem Dilemma nicht entronnen sind. Zum einen stellt sich hier das Problem eines „rationalen Zwangscharakters“, also einer Person, die – z. B. aufgrund einer restriktiven Erziehung – gar nicht anders kann, als immer guten Gründen entsprechend zu handeln, dabei aber ihre übrigen Interessen und Bedürfnisse völlig vernachlässigt. Zweitens ist es angesichts des Universalismus guter Gründe fraglich, wie ein solcher Ansatz den individuellen Differenzen frei handelnder Personen gerecht werden will. Wichtiger noch erscheint mir ein dritter Einwand, der darauf basiert, dass es offenbar gute Gründe für moralische Normen gibt. Da diese Gründe auch für die Beurteilung solcher Handlungen relevant sind, die moralischen Normen zuwider laufen, würde eine Person, die eine derartige Handlung ausführt, gegen gute Gründe verstoßen. Mit anderen Worten: Moralisch verwerfliche Handlungen wären automatisch unfrei. Wir könnten daher niemanden mehr für eine Verletzung moralischer Normen zur Rechenschaft ziehen; paradoxerweise gäbe es jedoch weiterhin moralische Verdienste, da moralisch gerechtfertigte Handlungen auf guten Gründen basieren.7 7

Das Problem stellt sich, wie bereits Carl Leonhard Reinhold und Carl Christian Erhard Schmidt bemerkt haben, bereits für die Kantische Freiheitslehre. Vgl. dazu Reinhold, 1792, 262 ff.; Bondeli, 2001.

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John Martin Fischer hat versucht, die skizzierte Schwierigkeit dadurch zu lösen, dass er nur eine Ansprechbarkeit für (gute) Gründe verlangt (Fischer, 1994). Ansprechbar für Gründe ist eine Person dann, wenn es prinzipiell möglich ist, dass Gründe ihr Handeln unter den gegebenen Umständen beeinflussen; es ist jedoch nicht erforderlich, dass dies in der aktuellen Situation auch faktisch geschieht. Eine Person, die gute Gründe hätte, die Abgabefrist für einen Aufsatz einzuhalten, dies jedoch aus egoistischen Motiven versäumt, müsste daher nicht als unfrei bezeichnet werden, sofern es überhaupt Gründe gibt, denen die Person gefolgt wäre – etwa dann, wenn die eigene berufliche Existenz von der Einhaltung der Frist abhängen würde. Zwar wird es damit möglich, Personen für die Verletzung moralischer Normen verantwortlich zu machen. Dennoch scheitert dieser Lösungsversuch ebenfalls. Auch bei einem Rauschgiftsüchtigen sind nämlich in der Regel Gründe vorstellbar, die ihn dazu veranlassen würden, seinen Griff zur Droge zu unterlassen – etwa die Gegenwart eines Polizisten, eine unmittelbare Lebensgefahr etc. Nach wie vor wäre es jedoch unplausibel, Rauschgiftsüchtige in ihrem Suchtverhalten als frei zu bezeichnen. Auch der Versuch Fischers bringt also keine Lösung des Problems. All dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass die Fähigkeit, nach Gründen zu handeln, konstitutiv für unseren Begriff der Person ist. Unumstritten scheint mir zudem, dass Handlungen aus Gründen freie Handlungen sein können; ich behaupte jedoch, dass die Handlungswirksamkeit von Gründen kein geeignetes Kriterium für die Unterscheidung zwischen freien und unfreien Handlungen liefert. Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht, dass man ein besseres Kriterium erhält, wenn man im Prinzip Präferenzen aller Art zulässt und nur danach fragt, ob diese wirklich konstitutiv für die fragliche Person sind (Pauen, 2004b). Es kämen also neben rationalen Gründen auch Emotionen und Bedürfnisse in Frage, doch in jedem Falle würde gefragt, ob es die Gründe, Emotionen und Bedürfnisse dieser Person sind. Dieses Verfahren hat einen entscheidenden Vorteil: Wenn eine Handlung wirklich von denjenigen Präferenzen ausgeht, die für eine Person konstitutiv sind, dann kann man nicht mehr sinnvoll daran zweifeln, dass es eine Handlung der Person selbst, also eine selbstbestimmte Handlung ist. Doch was heißt es, dass eine Präferenz konstitutiv für eine Person ist? Zweifellos sind hier unterschiedliche Verfahren denkbar. Das sinnvollste scheint mir in der dispositionalen Fähigkeit einer Person zu bestehen, sich wirksam gegen eine Präferenz zu entscheiden, die sie

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faktisch besitzt. Die Person muss die Präferenz also aus eigener Kraft aufgeben können, wenn sie dies wünscht. Dieses Kriterium wird von dem oben genannten Weintrinker, nicht jedoch von dem Rauschgiftsüchtigen erfüllt: Sofern der Weintrinker nicht alkoholabhängig ist, könnte er seine Präferenzen ändern, z. B. wenn ihm ein anderes Getränk besser schmeckt oder gesünder erscheint. Dem rationalen Zwangscharakter ebenso wie dem Drogensüchtigen dagegen dürfte die dispositionale Fähigkeit fehlen, sich wirksam gegen Zwang bzw. Sucht zu entscheiden – andernfalls könnte man nicht mehr von Zwang oder Sucht sprechen. Diese Theorie hat noch den weiteren Vorteil, dass Emotionen und Bedürfnisse als Motive freier Handlungen mit einbezogen werden – Personen sind eben keine rein rationalen Wesen. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Vorschlag wesentlich ausführlicher diskutiert werden müsste. Dennoch zeigt er, dass der Kompatibilismus über Alternativen verfügt, wenn Gründe kein geeignetes Kriterium für freie Handlungen liefern – und dafür gibt es gute Gründe.

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Ursachen und Gründe – eine Replik JULIAN NIDA-RÜMELIN 1. Ob Gründe Ursachen sind, hängt davon ab, was wir unter „Gründen“ und unter „Ursachen“ verstehen. Auch wenn sich der Kausalitätsbegriff in den Naturwissenschaften wieder großer Beliebtheit erfreut, so kann er doch keineswegs als geklärt gelten. Anfang des letzten Jahrhunderts haben analytische Wissenschaftstheoretiker, darunter Bertrand Russell in einem berühmt gewordenen Aufsatz, dafür plädiert, in den Wissenschaften ganz auf den Kausalitätsbegriff zu verzichten. Die Vorstellung einer Art Naturnotwendigkeit leitet jedoch nach wie vor die meisten Forscher und dies erklärt die Überlebenskraft der kausalen Interpretation beobachteter Regularitäten. Kausalprinzip, Determinismus und strikte zeitliche Verlaufsgesetze werden dabei meist in eins gesetzt. Physikern ist natürlich klar, dass selbst für den Prototyp einer deterministischen Theorie, der Newtonschen Mechanik, wegen des Auftretens von Singularitäten keine strikten zeitlichen Verlaufsgesetze bestehen. Es ist ohnehin eine Kindervorstellung von Naturwissenschaft, dass es dieser vor allem um die Formulierung von Verlaufsgesetzen zu tun sei. Zudem lassen sich auch probabilistische Regularitäten kausal interpretieren, dies gilt auch für die Quantenphysik. Besondere Aufmerksamkeit finden seit einigen Jahren sog. chaotische Prozesse deterministischer Systeme, für die gilt, dass kleinste Abweichungen unterhalb der jeweils gegebenen Messgenauigkeit zu massiven Veränderungen in der weiteren Entwicklung des Systems führen, Kausalität cum Determinismus also mit Nicht-Prognostizierbarkeit verbunden ist. 2. Damit A eine Ursache für B, ein Ereignis, sein kann, sollte der Satz, der B beschreibt, im deterministischen Fall, aus den Sätzen, die die Antezedensbedingungen des Ereignisses B darstellen, zusammen mit den Allsätzen, die die naturgesetzlichen Zusammenhänge beschreiben, logisch-deduktiv ableitbar sein und A sollte zu diesen Antezedensbedingungen gehören – so die klassische wissenschaftstheoretische Analyse. Dieses Idealbild einer vollständigen (kausalen) Erklärung hat allerdings mit der tatsächlichen wissenschaftlichen Praxis wenig gemein. Wenn wir von Ursachen sprechen, greifen wir meist bestimmte uns als relevant

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erscheinende Ereignisse oder Umstände aus einem riesigen Komplex von zusammen als determinierend gedachten Bedingungen heraus, die sich insgesamt einer vollständigen Erfassung durch eine adäquate wissenschaftliche Beschreibung widersetzen. G.H. von Wright hat daher die Auffassung vertreten, dass Ursachen nach dem Modell menschlicher Interventionen in sonst anders verlaufende Prozesse verstanden werden müssten, dass wir ohne diese Erfahrung als Akteure über keinen Ursachenbegriff verfügten. 3. Viele – Philosophen wie Naturwissenschaftler – meinen, A könne nur dann Ursache von B sein, wenn zwischen A und B ein energetischer Prozess, eine Energieübertragung stattfindet. „Natürlich kann es gar keine Willensfreiheit geben. Als nicht-materielle Ursache makroskopischer Bewegungen würde sie ja den ersten Hauptsatz der Thermodynamik, den Energieerhaltungssatz aushebeln“, so charakterisierte Ferdinand Hucho kürzlich „die Position der Naturwissenschaft“ (Hucho, 2006).1 Vieles, was wir, auch in den Naturwissenschaften, als Ursache akzeptieren, hat jedoch nicht die Form einer Energieübertragung. Ein Teilchen, das sich reibungsfrei auf einer vorgegebenen Bahn bewegt, verliert nicht an Geschwindigkeit (Bewegungsenergie), wenn lediglich Transversalkräfte einwirken. Diese Transversalkräfte sind aber ursächlich dafür, an welcher Stelle sich das Teilchen im Raum zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhält. 4. Die Probleme mit dem deduktiv-nomologischen Erklärungsbegriff haben zur Entwicklung pragmatistischer Konzeptionen geführt. Wissenschaftliche Erklärung wird zu einer Sonderform des Begründens. Eine Erklärung ist erfolgreich, wenn sie zum Beispiel rationaliter die Erwartungswahrscheinlichkeit des zu erklärenden Ereignisses erhöht gegenüber dem epistemischen Zustand vor der Erklärung (die Verbindung eines probabilistischen und eines pragmatistischen Erklärungsbegriffs ist jedoch nicht zwingend). Für Kausalitätskonzeptionen dieses Typs ist die Subsumption von Gründen unter Ursachen problemlos. Wenn wir unter „subjektiven Gründen“ das Akzeptieren bestimmter normativer Argumente, die für eine konkrete Handlung aus der Sicht des Akteurs sprechen, verstehen, und annehmen, dass diese konative Einstellung sein Handeln auch tatsächlich leitet, dann können diese Gründe in einem pragmatistischen Sinne als urschlich für die betreffende 1

Vgl. auch den Beitrag von Ferdinand Hucho in diesem Band.

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Handlung gelten: Uns scheint diese Handlung (als Ereignis) nun plausibel, wir verstehen, wie es zu diesem Ereignis kommen konnte. So verstanden ist es philosophisch unbedenklich zu sagen, dass die Ergebnisse unserer Deliberationen für das, was wir tun, eine kausale Rolle spielen. Gelegentlich wird behauptet, mit diesem Zugeständnis einer kausalen Rolle unserer Gründe, Wünsche und Motive sei der Libertarier, also der, der meint unsere Handlungen seien nicht vollständig von naturwissenschaftlichen strikten Verlaufsgesetzen bestimmt, schon widerlegt. Der Libertarier müsse offenbar selbst die kausale Determiniertheit seiner Handlungen annehmen. Aber diese kausale Determiniertheit ist nicht zwingend eine naturalistische. Dieser Unterschied ist wesentlich: Je nach Ursachenbegriff und Handlungstheorie kann man an einem universellen, Handlungen als Ereignisse einschließenden Kausalprinzip festhalten, ohne damit auf den Naturalismus festgelegt zu sein. Die zeitgenössischen Libertarier, z. B. Robert Kane, Geert Keil oder Peter Rohs, sind unterschiedlicher Auffassung zum Verhältnis von Kausalität und Freiheit (Kane, 1996; Keil, 2000; Rohs, 2003). Meine eigene Position ist ein Hybrid; sie ist im epistemologischen Sinne kompatibilistisch, im ontologischen libertaristisch. 5. Die entscheidende Frage ist nicht, ob Gründe Ursachen sind, sondern ob Gründe naturalistische Ursachen sind oder solche Ursachen, die sich mit den begrifflichen Möglichkeiten der Naturwissenschaften vollständig beschreiben lassen. Meine These, dass Rationalität, Freiheit und Verantwortung eine naturalistische Unterbestimmtheit unserer Begründungsspiele voraussetzen, ist nicht so zu lesen, dass Gründe keine Ursachen seien (sein könnten), sondern dass ihre kausale Rolle eine andere ist, als die aus naturwissenschaftlichen Beschreibungen vertraute. Gründe sind, wie ich in Strukturelle Rationalitt ausgeführt habe (NidaRümelin, 2001), immer normativ (unabhängig davon, ob es ,Klugheits‘- oder ,Moral‘-Gründe, ob es gute oder nur vermeintliche Gründe sind) und Handeln ist immer von Gründen gesteuert (dies ist eher [sic] eine begriffliche, als eine empirische Behauptung). Ihre normative Rolle kann naturalistisch nicht vollständig erfasst werden. 6. Nur ein gradualistisches Verständnis der Rolle von Gründen scheint mir angemessen zu sein. Es gibt nicht rationale und irrationale, freie und unfreie, verantwortliche und unverantwortliche Handlungen, Urteile (Überzeugungen) und (nicht-propositionale) Einstellungen (Gefühle, oder Bestandteile von Gefühlen, die einer Begründung fähig sind),

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sondern mehr oder weniger rationale, freie und verantwortliche Handlungen, Urteile und Einstellungen. Das Maß ihrer Begründetheit bestimmt die Kohärenz einer Praxis, einer Lebens- und schließlich einer Gesellschaftsform. Dieses gradualistische Verständnis erlaubt ein komplementäres Verhältnis (unvollständiger) naturalistischer Erklärungen und Handlungsbegründungen. Die Art und Weise, in der wir unser Handeln und Urteilen begründen, uns wechselseitig Freiheit und Verantwortung zuschreiben, schließt eine naturalistische Unterbestimmtheit ein, macht naturalistische Erklärungen aber nicht irrelevant. Der Libertarier muss nicht zum Kartesianer mutieren. Die entscheidende Frage ist, ob unser Selbstbild als Menschen, unsere lebensweltlichen Interaktionen, unsere alltägliche Sprach- und Verständigungspraxis, die conditio humana, damit vereinbar sind, dass das Ergebnis der Abwägung von Gründen und damit der kausale Einfluss unserer Deliberationen auf unser Verhalten immer schon durch naturalistische Gesetzmäßigkeiten vorab (also vor aller Deliberation) festliegt. Ich meine, dass die Antwort „Nein“ lauten muss. Das ist kein Beweis dafür, dass es sich nicht doch so verhalten könnte. Wenn es tatsächlich so wäre, lebten wir in einem großen Illusionstheater. Das kann sein, aber wir haben keinen Grund, das anzunehmen: Alte wie neue empirische Befunde und Theorien, von der Newtonschen Physik über die Darwinsche Biologie und die Freudsche Psychologie bis zur zeitgenössischen Neurophysiologie, sind mit dieser negativen Antwort verträglich. 7. Einige Neurowissenschaftler, darunter besonders markant Wolf Singer, vertreten gegenwärtig allerdings die entgegengesetzte Auffassung. Sie meinen, dass die neurophysiologischen Prozesse im Gehirn keinerlei Indeterminiertheiten aufwiesen, dass die Prozesse im Gehirn, wie komplex auch immer, von einem Laplaceschen Dämon jederzeit vorhergesagt werden könnten und dass damit unsere Freiheits- und Verantwortungsintuitionen eine, allerdings nützliche, Illusion seien. Aus einem wohlbestimmten neurophysiologischen Ausgangszustand folgt naturnotwendig jeweils ein einziger Folgezustand, wobei selbstverständlich genetische und epigenetische, sowie Umwelteinflüsse, die über sensorische Stimuli auf das neurophysiologische System Einfluss nehmen, zu berücksichtigen sind. Der vollständig über sein eigenes neurophysiologisches System Aufgeklärte kennt also keine Deliberation mehr. Er könnte – als Science Fiction – alle zukünftigen epistemischen wie konativen Zustände bei jeweils gegebenen sensorischen Stimuli prognostizieren. Wenn sich diese Kenntnis auf andere Individuen der

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menschlichen Spezies ausdehnt, kann er alle zukünftigen epistemischen und konativen Zustände, alle Handlungen, Urteile und Einstellungen aus der jeweiligen vollständigen Kenntnis zum gegenwärtigen Zeitpunkt deduzieren. Die Frage ist nicht, ob eine solche Vorstellung einen realistischen Gehalt hat. Die Frage ist, ob sie überhaupt kohärent ist. Ich halte sie für inkohärent und mit ihr die Vorstellung einer vollständigen naturalistischen Determiniertheit unserer Handlungs- und Urteilsgründe. Für die Inkohärenz dieser Vorstellung sprechen folgende Argumente: a) Unsere theoretischen wie praktischen Deliberationen haben in der Regel keinen algorithmischen Charakter (im Sinne von Church/ Kleene). Es ist logisch unmöglich, eine Maschine zu konstruieren, die die Frage der Gültigkeit einer beliebigen prädikatenlogischen Formel feststellen kann. Erst recht gilt das für die höhere Mathematik und die theoretischen Naturwissenschaften. Wenn dieser Typ von theoretischen Deliberationen, zu denen Beweise der Prädikatenlogik erster Stufe gehören, durch einen kausalen, deterministischen, strikten Verlaufsgesetzen gehorchenden, naturwissenschaftlich beschreibbaren neurophysiologischen Prozess vollständig realisierbar wäre, dann müsste dies wohl als Widerlegung des Theorems von Church gelten. Es ist von daher, jedenfalls solange wir die zentralen metamathematischen Resultate von Gödel, Church und Kleene akzeptieren, nicht plausibel anzunehmen, dass unsere Deliberationen vollständig von naturalistischen und deterministischen, strikte Verlaufsgesetze implizierenden Kausalrelationen determiniert sind. b) Die Annahme eines solchen naturalistischen Algorithmus würde grundsätzlich alle zukünftigen epistemischen wie konativen mentalen Zustände zu prognostizieren gestatten. In der epistemisch idealen Welt gäbe es keine Argumente, keinen Wissensfortschritt, keine Entscheidungen, keine in unserem Sinne menschliche Existenz mehr. Poppers Überlegungen in Clouds and Clocks (Popper, 1966) kann man als eine Warnung vor einem allzu naiven, naturalistischen Determinismus ansehen. c) Die Vorstellung einer vollständigen naturalistischen Determination unserer Deliberationen fiele übrigens noch hinter die Psychologismus-Kritik von Frege und Husserl zurück. Wenn logische Relationen keine psychologischen (oder besser: mentalen) Gesetzmäßigkeiten repräsentieren, dann a fortiori keine neurophysiologischen.

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d) Und schließlich: Nehmen wir an, mein Gehirn sei zu t im Zustand z. Nehmen wir weiter an, dass jede meiner Überzeugungen neurophysiologisch realisiert ist, also auch die Überzeugung, dass mein Gehirn jetzt im Zustand z ist. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder das neurophysiologische Korrelat dieser Überzeugung ist in z enthalten, dann ist meine Überzeugung wahr, allerdings wäre dann meine Überzeugung, dass mein Gehirn jetzt nicht im Zustand z ist, ebenfalls wahr, weil diese Überzeugung z ja entsprechend verändern würde. Umgekehrt, wenn das neurophysiologische Korrelat meiner Überzeugung nicht in z enthalten ist, dann wäre meine Überzeugung, dass sich mein Gehirn jetzt im Zustand z befindet, falsch, allerdings auch ihr kontradiktorisches Gegenteil. Überzeugungen, die sich auf eigene Hirnzustände beziehen, haben also merkwürdige Eigenschaften. Die Selbstreferenzialität ist offenbar eine unüberschreitbare Grenze der naturalistischen Determination. 8. Pauen nimmt das Argument ernst, dass Qualia (phänomenale Bewusstseinseigenschaften) nicht neuronal realisiert sein können. Für menschliche Vernunft, für unsere praktischen und theoretischen Deliberationen spielen Qualia eine zentrale Rolle, eine Interessen-basierte Ethik kommt ohne Qualia natürlich nicht aus. Daher genügt schon dieses Zugeständnis, um die These, dass unsere Deliberationen naturalistisch unterbestimmt sind, plausibel zu machen. 9. Damit Gründe für unser Verhalten kausal relevant sind, müssen sie entsprechend der weithin unbestrittenen INUS-Bedingung von John L. Mackie’s The Cement of the Universe (Mackie, 1980) im Rahmen eines erklärenden Argumentes unentbehrlich sein. Wenn A Ursache von B ist, dann ist A ein unzureichender (insufficient), aber unentbehrlicher (non-redundant) Teil einer nicht notwendigen (unnecessary), aber hinreichenden (sufficient) Bedingung von B. Daher stehen kausale Erklärungen, die nicht auf die betreffenden Gründe Bezug nehmen, in einem Konflikt mit Erklärungen über Gründe. Bei Erklärungen des neurophysiologischen Typs ließe sich das nur dadurch beheben, dass der jeweilige konkrete Grund nichts anderes ist als der jeweilige neurophysiologische Prozess. Dies anzunehmen ist wenig plausibel, daher spricht die Tatsache, dass unser Handeln und Urteilen von Gründen geleitet wird, gegen den Naturalismus. Die humanistische Position, dass Gründe unser Urteilen, unser Handeln und unsere Einstellungen wenigstens partiell bestimmen, ist

Ursachen und Gründe – eine Replik

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nicht gezwungen, nach Lücken in den naturwissenschaftlichen Beschreibungen zu suchen oder auf solche zu hoffen, sie muss nur immer wieder philosophische Überspanntheiten zurückweisen, die mit erfolgreichen naturwissenschaftlichen Forschungsprogrammen von jeher einhergegangen sind.2

Bibliographie Hucho, Ferdinand (2006): Das Elend mit dem Reduktionismus. Die molekulare Ebene des Problems Willensfreiheit. In: Köchy, Kristian/Stederoth, Dirk (Hg.): Willensfreiheit als interdisziplinres Problem. Freiburg/München: Alber. Kane, Robert (1996): The Significance of Free Will. Oxford/New York: Oxford University Press. Keil, Geert (2000): Handeln und Verursachen. Frankfurt am Main: Klostermann. Mackie, John L. (1980): The Cement of the Universe. A Study of Causation. Oxford: Oxford University Press. Nida-Rümelin, Julian (2001): Strukturelle Rationalitt. Ein philosophischer Essay ber praktische Vernunft. Stuttgart: Reclam. Popper, Karl (1966): Of Clouds and Clocks: An Approach to the Problem of Rationality and the Freedom of Man. St. Louis, Missouri: Washington University Press. Rohs, Peter (2003): Freiheit und Kausalität. Zu Geert Keils Handeln und Verursachen. In: Allgemeine Zeitschrift fr Philosophie (28), 251 – 260.

2

Ich danke Wolfgang Spohn, Martin Rechenauer und Martine Nida-Rümelin für wertvolle Anmerkungen zum Text.

Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung GEERT KEIL 1. Die libertarische Freiheitsauffassung Die sogenannte libertarische Freiheitsauffassung, von der dieser Beitrag handelt, ist eine Kombination zweier Thesen. Der Libertarismus nimmt einerseits zum traditionellen Freiheitsproblem Stellung – zu der Frage, ob der menschliche Wille frei oder determiniert sei –, zum anderen zum modernen Nachfolgeproblem der Vereinbarkeit. Dagegen beschäftigt sich der Inkompatibilismus ausschließlich mit dem Vereinbarkeitsproblem, bleibt also hinsichtlich der Existenz der Freiheit neutral. Der Inkompatibilismus lässt sich sowohl mit der Leugnung als auch mit der Verteidigung der Freiheit verbinden: Während der Libertarismus den Willen für frei hält und den Determinismus für falsch, behauptet der harte Determinismus – eine Prägung von William James – das Umgekehrte: Der Determinismus ist wahr, Freiheit gibt es nicht. Die libertarische Freiheitsauffassung stellt also eine Konjunktion von Teilthesen dar, nämlich (a) der Nichtvereinbarkeitsthese und (b) der Doppelthese von der Falschheit des Determinismus und der Existenz der Willensfreiheit.1 Die übergroße Mehrheit der zeitgenössischen Freiheitstheoretiker vertritt eine weitere Auffassung, nämlich den Kompatibilismus, also die Lehre der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus. Wenn der Kompatibilismus richtig ist, löst sich das traditionelle Freiheitsproblem auf, denn der Wille kann dann ja zugleich frei und determiniert sein. Es ergibt sich folgendes Schema:

1

Das englische Kunstwort „libertarianism“ muss so lang sein, weil die anderen Bildungen zu „liber“ (Liberalismus, Libertinismus) schon vergeben sind und nichtphilosophische Bedeutungen haben. Da ohnehin ein Kunstwort vonnöten ist, spare ich zwei Silben ein und spreche von „libertarischer Freiheit“ und „Libertarismus“. Gemeint ist eben das, was andere „Libertarianismus“ nennen.

282 Der Wille ist determiniert nicht determiniert

Geert Keil

frei Kompatibilismus (weicher Determinismus) Inkompatibilismus II (Libertarismus)

unfrei Inkompatibilismus I (harter Determinismus)

Dieses verbreitete Schema hat allerdings einige Schwächen. Es ist unvollständig, insofern es einige Außenseiterpositionen nicht erfasst. Außerdem erweckt es den Eindruck, die Kompatibilisten hielten genau dieselben Phänomene für vereinbar, die die Inkompatibilisten für unvereinbar hielten. Dieser Eindruck trügt, denn beide Lager legen typischerweise nicht denselben Freiheitsbegriff zugrunde. Inkompatibilisten operieren mit einem stärkeren Freiheitsbegriff als Kompatibilisten. Was zwischen beiden Lagern umstritten ist, ist also genau genommen nicht die Vereinbarkeit als solche, sondern die Frage, welche Art von Freiheit auf ihre Vereinbarkeit mit dem Determinismus zu prüfen ist. Die ,starke‘, libertarische Freiheit passt auch nach der Auffassung vieler Kompatibilisten nicht in eine deterministische Welt. Dies sei aber kein Verlust, da diese Art von Freiheit nicht einmal erstrebenswert sei. Kompatibilisten sind typischerweise der Auffassung, „daß sinnvolle Freiheitsbegriffe von vornherein so konzipiert werden müssen, daß sie auf ein deterministisches Universum passen“ (Seebaß, 2006, 199). Das definierende Merkmal des Libertarismus gegenüber dem kompatibilistischen Verständnis der Freiheit besteht im Prinzip der alternativen Mçglichkeiten, also in der Behauptung, dass die Welt Verzweigungsmöglichkeiten enthält. Dieses Prinzip, die direkte Negation des Determinismus, ist auf den Weltlauf als Ganzen bezogen. Man kann es auch für Handlungen oder Entscheidungen spezifizieren. Dieses spezifizierte Prinzip wird aus irgendeinem Grunde meist für die Vergangenheit formuliert und sagt dann, dass ein Akteur unter den gleichen Bedingungen hätte anders handeln können. Es liegt auf der Hand, dass das Andershandelnkönnen eine Spezifizierung des allgemeinen Prinzips ist, und dass wir nur dann so oder anders handeln können, wenn auch der Weltlauf Verzweigungsmöglichkeiten enthält, denn unsere Handlungen sind ja Teil des Weltlaufs. Wenn es wahr sein soll, dass jemand hätte anders handeln können, muss auch gelten, dass anderes hätte geschehen können. Der Libertarier hält das Bestehen alternativer Möglichkeiten für eine Selbstverständlichkeit. Die Intuition, die er in Anspruch nimmt, ist einfach und nahe liegend: Der Laplacesche Determinismus behauptet,

Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung

283

dass die Naturgesetze und ein beliebiger Weltzustand alle weiteren Weltzustände alternativlos festlegen. Wenn der Determinismus wahr wäre, gäbe es niemals mehr als einen Weg, wie die Welt weiter verlaufen könnte, also gäbe es für uns auch nichts zu entscheiden. Es gäbe schlicht keinen Freiheitsspielraum. Das Vermögen der Wahl zwischen Alternativen wäre eine Illusion. Nur wenn es einem Akteur möglich ist, sich unter denselben Bedingungen so oder anders zu entscheiden, kann man überhaupt von einer Entscheidung sprechen. Der Kompatibilist hält dagegen die Existenz alternativer Möglichkeiten für entbehrlich, und viele Kompatibilisten halten das Anderskönnen unter identischen Umständen sogar für unverständlich oder für freiheitsgefährdend. Im Unterschied zum Vereinbarkeitsproblem ist die traditionelle Frage „Freiheit oder Determinismus?“ in der Philosophie der Gegenwart sehr unpopulär. Das Vereinbarkeitsproblem hat das traditionelle Freiheitsproblem aus der fachphilosophischen Diskussion weitgehend verdrängt. Sich auf die Frage zu beschränken, ob der Determinismus mit der Freiheit vereinbar ist oder nicht, und es dahingestellt sein zu lassen, ob der Determinismus material wahr ist, erscheint vielen Philosophen attraktiv. Kompatibilisten argumentieren, dass wir mit einem Freiheitsbegriff, der mit dem Determinismus vereinbar ist, auf der sicheren Seite seien. Selbst wenn der Determinismus sich als wahr herausstellen sollte – und darüber habe nicht die Philosophie zu entscheiden, sondern die Physik –, müssten wir unsere Auffassungen über die Freiheit nicht ändern. Diese Argumentation ist in mehrerlei Hinsicht verfehlt. Zum einen ist nicht ausgemacht, dass die Frage nach der Wahrheit des Determinismus eine innerphysikalische Frage ist. Vermutlich ist sie eine metaphysische Frage, was man daran sieht, dass, wiewohl ihre Behandlung physikalisches Wissen erfordert, empirische Tatsachen die Antwort unterbestimmt lassen. Das heißt nicht, dass die Frage nach der Wahrheit des Determinismus keiner vernünftigen Behandlung zugänglich wäre. Auch wenn metaphysische Fragen sich nicht empirisch entscheiden lassen, könnten einige von ihnen sich vernnftig entscheiden lassen unter Zuhilfenahme empirischen Wissens – das ist ein subtiler Unterschied, der leicht übersehen wird. Die andere Fehlannahme der besagten kompatibilistischen Argumentation ist, dass wir mit unserer Freiheit auf der sicheren Seite sind, wenn wir sie nicht zu anspruchsvoll verstehen. Welche Art von Freiheit wir tatsächlich besitzen, hängt aber davon ab, wie die Welt und wir beschaffen sind, nicht davon, mit welcher Doktrin die Freiheit vereinbar oder nicht vereinbar ist. Und Aufgabe einer

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philosophischen Freiheitstheorie ist nicht, auf der sicheren Seite zu bleiben, sondern im Verbund mit den anderen Wissenschaften herauszubekommen, wie sich die Sache mit der Willensfreiheit wirklich verhält. Der Kern des libertarischen Freiheitsbegriffs ist das So-oder-Anderskönnen unter gegebenen Bedingungen. In der jüngeren Freiheitsdebatte wird dieses definierende Merkmal allerdings mit einer Reihe von Zusatzbehauptungen verknüpft, auf die der Libertarier nicht verpflichtet ist und die mit der Sache wenig zu tun haben. Insofern diese Zusatzbehauptungen dem Libertarier unterschoben werden, um die Absurdität seiner Position zu erweisen, spreche ich von Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung. Erst wenn diese Mythen als solche erkannt sind, kann das eigentliche Problem des Libertarismus, nämlich das Zufallsproblem, umso schärfer hervortreten. Ich werde im Folgenden vier dieser Annahmen vorstellen, die der libertarischen Freiheitsauffassung in diskreditierender Absicht unterschoben werden. Ich verzichte weitgehend darauf, sie mit Zitaten zu belegen. Jeder, der sich in der Literatur umsieht, stößt schnell auf diese Mythen.

2. Mythen über libertarische Freiheit 2.1 Der Mythos der Unbedingtheit Libertarische Freiheit ist Freiheit von allen Bedingungen. Ein freier Wille, wie der Libertarier ihn fordert, ist nach dieser Auffassung ein durch nichts bedingter Wille. Insbesondere sei er unabhängig von den Einstellungen und dem Charakter der wollenden Person. Völlig unabhängig von ihren Dispositionen und ihren Überlegungen könne ein Willensentschluss auf beliebige Weise ausfallen. In Peter Bieris Freiheitsbuch wird ein solcher durch nichts bedingter Wille ausführlich beschrieben und kritisiert. Ein freier Wille, der keinerlei Bedingungen unterläge, ist nach Bieri nicht bloß illusorisch, er ist auch nicht wünschenswert. Freiheit, die es sich zu haben lohnt, ist etwas anderes als ein kapriziöses, unkontrollierbares Vermögen.2 Versteht man unter unbedingter Freiheit die Fähigkeit, losgelöst von seinen psychischen Dispositionen grundlos zu wählen, so kann man 2

Vgl. Bieri, 2001, 81 et passim.

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Bieri darin zustimmen, dass dies keine erstrebenswerte Art von Freiheit ist. Schon Hume hat argumentiert, dass eine solche Freiheit die Zurechnung von Handlungen gerade unmöglich mache. Damit man einer Person ihre Entschlüsse und Handlungen zurechnen kann, müsse die Person eine gewisse charakterliche Stabilität aufweisen. Wir tadeln und loben ja nicht die Taten selbst, sondern Personen fr ihre Taten, und wir möchten dadurch das künftige Verhalten der Person beeinflussen. Bei Wesen mit zu erratischen Lebensäußerungen liefe diese Praxis ins Leere. Unter den Mythen des Libertarismus führe ich diese Auffassung auf, weil kein libertarischer Philosoph von Rang sie jemals vertreten hat. Auch bei Bieri wird das Phantom der unbedingten Freiheit nur eloquent heraufbeschworen, nicht aber aus der philosophischen Freiheitsdebatte entwickelt. Am nächsten kommt der Idee der grundlosen Wahl noch der acte gratuit im französischen Existenzialismus, aber auch dort handelt es sich eher um einen literarischen Topos als um eine philosophische These. Gide, Breton, Sartre und Camus waren fasziniert von dem unmotivierten, bedenkenlos und gleichsam spielerisch ausgeführten Verbrechen, Gide prägte dafür den Begriff des acte gratuit. Bezeichnenderweise ist auch Bieris Gewährsmann eine literarische Figur, nämlich Dostojewskis Mörder Raskolnikow. Um einen Beitrag zur Vereinbarkeitsdebatte zu leisten, wäre zu zeigen, dass die Abwesenheit einer Laplaceschen Determination gleichbedeutend mit der Annahme eines im beschriebenen Sinne unbedingt freien Willens ist, so dass der Libertarier auf diese Annahme verpflichtet wäre. Diejenigen, die den Mythos der unbedingten Freiheit pflegen, entziehen sich dieser Aufgabe, indem sie ihren Determinismusbegriff nonchalant im Unklaren lassen. So auch Bieri: „Die Idee von Bedingungen und Bedingtheit, die ich hier und durch das ganze Buch in Anspruch nehme, scheint mir eine hinreichend klare Idee zu sein“, „Details“ würden „am zentralen Gedankengang“ nichts ändern (Bieri, 2001, 435). Es gibt allerdings noch einen anderen Sinn, in dem man das Vermögen der freien Wahl „unbedingt“ oder „absolut“ nennen könnte. Man kann die Frage stellen, ob Wahlfreiheit ein kategorisches oder ein graduelles Vermögen ist, ob sie also Abstufungen zulässt oder nicht. Descartes hat in dieser Frage wie folgt argumentiert: Der menschliche Wille besteht in der Fähigkeit der Ja/Nein-Stellungnahme zu gegebenen Handlungsoptionen. Der Verstand legt dem Willen eine Option zur Beurteilung vor, der Wille entscheidet frei über die Ausführung. Diese Fähigkeit der freien Wahl ist nach Descartes insofern vollkom-

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men, als sie nicht steigerbar ist. Der Wille jedes Menschen ist „so vollkommen oder so groß […], daß ich ihn mir nicht noch vollkommener oder größer denken könnte“ (Descartes, 1641, 47). Der Grund dafür ist ein logischer: Das Vermögen zur Ja/Nein-Stellungnahme schöpft ja den gesamten logischen Raum aus. Nicht einmal Gott, so Descartes, könnte in dieser Hinsicht eine vollkommenere Freiheit besitzen. Insbesondere hängt das Vermögen der freien Wahl nicht von der Grçße des jeweiligen Spielraums ab. Ein Zuwachs an Optionen ist eben kein Zuwachs am Vermçgen der Wahl. Es gibt also durchaus einen Sinn, in dem „kategorische“, „absolute“ oder „vollkommene“ Freiheit nicht absurd ist – wenn man nämlich darunter nicht die Fähigkeit versteht, unter gegebenen Bedingungen Beliebiges zu wollen oder zu tun, sondern das Vermögen, unter den bestehenden Optionen, so wenige es auch sein mögen, zu wählen. Der Libertarier kann ohne weiteres zugestehen, dass viele Arten von Freiheit graduierbar sind, klarerweise etwa die politische Freiheit. Nur diejenige Freiheit, die ihm besonders am Herzen liegt, das Vermögen des Sooder-anders-Wählens, scheint aus logischen Gründen keine Graduierung zuzulassen. Es ist entweder vorhanden oder eben nicht. Freilich muss auch dieses Vermögen phylo- und ontogenetisch entstanden sein, so dass es plausiblerweise Vor- und Zwischenformen gegeben hat. Welche Konsequenzen diese Art der Graduierung für die Freiheitsdebatte haben mag, bleibt zu klären (siehe Abschnitt 4).

2.2 Der Mythos des Dualismus Libertarier leugnen, dass Personen und ihre Entscheidungen Teil der einen, natrlichen Welt sind. Behauptet wird mit anderen Worten, dass Libertarier Cartesische oder Kantische Dualisten sein müssen. Descartes lehrte, dass die denkende Substanz nicht im Raum ausgedehnt ist, aber dennoch kausal in die Körperwelt hineinwirkt. Nach Kant wirken sich freie Handlungen in der Welt der Erscheinungen aus, gehen aber ihrerseits auf „intelligibele Ursachen“ zurück, die „sammt ihrer Kausalität außer der Reihe“ der Erscheinungen stehen (Kant, 1781/87, B565/A537).3 3

Zu Kants Lehre der „Kausalität durch Freiheit“ vgl. Keil, 2000, 329 –358.

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Die Behauptung, dass Libertarier Leib-Seele-Dualisten sind, wird besonders im durch die neuere Hirnforschung angeregten Teil der Freiheitsdebatte vertreten. Gerhard Roth referiert die libertarische Freiheitsauffassung wie folgt: „Der freie Akt darf natürlich selbst nicht wieder zerebral bedingt sein, sondern muß völlig immateriell, d. h. ohne jede Hirnaktivität vor sich gehen.“ (Roth, 2001, 436). Wenn der Libertarier behaupte, dass die freie Wahl einer Person nicht durch Vorgänge in ihrem Gehirn „bedingt“ sei, dann hänge sie offenbar dem cartesischen Dualismus an. Wolf Singer schreibt: „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. […] Keiner kann anders, als er ist.“ (Singer, 2004, 30; 63). Was ist hier schief gelaufen? Es wurde der synchrone Sinn von „determinieren“, „festlegen“ oder „bedingen“ mit dem diachronen Sinn dieser Ausdrücke verwechselt. Dasjenige Festlegen, von dem der Determinismus spricht, ist ein Vorgang in der Zeit. Dasjenige Festlegen, von dem Roth und Singer sprechen, ist hingegen eine Beziehung zwischen einer Hirnaktivität und ihrer zeitgleichen mentalen Entsprechung. Die Verwechslung der beiden Arten von „Determination“ führt zur Identifikation des neuronalen Substrats oder Korrelats eines mentalen Ereignisses mit dessen Ursache. Zwischen einem mentalen Ereignis und seinem zeitgleichen physischen Substrat kann es aber keine Kausalbeziehungen geben, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Wenn man hier von „festlegen“ sprechen möchte, dann ist das ein anderer Sinn von festlegen als der für den Determinismus einschlägige. (Eine Analogie: Eine bestimmte Bewegung zweier Schachfiguren legt fest, dass es sich um eine Rochade handelt, aber sie legt eben nicht fest, welcher Zug als nächster ausgeführt wird.) Mentale Ereignisse sind nach allem, was wir wissen, physisch realisiert, aber diese Realisierungsbeziehung hat mit dem Determinismus nichts zu tun und ist als solche auch nicht freiheitsgefährdend. Singers schiefe Formulierung „Keiner kann anders, als er ist“ zeigt diese in der Literatur leider häufige Verwechslung schon an der sprachlichen Oberfläche an. Tatsächlich ist das Anderskönnen des Libertariers kein Anderskönnen gegenber einem aktuellen physiologischen Geschehen, das wäre absurd, sondern es ist ein Anderskönnen bei gegebener Vorgeschichte. Niemand kann die Gegenwart anders sein lassen, als sie nun einmal ist, aber ein Handelnder kann die Welt von einem gegebenen Punkt an auf mehr als eine Weise weiter verlaufen lassen. Aus diesem Grunde ist allgemein die Erforschung neuronaler Korrelate des Mentalen für das Freiheitsproblem irrelevant – solange keine

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deterministische Zusatzprämisse ins Spiel kommt. Warum sollte der Umstand, dass mentale Prozesse physisch realisiert sind, dass also in meinem Gehirn etwas vorgeht, während ich etwas denke oder will, meine Freiheit gefährden? Wer hier einen Widerspruch sieht, der gründet seine Freiheit tatsächlich auf den Dualismus. Solche Philosophen gibt es natürlich, aber wir sollten dabei bleiben, sie Leib/SeeleDualisten zu nennen. Libertarier müssen diese Auffassung nicht vertreten. Die Unvereinbarkeit, von welcher der Libertarier spricht, ist eine zwischen Freiheit und Determinismus, nicht zwischen Freiheit und Naturzugehörigkeit des Menschen.

2.3 Der Mythos des unbewegten Bewegers Nach libertarischer Auffassung kçnnen frei whlende Personen Wunder bewirken, haben also die Fhigkeit, Naturgesetze abzundern, oder sind erste Beweger, die Kausalketten in Gang setzen. In jedem Falle leugnen Libertarier das Prinzip der kausalen Geschlossenheit der Kçrperwelt bzw. die Geltung physikalischer Erhaltungsstze. Beginnen wir mit der Behauptung, Libertarier hielten Wunder für möglich. Ein Wunder ist nach Hume ein Verstoß gegen ein Naturgesetz.4 Wenn man unter einem Gesetz eine wahre Gesetzesaussage versteht, muss man den Vorwurf etwas umformulieren, denn dann ist die Rede vom „Verstoß“ oder einer „Verletzung“ schief. Der Einwand muss dann so lauten, wie von Inwagen ihn in seinem Konsequenzargument für den Inkompatibilismus formuliert: Niemand kann Naturgesetze falsch machen. 5 Dass niemand Naturgesetze falsch machen kann, glaubt der Libertarier auch, denn dies ist eine der Prämissen des Konsequenzarguments, das er typischerweise akzeptiert. Der Streit geht um die Frage, ob man Naturgesetze falsch machen kçnnen msste, um in den Genuss liberta4 5

Vgl. Hume, 1748, Sect. X, pt. i. Das Konsequenzargument für den Inkompatibilismus besteht aus zwei Prämissen und einer Konklusion: (P1) Wenn der Determinismus wahr ist, folgen unsere Handlungen aus Naturgesetzen und Ereignissen der fernen Vergangenheit. (P2) Es liegt nicht in unserer Hand, die Naturgesetze zu ändern, noch die Ereignisse vor unserer Geburt. (K) Also liegen auch die kausalen Konsequenzen der Vergangenheit und der Naturgesetze, eingeschlossen unsere eigenen Handlungen, nicht in unserer Hand. Vgl. Inwagen, 1983, 16; 56.

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rischer Freiheit zu kommen. Dies wäre aber nur der Fall, wenn man den Determinismus schon als wahr voraussetzt, also behauptet, die Naturgesetze seien halt so, dass sie alle Handlungsmöglichkeiten bis auf eine verschließen. Solange keines dieser Naturgesetze vorgewiesen wird, sollte der Libertarier von diesem Argument nicht allzu beeindruckt sein. Naturgesetze schreiben ja nicht vor, was zu geschehen hat, sondern beschreiben in systematisierter Form, was stets geschieht. Um wahre Allsätze zu sein, dürfen Naturgesetze keine Gegeninstanzen haben. Menschen können Naturgesetze in der Tat nicht falsch machen, das liegt aber allein daran, dass in den Gesetzesbegriff das Merkmal des Wahrseins schon eingebaut ist. Menschen können sehr wohl Gesetzeskandidaten als falsch erweisen. Durch eine solche Falsifikation wird gezeigt, dass etwas, was man für ein Gesetz hielt, keines war, sondern nur eine Gesetzeshypothese. Wunder braucht es dafür nicht. Die Behauptung, dass Libertarier Handelnde als Erste Beweger auffassen, die Kausalketten in Gang setzen, ist nicht so leicht zurückzuweisen, denn in der Tat gibt es prominente Libertarier, die dies vertreten haben. Der Akteurskausalist Roderick Chisholm spricht dieses große Wort gelassen aus: „Each of us, when we act, is a prime mover unmoved“ (Chisholm, 1964, 32). Von Kant sind ähnliche Formulierungen bekannt: Wir hätten das Vermögen, „mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen, der Kausalität nach, von selbst anfangen zu lassen“ und also „aus Freiheit zu handeln“ (Kant, 1781/87, B 478/A 450). Diese Formulierungen sind interpretationsbedürftig. In der neueren Literatur sind drei kausalitätstheoretische Interpretationen der libertarischen Freiheitsauffassung unterschieden worden.6 Libertarier können das Anderskönnen unter gegebenen Umständen akausal, akteurskausal oder indeterministisch ereigniskausal auffassen: a) Akausalisten oder Nonkausalisten behaupten, dass freie Entscheidungen oder freie Handlungen keine Ursachen haben (Ginet, McCann). Man spricht hier auch von „kontrakausaler Freiheit“. b) Akteurskausalisten behaupten, dass Entscheidungen oder Handlungen durch Akteure verursacht werden (Kant, Chisholm, R. Taylor, Clarke, O’Connor, Lowe, Runggaldier, Meixner). c) Indeterministische Ereigniskausalisten behaupten, dass Entscheidungen und Handlungen auf nichtdeterministische Art durch Ereignisse verursacht werden (Kane, Ekstrom, Mele, Keil). 6

Vgl. z. B. Clarke, 2005.

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Die Lehre von der akausalen oder kontrakausalen Freiheit gibt dem Einwand Nahrung, dass der Libertarismus mit einem wissenschaftlichen Weltbild unvereinbar sei. Entscheidungen und Handlungen sind ja Ereignisse oder gehen jedenfalls mit solchen einher. Das allgemeine Kausalprinzip lautet in Kants Formulierung: „Jedes Ereignis hat eine Ursache“. Wenn nun der Libertarier behauptet, dass Entscheidungen oder Handlungen unverursacht geschehen, so leugnet er das allgemeine Kausalprinzip, und das zu tun ist keine Kleinigkeit. Nun ist das Kausalprinzip nicht mit dem Determinismusprinzip identisch. Dass jedes Ereignis eine Ursache hat, ist nicht gleichbedeutend damit, dass jedes Ereignis unter deterministische Sukzessionsgesetze fällt.7 Die Gesetzesauffassung der Kausalität ist vielmehr eine kausalitätstheoretische Zusatzannahme, zu der es Alternativen gibt. Zum akausalen Libertarismus – zur Annahme einer kontrakausalen Freiheit – neigen Libertarier, die das Kausalprinzip mit dem Determinismus identifizieren. Auch Kant konnte sich schlicht nicht vorstellen, was denn Verursachung sonst sein sollte, wenn nicht Determination durch strenge Naturgesetze. Und dass Letzteres mit der Freiheit unvereinbar ist, kennzeichnet ja gerade den Inkompatibilismus, den der Libertarier vertritt. Sobald alternative, nichtdeterministische Auffassungen der Kausalität entwickelt werden, sollte die Attraktivität der kontrakausalen Freiheit für den Libertarier sinken. Eine dieser Alternativen ist die Akteurskausalitt. Kant führte zur Auflösung des Freiheitsproblems eine zusätzliche Kausalitätsart ein, die er der gewöhnlichen Naturkausalität zur Seite stellte und „Kausalität aus Freiheit“ nannte. In der analytischen Handlungstheorie hat Chisholm diese Idee unter dem Titel Agent Causality wiederbelebt und theoretisch ausgearbeitet. Die Pointe dieser zusätzlichen Kausalitätsart gegenüber der gewöhnlichen Ereigniskausalität besteht darin, dass Akteurskausalisten als erstes Relatum der Kausalrelation nicht ein Ereignis ansehen, sondern eine Person. Wenn eine Person „eine Reihe von Begebenheiten von selbst anfängt“, also eine Kausalkette in Gang setzt, dann ist nicht etwas in ihr die Ursache für ihre Körperbewegung, sondern sie selbst verursacht im Wortsinne ihre Handlung. In Chisholms Worten: „In doing what we do, we cause certain events to happen, and nothing – or no one – causes us to cause that events to happen.“ (Chisholm, 1964, 32). 7

Vgl. dazu Keil, 2003; 2007, Kap. 2.5.

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Die größte theoretische Schwierigkeit der Akteurskausalität besteht im sogenannten Datiertheitsproblem. Es wurde von Charlie Broad in die Debatte eingeführt und lautet wie folgt: Handlungen sind etwas, was zu einem bestimmten Zeitpunkt vorkommt. Die Nennung der Ursache für eine Handlung sollte erklären, warum sie zu diesem bestimmten Zeitpunkt vorkommt und nicht früher oder später. Der schlichte Verweis auf die Person kann dies aber nicht erklären. Die Person war ja schon vorher da und wird auch nachher noch da sein. Sie ist, wie Aristoteliker sagen, eine beharrende Substanz, die den Veränderungen, die an oder in ihr stattfinden, zugrunde liegt. Als beharrende Substanzen überdauern Personen ihre Handlungen, und deshalb kann die Nennung der Person nicht die Frage beantworten, warum jetzt eine Handlung stattfindet. Also können Personen nicht im Wortsinne Ursachen von etwas sein.8 Der Datiertheitseinwand gegen die Annahme einer eigenen Akteurskausalität ist ein sehr starkes Argument, das bisher niemand entkräften konnte. Eine nahe liegende Antwort wäre diese: Dann ist die Ursache für die Handlung eben nicht die Person selbst, sondern ihr Entschluss oder ihre Entscheidung, also ein geistiger Akt, welcher der Person zurechenbar ist. Diese Antwort entspricht aber eben der Auffassung der ereigniskausalen Theorie der Handlungsverursachung, welche die Ursache als etwas ansieht, was im Handelnden stattfindet und der Handlung unmittelbar vorausgeht. Allerdings ist die ereigniskausale Lesart nach Auffassung der Akteurskausalisten freiheitsgefährdend. Kant und Chisholm meinen, dass unser Vermögen, eine Handlung anzufangen, nur durch die Annahme einer eigenen Kausalitätsart verständlich gemacht werden kann. Das Argument dafür ist bei Chisholm ganz einfach: Wenn die Handlung durch Ereignisse verursacht wurde, und seien es mentale Ereignisse, dann stand die Handlung ja nicht in der Macht der Person. Wenn Ereignisse in mir die Ursache waren, dann gilt, dass ich in der gegebenen Situation nicht anders hätte handeln können, als ich eben gehandelt habe.9 Dieses Argument verfängt aber nur, wenn Ursachen kausal hinreichende Bedingungen sind, wenn man also die Gesetzesauffassung der Kausalität zugrunde legt. Tut man das nicht, so bräuchte es einen zusätzlichen Grund, warum Verursachtsein freiheitsgefährdend sein soll. 8 9

Zur Auseinandersetzung mit der Lehre der Akteurskausalität vgl. Keil, 2000, 319–373. Vgl. Chisholm, 1964, 25.

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Diesen zusätzlichen Grund gibt es auch, er verbirgt sich in Chisholms nur halb ironischer Rede, Handelnde müssten unbewegte Beweger sein. Diese Rede zeigt an, dass es neben dem So-oder-Anderskönnen noch ein zweites Modell oder ein zweites Merkmal der libertarischen Freiheit gibt, nämlich die Vorstellung des Akteurs als einer ersten Quelle seiner Handlung – das Ursprungsmodell („source model“). Dieses Modell, oder genauer, die kausale Deutung dieses Modells, provoziert die einschlägigen Einwände. Wenn anlässlich jeder Handlung eine neue Kausalkette beginnt, scheinen Kräfte oder Energien aus dem Nichts zu entstehen, und das würde die physikalischen Erhaltungssätze wie auch das allgemeine Kausalprinzip verletzen. Dass dem Weltlauf ein erster Beweger zugrunde liegt, ist schwer genug zu verstehen; dass es gleich Scharen unbewegter Beweger geben soll, würde Naturwissenschaft sehr schwierig machen. Die Probleme, die aus der kausalen Deutung des Ursprungsmodells entstehen, kann man auch in die Frage kleiden, wie Akteurskausalität denn mit der gewöhnlichen Ereigniskausalität vermittelt werden soll, so dass beide Verursachungsarten in derselben Welt nebeneinander bestehen können. Kant hat die beiden Kausalitätsarten auf zwei Welten verteilt, die empirische und die intelligible; dieser Zug löst das Vermittlungsproblem nicht, sondern lässt es umso schärfer hervortreten. Wenn man die akteurskausale und die akausale Variante des Libertarismus ablehnt, bleibt nur die ereigniskausale. Hier besteht die Herausforderung darin, zu erklären, wie Handlungen Ursachen haben können, und es zugleich wahr sein soll, dass die Person unter den gegebenen Umständen auch anders hätte handeln können. Umgekehrt gefragt: Warum sollte man ein Ereignis oder ein Ensemble von Antecedensbedingungen, das seine Wirkung nicht unausweichlich macht, noch eine Ursache nennen? Die Entkopplung von Kausalprinzip und Determinismusprinzip gibt ja noch keine positive Antwort auf die Frage, worin eine Kausalbeziehung denn dann besteht, wenn nicht in einer Instanz einer strengen Gesetzmäßigkeit. Der Begriff einer indeterministischen Ereigniskausalitt müsste also präzisiert werden. Der prominenteste Vertreter des ereigniskausalen Libertarismus, Robert Kane, hat diese Auffassung kausalitätstheoretisch nicht näher ausgearbeitet. Doch erst wenn man das getan hat, wird der Libertarier den Mythos des Ersten Bewegers überzeugend zurückweisen können. Erst dann kann er zeigen, warum das Vermögen, unter gegebenen Bedingungen so oder anders zu handeln, nicht die Fähigkeit erfordert, unverursachte Ursa-

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chen in die Welt zu setzen, Wunder zu bewirken oder Naturgesetze zu verletzen.10 2.4 Der Mythos der Lücke Fr freie Entscheidungen muss es eine spezielle Art von neuronaler Indeterminiertheit geben – Determinationslcken in Gehirnprozessen, in die der freie Wille hineinstoßen kann. Dies ist eine Auffassung, die durch Epikur und Descartes bekannt geworden und in Verruf gekommen ist. Nach Epikur lässt die Natur geringe „willkürliche“ Bahnabweichungen der Seelenatome zu (clinamen atomorum). Diese geringfügigen Abweichungen machen es den Lebewesen möglich, willentlich eine Bewegung in Gang zu setzen, sind aber so klein, dass sie die beobachtbare Regelmäßigkeit der Natur nicht tangieren. Descartes hatte ein ähnliches Argument: Die Zirbeldrüse sei so locker im Gehirn aufgehängt, dass an dieser Stelle, und nur dort, die Lebensgeister (esprits animaux) auf die Körperwelt einwirken können.11 Im 20. Jahrhundert hat eine Reihe von Physikern und Philosophen, angefangen mit Pascual Jordan, dafür argumentiert, dass der quantenmechanische Indeterminismus die libertarische Freiheit ermöglicht. Der Hirnforscher John C. Eccles lehrte, dass Quantenunbestimmtheiten in den Synapsen dem nichtmateriellen Geist einen kleinen Freiraum zur Kontrolle von Gehirnprozessen verschaffen. Heute vertritt der Libertarier Robert Kane eine Variante der Clinamen-Auffassung: Im Gehirn gebe es chaotische Prozesse, die durch Quantenereignisse beeinflusst werden können. In Situationen, in denen Personen zwischen verschiedenen Motiven hin- und hergerissen sind und sich letztlich für eine der Handlungsoptionen frei entscheiden, werden chaotische neuronale Prozesse in Gang gesetzt, die für minimale Schwankungen der Anfangsbedingungen sensibel sind.12 Mehrheitlich ist die Auffassung, dass Quantensprünge uns frei machen, mit Hohn und Spott überzogen worden, wobei der Zufallseinwand die zentrale Rolle gespielt hat. Wie sollten, so fragte Erwin Schrödinger 10 Kausalitätstheoretisch befriedigend und zugleich freiheitskompatibel ist meines Erachtens am ehesten eine Variante der kontrafaktischen Auffassung der Kausalität. Vgl. dazu Keil, 2000, 272–300; 431–473. 11 Vgl. Descartes, 1649, § 31; §34. 12 Kane, 1996, 128–130; 172–174.

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schon 1936, bloße Zufallsereignisse unsere Freiheit gewährleisten? Und wie schafft es der Geist, seine Entscheidungen zeitlich exakt in die minimalen Kausallücken zu platzieren, deren Auftreten schließlich unvorhersehbar ist? 13 Ähnlich argumentierte schon Cicero gegen Epikurs Clinamen-Theorie. Worin genau der Zusammenhang zwischen neuronalem Chaos und freien Entscheidungen bestehen soll, kann auch Kane nicht erklären. Entsprechen chaotische Prozesse freien Entscheidungen, ermçglichen sie sie, erklren sie sie? Meines Erachtens liegt der Auffassung, es müsse für freie Entscheidungen eine spezielle Art von neuronaler Indeterminiertheit geben, ein Missverständnis über die Natur des Determinismus und entsprechend des Indeterminismus zugrunde. Wer nach einer speziellen Art von Indeterminiertheit bei freien Entscheidungen sucht, scheint allgemein den Determinismus für wahr zu halten. Genau diese Auffassung wird dem Libertarismus auch von seinen Kritikern zugeschrieben: „Die Idee der Willensfreiheit mutet uns zu, in einem ansonsten deterministisch verfaßten Bild von der Welt lokale Löcher des Indeterminismus zu akzeptieren.“ (Prinz, 1996, 92). Wohlverstanden ist Indeterminiertheit aber kein lokaler Zug der Welt, sondern ein globaler.14 Indeterminismus – und vielleicht sollte man besser vom Nichtdeterminismus sprechen – ist nichts anderes als die Auffassung, dass der Laplacesche Determinismus nicht wahr ist, dass also der Weltlauf keinen ausnahmslosen Sukzessionsgesetzen unterliegt. In diesem Sinne ist dann aber kein Ereignis determiniert. Dafür muss es keine Lcken oder gesetzlose Inseln im Meer der strengen Determination geben, denn schon dieses Meer gibt es nicht. Die Rede von einzelnen nichtdeterminierten Ereignissen ist streng genommen ein Kategorienfehler, denn der Gehalt des Laplaceschen Determinismus zeigt sich erst in der allquantifizierten Form deterministischer Gesetze bzw. des von Laplace fingierten Supergesetzes. Dass in einem Einzelfall das Vorausgesagte geschieht, belegt den Determinismus nicht, denn dieser behauptet, dass nichts dazwischenkommen kçnnte. Diese modale Behauptung wird aber nicht dadurch wahr, dass oft genug das Erwartete geschieht.

13 „How does the mind arrange to have its decisions occurring simultaneously with that unpredictable leap, so that they, too, may be undetermined?“ (Thorp, 1980, 70). 14 Vgl. dazu Keil, 2007, Kap. II.

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Die Rede von „Lücken“ ist ebenso metaphorisch wie die von einem „lückenlosen Zusammenhang“. Was genau soll da lückenlos sein? Die zugrunde liegende Metapher dürfte die von der Weltmaschine sein, also die mechanistische Vorstellung der Welt als eines kraftschlüssigen Räderwerks, in dem alle Zahnräder ohne Spiel ineinander greifen. Das ist eine eindrucksvolle Metapher, aber sie erklärt den Sinn der deterministischen Lehre nicht und ersetzt auch kein Argument für deren Wahrheit. Ohne die suggestive Metapher ist man auf die Frage zurückverwiesen, woher der Determinismus seine modale Kraft beziehen soll. Die einschlägige Antwort lautet: aus den Naturgesetzen. Es ist einfach nicht zu sehen, wie man bei der Erläuterung des Laplaceschen Determinismus die Frage umgehen könnte, ob der Weltlauf ausnahmslosen Sukzessionsgesetzen folgt oder eben nicht. Der Mythos der lokalen Determinationslücken ist so tückisch, weil er so nahe an der Wahrheit ist. Wer partout von „Determinationslücken“ sprechen will, kann dies tun, er muss nur erklären, was er damit meint. Die Rede von Lücken könnte einfach eine Reformulierung des Prinzips der alternativen Möglichkeiten sein. Lücken sind dann offene Möglichkeiten, also diejenigen möglichen Verläufe, die durch Naturgesetze nicht ausgeschlossen sind. Wenn ich anders gehandelt hätte, als ich tatsächlich gehandelt habe, hätte ich meine Handlungen in eine solche „Determinationslücke“ platziert. Behauptet der Indeterminismus als globale Doktrin, dass die Welt sich vollständig aus Determinationslücken im besagten Sinne zusammensetzt? Nein, Indeterminismus ist nicht die Auffassung, dass jederzeit Beliebiges geschehen kann. Viele mögliche Verläufe sind durch Naturgesetze ausgeschlossen. Zum Beispiel ist es, soweit wir wissen, naturgesetzlich unmöglich, dass jemand sich schneller als das Licht bewegt. Doch alles, was nicht naturgesetzlich unmöglich ist, bleibt möglich. Die Naturgesetze fasst man am besten als constraints auf, als Restriktionen, die einige Möglichkeiten verschließen, aber viele andere offen lassen. Wenn den Naturgesetzen Genüge getan ist, gibt es nicht noch einmal einen Mechanismus, der Spielräume vernichtet. Nichts anderes behauptet der Indeterminismus: die Abwesenheit einer Vorrichtung, die alle Möglichkeiten bis auf eine verschließt. Es kann daher keine Rede davon sein, dass der Libertarier die Naturgesetze leugnet oder abändern will. Vielmehr weist er auf den Umstand hin, dass die naturgesetzlichen „constraints from physics are only partial constraints. There is much freedom left after they are satisfied.“ (Suppes, 1994, 467).

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Damit schließe ich meine Liste der Mythen über den Libertarismus. Die Argumentationslinie war die folgende: Vieles, was dem Libertarier an Auffassungen zugeschrieben wird, gehört nicht zu den definierenden Merkmalen seiner Position. Übrig bleibt das Anderskönnen unter gegebenen Bedingungen. Es ist dasjenige Merkmal, das die libertarische Freiheitsauffassung auszeichnet.

3. Der Zufallseinwand Nicht auf einer Fehlzuschreibung beruht der Zufallseinwand gegen die libertarische Freiheitsauffassung. Er markiert ein echtes und vermutlich das schwierigste Problem des Libertarismus. Hier sind einige Formulierungsvarianten: Eine indeterminierte Wahl wäre zufällig, und Zufall nützt dem Freiheitsfreund nichts. Wenn wir unter identischen Bedingungen so oder anders entscheiden könnten, wären unsere Entscheidungen irrational und unerklärlich. Indeterminiertheit vergrößert unsere Freiheit nicht, sondern unterminiert Vernünftigkeit, Kontrolle und Verantwortlichkeit. Der Zufallseinwand markiert ein ernstes Problem, aber er trifft den Libertarier nicht wehrlos. Ich habe an anderer Stelle fünf Antworten auf den Zufallseinwand skizziert,15 von denen ich hier nur eine rekapituliere. Die Antwort auf den Einwand, dass der Indeterminismus dem Libertarier doch „nichts nützt“, „nicht weiterhilft“ oder seine Freiheit „nicht verständlich macht“, muss lauten, dass der Indeterminismus auch nicht diese Aufgabe hat. Allgemein ist zwischen dem positiven und dem negativen Teil einer Freiheitslehre zu unterscheiden: Freiheit muss zum einen positiv erläutert werden, beispielsweise als das Vermögen, praktische Überlegungen anzustellen und diese Überlegungen handlungswirksam werden zu lassen. Diese positive Erläuterung fällt nicht bei allen Libertariern gleich aus; der gemeinsame Nenner aller Libertarier ist ja allein das ,starke‘ Freiheitsverständnis, welches Anderskönnen unter gleichen Umständen erfordert. Es liegt auf der Hand, dass der bloße Indeterminismus für eine positive Erläuterung nicht ausreicht. Die ontische Möglichkeit alternativer Verläufe besteht ja auch für Wesen oder Dinge, denen der Libertarier keine freie Wahl zugestehen würde. „Frei“ im hier interessierenden Sinne kann auch nicht nur heißen „ungehindert“, sonst wäre auch ein fallender Stein frei. Eine positive 15 Vgl. Keil, 2007, Kap. IV, 5.

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Erläuterung der Freiheit muss ein echtes Vermçgen beschreiben, keine bloße Möglichkeit. Zum anderen muss dieses Vermögen in die Welt passen. Die physische Welt darf nicht so sein, dass die Ausübung dieses Vermögens unmöglich wäre. Dafür ist der negative Teil einer Freiheitslehre zuständig, nämlich das Merkmal des Ungehindertseins. Für den Libertarier spielt diese Rolle der Indeterminismus: Er gewährleistet, dass der Ausübung des fraglichen Vermögens nichts entgegensteht. Nur insofern der Weltlauf nicht deterministischen Sukzessionsgesetzen unterliegt, gibt es für freie Wesen einen Spielraum, in dem sie ihr Entscheidungsund Handlungsvermögen ausüben können. Indeterminismus ist also keine positive Erläuterung von „freier Entscheidung“, sondern er ist nur für das Nihil obstat zuständig. Die genannte Variante des Zufallseinwands beruht mithin auf einer Verwechslung der Aufgaben des positiven und des negativen Teils einer Freiheitslehre. Vom negativen Teil wird fälschlich erwartet, dass er das Vermögen der Freiheit positiv erläutert oder verständlich macht. Als Vermögen muss die Freiheit aber unabhängig erläutert werden; danach bleibt nur noch zu prüfen, ob das derart erläuterte Vermögen auch in die Welt passt. – Der Zufallseinwand ist damit freilich nicht insgesamt ausgeräumt; dafür bedarf es weiterer Argumente.16

4. Epilog: Zur Evolution der Freiheit Das Verursachtsein unserer Handlungen ist solange nicht freiheitsgefährdend, wie Kausalität nichtdeterministisch aufgefasst wird. Dass unsere Handlungen nichtdeterministische Ursachen haben, gewhrleistet aber nicht schon das Anderskönnen. Eine positive Erläuterung der Freiheit muss, wie gesagt, ein echtes Vermögen beschreiben, beispielsweise das Vermögen, praktische Überlegungen anzustellen und das Ergebnis dieser Überlegungen handlungswirksam werden zu lassen, eingeschlossen die schon von Locke beschriebene Fähigkeit, vorfindliche Wünsche oder Antriebe zu suspendieren, eingehend zu prüfen und sich gegebenenfalls von ihnen zu distanzieren.17 16 Vgl. Keil, 2007, Kap. IV, 5. 17 Nida-Rümelin hat gegen die empiristische Standardauffassung der mentalen Verursachung überzeugend herausgearbeitet, dass für diese Fähigkeit Handeln nach Grnden erforderlich ist, nicht bloß die Abhängigkeit meiner Handlung

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Dass Menschen die komplexe Fähigkeit besitzen, ihre vorhandenen Wünsche und Antriebe vernünftig zu prüfen und sich gegebenenfalls von ihnen zu distanzieren, ist eine anthropologische Behauptung, die der Überprüfung durch psychologische Forschung zugänglich ist. Von Schimpansen ist bekannt, dass sie, vor die Wahl zwischen zwei Futternäpfen gestellt, stets den volleren wählen, selbst wenn sie gelernt haben, dass der gewählte Napf einem Artgenossen gegeben wird. Auch Kinder unter vier Jahren wählen stets die größere Portion. Offenbar können sie nicht anders. Es wäre nicht erhellend, dieses fehlende Vermögen der Selbstdistanzierung einfach unter das Nichtbestehen alternativer Möglichkeiten im Sinne des Determinismus zu subsumieren, und es wäre ein echter Fehler, im Umkehrschluss dieses Vermögen durch den Indeterminismus gewährleistet zu sehen. Die Fähigkeit zur vernünftigen Prüfung und Wahl ist etwas, das zur physikalischen Indeterminiertheit noch hinzukommen muss. Bei der fähigkeitsbasierten Erläuterung der menschlichen Freiheit gibt es freilich noch eine sprachliche Komplikation. „Frei“ ist im Wortsinne nicht Attribut einer Fähigkeit oder eines Vermögens. Den Trägern des fraglichen komplexen Vermögens, also Menschen, lässt sich das Prädikat „frei“ hingegen zuschreiben. Der Zusammenhang lässt sich dann wie folgt darstellen: Im positiven Teil einer philosophischen Freiheitstheorie wird das fragliche Vermögen charakterisiert; den Menschen nennen wir dann „frei“, wenn und insofern er das beschriebene Vermögen besitzt. Wenn das Vermögen der freien Wahl eine komplexe Fähigkeit menschlicher Säugetiere ist, dann muss diese Fähigkeit in der Naturoder in der Kulturgeschichte erworben worden sein. In diesem Fall sollte es Vor- und Zwischenstufen gegeben haben. Nun hatte Descartes das Vermögen des So-oder-anders-Wählens als eine vollkommene, gottgleiche Fähigkeit beschrieben, die aus logischen Gründen keine Graduierung zulässt: Ein Vermögen zur Ja/Nein-Stellungnahme, das den gesamten logischen Raum ausschöpft, ist nicht graduierbar. Es liegt auf der Hand, dass diese Überlegung, selbst wenn sie richtig ist, die Frage nach der evolutionären Genese nicht hinfällig macht. Es gibt eben verschiedene Arten der Graduierung von Fähigkeiten. Evolutionäre Gradualitätsdebatten werden auch in Bezug auf andere humanspezifische Fähigkeiten geführt. Sprache, Vernunft, Geist waren von passenden Wnschen, und seien es höherstufige wie in Harry Frankfurts Theorie der hierarchischen Motivation (Nida-Rümelin, 2005, 79–92).

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nicht immer vorhanden, sie haben nicht mit dem Urknall das Licht der Welt erblickt. Heute sind sie vorhanden, also müssen sich entwickelt haben. Es wird in der Phylogenese Vor- und Zwischenstufen gegeben haben, und in jeder Ontogenese können wir das allmähliche Erwachen des Geistes von neuem beobachten. Wie weit unser theoretisches Verständnis dieses Vorgangs reicht, steht auf einem anderen Blatt. Dass mentale Fähigkeiten und Eigenschaften sich graduell entwickeln, mithin Abstufungen zulassen, ist im Rahmen eines wissenschaftlichen Weltbilds schwer zu leugnen. Die Frage ist, ob für unser Verständnis der menschlichen Freiheit daraus etwas philosophisch Interessantes folgt. Müssen wir vielleicht unser Selbstverständnis als überlegungs-, entscheidungs- und handlungsfähige Wesen revidieren, wenn wir zugestehen, dass die fraglichen Fähigkeiten sich graduell entwickelt haben? Der evolutionre Naturalismus ist eine Position, die philosophische Konsequenzen aus dem Umstand zieht, dass der Mensch mit all seinen Fähigkeiten ein kontingentes Produkt der Evolutionsgeschichte ist. Für manche Philosophen kommt schon das bloße Anerkennen der evolutionären Entstehung einer naturalistischen Position gleich: „A philosophical approach is naturalist if its procedures are consistent with the assumption that its subject matter has come into being as a result of evolutionary processes.“ (Roughley, 2004, 51). Doch das Vertreten von Auffassungen, die mit der Evolutionstheorie vereinbar sind, sollte jemanden noch nicht zum Naturalisten machen. Andernfalls wäre Roy Wood Sellars zuzustimmen, der in seinem Buch Evolutionary Naturalism verkündete: „We are all naturalists now.“ (Sellars, 1922, i).Nach Sellars ist jeder, dem es an kreationistischen oder obskurantistischen Neigungen gebricht, ein Naturalist. Dies spricht aber nicht für den Naturalismus, sondern gegen eine Begriffsbestimmung, die diese Konsequenz hat.18 Ebenfalls zu schwach, aber ungleich poetischer, ist folgende Bestimmung: „To be a naturalist is to see human beings as frail complexes of perishable tissue, and so part of the natural order.“ (Blackburn, 1998, 48). Es ist charakteristisch für den evolutionären Naturalismus, dass er mit sehr schwachen theoretischen Annahmen über die Entwicklungsgeschichte des homo sapiens auskommt. Wichtig scheint allein zu sein, dass alles, was Menschen sind, tun und können, Ergebnis der Naturgeschichte ist, nicht, wie diese Geschichte im Einzelnen verlaufen ist. 18 Zur Begriffsbestimmung von „Naturalismus“ vgl. Keil/Schnädelbach, 2000.

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Ein beliebter Philosophenkommentar zu Auffassungen dieses Allgemeinheitsgrades lautet, dass sie entweder trivial oder falsch seien. Dieser Kommentar liegt auch hier nahe: Dass wir und unsere Fähigkeiten in dem Sinne Resultat der Naturgeschichte sind, dass wir und diese Fähigkeiten nicht vorhanden wären, wenn die natürliche Evolution anders verlaufen wäre, ist eine Behauptung von sehr geringem empirischem Gehalt. Sie richtet sich gegen nichts außer dem Kreationismus. Es könnte aber auch etwas Stärkeres gemeint sein. Betrachten wir die ,Evolution‘ des Mentalen: Heute gibt es auf der Erde Lebewesen, die intentionale Zustände haben, also Wünsche, Überzeugungen, Absichten und andere propositionale Einstellungen. Dies kann man eine kontingente Tatsache nennen, in dem Sinne, in dem auch das Vorhandensein von Sauerstoff in der Erdatmosphäre oder der Wert der Gravitationskonstante kontingente Tatsachen sind. Wenn man weiter danach fragt, worauf unsere heutigen Fähigkeiten beruhen, oder wie sie in die Welt gekommen sind, so wären zwei lange Geschichten zu erzählen: zum einen die Naturgeschichte des homo sapiens, zum anderen seine Kulturgeschichte. Unsere Vorfahren müssen im Zuge einer KoEvolution von Sprache und Kognition damit begonnen haben, sich einen Reim darauf zu machen, was in, mit und zwischen ihnen geschah. Später machten sie sich Reime auf andere Reime. Philosophen sagen, wir könnten uns intentional auf etwas beziehen oder auf etwas richten. Manche von uns können auch komponieren, Schach spielen, Springfluten berechnen oder philosophische Aufsätze schreiben. Dass Menschen diese Dinge tun können, ist eine harte Tatsache. Es ist aber keine Naturtatsache, denn diese Fähigkeiten sind in der Menschheitsgeschichte bei weitgehend unveränderter genetischer Ausstattung ausgebildet worden. Es ist eine Kulturtatsache, denn die Ausbildung dieser Fähigkeiten bedurfte der Weitergabe erworbener Eigenschaften durch das animal symbolicum. 19 Tomasello betrachtet allerdings die Kulturgeschichte als Teil der menschlichen Naturgeschichte und bezeichnet die kulturelle Vermittlung als einen „biologischen Mechanismus“.20 Doch anders als diese Formulierung vermuten lässt, sieht Tomasello das Verhältnis von Kultur 19 Wie man den Härtegrad von Tatsachen messen kann, ist alles andere als klar, aber wer ein gutes Argument dafür hat, dass aufgrund der biologischen Evolution bestehende Tatsachen härter sind als aufgrund der Kulturentwicklung bestehende, der möge hervortreten. 20 Vgl. Tomasello, 2002.

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und Natur als ein dialektisches an. Während die Soziobiologie eine biologische Prägung der menschlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen behauptet, nimmt Tomasello auch einen Einfluss der kulturellen Lebensform des homo sapiens auf seine biologische Evolution an: „Die menschliche Gemeinschaft stellt die adaptive Umgebung dar, in der sich die menschliche Kognition phylogenetisch entwickelte“ (Tomasello, 2002, 10). Kommen wir auf die Frage zurück, ob aus der Einsicht in die naturund/oder kulturgeschichtliche Entstehung menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften etwas Interessantes für unser Verständnis der Freiheit folgt, und ob wir insbesondere unser Selbstverständnis als überlegungs-, entscheidungs- und handlungsfähige Wesen revidieren müssen. Von einer Folgerung war bereits die Rede: Wir müssen die Existenz von Vor- und Zwischenstufen mentaler Fähigkeiten annehmen. Diese Vor- und Zwischenstufen angemessen zu beschreiben ist notorisch schwierig, weil uns dafür buchstäblich die Worte fehlen. Unser intentionales Vokabular ist auf die Beschreibung des Vollbildes zugeschnitten, also auf die Leistungen des heutigen, ausgewachsenen Exemplars des homo sapiens im Vollbesitz seiner Fähigkeiten. Doch wie viel weniger als dieses Vollbild reicht für die Zuschreibung mentaler Fähigkeiten aus? Um erneut hinsichtlich der Ontogenese zu fragen: Wann genau beginnt ein Menschenkind, Überzeugungen zu haben, an welchem Tag erwacht das Selbstbewusstsein, wann hat es zum ersten Mal eine Absicht, wann kann es vernünftige Entscheidungen treffen? Jede genaue Zeitangabe wäre stipulativ. Man ist versucht, mit Wittgenstein zu sagen: „Das Licht geht nach und nach über das Ganze auf“ (Wittgenstein, 1970, §141). Für einzelne rechtlich bedeutsame Fähigkeiten wie Strafmündigkeit, Geschäftsfähigkeit oder Heiratsfähigkeit ziehen menschliche Gesellschaften konventionelle Grenzen, doch auch diese Grenzziehungen heben die Kontinuität der fraglichen Entwicklungen nicht auf, sondern kaschieren sie nur. Hier besteht ein ernstes Problem, das nicht einmal für die Evolutionsgeschichtsschreibung spezifisch ist, sondern kontinuierliche Verläufe jedweder Art betrifft. Für die phänomennahe Beschreibung kontinuierlicher Veränderungen scheinen die natürlichen Sprachen nicht besonders gut ausgerüstet. Nicht alle evolutionären Zwischenstufen mentaler Fähigkeiten müssen stabil gewesen sein. Es spricht vieles dafür, dass die Evolution des Geistes nicht in konstantem Tempo verlaufen ist. Die in der Paläoanthropologie verbreitete Rede von „Sprüngen“, „Revolutionen“ und „umgelegten Schaltern“ richtet sich aber nicht gegen das Prinzip,

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dass die Natur keine Sprünge macht. Ob eine evolutionäre Entwicklung kontinuierlich genannt wird oder diskontinuierlich, ist nur eine Frage der zeitlichen Auflösung bei der Beschreibung der fraglichen Vorgänge. All dies sind keine philosophischen Fragen. Überhaupt ist zu befürchten, dass die Philosophie zur Rekonstruktion der Naturgeschichte der Freiheit nicht allzu viel beitragen kann, jedenfalls nicht aus eigenen Mitteln. Die Paläoanthropologie ist auf Fossilienfunde angewiesen und sucht insbesondere aus Artefakten auf Fähigkeiten und Fertigkeiten rückzuschließen, die zu deren Herstellung notwendig waren. Dabei kann die Philosophie wenig helfen. Wenn die Frage lautet, welche mentalen oder protomentalen Fähigkeiten evolutionäre Vorläufer des modernen Menschen besessen haben mögen, so stehen dürftigen empirischen Befunden immense methodologische und begriffliche Schwierigkeiten gegenüber. Zwar ist die Philosophie dafür zuständig, die Anwendungsbedingungen anthropologisch relevanter Begriffe wie Sprache, Geist, Vernunft oder Freiheit zu klären, aber es wäre rationalistische Hybris, deren Intension und Extension in allen möglichen Welten bestimmen zu wollen. Die Schwierigkeit ist hier nicht allein, dass wir zu wenig wissen, sondern dass es wenig zu wissen gibt. Die Frage lautet ja, mit welchen Worten die Fähigkeiten von Wesen, mit denen wir nicht kommunizieren können und über die wenig bekannt ist, zu beschreiben sind. Welche unserer Begriffe sind dafür angemessen? Man denke an die hartnäckigen Streitigkeiten, ob bestimmte Spezies eine „Sprache“ besitzen oder nicht, oder vielleicht nur ein „Kommunikationssystem“. Der Gehalt dieser Kontroversen ist nicht ohne weiteres klar. Wenn wir unter „Sprache“ die menschliche Begriffssprache oder etwas ihr sehr Ähnliches verstehen, muss die Antwort regelmäßig „nein“ lauten. Wenn allgemein gefragt ist, wie ein Kommunikationssystem beschaffen sein muss, um als Sprache zu gelten, sollte man keine verbindliche Antwort erwarten. Das deutsche Wort „Sprache“ ist nicht scharf genug definiert, um solche Fragen zu beantworten. Die Berufung auf den normalen Sprachgebrauch hilft uns, wie Wittgenstein bemerkt, nur innerhalb gewisser Grenzen: „Nur in normalen Fällen ist der Gebrauch der Worte uns klar vorgezeichnet. […] Je abnormaler der Fall, desto zweifelhafter wird es, was wir nun hier sagen sollen.“ (Wittgenstein, 1971, §142) Freilich kann man stipulativ vorgehen und Ausdrücke wie „Sprache“ oder „Freiheit“ fachsprachlich neu definieren. Dieses Verfahren wäre aber von begrenztem Wert, denn es würde dann nicht mehr geklärt, ob ein fragliches Phänomen in die Extension oder Intension eines be-

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kannten, leidlich funktionierenden Prädikats fällt. Das neu definierte Prädikat würde nur zur nachträglichen Bezeichnung eines Phänomens dienen, das man schon anhand unabhängiger Merkmale abgegrenzt haben müsste. Vor- und Zwischenstufen mentaler Fähigkeiten zu beschreiben ist notorisch schwierig, weil uns, so hatte ich behauptet, dafür buchstäblich die Worte fehlen. Nun stellen sich ja im Falle der ontogenetischen Entwicklung ähnliche Abgrenzungsprobleme, mit denen wir nicht so defätistisch umgehen wie hier vorgeschlagen. Die Lebensäußerungen von Kindern während ihrer kognitiven Entwicklung interpretieren wir mit hermeneutischer caritas. Wir verstehen stets etwas mehr, als es zu verstehen gibt. Wir nehmen Zuschreibungen vor, die im Lichte erwartbarer spterer Entwicklungsstadien, auf deren Beschreibung unser intentionales Idiom zugeschnitten ist, gerechtfertigt erscheinen. Wir nehmen einen hermeneutischen Vorgriff auf Vollkommenheit vor, und wenn wir dabei gelegentlich über das Ziel hinausschießen, ist der Schaden gering. Die zu weit gehende Behauptung darüber, was Hänschen kann, wird Hans bald vergessen machen. Diese Rechtfertigung mentaler Zuschreibungen durch den Vorgriff auf erwartbare artgemäße Entwicklungsfortschritte entfällt aber in phylogenetischer Perspektive wie auch in der Tierforschung. Hier wird die Extrapolation zur Projektion. Die Literatur zur kognitiven Ethologie ist allerdings voll von solchen Projektionen. Es scheint auch für gut ausgebildete Verhaltensforscher schwer zu sein, die kognitiven Leistungen beispielsweise von Menschenaffen ohne jede hermeneutische caritas zu beurteilen.21 Dass wir uns diese caritas verkneifen müssen, sollte der Philosoph freilich nicht dogmatisch behaupten. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass unsere natürlichen Sprachen für die Charakterisierung evolutionärer Vor- und Zwischenstufen mentaler Fähigkeiten nicht gut gerüstet sind. Es ist eine Herausforderung für die künftige Forschung, an diesem Zustand etwas zu ändern. Philosophen sollten dieses Unternehmen zugleich kritisch und konstruktiv begleiten. Die Kritik anthropomorpher Projektionen gehört zum Kerngeschäft der Philosophie, doch das Erarbeiten begrifflicher Differenzierungen gehört ebenfalls dazu. Ich empfehle mithin keinen theoretischen Defätismus, sondern habe einstweilen festgehalten, dass von unseren gewçhnlichen Begriffen von „Sprache“, „Geist“ oder „Freiheit“ wenig Hilfe bei der Rekonstruktion einer Naturgeschichte der Freiheit zu erwarten ist. 21 Vgl. dazu den Beitrag von Julia Fischer in diesem Band.

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Evolutionäre Naturalisten pflegen zu insistieren, dass der Mensch mit allen seinen Fähigkeiten Teil des Evolutionsgeschehens bleibe, sich von seiner biologischen Natur nicht abkoppeln könne, auf seine in der Philosophischen Anthropologie beschworene „Sonderstellung“ verzichten müsse. Diese Bemerkungen sind von bescheidenem empirischem Gehalt und erklären nichts. Sie hatten ihren Sinn in der Auseinandersetzung mit dem Kreationismus, doch diese Schlacht ist geschlagen. Die Frage, ob aus der Einsicht in die natur- und/oder kulturgeschichtliche Entstehung menschlicher Fähigkeiten etwas Interessantes für die oben skizzierte libertarische Freiheitsauffassung folgt, findet eine negative Antwort. Es ist nicht zu sehen, inwiefern der Libertarier seine Freiheitsauffassung aufgrund entwicklungsgeschichtlicher Befunde ändern müsste. Anders sähe es aus, wenn er die menschliche Freiheit von vornherein so konzipiert hätte, dass sie nicht mit der Naturzugehörigkeit des Menschen vereinbar ist. Dass dies der Fall sei, wird in Bezug auf den libertarischen Freiheitsbegriff oft genug behauptet. Dass diese Behauptung auf Missverständnisse und falsche Unterstellungen zurückgeht, hoffe ich plausibel gemacht zu haben.

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Freiheit und Einbettung in die Umwelt – ein relationales neurophilosophisches Modell GEORG NORTHOFF I. Einleitung: Konzepte der Freiheit Im Alltag erleben wir das Gefühl der Freiheit, welches sich sowohl auf Handlungsentscheidungen als auch auf unseren Willen bezieht, den wir als frei verfügbar von unserer Seite erleben. Es wird daher in der gegenwärtigen philosophischen Debatte um Freiheit auch zwischen Handlungsfreiheit und Willensfreiheit unterschieden. Jemand ist in seinen Handlungen frei, wenn sein Wille sich ungehindert in seinen Handlungen niederschlagen kann. Dabei muss der Wille die jeweilige Handlung nicht direkt verursachen, es genügt, wenn die Handlung dem Inhalt der Absicht entspricht, wenn die Handlung die Absicht erfüllt oder ihren Inhalt verwirklicht. Zwei entscheidende Kriterien für das Vorhandensein von Willensfreiheit, und ultimativ auch von Handlungsfreiheit, sind die Verfügbarkeit von Alternativen und das Gefühl der Urheberschaft. Es kann von Freiheit gesprochen werden, wenn ich über alternative Möglichkeiten der Handlung verfüge. So besteht Willensfreiheit z. B. darin, dass ich auch über den Willen verfügen könnte, diesen Artikel über Freiheit nicht zu schreiben. Das zweite Kriterium der Willens- und Handlungsfreiheit, die Urheberschaft, bezieht sich auf ein Gefühl, dass wir als handelnde Person der Urheber der Handlung sind und somit am Beginn einer Kausalkette stehen. Dieses wird gegenwärtig z. B. in Form des Konzeptes der Agenskausalität diskutiert (Chisholm, 1976); Willensereignisse werden dann nicht mehr bloß als innere Ereignisse aufgefasst die Körperbewegungen verursachen, sondern es wird eine innere und äußere Ereignisse überbrückende Kausalkette, die ihren Ursprung im wollenden Subjekt hat, angenommen. Der freiheitlich wollende Mensch erlebt somit ein Gefühl der Urheberschaft, welches sich in der Fähigkeit manifestiert, eine neue Kausalkette zu initiieren. So habe ich z. B. als Autor das Gefühl, der Ursprung bzw. Beginn der Kausalkette zu sein, welche letztendlich in

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einen geschriebenen Beitrag über das Konzept der relationalen Freiheit einmündet. Dieser Willens- und Handlungsfreiheit mit ihren beiden Kriterien der Verfügbarkeit von Alternativen und der Urheberschaft steht das Konzept des Determinismus gegenüber. Dieser Vorstellung zufolge ist unsere Welt physikalisch und somit kausal geschlossen und festgelegt (determiniert). Für unsere Welt und auch für unseren Körper einschließlich unseres Gehirns würden die Gesetze der klassischen Physik gelten, wo alles in Form von (effizient; siehe unten) wirkenden Kausalketten determiniert ist. Dieses schlösse alternative Möglichkeiten aus und widerspräche dem Kriterium der Willens- und Handlungsfreiheit. Willensfreiheit wäre somit weder mit einem deterministischen Universum im Sinne der klassischen Physik noch mit einem Gehirn, welches dem kausal-physikalistischen Determinismus unterliegt, vereinbar. Auch das zweite Merkmal, nämlich die Urheberschaft, scheint vom Determinismus betroffen zu sein. Wie können wir die Urheber unserer Entscheidungen sein, wenn wir nicht neue Kausalketten verursachen und starten können? Wenn wir aber, wie es der Determinismus will, keine neuen Kausalketten verursachen könnten, sondern nur bereits begonnene Ketten fortsetzen könnten, drohte unsere Urheberschaft verloren zu gehen. Wir wären dann nicht mehr die Initiatoren, die am Beginn von neuen Kausalketten stehen, sondern lediglich ein Glied in den physikalistisch- und kausaldeterminierten Kausalreihen des Universums. Gerade die neuen Entwicklungen in den Neurowissenschaften scheinen die kausal-physikalistische Determiniertheit der neuronalen Prozesse unseres Gehirns nahe zu legen. Wenn aber unser Gehirn als zumindest notwendige, wenn nicht auch hinreichende Bedingung unserer psychischen Prozesse kausal determiniert wäre, würden auch die Möglichkeit der Verfügbarkeit von Alternativen und das Gefühl der Urheberschaft in Frage gestellt. Schließt unser Gehirn somit jegliche Willens- und Handlungsfreiheit aus? Sind Gehirn und Freiheit nicht kompatibel miteinander? Da wir auf unser Gehirn nicht verzichten können, müssen wir offenbar das Konzept der Freiheit aufgeben – Aufgabe der Freiheit zugunsten unseres Gehirns? Das Ziel meines Beitrages besteht in der Entwicklung eines so genannten relationalen Modells von Freiheit. Das relationale Modell von Freiheit zielt darauf, den Gegensatz zwischen dem Determinismus des Gehirns und dem Konzept der Freiheit zu unterminieren, indem die Beziehung zwischen Organismus, inkl. seines Gehirns, und Umwelt als

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zentral für die Möglichkeit von Freiheit betrachtet wird. Freiheit in einem relationalen Sinne wird nicht mehr ausschließlich in den neuronalen Prozessen unseres Gehirns gesucht, sondern die Freiheit besteht hier in der Beziehung zwischen Organismus und Umwelt. Die neuronalen Prozesse unseres Gehirns können dann höchstens als notwendig, aber auf keinen Fall mehr als hinreichend für die Freiheit des Menschen betrachtet werden. Freiheitsprozesse sind dann weder neuronale Prozesse noch psychische Prozesse, sondern relationale Prozesse zwischen Organismus und Umwelt. An die Stelle der Realisierung der Freiheit durch neuronale oder psychische Prozesse rücken die verschiedenen Formen von Relationen bzw. Kontaktmöglichkeiten zwischen Organismus und Umwelt als zentrales Moment. Es ist nicht mehr die Art der neuronalen Prozesse von entscheidender Bedeutung, sondern die Art der Kopplung des Organismus mit seiner Umwelt. Auf der Grundlage dieser Voraussetzungen möchte ich hier eine erste, zunächst vorläufige, Definition von Freiheit geben, die im Weiteren noch näher spezifiziert wird: Erste, vorlufige Definition des Konzeptes von Freiheit in einem relationalen Sinne: Freiheit heißt eine Selektion von Stimuli der Umwelt treffen zu können, je nachdem mit welcher Bedeutung sie der Organismus erlebt. Das hier vorgestellte relationale Modell von Freiheit macht die folgenden Voraussetzungen, die hier aufgrund des vorgegebenen Rahmens nicht näher diskutiert werden können. 1) Das relationale Modell von Freiheit setzt einen biologisch orientierten Freiheitsbegriff voraus. Biologisch muss hier als non-physikalistisch im Unterschied zur klassischen Physik verstanden werden. Dementsprechend muss auch der klassische physikalistisch orientierte Kausalitätsbegriff im Sinne einer causa efficiens zurückgewiesen werden und durch einen anderen bzw. erweiterten Kausalitätsbegriff ersetzt werden. 2) Im Rahmen eines biologisch orientierten Freiheitsbegriffs setzt das hier vorgestellte relationale Modell einen non-reduktiven Naturalismus voraus, wohingegen es mit einem reduktiven bzw. eliminativen Naturalismus nicht vereinbar ist (siehe unten für Details). 3) Das hier vertretene relationale Modell von Freiheit setzt eine starke epistemische Dimension voraus. Der Bezug zur Umwelt wird in einer bestimmten Art und Weise vom Organismus erlebt und mit

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einer bestimmten Bedeutung besetzt. Der Begriff des Erlebens bzw. der Erfahrung ist somit zentral für das relationale Modell von Freiheit. Diese zentrale Stellung von Erfahrung und Bedeutung setzt eine präreflexive und affektive Ebene voraus, die von einer reflexiven und kognitiven Ebene unterschieden werden muss. Dieses steht im Gegensatz zu vielen gegenwärtig diskutierten Konzepten von Freiheit in den Neurowissenschaften und der Philosophie, die eher die reflexive und kognitive Dimension von Freiheit herausstellen. 4) Es muss weiterhin betont werden, dass das hier vertretene relationale Freiheitsmodell die ethische Dimension zunächst einmal unberücksichtigt lässt (siehe hierfür Gerhardt, 1999, dessen Ansatz zur Selbstorganisation gut mit dem hiesigen relationalen Modell vereinbar ist). Dies heißt aber nicht, dass das relationale Modell von Freiheit ethisch irrelevant ist sondern lediglich, dass es einer separaten Abhandlung bedarf. Da das relationale Konzept die Verknüpfung zur Umwelt als zentrales Moment herausstellt, ist ein Bezug zu sozialen und ethischen Dimensionen von vornherein gegeben. Obwohl hier nur der deskriptive Aspekt diskutiert wird, lässt sich Freiheit im relationalen Sinne somit nicht von normativen Aspekten und daher von ethischen Fragen trennen. 5) Der vorliegende Beitrag zur Entwicklung eines relationalen Modells von Freiheit orientiert sich methodisch an einem neurophilosophischen Ansatz. Hier spielt die empirische Kompatibilität der Konzepte eine zentrale Rolle, d. h. das hier vertretene Konzept der Freiheit mit seinen entsprechenden Voraussetzungen und Bedingungen soll kompatibel mit der gegenwärtigen empirischen Datenlage sein. Empirische Plausibilität bzw. Kompatibilität muss allerdings von Reduktion und Elimination im Sinne eines Neuroreduktionismus oder Neuroeliminativismus unterschieden werden. Anders als in neuroreduktiven bzw. neuroeliminativen Strategien erfolgt im neurophilosophischen Ansatz keine Vermischung bzw. Konfusion zwischen empirischen und konzeptuellen Gegebenheiten. So kann z. B. der empirische Gegenstand „Gehirn“ nicht mit dem theoretischen Konzept der Freiheit vermischt bzw. verwechselt werden. Obwohl die unterschiedlichen Kategorien berücksichtigt werden sollten, kann dennoch ein Bezug zwischen ihnen hergestellt werden – ein so genannter neurophilosophischer Bezug (Northoff, 2001; 2004). Weiterhin muss der neurophilosophische Ansatz auch von rein philosophischen Ansätzen unterschieden werden. Aufgrund der

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Berücksichtigung der empirischen Plausibilität bzw. Kompatibilität bezieht sich der neurophilosophische Ansatz notwendig auf natürliche Bedingungen und impliziert somit, dass das relationale Modell von Freiheit nur in einem natürlichen Geltungsraum und somit in unserer gegenwärtigen Welt gültig ist. Im Unterschied zu philosophischen Ansätzen kann ein neurophilosophischer Ansatz daher keine Gültigkeit im logischen Raum und somit in allen möglichen Welten beanspruchen, sondern nur in der gegenwärtigen Welt, in der wir leben. Es muss weiterhin gesagt werden, dass es hier weniger um die Diskussion von Einzelheiten und Feinheiten der gegenwärtigen Debatte über das Konzept der Freiheit in Philosophie und Neurowissenschaften geht. Stattdessen wird hier der Schwerpunkt auf die Skizzierung eines Rahmens für ein relationales Modell der Freiheit gelegt; Querbezüge zur gegenwärtigen Debatte über die Freiheit in Philosophie und Neurowissenschaften werden hier und da lediglich angerissen. Die ausführliche Diskussion der verschiedenen Positionen zur Freiheit im Kontext eines relationalen Freiheitsmodells sollte daher in einem zweiten Schritt erfolgen, der hier jedoch den Rahmen sprengen würde. Im ersten Teil des vorliegenden Beitrages möchte ich zwei zentrale Bausteine eines relationalen Freiheitsmodells vorstellen. Dieses umfasst den Begriff der Umwelt, einschließlich des Begriffs der Selektion bzw. der selektiv-adaptiven Kopplung zwischen Organismus und Umwelt, und des empirischen Prozesses des self-related processing (SRP). In einem zweiten Teil soll dann das relationale Modell der Freiheit anhand von verschiedenen Fragen vorgestellt und diskutiert werden und dabei auch skizzenhaft und präliminarisch in den Kontext der gegenwärtigen philosophischen Diskussion um Freiheit gestellt werden.

II. Bausteine eines relationalen Modells der Freiheit II.1 Begriff der Umwelt Das Konzept der Umwelt muss von dem Begriff der Welt unterschieden werden. Historischer Anknüpfungspunkt für das hier vertretene Konzept der Umwelt ist der Begriff der Lebenswelt in der Phänomenologie, wie er u. a. von Husserl und Merleau-Ponty eingeführt wurde. Eine

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solche Lebenswelt ist nicht die reale Welt, sondern die Welt, die sie sich auf meine Erfahrungen und Erlebnisse bezieht und wo die eigenen Erlebnisse mit denen von anderen sich überschneiden. Die Lebenswelt ist somit untrennbar von Subjektivität und Intersubjektivität. Die Lebenswelt setzt eine präreflexive Ebene voraus in der Erfahrung bzw. Erlebnisse dominieren; sie muss von einer kognitiven Ebene, wo die Unterscheidung zwischen Welt und Umwelt überhaupt erst getroffen werden kann, differenziert werden. Wie kann der Begriff der Umwelt in konzeptueller Hinsicht charakterisiert werden? Die Umwelt wird konstituiert durch eine selektivadaptive Kopplung des Organismus zur Umwelt, wodurch die „reale Welt“ in eine Umwelt transformiert wird. Die Kopplung des Organismus zur Umwelt ist selektiv, da sie sich nur auf eine Verknüpfung bestimmter Eigenschaften des Organismus mit bestimmten Nischen oder Gegebenheiten der Umwelt bezieht – Gibson spricht auch von so genannten „Affordances“. So ist z. B. eine Fledermaus mit ihrem stark auf Ultraschall ausgerichteten Design in einer ganz anderen Art und Weise mit anderen Gegebenheiten bzw. Nischen („Affordances“) der Umwelt verknüpft als der Mensch. Anders als die Welt, die durch ihre Objekte charakterisiert wird, muss die Umwelt somit immer in Bezug zum Organismus und somit in Hinsicht auf ihre Gegebenheiten bzw. Nischen („Affordances“) beschrieben werden. Neben den „Affordances“ hängt die selektiv-adaptive Kopplung daher auch von dem Design des Organismus ab – man kann von einer Co-Determination der Organismus-Umwelt-Relation durch das Design des Organismus und den Gegebenheiten bzw. Nischen der Umwelt sprechen. Diese Co-Determination muss auch in historischer Hinsicht betrachtet werden. Das Design des Organismus und die Gegebenheiten bzw. Nischen der Umwelt entwickeln sich beide miteinander im Wechselspiel, d. h. sie sind bilateral voneinander abhängig, so dass man hier von einer sog. „biopsychosozialen Historizität“ der OrganismusUmwelt-Relation sprechen kann (Northoff/Bermpohl, 2004). „Biopsychosoziale Historizität“ beschreibt die gemeinsame biologische, psychologische und soziale Geschichte von Organismus und Umwelt, die sie teilen. Durch den Begriff der „biopsychosozialen Historizität“ wird eine zeitliche Dimension in die Organismus-Umwelt-Relation eingeführt, die für ihre gegenseitige Co-Evolution verantwortlich ist. Eine solche Co-Evolution zwischen Organismus und Umwelt resultiert in wechselseitiger Anpassung: Das Design des Organismus ist ausgerichtet auf die Gegebenheiten bzw. die Nischen, welche die Umwelt

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bietet, welche sich wiederum in Orientierung an dem Design des Organismus entwickeln. Organismus und Umwelt zeichnen sich somit durch eine wechselseitige Sensitivität füreinander aus und stehen daher schon immer, evolutionär bzw. historisch betrachtet, in einer Beziehung zueinander. Dies ist, was ich hier als Organismus-Umwelt-Relation bezeichne. Die oben getroffene Unterscheidung zwischen Welt und Umwelt impliziert eine weitere Unterscheidung in epistemischer Hinsicht. Die Art und Weise wie ein Organismus zu seiner Umwelt gekoppelt ist, ist spezifisch und hängt, wie oben beschrieben, von der gemeinsamen „biopsychosozialen Historizität“ ab. Diese spezies-spezifische Bestimmung und Determination der Umwelt durch einen spezifischen Organismus nenne ich spezies-spezifische Abhängigkeit (d); das „d“ steht für die Determination der Umwelt durch die jeweilige Spezies. Diese spezies-spezifische Abhängigkeit (d) muss von der spezies-unabhängigen Existenz der Welt als solche, die unhängig von der jeweiligen Spezies existiert, unterschieden werden. Die Existenz der Welt als solche, die als Ausgangspunkt für die Transformation derselbigen in eine bestimmte und spezies-abhängige Umwelt betrachtet werden muss, ist unabhängig von der jeweiligen Spezies. Ich spreche daher von einer Spezies-Unabhängigkeit (e); das „e“ steht für die Existenz der Welt, die als solche von der jeweiligen Spezies unabhängig ist.

II.2 Konzept der selbstreferenziellen Prozessierung Es stellt sich die Frage, wodurch der Organismus in der Lage ist, sich einerseits auf die Umwelt zu beziehen und andererseits die Umwelt auf sich zu beziehen. Hier wählt der Organismus bestimmte Stimuli der Umwelt aus, bezieht sie auf sich selbst und bezieht sich zugleich auf sie. Wodurch kann der Organismus Stimuli der Umwelt, auf die er sich beziehen will und die er auf sich beziehen will, von solchen, die er nicht auf sich beziehen will und auf die er sich nicht beziehen will, unterscheiden? Es kann hier von einer so genannten selbstreferenziellen Prozessierung ausgegangen werden, welches im Englischen auch als selfrelated processing beschrieben werden kann (Northoff et al., 2006; Northoff/Bermpohl, 2004). In der englischen Übersetzung kommt im Begriff „related“ noch besser zum Ausdruck, dass die Relation zwischen Organismus und Umwelt durch diese Art des Processing hergestellt wird.

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Die selbstreferenzielle Prozessierung wird im Folgenden als SRP abgekürzt; sie zeichnet sich durch folgende Charakteristika aus: Erstens ist die SRP genuin relational, d. h., sie stellt eine Beziehung zwischen Organismus und Umwelt her in Form von bestimmten Stimuli, auf die sich der Organismus beziehen kann. Zweitens spiegelt die SRP sich in einer Erfahrung bzw. einem Erleben des Selbstbezuges von Stimuli wieder. Dieses Erleben muss auf einer phänomenalen Ebene angesiedelt werden im Unterschied zu einer kognitiven Ebene. Es ist ein basales subjektives Erleben eines Bezuges zu bestimmten Gegebenheiten oder Nischen der Umwelt, welche hierdurch eine bestimmte Bedeutung für den jeweiligen Organismus gewinnen. Drittens kann die SRP als eine Manifestation einer selektiv-adaptiven Kopplung zwischen Organismus und Umwelt angesehen werden. Sie stellt einen episodischen Kontakt mit der Umwelt her, wodurch sich Organismus und Umwelt in Hinsicht auf einen bestimmten Stimulus wechselseitig modulieren und determinieren. Die SRP ist selektiv, da sie nur bestimmte Stimuli als selbstreferenziell auswählt und andere eher vernachlässigt, die nicht selbstreferenziell sind. Die SRP ist adaptiv, da sie den Organismus an den Stimulus der Umwelt anpasst und andererseits die Umwelt bzw. die Stimuli an den Organismus anpasst. Viertens muss die SRP eng mit sensomotorischen Funktionen gekoppelt sein, die eine Exploration und Manipulation der Umwelt bzw. der entsprechenden Gegebenheiten von Nischen in der Umwelt ermöglichen. Durch die Verknüpfung ermöglichen. Durch die Verknüpfung mit dem entsprechenden senso-motorischen Equipment des Organismus kann die SRP sich direkt auf die Umwelt beziehen, bestimmte Gegebenheiten oder Nischen der Umwelt explorieren und auch manipulieren, so dass die Stimuli bzw. die Umwelt an den Organismus angepasst werden können. Die selektiv-adaptive Kopplung zwischen Organismus und Umwelt, so wird es hier postuliert, wird somit durch die Verknüpfung von SRP mit senso-motorischen Funktionen aufrechterhalten. Fnftens ersetzt eine solche selektiv-adaptive Kopplung durch die Verknüpfung von SRP und senso-motorischen Funktionen das Modell der Repräsentation der Umwelt im Organismus bzw. in seinem Gehirn. Das vor allem in der analytischen Philosophie des Geistes häufig diskutierte Modell der Repräsentation setzt lediglich eine indirekte Beziehung zwischen Organismus und Umwelt voraus, da letztere nur repräsentiert wird. Es besteht keine direkte Kopplung zwischen Orga-

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nismus und Umwelt; stattdessen wird die Umwelt im Organismus reproduziert in Form von Repräsentationen. Der Organismus koppelt sich nicht mehr zur Umwelt, sondern repräsentiert die Umwelt in seinen Kognitionen. Da ein solches Konzept der Repräsentation nicht mit der hier vertretenen Form der SRP (mit der SRP als rein kognitivem Prozess wäre es kompatibel, nicht aber, wie hier vertreten, mit der SRP als affektiv-präreflexivem Prozess) kompatibel ist, ist es nicht mit der Verknüpfung von SRP und Umwelt mittels der senso-motorischen Funktionen vereinbar (siehe auch Noe, 2005 und Northoff, 2004). Der direkte Kontakt zwischen Organismus und Umwelt mittels der sensomotorisch vermittelten SRP ersetzt somit den indirekten Kontakt zur Umwelt in dem Modell der Repräsentation.

II.3 Empirische Evidenz für die selbstreferentielle Prozessierung Der vorliegende Ansatz beruht auf einer neurophilosophischen Methodik, die wiederum eine empirische Plausibilität und Kompatibilität erfordert. Oben habe ich die Bedeutung des Konzeptes der SRP als zentrales Moment für die Konstitution der Organismus-Umwelt-Relation herausgestellt. Wenn ein solcher relationaler Ansatz empirisch plausibel und kompatibel sein soll, sollten empirische Evidenzen für die SRP vorliegen, d. h., bestimmte physiologische bzw. neuronale Prozesse im Organismus und seinem Gehirn sollten in Verknüpfung mit der SRP gebracht werden können. Im Folgenden möchte ich solche empirischen Evidenzen aus den Neurowissenschaften für die SRP kurz schildern. Welche Prädiktionen für empirische Hypothesen ergeben sich aus der oben dargestellten Konzeptualisierung der SRP und inwieweit können diese durch empirische Daten untermauert werden? Erstens sollte die SRP sich über alle sensorischen Modalitäten und Domänen erstrecken und aufgrund dessen möglicherweise in einer eigenen funktionellen Einheit im Gehirn prozessiert werden. Dabei sollte diese eigene funktionelle Einheit einerseits einen engen Bezug zu den verschiedenen sensorischen Modalitäten und Domänen aufweisen und andererseits getrennt und eigenständig von ihnen sein, sodass eine Vermischung zwischen basaler Sensorik und Selbstbezug ausgeschlossen ist. Hierfür liegen in der Tat empirische Evidenzen vor. Die SRP kann möglicherweise mit der neuronalen Aktivität in einer bestimmten Funktionseinheit im Gehirn, den sog. kortikalen Mittellinien-Strukturen, den KMS, die die medialen Regionen der Hirnrinde des Gehirns

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umfassen, in Zusammenhang gebracht werden. Wir haben in einer Metaanalyse alle bisherigen bildgebenden Studien zur SRP zusammengefasst. Dabei zeigte sich eine Konzentration der entsprechenden SRP-assoziierten Aktivierungen für verschiedene sensorische Domänen und Modalitäten in den Medialregionen des Gehirns, den KMS. Interessanterweise zeigen diese Regionen auch enge bilaterale Verknüpfung mit allen sensorischen Sinnesorganen, sowohl den externen als auch den internen Sinnessystemen (Northoff/Bermpohl, 2004; Northoff et al., 2006). Zweitens, wenn die SRP in der Tat so zentral für die OrganismusUmwelt-Relation ist, sollte sie auf einer präreflexiven Ebene unterhalb der rein kognitiven Ebene angesiedelt sein. Dementsprechend sollte sie zwischen der rein sensorischen Prozessierung einerseits und der kognitiven Prozessierung andererseits vermitteln und so Bezüge zwischen Organismus und Umwelt herstellen, auf denen dann die Kognition in entsprechender Weise aufbauen kann. Drittens müsste die SRP eine Modulierung von feinen Unterschieden im Grad des Selbstbezuges und somit des Bezuges zwischen Umwelt und Organismus erlauben. In empirischer Hinsicht würde man hier somit vermuten, dass eine lineare bzw. parametrische Abhängigkeit zwischen dem Grad des Selbstbezuges einerseits und der Intensität der neuronalen Aktivität in den KMS andererseits besteht. Dies konnte in der Tat in einer Studie unserer Arbeitsgruppe aufgezeigt werden. Gesunde Probanden mussten emotionale Bilder hinsichtlich ihres Selbstbezuges auf einer visuellen Analogskala zwischen 0 und 10 evaluieren. Diese Werte wurden mit der in der funktionellen Kernspintomographie gemessenen neuronalen Aktivität während der Präsentation derselben Bilder korreliert. Dabei zeigte sich eine lineare bzw. parametrische Abhängigkeit der neuronalen Aktivität von dem Grad des Selbstbezuges in genau den oben beschriebenen Regionen, den medialen Regionen unserer Hirnrinde, den sog. KMS. Je stärker der Selbstbezug zu den präsentierten emotionalen Bildern war, desto stärker und höher war auch die neuronale Aktivität, die in den KMS beobachtet werden konnte. Viertens wurde oben eine Verknüpfung zwischen SRP und sensomotorischen Funktionen postuliert. Wenn dies der Fall ist, sollten auch motorische Regionen, die in der Konstitution von Körperschemata involviert sind, einen Selbstbezug aufweisen. Dieses zeigte sich in der Tat in der oben zitierten Untersuchung. Neben den medialen Regionen in unserer Hirnrinde, den KMS, zeigten auch der prämotorische

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Kortex und der bilaterale-parietale Kortex eine parametrische bzw. lineare Abhängigkeit vom Grad des Selbstbezuges. Der prämotorische Kortex ist in die Generierung und Entwicklung von komplexen Handlungen involviert, der laterale parietale Kortex stellt eine wichtige Region in der Konstitution von Körperschemata dar. Die Tatsache, dass die neuronale Aktivität in diesen beiden Regionen ebenfalls eine parametrische Abhängigkeit vom Grad des Selbstbezuges zeigte, indiziert die enge Verknüpfung zwischen SRP einerseits und Sensomotorik andererseits. Fnftens, wenn die Relation des Organismus zur Umwelt in phänomenaler Art und Weise erlebt wird, sollte die affektive bzw. emotionale Komponente eine zentrale Rolle im Selbstbezug spielen. Die emotionale und affektive Komponente sollte umso stärker sein, je stärker der Selbstbezug ist. Der enge Zusammenhang zwischen Emotionen bzw. affektivem Erleben und Selbstbezug konnte in der Tat gezeigt werden. Emotionale Bilder wiesen einen stärkeren Selbstbezug auf als non-emotionale Bilder. Interessanterweise zeigen die Regionen, die bei der SRP involviert sind, auch einen Anstieg ihrer neuronalen Aktivität bei emotionalen Stimuli. Sechstens, die SRP sollte nicht als ein rein intrasubjektiver Prozess konzeptualisiert werden, sondern als ein relationaler und somit intersubjektiver Prozess angesehen werden. Wenn die SRP als ein rein intrasubjektiver Prozess betrachtet wird, wird die relationale Komponente der SRP vernachlässigt. Dieses wiederum hat zur Folge, dass die Bedeutungskomponente und die affektive und präreflexive Erlebens- bzw. Erfahrenskomponente bei der SRP nicht erklärt werden könnte. Sofern die SRP als ein rein intrasubjektiver Prozess angesehen wird, muss sie den kognitiven Funktionen zugeordnet werden. Dadurch bliebe aber die Erfahrungs- bzw. Erlebensdimension unerklärt, die auf der affektiven und präreflexiven Ebene angesiedelt werden muss. Zusammenfassend müssen das Konzept der Umwelt, das Konzept der SRP und die empirischen Evidenzen für die SRP als wesentliche Bausteine für ein neurophilosophisch begründetes relationales Modell der Freiheit angesehen werden.

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III. Fragen zu dem Konzept eines relationalen Modells der Freiheit Im Folgenden soll das Konzept von Freiheit in einem relationalen Sinne anhand von vier Fragen und klinischen Beispielen (klein gedruckt am Ende) kurz skizziert werden. Dabei muss auch an dieser Stelle der Hinweis erfolgen, dass es sich hierbei lediglich um einen skizzenhaften, präliminarischen und hypothetischen Entwurf eines Konzeptes von Freiheit in einem relationalen Sinne handelt. Vorrangiges Ziel ist die Skizzierung der groben Linien eines solchen Konzeptes wohingegen die Einordnung in die gegenwärtige Debatte, wenn überhaupt, nur grob erfolgt und eine separate Arbeit notwendig macht.

III.1 Ist die Freiheit eine von der Umwelt isolierte Dimension? In den gegenwärtigen Konzepten der Freiheit wird häufig ein Gegensatz von Innen und Außen bzw. zwischen Organismus und Umwelt implizit vorausgesetzt. Die Person bzw. das Subjekt erlebt Handlungsalternativen und Urheberschaft. Hieraus folgern viele gegenwärtige Konzepte, dass der Organismus und sein Gehirn indeterminiert seien. Sie scheinen in der Lage zu sein, Alternativen zu entwickeln und ein Gefühl der Urheberschaft aufzuweisen, d. h., der Organismus und vor allem sein Gehirn scheinen indeterminiert zu sein. Dementsprechend werden die Begriffe der Verfügbarkeit von alternativen Möglichkeiten und der Urheberschaft auch ausschließlich mit dem Organismus selbst und in der jüngsten Forschung vor allem mit seinem Gehirn in Verknüpfung gebracht. Dem scheinbar indeterminierten Organismus mit samt seines Gehirns wird häufig eine determinierte Umwelt gegenübergestellt. Die Umwelt wird als physikalisch-determiniert angesehen und somit als kausal geschlossen betrachtet. Innerhalb eines solchen kausal geschlossenen Modells der Umwelt ist kein Platz für indeterministische Momente, wie sie von der Freiheit notwendig impliziert werden.1 Organismus und Umwelt werden somit als gegensätzliche 1

Kompatibilistische Modelle von Freiheit würden dafür argumentieren, dass Freiheit nicht notwendig Indeterminismus impliziert. Neben dem relationalen Modell der Freiheit, wie es in diesem Artikel vorgeschlagen wird, gibt es also noch andere Modelle, die ebenfalls für eine Vereinbarkeit von Freiheit und kausaler Geschlossenheit argumentieren.

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Pole einer Dichotomie zwischen Innen und Außen gegenübergestellt, die miteinander unvereinbar erscheinen. Wie kann nun das Konzept der Freiheit in einem solchen indeterministischen Sinne mit dem physikalischen Determinismus der Umwelt vereinbart werden? Diese Frage betrifft vor allem die Neurowissenschaften, wo sich der Gegensatz zwischen Organismus und Umwelt auf den Gegensatz zwischen Freiheit und Gehirn zuspitzt. Das Gehirn wird als ein Teil der Umwelt angesehen, welches dementsprechend physikalistisch determiniert und kausal in sich geschlossen ist. Dieses impliziert, dass die neuronalen Prozesse unseres Gehirns mit einem indeterministisch begründeten Freiheitsbegriff inkompatibel sind. Müssen wir also aufgrund der physikalistisch-deterministischen Funktionsweise unseres Gehirns den Freiheitsbegriff aufgeben? Neurowissenschaftlich orientierte Autoren, wie z. B. Libet und Wegner, versuchen das Konzept der Freiheit zu retten, indem sie ein quasi „physikalistisches Freiheitsatom“ postulieren (Libet, 2002; Wegner, 2002). Freiheit wird dann selbst ein Teil eines physikalistisch determinierten Gehirns. Im Gegensatz zu einem physikalistisch-determinierten Modell der Umwelt unterläuft das relationale Modell der Freiheit den Gegensatz zwischen einem scheinbar indeterminierten Organismus und einer determinierten Umwelt. Organismus und Freiheit werden nicht mehr im Gegensatz zu einer physikalistisch determinierten und kausal geschlossenen Umwelt betrachtet. Stattdessen werden die Umwelt selbst und die Beziehung des Organismus zu derselbigen als notwendige Bedingungen für die Möglichkeit von Freiheit betrachtet. Das relationale Modell verknüpft Freiheit somit nicht mehr ausschließlich mit dem Organismus selber, sondern verlagert sie in die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt. An die Stelle der rein intra-psychischen und intra-neuronalen Prozesse rückt die Relation zwischen Organismus und Umwelt als zentrales konstituierendes Moment der Freiheit. Diese Verschiebung der „Lokalisation“ der Freiheit vom „Inneren“ des Organismus/Gehirns in das „Zwischen“ der Beziehung zwischen Organismus und Umwelt hat wichtige Implikationen für das Konzept der Freiheit, die im folgenden nur kurz angedeutet werden können. 1) Das Konzept der Freiheit kann nicht mehr als isoliert und losgelöst von der Umwelt gedacht werden. Dieses bedeutet, dass Freiheit immer als eine „eingebettete Freiheit“ und nicht mehr als eine „isolierte Freiheit“ betrachtet werden muss. Dabei kennzeichnen die Begriffe „eingebettet“ und „isoliert“ die Beziehung des Organismus

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und seiner Freiheit zur Umwelt: Die Umwelt ist entweder konstituierend für die Freiheit, wie beim Begriff der „eingebetteten Freiheit“, oder vernachlässigbar für die Konstitution der Freiheit, wie es bei der „isolierten Freiheit“ der Fall ist. 2) Das relationale Modell der Freiheit postuliert nicht die prinzipielle Unmöglichkeit des Konzeptes einer „isolierten Freiheit“, betrachtet ein solches Konzept aber lediglich als eine logische Möglichkeit, die in der gegenwärtigen Welt des Menschen mit ihren Entsprechungen und somit natürlich nicht möglich ist. Die „isolierte Freiheit“ ist daher eine logische Möglichkeit, nicht aber eine natürliche Möglichkeit. Im Unterschied dazu postuliert das Konzept der „eingebetteten Freiheit“, dass es sich hier auch um eine natürliche Möglichkeit handelt, wie sie sich in der gegenwärtigen Welt des Menschen mit ihren natürlichen Bedingungen manifestiert. 3) Die Verschiebung der Freiheit vom Organismus in die Relation zwischen Organismus und Umwelt impliziert einen weiteren und anderen Begriff der Kausalität. Eine bloße causa efficiens, die mit einem physikalischen Determinismus einhergeht und keinerlei teleologische Dimension aufweist, erweist sich als insuffizient zur Beschreibung der Organismus-Umwelt-Relation. Stattdessen ist hier eine teleologische Dimension, die die Zielrichtung und die Sinnhaftigkeit des Handelns des Organismus in der Umwelt beschreibt, notwendig. Aristoteles unterschied die causa efficiens von einer causa finalis, die das ultimative Ziel von Handlungen beschreibt, die dann durch eine causa efficiens realisiert werden können. Das relationale Modell der Freiheit setzt eine solche teleologische Dimension und somit eine causa finalis in der Relation zwischen Organismus und Umwelt voraus. Hierdurch kann der Gegensatz zwischen dem scheinbar non-kausalen Indeterminimus des Organismus und der kausal geschlossenen Determiniertheit der Umwelt unterlaufen werden. Einerseits ist der Organismus nicht völlig losgelöst von jeglichen kausalen Beziehungen, wie es in der Gegenüberstellung zwischen Organismus und Umwelt erscheint. Andererseits ist die Umwelt nicht vollständig determiniert und geschlossen im Sinne einer causa efficiens, sondern weist auch eine teleologische Dimension in Form der causa finalis und somit eine gewisse indeterministische Komponente auf. Diese teleologische Dimension wird im gegenwärtigen neurophysiologisch orientierten Freiheitsmodell häufig vernachlässigt. So wird z. B. bei Libet die Bewegung in einem rein physikalistischen Sinne verstanden, losgelöst von jeglicher

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Zielrichtung und Sinnhaftigkeit in Hinsicht auf die Umwelt (Libet, 2002). 4) Das relationale Konzept der Freiheit unterläuft den Gegensatz zwischen physikalischen und mentalen Zuständen. Physikalische Zustände werden der Umwelt zugeschrieben und als determiniert betrachtet. Mentale Zustände werden hingegen als nonkausal und indeterminiert und somit konstitutiv für die Freiheit betrachtet. Da im relationalen Ansatz das Konzept der Freiheit vom Organismus selber in die Organismus-Umwelt-Relation verlagert wird, kann es auch nicht mehr mit ausschließlich mentalen Zuständen assoziiert werden. Stattdessen wird das Konzept der Freiheit auf eine frühere Ebene, wo mentale und physikalische Zustände noch nicht voneinander kategorial unterschieden werden können, verlagert. Dementsprechend kann eine Freiheit in einem relationalen Sinne nicht mehr ausschließlich mit mentalen Zuständen verknüpft werden. 5) Die Freiheit in einem relationalen Sinne kann nicht mehr in einem rein physikalistischen Sinne verstanden werden. Da die Umwelt nicht mehr in einem rein physikalistischen und kausal bzw. determinierten Sinne vorausgesetzt wird, ist der relationale Freiheitsbegriff eher biologisch orientiert. Ein solcher biologischer Freiheitsbegriff schließt, wie oben beschrieben, die teleologische Dimension des Organismus in Hinsicht auf die Umwelt mit ein. Ein solcher biologischer Freiheitsbegriff kann nicht mehr auf einen Freiheitsbegriff, der quasi ein „physikalistisches Freiheitsatom“ voraussetzt, reduziert werden. Dieses führt mich zu einer zweiten und jetzt nicht mehr nur vorläufigen Definition von Freiheit in einem relationalen Sinne: Definition des Konzeptes von Freiheit in einem relationalen Sinne: Freiheit heißt die Möglichkeit, verschiedene bzw. alternative Organismus-Umwelt-Relationen entwickeln und erleben zu können. Die Freiheit wird in der gegenwärtigen Diskussion meist als eine primär reflexive und kognitive Dimension vorausgesetzt. So wird z. B. das Kriterium der Verfügbarkeit von alternativen Möglichkeiten mit einem Prozess der rationalen Abwägung in Verknüpfung gebracht. Auf einer rationalen Ebene ist es möglich verschiedene Möglichkeiten und Handlungsalternativen zu entwickeln; das Kriterium der alternativen Möglichkeiten setzt somit Rationalität und eine kognitive Ebene voraus. Weiterhin setzt eine solche rationale Abwägung alternativer Möglichkeiten ein Bewusstsein, vor allem ein reflexives Bewusstsein, im

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Unterschied zum phänomenalen Bewusstsein (siehe unten), voraus. Es muss ein Bewusstsein von Alternativen auf der rationalen Ebene vorhanden sein. Freiheit wird somit als primär kognitiv und reflexiv bestimmt. Ein solch kognitiv und reflexiv charakterisiertes Konzept der Freiheit schließt andere Dimensionen wie z. B. die affektive und präreflexive Erlebens-Erfahrungsebene, das sog. phänomenale Bewusstsein, aus. Auf einer solchen affektiv und präreflexiv dominierten Ebene spielt die Unterscheidung zwischen mentalen Zuständen und physikalischen Zuständen sowie zwischen Organismus und Umwelt noch keine zentrale Rolle. Stattdessen werden Organismus und Umwelt bzw. mentale und physikalische Zustände hier noch nicht als Gegensätze erlebt, da sie noch durch ihre Relationen miteinander verknüpft sind, welches auf der kognitiven und reflexiven Ebene dann so nicht mehr wahrgenommen werden kann. An die Stelle der rationalen Abwägung tritt auf dieser affektiven und präreflexiven Ebene die senso-motorische Exploration und Manipulation der Umwelt im Rahmen des self-related processing (siehe oben). Freiheit bedeutet dann nicht mehr, dass alternative Möglichkeiten rational abgewägt werden, sondern dass verschiedene Möglichkeiten der senso-motorischen Exploration und Manipulation der Umwelt mit unterschiedlichen Formen der Relation vorhanden sind – Freiheit ist dann quasi ein „Ausprobieren“ von verschiedenen Möglichkeiten von Relationen zwischen Organismus und Umwelt. Was in der philosophischen Diskussion als alternative Möglichkeiten diskutiert wird, kann dann nicht mehr als rein kognitiv repräsentiert betrachtet werden, sondern muss als die Erfahrung bzw. als das Erleben von möglichen alternativen senso-motorischen Beziehungsmöglichkeiten zur Umwelt beschrieben werden. Aus der Sicht eines so verstandenen relationalen Freiheitskonzeptes, welches den Schwerpunkt auf die affektive und präreflexive Dimension legt, muss das kognitiv-reflexiv orientierte Freiheitsmodell der alternativen Möglichkeiten als abstrakt erscheinen, da dieses jeglichen Bezug zur affektiven Dimension und somit zur Erfahrung bzw. zum Erleben der Umwelt vermissen lässt. Die zentrale Bedeutung der affektiven und präreflexiven Dimension für die Entwicklung von senso-motorisch dominierten alternativen Möglichkeiten der Organismus-Umwelt-Relation wird am Beispiel der klinischen Depression deutlich. Depression wird hier nicht als Depression im landläufigen Sinne verstanden, sondern als das schwere Krankheitsbild der Depression, welches zur stationären Aufnahme in einer Nervenklinik führt. Diese Patienten sind initial sehr depressiv, haben traurige Gedanken und können nur noch negative Af-

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fekte erleben. Schließlich kommen sie später, im Rahmen einer tieferen Depression, in ein Stadium, wo sie überhaupt keinerlei Gefühle mehr erleben können; dieser Zustand wird als ein Gefühl der Gefühllosigkeit beschrieben. Gerade diese Patienten zeigen sich auch in psychomotorischer Hinsicht völlig starr. Sie sind nicht in der Lage, senso-motorischen Kontakt zu ihrer Umwelt aufzunehmen und fühlen sich völlig isoliert von der Umwelt. Sie können ihre Umwelt nicht mehr senso-motorisch explorieren und manipulieren, es besteht keinerlei Kopplung und Verknüpfung mehr zur Umwelt. Sie sind nicht mehr in der Lage, sich senso-motorisch begründete alternative Möglichkeiten in ihrer Beziehung zur Umwelt zu schaffen. Dementsprechend erleben sie sich als völlig isoliert und losgelöst von der Umwelt, welches mit einem fast vollständigen Verlust der affektiven, präreflexiven Erfahrungs- bzw. Erlebensebene einhergeht und dann schließlich in einen Zustand des Gefühls der Gefühllosigkeit mit Selbstmordabsichten mündet. Der depressive Patient ist in diesem Stadium der Krankheit nicht mehr frei. Er weist keine Freiheiten mehr im relationalen Sinne auf, und er kann auch keine alternativen Möglichkeiten mehr auf der kognitiv-reflexiven und somit rationalen Ebene entwickeln. Dieses Beispiel zeigt, dass die Freiheit in einem affektiven und präreflexiven Sinne möglicherweise die Basis oder das Fundament für die Freiheit auf einer kognitiven und reflexiven Ebene bildet. Dieses Verhältnis zwischen den beiden Freiheitsbegriffen, dem eher affektiv-präreflexiv dominierten und dem eher kognitiv-reflexiv charakterisierten, müsste allerdings Gegenstand einer weiteren Untersuchung sein. Ist die hier hervorgehobene affektiv-präreflexive Dimension eines relationalen Freiheitsbegriffes empirisch plausibel und kompatibel mit den vorliegenden neurowissenschaftlichen Daten? Wenn der depressive Patient in der Tat nicht mehr in der Lage ist eine senso-motorische begründete Beziehung zur Umwelt aufzubauen und alternative Relationsmöglichkeiten zu entwickeln, müsste bei ihm eine Veränderung im selbstreferentiellen Processing und den entsprechenden Hirnregionen, den kortikalen Mittellinien-Strukturen, vorliegen. Und in der Tat weisen depressive Patienten in genau diesen Hirnregionen deutliche Veränderungen auf, wie z. B. im vorderen medialen präfrontalen Kortex bei emotionaler Stimulation.

III.2 Ist die Freiheit eine durch das Subjekt konstituierte Dimension? In der philosophischen Diskussion wird, wie oben bereits beschrieben, die Freiheit dem Subjekt zugeordnet und der Umwelt gegenüber gestellt. In dem relationalen Modell wird die Freiheit von der einseitigen Assoziation mit dem Subjekt quasi „losgelöst“ bzw. „befreit“ und in die Relation zwischen Organismus und Umwelt verlagert. Dieses ist in den beiden von mir vorgeschlagenen Definitionen zur Freiheit in einem relationalen Sinne deutlich. In der ersten vorläufigen Definition (siehe Einleitung) wird die Freiheit noch als eine Selektion von Stimuli der Umwelt von Seiten des Subjektes definiert. Diese Definition muss als

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eine moderate Version eines relationalen Freiheitskonzeptes angesehen werden. Sie lässt offen, ob das Subjekt lediglich eine notwendige oder sogar eine hinreichende Bedingung von Freiheit ist. Der Prozess der Selektion von Stimuli der Umwelt kann ausschließlich durch das Subjekt selber erfolgen, wobei die Umwelt hier lediglich zur Bereitstellung von Stimuli dient. Das Subjekt wäre in diesem Fall sowohl eine notwendige als auch eine hinreichende Bedingung der Freiheit und die Umwelt selber, wenn überhaupt, eine notwendige Bedingung. Ein solches Missverständnis, d. h. eine Charakterisierung des Subjektes als notwendige und hinreichende Bedingung der Freiheit, ist durch die zweite Definition von Freiheit in einem relationalen Sinne ausgeschlossen. Hier wird Freiheit als die Möglichkeit definiert, verschiedene bzw. alternative Organismus-Umwelt-Relationen entwickeln zu können. An der Stelle des Subjektes wird hier auf die Relationen selber fokussiert und die Freiheit wird direkt mit den Relationen und nicht mehr mit dem Subjekt in Verbindung gebracht. Dieses schließt die Möglichkeit aus, dass das Subjekt sowohl als notwendige als auch als hinreichende Bedingung der Freiheit angesehen werden kann. Es ist somit klar, dass das Subjekt bzw. der Organismus dann lediglich eine notwendige Bedingung von Freiheit darstellt. Aufgrund des notwendigen Ausschlusses der Charakterisierung des Subjektes als notwendige und hinreichende Bedingung der Freiheit möchte ich diese zweite Definition der Freiheit, die auf die Relationen selber und nicht nur auf das Subjekt fokussiert, als radikale Version der Definition eines relationalen Freiheitsmodells bezeichnen. Es soll aber auch angefügt werden, dass auch noch eine andere Interpretation der beiden Definitionen möglich ist. Diese Definition ist vorwiegend epistemisch. Sofern in der ersten vorläufigen Definition das Subjekt nicht als notwendige und hinreichende Bedingung der Freiheit angesehen wird, sondern lediglich als notwendige Bedingung, kann eine solche moderate Definition auch als eine Definition der relationalen Freiheit aus der Sicht des Organismus angesehen werden. Der Unterschied zwischen der moderaten und radikalen Version wäre dann nicht mehr die Bedeutung des Subjektes für die Freiheit, sondern lediglich die Perspektive, aus welcher die Freiheit im relationalen Sinne definiert wird. Entweder wird die Perspektive der Umwelt bzw. der Relation selber eingenommen, wie in der radikalen Definition, oder es wird die Perspektive des Organismus, wie in der moderaten Definition, gewählt. Eine solche perspektivische und letztlich epistemische Begründung der Differenz zwischen moderater und radikaler Definition der Freiheit in

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einem relationalen Sinne wird hier vorgeschlagen. Nur im Rahmen einer solchen perspektivischen Interpretation der moderaten Version kann von einer Co-Determination der Freiheit sowohl durch den Organismus als auch durch die Umwelt gesprochen werden. Freiheit wird dann nicht mehr ausschließlich durch das Subjekt definiert, wie es der Fall ist, wenn das Subjekt als notwendige und hinreichende Bedingung der Freiheit angesehen wird. Stattdessen wird Freiheit sowohl durch das Subjekt als auch durch die Umwelt bzw. durch die Relation zwischen beiden determiniert – man kann daher von einer Co-Determination der Freiheit sprechen. Eine solche Co-Determination der Freiheit zeichnet sich dadurch aus, dass weder Organismus noch Umwelt als eine hinreichende Bedingung der Möglichkeit von Freiheit angesehen werden können. Organismus und Umwelt für sich selber können lediglich als notwendige Bedingung nicht aber als hinreichende Bedingung der Freiheit in einem relationalen Sinne angesehen werden. Im Unterschied dazu muss die Relation selber, die Organismus-Umwelt-Relation, als eine hinreichende Bedingung für die Möglichkeit von Freiheit in einem relationalen Sinne betrachtet werden. Eine solche Co-Determination der Freiheit impliziert auch Veränderungen im Konzept der Urheberschaft. Das Subjekt selber kann dann nicht mehr als alleiniger und ausschließlicher Urheber der Freiheit angesehen werden. Stattdessen müssen Umwelt und Organismus gemeinsam quasi als Co-Urheber betrachtet werden – die Co-Determination der Freiheit geht somit notwendig mit einer Co-Urheberschaft einher. Ein wesentliches Argument für das Kriterium der Urheberschaft der Freiheit war unser Gefühl der Urheberschaft. Wir haben das Gefühl, das wir der Urheber der Freiheit und der entsprechenden alternativen Kausalketten sind. Wenn aber die Urheberschaft durch eine Co-Urheberschaft abgelöst wird, kann auch dieses Gefühl nicht mehr in diesem Sinne interpretiert und somit als Kriterium der Freiheit angesehen werden. Was aber ist dieses Gefühl? Da der relationale Freiheitsbegriff die affektiv-präreflexive Dimension der Freiheit in den Vordergrund stellt, kann er nicht, wie z. B. kognitive Ansätze, dieses Gefühl der Urheberschaft negieren bzw. eliminieren. Wie aber muss das Gefühl der Urheberschaft, das sehr stark ist und uns dominiert, interpretiert werden? Was zeigt dieses Gefühl an, und was ist der Inhalt dieses Gefühls der Urheberschaft? Ich postuliere, dass das Gefühl der Urheberschaft das Erleben eines „Zusammenpassens“ bzw. „Fit“ oder „Matching“ in der Kopplung bzw. Relation zwischen Organismus und Umwelt ist. Der Organismus hat durch senso-motorische Exploration und Manipulation

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einen Weg und eine Nische in der Umwelt gefunden, so dass Organismus und Umwelt geradezu ideal ineinander greifen. Es ist eine neue funktionierende und ineinander greifende Relation zwischen Organismus und Umwelt in Form einer spezifischen Kopplung entstanden; dieses Zusammenpassen zwischen Organismus und Umwelt wird als ein Gefühl der Urheberschaft erlebt bzw. erfahren, wodurch der Umwelt eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird. Die Organismus-Umwelt-Beziehung wird dabei nicht nur als Gefühl erfahren sondern als bedeutungsvoll und somit semantisch relevant erlebt. Aus der Perspektive eines relationalen Freiheitskonzeptes ist das Gefühl der Urheberschaft somit nichts anderes als ein Gefühl der CoUrheberschaft, welches eine gelungene spezifische Kopplung zwischen Organismus und Umwelt signalisiert – es ist quasi ein Indikator oder Seismograph der Balance der Organismus-Umwelt-Relation. Was als Agenskausalität in der Philosophie des Geistes diskutiert wird und vor allem von Chisholm postuliert wird, kann somit nicht als eine Agenskausalität beschrieben werden, sondern eher als eine Relationskausalität; anders als die Agenskausalität basiert die Relationskausalität nicht mehr auf der causa efficiens sondern auf der causa finalis. Der hier von mir eingeführte Begriff der Relationskausalität beschreibt nicht mehr den Ursprung und Neubeginn einer kausalen Kette im Subjekt, wie es von Kant oder Verfechtern der Agenskausalität postuliert wird, sondern eine neue Form einer affektiv und semantisch relevanten Kopplung zwischen Organismus und Umwelt im Sinne einer causa finalis. Wie kann die Idee der Agenskausalität im Rahmen eines relationalen Freiheitskonzeptes erklärt werden? Eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit des Konzeptes der Agenskausalität ist die kognitivreflexive Auffassung der Freiheit, die dann natürlich auch die alleinige Urheberschaft des Subjektes mit der hieraus folgenden Agenskausalität beansprucht. Eine zweite notwendige Bedingung ist die Inferenz von einem epistemischen Charakteristikum (dem Gefühl der Urheberschaft bzw. Co-Urheberschaft) auf eine ontologische Entität (das Subjekt als Urheber der Kausalkette). Es ist genau dieser Schluss von einem epistemischen Charakteristikum auf eine ontologische Entität, der nicht zulässig und in keiner Weise begründet ist – es kann hier somit von einem epistemisch-ontologischen Fehlschluss gesprochen werden. Ist ein Alkoholabhängiger frei? Ist die Nichtfreiheit des Alkoholabhängigen ausschließlich durch sein eigenes Subjekt determiniert und somit durch seine Sucht? Wenn die Freiheit als eine rein intra-subjektive Dimension betrachtet wird, wo das Subjekt sowohl eine notwendige als auch eine hinreichende

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Bedingung der Freiheit ist, muss auch die Nichtfreiheit des Alkoholabhängigen und seine Determiniertheit durch seine Sucht als ein rein intra-subjektiver Prozess aufgefasst werden. Dieses stimmt allerdings nicht mit den klinischen Beobachtungen überein. Es ist gerade der Einfluss der Umwelt, der aus einer Prädisposition zum Alkoholismus einen manifesten Alkoholiker macht. So haben z. B. viele Patienten schon immer viel getrunken in ihrem Leben, ohne einen Suchtdruck zu verspüren und alkoholabhängig zu werden. Erst wenn bestimmte Veränderungen in ihrer Umwelt auftreten, so z. B. wenn sie arbeitslos werden und den ganzen Tag keine anderen Inhalte mehr haben, wird die Prädisposition zur Sucht schließlich zu einer manifesten Sucht, der sie nicht mehr widerstehen können. Der Übergang von der Prädisposition zur Manifestation erfolgt in dem Moment wo der entsprechende Patient seine Freiheit verliert. Wenn dies der Fall ist, kann der Verlust der Freiheit nicht mehr auf rein intra-subjektive kognitive Funktionen zurückgeführt werden, sondern auf inter-subjektiven Veränderungen in seiner Beziehung zur Umwelt. Dieses Beispiel macht deutlich, dass die Unfreiheit des Alkoholabhängigen nicht rein durch sein eigenes Subjekt determiniert wird, sondern dass seine Unfreiheit sowohl durch seine Prädisposition als auch die Umwelt co-determiniert wird. Der Urheber seiner Unfreiheit ist somit nicht nur er selber, sondern auch seine Umwelt. Man kann hier somit von einer Co-Urheberschaft seiner Unfreiheit, dem Alkohol zu widerstehen, sprechen. Der Alkohol bestimmt seine Beziehung zur Umwelt, es ist seine spezifische Art der Kopplung zur Umwelt, die allerdings keine anderen bzw. und alternative Möglichkeiten der Kopplung zur Umwelt mehr zulässt. Diese Unmöglichkeit der Entwicklung alternativer Möglichkeiten der Kopplung zur Umwelt kann mit einem Verlust der Freiheit gleichgesetzt werden. Dieses Beispiel macht somit deutlich, dass im Rahmen der Unfreiheit des Alkoholabhängigen nicht die Agenskausalität von zentraler Bedeutung ist, sondern das, was ich Relationskausalität genannt habe.

III.3 Ist die Freiheit eine durch das Gehirn determinierte Dimension? In der gegenwärtigen Diskussion und vor allem gerade in neurowissenschaftlich orientierten Freiheitsbegriffen wird das Gehirn häufig implizit nicht nur als eine notwendige, sondern auch als eine hinreichende Bedingung von Freiheit oder der Unmöglichkeit von Freiheit betrachtet. Dieses ist deutlich, wenn von einem „neuronalen Korrelat“ der Freiheit gesprochen wird, z. B. von Libet und Wegner, die durch empirische Untersuchungen die der Freiheit zugrunde liegenden neuronalen Prozesse bzw. neuronalen Korrelate auffinden wollen (Libet, 2002; Wegner, 2002). Dieses steht im Gegensatz zu dem hier vertretenen Freiheitsbegriff in einem relationalen Sinne. Der relationale Freiheitsbegriff setzt eine Exploration und Manipulation der Umwelt voraus – dieses kann nur durch die Sensomotorik, die unseren Körper

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charakterisiert, erfolgen. Dieses setzt allerdings voraus, dass das Gehirn nicht mehr isoliert vom Körper betrachtet werden kann – das Gehirn muss als ein verleiblichtes bzw. verkörpertes Gehirn betrachtet werden. Dieses impliziert weiterhin, dass nicht nur das Gehirn, sondern auch der Körper eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit von Freiheit im relationalen Sinne darstellt. Neben Gehirn und Körper wird die Freiheit, wie oben dargestellt, aber auch durch die Umwelt mit ihren entsprechenden Gegebenheiten bzw. „Affordances“ determiniert. Die Umwelt muss die Möglichkeit einer spezies-spezifischen Einbettung von Gehirn und Körper des Organismus ermöglichen, d. h., die durch das Gehirn unterstützen und durch seinen Körper möglichen sensomotorischen Fähigkeiten müssen mit den von der Umwelt möglichen Gegebenheiten koppelbar sein. Wenn z. B. die Umwelt solche Gegebenheiten und Möglichkeiten, die sog. „affordances“, nicht bietet, kann selbst bei optimalem Gehirn und Körper keine Freiheit entstehen. Dieses zeigt die zentrale Bedeutung der Umwelt für das Gehirn auf. Das Gehirn kann somit nicht mehr von der Umwelt im Sinne eines isolierten Gehirnes betrachtet werden. Stattdessen muss das Gehirn als mit der Umwelt eng verwoben und bilateral dependent betrachtet werden – man kann hier somit von einem „eingebetteten Gehirn“ sprechen (Northoff, 2001; 2004). Das relationale Freiheitskonzept erfordert eine neue Definition des Konzepts des Gehirns. Das Gehirn kann nicht mehr in einem rein physikalistischen Sinne und somit als isoliert sowohl vom Körper als auch von der Umwelt betrachtet werden. Stattdessen muss das Gehirn in einem biologischen Sinne sowohl in den Körper als auch in die Umwelt integriert und somit entsprechend bilateral dependent angesehen werden. Ein solches eingebettetes Konzept des Gehirns unterscheidet sich von dem in der Philosophie des Geistes und den Neurowissenschaften meist implizit vorausgesetzten Konzept des Gehirns als isoliert von Körper und Umwelt im Sinne eines physikalischen Determinismus. Wenn das Gehirn als ein im Körper und Umwelt eingebettetes Gehirn betrachtet werden muss, kann es dementsprechend auch nicht mehr rein physikalistisch und deterministisch bestimmt werden. Stattdessen ist die Bestimmung des Gehirns als ein eingebettetes Gehirn sehr wohl kompatibel mit einem biologistischem Ansatz und somit einem relationalen Modell der Freiheit. Die Frage „Ist die Freiheit eine durch das Gehirn determinierte Dimension?“ muss somit mit Ja und Nein beantwortet werden. Ja, die Freiheit wird durch das Gehirn determiniert, sie wird aber nicht ausschließlich durch das Gehirn deter-

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miniert, sondern durch das Gehirn ein eingebettetes Gehirn mit codeterminiert. Nein, die Freiheit wird nicht durch das Gehirn bestimmt, da Körper und Umwelt als wesentliche Co-Determinatoren von zentraler Bedeutung sind und somit das Gehirn nicht als ein isoliertes Gehirn betrachtet werden kann. Viele gerade neurowissenschaftliche Ansätze zur Freiheit setzen eine bestimmte methodische Strategie voraus, die ich hier als Methodik des „neuronalen Korrelates“ kennzeichnen möchte. In einem ersten Schritt wird die Freiheit in der Kognition lokalisiert und als kognitiv repräsentiert betrachtet. In einem zweiten Schritt wird dann für eine solche kognitive Repräsentation nach einem neuronalen Korrelat gesucht. Wenn dieses neuronale Korrelat nicht gefunden wird, wird die Möglichkeit der Freiheit in Zweifel gezogen und möglicherweise sogar als reine Illusion der Kognition betrachtet. Die einer solchen Methodik des „neuronalen Korrelats“ zugrunde liegende Annahme ist die folgende: Wenn Freiheit nicht im Gehirn selber gefunden werden kann, kann es auch keine Freiheit geben und die Freiheit muss somit als Illusion unserer Kognition entlarvt werden. Dieses methodische Vorgehen des „neuronalen Korrelates“ muss von dem hier vertretenen neurophilosophischen Ansatz deutlich unterschieden werden. Wo sind die Unterschiede zwischen dem hier vorausgesetzten neurophilosophischen Ansatz und der angewandten Strategie des „neuronalen Korrelats“? Erstens erfolgt im neurophilosophischen Ansatz keine Vermischung zwischen dem Gehirn als empirischen Objekt und der Freiheit als theoretischem Konzept. Das Gehirn ist ein isoliertes Gehirn und kann lediglich als ein empirisches Objekt, wie z. B. ein Stuhl oder ein Tisch betrachtet werden. Im Unterschied dazu ist die Freiheit ein theoretisches Konzept, welches sich daher in seiner Kategorie von der Charakterisierung des Gehirns als ein empirisches Objekt grundsätzlich unterscheidet. Beide Charakterisierungen, empirisches Objekt und theoretisches Konzept, sind unterschiedlich und sollten daher nicht miteinander vermischt bzw. gleichgesetzt oder miteinander identifiziert werden. Genau dies aber ist der Fall in den Ansätzen, welche eine „Methodik des neuronalen Korrelates“ voraussetzen. Hier wird der Versuch unternommen, Freiheit als theoretisches Konzept im Gehirn als ein empirisches Objekt zu lokalisieren. Da aber theoretisches Konzept und empirisches Objekt völlig unterschiedliche Kategorien darstellen, kann es nur als notwendig angesehen werden, dass der Neurowissenschaftler das Konzept der Freiheit in den von ihm untersuchten neuronalen Prozessen des Gehirns nicht wiederfinden kann.

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Das Scheitern der Versuche, ein neuronales Korrelat zu entdecken, liegt somit möglicherweise nicht darin, dass das Konzept der Freiheit als solches nicht existiert, sondern lediglich in dem von den Neurowissenschaftler gewählten methodischen Vorgehen. Wenn aber die Freiheit lediglich aus methodischen Gründen nicht im Gehirn gefunden werden kann, besteht auch keine Berechtigung, die Möglichkeit des Konzeptes der Freiheit selber in Zweifel zu ziehen und es als Illusion zu entlarven. Der im relationalen Freiheitskonzept vorausgesetzte neurophilosophische Ansatz versucht eine solche Vermischung von empirischen Objekten einerseits und theoretischen Konzepten andererseits zu vermeiden. Stattdessen wird versucht Beziehungen zwischen den beiden verschiedenen Kategorien herzustellen, indem die impliziten notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Freiheit als theoretisches Konzept untersucht werden, um sie dann in Hinsicht auf ihre empirische Plausibilität und Kompatibilität zu überprüfen. Zweitens kann das Gehirn im Rahmen des relationalen Freiheitsmodell nicht mehr als ein bloßes empirisches Objekt charakterisiert werden. Die Bestimmung des Gehirns als empirisches Objekt setzt ein von Körper und Umwelt isoliertes Gehirn voraus, wie es z. B. bei anderen empirischen Objekten, Tisch, Stuhl etc. der Fall ist. Sobald aber das Gehirn als ein in Umwelt und Körper eingebettetes Gehirn bestimmt wird, kann es nicht mehr als ein bloßes empirisches Objekt betrachtet werden. Man könnte z. B. dann das Gehirn als ein empirisches Subjekt bestimmen. Dieses würde aber wiederum heißen, dass, wenn Gehirn und Subjekt gleich gesetzt werden, das Subjekt schließlich auf das Gehirn zurückgeführt wird und nicht mehr auf seinen Körper und seine Beziehungen zur Umwelt. Das Gehirn als ein empirisches Subjekt zu bestimmen hieße somit letztendlich einen ähnlichen Fehler zu begehen, wie die neurowissenschaftlich orientierten Freiheitstheorien, die Freiheit quasi im Sinne eines „physikalistischen Freiheitsatoms“ im Gehirn lokalisieren wollen. Die einzige Möglichkeit, diesem Dilemma der Alternative der Bestimmung des Gehirns als empirisches Objekt oder empirisches Subjekt zu entrinnen, ist die Unterminierung des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt. Eine solche Unterminierung wird gerade durch den Begriff des „eingebetteten Gehirns“ ermöglicht, der aber hier aus Kapazitätsgründen nicht näher erläutert werden (Northoff, 2004). Wird die Unfreiheit des Alkoholabhängigen notwendig und hinreichend durch seine Veränderungen im Gehirn bzw. spezieller in den neuronalen Korrelaten seines Belohnungssystems determiniert? Der Alkoholabhängige weist in der Tat

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keine alternativen Möglichkeiten mehr auf. Dieses ist aber nicht der Fall auf der kognitiven Ebene, denn kognitiv ist er sich sehr wohl bewusst, dass er auch vom Alkohol loslassen könnte und sich für eine Entwöhnungs- bzw. Entzugsbehandlung entschließen könnte. Das Problem ist, dass er diese rein kognitiv repräsentierten Möglichkeiten auf der affektiven-präreflexiven Ebene nicht erlebt bzw. diese alternativen Möglichkeiten weisen keine entsprechende Bedeutung in seinem Erleben seiner Beziehung zur Umwelt auf. Sie bekommen erst eine bestimmte Bedeutung, wenn sich seine Beziehung zur Umwelt verändert, so z. B., wenn sich seine Partnerin von ihm aufgrund des Alkohols trennt. In einem solchen Fall bekommt die alternative Möglichkeit der Entwöhnungsbehandlung und des Verzichts auf Alkohol eine ganz andere Bedeutung für ihn, die ihm möglicherweise auch die Freiheit gibt, sich hierfür zu entscheiden. Die Wiedererlangung von Freiheit, bzw. die Transformation von Unfreiheit in Freiheit, ist somit hier eng an eine Veränderung in seiner Relation bzw. Kopplung zur Umwelt und die Bedeutung derselbigen geknüpft. Dieses Beispiel zeigt, dass die alternativen Möglichkeiten nicht ausschließlich intra-subjektiv entstehen, sondern, dass die mit ihnen verknüpfte Freiheit immer relational, durch Co-Determination mit der Umwelt, entstehen. Dieses bedeutet in Hinsicht auf das Gehirn, dass die Veränderungen in den neuronalen Korrelaten seines Belohnungssystems zwar eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für seine Unfreiheit sind. Erst durch die Veränderung seiner Beziehung zur Umwelt und der Bedeutung, mit der er diese erlebt, kann er seine Freiheit zurückgewinnen. Dieses Beispiel könnte nahe legen, dass der Alkoholiker den Einflüssen der Umwelt hilflos ausgeliefert ist. Dieses ist nicht der Fall, da der Alkoholabhängige seine Umwelt mit gestaltet und schaffen kann und er selber dazu beiträgt, dass sich seine Beziehung zur Umwelt auf den Alkohol reduziert hat. Umgekehrt hat Freiheit somit immer auch mit einem gestalterischen und kreativen Moment zu tun. Erst wenn dieses Moment verloren geht, wie z. B. beim alkoholabhängigen oder beim depressiven Patienten, schlägt die Freiheit in der Gestaltung der Organismus-Umwelt-Beziehung in eine Unfreiheit mit einseitiger Fixierung um.

IV. Schlussfolgerung: Relationales Freiheitsmodell und die Grenzen unserer Erkenntnis Was ist Freiheit? Freiheit in dem hier vertretenen relationalen Sinne ist die Möglichkeit der Entwicklung von verschiedenen Relationen zwischen Organismus und Umwelt. Dieses zeigt, dass Freiheit in einem relationalen Sinne immer umweltgebunden und somit kontextabhängig ist. Das Konzept der relationalen Freiheit beschreibt somit verschiedene alternative Möglichkeiten der Kopplung, des „Matching“ bzw. des „Fit“ zwischen Organismus und Umwelt. Dieses soll an dem folgenden Beispiel noch einmal kurz erläutert werden.

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Unterschiedliche Komponisten werden die gleiche Melodie auf unterschiedliche Art und Weise vollenden. Die verschiedenen Arten von bspw. vier Komponisten werden aber alle möglicherweise zum jeweiligen Kontext der Melodie passen. Es ist aber so, dass nicht grundsätzlich alle Möglichkeiten der Vollendung auch zur entsprechenden Melodie passen würden. Dieses liegt allerdings nicht nur an der Melodie selber, sondern auch an unserem Gehör, welches bestimmte Möglichkeiten zulässt und andere Möglichkeiten nicht – dieses betrifft somit die natürlichen Möglichkeiten unseres Gehörs. Diese natürlichen Hörmöglichkeiten haben sich wiederum in Auseinandersetzung mit der Umwelt herausgebildet, d. h. im evolutionären bzw. teleologischen Kontext. Unser Gehör und unsere Hörmöglichkeiten können somit nicht isoliert von der Umwelt betrachtet werden, sondern sind in sie eingebettet. Aufgrund dieser Einbettung unseres Gehörs und seiner entsprechenden Hörmöglichkeiten in eine gemeinsame Umwelt werden wir all die verschiedenen Wege der Komponisten als eine passende Vollendung der Melodie empfinden und erleben, wohingegen andere Möglichkeiten, rein logische Möglichkeiten der Vollendung der Melodie, von uns möglicherweise nicht als passend erlebt werden. Dieses zeigt deutlich auf, dass eine Freiheit in einem relationalem Sinne immer eine relative und kontextgebundene Freiheit und nicht eine absolute und somit kontextunabhängige Freiheit ist. Eine absolute Freiheit wäre eine von der Umwelt isolierte Freiheit. Es stellt sich am Ende dieses Beitrages die Frage, ob wir von einer absoluten Freiheit, die von der Umwelt isoliert ist, überhaupt sinnvoll sprechen können, da wir in der Diskussion über eine solche schon immer unsere eigene Umwelt notwendig voraussetzen (müssen). Wie aber ist es möglich, eine von der Umwelt isolierte absolute Freiheit zu definieren, wenn der Akt der Definition selber notwendig eine Umwelt voraussetzt? Dieses ist die Frage nach unseren Möglichkeiten bzw. der Grenze unserer Erkenntnis. Ich postuliere, dass wir aufgrund unserer relationalen Verknüpfung mit der Umwelt keine Einsicht darin haben, wie die Welt, unabhängig von unserer Umwelt, real und somit wirklich ist und wie eine mit einer solchen Welt möglicherweise verknüpfte absolute Freiheit aussehen könnte. Ich argumentiere hierfür aus zwei Gründen: Erstens weist unsere Umwelt mitsamt ihrer relationalen Freiheit eine Spezies-Abhängigkeit (D) auf, wohingegen eine Einsicht in eine von unserer Umwelt unabhängige Welt mit einer möglichen absoluten Freiheit eine Spezies-Unabhängigkeit (D) voraussetzen würde. Ohne Spezies-Unabhängigkeit (D) ist ein Einblick in die Welt

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nicht möglich, welches wiederum die (positive; nicht nur negative) Definition einer Freiheit im absoluten Sinne verunmöglicht. Zweitens haben wir auch keine Einsicht in unser eigenes Gehirn als Gehirn. Wir sind nicht in der Lage, die neuronalen Zustände unseres eigenen Gehirns als solche, d. h. als meine neuronalen Zustände zu erleben, welches ich an anderer Stelle „autoepistemische Limitation“ genannt habe (Northoff, 2004; Northoff et al., 2006). Stattdessen erleben wir mentale Zustände, die, anderes als neuronale Zustände, das Charakteristikum der „Meinigkeit“ aufweisen (Metzinger, 2007; Northoff, 2004). Wenn wir aber nicht in der Lage sind, unsere eigenen neuronalen Zustände als solche zu erleben, wie sollen wir dann die Rolle des Gehirns für die Konstitution der Freiheit bestimmen? Vorausgesetzt das Gehirn wäre eine notwendige Bedingung von Freiheit in einem absoluten Sinne. Wenn dies der Fall wäre, müsste das Gehirn indeterministisch in einem absoluten Sinne sein. Wenn wir aber aufgrund der autoepistemischen Limitation unser Gehirn als solches nicht erleben können, so wie wir Freiheit erleben können, können wir auch nicht bestimmen, ob unser Gehirn wirklich in einem absoluten Sinne indeterministisch ist. Wenn dies nicht möglich ist, können wir eine notwendige Bedingung von Freiheit, die neuronalen Prozesse unseres Gehirns, nicht bestimmen. Bleibt aber eine notwendige Bedingung von Freiheit notwendig im Verborgenen, kann auch das Konzept der Freiheit in einem absoluten Sinne nicht sinnvoll definiert werden. Zusammenfassend markieren diese beiden Limitationen unserer Erkenntnis, die Spezies-Abhängigkeit (D) und die autoepistemische Limitation, die Grenze zwischen von uns vertretbaren (d. h. relativen bzw. relationalen) und unmöglichen (d. h. absoluten) Freiheitskonzepten. Die Grenzen unseres Wissens stellen somit möglicherweise auch die Grenzen zwischen relativer und absoluter Freiheit dar.

Bibliographie Chisholm, Roderick M. (1976): Person and Object. Open Court: LaSalle. Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualitt. Stuttgart: Reclam. Libet, Benjamin (2002): Do We Have Free Will? In: Kane, Robert (Hg.): Oxford Handbook on Free Will. Oxford/New York: Oxford University Press. Metzinger, Thomas (2007): Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity. Cambridge, Massachusetts: MIT Press. Noe, Alva (2005): Against Intellectualism. In: Analysis (64), 345 – 361.

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Northoff, Georg (2001): Personale Identitt und das Gehirn. (Personal Identity and the Brain). Paderborn: Mentis. Northoff, Georg (2004): Philosophy of the Brain. The Brain Problem. Amsterdam: John Benjamin Publishing Company. Northoff, Georg/Bermpohl, Felix (2004): Cortical Midline Structures and Processing of the Self. In: Trends in Cognitive Science (8), 102 – 107. Northoff, Georg/de Greck, Moritz/Bermpohl, Felix (2006): How Does Our Brain Give Rise to the Self ? Process Specificity and Domain-Independence of Cortical Midline Structures. In: Neuroimage (15), 447 – 457. Wegner, Daniel (2002): The Illusion of Conscious Will. Cambridge, Massachusetts: MIT Press.

Die Diebe der Freiheit Libet und die Neurophysiologen vor dem Tribunal der Metaphysik OLAF L. MÜLLER 1. Einleitung Wissenschaftler widerlegen Willensfreiheit: Unter dieser Schlagzeile versammeln sich seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer mehr experimentelle Evidenzen, die offenbar gegen die Annahme sprechen, dass wir unser Tun mithilfe bewusster Entscheidungen frei zu steuern vermögen. In der Tat entspricht es gutem naturwissenschaftlichem Brauch, täglich vor dem Frühstück eine Lieblingshypothese zu beerdigen. Nur: Können wir es uns leisten, mit der Annahme von Willensfreiheit so rabiat umzuspringen wie mit jeder x-beliebigen Lieblingshypothese? Wollen wir uns das leisten? Oder bleibt uns auch hier keine Wahl? Meine Antwort auf alle drei Fragen lautet: Nein. Um mein Plädoyer für das Vertrauen in die Freiheit abzustützen, möchte ich auf den folgenden Seiten eine neue und extreme Strategie ausprobieren. Sie beginnt mit einem radikalen Zugeständnis an die Gegner der Freiheit und deren neurophysiologische Extrapolationen, so radikal, wie es meines Wissens bis heute kein Freund der Freiheit gewagt hat. Und zwar möchte ich zum Zweck des Arguments annehmen, dass uns die Empirie mit Fakten über das Gehirn überraschen wird, die alles in den Schatten stellen, was uns im letzten Vierteljahrhundert zugemutet worden ist (Abschnitte 2 bis 3). Dass Freiheit selbst unter diesen unangenehmen Annahmen noch lange nicht verloren ist, wird den zweiten Teil meiner Antwort ausmachen (Abschnitte 4 bis 5). Wie ich zeigen will, ist Willensfreiheit nicht nur ein Thema für die Neurophysiologie – sie gehört auch ins gute alte Arbeitsgebiet der Metaphysik. Etwas ausführlicher: Naturwissenschaftliche Evidenzen können allenfalls vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten – naturalistischen – Metaphysik gegen Willensfreiheit sprechen. (Laut naturalistischer Metaphysik spielen sich alle Ereignisse, die es überhaupt gibt, gab oder

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geben wird, in der einheitlichen kausalen Ordnung unseres natürlichen Universums ab, und zwar innerhalb seiner räumlichen Grenzen.) Wie wir sehen werden, lässt sich die naturalistische Metaphysik selber nicht mehr naturwissenschaftlich begründen. Gäbe es keine Alternativen zu dieser Metaphysik, so stünde es vielleicht wirklich schlecht um die Willensfreiheit (genau wie die eingangs zitierte Schlagzeile sagt). Doch darüber brauchen wir nicht zu streiten, denn: Es gibt Alternativen zur naturalistischen Metaphysik; die Wirklichkeit könnte weit über die räumlichen Grenzen unseres natürlichen Universums ausgreifen. Wer solche Alternativen nicht im Blick hat, leidet an Phantasielosigkeit, genauer gesagt: Sein Realitätssinn ist über- und sein Möglichkeitssinn unterentwickelt. Dem möchte ich hier mit einer kleinen Lockerungsübung entgegentreten. Ich werde eine metaphysische Position vorfhren (nicht: begründen), die den Ort unserer Entscheidungen ins Jenseits verlegt und so dem Zugriff unserer Naturwissenschaften entzieht. Da es gar nicht so leicht ist zu sagen, was das heißen soll, werde ich viel Sorgfalt aufbieten, um die Rede von Freiheit aus dem Jenseits verständlich zu machen, und zwar mithilfe eines Modells, das sich mit rein naturalistischen Ressourcen beschreiben lässt. So hoffe ich, den freiheitsfeindlichen Naturalismus mit seinen eigenen Mitteln aus den Angeln zu heben. Bevor es soweit ist, möchte ich meinen Gegnern in den nächsten beiden Abschnitten ein weites Stück entgegenkommen, wie versprochen. Ich werde neurophysiologische Experimente beschreiben, die entweder schon durchgeführt worden sind oder vielleicht eines Tages durchgeführt werden können und die eines gemeinsam haben: Sie sind allesamt geeignet, unseren Glauben an die Willensfreiheit zu erschüttern; es handelt sich um Experimente mit schockierendem Versuchsausgang. Mir kommen Philosophen, die das nicht zugeben wollen, erstaunlich abgebrüht vor. Und ich kann mir diese Abgebrühtheit der Philosophen nicht anders erklären als mit Blick auf die Philosophiegeschichte. Jahrhundertelang haben sich die Philosophen ganz allgemein mit der Frage herumgeschlagen, wie sich ein Determinismus, der die gesamte Natur durchzieht, mit Willensfreiheit versöhnen lassen könnte. Das ist eine höchst abstrakte Frage, für deren Antwort viel Raffinement aufgeboten wurde. Aber der Determinismus, der in dieser Debatte durchdekliniert werden musste, blieb die ganze Zeit hindurch ein abstraktes Postulat, das uns Menschen sozusagen nicht nahe genug kam; der Determinismus regierte die ganze Welt, nicht zielgenau ausgerechnet uns Menschen. Und so konnten wir uns an den Determinismus in aller Ruhe philosophisch gewöhnen; daher die Abgebrühtheit. Nur:

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Uns entgeht etwas ungeheuer Wichtiges, wenn wir die neueren Experimente der Neurophysiologie bloß durch die Brille der alten Debatte über Freiheit und Determinismus ansehen; uns entgeht dabei, dass die neuen Experimente direkt mit uns zu tun haben. Die ganze Debatte über Freiheit bekommt im Lichte dieser Experimente eine ungewohnte Farbe. Um diese Farbe schnell zum Leuchten zu bringen, werde ich es mir erlauben, die wohldokumentierte Debatte über Freiheit und Determinismus links liegen zu lassen und stattdessen als erstes den belebenden Schock vorzuführen, den wir der Neurophysiologie verdanken.

2. Libet und kein Ende? Betrachten wir zum Auftakt das berüchtigte Experiment, das die Lawine der Unfreiheit ins Rollen gebracht hat: Benjamin Libets zeitliche Untersuchungen zu elektrischen Bereitschaftspotentialen, die sich im Vorfeld willkürlicher Körperbewegungen aufbauen.1 Für diese Messungen wurden Versuchspersonen aufgefordert, ihre Hand zu einem selbst, spontan und frei gewählten Zeitpunkt zu bewegen und dabei (mithilfe einer sehr schnellen Uhr) präzise zu protokollieren, in welchem Augenblick ihnen jeweils der Entschluss zu der fraglichen Handbewegung bewusst vor Augen stand. Zusätzlich hat Libets Arbeitsgruppe am Kopf der spontan entscheidenden Versuchspersonen den Aufbau des sogenannten Bereitschaftspotentials gemessen, einer Größe, deren jäher Anstieg (wie man seit längerem wusste) einer jeden willkürlichen Körperbewegung zuverlässig vorausgeht. Als Libet die Zeitpunkte des Aufbaus jener Bereitschaftspotentiale mit den Zeitpunkten verglich, an denen seinen Versuchspersonen die jeweilige Bewegungsentscheidung bewusst wurde, kam eine Überraschung heraus: Die Bereitschaftspotentiale pflegen sich aufzubauen, lange bevor den Versuchspersonen die zugehörigen Entscheidungen für die Handbewegung bewusst werden – das Bereitschaftspotential ist durchschnittlich eine Drittelsekunde früher da (Libet et al., 1983, 623, 635, 631 (Tabelle 2 C)). Anders als Libet selbst gehen einige der radikaleren Interpreten dieser Befunde so weit zu behaupten, dass sich solche und ähnliche Befunde berhaupt nicht mit der Annahme vertrügen, wir seien in un1

Der locus classicus ist Libet et al., 1983. Für neuere Überlegungen siehe Libet, 1999, übersetzt als Libet, 2004.

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seren Entscheidungen frei; sie behaupten, unser gegenteiliger Eindruck von Freiheit beruhe am Ende auf nichts anderem als Illusion.2 Gegen diesen schnellen Schluss haben sich viele Freunde der Willensfreiheit zur Wehr gesetzt. Hier ist eines ihrer einflussreichsten Argumente, das in vielen verschiedenen Fassungen vorgetragen worden ist: Unsere Entscheidungsfreiheit üben wir nicht so sehr dann aus, wenn wir plötzlich aus heiterem Himmel die Hand bewegen, ohne dass dies irgendeine größere Bedeutung für unser Leben hätte; vielmehr üben wir sie dann aus, wenn etwas Wichtiges auf dem Spiel steht – und in diesen Fällen geht der endgültigen Handlung oft ein langer Prozess voraus, in dem wir uns unsere Optionen, Chancen und Ängste, Ziele und Hoffnungen, unser Wissen und vieles mehr vor Augen führen und miteinander ins Verhältnis setzen. Alle diese Elemente unserer Entscheidung (so läuft das freiheitsliebende Gegenargument weiter) gehen uns mitunter Tage, Wochen, Monate oder Jahre vor der endgültigen Handlung durch den Kopf, also auch Tage, Wochen, Monate oder Jahre vor dem Aufbau des Bereitschaftspotentials, das dann jene Körperbewegungen einleitet, mit denen wir die fragliche Handlung schließlich vollziehen.3 Trotz aller Vernünftigkeit hat dieses freiheitsliebende Gegenargument einen Haken. Denn Libets ursprüngliches Experiment bildet vielleicht nur die Spitze eines riesigen Eisberges voller Unfreiheit.4 Zugegeben, im ursprünglichen Experiment ging es nur um einen winzigen Ausschnitt dessen, was Entscheidungsfreiheit sein kann oder doch sein sollte. Aber die Experimentalwissenschaftler feiern ihre ersten Erfolge fast immer unter den exzessiven Einschränkungen innerhalb ihres Labors; dann lösen sie sich Schritt für Schritt von diesen Ein2

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Wolf Singer z. B. nennt unsere Erfahrung, frei zu sein, eine Illusion und plädiert dafür, unsere Rechtspraxis zu überprüfen (Singer, 2004, 50, 63 f.). Dass dies die zentrale Botschaft seiner Überlegungen ist, zeigt schon deren Untertitel: „Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen“ (Singer, 2004, 30). – Libet war und blieb in dieser Sache weitaus vorsichtiger, siehe Libet et al., 1983, 641. Beispielsweise bezweifelt Kristian Köchy (unter Berufung auf Henrik Walter), ob „ein Willensakt tatsächlich, wie bei Libet vorausgesetzt, ein zeitlich genau umschriebenes und singuläres Ereignis ist. Faßt man den Willensbildungsprozeß anders auf, nämlich als komplexes und langwieriges Geschehen, […] dann ist die im Experiment von den Probanden gemachte Aussage kein Indiz mehr für die gerade gefallene Willensentscheidung. Diese ist vielmehr bereits in dem Moment gefallen, in dem die Versuchsperson einwilligt, der Instruktion des Experimentators zu folgen“ (Köchy, 2006, 157, mein Kursivdruck). Siehe Libet et al., 1983, 640 f. Ähnlich Libet, 2004, 281 f.

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schränkungen, bis es ihnen gelingt, auch die echten und komplizierten Phänomene außerhalb des Labors in den Griff zu kriegen. Und in der Tat hat Libet mit seinem ursprünglichen Versuchsaufbau ein gigantisches Experimentierfeld aufgetan, dessen Erträge noch lange nicht ausgeschöpft zu sein brauchen.5 Vielleicht ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis unsere vornehmsten Willensakte von demselben unfreiwilligen Schicksal ereilt werden wie vor einem Vierteljahrhundert die läppischen Handbewegungen der ersten Probanden von Libet. Fassen wir diese schreckliche Möglichkeit etwas genauer ins Auge. Vielleicht können Libets Nachfolger schon bald nachweisen, dass die neuronale Aktivität6 im Gehirn des durchschnittlichen Roulette-Spielers auf ganz spezifische Weise in Schwung kommt, lange bevor dem Roulette-Spieler bewusst wird, dass er all seine Jetons auf Rot setzen will statt auf Schwarz.7 Das wäre bereits bedrohlicher für unsere Entscheidungsfreiheit als Libets ursprüngliches Experiment, denn anders als damals wären jetzt Entscheidungen betroffen, bei denen im wahrsten Wortsinn etwas auf dem Spiel steht. Zugegeben, solche Roulette-Entscheidungen machen wieder nur einen Bruchteil dessen aus, worum es beim Streit über Entscheidungsfreiheit geht. Aber genau so funktioniert die Salamitaktik der freiheitsfeindlichen Naturwissenschaftler: Stück für Stück wollen sie uns die Entscheidungsfreiheit beschneiden; und wenn sich Libets Methode wirklich auf Roulette-Entscheidungen ausdehnen ließe, dann wären die

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Spätere Experimentatoren sind in verschiedenen Richtungen über die Beschränkungen in Libets ursprünglichem Experiment hinausgegangen, siehe z. B. Haggard/Eimer, 1999, 129, 131 f. Ich spreche hier allgemein von „neuronaler Aktivität“ (statt punktgenauer von „Bereitschaftspotentialen“), weil ich mich nicht auf neurophysiologische Details festlegen möchte. In den folgenden Überlegungen wird es auf solche Details nicht ankommen, daher werde ich von nun an pars pro toto wieder mit Bereitschaftspotentialen weiterarbeiten. Wer das Experiment unter kontrollierten Bedingungen durchführen will, wird viele Faktoren konstant halten müssen, die im Casino durcheinandergehen. Der Roulette-Spieler muss immer an derselben Stelle des Spieltischs stehen, so dass das Feld für Rot schräg links vor ihm liegt und das Feld für Schwarz gleich weit und im selben Winkel schräg rechts vor ihm; seine Jetons müssen sich immer an einem fixen Platz genau in der Mitte vor ihm befinden; keine Hindernisse dürfen ihm beim Setzen in die Quere kommen; usw. Um alle diese Schwierigkeiten zu umgehen, werde ich die Entscheidungen im nächsten Beispiel an Mausklicks koppeln.

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Gegner der Freiheit einen Schritt weiter als jetzt – nicht mehr und nicht weniger.8 Wo könnten sie ihre übernächsten Erfolge feiern? Selbst nach dem eben anvisierten Triumph bei Roulette-Entscheidungen hätten meine Gegner noch keinerlei Evidenzen gegen Freiheit bei längerfristigen Entscheidungen aufgespürt. Aber ich finde es nicht schwer, mir vorzustellen, was sie als Nächstes versuchen werden. Sie werden darauf verweisen, dass sich mittelfristige Entscheidungen in viele kleine, kurzfristige Einzelentscheidungen zerlegen lassen. Betrachten wir z. B. die Entscheidung für eine bestimmte Speise im Schnellimbiss. Der Gast wird durch ein menügesteuertes Computerprogramm geführt, das ihn in folgenden Dialog verwickelt: Möchten Sie vegetarisch essen, so drücken Sie bitte (mit dem linken Zeigefinger) die linke Maustaste, andernfalls (mit dem rechten Zeigefinger) die rechte Maustaste.9 [Gast drückt die rechte Maustaste, doch lange bevor ihm die Entscheidung zugunsten dieser Fingerbewegung bewusst wird, hat sich schon das entsprechende laterale Bereitschaftspotential aufgebaut.] Möchten Sie ein Fleischbrötchen essen, so drücken Sie die linke Maustaste, möchten Sie ein Fischbrötchen essen, so drücken Sie bitte die rechte Maustaste. Wenn Sie Ihre Entscheidung auf die vorige Frage rückgängig machen wollen, so drücken Sie bitte beide Maustasten. 8

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Und dann könnten sie sich gegen einen Einwand wehren, den Lutz Wingert so formuliert hat: „Zum Handeln gehört ein Urteil: ,Es ist ( jetzt) besser, das und das zu tun, als es zu unterlassen.‘ Die Probanden von Libet & Co. hatten allerdings keine Hinsicht, unter der es ihnen besser erschien, diese oder jene Taste zu drücken. Deshalb mußten sie im Labor Handlungen simulieren“ (Wingert, 2004, 197). Da Libets Methode bislang mit Handbewegungen besonders erfolgreich gewesen ist, scheint sich mir die Maustastenbedienung besonders gut zu eignen, um so etwas wie Kommunikation zu untersuchen. Bei längeren (geschriebenen oder gesprochenen) Sprachspielzügen der Probanden dürfte Libets Methode dagegen eher an ihre Grenzen stoßen. Denn die Bereitschaftspotentiale, die wir messen können, sind weit davon entfernt, spezifisch anzuzeigen, welche Inhalte der Proband zu kommunizieren sich anschickt. (Daher vermutlich setzt Libet in seinen extrapolierenden Ausführungen nur auf Bereitschaftspotentiale, die „dem Beginn des Sprechens oder Schreibens vorausgehen“ (Libet, 2004, 281, mein Kursivdruck). Das ist fast nichts, wenn man bedenkt, dass man schon vor dem Traualtar zwei dramatisch verschiedene Sprechakte beginnen kann!)

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[Gast entscheidet sich für das Fischbrötchen, und wieder ist das für die rechte Maustaste einschlägige Bereitschaftspotential da, bevor ihm die Entscheidung zugunsten von Fisch bewusst geworden ist.] Möchten Sie Salzwasserfisch auf Ihrem Brötchen, so drücken Sie bitte die linke Maustaste, andernfalls die rechte Maustaste. Wenn Sie Ihre Entscheidung auf die vorige Frage rückgängig machen wollen, so drücken Sie bitte beide Maustasten. [Bereitschaftspotential zeigt die Entscheidung für Süßwasserfisch an, bevor dies dem Gast bewusst geworden ist.] Ich weiß, ich weiß, so ein Versuchsablauf ist noch nicht in Sichtweite. Aber ich möchte mein Vertrauen in unsere Entscheidungsfreiheit nicht gerne darauf bauen müssen, dass das so bleibt. Und wäre es nicht bedrohlich, wenn die Zeitschrift Brain eines Tages solche Versuchsprotokolle zu publizieren begönne? 10 Gewiss, die eben skizzierte unfreie Farce im vollautomatisierten Schnellimbiss muss niemanden anfechten, der im Edelrestaurant sitzt und genüsslich die Speisekarte studiert. Aber was wäre, wenn sich die kulinarische Unfreiheit empirisch weiter ausbreitete? Was wäre mit Bereitschaftspotentialen, die sich aufbauen, lange bevor dem Probanden bewusst wird, welches Tellerchen Nilgiri er gleich vom Fließband seines Sushi-Restaurants herunternehmen möchte? Und wer weiß, vielleicht geht es in diesem Stil immer weiter bergab mit unserer Freiheit. Die menügesteuerte Partnerwahl im weltweiten Netz könnte das nächste Opfer der Libet-Methode werden genauso wie das Stimmverhalten unserer Parlamentarier bei Abstimmungen ohne Fraktionszwang. 10 Es lohnt sich, genau zu durchdenken, was solche Versuchsprotokolle beweisen würden und was nicht. Nicht beweisen können sie die Behauptung, dass die Essensentscheidung des Opfers bereits feststünde oder gar prognostiziert werden könne, bevor der Gast den Schnellimbiss betritt und sich an den Computer setzt. Vielmehr steht jede einzelne Teilentscheidung immer erst unmittelbar vor ihrer Bewusstwerdung fest. Schon die jeweils übernächste Teilentscheidung verschwindet gleichsam hinter dem neuronalen Horizont, und da die Gesamtentscheidung erst mit der allerletzten Teilentscheidung komplett wird, wären wir im Lichte jener Versuchsprotokolle weit davon entfernt, im Voraus prognostizieren zu können, an welches Ende des Entscheidungsbaumes der Gast klettern wird. – Ohnehin kann man darüber streiten, ob die anvisierte Zerlegung einer Entscheidung in eine Serie von Einzelentscheidungen nicht doch die Phänomenologie unserer lebensechten Entscheidungen allzu sehr zerrüttet.

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Grnde! Grnde! Grnde! Endlich verschafft sich ein Protestschrei meiner philosophischen Kollegen Gehör, denen unsere ausgedachten Experimente gegen den Strich gehen. Sie sagen: Wir sind in dem Maße frei, in dem wir unsere Entscheidungen an echten Grnden ausrichten, und die ausgedachten Experimente sind für diesen Faktor allesamt blind.11 Gründe zählen – einverstanden. Aber sie zählen natürlich nur, wenn ihnen handfeste Taten folgen. Solange sich die Gründe und Gegengründe im luftleeren Raum nutzlose Gefechte liefern, solange sind sie für unser Problem irrelevant. Das legt folgendes Experiment nahe: Wir setzen der Versuchsperson eine echte Entscheidung vor, z. B. zwischen zwei schönen Wohnungen, deren Miete wir ein Jahr lang übernehmen werden. (Das Experiment könnte z. B. mit Auslandsstipendiaten durchgeführt werden.) Die beiden Wohnungen sind sehr verschieden: Die eine ist hell, geräumig und liegt in Fußgängerentfernung vom Institut – die andere liegt in der Nähe des Freibads und des besten Kinos, sie ist ruhig, etwas kleiner und dunkler, hat dafür aber einen schönen Balkon und den schnelleren Anschluss zum Netz. Folgt dreistündiger Auftritt der Berater – Experten und Gegenexpertinnen tragen der Versuchsperson die Gründe und Gegengründe vor und gehen immer stärker ins Detail. Plötzlich heißt es: „Wir müssen uns beeilen, die Zeit drängt! Alle wesentlichen Aspekte sind erwähnt worden. Heben Sie bitte jetzt Ihre linke Hand, wenn Sie die Wohnung mit Balkon wollen; anderenfalls heben Sie die rechte Hand“. Und wieder kommt es, fürchte ich, wie es kommen muss – bevor dem Stipendiaten bewusst wird, welche Wohnung er will, verrät ihn schon der Aufbau des Bereitschaftspotentials.12 11 So argumentiert z. B. Lutz Wingert (mit Blick auf Libets ursprüngliches Experiment); den Titel seines Aufsatzes habe ich mir für den Auftakt meines nächsten Satzes ausgeliehen (Wingert, 2004). 12 Einwand. Der Auslandsstipendiat hat die eigentliche Entscheidung schon in dem Moment gefällt, wo er sich auf unsere Spielregeln einlässt und damit einverstanden ist, seine Wahl auf zwei Wohnungen zu beschränken, deren Miete wir ihm schenken. (Vgl. das Köchy-Zitat aus Fußnote 3.) – Erwiderung. Das ausgerechnet soll die Freiheit retten? Wer wagt es, gegen meine Prognose zu wetten, dass so gut wie jeder Auslandsstipendiat die geschenkte Miete wird haben wollen? (Ich werde natürlich nicht gegen den Auslandsstipendiaten oder seine Freunde, Verwandten und Bekannten wetten, denn wenn der Einsatz hoch ist, könnte das den Stipendiaten in die falsche Richtung locken; solche Störeinflüsse müssen wir ausblenden.)

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Kurzum, wir Anhänger der Willensfreiheit sollten mit dem Schlimmsten rechnen. Wir sollten unsere Verteidigungslinien auf einer grundlegenderen Ebene setzen, statt uns darauf zu verlassen, dass Libets Methode bei komplexeren und wichtigeren Handlungen (als ausgerechnet Fingerbewegungen) steckenbleiben muss. Einen neuartigen Versuch dieser Art werde ich in den nächsten Abschnitten ausprobieren.

3. Ein extremes Szenario Ich möchte nun eine Betrachtung vorführen, in deren Licht die Entscheidungsfreiheit selbst dann unangetastet bleibt, wenn es empirisch so schlimm kommt wie im letzten Abschnitt ausgemalt. Genauer gesagt, möchte ich von außen eine Gemeinschaft fiktiver Wissenschaftler betrachten, deren Libet-Experimente hinsichtlich aller denkbaren Handlungen niederschmetternde Resultate zeitigen und die dennoch falsch lägen, wenn sie behaupteten: „Unsere Entscheidungen werden von Gehirnprozessen determiniert, bevor wir uns der fraglichen Entscheidungen bewusst werden“. Was wäre mit der Beschreibung einer solchen fiktiven Wissenschaftlergemeinschaft erreicht? Eine ganze Menge: Sollte sich so eine Situation konsistent beschreiben lassen, so wäre bewiesen, dass wissenschaftlich korrekte neurophysiologische Analysen nichts über Willensfreiheit besagen müssen, dass also der freiheitszerstörende Schluss unzulässig ist. Und wenn der Schluss unzulässig ist, brauchen wir uns von unseren Libet-Experimenten auch nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Die fiktiven Wissenschaftler, die ich nun betrachten möchte, haben Gehirne genau wie wir, aber diese Gehirne stecken nicht in normalen menschlichen Körpern. Vielmehr schwimmen sie in einem Tank mit Nährflüssigkeit herum, in dem sie künstlich am Leben gehalten werden. Die Input-Nervenbahnen dieser Gehirne (die im Fall normaler, vollständiger Menschen mit Sinnesorganen verbunden wären) kommen aus einem gigantischen Simulationscomputer, der die eingetankten Wissenschaftler zuverlässig mit sensorischer Information versorgt – und zwar mit genau denselben Sinnesreizen, denen normale Menschen typischerweise ausgesetzt sind. Mehr noch, sobald sich in den eingetankten Gehirnen Bereitschaftspotentiale aufbauen (die im Falle normaler vollständiger Menschen zu willkürlichen Körperbewegungen führen würden, etwa zur Drehung des Kopfes), werden diese Impulse von den Output-Bahnen des Gehirns in den Simulationscomputer ge-

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leitet und dort verrechnet – mit dem Ergebnis, dass die ins Gehirn strömende visuelle Information genau solche Verschiebungen des Blickfelds anzeigt, wie sie beim kompletten Menschen mit Kopfdrehungen einhergehen; und um die Simulation perfekt zu machen, errechnet und produziert der Computer sogar die propriozeptiven Signale, die – im Fall von Kopfdrehungen eines kompletten Menschen – aus dessen Nackenmuskeln ins Gehirn strömen würden.13 Wie gelingt dem Simulationscomputer diese umfassende Umwandlung von Output-Signalen in Input-Signale täuschend echter Qualität? Da die ganze Szenerie fiktiv ist, können wir aus dem Vollen schöpfen und den Computer mit dem allerschnellsten Prozessor und mit gigantischen Speicherkapazitäten ausstatten. Etwas genauer: In einem Universalspeicher des Computers ist die gesamte physikalische Repräsentation unseres Universums geladen. Jeder Speicherplatz des Universalspeichers hat eine dreistellige Adresse aus rationalen Zahlen und enthält einen der folgenden vier Binärcodes: 01; 10; 11; 00. Der erste Code steht im fraglichen Speicherplatz, wenn sich an der Raumstelle unseres Universums ein Elektron befindet; der zweite Code, wenn dort ein Neutron steckt; der dritte Code repräsentiert ein dortiges Proton; und der vierte Code (,00‘) repräsentiert eine materiefreie Raumstelle . Um Codes nicht dauernd zu verwechseln, möchte ich eine neue Redeweise einführen. Codes vom Typ ,01‘ sollen Bit-Elektronen heißen, Codes vom Typ ,10‘ Bit-Neutronen und Codes vom Typ ,11‘ Bit-Protonen. Diese Redeweise lässt sich bequem erweitern. In unserer Welt bilden zwei Neutronen und zwei Protonen in enger Nachbarschaft einen Heliumkern – im Universalspeicher bilden die vier Codes ,10‘, ,10‘, ,11‘, ,11‘ dann einen Bit-Heliumkern, wenn sie in Speicherplätzen abgelegt sind, deren Adressen benachbarte Raumpositionen repräsentieren. (Es geht wirklich nur um die dreistelligen Namen der vier Speicherplätze; die Speicherplätze selbst könnten in der physischen Architektur des Simulationscomputers weit auseinanderliegen.) In demselben Stil werden Bit-Atome, Bit-Moleküle usw. gebildet. Und während in unserer Welt Sterne und Wasserstoffbomben aus vielen Wasserstoffkernen bestehen, setzen sich Bit-Sterne und Bit-Wasserstoffbomben der Bit-Welt aus Bit-Wasserstoffkernen zusammen: aus 13 Das Gedankenspiel der Gehirne im Tank ist von Hilary Putnam bekannt gemacht worden (Putnam, 1981, 5 ff.).

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vielen Codes ,10‘ und ,11‘, die in passenden Speicherplätzen realisiert sind. Wenn wir uns zur Vereinfachung vorstellen, dass unser Universum nur aus Elektronen, Protonen, Neutronen und deren Zusammensetzungen besteht, so wird man mit Recht sagen können, dass der Universalspeicher jenes Computers gleichsam ein Standbild des Universums bietet. Um die Sache zu dynamisieren, nehmen wir an, dass in einem weiteren gigantischen Speicher die Geschwindigkeiten und Richtungen aller Elementarteilchen codiert sind und dass im Computer ein Algorithmus läuft, dem alle Naturgesetze bekannt sind und der den Universalspeicher in Echtzeit weiterrechnet. Ein Code 01 im Speicher mit hohem Geschwindigkeitscode zur Zeit t0 wird also zur Zeit t1 > t0 aus dem Speicher gelöscht und dafür im Speicher abgespeichert. (Wir nehmen also an, dass sich das zugehörige Elektron während des Zeitintervalls t1 – t0 in allen drei Raumrichtungen um d Längeneinheiten weiterbewegt.) Alle simulierten Experimente der eingetankten Wissenschaftler sollen newtonisch funktionieren; dann sind im Tank natürlich besonders dramatische Befunde à la Libet zu erwarten.14 Zudem wollen wir annehmen, dass die eingetankten Wissenschaftler alle an ein und denselben Computer angeschlossen sind und sich mithilfe von Output-Signalen verständigen können, die im Falle normaler Menschen zu Zungenbewegungen führen würden und die stattdessen vom Simulationscomputer zuverlässig in akustische Input-Signale für alle Beteiligten umzumünzen sind.15 14 Sicherheitshalber möchte ich darauf aufmerksam machen, dass der newtonischdeterministische Ausgang aller Experimente nicht auf die Feststellung hinausläuft, der durchgängige Determinismus der Welt sei beobachtet worden. Nein, so ein Determinismus geht weit über das hinaus, was sich beobachten lässt; er ist und bleibt ein theoretisches Postulat der Experimentatoren, das allerdings gut gerechtfertigt sein kann. 15 Genauer gesagt, geht beim Gespräch zwischen eingetankten Gehirnen allerlei vor sich. Das sprechende Gehirn produziert elektronische Outputsignale, die für seine (fehlende) Zungenmuskulatur bestimmt wären. Sie werden in ein Kommunikationsmodul des Rechners geleitet und dort in Bit-Elektronen umgewandelt, die auf die zugehörigen Bit-Zungenmuskelfasern einwirken und deren Code-Bestandteile in andere Speicherplätze verschieben – eine simulierte Muskelkontraktion. In der Folge werden viele andere Codes ihren Speicherort wechseln (simulierte Luftwellen), und von gewissen Bit-Trommelfellen werden Bit-Elektronen auf Bit-Nervenbahnen in Richtung von Bit-Gehirnen wandern, wobei sie vom eingangs erwähnten Kommunikationsmodul aufge-

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Soweit meine fiktive Beschreibung einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern, die genau dieselben Erlebnisse und Versuchsergebnisse registrieren werden wie wir. Ich gebe es zu, eine solche Konstellation ist weit davon entfernt, tatsächlich realisiert zu werden. Aber ich bestehe darauf, dass ihre Realisierung prinzipiell möglich ist; jedenfalls, wenn diejenigen naturalistischen Neurophysiologen recht haben, die all unser Erleben gerne auf Gehirnzustände und neuronale Feuermuster zurückführen. (Und da sich die bevorstehenden Überlegungen gegen diese Neurophysiologen wenden, darf ich mir zum Zwecke des Arguments alle Annahmen zu eigen machen, die von meinen Gegnern unterschrieben werden. Ich bekomme diese naturalistischen Annahmen sozusagen kostenlos.) Meine erste Frage lautet: Was bedeuten und bezeichnen die wissenschaftlichen Wörter der eingetankten Gehirne? Wir wollen annehmen, dass diese Gehirne seit Beginn ihrer Existenz im Tank stecken und seitdem genau denselben deutschsprachigen akustischen SpracherwerbsReizen ausgesetzt worden sind wie wir. Wovon reden diese Gehirne, wenn sie z. B. „Elektron“ oder „Hand“ oder „Bereitschaftspotential“ oder „Wasser“ sagen? 16 Die Antwort auf diese Frage hängt vom sprachphilosophischen Standpunkt ab. Man könnte behaupten, dass die eingetankten Gehirne mit jenen Wörtern genau dasselbe bezeichnen und meinen wie wir; immerhin verbinden sie mit ihnen genau dieselben Assoziationen und Vorstellungsbilder. Aber mit dieser Interpretationsidee geraten wir ins Stocken, sobald wir uns fragen, wie z. B. handartige Assoziationen und Vorstellungsbilder (die den Tankgebrauch des Worts „Hand“ begleiten) dafür sorgen sollen, dass das tanksprachliche Wort ausgerechnet echte Hände bezeichnen kann. Denn die eingetankten Gehirne haben keine echten Hände, und sie haben echte Hände nie gesehen, geschüttelt, geküsst, gerochen oder gebrochen. Alle ihre handartigen Erlebnisse stammen aus dem Simulationscomputer und gehen auf ganz bestimmte Konfigurationen von Codes zurück. Wer Sprechen, Bezeichnen und schnappt werden. Das wandelt sie in echte Elektronen um und leitet diese auf den akustischen Input-Bahnen in die eingetankten Gehirne der Zuhörer und des Sprechers. (Anderswo mehr zu derartigen Details, siehe Müller, 2003b, §4.2 bis §4.7.) 16 Viele Philosophen bestreiten, dass Gehirne etwas sagen oder tun können oder dass sie sich entscheiden können (siehe z. B. Kemmerling, 2000 und Wingert, 2004, 198 f.). Doch da sich meine Gegner dieser Redeweise befleißigen, wird sie auch mir erlaubt sein.

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Meinen gern im guten naturalistischen Geiste verstehen möchte, dem sollte der mangelnde kausale Kontakt zwischen eingetankten Gehirnen und echten Händen zu denken geben. Es wäre die reinste Zauberei, wenn eingetankte Gehirne echte Hände bezeichnen könnten, obwohl sie von diesen Händen kausal vollständig isoliert sind.17 Wie sähe eine weniger magisch anmutende Sicht der semantischen Dinge aus? Einfach: Ihr zufolge gebrauchen eingetankte Gehirne das Wort „Hand“ im Beisein enger kausaler Kontakte zu ganz bestimmten Kombinationen von Codes im Universalspeicher; genau diese Codes bezeichnet das tanksprachliche Wort „Hand“. Wir werden die fraglichen Codes als „Bit-Hände“ bezeichnen.18 Darüber kann man natürlich lange streiten; aber in unserer dialektischen Lage ist der Streit nicht nötig. Denn wie gesagt richten sich meine Überlegungen gegen naturalistische Denker. Und im Rahmen einer naturalistischen Auffassung von Sprache steht fest, dass sich Wörter ihre Bezugsobjekte nicht durch Zauberei heraussuchen, sondern durch gediegene kausale Verbindungen. (Abermals mache ich mir hier die Voraussetzungen meiner Gegner zu eigen, ganz so, wie’s immer erlaubt ist.) Was ich eben anhand des tanksprachlichen Worts „Hand“ vorgeführt habe, dürfte sich auf das gesamte Vokabular der tanksprachlichen Naturwissenschaft ausdehnen lassen. Das tanksprachliche Wort „Tiger“ bezeichnet keine echten Tiger, sondern Bit-Tiger, das tanksprachliche Wort „Schädeloberfläche“ keine echten Schädeloberflächen, sondern Bit-Schädeloberflächen, das tanksprachliche Wort „Bereitschaftspotential“ keine Ansammlungen von Elektronen im Gehirn, sondern Ansammlungen von Bit-Elektronen im Bit-Gehirn, usw. Diese naturalistische Interpretation der Tanksprache hat drei wichtige Konsequenzen. Erstens handelt die tanksprachliche Naturwissenschaft nicht von derjenigen Welt, in die Tank, Simulationscomputer, Energiequelle usw. eingebettet sind, sondern nur von einem Ausschnitt dieser Welt: vom Universalspeicher des Simulationscomputers und dessen Speicherzuständen.

17 Hilary Putnams Einsicht (Putnam, 1981, 3 ff., 12 ff.). 18 Den Vorschlag hat Hilary Putnam ins Spiel gebracht (Putnam, 1981, 14), ohne ihn vor konkurrierenden nicht-magischen Vorschlägen auszuzeichnen (Putnam, 1981, 14 f.). Warum diese konkurrierenden Vorschläge nicht plausibel sind, habe ich anderswo begründet (Müller, 2003b, §4.14 bis §4.17).

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Die zweite Konsequenz der naturalistischen Interpretation der Tanksprache sichert die Zuverlässigkeit der Wissenschaft im Tank und deren Beobachtungsfundament. Laut naturalistischer Interpretation der Tanksprache sind die Beobachtungssätze der eingetankten Wissenschaftler typischerweise wahr. Denn die eingetankten Wissenschaftler werden z. B. den Satz: „Da ist ein Tiger“ sagen (und damit die Anwesenheit von Bit-Tigern behaupten), wenn sie in den Genuss tigerartiger Simulationen aus dem Computer kommen. Und da diese Simulationen typischerweise von Bit-Tigern herrühren, passt der semantische Gegenstand des betreffenden Satzes gut zu dem, was wirklich im fraglichen Moment da ist: ein Bit-Tiger. In der magischen Interpretation der Tanksprache, die wir zurückgewiesen haben, lägen die Dinge schlechter. Dort würde der Satz von echten Tigern handeln, die natürlich nicht da zu sein brauchen, wenn die Tankwissenschaftler tigerartige Sinneseindrücke genießen. Tanksprachliche Beobachtungssätze wie „Da ist ein Tiger“ wären bestenfalls zufällig wahr – wenn nämlich im passenden Moment ein Tiger um den Tank herumstriche –, also wären sie oftmals falsch und mithin ganz unzuverlässig. Das bedeutet, dass die magische Interpretation der Tanksprache nicht wohlwollend wäre; sie verstieße gegen die Interpretationsmaxime, einem Sprecher keinesfalls unnötig viele Irrtümer zuzuschreiben.19 Die dritte Konsequenz der naturalistischen Interpretation der Tanksprache wird für unsere weiteren Überlegungen besonders wichtig sein: Die eingetankten Gehirne können nicht über das Organ reden, in dem sich ihr mentales Leben de facto abspielt – sie können nicht über echte Gehirne reden. Denn wenn sie das tanksprachliche Wort „Gehirn“ in den Mund nehmen, so meinen sie damit bestimmte Codes im Universalspeicher, die Bit-Gehirne. Und die bestehen (wie überhaupt alles, wovon die naturwissenschaftliche Tanksprache handelt) aus Stromspannungen an Transistoren (also letztlich aus Elektronenhaufen) – sie bestehen nicht aus Biomasse wie die echten Gehirne, in denen sich das mentale Leben der eingetankten Wissenschaftler abspielt. Und mehr noch, nicht nur können die eingetankten Wissenschaftler keine echten Gehirne bezeichnen oder beschreiben, sie können sie ebenso wenig 19 Plädoyers für das Prinzip des Wohlwollens (in ganz unterschiedlichen Fassungen) bieten Quine, 1960, 58 f., Davidson, 1986, 316, Williamson, 2004, 137 ff. Anderswo habe ich das Prinzip in aller Ausführlichkeit auf die Tanksprache angewandt (Müller, 2003b, §3.3 bis §3.9).

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beobachten, manipulieren, zerlegen oder durchleuchten. Alle neurophysiologischen Bemühungen der eingetankten Wissenschaftler gelten den Bit-Gehirnen, nicht den echten Gehirnen: nicht den Trägern ihrer Gedanken, Sinneswahrnehmungen, Wünsche oder Entschlüsse. Wenn das stimmt, dann sind die neurophysiologischen Bemühungen der eingetankten Wissenschaftler völlig irrelevant für die Frage, wie ihr eigenes Urteilen, Fühlen, Wahrnehmen und Entscheiden funktioniert. Denn der tanksprachliche Satz: (1) Gehirne urteilen, fühlen und entscheiden, indem ihre Neuronen ein Gewitter von Elektronensignalen abfeuern und dabei elektrische Bereitschaftspotentiale aufbauen, bedeutet bei angemessener Übersetzung in unsere Sprache: (1ü) Bit-Gehirne urteilen, fühlen und entscheiden, indem ihre BitNeuronen ein kybernetisches Gewitter von Bit-Elektronensignalen abfeuern und dabei bit-elektrische Bit-Bereitschaftspotentiale aufbauen.20 Zwar ist der Schlussteil dieses Satzes völlig richtig, denn in Bit-Gehirnen spielt sich genau das bit-neuronale Geschehen ab, das der letzte Teil des Satzes benennt. Aber der Auftakt des Satzes ist falsch – es sind (wenn überhaupt) Gehirne, nicht Bit-Gehirne, denen man Urteile, Gefühle und Entscheidungen zuschreiben muss.21 Hiergegen könnte man einwenden, dass wir den Bit-Gehirnen besser doch ein echtes mentales Leben zugestehen sollten. Denn sind sie nicht strukturell isomorph zu echten Gehirnen, also komplex genug, um alle mentalen Leistungen zu vollbringen, die echte Gehirne vollbringen? Vor dieser verführerischen Idee möchte ich warnen. Stellen Sie sich vor, Sie wären vor kurzem wissentlich Ihres Körpers beraubt, in den Tank gesteckt und an den Simulationscomputer angeschlossen worden, in dem unter anderem eine isomorphe Repräsentation Ihres ehemaligen Körpers gespeichert ist, einschließlich einer isomorphen Repräsentation Ihres noch vorhandenen Gehirns. Nehmen Sie an, plötzlich müssten Kosten gespart werden und der Experimentator stellt 20 Hier setze ich voraus, dass mentale Vokabeln im Gegensatz zu physischen Vokabeln nicht umzuinterpretieren sind, wenn sie von der Tanksprache in unsere Sprache übertragen werden. Ich habe das anderswo genauer begründet (Müller, 2003b, §25.12 bis §25.15; siehe auch Müller, 2007 (i. Ersch.), 142–144). Mehr dazu im nächsten Abschnitt. 21 Der Zusatz in Klammern war nötig im Lichte der Fußnote 16.

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Sie vor folgende unangenehme Alternative: Entweder wird Ihr Gehirn annulliert oder das Bit-Gehirn Ihres Bit-Körpers. Wofür werden Sie sich entscheiden? Wenn Sie Ihr mentales Leben fortzuführen wünschen, dürfte die Antwort klar sein – jedenfalls für Naturalisten: Um mental zu überleben, brauchen Sie Ihr echtes Gehirn aus Biomasse, keine Codes aus Abermillionen Nullen und Einsen in irgendeinem Computerspeicher. Und wenn Sie sich also für die Annullierung des Bit-Gehirns entscheiden, so werden Sie sich nicht als Mörder fühlen, nicht als Zerstörer von geistigem Leben. Und das ist ein Anzeichen dafür, dass ich im letzten Absatz recht hatte, als ich behauptet habe, dass der Auftakt des Satzes (1ü) falsch sei. Was bedeutet das für die Neurophysiologie? Und was bedeutet es für unser Thema – für Libet-Experimente und deren Interpretation? Die Antwort auf die erste Frage ist nur zum Teil niederschmetternd. Solange sich der Neurophysiologe darauf beschränkt, Gehirne in seiner technischen Sprache der elektrischen Potentiale, neuronalen Feuermuster usw. zu beschreiben (wie im Schlussteil des Satzes (1)), solange droht ihm von unserem Gedankenexperiment keine Irrtumsgefahr. Erst dann, wenn er die Grenzen seines Faches überschreitet und mentale Vokabeln in den Mund nimmt (wie im Auftakt des Satzes (1)), sind seine Schlussfolgerungen vom Irrtum bedroht. Die eingetankten Kollegen des Neurophysiologen sind diesem Irrtum auf den Leim gegangen; ob es um unsere Neurophysiologie genauso schlimm steht, können wir nicht wissen, denn wir kçnnten allesamt in einer hnlich misslichen Lage stecken wie die eingetankten Kollegen. Genau wie sie würden wir das nicht bemerken.22 Kurzum, die Neurophysiologie bewegt sich nur solange auf gesichertem Terrain, wie sie ihren gesicherten Aussagen über Feuermuster, Potentiale des Gehirns usw. keine Aussagen über dessen Urteile, Gefühle, Wahrnehmungen und Entscheidungen hinzuzugesellen versucht. 22 An dieser Stelle muss man sehr vorsichtig sein. Dass wir nicht in derselben misslichen Lage stecken können, dass wir also keine Gehirne im Tank sind, lässt sich zwar nicht empirisch feststellen, aber es lässt sich a priori beweisen. (Den bahnbrechenden Beweis hat zuerst Hilary Putnam gesehen (Putnam, 1981, 12 ff.)). Ich habe anderswo Verbesserungen des Beweises vorgeschlagen (Müller, 2003a, Abschnitte 18–21). Doch der Beweis ist nicht stark genug, um zu entscheiden, ob wir nicht in einer hnlichen, analogen Lage wie die Gehirne im Tank stecken könnten. Siehe Müller, 2003b, Abschnitt 15 (insbes. §15.6), Abschnitte 19–23 (insbes. §23.5). Weitere Texte zum Thema der Gehirne im Tank habe ich ins Netz gestellt unter Www.GehirnImTank.De.

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Was das für den letzten dieser vier Begriffe bedeutet, um den es uns hier in erster Linie zu tun ist, will ich im nächsten Abschnitt genauer beleuchten.

4. Woran Libets eingetankte Kollegen scheitern Ich behaupte: Kein noch so drastisches Libet-Experiment der Tankwissenschaft könnte etwas darüber besagen, ob die wirklichen Entscheidungen der eingetankten Versuchspersonen frei sind oder nicht – denn das hinge von den tatsächlichen Bereitschaftspotentialen der eingetankten Gehirne selbst ab (die deren empirischen und sprachlichen Zugriff entzogen sind) und nicht von den Bit-Bereitschaftspotentialen irgendwelcher Bit-Gehirne im Simulationscomputer. An diesem Punkt drängt sich ein Einwand auf. Er ist einigermaßen lang und lautet: Wenn wir in unserer Sprache von den „Entschlüssen“, „Entscheidungen“ und „Willensakten“ des eingetankten Gehirns reden, dann meinen wir damit die echten neuronalen Prozesse im fraglichen Gehirn, nicht die bit-neuronalen Prozesse im Bit-Gehirn. Und diese echten neuronalen Prozesse, für die wir uns also interessieren, kann in der Tat kein eingetankter Wissenschaftler empirisch untersuchen, denn dessen Libet-Experimente setzen bloß am Bit-Gehirn an. Nur: Die seit Beginn ihrer Existenz eingetankten Neurowissenschaftler bedienen sich ihrer eigenen Sprache, und in der Tanksprache bezeichnen dieselben Wörter („Entschlüsse“, „Entscheidungen“, „Willensakte“) etwas anderes – nicht die echten neuronalen Prozesse, die sich in echten Gehirnen abspielen, sondern (eine Ebene tiefer) gewisse bit-neuronale Prozesse in Bit-Gehirnen.23 Demzufolge bietet das tanksprachliche Resultat: (2) Jede willkürliche freie Entscheidung ist von spezifischen Bereitschaftspotentialen determiniert, die sich aufbauen, lange bevor uns die Entscheidung bewusst wird, eine korrekte Beschreibung der tatsächlichen Lage. Denn bei angemessenem Verständnis dieses tanksprachlichen Satzes müssen wir dessen 23 Wer dagegen seit kurzem im Tank steckt, spricht immer noch unsere Sprache, die er ja unter normalen Umständen gelernt hat, mithilfe von Kausalketten zu den echten Dingen außerhalb des Computers. (Auf dieser Tatsache beruht meine Antwort auf den Einwand aus Abschnitt 3.)

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Übersetzung in unsere Sprache betrachten und auswerten, und hierfür sind alle einschlägigen Wörter umzuinterpretieren: (2ü) Jede willkürliche freie Bit-Entscheidung ist von spezifischen BitBereitschaftspotentialen determiniert, die sich aufbauen, lange bevor uns die Bit-Entscheidung bit-bewusst wird. Fazit des Einwandes: Auch in der Tankwissenschaft führen wahrheitsgemäße Beobachtungen à la Libet zu korrekten Verdikten gegen das, was die Tankwissenschaftler „Entscheidungsfreiheit“ nennen. Wenn das richtig wäre, könnte ich das Tankszenario nicht wie geplant heranziehen, um den parallelen Schluss unserer Neurowissenschaftler zu kritisieren. Denn diese Kritik kann nur überzeugen, wenn sie einen Schluss auszuschalten versucht, der erwiesenermaßen manchmal in die Irre führt. Um dem Einwand zu begegnen, möchte ich genauer auf die Übersetzung der tanksprachlichen Wörter blicken, von der er lebt. Laut Einwand bezeichnet unser Wort „Entscheidung“ gewisse neuronale Prozesse in echten Gehirnen, während das tanksprachliche Wort „Entscheidung“ – eine Ebene tiefer – bit-neuronale Prozesse in BitGehirnen bezeichnet. Was ist davon zu halten? Die erste Teilbehauptung meiner Gegner betrifft unsere Sprache und ist strittig; meine naturalistischen Gegner verstehen mentale Ausdrücke als verkappte Bezeichnungen für natürliche Vorgänge im Gehirn – das lässt sich meiner Ansicht nach zwar widerlegen, aber das ist ein anderes Thema, und so steht es in dieser Sache bis auf weiteres unentschieden.24 Anders bei der zweiten Teilbehauptung meiner Gegner, die von der Sprache eingetankter Gehirne handelt, genauer, von deren Ausdruck „Entscheidung“. Ich möchte zeigen, dass dieser tanksprachliche Ausdruck bei Übersetzung in unsere Sprache nicht umzuinterpretieren ist. Wenn das stimmt, dann sollte der Einwand erledigt sein. – Ein eingetankter Sprecher sagt: (3) Ich entscheide mich jetzt zu einer Handbewegung. Was bedeutet das? Da der Sprecher keine Hände aus Fleisch und Blut steuern kann, wohl aber Bit-Hände aus Nullen und Einsen, steht eines fest. Die angemessene Übersetzung von (3) in unsere Sprache muss von 24 Genauer gesagt, kann meiner Ansicht nach folgende Behauptung widerlegt werden: „Mentale Ausdrücke bedeuten begrifflich (d. h. analytisch) dasselbe wie bestimmte Ausdrücke für natürliche Vorgänge im Gehirn“. Die Widerlegung einer solchen Behauptung wird exemplarisch vorgeführt in Müller, 2007 (i. Ersch.), 146 – 149.

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Bit-Händen handeln. Aber wie steht es mit dem Anfang des Satzes? Wenn der eingetankte Sprecher damit nur gewisse kybernetische Ereignisse im Bit-Gehirn meinen würde, dann würde er sich selber mit einer komplizierten Speicher-Konfiguration verwechseln (mit dem BitGehirn). Dieser (untergeordneten) Speicherkonfiguration würde er alle diejenigen Aktivitäten zuschreiben, die er bei Lichte besehen auf einer höheren Ebene selbst vollzieht – in seinem Gehirn! Da sich diese Angelegenheit nicht leicht durchschauen lässt, will ich sie von einer anderen Seite beleuchten. Wenn Gehirne im Tank aktiv werden und Veränderungen ihrer Außenwelt bewirken (nämlich Veränderungen in den Inhalten des Universalspeichers), dann fühlt sich das für sie genauso an wie für uns, wenn wir Veränderungen unserer Außenwelt bewirken; auch spielt sich dann in ihrem Gehirn dasselbe ab wie in unserem Gehirn; zudem bedienen sich die eingetankten Gehirne genau derselben voluntativen Vokabeln wie wir; und sie beachten dabei dieselben Regeln wie wir. Der einzige Unterschied zwischen eingetankten Willensentscheidungen und unseren Willensentscheidungen besteht im Aktionsradius dieser Entscheidungen: Wir bewirken durch unsere Entscheidungen Änderungen in der Außenwelt – die eingetankten Gehirne Änderungen im Universalspeicher des Simulationscomputers (eines kleinen Ausschnitts unserer Außenwelt). Um diese Unterschiede beim Übersetzen angemessen wiederzugeben, genügt es, den tanksprachlichen Satz: (3) Ich entscheide mich zu einer Handbewegung, so zu übersetzen: (3ü) Ich entscheide mich zu einer Bit-Handbewegung, ohne Änderung des schwierigen Ausdrucks „ich entscheide mich“. Die Übersetzung meiner Gegner: (3ü’) Ich bit-entscheide mich zu einer Bit-Handbewegung, entspringt dem übereifrigen Bedürfnis, alle Vokabeln der Tanksprache so zu behandeln wie deren naturwissenschaftliche Vokabeln. Was sind denn Bit-Entscheidungen? Hirngespinste meiner Gegner! Wenn es BitEntscheidungen gibt, dann sind das vermutlich ganz bestimmte bitneuronale Ereignisse im Bit-Gehirn, die einen gewissen Output be-

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wirken.25 Die angebliche Übersetzung (3ü’) wäre also in Wirklichkeit eine Abkürzung für: (3ü*) In meinem Bit-Gehirn spielen sich gewisse bit-neuronale Ereignisse ab, die zu einer Bit-Handbewegung führen. Aber das bietet keine gute Übersetzung des Satzes (3); es bietet allenfalls die Übersetzung eines anderen Satzes: (3*) In meinem Gehirn spielen sich gewisse neuronale Ereignisse ab, die zu einer Handbewegung führen. Und an der Übersetzung dieses Satzes waren wir nicht interessiert; uns interessierte der ursprüngliche Satz: (3) Ich entscheide mich zu einer Handbewegung. Diesen Satz haben unsere Neurowissenschaftler im Auge, wenn sie uns die Entscheidungsfreiheit abspenstig machen wollen. Wenn sie sich stattdessen mit dem Satz (3*) begnügten, so läge gar kein Angriff auf die Entscheidungsfreiheit vor. Nur wenn sie das gefährliche Wort „Entscheidung“ in den Mund nehmen, können sie ihren Angriff lancieren. Ein weiterer Einwand gegen meine Überlegung versucht auf einem anderen Weg, den tanksprachlichen Schluss von der neurowissenschaftlichen Behauptung: (4) Das Bereitschaftspotential hat sich 350 Millisekunden vor dem Zeitpunkt aufgebaut, den das Protokoll des Probanden als Zeitpunkt der bewussten Entscheidung angibt, zur folgenden weitergehenden Behauptung zu verteidigen: (5) Also: Das Bereitschaftspotential baute sich 350 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung auf. Der Einwand sagt nichts gegen meine Übersetzungsvorschläge der beiden Sätze in unsere Sprache:

25 Dass unter diesen Vorzeichen sowieso keine plausible Übersetzung entstehen kann, lehrt auch ein kleiner Blick auf die Pragmatik: Wir und die Gehirne im Tank benutzen den Ausdruck „entscheiden“ nicht immer zum Zweck der Beschreibung (sozusagen im Regierungsbereich von Freges Urteilsstrich). Vielmehr drücken wir mit seiner Hilfe oft ganz andersartige Sprechakte aus, etwa wenn es nach dem Verfahren heißt: „Das Hohe Gericht entscheidet…“ Dies zusätzliche Problem meiner Gegner will ich hier nicht weiterverfolgen.

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(4ü) Das Bit-Bereitschaftspotential hat sich 350 Millisekunden vor dem Zeitpunkt aufgebaut, den das Bit-Protokoll als Zeitpunkt der bewussten Entscheidung angibt. (5ü) Also: Das Bit-Bereitschaftspotential baute sich 350 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung auf.26 Vielmehr behauptet der Einwand im Einklang mit meinen Übersetzungen, dass die beiden Sätze wahr sind. Verhielte es sich so, dann wäre es mir nicht gelungen, einen Fall zu beschreiben, in dem der Schluss von Wahrem zu Falschem führt, und meine Kritik am gleichlautenden Schluss unserer Neurowissenschaftler verlöre ihre Überzeugungskraft. Dass der Ausgangspunkt (4ü) des tanksprachlichen Arguments wahr ist, liegt (sagt der Einwand) auf der Hand: Wir haben die Bit-Gehirne (genau wie den ganzen Rest des Bit-Universums: des Universalspeichers) als isomorphes Abbild dessen konstruiert, was eine Ebene höher der Fall ist. ( Jedem Elektron, Proton, Neutron unserer Welt entspricht ein Bit-Elektron, Bit-Proton, Bit-Neutron im Universalspeicher; den räumlichen und topologischen Beziehungen zwischen den Elementarteilchen unserer Welt entsprechen gleichstrukturierte Beziehungen zwischen den Namen der Speicherplätze, in denen ihre Codes abgespeichert sind; also hat alles, was bei uns aus Elektronen, Protonen und Neutronen zusammengesetzt ist, ein isomorphes Gegenstück im Universalspeicher und gehorcht parallelen Gesetzmäßigkeiten.) Zwar können (sagt der Einwand weiter) eingetankte Neurowissenschaftler ihre eigenen Bereitschaftspotentiale nicht direkt empirisch untersuchen – aber ihre empirischen Untersuchungen der Bit-Bereitschaftspotentiale betreffen exakt isomorphe Strukturen. Alle empirischen Ergebnisse auf dieser untergeordneten Ebene sind mithin untrügliche Anzeichen für die parallelen Verhältnisse auf der darüberliegenden Ebene; dafür sorgt die Isomorphie, die wir von Anbeginn in das Szenario der eingetankten Gehirne hineingesteckt haben. Also gibt es (triumphiert der Einwand) auf der Ebene echter Gehirne keinen zeitlichen Spielraum für Entscheidungsfreiheit, denn dort bauen sich die Bereitschaftspotentiale ebenfalls zu früh auf. Auf diesen Einwand antworte ich in drei Schritten. Im ersten Schritt gebe ich zu, dass der strittige tanksprachliche Schluss von (4ü) auf (5ü) bei 26 Warum zeitliche Vokabeln der Tanksprache bei Übersetzung in unsere Sprache nicht verändert zu werden brauchen, habe ich anderswo angedeutet (Müller, 2003b, §22.16).

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vollkommener Isomorphie zwischen übergeordneter Welt und Universalspeicher des Simulationscomputers tatsächlich von wahren Voraussetzungen zu einer wahren Konklusion führen würde. Aber selbst in dieser Situation sollten wir uns (zweiter Schritt) nicht auf die Zulässigkeit des fraglichen Schlusses verlassen; es gibt viele unzulässige „Schlüsse“ von wahren Prämissen zu wahren Konklusionen. Schlüsse sind nur zulässig, wenn die Konklusion wahr sein muss, falls die Prämissen wahr sind. Und es ist leicht einzusehen, warum dieser enge Zusammenhang zwischen Prämissen und Konklusion in unserem Fall fehlt: Die eingetankten Neurowissenschaftler untersuchen Bit-Gehirne (Prämisse) und haben mit ihrer Konklusion nur recht, wenn es bei echten Gehirnen strukturell genauso zugeht wie bei Bit-Gehirnen. Muss das so sein? Zugegeben, wir haben unsere Geschichte so konstruiert, dass das eine isomorph zum anderen passt. Aber nichts hält uns davon ab, die Geschichte leicht zu verändern: Damit bin ich beim dritten Schritt meiner Antwort auf den Einwand. Anders als bislang bieten die Codes im Universalspeicher diesmal kein vollstndig isomorphes Abbild der Elektronen, Protonen und Neutronen unserer Welt. Vielmehr soll für unsere neue Fassung der Geschichte nur außerhalb der Gehirne bzw. Bit-Gehirne Isomorphie walten. Wir stellen uns also auf unserer Ebene eine Welt vor, in der alle Libet-Experimente mit echten Gehirnen scheitern. Bei allen Gehirnen aus Biomasse (so wollen wir annehmen) baut sich das Bereitschaftspotential erst auf, nachdem den Gehirnen die jeweilige Entscheidung bewusst vor Augen steht. (Niemand wird bestreiten, dass wir uns eine solche Situation kohärent vorstellen können – die allermeisten von uns hätten sogar mit diesem beruhigenden Ergebnis der Libet-Experimente gerechnet. Die tatsächlichen Versuchsergebnisse waren überraschend, darum sind gegenteilige Versuchsergebnisse jedenfalls denkbar. Das genügt für unsere Zwecke.) Um nun die Isomorphie zwischen übergeordneter Wirklichkeit und Bit-Wirklichkeit genau bei den Gehirnen zu durchbrechen, wollen wir annehmen, dass die eingetankten Libet-Experimente (anders als ihre ausgetankten Gegenstücke) nicht scheitern: Bit-Bereitschaftspotentiale bauen sich auf, lange bevor den Versuchspersonen die Entscheidung zur Bit-Handbewegung bewusst wird. An dieser Stelle drängt sich ein kniffliger Einwand für Freunde des Denksports auf. Er besagt, dass die soeben ins Auge gefasste Reihenfolge der Ereignisse unmöglich realisiert werden kann: Wenn zuerst die freie Entscheidung des eingetankten Gehirns da sein und sich erst danach das Bereitschaftspotential an diesem Gehirn aufbauen soll, dann kann erst

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nach Aufbau dieses Bereitschaftspotentials ein entsprechendes Signal zum Universalspeicher gelangen und ins zugehörige Bit-Bereitschaftspotential umgerechnet werden. (Denn natürlich wird der Simulationsalgorithmus nicht vorhersehen können, zu welchen freien Entschlüssen sich das Gehirn durchringt, das er mit neuronalem Input versorgt.) Kurzum, die bewusste Entscheidung muss auf jeden Fall früher auftreten als das Bit-Bereitschaftspotential, und die eingetankten Bit-Experimente à la Libet können nur dasselbe Ergebnis bringen wie deren ausgetankte Gegenstücke; Freiheit auf der oberen Ebene zieht automatisch Freiheit in der simulierten Welt nach sich. Um den Einwand zu entkräften, müssen wir uns genauer vor Augen führen, wie Libets ursprüngliches Experiment angelegt war. Die Zeitmessung subjektiver Ereignisse funktioniert nicht so einfach, wie es vom Einwand vorausgesetzt wurde. Im Gegenteil, Libet schlug vor, die Zeitangaben seiner Probanden systematisch zu korrigieren, indem er sie mit den Ergebnissen eines anderen Experiments abglich. Hierfür wurden dieselben Probanden gebeten, wieder durch Blick auf die schnelle Uhr festzuhalten, wann sie den subjektiven Eindruck hatten, dass ihre Hand einen bestimmten Reiz empfangen hat, der ihnen in einem zufälligen Moment von außen versetzt wurde (Libet et al., 1983, 625). Diese Zeitangaben waren zwar genauso subjektiv wie die Zeitangaben fürs Bewusstsein der Willensentscheidung, aber anders als diese ließen sie sich objektiv überprüfen. Es kam heraus, dass der subjektiv festgehaltene Eindruck einen zu frhen Zeitpunkt liefert (der also vor dem tatsächlichen Zeitpunkt der Stimulierung liegt).27 Daher hat Libet in Betracht gezogen, die subjektiven Zeitangaben seiner Versuche systematisch durch Addition eines Zeitbetrages von etwa 50 Millisekunden so zu korrigieren, dass immer ein späterer Zeitpunkt herauskam, als seine Versuchspersonen angaben (Libet et al., 1983, 631).28

27 Libet et al., 1983, 630 f. Wie kann man sich dieses überraschende Ergebnis erklären? Hier ist eine Möglichkeit: Die Verarbeitung der visuellen Uhreindrücke kostet Zeit, genau wie alle anderen Verarbeitungsprozesse im Gehirn; in dem Moment, wo diese Eindrücke ins Bewusstsein gelangen, sind sie also schon veraltet – und veraltete Zifferblatteindrücke zeigen einen zu frühen Zeitpunkt an. 28 Für diese Korrektur spricht die – bisher von mir nicht erwähnte – empirische Tatsache, dass andere objektiv überprüfbare Zeitprotokolle à la Libet ebenfalls veraltete Zeitpunkte liefern, und zwar ungefähr gleich stark veraltete (Libet et al., 1983, 627 f., 631, 639).

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Seine eingetankten Kollegen werden dasselbe tun, und mit Recht. An dieser Stelle können wir ansetzen, um dem Einwand zu begegnen: Wir sorgen dafür, dass der Korrekturbetrag weiter erhöht werden muss. Wie das? Einfach: Wir verlangsamen die Signalübertragung vom Universalspeicher zum Gehirn im Tank. Denn wenn diese Informationen deutlich mehr Zeit von der Bit-Retina zur visuellen Schnittstelle des Gehirns im Tank verbrauchen als die entsprechenden Informationsübertragungen beim kompletten Menschen, dann werden alle Zeitprotokolle des Versuchsaufbaus verzerrt, weil sie von bereits lange überholten Zeigerpositionen der Bit-Uhr stammen. Das wird den eingetankten Wissenschaftlern nicht entgehen; sie verbessern die zeitlichen Berichte ihrer Versuchspersonen durch Addition eines höheren Korrekturbetrags. Und wenn wir zusätzlich das Bereitschaftspotential am eingetankten Gehirn besonders schnell in ein passendes Bit-Bereitschaftspotential am Bit-Gehirn ummünzen, dann werden Libets eingetankte Kollegen genau den zeitlichen Ablauf herausbekommen, den ich oben in Anspruch nehme. Kurzum, Freiheit auf der übergeordneten Ebene lässt sich sehr wohl mit scheinbarer Unfreiheit auf der unteren Ebene vereinbaren.

5. Metaphysische Freiheit Wenn die Überlegungen aus dem letzten Abschnitt richtig sind, scheitert die freiheitsfeindliche Interpretation der eingetankten LibetExperimente. Sie beruht zwar auf korrekten, unverdächtigen Beschreibungen dessen, was sich tatsächlich beobachten lässt, wie z. B. (4’) Das Bereitschaftspotential hat sich 600 Millisekunden vor der Fingerbewegung aufgebaut. (4’’) Der Proband gab zu Protokoll „Die Uhr zeigte einen Zeigerstand T, als ich mir meiner Entscheidung bewusst wurde“. (4’’’) Den Zeigerstand T hatte die Uhr 250 Millisekunden vor der Fingerbewegung des Probanden erreicht. (4’’’’) Also hat sich das Bereitschaftspotential 350 Millisekunden vor dem Zeitpunkt aufgebaut, den das Protokoll des Probanden als „Zeitpunkt seiner Entscheidung“ ausweist (denn: 350 = 600 – 250). Alle diese empirischen Aussagen aus der Außenperspektive werden auch im Tankszenario zuverlässig das beschreiben, wovon sie handeln (BitBereitschaftspotentiale, Bit-Finger, Bit-Uhren, Bit-Protokolle). Aber die hieraus abgeleitete Interpretation:

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(5’) Das Bereitschaftspotential hat sich aufgebaut, bevor dem Probanden seine Entscheidung bewusst wurde, und zwar 350 Millisekunden vorher, enthält (kursivgesetzte) Ausdrücke, deren Bezugsobjekte außerhalb der experimentellen Reichweite der eingetankten Neurowissenschaftler liegen, ohne dass ihnen dies auffiele. Und so kann es (wie wir gesehen haben) den eingetankten Neurowissenschaftlern nicht auffallen, dass Satz (5’) falsch ist, obwohl die Sätze (4’) bis (4’’’’) wahr sind. Derselbe unbemerkte Fehler könnte sich bei freiheitsfeindlichen Interpretationen unserer korrekten Versuchsbeschreibungen eingeschlichen haben. Vielleicht fällt auch uns nicht auf, dass unsere Entscheidungen an einem Ort stattfinden, der unserem experimentellen Zugriff entzogen ist. Und wenn sie außerhalb unserer experimentellen Reichweite stattfinden, dann finden sie dort vielleicht auch anders statt, als irreführende Interpretationen hiesiger neuronaler Verhältnisse nahelegen mögen. Vielleicht finden sie dort freier statt, als es in unseren Experimenten scheint – nicht etwa blind verursacht vom gedankenlosen Synapsengewitter in unseren Gehirnen. Sie fragen, wo denn, wenn überhaupt, dieser Ort der Freiheit liegen soll? Die Antwort lautet: nirgends, d. h. nicht in unserem räumlichen Bezugssystem. Etwas gewagter: außerhalb unseres räumlichen Bezugssystems. Noch gewagter: im Jenseits. Was heißt Jenseits? Um diese Frage in Andeutungen zu beantworten, möchte ich zum letzten Mal die Geschichte vom Gehirn im Tank heranziehen. Denn die Rede vom „Jenseits“ lässt sich – aus der Außenperspektive – besser überblicken als die parallele Redeweise in unserer Sprache. Wenn die eingetankten Gehirne vermuten würden, dass ihre Entscheidungen außerhalb der Grenzen dessen stattfinden, was sie den „physikalischen Raum“ nennen (und was bei korrektem Verständnis ihrer Sprache nur der Universalspeicher des Simulationscomputers ist), dann hätten sie recht; sie könnten diese korrekte Vermutung zwar artikulieren, aber sie könnten sie nicht begründen. Und genauso hätten sie recht (im Lichte ihrer Evidenzen: unbegründeterweise), wenn sie vermuteten, dass sich ihre Entscheidungen auf „immaterieller“ Grundlage ergeben. (Denn was sie „Materie“ nennen, besteht aus Nullen und Einsen im Computer, und ihr Gehirn ist aus anderem Stoff gewebt.) Nicht anders steht es vielleicht bei uns. Wenn wir in einer analogen Lage wie die Gehirne im Tank stecken, dann gibt es einen überge-

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ordneten, ja: übernatürlichen Bereich der Wirklichkeit, in dem unsere Naturwissenschaften nichts zu sagen haben, von dem sie nie etwas erfahren können und der dennoch von eminenter Bedeutung wäre. Über diesen Bereich können wir mit der Sprache der Naturwissenschaften nicht reden und noch nicht einmal Vermutungen anstellen. Die Metaphysik hat hingegen mit Ausdrücken wie „Jenseits“ einen größeren sprachlichen Aktionsradius, aber auch sie wird uns hier kein Wissen verschaffen. Ob es diesen übergeordneten Bereich der Wirklichkeit gibt, lässt sich weder naturwissenschaftlich noch a priori entscheiden. Naturalisten verneinen die Frage, aber ohne Beweis – ohne empirische Evidenz.29 (Oder schlimmer noch, sie ignorieren die Frage aus Mangel an Phantasie.) Es lohnt sich vielleicht, meinen Vorschlag im Spiegel dessen anzusehen, was Singer über seinen dualistischen Gegner sagt; der nämlich (so Singer) „postuliert für die wollende Ich-Instanz einen immateriellen Dirigenten, der das neuronale Substrat nur nutzt, um sich über die Welt zu informieren und seine Entscheidung in Handlungen zu verwandeln. Diese Position ist mit dem Verursachungsproblem konfrontiert und mit bekannten Naturgesetzen unvereinbar. Sie hat den Status unwiderlegbarer Überzeugungen” (Singer, 2004, 57). Dazu in umgekehrter Reihenfolge dreierlei. Erstens hat die naturalistische Behauptung, dass sich alle realen Ereignisse innerhalb der kausalen und räumlichen Grenzen unseres Weltalls abspielen und dass es darüber hinaus nichts gibt, gleichfalls den Status unwiderlegbarer Überzeugungen; hier steht es eins zu eins. Zweitens widersprechen die eingetankten Hypothesen über „Immaterielles“ und „Übernatürliches“ nicht den im Tank bekannten Naturgesetzen – warum muss es bei uns anders sein, wenn wir Wort für Wort dieselben Hypothesen wiederholen? Immerhin haben wir genau dieselben empirischen Evidenzen wie die Gehirne im Tank! Drittens zeigt mein Gedankenspiel, wie das Verursachungsproblem gelöst werden könnte: Was die Gehirne im Tank „immaterielle Verhältnisse“ nennen, kann fraglos mit dem, was sie „materielle Verhältnisse“ nennen, kausal wechselwirken, wenn es eine „höhere Kausalität“ gibt, die beide Bereiche umfasst. Die hçhere Kausalität aus Sicht der Gehirne spielt sich aus 29 Soll man hierauf etwa erwidern, dass jene Möglichkeit zwar denkbar sei, aber sehr, sehr unwahrscheinlich? Das hilft nicht, denn die Wahrscheinlichkeiten, auf die sich diese Erwiderung stützen müsste, entstammen wieder nur dem Bereich unserer empirisch gegebenen Natur; außerhalb der Natur greifen sie nicht.

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unserer Sicht innerhalb des bekannten kausalen Terrains ab, in dem wir das Gedankenspiel aufgebaut haben. Aber es könnte, analog, für uns noch eine höhere Kausalität geben als die, um die sich unsere Naturwissenschaftler kümmern. Um diese Möglichkeit zu illustrieren, die von Naturalisten immer rundheraus geleugnet wird, habe ich das Gedankenspiel vom Gehirn im Tank hier so ausführlich beschrieben. Aus der Außenperspektive folgt das Gedankenspiel allen kausalen Vorgaben der Naturalisten. Doch sobald sie sich auf die Innenperspektive einlassen und sich in das Gehirn im Tank hineinversetzen, sprengt das Gedankenspiel den engen naturalistischen Rahmen. Hiergegen hat Oliver Wachsmuth (in einer elegraphischen Mitteilung) folgenden Einwand vorgebracht. Trotz allem bleibt es dabei, dass die freien Entscheidungen der Gehirne im Tank das durchbrechen, was sie „durchgängigen kausalen Determinismus innerhalb unseres Weltalls“ nennen, und zwar genau an der Stelle, wo die echten Entscheidungen dieser Gehirne in Bit-Elektronen umgewandelt und von außen in die Bit-Welt eingespeist werden. Zeigt dies nicht, dass Singer recht hat, wenn er behauptet, dass sich immaterielle Freiheit nicht mit „bekannten Naturgesetzen“ vereinbaren lasse? Ich antworte: Sehen wir Singer zuliebe von allen Komplikationen ab, die sich aus dem Indeterminismus der Quantenphysik ergeben, betrachten wir also weiter von außen die newtonische Welt der Gehirne im Tank. Ich behaupte, der Simulationsalgorithmus lässt sich so einrichten, dass die eingetankten Naturforscher ihre jeweiligen Bit-Gehirne berechtigterweise im Griff durchgängig determinierter Kausalketten sehen. Um das zu begründen, möchte ich zuerst daran erinnern, wie schwer es ist, Kausalketten durchs chaotische Milliarden-Gewirr von Neuronen und Synapsen tatschlich zu verfolgen; man kann der Kausalität nicht bei jedem Zahnrad über die Schulter schauen. Mithin wird es im Tank keinen empirischen Beweis „durchgängiger Gehirnkausalität“ geben, und es fragt sich nur, ob deren Postulat berechtigt ist. Dass dies Postulat den eingetankten Neurobeobachtungen zumindest nie widersprechen muss, lässt sich leicht einsehen. Denn die kausale Analyse der bit-neuronalen Vorgeschichte von Entscheidungen wird immer nur eine kleine Zeitspanne in die Vergangenheit eindringen, bevor sie sich im Dunkel des bit-neuronalen Chaos verliert. Beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft reicht diese Analyse bis zum Aufbau der Bit-Bereitschaftspotentiale zurück, was sehr grob ist angesichts der vielen feinen Schwingungsmuster, die diesem Aufbau vorangehen und ihn vermutlich verursachen. Aber selbst bei Verfeinerung und Aus-

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dehnung dieser Rückwärtsanalysen wird sich die Spur der Kausalität ganz sicher in irgendwelchen Details verlieren. Das letzte dann bekannte Glied der Kausalkette heiße Y. Der Simulationsalgorithmus darf natürlich weder Y noch die Wirkungen von Y antasten; er muss die echten Entscheidungen echter Gehirne (als Bit-Ereignis namens X) kurz vor Y ins Bit-Geschehen einspeisen – und zwar ohne beobachtbare Verletzung eingetankter Gesetzmäßigkeiten wie „Energie-, Impulsoder Materie-Erhaltungssatz“. Diese Gesetzmäßigkeiten lassen genug Spielraum frei; problemlos lassen sich neuronale Netze oder Turingmaschinen konstruieren, die den erwünschten Output X als notwendige kausale Wirkung früherer Zustände erscheinen lassen; und es kann sehr wohl vernünftig sein, sich auf diese Möglichkeit zu berufen, um am Postulat der durchgehenden kausalen Determination aller Gehirnprozesse festzuhalten.30 Dass diese Antwort in unserer dialektischen Lage kein Trick ist, sollte auf der Hand liegen. Wie eingangs dargelegt, geht es mir hier nicht um den alten Gegensatz zwischen Freiheit und abstraktem Determinismus. Mir geht es um die Frage, ob sich Freiheit mit den konkreten Ergebnissen vereinbaren lässt, die uns von Neurophysiologen vorgelegt worden sind oder noch vorgelegt werden könnten. Und natürlich werden die Neurophysiologen niemals unser gesamtes Gehirn en dtail kausal durchleuchten können, soviel Zeit haben sie nicht. Nichts von dem, was sie jemals konkret empirisch herausfinden werden, wird der Idee von Freiheit aus dem Jenseits das Wasser abgraben. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich sage nicht, dass Freiheit aus dem Jenseits genau so oder perfekt analog funktionieren müsse wie in dem Gedankenspiel, das ich vorgeführt habe. Nein, das Gedankenspiel soll nur ein überschaubares Modell für Freiheit außerhalb der natürlichen Ordnung bieten. Laut Modell wären unsere Entscheidungen an eine Art Übergehirn aus völlig anderem Stoff gebunden. Wir wären 30 Siehe oben Fußnote 14. – Neuauflage des Einwandes, diesmal mit Bezug auf den Materie-Erhaltungssatz: Wird dieser Satz nicht genau in dem Augenblick verletzt, wo sich die eingetankte Entscheidung in Bit-Elektronen verwandelt, die von außen in die Bit-Welt eingespeist werden? – Antwort: Das hängt abermals vom Simulationsalgorithmus ab; die Sache lässt sich auch ohne Verletzung des Materie-Erhaltungssatzes programmieren. Denn die fraglichen BitElektronen können schon an passender Stelle – und (dem Energie-Erhaltungssatz zuliebe) mit geeigneter kinetischer Bit-Energie – abgespeichert sein, bevor sie vom Algorithmus als bit-neuronale Signale instrumentalisiert werden, die zu den Bit-Muskeln reisen.

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dann zwar Bürger zweier Welten (so wie die eingetankten Gehirne erstens Bürger im Tank wären und zweitens Bürger im Simulationscomputer), aber diese beiden Welten wären nicht so radikal verschieden wie in Kants berühmter oder berüchtigter Sicht der Dinge. Das macht nichts; mit meinem Modell habe ich eine Möglichkeit vorgeführt, die vielleicht ein bisschen besser zu verstehen ist als die Möglichkeit, der sich Kant verschrieben hat. Wichtig ist nur eines: Sobald die Tür zu einer einzigen solchen Möglichkeit aufgestoßen ist, entspannt sich die Lage; wo es eine Möglichkeit gibt, da gibt es auch zwei, drei, viele Möglichkeiten. Libets Experimente brauchen uns dann nicht mehr zu beunruhigen; selbst wenn sie sich ad infinitum und ad libetum vermehren sollten.31

Bibliographie Davidson, Donald (1986): A Coherence Theory of Truth and Knowledge. In: LePore, Ernest (Hg.): Truth and Interpretation. Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson. Oxford/Cambridge: Blackwell, 307 – 319. Haggard, Patrick/Eimer, Martin (1999): On the Relation between Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Movements. In: Experimental Brain Research (126), 128 – 133. Kemmerling, Andreas (2000): Ich, mein Gehirn und mein Geist: Echte Unterschiede oder falsche Begriffe? In: Elsner, Norbert/Lüer, Gerd (Hg.): Das Gehirn und sein Geist. Göttingen: Wallstein, 221 – 243. 31 Dieser Aufsatz bietet eine Ausarbeitung von Überlegungen, die ich unter der Überschrift Freiheit aus dem Jenseits am 9. 11. 2002 auf der Tagung „Determinismus und Freiheit in der Physik und der Philosophie“ in Iffeldorf gehalten habe und am 20. 1. 2006 im Humanprojekt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. (Den Text mit erweitertem Fußnoten-Apparat findet man im Internet unter Www.GehirnImTank.De). Ich danke allen Teilnehmern der beiden Diskussionen für saftige Kritik und schwierige Fragen, die überhaupt nur in meine Seele dringen konnten dank der Einladung zwischen die Stühle der Disziplinen von Harald Lesch, Wilhelm Vossenkuhl, Bettina Walde (Iffeldorf) bzw. Volker Gerhardt und Julian Nida-Rümelin (BBAW): Mein herzlicher Dank an alle fünf; besonderer Dank an Volker Gerhardt für seine Anregungen dazu, wo dem ursprünglichen Vortrag deutlichere Bezüge zur Neurowissenschaft gut täten. – Annika Keysers danke ich dafür, dass sie mich gegen meinen freien Willen gezwungen hat, Libet & Co. zu lesen; Dank an Jürgen Müller für Mühen mit Exegese, Bibliographie und Rechtschreibreform sowie an Sabine Hassel fürs zuverlässige Abschreiben der Bänder. Schließlich danke ich den Mitgliedern meines wissenschaftsphilosophischen Kolloquiums, die mir in allerletzter Sekunde geholfen haben einzusehen, welche Debatte ich besser nicht führen sollte.

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Köchy, Kristian (2006): Was kann die Neurobiologie nicht wissen? Bemerkungen zum Rahmen eines Forschungsprogramms. In: Köchy, Kristian/ Stederoth, Dirk (Hg.): Willensfreiheit als interdisziplinres Problem. Freiburg/ München: Alber, 145 – 164. Libet, Benjamin (1999): Do We Have a Free Will? In: Journal of Consciousness Studies (6), 47 – 57. Libet, Benjamin (2004): Haben wir einen freien Willen? In: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 268 – 289. Libet, Benjamin/Gleason, Curtis A./Wright, Elwood W./Pearl, Dennis K. (1983): Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of Cerebral Activity (Readiness-Potential): The Unconscious Initiation of a Freely Voluntary Act. In: Brain (106), 623 – 642. Müller, Olaf (2003a): Hilary Putnam und der Abschied vom Skeptizismus oder Warum die Welt keine Computersimulation ist. Wirklichkeit ohne Illusionen. Paderborn: Mentis. Müller, Olaf (2003b): Metaphysik und semantische Stabilitt oder Was es heisst, nach hçheren Wirklichkeiten zu fragen. Wirklichkeit ohne Illusionen. Paderborn: Mentis. Müller, Olaf (2007, i. Ersch.): Jenseits. Eine metaphysische Provokation für Naturalisten. In: Sukopp, Thomas/Vollmer, Gerhard (Hg.): Naturalismus: Positionen, Perspektiven, Probleme. Tübingen: Mohr Siebeck, 137 – 154. Putnam, Hilary (1981): Reason, Truth and History. Cambridge: Cambridge University Press. Quine, Willard van Orman (1960): Word and Object. Cambridge, Massachusetts: MIT Press. Singer, Wolf (2004): Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. In: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 30 – 65. Williamson, Timothy (2004): Philosophical ,Intuitions‘ and Scepticism about Judgement. In: Dialectica (58), 109 – 153. Wingert, Lutz (2004): Gründe zählen. Über einige Schwierigkeiten des Bionaturalismus. In: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 194 – 204.

III. Natur- und Kulturgeschichte der Freiheit

Am (naturgeschichtlichen) Anfang der Freiheit war das Spiel EVA-MARIA ENGELEN 1. Einführenden Bemerkungen zu ,Spiel‘, ,Freiheit‘ und ,Notwendigkeit‘ Die Exploration des Begriffes ,Spiel‘ ist die Antwort Schillers auf die Kantische Philosophie. Und Kants transzendentale Philosophie ist eine Antwort auf das Problem empirischer Notwendigkeit, auf das ihn seine Beschäftigung mit der Philosophie Humes geführt hat. Damit ist Kants transzendentale Philosophie aber auch eine Antwort auf das Problem der Freiheit. Sich diesen Zusammenhang vor Augen zu führen, mag auch helfen zu verstehen, warum die Diskussion um den freien Willen gerade in Deutschland zu einer öffentlichen geworden ist, die über disziplinäre Grenzen hinaus reicht. Nach Kant gibt es eine scharfe Unterscheidung zwischen dem moralischen Reich der Freiheit und dem empirischen Reich der Notwendigkeit. Am Ende seiner „Anthropologie“ (Kant, 1983a, B 319/A 321) nennt er drei Bereiche, in denen der Mensch sich als Mensch frei gestaltet: Kultur, Zivilisation (Politik) und Moral. Alle anderen Bereiche gehören zum Reich der Notwendigkeit und damit zu dem der vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten der Natur oder der Logik. Mit dieser Systematik steht Kant am Endpunkt einer Entwicklung, die mit Descartes einsetzt. Das Reich der Notwendigkeit wird damit vornehmlich den empirisch arbeitenden Naturwissenschaften (bzw. der Logik) zugeordnet und das der moralischen Freiheit der Transzendentalphilosophie. Vor dieser Einteilung war das Konzept der Notwendigkeit in erster Linie ein Begriff der Logik und nicht der so genannten Naturphilosophie, zu der vornehmlich die Physik, die Astronomie und die später so genannte Biologie gehörten. Indem der Begriff der Notwendigkeit zu einem der Naturphilosophie wird, rückt die Freiheitsproblematik in das Zentrum philosophi-

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scher Überlegungen. Denn wenn natürliche Vorgänge solche sind, die sich nach notwendig geltenden Regeln oder Gesetzen vollziehen, stellt sich die Frage, wie sich der menschliche Körper frei bestimmt bewegen kann. Da es sich auch beim menschlichen Körper um einen natürlichen Körper handelt, unterliegt auch dieser den Gesetzen der Natur. Wie also kann der Mensch frei bestimmt denken, entscheiden und handeln, wenn das menschliche Gehirn Teil dieses natürlichen und damit determinierten Körpers ist? Seit Kant ist die Frage der Freiheit wahrscheinlich das Hauptthema der deutschen Philosophie, und so mag es kein Zufall sein, dass man insbesondere in Deutschland auch in öffentlichen Foren die Frage des freien Willens diskutiert. Das hinter dieser Fragestellung stehende Weltbild hat Kant in seiner Abhandlung zur „Logik“ wie folgt beschrieben: Alles in der Natur, sowohl in der leblosen als auch in der belebten Welt, geschieht nach Regeln, ob wir gleich diese Regeln nicht immer kennen. – Das Wasser fällt nach Gesetzen der Schwere, und bei den Tieren geschieht die Bewegung des Gehens auch nach Regeln. Der Fisch im Wasser, der Vogel in der Luft bewegt sich nach Regeln. Die ganze Natur überhaupt ist eigentlich nichts anders als ein Zusammenhang von Erscheinungen nach Regeln; und es gibt überall keine Regellosigkeit. Wenn wir eine solche zu finden meinen, so können wir in diesem Falle nur sagen: daß uns die Regeln nicht bekannt sind. Auch die Ausübung unserer Kräfte geschieht nach gewissen Regeln, die wir befolgen, zuerst derselben unbewusst, bis wir zu ihrer Erkenntnis allmählich durch Versuche und einen längern Gebrauch unserer Kräfte gelangen. […] Man spricht […] auch ohne Grammatik zu kennen; und der, welcher, ohne sie zu kennen, spricht, hat wirklich eine Grammatik und spricht nach Regeln, deren er sich aber nicht bewusst ist. (Kant, 1983b, A 1,2)

Mit diesen Sätzen beginnt Kants Logikhandbuch für Vorlesungen. Warum er mit den Regeln der belebten Welt beginnt, um dann über die Regeln des Verstandes fortzufahren, mag durch den Hinweis verständlich geworden sein, dass Kant sich in einer Umbruchphase der Zuordnung des Notwendigkeitsbegriffes zu den einzelnen Disziplinen befindet, in welcher der zuvor hauptsächlich in der Logik verwendete Begriff auch zu einem der Naturwissenschaften wird. Fragen der Ethik oder der Moral und insbesondere die Begründung der Moral gehören allerdings nicht zu den Erscheinungen in der Welt.

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Sie funktionieren daher auch nicht nach den Regeln oder Gesetzen der Natur, wie Kant sie in dem angeführten Zitat beschreibt.1 Im Folgenden werde ich mich nun allerdings nicht mit der Frage beschäftigen, wie wir die Regelhaftigkeit der Natur als dem Bereich der empirisch zugänglichen Erscheinungen zugehörend mit dem der Freiheit des moralisch handelnden und verantwortlichen Menschen in Übereinstimmung bringen können. Vielmehr werde ich fragen, ob es stimmt, was Kant und mit ihm das deterministische Weltbild nahe legen, nämlich dass „bei den Tieren die Bewegung des Gehens auch nach Regeln [geschieht]. Der Fisch im Wasser, der Vogel in der Luft […] sich nach Regeln“ bewegen. Die Frage lautet mit anderen Worten: Bewegen sich Tiere tatsächlich ausschließlich nach den ihre Bewegungen bestimmenden Regeln oder haben sie, wenn auch in Grenzen, selbst Kontrolle über ihre Bewegungen? Für Kant endet das empirische Reich der Notwendigkeit(en) erst bei der Freiheit des Menschen. Daher verfolgt er die hier aufgeworfene Fragestellung nicht. Für ihn ist nur die Freiheit des Menschen ein philosophisches Thema, nicht aber, ob Tiere immer den Gesetzen oder Regeln der Natur unterworfen sind. Für sie gibt es in einem rein deterministischen und mechanistischen Weltbild keine Freiheit, d. h. keine Kontrolle über ihre Bewegungsabläufe. Diese Frage zu stellen ist insofern ein recht bescheidenes Anliegen, als das Thema der Entscheidungsfreiheit des Menschen und dessen Verantwortlichkeit für sein eigenes Tun damit noch gar nicht berührt sind. Aber auch wenn diese Fragestellung vor dem Hintergrund so großer Debatten bescheiden anmutet, verstößt sie doch gegen ansonsten geteilte Grundannahmen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass wir nicht erst auf der Ebene der menschlichen Entscheidungen nach freiem 1

Naturnotwendigkeit bei Kant ist etwa Kausalität (Verknüpfung eines Zustands mit einem vorangegangenen nach der Regel) als transzendentale Kategorie. Zudem können Vorgänge in der Welt nur in der Zeit vonstatten gehen, Raum und Zeit sind transzendentale Formen der Anschauung. Da Raum und Zeit sowie Kausalität als transzendentale Kategorien Bedingungen der Erfahrung sind, sind sie an jeder empirischen Wahrnehmung beteiligt. Ohne diese Bedingungen der Erfahrung kann die Welt nicht wahrgenommen werden. Sie sind zwar selbst nicht empirisch erfahrbar, zeigen sich jedoch nur beim empirischen Betrachten der Welt. Das ist bei der Freiheit anders („die reine Vernunft ist der Zeitform nicht unterworfen“), denn diese ist kein Zustand, der den Erscheinungen mittels transzendentaler Kategorien, die sich nur beim Betrachten der Welt zeigen, zu Grunde liegt.

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Handeln oder dem Beginn von Freiheit fragen können, wenn ,Freiheit‘ ebenso wie ,Bewusstsein‘ oder ,Denken‘ eine naturgeschichtlich graduelle Entwicklung hat, die nicht erst beim Menschen beginnt. Eine minimale, notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür, dass wir frei handeln können, ist die Fähigkeit, unseren Körper kontrollieren zu können. Kontrolle bedeutet, dass ein Körper nicht lediglich nach determinierenden Gesetzen und Reiz-ReaktionsMechanismen funktioniert, sondern in seinen Bewegungsabläufen von dem Organismus selbst bestimmt wird. Was das im Einzelnen bei Tieren bedeutet, wird im Folgenden am Beispiel des Spiels erläutert werden. Damit schließt dieser Beitrag in gewisser Weise an Ausführungen von Gerhard Roth2 an, in denen er u. a. die Frage der Impulskontrolle durch den Einfluss von Gründen erörtert. In dem vorliegenden Beitrag gehe ich allerdings davon aus, dass für Impulskontrolle nicht erst Gründe erforderlich sind, sondern diese an der Spitze von Fähigkeiten stehen, die dazu beitragen, Impulskontrolle auszuüben. Mit einer Impulskontrolle, die bei der Kontrolle der Bewegungen ansetzt, sind wir noch nicht bei der Freiheit als Selbstbestimmung aus eigenen Gründen und aus eigenem Impuls angelangt. Aber wir beschäftigen uns mit Voraussetzungen dazu, nämlich damit, dass wir das eigene Verhalten partiell kontrollieren können.

2. Notwendigkeit Bevor ich mich den Aspekten der ,Freiheit‘ in der nun skizzierten Weise weiter annähere, möchte ich allerdings zuvor klären, mit welchen Begriffen wir operieren, wenn wir die zur Freiheit gegenteiligen Konzepte bemühen. Die kurze Liste möglicher Bestimmungen von Notwendigkeit oder Determiniertheit umfasst drei Punkte, von denen ich mich im Wesentlichen nur mit den ersten beiden auseinandersetzen werde: 1. Naturgesetze 2. Reiz-Reaktions-Mechanismen/Neuronale Reizübertragung 3. Logischer Zwang Verstehen wir aber überhaupt genau, was mit irgendeinem der drei Konzepte gemeint ist? Was könnte es etwa heißen, dass das Gehirn und 2

Vgl. dazu den Beitrag von Gerhard Roth in diesem Band.

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mit ihm der übrige Körper naturgesetzlich determiniert sind? Andreas Herz3 hat Gründe dafür vorgebracht, dass deterministische Bewegungsgleichungen auf der bio-physikalischen Ebene keine Anwendung finden können, weil neuronale Prozesse stochastische Prozesse sind, die stochastisch zu untersuchen sind. Stochastische Prozesse sind aber Prozesse, die sich durch eine Zufallsvariable x (t) beschreiben lassen und daher nicht deterministisch zu nennen sind. Für den stochastischen Prozess ist der Begriff der Notwendigkeit, ohne den sich der des Determinismus nicht bestimmen lässt, also gerade nicht von Bedeutung. Wichtiger ist vielmehr der des Zufalls. Das ist auch insofern nicht verwunderlich, als der Begriff des Determinismus keiner ist, der für das Verständnis oder zur Erklärung von Organismen entwickelt wurde, sondern zunächst ein erkenntnistheoretischer beziehungsweise physiktheoretischer Standpunkt zum Weltverlauf ist. Die Annahme, die dahinter steht, lautet, dass sich zwei gleiche physikalische Systeme (in beiden Zeitachsen) bei gleichen Anfangsbedingungen in derselben Weise verhalten. Der Weltverlauf ist, wenn die Anfangsbedingungen gleich sind, also bestimmt; er verläuft, wenn die Anfangsbedingungen gleich sind, notwendig so, wie er verläuft. Erkenntnistheoretisch oder physiktheoretisch nennen wir einen solchen Standpunkt, weil ,Notwendigkeit‘ oder ,Determiniertheit‘ keine Begriffe sind, die wir aus der Erfahrung gewinnen. Nicht einmal der weniger strikte Begriff der Regularität ist einer, den wir aus den Erfahrungen gewinnen, die wir tagaus, tagein machen. Denn um Regularitäten feststellen zu können, müssen wir die Ebene des jeweils Erfahrenen immer schon verlassen haben. Beobachten wir also beispielsweise neuronale Reizübertragungen, müssen wir, um Regularitäten feststellen zu können, die reine Ebene der Erfahrung bereits überschreiten. Denn auf der Ebene der neuronalen Reizübertragung lassen sich zunächst nur Korrelationen ausmachen (vielleicht auch Kausalität, aber das ist eine viel diskutierte und problematisierte Annahme). Mit der Beobachtung von Korrelationen (oder Kausalitäten) sind wir aber noch nicht bei der Beobachtung von Regelmäßigkeiten angelangt. Letztere gehen nämlich mit einer logischen Verbindung einher, nämlich der ,wenn-dann‘-Verbindung, die den Zusatz ,meist‘ erforderlich macht. Ohne die (hypothetische) Annahme der Regelhaftigkeit oder Regelmäßigkeit gelangen wir allerdings erst gar nicht auf die Ebene von wissenschaftlichen Erklärungen. 3

Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Herz in diesem Band.

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Wissenschaftliche Erklärungen dieser Art zu geben und damit auch über Regelmäßigkeiten in der Natur Auskunft zu geben, ist die Aufgabe der modernen Naturwissenschaften. Das kann sie aber erst, seit es aufgrund der Theorien eines Galilei oder Newton möglich geworden ist, genaue Voraussagen von Abläufen zu machen. Denn auch ehe diese Theorien aufgestellt wurden, kannte man bereits den notwendigen Verlauf beim Fall eines schweren Körpers, man konnte ihn aber nicht vorausberechnen.4 Dieses hinreichend bekannte wissenschaftshistorische Faktum zu betonen, ist deshalb erforderlich, weil die Definition von ,Determinismus‘ den Aspekt der Vorausberechenbarkeit gar nicht enthält. In einer rein wissenschaftstheoretischen Bestimmung von ,Determinismus‘ gehört ,Berechenbarkeit‘ nicht dazu.5 Die wissenschaftshistorische Dimension mag daher helfen zu verdeutlichen, dass für unser Verständnis von Determinismus der Aspekt der Berechenbarkeit durchaus zentral ist, auch wenn er nicht erforderlich ist, um ,Determinismus‘ zu definieren. Denn: „Dass Prozesse voraussagbar sind, macht die Regelhaftigkeit der zwischen ihnen bestehenden Notwendigkeiten sichtbar“ (Hampe, 2006, 153–174, hier 160), welche dann in Naturgesetzen dargestellt werden. Mir scheint es schon deshalb erforderlich, wissenschaftshistorische Überlegungen hinzuzuziehen, weil physikalische Systeme sich auch im Rahmen einer aristotelisch inspirierten Impetustheorie gleich verhalten, obgleich ihnen gerade keine Vorstellung naturgesetzlicher Notwendigkeiten zugrunde liegt. In den neuzeitlich geprägten Wissenschaften geht gerade die Vorstellung der Berechenbarkeit, und damit die der Beherrschbarkeit und Nachbildbarkeit von Vorgängen, mit dem Gesetzesbegriff und mit der Frage der Determiniertheit einher. Da im Rahmen des Erkenntnisinteresses der neuzeitlich geprägten Naturwissenschaften Erklärungen aufgrund wissenschaftlicher Erfahrungen und Gesetzesannahmen gesucht und gegeben werden, glaubt man, Rechtfertigungsprojekte durch Erklärungsprojekte ersetzen zu können, und das bedeutet, nur noch Ursachen, aber keine Gründe mehr anzuerkennen. Daher werden auch die Zielsetzungen der Erkenntnistheorie und der Ethik in erster Linie an zu gebenden Erklärungen ausgerichtet. Konsequent wäre es in diesem Sinne, wenn es, wie Michael Hampe treffend formuliert, eine einzige Notwendigkeit gäbe, der ebenso die 4 5

Vgl. etwa (Hampe, 2003, 10). Siehe die Bestimmung des Begriffs ,Determinismus‘ oben.

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Beschlüsse des Geistes unterliegen wie die existierenden Dinge, weil sich ein naturalistischer Szientismus oder Naturalismus auch auf den Bereich des Normativen bezieht. Ziel all dieser Naturalismen ist eine Täuschung über die normative Macht des Menschen zu beheben: Da wo vermeintlicher Weise etwas durch Begründungen und Überzeugungen etabliert worden sei […], herrsche tatsächlich die Notwendigkeit einer Naturgeschichte. (Hampe, 2003, 11 ff.)

Man glaubt daher, Rechtfertigungsprojekte durch Erklärungsprojekte ersetzen zu können, obgleich man, um erklären zu können, selbst auf Strukturen des Denkens zurückgreifen muss, die nicht in den Bereich des Erfahrbaren gehören. Dass die Grundannahmen und Prinzipien, wie sie in der Neuzeit entwickelt wurden, in Bezug auf die belebte und unbelebte Materie nicht durchgehend dieselben sind, zeigt sich jedoch auch daran, dass für Erklärungen innerhalb der Biologie Prinzipien herangezogen werden müssen, die in der Physik keinen Platz haben. So hat Andreas Herz darauf hingewiesen, dass das Trial-and-Error-Prinzip der Evolutionstheorie in deterministischen Theorien nicht vorkommen kann.6 Und wenn solche Prinzipien für Erklärungen herangezogen werden, wird gerade nicht davon ausgegangen, dass der Weltlauf so bestimmt und notwendig ist, wie es ein rigider neuzeitlicher Determinismus annimmt. Dass ein solcher Determinismus nicht zu einer nach-darwinschen Biologie passt, müssen daher auch Neurowissenschaftler zugeben, wenn sie nicht grundlegende Prinzipien der modernen Biologie bestreiten wollen. Im Bereich der Biologie lässt sich ein rein deterministisches Weltbild wohl nicht aufrecht erhalten, wenn man nicht nur diejenigen Forschungsgebiete berücksichtigt, die nach Ernst Mayr so genannte funktionale Erklärungen liefern, sondern auch jene, die qualitative Erklärungen geben.7

6 7

Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Herz in diesem Band. Während bei funktional erklärenden Ansätzen die Frage nach unmittelbaren Ursachen eines biologischen Vorgangs forschungsleitend ist, stehen bei qualitativ erklärenden Ansätzen Fragen nach mittelbaren, evolutionären Ursachen, die lediglich in einem Zeitverlauf wirken, im Vordergrund. Vgl. (Mayr, 1984, 56–59).

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3. Freiheit Nachdem nun einige Überlegungen zum Determinismus und dem mit ihm einhergehenden Weltbild angestellt wurden, können weitere Erörterungen der Freiheitsproblematik folgen. Mögliche Bestimmungen dessen, was Freiheit ist, wären: 1. Individuelles Freiheitsbewusstsein als menschliche Selbsterfahrung. 2. Bedeutungsvariationen. Wir können uns verschiedene Situationen vorstellen und verschiedene Konsequenzen abwägen. Weil die Vorstellung ursächlich für die gewählte, ausgeführte Handlung ist, hält etwa Gerhard Roth diesen Ansatz für vereinbar mit einem determinierten Gehirn als dem Organ, das für die Verarbeitung von Bedeutung zuständig ist. 3. Vom Reiz-Reaktions-Mechanismus verschiedene Vorgänge und Prinzipien wären etwa: Trial-and-Error als evolutionäres Prinzip (Andreas Herz), Emotionen8, aber auch spielerische Aktionen. Gemeint sind damit nicht Brettspiele, sondern bspw. junge Löwen, die sich spielerisch balgen und auf diese Weise zukünftiges „ernsthaftes“ Verhalten einüben, indem sie es ausprobieren und Freude an Möglichkeiten haben, die sich durch ein Abweichen von reinen Reiz-Reaktions-Schemata ergeben. 4. Selbstbewegung aus eigenem Impuls am Beispiel der bewussten Kontrolle des eigenen Bewusstseins.9 Auf diese vier Punkte werde ich nun im Folgenden eingehen.

3.1 Individuelles Freiheitsbewusstsein als menschliche Selbsterfahrung Zum ersten Punkt lassen sich wohl formulierte Beispiele in der Belletristik finden, in denen eben diese Selbsterfahrung geschildert wird: Ich ging in die Schule. Dann fiel mir in der ersten Pause ein, daß es doch schöner wäre, den Straßenarbeitern zuzusehen, als hier vergeblich herumzusitzen. Denn schreiben konnte ich schon. Ich riß eine Seite aus meinem Heft und schrieb auf das Blatt: 8 9

So auch Peter Hammerstein in seinem Vortrag „Biologische Dimensionen der Freiheit“ am 16. September 2005 im Rahmen des Humanprojekts. Vgl. dazu den Beitrag von Volker Gerhardt in diesem Band.

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LIEBE FRAU LEHRERIN ICH BITTE MEINEM SOHN FREIZUGEBEN WEIL ER HEUTE GEBURTSTAG HAT UND DAS WOLLEN WIR FEIERN Und setzte den Namen meines Vaters darunter. In schöner Blockschrift. Als die Stunde begann, brachte ich den Zettel zur Lehrerin. Die Lehrerin las, nickte und erlaubte mir, nach Hause zu gehen. Ich war glücklich. Und bin nicht nach Hause gegangen. (Nádas, 2006, 55)

Nun kann man solchen Schilderungen mit dem kritischen Einwand, es handele sich bei dieser Selbsterfahrung um eine Selbsttäuschung, begegnen, da wir neurologisch weder ein ,Ich‘ ausfindig machen können noch unser Handeln durch unseren ,Willen‘, den man gleichfalls neurologisch nicht ausmachen kann, oder durch Gründe beeinflussen können. Aber warum sollten wir voreilig in einen solchen Skeptizismus verfallen, da die Begriffe, um die es hier geht, keine der funktional arbeitenden Biologie sind, die sich ihrer auf wissenschaftstheoretisch schmaler Basis bemächtigen will?

3.2 Bedeutungsvariation als Ausdruck von Freiheit Auch den zweiten Punkt, „Bedeutungsvariationen“, werde ich an dieser Stelle nur mit einigen wenigen Bemerkungen streifen können. Wenn das Gehirn des Menschen als Bedeutung verarbeitendes Organ verstanden wird, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis neurologische Grundlagen und Bedeutungsverarbeitung zueinander stehen. Da sich Bedeutungssysteme nicht eindeutig formalisieren lassen, ist auch nicht zu erwarten, dass sie sich eindeutig materialisieren lassen. Bedeutungssysteme wurden daher auch stets unabhängig von ihrer Materialisierung gesehen und zwar nicht nur, weil dieselbe Bedeutung in verschiedenen Sprachen ausgedrückt sein kann, sondern diese auch noch in verschiedenen Medien verwirklicht sind.10 Zwar können wir nicht ohne Körper denken oder sprechen; Bedeutung und Denken werden aber nicht von der Materialbeschaffenheit unseres Organismus bestimmt. Bedeutung und Logik haben auch keine eindeutigen Ursachen in der Welt, sonst müssten alle Menschen ein und 10 Man denke etwa an die Verhältnisse zwischen Laut und Schrift sowie zwischen unterschiedlichen Sprachen, etwa Deutsch und Chinesisch.

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dieselbe Sprache sprechen, der dieselben Bedeutungen zu Grunde liegen. Tatsache ist jedoch, dass wir denselben Reizen der Sinnesorgane, z. B. dem Bild eines Kaninchens, durchaus verschiedene Bedeutungen unterlegen können. William Van Orman Quines berühmtem GavagaiBeispiel zufolge könnte jemand, der, wann immer er ein Kaninchen sieht und Gavagai sagt, damit auch die Zeitstadien oder Teile von Kaninchen meinen (Quine, 1980, 59–147). Quine hat sein Beispiel zwar entwickelt, um seine These von der Unbestimmtheit der Übersetzung zu illustrieren, das Beispiel lässt sich aber auch anführen, um zu zeigen, dass Sinnesreize und Bedeutung nicht in einem eindeutigen Verhältnis zueinander stehen. Das eröffnet einen Bedeutungsraum, der auch ein Möglichkeitsraum an Bedeutungen ist, die nicht eindeutig festgelegt sind. Die Ebene von Bedeutung und Logik ist die der Gründe, nicht der Ursachen.

3.3 Spiel als Ausdruck von Freiheit Der dritte Punkt soll nun am Beispiel des Spiels bei Tieren ausführlicher untersucht werden. Ehe ich mich diesem Gegenstand eingehender widme, ist es erforderlich, ein ,caveat‘ vorauszuschicken. Das Spielverhalten von Tieren lässt sich mit naturwissenschaftlich akzeptierten Theorien und Methoden nicht leicht fassen, weil sich nur schwer definieren lässt, was ,Spiel‘ ist. Dies liegt wohl auch daran, dass intentionales Vokabular bei der Definition des Begriffs ,Spiel‘ schwer zu vermeiden ist. Dennoch verfügen Biologen über eine Anzahl von Kriterien, um zu beurteilen, ob Tiere spielen oder nicht. So antwortete der am Humanprojekt beteiligte Neurobiologe Giovanni Galizia auf die Frage, ob Bienen spielen, dass er keine Verhaltensweise bei Bienen kenne, die als Spiel bezeichnet werden könne.11 Die Begründung seiner Antwort, verdient eine genauere Betrachtung. Sie setzt damit ein, dass ,Spiel‘ aus biologischer Sicht genauer definiert wird: Wie definieren wir ,Spielen‘? Und wozu ist ,Spielen‘ gut? Für die Entwicklungsneurobiologen ist Spiel ein Austesten von Verhaltensformen der adulten Welt durch das Kind, was für das Kind als zweckloser Zeitvertreib, „zum Vergnügen“, 11 Vgl. zu Experimenten über das Lernen von Bienen und die Bedeutung desselben für die Debatten um die Naturgeschichte der Freiheit den Beitrag von Giovanni Galizia in diesem Band.

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geschieht. Vergnügen ist ein emotionaler Zustand: Das Kind freut sich beim Spielen, und Freude kann eine sehr starke positive Belohnung in einem Lernvorgang sein, selbst bei einer einfachen Konditionierung. Es ist jedoch nicht bekannt, dass Bienen emotionale Zustände haben. Wohl haben sie Motivationszustände, denn sie sind motiviert zu essen (weil sie hungrig sind), zu trinken (weil sie durstig sind) usw. Aber Bienen zeigen keinerlei Schmerzreaktionen, geschweige denn Verhaltensweisen, über die wir auf emotionale Zustände schließen könnten. Ein weiteres Merkmal der Bestimmung von Spiel ist ,zweckloses Agieren‘. Daher muss gefragt werden, ob Bienen Verhaltensformen zeigen, die zum Zeitpunkt der Aktion als zwecklos erscheinen. Aber auch solche Verhaltensweisen sind nicht bekannt, weshalb der zweite Teil der Frage, ob, wenn es solche Verhaltensformen gäbe, diese „echtes“, d. h. zweckgebundenes, Verhalten nachahmen würden, gar nicht mehr beantwortet werden muss. Da Spiel eine soziale Form der Interaktion ist, sollte sie, wenn überhaupt bei Insekten, bei Bienen gefunden werden. Schließlich sind Bienen unter allen Insekten diejenige Art, die die komplexesten Interaktionen untereinander aufweist. Verhaltensweisen wie die als Spiel beschriebenen, lassen sich jedoch bei Bienen nicht beobachten – ebenso wenig wie andere komplexe, soziale Verhaltensweisen. Wohl lernen Bienen schnell und gut, sich in ihrer Umgebung zu orientieren, und bestimmte Düfte, Farben, Blüten mit Belohnung zu assoziieren. Auch lernen Bienen komplexe Verhaltensweisen, etwa wie man effizient bestimmte Blüten aberntet, aber erlernte soziale Verhaltensweisen sind von ihnen nicht bekannt. Die chemische Kommunikation über Düfte ist ebenso wie vielfältige Verhaltensweisen beim Schwänzeltanz angeboren. Wir wissen also nicht, ob Bienen spielen oder nicht. Bislang wurden folgende Kriterien für die Auszeichnung einer bestimmten Verhaltensweise als ,Spiel‘ genannt: – Austesten von Verhaltensformen – Lernvorgang von sozialem Verhalten – zweckloser Zeitvertreib, d. h. „zum Vergnügen“ Dass Bienen spielen, wird vor diesem Hintergrund aus mehreren Gründen verneint. Erstens, weil Bienen keine emotionalen Zustände aufweisen, zweitens, weil sie kein (zunächst) zweckloses Verhalten

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zeigen, und drittens, weil sie kein soziales Verhalten erlernen, obgleich sie sehr wohl in kognitiver Hinsicht lernen.12 Mich interessieren in diesem Zusammenhang vor allem der erste und der dritte Grund. Die Kombination von emotionalem Zustand und sozialem Lernverhalten könnte uns drauf hinweisen, dass man zu einem nicht unmittelbar zweckbezogenen Lernen emotionale Zustände als Motivatoren und zur Lenkung der Handlung benötigt, was bei einem unmittelbar zweckbezogenen kognitiven Lernen nicht in demselben Umfang erforderlich ist. Kurz gesagt: Wenn es keinen Zweck gibt, muss wenigstens Lust an den Abläufen und Aktionen vorhanden sein. Außerdem könnte die Einsicht, dass Bienen zwar kognitiv, aber nicht sozial lernen, ein Hinweis darauf sein, dass die neuronale Ausstattung für soziales Lernen sehr viel komplexer sein muss als für rein kognitives Lernen. Warum nicht unmittelbar zweckbezogenes Lernen einen Überlebensvorteil darstellen könnte, wird noch zu erörtern sein. Als Hypothese wäre zu vermuten, dass sich Vergnügen im Laufe der Naturgeschichte eingestellt hat, um bestimmte Lernvorgänge zu motivieren, die dem Überleben dienlich sind. Ehe ich diese Kriterien auf die Freiheitsthematik beziehe, möchte ich kurz auf den Lehrbuchstand der Verhaltensbiologie für Spielen eingehen.13 Dabei zeigt sich, dass vor allem Säugetiere und Vögel spielen, die eine relativ lange Jugendzeit haben. Nun könnte dieser Umstand sowohl mit der komplexeren Nervenausstattung zu tun haben, und/oder auch mit dem Umstand, dass das Einüben und Erlernen von Sozialverhalten Zeit und damit eine lange Jugend voraussetzen. Selbstverständlich kann auch beides zugleich von Bedeutung sein. Die Elemente des sozialen sowie des zweckfreien Verhaltens werden auch in den Erläuterungen der Lehrbücher als Elemente des Spiels hervorgehoben. Denn wenn dort angemerkt wird, dass es bestimmte, artspezifische Signale gibt, die dem Gegenüber ankündigen, dass das, was nun folgt, Spiel ist und nicht Ernst, wird damit auf das Sozialverhalten abgehoben. Affen zeigen das Spielsignal zum Beispiel durch eine typische Mimik, nämlich durch das so genannte Spielgesicht (Playface) an. Typisch ist auch, dass Affen sich, wenn sie sich auf ihren Spielpartner zubewegen, anders bewegen als in Situationen, die keine spielerischen sind. Sie schlenkern bzw. torkeln ein wenig, was wie ein Bewe12 Vgl. dazu den Beitrag von Giovanni Galizia in diesem Band. 13 Vgl. etwa (Franck, 1997).

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gungsüberschwang wirkt. Bei Hunden sieht die typische Spielaufforderung so aus, dass sie sich vorne ducken, das Hinterteil aber in der Luft stehen lassen. Oft springen sie in dieser Haltung ein wenig hin und her, knurren vielleicht bedrohlich, heben die bedrohliche Wirkung aber auf, indem sie gleichzeitig mit dem Schwanz wedeln. Im spielerischen Bewegungsablauf können also Verhaltensweisen und Verhaltenssignale kombiniert werden, die sich widersprechen: abwehrendes Knurren und Kontakt bejahendes Schwanzwedeln. Diese Kombination weicht von den im Ernstfall gezeigten Verhaltensmustern ab. Im Spiel laufen diese Verhaltensmuster also nicht in der üblichen Reihenfolge ab, in der auf Bedrohung nur Knurren, nicht aber Schwanzwedeln folgt etc. Die Normal- oder Ernstverläufe sind außer Kraft gesetzt; es eröffnet sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Spielraum für Verhalten. Auch im Tierreich ist Spielverhalten keineswegs nur auf Jungtiere eingeschränkt. Daher dient es wohl nicht nur der Einübung von zu erlernenden Verhaltensformen.14 Dennoch lässt sich festhalten, dass die Funktion des Spiels meistens darin gesehen wird, dass damit bestimmte Fertigkeiten geübt oder soziale Rollen erprobt und etabliert werden. Nach Dierk Franck (Franck, 1997, 61 ff.) gehören zur Charakteristik des Spielverhaltens dementsprechend die folgenden Gesichtspunkte: – Dem Spiel fehlt der spezifische Ernstbezug. Beutespiele sind oft auf ein Ersatzobjekt gerichtet. Junge Katzen spielen etwa mit einem Garnknäuel. Flucht spielende Ratten kommen unvermittelt wieder aus dem Bau hervor, während sie bei wirklicher Gefahr länger warten und vorsichtig sichernd den Bau verlassen. Bei Kampfspielen wechseln Tiere schnell von der überlegenen in die unterlegene Rolle und umgekehrt. – Die Einzelelemente sind im Spiel freier kombinierbar als im Ernstfall. Sogar Elemente aus verschiedenen Funktionskreisen (z. B. Kampf 14 Dies zeigt etwa die folgende anschauliche Beobachtung aus einer älteren Untersuchung: „Ein Servalweibchen fand heraus, wie es eine Maus in eine Spalte zurückbefördern konnte, nur um sie dann wieder hervorzuholen. Sie nahm die Maus vorsichtig auf, trug sie dann bis zum Spalt, stieß sie mit der Pfote hinein, angelte dann nach ihr und zog sie wieder hervor, trug sie erst ein Stück davon und wiederholte dann das Ganze.“ (Ewer/Leyhausen, 1976, 194). Die Leyhausensche Erklärung für ein solches spielerisches Verhalten von erwachsenen Tieren besagt, dass es dem Abbau aufgestauter Erregung dient. Dieses Triebmodell gilt heute jedoch als überholt.

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und Beutefang) können vermischt werden. Die Elemente des Spielverhaltens folgen jedoch nicht rein zufällig aufeinander, typische Verhaltensfolgen der Ernstsituation können auch im Spiel erkennbar sein. – Lebenswichtige Handlungsbereitschaften hemmen das Spielverhalten, sie haben absoluten Vorrang. Bei Hunger und Gefahr spielen Tiere nicht. Deshalb spielen Tiere in Gefangenschaft, wo sie meist sicher und satt sind, häufiger. – Das Spiel strebt keiner Endhandlung zu. Spielverhalten ist nahezu unerschöpflich, solange keine anderen Handlungsbereitschaften aktiviert werden und hemmend eingreifen. Das Beutefangspiel einer Katze wird nicht mit dem Erhaschen der Beute beendet, sondern ist im nächsten Augenblick wieder neu auslösbar. – Im Ernstfall ist bei der Verhaltensbeobachtung Spielverhalten aber oft schwierig von anderem Verhalten abzugrenzen, weil zum einen eins ins andere übergehen kann und zum anderen manchmal nicht klar ist, ob es einen so genannten „Ernstbezug“ gibt oder nicht. Die Kantische Feststellung – dass „bei den Tieren die Bewegung des Gehens auch nach Regeln [geschieht]. Der Fisch im Wasser, der Vogel in der Luft […] sich nach Regeln“ bewegen – passt nicht zu den Aussagen der Verhaltensforscher, nach welchen Tiere beim Spielen eine freie Kombination von Verhaltenselementen zeigen, bei dem es sich keineswegs um zufälliges Verhalten handelt. Dass Verhaltensrollen erprobt und etabliert werden, passt ebenfalls nicht zur These Kants. Ein Tier, dessen Bewegung ausschließlich nach Regeln zustande käme, kombinierte diese Bewegungen nicht frei. Nun ließe sich natürlich einwenden, dass das Erproben und Etablieren von Verhaltensmechanismen seinerseits nach Regeln ablaufen könnte. An dem Kantischen Diktum, demzufolge bei Tieren die Bewegung nach Regeln geschieht, wäre dann nach wie vor festzuhalten, denn auch das Ausprobieren und das Herumspielen mit Verhaltensweisen wäre in diesem Sinn schlicht ein regelgeleitetes Tun. Wir hätten es lediglich mit unterschiedlichen Regelniveaus zu tun. Wenn wir diese Annahme einmal unterstellen, bleibt dennoch die Frage zu beantworten, warum Bewegungsabläufe, die nach festen Regeln verlaufen, mit Mechanismen eingeübt werden müssen, für die es weitere Regeln gibt, welche aber dazu dienen, das eigentlich schon festgelegte Verhalten einzuüben. Warum sollte ein festgelegtes Verhalten eingeübt werden müssen?

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Oder aber wir nehmen an, dass es nur Regeln für das Einüben von Verhaltensmustern gibt, die dann, einmal eingeübt, habitualisiert ablaufen. In diesem Fall gäbe es keine Regelhierarchisierung, sondern nur eine einzige Regelebene. Der Einwand, dass festgelegtes Verhalten nicht auch noch eingeübt werden muss, träfe dann nicht. Zunächst lässt sich allerdings durchaus vorstellen, dass sogar die Doppelung von Regelmechanismen (festgelegtes Verhalten wird, obgleich es festgelegt ist, zusätzlich auch noch eingeübt) für das Einüben von Abläufen einen guten Sinn haben könnte. Denn es könnte sein, dass es für einen Organismus nachteilig ist, ausschließlich einem festen, unabänderlichen Regelwerk des Verhaltens unterworfen zu sein. In einer Umwelt, die ständig in Veränderung begriffen ist, ist das nur für Arten praktikabel, die über sehr große Populationen verfügen (wie Insekten), weshalb der Verlust eines einzelnen Organismus keine große Rolle für das Überleben der Art spielt. Ist das nicht der Fall, ist es leicht vorstellbar, dass Umweltveränderungen Verhaltensveränderungen erforderlich machen. Es müsste daher bei auftretenden Umweltveränderungen die Möglichkeit zur Verhaltensveränderung gegeben sein. Das den Regelsituationen angepasste festgelegte Verhalten müsste bei Veränderung dieser Situationen von einem anderen Verhalten, das weniger starr determiniert ist, abgelöst werden, damit der Organismus flexibel auf Verränderungen reagieren kann. Diese Flexibilität bedeutet allerdings, dass der Möglichkeitsraum als Freiheitsraum schon in solchen Fällen angelegt ist. Das Abweichen von angeborenen und direkt zweckbezogenen Verhaltensmechanismen, welches kein zufälliges Abweichen ist, ist die eine Facette, die den Möglichkeitsraum öffnet. Die andere ist das soziale Verhalten. Denn auch Sozialverhalten verlangt flexible Reaktionen. Oder umgekehrt: Die Möglichkeit, flexibel zu reagieren, ermöglicht Sozialverhalten. In jedem Fall ist auch hier ein Möglichkeitsraum eröffnet, der auf das Moment der Freiheit hinführt. Und dies gilt auch unter der Annahme, dass es lediglich Regeln für das Erlernen und Einüben flexibler Verhaltensreaktionen gibt. Neueste Arbeiten (Spinka et al., 2001) 15 zum Spiel bei Säugetieren wählen einen funktionalistischen Ansatz, der zu diesen Überlegungen passt. Über die Güte dieser Forschungsarbeiten kann ich allerdings keine 15 Die Autoren gehören der Ethology Group, am Research Institute of Animal Production in Prag an.

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weiteren Auskünfte geben. Nach diesem funktionalistischen Ansatz erlaubt es das Spiel Tieren, flexible kinematische und emotionale Reaktionen auf „unerwartete“16 bzw. neue Ereignisse zu zeigen, die ansonsten zu einem Kontrollverlust führen würden. Die Verfasser der Studie spezifizieren ihre Hypothese dahingehend, dass die motorische Beweglichkeit der Tiere durch das Spiel gesteigert wird, was es ihnen erlaubt, sich schneller „aufzufangen“, wenn sie die Balance verlieren oder fallen. Unter emotionalen Reaktionen verstehen die Bearbeiter zunächst Reaktionen auf stressreiche Situationen. Das „Unerwartete“, nicht Gewohnte, das Neue, sind Situationen, auf die ein Organismus, der mit einem starren, determinierten ReizReaktionsmechanismus ausgestattet ist, nicht vorbereitet ist. Termini wie das ,Unerwartete‘ oder das ,Neue‘ passen auch generell nicht zu einem deterministisch ausgerichteten Vokabular, für welches das Denken in Vorhersagbarkeit und auch Vorausberechenbarkeit (zumindest historisch gesehen) charakteristisch ist. Bei lebendigen Organismen, die nicht, wie Insekten, in sehr großer Zahl vorkommen, die zudem lange Aufzuchtzeiten und eine lange Adoleszensphase haben, könnte es laut den Verfassern für die Gattungserhaltung wichtig sein, wenn sich der individuelle Organismus durch spielerisches Einüben von flexiblen Reaktionen auf Neues vorbereiten kann. Die Autoren behaupten sogar, dass die Tiere in Spielen aktiv „unerwartete“, d. h. neue Situationen hervorrufen, um für das nicht Gewohnte zu trainieren. Die Tiere ließen daher in ihrer Bewegungskontrolle nach oder brächten sich im Spiel selbst in unvorteilhafte Situationen und Positionen. Daher wechselten im Spiel auch rasch Phasen der Bewegungskontrolle mit kontrollierten Bewegungsablufen. Der Wechsel zwischen Kontrolle und Kontrollverlust sei kognitiv anspruchsvoll, was bedeute, dass es für die Fähigkeit zu spielen sowohl phylogenetische, als auch ontogenetische Beschränkungen gäbe, und er zudem von neuroendokrinologischen Reaktionen begleitet sei, die den emotionalen Zustand des Vergnügens oder der Freude hervorriefen. Ob der Wechsel zwischen Kontrolle und Kontrollverlust intendiert ist, sei dahingestellt. Auch wenn man unterstellt, er sei nicht intendiert, ist die Hypothese dieser Forscher über das schon Festgestellte hinaus interessant. Denn ebenso wie die bereits angeführten Analysen gehen sie von einer Verbindung von kognitiven und emotionalen Fähigkeiten 16 Der Begriff ,unerwartet‘ steht wegen der in ihm enthaltenen intentionalen Bedeutung in Anführungszeichen.

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aus.17 Und emotionale Prozesse sind bereits Überschreitungen rein deterministischer Reiz-Reaktions-Mechanismen. Sie enthalten das Moment der Einschätzung einer Situation oder eines anderen Organismus. Und dieses Moment wird den Sozialpartnern mittels Mimik, Stimmfärbung und Körperhaltung auch mitgeteilt. Die Weitergabe einer Evaluation an andere ermöglicht, auch wenn sie nicht bewusst oder intentional vorgenommen wird, andere Bewegungs- und Reaktionsmöglichkeiten beim Adressaten der Mitteilung, als dieser sie ohne die Mitteilung gehabt hätte. Der Adressierte muss nicht selbst die Erfahrung der durch einen Anderen eingeschätzten Situation machen, er kann aufgrund der Mitteilung reagieren. Das bedeutet aber, dass die Reaktionsmöglichkeiten für den einzelnen Organismus ansteigen. Dieser kann so auf viele Situationen reagieren, die er nicht selbst erlebt haben muss, auf die er nicht unmittelbar reagieren muss. Und auch dieses Moment der mittelbaren Evaluation, die über andere Artgenossen erfolgt, erhöht die Kontrolle über das Umweltgeschehen und die Reaktionsmöglichkeiten. Was haben diese Überlegungen zu Emotionskommunikation mit dem Konzept der Freiheit zu tun? Es ist offensichtlich, dass Freiheit erst durch Distanz zu unmittelbaren Notwendigkeiten möglich ist. Eine solche Distanz ist in einem zeitlichen und räumlichen Sinne allerdings gegeben, wenn der Organismus nicht den Notwendigkeiten unterliegt, die die unmittelbar erlebte Situation an ihn stellt. Wenn der Organismus sich erst gar nicht den Erfordernissen einer Situation aussetzen muss, weil er bereits über sie informiert ist, wird ihm aus der Distanz heraus ein entsprechend adäquates Verhalten ermöglicht, ohne dass er sich in Gefahr begeben muss. Dies ist ein weiterer kleiner Schritt hin zur Freiheit. Für den Menschen bedeutet die Distanz zu Notwendigkeiten hingegen oft auch die bewusste Reflexion auf Notwendigkeiten, zu der wohl er allein in der Lage ist: 17 Zu Emotionen hat Peter Hammerstein in seinem Vortrag in Rahmen des Humanprojekts gleichfalls ausgeführt, dass einer Emotion wie Scham ein biologischer Mechanismus zu Grunde liegt, der anzeigt, dass soziale Normen übertreten wurden. Er selbst hatte auch darauf hingewiesen, dass soziale Normen dem Bereich der Kultur angehören, nicht dem der biologischen Mechanismen und damit bereits einen Hinweis auf ein Überschreiten reiner biologischer Reiz-Reaktions-Mechanismen gegeben.

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In vielen Diskussionen wird Freiheit als Gegensatz zu Zwang und Notwendigkeit verstanden. […] Doch besteht Freiheit […] darin, mir durch Beschreibungskompetenzen Notwendigkeiten vor Augen zu führen, ihnen nicht lediglich zu unterliegen, sondern mich von ihnen zu distanzieren, um so überhaupt einen Raum für mögliche Reaktionen zu schaffen. […] Freiheit kann […] als die Fähigkeit begriffen werden, Möglichkeiten zu erkennen und durch subjektive Reaktionen auszufüllen. (Hampe, 2006, 172 f.)

Letzteres kann nur mittels Sprache geschehen. Obgleich auch Tiere, wie wir gesehen haben, im Spiel Raum für mögliche Reaktionen haben, ist das Erkennen von Möglichkeiten und das Ausfüllen dieses Möglichkeitsraums durch subjektive Reaktionen in letzter Konsequenz wohl dem Menschen vorbehalten. Eine solche subjektive Reaktion haben wir in dem oben zitierten literarischen Beispiel des kleinen Grundschülers vor Augen geführt bekommen. Angetrieben von seinen persönlichen Wünschen, ist er in der Lage, sich seinen eigenen Spiel- oder Freiheitsraum für den Tag zu schaffen und in seinem Sinne zu nutzen. In diesem Fall sind es zwar soziale und nicht natürliche Notwendigkeiten, denen gegenüber er sich einen Freiheitsraum schafft, aber es lassen sich auch Beispiele dafür finden, dass natürliche Notwendigkeiten überwunden werden. So etwa wurde es möglich, den alten Menschheitstraum vom Fliegen zu verwirklichen, als das Gesetz der Schwerkraft und andere physikalische Gesetzmäßigkeiten verstanden waren. Dies zeigt, dass die herrschenden Notwendigkeiten der Natur nicht gegen die Freiheit stehen.

3.4 Selbstbewegung aus eigenem Impuls – ein Beispiel Schließlich möchte ich noch kurz auf die besonderen Kontroll- und Handlungsmöglichkeiten des Menschen eingehen. Oben ist dieser Aspekt unter Punkt 4, „Selbstbewegung aus eigenem Impuls“, am Beispiel der bewussten Kontrolle des eigenen Bewusstseins aufgeführt. Am Ende dieser Ausführungen werden wir sehen, dass sich die bewusste Kontrolle über das eigene Bewusstsein nicht nur als Impuls zur Selbstbewegung verstehen lässt, sondern auch als Spiel des Bewusstseins mit sich selbst. Was aber ist Kontrolle des eigenen Bewusstseins? Lassen Sie mich ein Beispiel geben, um dies zu verdeutlichen: Ich lese meinem älteren Sohn abends im Bett laut vor, dabei denke ich an etwas ganz anderes. Dennoch lese ich den Text korrekt vor, weiß dabei aber nicht, was ich

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im Einzelnen gelesen habe. Dieses Lesen ist insofern ein bewusstes Lesen, als ich mir vorgenommen habe, ihm vorzulesen, und sogar während des Lesens, bei dem ich an etwas anderes denke, denken kann, dass ich ihm eigentlich vorlese, dabei aber an etwas anderes denke, und dass das ein bemerkenswerter Zustand ist. Dieses „Wissen über“ ist sicher ein höherer Zustand des Bewusstseins. Aber was ist dieses Lesen? Wenn ich lese und die vorgelesene Geschichte dabei bewusst mitverfolge, weiß ich in einem doppelten Sinne, was ich tue: Ich weiß, dass ich lese, und ich weiß, was ich lese. Wenn ich lese, ohne dass ich mitverfolge, was ich lese, weiß ich es nur in einem einfachen Sinne. Ich weiß, dass ich die Handlung des Lesens vollziehe, aber ich weiß im Einzelnen nicht, was ich lese. Es handelt sich also nicht um ein einfaches Problem der Fokussierung der Wahrnehmung, vielmehr geht die bewusste Handlung mit einem Wissen einher, mit dem die „unbewusste“ nicht einhergeht. Bewusstsein ist in diesem Fall also nicht auf die Fokussierung der Wahrnehmung zu reduzieren. Damit das so genannte unbewusste Lesen zu einem bewussten wird, reicht es aber nicht aus, irgendeinen höheren Zustand des Bewusstseins einzunehmen, denn derjenige Zustand, in dem ich lese und gleichzeitig darüber nachdenke, dass ich zwar lese, aber an etwas anderes als das Gelesene denke, ist sicher auch eine Form eines höheren Zustandes des Bewusstseins. Entscheidend ist vielmehr, dass sich das Bewusstsein nicht auf die Handlung oder Wahrnehmung bezieht, die gerade vollzogen wird. Der Vorleser-Fall zeigt nicht nur, dass Bewusstsein letztlich nicht lediglich eine Frage der Aufmerksamkeits-Fokussierung ist. Denn mein Bewusstsein, meine Aufmerksamkeit kann durchaus auf den Akt des Vorlesens gerichtet sein und dennoch weiß ich nicht, was ich vorlese, weil ich darüber nachdenke, dass ich gerade vorlese. Dieses Vorlesen ist in einem bestimmten Sinne auch nicht „unbewusst“, denn obgleich ich nicht weiß, was ich lese, weiß ich doch, dass ich lese. Was lenkt meine Aufmerksamkeit in dem einen Fall auf das Lesen und in dem anderen auf den Inhalt des Gelesenen? Es ist kein äußerer Reiz. Denn ich kann, wie es mir beliebt, zwischen bewusstem Vorlesen und Nachdenken über unbewusstes Vorlesen hin und her wechseln. In diesem freien Spiel mag für mich ein Reiz liegen, der von einer anderen Art ist als äußere Wahrnehmungsreize. Dieser Reiz mag in der Kontrolle liegen, die ich darüber habe, welche Aspekte mir bewusst sind oder werden sollen. Der Wechsel lässt sich nämlich nicht dadurch erklären, dass ein Reiz stärker ist als der andere. Wäre letzteres der Fall,

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könnte der Wechsel nur einmal von statten gehen und nicht wiederholt werden. „Impulskontrolle“ bezieht sich beim Menschen also nicht nur auf motorische Bewegungsabläufe, sondern auch auf das Bewusstsein und in einem weiteren Schritt, der nicht Thema meines Vortrages ist, auf das Denken in Form von Gründen. Diese Form der Kontrolle ist sicherlich eine andere als die Impulskontrolle, über die auch Tiere beim Spiel verfügen, aber wenn man davon ausgeht, dass auch der Geist eine Naturgeschichte hat, muss diese mehr oder weniger kontinuierlich erzählt werden können, und das Spiel wäre sicherlich ein guter Anfang dafür.

4. Spiel und Freiheit Enden möchte ich diesen Beitrag mit einigen Bemerkungen zu Friedrich Schiller, der bereits zu Beginn erwähnt wurde. Eines der berühmtesten Zitate aus Schillers ber die sthetische Erziehung des Menschen lautet: Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. (Schiller, 2000, 15. Brief, NA XX, 359) 18

Für die Bestimmung dessen, was er Notwendigkeit nennt, hat Schiller zahlreiche Ausdrücke: den natürlichen Trieb, die natürliche Notwendigkeit als Gesetz, die natürliche Empfindung und das, was er den Naturstaat nennt. Dem stellt er die Vernunft, die (gedachte) Möglichkeit, die Freiheit, das freie Denken und den sittlichen Staat gegenüber. Die Freiheit zeigt sich nach Schiller im (ästhetischen) Spiel, weil dieses kreative Möglichkeiten, die Entstehung von Neuem zu Tage bringt, und damit einen Raum der Freiheit vorführt, der wiederum die Vernunft erst ermöglicht. Kunst, die als Geistesarbeit Tochter der Freiheit ist, dient nach Schiller der politischen Freiheit, deren Gesetze allein von der Vernunft zu beurteilen sind. Die aufgeklärte Vernunft, die politische Freiheit werden also allererst durch den Raum der Freiheit, der ein Raum der Möglichkeiten ist, eröffnet. Daran haben die Natur, die Empfindung, das natürliche Spiel 18 Darauf bezieht sich auch Birgit Recki in ihrem Beitrag in diesem Band, um die Verbindung von Natur und Mensch im Spiel herauszuarbeiten.

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allerdings ihren Anteil. Selbst Schiller denkt Freiheit und Natur nicht als vollständige Gegensätze. So führt er im siebenundzwanzigsten und damit letzten Brief der Abhandlung ber die sthetische Erziehung des Menschen aus, dass das Spiel der Tiere durchaus als eine Vorstufe zur Freiheit des Menschen zu verstehen ist. Das Spiel der Tiere sieht er in einem Überschuss der tierischen Kräfte begründet: Zwar hat die Natur auch schon dem Vernunftlosen über die Nothdurft gegeben, und in das dunkle thierische Leben einen Schimmer von Freyheit gestreut. […] Das Thier […] spielt, wenn der Reichthum der Kraft diese Triebfeder ist, wenn das überflüssige Leben sich selbst zur Thätigkeit stachelt. […] So giebt uns die Natur schon in ihrem materiellen Reich ein Vorspiel des Unbegrenzten, und hebt hier schon zum Theil die Fesseln auf, deren sie sich im Reich der Form ganz und gar entledigt. Von dem Zwang des Bedürfnisses oder dem physischen Ernste nimmt sie durch den Zwang des Ueberflusses oder das physische Spiel den Uebergang zum ästhetischen Spiel und ehe sie sich in der hohen Freyheit des Schönen über die Fesseln jedes Zweckes erhebt, nähert sie sich dieser Unabhängigkeit wenigstens von ferne schon in der freyen Bewegung, die sich selbst Zweck und Mittel ist. (Schiller, 2000, 27. Brief)

Das Spiel der Tiere erinnert Schiller demnach durchaus an eine erste Loslösung vom Notwendigen, denn wenn das Tier nicht seinen Trieben folgt und seine Bedürfnisse wie den Hunger stillen muss, werden die vorhandenen, aber nicht genutzten Kräfte für das Spiel eingesetzt, weil es den natürlichen Notwendigkeiten des Überlebens nicht folgen muss, die Schiller als natürliche Fesseln oder Notwendigkeiten bezeichnet. Sehr nahe, das sei noch angemerkt, kommen sich Mensch und Tier bei Schiller dadurch allerdings nicht. Denn zuvor hatte er im dreiundzwanzigsten Brief dargelegt, dass der Übergang von der physischen Natur zur ästhetischen der eigentlich schwierig zu bewältigende sei, wohingegen der vom ästhetischen Dasein zum logisch-begrifflichen und moralischen sehr viel leichter zu vollziehen sei, weil der eigentlich Schritt hin zur Freiheit dann bereits vollbracht ist. Wie wichtig es ihm dennoch war zu betonen, dass es keine eigentliche Kluft zwischen der (moralischen) Freiheit und den natürlichen Notwendigkeiten beim Menschen gibt, mag man an zwei weiteren Zitaten aus dem fünfundzwanzigsten Brief sehen. Dort betont Schiller zum einen, dass Schönheit das Ergebnis freien Betrachtens, also der Wahrnehmung des Menschen ist, für die er seine Physiologie benötigt:

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Die Schönheit ist allerdings das Werk der freyen Betrachtung, und wir treten mit ihr in die Welt der Ideen – aber was wohl zu bemerken ist, ohne darum die sinnliche Welt zu verlassen, wie bey Erkenntnis und Wahrheit geschieht.

Und zum anderen sieht er es als unbefriedigend an, dass die Philosophen nichts weiter tun, als die Vernunft in normativer Weise für geboten zu erklären: wie denn auch wirklich die Analysten keinen bessern Beweis für die Ausführbarkeit reiner Vernunft in der Menschheit anzuführen wissen, als den, daß sie geboten ist. (Schiller, 2000, 25. Brief)

Dafür, dass wir hinter Schiller nicht zurückgehen und uns daher der Frage nach der Naturgeschichte der Freiheit stellen sollten, sind in diesem Beitrag einige Überlegungen angestellt und Gründe vorgebracht worden. Die wichtigsten waren, dass weder die Physik noch die Biologie, durchgehend einen Begriff des Determinismus vertreten, wie er formuliert wird, wenn die Möglichkeit zum freien Handeln geleugnet wird. Am Beispiel des Spiels sollte zudem gezeigt werden, dass wir auch aufhören müssen, Tiere, insbesondere höhere Säugetiere, als determinierte Automaten zu verstehen, wie es Descartes uns vorgegeben hat. Wenn wir allerdings Tiere nicht als determinierte Automaten verstehen, dann sollten wir den Menschen erst recht nicht so verstehen.

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Technik und Natur Eine neue Dialektik der Aufklärung oder: Wie es der weißen Frau möglich wird, den Affen zu lieben BIRGIT RECKI Unter den Kinogängern dürften die Rousseauisten eine verschwindende Minderheit bilden. Wer seine Passion auf die avancierteste Technik der Sichtbarkeit baut, wird gegen die Verklärung des Natürlichen ein stark begründetes Misstrauen hegen. Das könnte sich jetzt – mit der zunehmenden Qualität der computeranimierten Filmproduktion – ändern. Gerade die Technikbewussten und von den Techniken artifizieller Darstellung Begeisterten unter den Cineasten haben in einem Film wie Peter Jacksons „King Kong“ aus dem Jahr 2005 einen Anlass, ihre Sicht der Natur und das Verhältnis von Natur und Kultur noch einmal zu überdenken.

Echte Körper – wirklich Mit dem neuen „King Kong“, der trotz großer Nähe zur gemeinsamen literarischen Vorlage (Wallace et al., 2005) den Kultfilm von 1933 weit hinter sich lässt, ist eine bisher unbekannte wirklichkeitssuggestive Qualität der Körperlichkeit von computeranimierten Wesen in die Welt gekommen, von Wesen wie bezahnten Mollusken, Rieseninsekten, Dinosauriern und – dem mythischen Gorillagott. Während die Dinos im historischen Film in wohlweislicher Distanz durch Hinter- und Mittelgrund des Bildes schwanken – weil sie nämlich mit ihrer konventionellen Zackenlitze auf dem Rückgrat noch aussehen wie die Anwärter auf eine Rolle in „Siegfried und der Drache“ –, wird der Zuschauer im neuen „King Kong“ mit den menschlichen Protagonisten gleichsam zwischen die Füße der panischen Tiere und damit in einer hochdramatischen Verfolgungsjagd mitgerissen, bei der es evident wird: Hier sind sie. Sie sind nicht von Pappe und schon gar nicht bloße

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Trickzeichnungen oder Pixels – sie sind räumlich, sie sind körperlich, sie sind tonnenschwer, die Fleischmassen ihrer die Erde stampfenden Beine wabern und beben bei jeder Bewegung, und wenn sie stürzen, dann wuchten sie ausweglos mit in die Tiefe ihres schwerfälligen Falles, was ihnen gerade im Weg ist. Im Blick auf die überraschende Qualität dieser Animation lassen sich die nicht immer bewusst zur Disposition stehenden Realitätskriterien unseres Weltbezuges mit einem Mal mühelos aus der Phänomenologie der Bilder gewinnen: Neben dreidimensionaler Räumlichkeit, Masse und Gravität ist es – außer der raumgreifenden Dynamik – auch die interne Beweglichkeit körperlicher Substanz, Elastizität als Indiz für Konsistenz. Ohne es zu merken, bestätigen wir das Aristotelische Kriterium der gelungenen Fiktion und erleben diese Ungetüme, als ob sie wirklich wren.

Das beseelte Tier Durch dieselbe technische Perfektion, die das möglich macht, wird auch die schwarze Bestie zu einem lebendigen Wesen von unseresgleichen. Nicht nur ist der Körper, sind die Bewegungen des großen Kong die eines animalischen Königs des Urwalds – was sich in seinem Gesicht: um seine Nüstern und seine Mundwinkel, um seine Augen und in seinem schlauen Blick abspielt, macht uns zu Zeugen gleichsam einer Protogeschichte der Menschwerdung. Der mimische Ausdruck ist so überzeugend, dass man dem New Yorker Museum of Natural History hätte raten mögen, den neuen „King Kong“ ins Beiprogramm seiner großen Darwin-Ausstellung (2005) aufzunehmen, um die aufklärerische Kampagne gegen die Kreationisten durch anschauliche Indizien aus dem vollen Leben noch zu verstärken. Wer sich, aus dem Kino torkelnd, seinen Assoziationen unkontrolliert überlässt, der wird sich unweigerlich bei der Überlegung ertappen, dass der Darsteller des King Kong doch den Oscar verdient hätte. Dem Filmtheoretiker fliegt mit dieser Perfektion der bilderzeugenden Computertechnik hier endlich wie die gebratenen Tauben des Schlaraffenlandes das Argument in den offenen Mund, das ihm zur Stützung seiner hartnäckigen Behauptung noch gefehlt hat: Weit davon entfernt, das Realitätsparadigma des photographischen Films in Frage zu stellen und etwa durch ,ein ganz neues und anderes Paradigma‘ abzulösen, eifert die bildanimierende Computertechnik ihm vielmehr nach und kann – gerade im Streben nach der

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perfekten Illusion der Anschauung – gar nicht anders, als es zu bekräftigen. Wichtig für den neuen „King Kong“ ist daran: Durch die zauberhafte Lebendigkeit dieses animierten Affengesichts, durch die Glaubwürdigkeit seiner empfindsamen und mimetischen Reaktionen, konnte aus der Horrorgeschichte von der Bedrohung der weißen Frau durch die zerstörerische Macht der schwarzen Bestie eine Liebestragödie von herzzerreißender Zartheit werden. Zwar führt gemäß seiner literarischen Vorlage auch der „King Kong“ von 1933 bereits die frei erfundene „arabische“ Weisheit im Vorspann: „Das Tier schaute ins Angesicht der Schönen, seine mörderische Hand erstarrte. Und von diesem Tag an war es wie tot.“ Doch hatte der Film tricktechnisch damals noch nicht das Zeug, aus dieser Leitlinie der Handlung mehr zu machen als eine trockene Behauptung: Was wir sehen, ist ein ungeschlachter Pappkamerad, der sich ruckartig in der Kulisse bewegt, ein ausdrucksloses Monster, dessen gebleckte Zähne aussehen wie aus Holz geschnitzt und weiß angemalt, und dessen Gesicht selbst bei großem Wohlwollen eher an eine groteske Karnevalsmaske als an einen Primaten erinnert. Kein Wunder, dass die behauptete Faszination holzschnitthaft bleibt – und vor allem einseitig: Die weiße Frau ist bis zum Schluss von Furcht und Entsetzen paralysiert und froh, aus der Gewalt des Affen befreit zu werden. Das Remake von Dino de Laurentiis aus dem Jahr 1976, das sich zu seinem Nachteil in vielem vom Plot der Vorlage verselbständigt, intendiert jedoch auch schon ein gegenseitiges Verhältnis zwischen dem Affen und der weißen Frau. Es kündigt sich an in ihrem Mitgefühl mit dem überrumpelten und in die Falle gegangenen Tier und in dessen tobsüchtigem Befreiungsversuch, als ihm im Bauch des Schiffes, in dem es gefangen nach New York verfrachtet wird, durch das Gitter ihr Schal vor die empfindliche Nase geweht wird und die Erinnerung entfacht. De Laurentiis ist der einzige der drei Regisseure, der in die Geschichte von Kongs Ergebenheit an die Schöne den Geruchssinn miteinbezieht. Trotzdem bleibt der Film die Plausibilität dieses Verhältnisses im entscheidenden Punkt schuldig: Der Körper des Gorillas ist ein künstlicher Balg aus Plastik und Plüsch, ein Golem eher als ein Primat; das Gesicht, das aussieht, als hätte sich ein lieber Kerl mit leuchtenden braunen Augen eine schlechtsitzende Ledermaske über den Kopf gezogen und Omas dritte Zähne eingesetzt, gerät insbesondere in der perspektivischen Verzerrung der Kopfdrehungen regelmäßig zur schlechtgezeichneten Karikatur.

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Dagegen ist die Darstellung im neuen Remake ein ästhetischer Befreiungsschlag. In der entscheidenden Szene, als Kong die weiße Frau von der Opferstätte der Eingeborenen abgeholt und auf seinem Bergvorsprung oberhalb des Waldes in Sicherheit gebracht hat, ist es die hohe Qualität der Animationstechnik, die den korresponsiven Blickkontakt zwischen der im Interesse an ihrer Selbsterhaltung wachsamen Frau und dem aufgewühlten Tier glaubwürdig macht. Bei diesem Blick, mit dem die Frau auf die nächsten Absichten ihres Eroberers spannt, springt der Funke über von der Wildnis in die Zivilisation und wieder zurück, und von hier an ist es die Geschichte einer Liebe, die ihren Lauf nimmt.

Das Schöne und das Spielerische Das Nadelöhr, durch das diese Liebe – mit ihrer individuierenden und humanisierenden Wirkung – hindurch muss, ist, wie der Vorspann ankündigt und der Schlusssatz didaktisch repetiert, die Schönheit, damit aber auch das Spiel als Ort ästhetischen Erlebens. Es gehört zu den großen Stärken des Films, wie Peter Jackson die Wirkung der Schönheit auf das Tier und damit die Geschichte der Humanisierung einfädelt, indem er das Spielerische als Vermittlung von verständigungsorientiertem Kontakt und von wechselseitiger Sympathie inszeniert. Dies dürfte auf gattungsgeschichtliche Befunde zurückgehen, auf Einsichten in die spielerische Natur des Menschen,1 wie sie auch bei einigen der großen Idealisten schon in anthropologischer Perspektive vertreten werden: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt,“ heißt es bei Schiller im fünfzehnten seiner Briefe ber die sthetische Erziehung des Menschen (Schiller, 1795, 95). Das heißt aber auch, und Schiller notiert es mit aller gebotenen Vorsicht, dass wir überall dort, wo wir Spielerisches in der Natur antreffen, schon auf dem Weg zum Menschlichen sind. Der Film illustriert ebendiese Auffassung in einer atemberaubenden Sequenz, in deren Verlauf das Spielerische entdeckt und ausprobiert, genossen und ebenso ins existentiell Bedrohliche entgrenzt wie in den Ernst der allgemeinen Bedeutung gesteigert wird. Die phänomenale Naomi Watts, der wir mit der Casting-Szene in David Lynchs „Mulholland Drive“ die heißeste erotische Phantasie des vergangenen Jahr1

Siehe etwa Bataille, 1955.

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zehnts verdanken, leistet auch hier Großes. In den Reaktionen und Aktionen des animierten Affen sind es vier Schritte der Menschwerdung, die uns anschaulich werden. Gleich nach der Ankunft auf dem erhöhten Aussichtsposten vor seiner Höhle unternimmt die weiße Frau ihren ersten Fluchtversuch und scheitert damit. Der Affe hat sie unter imponierendem Gebrüll wieder in die Hand bekommen und gibt seinem Ärger bedrohlichen Ausdruck. Sie ist entmutigt, eingeschüchtert, und beobachtet angstvoll sein Gesicht. Sie kriegt im Blick auf seine Mimik etwas mit von dem Anteil, den das Imponiergehabe an seinem Verhalten hat. Gleichsam frei nach Goethes ungeheurem Spruch fängt sie seinen Blick auf und hält ihn fest – und besinnt sich in der kurzen Spanne seines Innehaltens auf die gauklerischen Künste, die sie als Darstellerin in einem Vaudeville-Theater beherrscht. Sie springt um die eigene Achse hin und zurück, sie schlägt das Rad, sie biegt sich und streckt sich, sie jongliert und macht ihre Männchen. Das Tier sieht dem beweglichen Püppchen verblüfft zu, es staunt, es traut seinen Augen nicht, blickt hektisch weg wie verlegen, blickt wieder hin. Die Wirkung der Schönheit, das Zarte, Grazile, die Überraschungseffekte souveräner Körperbeherrschung, die Anmut der Bewegung tun ihre Wirkung. Can’t take my eyes off you, könnte diese Szene im Soundtrack unterlegt sein. Wider Willen ergreift die Miene des Lachens ganz schief von Kongs Zügen Besitz. Er grollt und schnorchelt heiter, ungläubig noch, durch die Nase. Dann ist es passiert: Er muss lachen. Sie hat ihn amüsiert. Der erste Schritt der Menschwerdung ist vollzogen: Er tut ihr nichts, er will sie nur ansehen. – Nicht ganz! Denn kaum gewonnen die neue Sensation, will er mehr davon. Als sie innehält, um sich zu verschnaufen, stößt er sie locker aus dem Handgelenk, gutmütig in der Absicht, schmerzhaft im Effekt, zu Boden. Er ist auf den putzigen Anblick aus, den sie bietet, wenn sie sich aufrappelt. Der erste Schritt der Menschwerdung ist demnach eigentlich: Er tut ihr nichts, er will nur, dass sie weiterspielt. Doch das gerade erst begonnene besänftigende Spiel wird damit bedrohlich. Er kann nicht genug davon kriegen, wie sich dieses grazile Püppchen vor ihm abarbeitet. Sie spielt um ihre Unversehrtheit, um ihr Leben. Da weiß sie sich nicht anders zu helfen und brüllt ihn an, dass sie genug habe und er endlich aufhören solle. Der Anfall von Enttäuschung und Zorn, der sich daraufhin entlädt, ist gänzlich unabsehbar. Ein einfaches Naturgeschehen kommt ihr zu Hilfe: Der Affe tobt so heftig herum, dass sich aus dem Bergmassiv über dem Höhleneingang ein riesiger Felsbrocken löst und ihm in den Nacken fällt. Er verstummt

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und hält inne, benommen. Wieder ist es faszinierend, wie sich ein Vorgang in seinen Zügen Ausdruck verschafft – diesmal der innere Vorgang der Schmerzausbreitung. Der arme Kerl leidet Arges und wird darüber ganz kleinlaut. Und schon ist er um die Ecke und zieht sich zurück. Obwohl dies eigentlich das Ende des Spieles ist, dürfen wir so, wie im Plot dieser Zufall angelegt ist, darin durchaus die glückliche Fortsetzung der großen Initiation in das menschliche Wesen sehen. Indem die Kausalmechanik der umgebenden Natur mitspielt, mündet die Lektion des Spiels in den zweiten Schritt der Menschwerdung: Das ist die Konditionierung in den Respekt vor der Entscheidungsfreiheit der amüsanten kleinen Gauklerin: Wenn sie nicht mehr weiterspielen will, dann darf man sie bei Strafe großer Schmerzen nicht bedrängen. Sicherlich eine Konditionierung; doch darum nicht die bloße heteronome Mechanik. Es dürfte unstrittig sein, dass hier bereits ein Lernprozess in Gang kommt – Lernen zumindest als Koordination von stimulus und response im Blick auf umgebende Naturbedingungen, das in der aktiven Aufnahme von Abschwächungs- oder Verstärkungseffekten besteht.2 Beim Wiedersehen in New York gibt es – vor der finalen Jagd der Kampfgeschwader und Kongs tödlichem Sturz vom Empire State Building – die wunderbare Szene, in der das Komplement zu dieser Entdeckung des Spielerischen zu sehen ist: Nach wüstem Getobe im Theater und auf den Straßen hat Kong seine weiße Frau wiedergefunden, er hat sie wieder in seine große Faust genommen und sich mit seiner diesmal glücklichen Beute in den Central Park zurückgezogen. Hier rutscht er auf der vereisten Fläche eines Sees aus, lernt an ihrem amüsierten Lachen, dass dieses Missgeschick lustig ist, findet Geschmack daran, versucht es mit absichtsvollem Schwung gleich noch einmal, und erfindet so fr sich selbst und seine Kleine mit dem Eisschlittern auch die spielerische Distanz ganz neu, ganz ursprünglich. Jetzt ist sie es, die Freude hat an seinen mutwillig ungeschickten Bewegungen, und er vollzieht, geleitet durch ihre vergnügte Reaktion, den wichtigen dritten Schritt der Menschwerdung: Den Spielraum des eigenen Handelns wahr2

Es ist zu fragen, ob darin auch eine Option für einen teleologischen Naturbegriff liegt: Muss eine Natur, die diese Spanne und damit den Spielraum menschlicher Freiheit eröffnet, mit Kants Argument in der Kritik der Urteilskraft als zweckmäßig gedacht werden? – Vgl. Recki, 2001: Kap. II.2 Die Nötigung zur Teleologie und II.3 Die praktische Implikation eines ästhetischen Begriffs.

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zunehmen und in der lustvoll tentativen Bewegung zu nutzen; nicht nur fasziniert zu sein vom schönen Schein des Spiels, sondern – Unmittelbarkeit und Distanz in die souveräne Verfügung bringend – selbst zu spielen. Hier schließt sich unter dem belustigten Blick der Geliebten der Bogen der Identität zwischen Zuschauer und Akteur. Es ist das reine Glck. Es gibt aber einen weiteren, vierten Schritt der Menschwerdung, der in der Einschärfung der Bedeutung von Schönheit als etwas Ernsthaftem besteht. Auch dieser Schritt ist im Film in symmetrischer Anlage repräsentiert – er erfolgt einmal in der wilden Natur des Urwalds, das andere Mal komplementär in der Großstadt. Anlass und Gegenstand der Erfahrung sind in schöner Symmetrie Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. Am Ende des ereignisreichen Tages, an dem die Menschenopferung der Eingeborenen die weiße Frau in den Besitz des Affengottes brachte und ihn nach der wilden Jagd durch den Urwald in die Freiheit initiierte, sitzt er erschöpft und ruhig auf dem Felsplateau vor seiner Höhle und blickt ins Weite – in den Sonnenuntergang. Die weiße Frau sieht ihn an. Sie legt mit inniger Gebärde, in der sie seine noch unartikulierte Geste des defensiven Beeindrucktseins aufzugreifen scheint, die flache Hand auf die Brust und sagt nachdrücklich: „Wunderschçn!“ Die Gebärde – protosprachliche Begleitung der semantischen Einschärfung – markiert die Aufforderung zur Kontemplation des Bezugsobjekts. Nur vordergründig wird durch den andächtigen Ernst dieser Innigkeit der spielerische Charakter überschritten: In der ruhigen Betrachtung wird der gerade erst eingeübte Eigen-Sinn des Spiels vielmehr zum freien Spiel der Erkenntniskräfte sublimiert. Kant hatte wie vor ihm Lessing die Metapher des freien Spiels für die ästhetische Kontemplation in voller Absicht gewählt; denn in der selbstbestimmten und sich selbst genügenden Betrachtung ist eine Form der Freiheit zu sehen – „die Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen“, wie es in § 5 der Kritik der Urteilskraft heißt (Kant, 1790, 210); sie impliziert die Freiheit von willensbestimmenden Affekten und Motiven aller Art.3

3

Siehe auch Recki, 2007.

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Das Schöne und die Individualität Das Glück der Liebe zwischen dem Affen und der weißen Frau, augenblickskurz wie alles Utopische, ist radikal gebunden an die Individualität der beiden Protagonisten. Es gibt eine Sequenz, in der die Individuierung der Affekte und Emotionen zu bewegender Anschaulichkeit gebracht wird: In das gefangene Tier, das – in einem Theater am Broadway zur Schau gestellt – völlig apathisch, ja: deprimiert in seinen Ketten hängt, kehrt unversehens das Leben zurück, als die Protagonistin der vulgären Show vor seiner Nase aus dem Bühnenboden hochgekurbelt wird, eine blonde Darstellerin im weißen Cocktailkleid, in der Kreuzigungspose des Opfers dem Monster szenisch preisgegeben, so wie es die weiße Frau auf der legendären Insel beim Menschenopfer der Eingeborenen wirklich war. Kong wird unruhig beim Anblick dieser schlanken Blondine, deren Gestalt an die tatsächliche Heldin seines Urwaldabenteuers erinnert. Die hat sich nach der Rückkehr in die Stadt dem kommerziellen Missbrauch der Kreatur entzogen und bleibt dem Spektakel fern. So durch die kurze Illusion des Wiedersehens reanimiert, kennt Kongs Enttäuschung und kennt sein Furor keine Grenzen, als er beim Blick in ein vulgäres, billig geschminktes Gesicht den theatralischen Betrug wahrnimmt. Er befreit sich tobend aus den Ketten, schlägt das zu Hunderten zählende horrifizierte Sensationspublikum in die Flucht, verwüstet das Theater. Es ist exemplarisch für den rousseauistischen Effekt des Films, dass Kinogänger, deren zivilisatorische Standards keinen Zweifel leiden, diese Sequenz mit dem Bekenntnis kommentieren, sie hätten da so etwas gedacht wie: „Ja! Mach die alle platt!“ Die nichtswürdige Steigerung des Unrechts, das der gequälten Kreatur durch die Gefangenschaft ohnehin schon zugefügt worden ist, im Fake der einzig geliebten Mit-Spielerin dürfte zu diesem identifikatorischen Impuls entscheidend beitragen. Das arme Tier tobt durch die Straßen von Midtown Manhattan. Es greift sich eine schlanke Blondine nach der anderen aus der panischen Menge und wirft sie jedes Mal völlig enttäuscht wieder weg: Es sucht eben nur die eine! Als sie sich dann naht, im weißen Cocktailkleid von mythischer Lichtaureole umstrahlt, kehrt Frieden ein, und wir genießen mit den Protagonisten die bereits geschilderte selbstgenügsame Freude jener Schlitterpartie auf der Eisfläche des Sees im Central Park.

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Theater und Film – die Apotheose des Kinos (ein filmästhetischer Exkurs) Die Puristen unter den Kinogängern neigen, womöglich snobistisch befangen in einem literaturwissenschaftlich erprobten Topos, zu der normativen These, ein filmisches Meisterwerk zeichne sich dadurch aus, dass es stets auch ber Film, ber Kino, ber das Medium und seine Möglichkeiten handle. Wir haben nichts dagegen, Filme wie John Fords „Der Mann, der Liberty Valance erschoß“, Hitchcocks „Fenster zum Hof“, Fellinis „Achteinhalb“, Woody Allens „Stardust Memories“, Peter Weirs „Truman Show“ und Altmans „Gosford Park“ durch diese These gewürdigt zu sehen. Doch ist Mediumreflexivität wirklich unabdingbar? Wie auch immer – man muss kein Purist sein, um wahrzunehmen, mit welcher gleichsam augenzwinkernden Leichtigkeit der neue „King Kong“ diesem Kriterium Genüge tut. Die Rede ist nicht von der Rahmenhandlung einer Filmexpedition auf die sagenhafte Insel in der Südsee und deren Verwicklungen; sie hält sich in ihrer handlungspragmatischen Buchstäblichkeit auf einem eher naiven Niveau. Die Reflexion auf die Überlegenheit des Mediums Film erfolgt vielmehr durch einen so unscheinbaren wie subtilen Kunstgriff – durch die Anstiftung des Zuschauers zu einer naheliegenden Projektion auf die Aussage der Handlung. Zu den großen Ereignissen der Handlung gehört die kathartische Sequenz der Befreiung von den Ketten und die darauf folgende Verwüstung des Theaters. Das Publikum eleganter und blasierter Bürger wohnt dem Furor der Kreatur mit ungläubigem Staunen bei, in das sich mehr und mehr Schrecken und Furcht mischen. Die Frauen sehen ihren Begleitern angstvoll fragend ins Profil, man will es allgemein noch nicht so recht wahrhaben, dass da hier und jetzt das volle Leben in die kunstvoll arrangierte Szene bricht, doch dann greift Panik um sich, und jeder sucht sich zu retten, wie er kann. Bei der großen Menge des Publikums geht es mit der Flucht ins Freie nicht so schnell, wie es gehen sollte. Kong tobt von der Bühne herunter und greift ins Parkett, er erkennt auf einem der Ränge den Liebhaber seiner Geliebten, der sie auf der Insel aus seiner Obhut gestohlen und gerettet hat und dessen Anblick seinen Zorn ins Fürchterliche steigert. Er tobt das schräg ansteigende Parkett hoch und greift in die Ränge. Es ist eine jener Fluchtsequenzen, bei denen sich – trotz allem identifikatorischen Überschuss – die Spannung, der Schrecken auf den Zuschauer überträgt. Und während wir dies, diesen Schrecken und diese Ambivalenz

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erleben und genießen wie der attische Theaterzuschauer die Katharsis der Tragödie, vollziehen wir performativ die Apotheose des Kinos: Es sind die Theaterbesucher, die von ihren Sesseln hochspritzen und davonlaufen müssen. Es sind die Theaterbesucher, die von solchem Einbruch der Natur in die Kunst real bedroht sind; sie sind es, für die es jäh mit der ästhetischen Distanz ein Ende hat. Wir sind im Kino und bleiben ruhig auf unseren Sesseln sitzen. Wir können uns dergleichen vorführen lassen, ohne uns auch nur im mindesten bedroht fühlen zu müssen. Während die Sicherheit des Theaterpublikums sich als bloß scheinbar erweist, sind wir – nach Kant die elementare Voraussetzung, das Schreckliche in der Natur als erhaben ästhetisch genießen zu können – wirklich in Sicherheit. Im Kino.

Der edle Wilde In allen drei „King Kong“-Filmen nimmt das Abenteuer der weißen Frau mit dem Affengott seinen Ausgang bei der Ankunft auf jener sagenhaften Insel, auf deren Entdeckung es der Karrierist der Expedition (ursprünglich der bilder- und abenteuersüchtige Regisseur, bei De Laurentiis 1976 durch den Manager einer Ölfirma ersetzt, bei Jackson im Zuge der Rückkehr zum Original wieder der Regisseur) abgesehen hatte. Die kleine Gruppe von Abenteurern trifft auf ein Volk von Eingeborenen, die beim Anblick der weißen Frau sofort an das Opfer denken, mit dem sie ihren Gott besänftigen können. Im „King Kong“ von 1933 sind diese Eingeborenen putzige Sarottimohren in Baströckchen, wie gemacht zu einem Reklameplakat für ein idyllisches Südsee-Ferienparadies; in „King Kong und die weiße Frau“ von 1976 sind sie athletische Tänzer, die sich auf phantastische Rauschdrogen und eine sehnsuchtsvoll elastische, discogeeignete Musik verstehen. Jede Zeit projiziert mit ihrer eigenen Sehnsucht ihre eigene Lösungsstrategie in das Bild des edlen Wilden. Die Eingeborenen in Jacksons Remake haben nichts Edles. Sie sind elende Existenzen mit allen Anzeichen der Degeneration, mit zahnlosen Schlünden und entzündeten oder fischblinden Augen, die Hände zu mageren Krallen verkümmert, überwuchert von moosig-schleimigem Haargespinst, und die in der Ekstase vor dem großen Frauenopfer dumpf vor sich hinschunkeln. Die Passage des Suchtrupps, der sich auf die Fährte der Entführten begibt, führt über einen mit schauerlichen Skelettresten übersäten Platz, den die Bestie offenbar bei ihren früheren Beutegängen zum Massaker an den Opfern

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benutzt hat. Es sieht so aus, als läge hier die Erklärung für die völlige Depravation dieses Eingeborenenstammes: Mythische Angst hält sie in ihrer Zurückgebliebenheit befangen.4 Nur auf den ersten Blick liegt in dieser Darstellung eine rabiate Absage an den romantischen Rousseauismus. Der Film kann sich die Desillusionierung durch solchen ethnologischen Hyperrealismus aber deshalb leisten, weil er die Entlassung der edlen Wilden aus ihrer Systemstelle im vollen Umfang zu kompensieren vermag. Jede Zeit projiziert ihre eigene Sicht des Edlen auf das Wilde, so hatten wir festgehalten, und das gilt ungeschmälert auch für den neuen „King Kong“ mit seinen denkbar depravierten Wilden; unsere Zeit nämlich projiziert ihre humanistischen Ideen auf das Tier als den edleren Wilden, und sie kann dies tun, weil ihr eine Technik zu Gebote steht, die diese Projektion trägt. Kong ist mit seiner sensiblen Mimik, seinem schnell kultivierten Sinn für das Schöne, seiner protohumanen Intuition für das Authentische, seiner ausgleichenden Gerechtigkeit so lauter und unverdorben, dass er die Identifikation mit dem edlen Wilden herausfordert und aushält. Es ist die Animationstechnik in der Figur des Gorillas, die den Verzicht auf die konventionelle Projektion erträglich macht; denn dieser Verzicht wird im Kontext einer Verschiebung der rousseauistischen Intuition auf die animalische Kreatur entschärft, und diese Verschiebung kann nur gelingen, weil uns die animierten Bilder eine glaubwürdige Identifikationsfigur bieten. Gesichtszüge, Mimik, Handbewegungen, elementare mentale Aktionen und Reaktionen müssen auf überzeugende Weise gezeigt werden – indem sie zeigen, dass da einer das Spiel entdeckt und damit eine Handlung von selbst beginnt. Die Schlussszene macht die Gegenprobe auf diesen Anspruch. Als der große König der Wälder nach aussichtslosem Kampf schließlich vom Empire State Building gestürzt ist, wird die verzweifelte weiße Frau dort zum zweiten Mal von ihrem Liebhaber gerettet. Wirklich – „gerettet“? Der Affengott war zu jedem Zeitpunkt der städtischen Treibjagd der ergebene Liebhaber und umsichtige Beschützer der kleinen weißen Frau. Er war der Held der Handlung, der edle Wilde. Der affizierte Zuschauer bleibt trotz des unzweifelhaften happy endings 4

Zur Phänomenologie des mythischen Bewusstseins, insbesondere seiner Ambivalenz zwischen der Verfallenheit an den unmittelbaren Eindruck und der Befreiung in ersten Akten der symbolischen Artikulation siehe Cassirer, 1925; Cassirer, 1944 Kap. VII. Mythos und Religion, 116–170; siehe auch Recki, 2004 Kap. B. III. Ursprünglichkeit und Aktualität des Mythos, 84–108.

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enttäuscht zurück: Er kann sich selbst im Blick auf einen intellektuellen jugendlichen Liebhaber, der das Zeug zu einem Sympathieträger hat, des Gefühls nicht erwehren, dass das wahre, das eigentliche Liebespaar soeben auf tragische Weise durch den gewaltsamen Tod des Helden entzweit worden ist.

Kleines kulturphilosophisches Postskriptum: „King Kong“ als Illustration grundlegender anthropologischer Theoreme Es dürfte deutlich geworden sein, dass sich der Film „King Kong“ von Peter Jackson durch seine intelligente Anlage wie durch seine realistische Illusionsqualität als Illustration eines Naturalismus der Freiheit (1) eignet, der Freiheit bereits in den Verhaltens- und Entscheidungsspielräumen anderer Lebewesen als des Menschen angelegt sieht und insofern mit der Option eines Hervorgehens von Freiheit aus der Natur den Kompatibilismus für verzichtbar hält. Insofern der Film in der Darstellung des Lernprozesses, den der mythische Gorilla in seinem Umgang mit der weißen Frau durchläuft, protohumane Züge exponiert, ist mit seiner Sicht überdies die anthropologische These vom Spiel als Medium der Menschwerdung zur Geltung gebracht (2). Noch eine weitere These scheint darin gleichsam bebildert und mit Evidenz versehen: Das kulturphilosophische Theorem von der Befreiung durch Symbolisierung (3), in der Ernst Cassirer den grundlegenden und durchgängigen Sinn der Kultur ausmacht. Symbolische Formung in allen ihren Ausprägungen hat ihre Funktion und ihren Effekt darin, „die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden“, heißt es programmatisch (Cassirer, 1923, 10). In solcher Umbildung bildet sich durch den Distanzgewinn der Verobjektivierung für das Subjekt zugleich jener Spielraum der Verfügung über den Gegenstand und sich selbst, in dem Freiheit entspringt. Übrigens: auch eine Theorie der selbsttätigen Entlastung von der Reizüberflutung des Bewusstseins. Der eingängige Refrain der Philosophie der symbolischen Formen behauptet die Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck als vielförmige und mit zunehmender Reflexionsdistanz fortschreitende Dynamik der Freiheit. Symbolische Artikulation ist aber nach diesem Ansatz nicht exklusiv in den Manifestationen der Hochkultur zu sehen – sie reicht als Verkörperung von Sinn in einem

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sinnlichen Medium von den elementaren Ausdrucksakten bis zu den elaborierten Werken. Sprache, Mythos und Religion, Kunst und Wissenschaft sind die symbolischen Formen, in denen sich je eigentümliche „Modalitäten der Sinngebung“ (Cassirer, 1929, 230) realisieren. Zur Sprache gehören indes auch schon die Mimik und die Gebärdensprache als elementare Formen des artikulierten Ausdrucks: „Ein äußerer Reiz greift vom Sensiblen ins Motorische über, aber dies letztere bleibt dabei, wie es scheint, ganz innerhalb des Gebiets der bloßen mechanischen Reflexe, ohne daß sich in ihm vorerst eine höhere geistige ,Spontaneität‘ ankündigte. Und doch ist schon dieser Reflex das erste Anzeichen einer Aktivität, in der eine neue Form des konkreten Ichbewußtseins und des konkreten Gegenstandsbewußtseins sich aufzubauen beginnt“ (Cassirer, 1929, 125). So erläutert Cassirer – mit direkter Überleitung zu Darwins Schrift über den Ausdruck der Gemthsbewegungen bei den Menschen und den Thieren (1872) – seine Auffassung vom mimischen Ausdruck als einer elementaren Weise der Symbolisierung. Wenn wir zusehen, wie sich auf Kongs dumpfer Miene der Ausdruck ungläubigen Staunens und Amüsiertseins abzuzeichnen beginnt, wie er mit zorniger Drohgebärde die widersetzliche Gauklerin gefügig zu machen sucht, wie er im Anblick des Sonnenuntergangs mit ungelenken Händen die Fingerspitzen an die Brust schlägt, werden wir demnach zu Zeugen einer ersten Regung von Freiheit, in der zugleich ein erster und gefährdeter Aufbruch in die Kultur zu sehen wäre – Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck.

Bibliographie Bataille, Georges (1955): Lascaux oder die Geburt der Kunst. Genf: Skira. Cassirer, Ernst (1923): Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. In: Recki, Birgit (Hg.): Gesammelte Werke. Bd. 11. Hamburg 2001: Meiner. Cassirer, Ernst (1925): Philosophie der symbolischen Formen. Teil II: Das mythische Bewußtsein. Hamburg 2004: Meiner. Cassirer, Ernst (1929): Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis. In: Recki, Birgit (Hg.): Gesammelte Werke. Bd. 13. Hamburg 2002: Meiner. Cassirer, Ernst (1944): Versuch ber den Menschen. Einfhrung in eine Philosophie der Kultur. Frankfurt am Main 1990: Fischer. Kant, Immanuel (1790): Kritik der Urtheilskraft. Berlin/New York 1902 ff.: de Gruyter.

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Recki, Birgit (2001): sthetik der Sitten. Die Affinitt von sthetischem Gefhl und praktischer Vernunft. Frankfurt am Main: Klostermann. Recki, Birgit (2004): Kultur als Praxis. Eine Einfhrung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin/New York: Akademie Verlag. Recki, Birgit (2007): Entspannte Intensität und belebender Schock. Eine kleine Phänomenologie der Freiheit in der Kunst. In: Liessmann, Konrad Paul (Hg.): Die Freiheit des Denkens. 10. Philosophicum Lech. Wien: Zsolnay, 219 – 244. Schiller, Friedrich (1795): ber die sthetische Erziehung des Menschen. Stuttgart 1965: Reclam. Wallace, Edgar /Cooper, Merian /Lovelace, Delos W. (2005): King Kong. New York: Modern Library.

Natur und Kultur der Freiheit NORBERT MEUTER 1. Pragmatischer Perspektivendualismus Die Philosophie verwendet – spätestens seit Kants dritter Antinomie der Kritik der reinen Vernunft – große Mengen geistiger Energie darauf, entweder die Kompatibilität oder die Inkompatibilität von Freiheit und Determinismus aufzuzeigen. Das Abstraktionsniveau der Diskussion ist hoch. Ausgehend von Kant selbst erscheint ein pragmatischer Perspektivendualismus immer noch als die beste Lösung. Für Kant sind wir „Bürger zweier Welten“. Die eine Welt – die Welt der Natur – konstruieren wir mit den Kategorien unseres Erkenntnisapparates. Kausalität ist eine dieser Kategorien. Die Welt der Natur erscheint uns daher als vollständig kausal verknüpft. Zu uns selbst jedoch bzw. zum „intelligiblen Charakter“ (Kant, 1976, A440) in uns haben wir noch einen grundsätzlich anderen Zugang. Wir erkennen uns selbst „durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen“. (Kant, 1976, A545). Nur handelt es sich dabei nicht um ein theoretisches Erkennen, sondern um einen praktischen bzw. normativen Selbstbezug. Wir können uns nämlich bei jeder Handlung fragen, ob wir auch so handeln sollen, wie wir handeln wollen. Das Sollen drückt, so Kant „eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt“. (Kant, 1976, A547). Wir können in der Tat nicht fragen, was in der Welt der Natur geschehen soll. Das Sollen zielt auf eine mögliche Handlung, deren Ursache „nichts anderes, als ein bloßer Begriff ist“. (Kant, 1976, A547). Es handelt sich aber um keine Ursache im kausalen Sinne der Natur, sondern um einen Grund der Vernunft, der nicht angibt, was faktisch geschieht, sondern vorschreibt, was in der Welt des Handelns geschehen sollte. Man darf diese „Zwei-Welten-Lehre“ allerdings nicht ontologisch verstehen, sondern als eine Aspekt- bzw. Beschreibungsdifferenz. Es sind nicht zwei Welten (das ist nur eine Metapher), sondern eine

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Wirklichkeit, die in zwei Perspektiven beschrieben werden kann. In der einen Perspektive suchen wir nach kausalen Beziehungen zwischen natürlichen Ereignissen, in der anderen nach praktischen Gründen, die unser Handeln frei – d. h. „unangesehen aller empirischen Bedingungen“ (Kant, 1976, A555) – bestimmen sollten. Freiheit bezeichnet also diejenige Lebensform oder dasjenige Sprachspiel, in dem wir bereit sind, empirische Ursachen zugunsten von Gründen aus der Bewertung des Handelns auszuschließen. Die Annahme der Freiheit ist die regulative Idee des sozialen Handelns, die Annahme der Kausalität die regulative Idee der Naturwissenschaften. Da sich mit regulativen Ideen jedoch keine Wahrheitsansprüche verknüpfen lassen, handelt es sich bei „Freiheit“ und „Kausalität“ um Konzepte, die unserem Handeln in unterschiedlichen Kontexten eine sinnhafte Orientierung geben. Auch Wolf Singer sieht sich offenbar zu dieser pragmatischen Lösung gezwungen, wobei eine mögliche theoretische Integration der beiden Perspektiven für ihn ein offenes Problem bleibt: Die zwei komplementären Beschreibungssysteme existieren auch im Hirnforscher alltäglich nebeneinander. Ich kann bei der Erforschung von Gehirnen nirgendwo ein mentales Agens wie den freien Willen oder die eigene Verantwortung finden – und dennoch gehe ich abends nach Hause und mache meine Kinder dafür verantwortlich, wenn sie irgendwelchen Blödsinn angestellt haben. […] Wir sind gespalten zwischen dem, was wir aus der Erste-Person-Perspektive über uns wahrnehmen, und dem, was uns wissenschaftliche Analyse aus der Dritte-Person-Perspektive über uns lehrt. Wir müssen in beiden Welten gleichzeitig existieren. Trotzdem vermute ich, dass wir irgendwann eine Metasprache finden werden. (Singer, 2003, 12; 22)

Bei allen Differenzen zielt Jürgen Habermas in eine durchaus ähnliche Richtung. Der „Dualismus von Erklärungsperspektiven und Sprachspielen“ habe zwar „nur einen methodischen, keinen ontologischen Sinn“, aber es komme dennoch darauf an, ihn mit „einer monistischen Auffassung des Universums, die unserem Bedürfnis nach einem kohärenten Bild der Welt entgegenkommt, in Übereinstimmung“ zu bringen (Habermas, 2005, 166 f.). Habermas stört sich daher an einer nur pragmatischen Fundierung der Perspektiven. Die „Wahrheit von Theorien“ gehe „im Erfolg der Instrumente, die wir mit ihrer Hilfe konstruieren können, nicht auf“. (Habermas, 2005, 170). Wir müssten daher „das, was wir von Kant über die transzendentalen Bedingungen unserer Erkenntnis gelernt haben, mit dem, was uns Darwin über die natürliche Evolution gelehrt hat, in Einklang bringen“. (Habermas,

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2005, 156 f.). Wie kann ein solcher Versuch, „Kant mit Darwin [zu] versöhnen“ (Habermas, 2005, 175), aber aussehen? Gibt es wirklich eine Metasprache, mit der sich beide Perspektiven zugleich erfassen lassen? Diese Frage ist vom heutigen Standpunkt aus sicher nicht zu beantworten. Man kann aber versuchen, beide Perspektiven in ein Gespräch zu bringen. Dazu sollte man jedoch, so mein Vorschlag, die schematische und abstrakte Gegenüberstellung von Freiheit und Determinismus versuchsweise einmal verlassen. Die begrifflichen Argumente sind hinreichend formuliert.1 Stattdessen könnte man, zunächst einmal unabhängig von den Engführungen der eingespielten Diskussion, nach inhaltlich sinnvollen Verständnissen von Freiheit fragen, die sich aus den jeweiligen Perspektiven der Wissenschaften (Dritte-Person) und der Philosophie (Erste-Person) entwickeln lassen.2 Dazu will ich im Folgenden unter den Titeln Natur der Freiheit und Kultur der Freiheit einige Aspekte skizzieren. Die Begriffe „Natur“ und „Kultur“ stehen somit im Folgenden für zwei unterschiedliche Problemzugänge: Der erste zielt auf die Frage, ob und wie sich ein naturwissenschaftlicher – und insbesondere ein evolutionstheoretischer – Freiheitsbegriff entwickeln lässt; der zweite darauf, welches Freiheitsverständnis sich aus einer genuin philosophisch-phänomenologischen Reflexion entwickeln läßt. Abschließend werde ich auf mögliche Bezugspunkte zwischen beiden Verständnissen eingehen.

2. Die Natur der Freiheit In einer evolutionstheoretischen Perspektive muss Freiheit sich als ein adaptives Verhaltensmerkmal beschreiben lassen, dass sich im Prozess der biologischen Evolution ausgebildet hat. Es muss sich um einen entsprechend weiten Freiheitsbegriff handeln, der seine Grundlage im natürlichen Verhalten lebendiger Organismen besitzt, also nicht ex1 2

Vgl. z. B. die vorzügliche Darstellung bei Pauen, 2004, der selbst eine kompatibilistische Position entwickelt. Die Identifizierung der Wissenschaften mit der Dritte- und der Philosophie mit der Erste-Person-Perspektive kann heuristisch in Anspruch genommen werden, insofern das Ideal der Wissenschaften auf die Generierung eines methodisch kontrollierten, subjektunabhängigen Wissens, das der Philosophie auf die Artikulation der individuellen Aspekte von Erfahrungen zielt (auch wenn Philosophie stets mehr als nur das ist).

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klusiv auf die menschliche Existenz – oder sogar auf das Handeln aus Gründen – zu beziehen ist. Zumindest Vorformen und Tendenzen zur Freiheit müssen sich auch schon im tierischen Verhalten finden lassen. Als ein naheliegender Kandidat für ein solches adaptives Merkmal kommt das allmähliche Überlagern und Ergänzen von Reflexbögen bzw. schematischen Reiz-Reaktions-Ketten durch flexiblere Verhaltensformen bei höher entwickelten Organismen in Frage.3

Komplexität der neuronalen Systeme Das Überlagern von Reiz-Reaktions-Ketten ist organisch an die zunehmende Komplexität der neuronalen Systeme der Organismen gebunden. Einfache Organismen (z. B. Seeanemonen) haben nur ein einziges Neuron, das zur Reizaufnahme, Reizverarbeitung und reaktivem Verhalten dient. In einem nächsten Entwicklungsschritt (z. B. bei einigen Quallenarten), sind die sensorischen und motorischen Funktionen auf zwei Neurone verteilt. Dies erlaubt sehr schnelle Reflexbögen, das sind zweischichtige Verschaltungen, die effektiv ein schematisiertes motorisches Verhalten in Bezug auf einen spezifischen Reiz ermöglichen. Im Verlauf der Evolution werden die neuronalen Systeme immer komplexer und binnendifferenzierter.4 Säugetiere bilden ein voll zentralisiertes System aus. Das Gehirn des Menschen enthält dabei ca. hundert Milliarden Nervenzellen. Die Zahl der neuronalen Verbindungen ist noch bei weitem höher. Man schätzt die Zahl der Synapsen allein zwischen den Nervenzellen der Großhirnrinde auf viele Billionen. Die in unserem Zusammenhang vielleicht entscheidende Besonderheit dieses hochkomplexen neuronalen Systems besteht darin, dass die Zahl derjenigen Neurone, die in direkter Weise am sensorischen Input und motorischem Output beteiligt sind – verglichen mit der Zahl der internen Verschaltungen – sehr gering ist. „Man schätzt“, so Ger3

4

Zu dieser Perspektive auf den Freiheitsbegriff vgl. u. a. Goschke/Walter, 2005; auch Pauen betont: „Im Verlauf der Evolution haben sich unterschiedliche Formen der Verhaltenssteuerung ausgebildet; sie unterscheiden sich vor allem in der Variabilität und Komplexität der Informationen, die verarbeitet werden können, und der Variabilität des Verhaltens, das für die Reaktion zur Verfügung steht.“ (Pauen, 2004, 188). Zum Thema vgl. auch den klassischen Aufsatz von Dewey, 1896. Vgl. Oeser/Seitelberger, 1995, 25 ff.

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hard Roth, „dieses Verhältnis rund Eins zu Hunderttausend, d. h. die Beschäftigung des Cortex mit sich selber ist hunderttausendmal stärker als die Kommunikation mit dem, was außerhalb der Großhirnrinde sonst noch passiert.“ (Roth, 2003, 24). Die Neurowissenschaftler sprechen hier von „Interkonnektivität“ (Oeser/Seitelberger, 1995, 25). Da Gehirne sich jedoch nicht in einem „Tank“,5 sondern in einem lebendigen Körper befinden, ist die Evolution des Gehirns stets im Zusammenhang mit der Ausbildung komplexerer Verhaltensweisen des Organismus in Bezug auf seine Umwelt zu sehen. Vor allem bei der Evolution der Säugetiere ist zu beobachten, dass das gesamte Verhalten bei gleichzeitig zunehmender neuronaler Zentralisierung flexibler wird. Es bilden sich neuronale Repräsentationen nicht nur der sensorisch erfassten Umweltereignisse, sondern auch der eigenen motorischen Aktionen. Die ab den höheren Tierprimaten und dann insbesondere bei den Hominiden zu beobachtende Entspezialisierung des Verhaltens setzt ein hochkomplexes neuronales Zentralsystem voraus, dass über Gedächtnisleistungen, die Fähigkeit zum Lernen und zu emotionalen Bewertungen eine erhebliche individuelle Modifikation des Verhaltens in Bezug auf wechselnde Umwelt- und Situationsbedingungen erlaubt. Das Verhalten des Organismus wird insgesamt offener. Dies bedeutet bei nichtstabilen Umweltverhältnissen einen enormen evolutionären Vorteil. Das Neue und Nichtvorhersehbare wird für das Verhalten integrierbar. Diese Offenheit und Flexibilität des Organismus verdankt sich – scheinbar paradox – der zunehmenden Schließung des neuronalen Systems durch Interkonnektivität. Der Organismus gewinnt durch die Zunahme der internen Verschaltungen seines Gehirns eine „Eigenzeit“ und einen „Spielraum“. Er muss nicht mehr unmittelbar und direkt auf die sensorisch erfasste Umwelt reagieren, sondern das Gehirn erlaubt durch die interne Kombination von Gedächtnis und Lernen für das Verhalten einen Aufschub und die Abwägung von Möglichkeiten sowie schließlich auch die kreative Erschließung neuer Verhaltensoptionen. Menschen – und ansatzweise auch höhere Tierprimaten – reagieren nicht nur auf ihre Umwelt, sondern suchen eigenständig nach neuen und manchmal überraschenden Antworten. Die neuronalen Grundlagen der Kreativität sind Gegenstand jüngster neurowissenschaftlicher Forschungen. Von zentraler Bedeutung ist dabei, so François Ansermet und Pierre Magistretti, das Phä5

Vgl. hierzu den Beitrag von Olaf Müller in diesem Band.

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nomen der Plastizitt. Man kann inzwischen zeigen, dass jede Erfahrung, die der Organismus macht, auf neuronaler Ebene „Spuren“ hinterlässt: „Die Verbindungen zwischen den Neuronen werden beständig durch die Erfahrung verändert, und die Veränderungen sind sowohl strukturell als auch funktional. Das Gehirn muss also als ein äußerst dynamisches Organ betrachtet werden, das in ständiger Beziehung zu seiner Umgebung steht.“ (Ansermet/Magistretti, 2005, 20) 6. Die Autoren ziehen daraus direkte Konsequenzen für die Freiheitsdiskussion: Aufgrund der Plastizität des Gehirn erweise sich „jedes Individuum als einzigartig und unvorhersehbar“, es reiche „über die Bedingungen, die seine genetische Ausstattung mit sich bringt, hinaus“ und könne daher „als biologisch zur Freiheit bestimmt angesehen werden“ (Ansermet/Magistretti, 2005, 21; 26).

Komplexität der sozialen Verhältnisse Ein weiterer Aspekt erschließt sich durch Einbeziehung der sozialen Sphäre. Auch und gerade im Bereich des Sozialen lässt sich eine zunehmende Entschematisierung des Verhaltens beobachten. Verglichen mit dem Sozialleben z. B. vieler Insektenarten zeigen höhere Tierprimaten ein hohes Maß an sozialer Individualisierung. Freilebende Schimpansen bilden Gruppen von über 50 Mitgliedern. Charakteristisch dabei ist, dass sich die Gruppen in kleinere Untergruppen mit häufig, oft täglich wechselnder Besetzung aufteilen, ohne dass der Gesamtzusammenhang aufgegeben wird. Die Primatologen sprechen von einer fission-fusion-Struktur.7 In den Gruppen und Untergruppen befinden sich erwachsene Tiere beiderlei Geschlechts sowie Jungtiere jeden Alters. Entlang von (matrilinearen) Verwandtschaftslinien gibt es langfristige Koalitionen, kurzfristige Bündnisse und besondere Rivalitäten und Freundschaften, wobei Hierarchieverhältnisse mit einem Alpha-Tier an der Spitze ordnungsbildend sind. Schimpansen etwa können – wie viele 6 7

Auch Roth diskutiert Kreativität als „Plastizität neuronaler Netze“ (Roth, 2001, 181–187). Vgl. Boesch/Boesch, 2000, 89 f. Boehm sieht in der fission-fusion-Struktur „an important clue for the origins of the human type of communication system, which is so vocally dominated. This is because these highly social primate individuals are constantly changing sub-group membership within territorial community, and communicate their locations to one another for a variety of purposes.“ (Boehm, 1992, 328).

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andere Tierprimaten auch – nicht nur ihre eigene soziale Rangposition, sondern auch die Dominanzbeziehungen zwischen den anderen Mitgliedern erkennen; ein Wissen, das es ihnen erlaubt, eine Ranghierarchie ihrer Gruppengenossen zu konstruieren.8 In einer solchen sozialen Umgebung bedeutet es für das Individuum ohne Zweifel einen adaptiven Vorteil, wenn es sich immer besser in die emotionale Situation der sozialen Interaktionspartner hineinversetzen kann. Die auch in der Forschung kontrovers diskutierte Frage in diesem Zusammenhang ist, ob und inwieweit man den höheren Tierprimaten bereits Empathiefähigkeiten bzw. eine „Theorie des Geistes“9 unterstellen darf. Mir kommt es hier jedoch auf einen anderen Punkt an. Die komplexe und offenbar höchst anregende soziale Umgebung impliziert noch einen weiteren Vorteil. Sie erlaubt – vor allem den Jungtieren – das Aus- und Durchleben nicht-funktionaler Situationen.10

Mimesis in nicht-funktionalen Situationen Ähnlich wie beim Menschen sind die Jungtiere höherer Tierprimaten von der unmittelbaren Existenzsicherung entlastet, so dass es ihnen möglich ist, sich ihre Umwelt – und vor allem: ihre soziale Umwelt – spielerisch anzueignen.11 Und wie beim Menschen besteht die erste Form dieses Weltzugangs in Mutter-Kind-Spielen.12 Nach ca. vier bis fünf Monaten werden diese zunehmend abgelöst von Spielen unter Gleichaltrigen (peer play). Insbesondere das konzentrierte Beobachten 8 Tomasello sieht hier den entscheidenden Unterschied zwischen Primaten und den übrigen Säugetieren: „Was den sozialen Bereich angeht, so haben nur Primaten, aber keine anderen Säugetiere, ein Verständnis von sozialen Beziehungen Dritter, also von Beziehungen, die zwischen anderen Individuen bestehen, beispielsweise verstehen sie Verwandtschafts- und Dominanzbeziehungen, die andere Individuen untereinander haben.“ (Tomasello, 2002, 27). 9 Vgl. dazu den Beitrag von Julia Fischer in diesem Band. 10 Jedenfalls nicht unmittelbar funktional; im weiteren Verlauf evolutiver Prozesse können sich natürlich Funktionen anschließen (hier z. B. soziale Stabilität). 11 Vgl. dazu den Beitrag von Eva-Maria Engelen in diesem Band. 12 „Like human mothers, great ape mothers engage their motorically helpless infants in vestibular play, dangling and swinging them in the air, tickling an poking them, and pushing and pulling them. Like human infants, great ape infants respond with the play face (relaxed, open mouth face), and panting vocalizations, and expectant watching of their mothers.“ (Taylor-Parker/ Milbrath, 1994, 119).

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und mimetische Nachahmen von expressiven facial displays der anderen spielt dabei eine große Rolle.13 Die vom Verhaltensdruck entlastete Spielsituation trägt dazu bei, dass mimetische Experimente mit dem Ausdruck möglich sind. Im Spiel muss man z. B. nicht immer in der gleichen Weise auf den Ausdruck eines anderen reagieren, da buchstäblich nichts oder doch nur sehr wenig auf dem Spiel steht. Variationen in Bezug auf Intensität und übriges Verhalten sind für alle Beteiligten möglich. Es ist anzunehmen, dass sich dieser Bereich expressiv-mimetischer Kreisprozesse bei der Hominidenentwicklung weiter ausbildet, stabilisiert und höhere Niveaus erreicht. Der Ausdruck gerät unter zunehmende Kontrolle, löst sich im spielerischen Umgang ab von seiner relativ festen Einbindung in bestimmte Verhaltensmuster, erlangt so eine immer stärkere Eigendynamik und kann schließlich auch in nichtentlasteten Situationen eingesetzt werden. Ein weiteres mimetisches Spielverhalten, das sich ansatzweise bereits bei höheren Tierprimaten finden lässt, sind kollektive mimetische Akte. Frans de Waal berichtet z. B., dass sich „heranwachsende“ Schimpansen im Arnheimer Zoo „einen Spaß daraus [machten], in einer Reihe hinter einer [Schimpansen-] Frau herzumarschieren, die Krom hieß, was soviel wie ,verkrüppelt‘ bedeutet, allesamt im gleichen gravitätischen Gang. Gelegentlich stützen sie sich beim Gehen auch auf beide Handgelenke […] und ahmten so die unbeholfene Fortbewegung eines erwachsenen Mannes in der Gruppe nach, dessen Finger bei einem Kampf übel zugerichtet worden waren.“ (Waal, 2000, 93). Auch hier sind es offenbar die Jungtiere, die das neue Verhalten initiieren, und es handelt sich wiederum um entlastete Situationen jenseits eines existentiellen Zwangs, sich in einer bestimmten Weise verhalten zu müssen. Auch wenn man berücksichtigt, dass es sich hier um singuläre Beobachtungen handelt und zudem von Tieren stammt, die nicht in ihrer natürlichen Umgebung leben, zeigt sich doch in prägnanter Weise das Potential zu nicht funktional orientierten Akten kollektiver Nachahmung. Bei solchen Verhaltensformen greift der mimetische Prozess auf mehrere Individuen oder sogar die ganze Gruppe über. Man kann hier durchaus die ersten Anfänge eines spontanen rituellen Verhaltens erkennen.

13 „Great ape youngsters also learn to calibrate their dominance displays by engaging in teasing, provoking, and imitation games aimed at adults. Thes games generate new tripartite relationships among peers, their reatives, and other animals.“ (Taylor-Parker/Milbrath, 1994, 119).

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Ein weiteres Beispiel geht bereits über den Bereich der leiblichen Mimesis hinaus. De Waal berichtet von mimetischen Verhaltensweisen in Bezug auf, wie er sagt, „absolut nutzlose Aktivitäten“: Die Mitglieder einer bestimmten Population von Japanmakaken sammeln Kieselsteine, transportieren sie an einen ruhigen Platz, breiten sie vor sich aus, reiben und schlagen dann die Steine aneinander, wobei zwar ein lautes klickendes Geräusch, aber kein sichtbarer Nutzen entsteht. Dieses offensichtlich nicht funktionale Verhalten (stone handling) wird von den nachwachsenden Jungtieren intensiv beobachtet und nachgeahmt (Waal, 2002, 217 f.).14 Die angeführten Beispiele eines nicht-funktionalen mimetischen Verhaltens markieren vielleicht die am weitesten entwickelten Phänomene, die man im Kontext einer „Natur der Freiheit“ findet. Das schematische Verhalten auf bestimmte Umweltreize ist weitgehend aufgelöst und hat einem spielerischen Umgang mit sozialen Interaktionspartnern Platz gemacht, in dem sich kreativ neue Verhaltensweisen ausbilden können. Die Beispiele enthalten aber noch einen weiteren wichtigen Hinweis. In dem beschriebenen mimetischen Verhalten lassen sich nämlich auch die ersten Schritte hin zu einem symbolischen Weltverhältnis erkennen. Die nicht funktionale mimetische Expressivität bildet das Material, an dem Symbolisierungsakte anschließen können.15 Symbolisierung Ob und in welcher Weise bereits höhere Tierprimaten zu symbolischen Leistungen in der Lage sind, kann hier offen bleiben. Aus evolutionstheoretischer Sicht müssen sich jedenfalls auch diese Leistungen im langen Prozess der Hominidenentwicklung ausgebildet haben, und zwar – sollen sie nicht von einem metaphysischen oder transzendentalen Himmel gefallen sein – auf natürlichem Weg! Phylogenetisch sind also Vorstufen und Vorformen der Symbolisierung anzunehmen. Systematisch kommt es auf die Unterscheidung von Signalen und Symbolen an.16 14 Eine ausführliche Dokumentation dieses Verhaltens findet sich bei Huffmann, der ebenfalls den nicht-funktionalen Status des stone handling betont (Huffman, 1996). 15 Diese These müßte natürlich ausführlicher begründet werden, vgl. hierzu Meuter, 2006a, 291–360. 16 Zu dieser Unterscheidung vgl. Cassirer, 1996, 57 f.

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Symbole unterscheiden sich von Signalen vor allem durch zwei Struktureigenschaften: – Reprsentation: Signale binden den Organismus an die momentan durchlebte Situation; sie haben eine bloß situative Relevanz. Dagegen erlauben es Symbole, die Grenzen einer Situation – d. h. das, was durch sinnliche Wahrnehmung verfügbar ist – zu überschreiten. Das Verhalten orientiert sich nicht mehr nur noch an dem, was räumlich und zeitlich aktuell präsent ist, sondern auch an dem, was durch das Symbol repräsentiert wird. Symbole können nicht-anwesende Dinge oder Ereignisse in einer Situation verfügbar machen. Erst dadurch wird schließlich auch zielorientiertes Handeln möglich. Das nichtanwesende Ziel wird durch seine symbolische Repräsentation zum Bezugspunkt des Verhaltens. – Perspektivitt: Symbolischer Weltbezug erlaubt aber nicht nur das Überschreiten von konkreten Situationen, sondern auch und zunächst die Möglichkeit zu einem vielfältigen, nicht schematisch festgelegten Verhalten in einer Situation. Symbolisch wahrnehmen heißt: verschieden wahrnehmen, nicht festgelegt sein auf nur eine Möglichkeit.17 Der Zusammenhang zum Freiheitsproblem wird an dieser Stelle deutlich. Aufgrund der beiden Struktureigenschaften ermöglicht ein symbolischer Weltbezug – im Unterschied zu einem nur signalhaften Reagieren auf Umweltreize – einen doppelten Freiheitsgewinn: Der

17 Vgl. hierzu Tomasello: „Wenn das Kind die sprachlichen Symbole seiner Kultur zu beherrschen lernt, erwirbt es dadurch die Fähigkeit, vielfältige Perspektiven auf ein und dieselbe Wahrnehmungssituation einzunehmen. Als perspektivenbasierte, kognitive Repräsentationen beruhen also sprachliche Symbole nicht auf der Registrierung unmittelbarer sensorischer oder motorischer Erfahrungen, wie es bei den kognitiven Repräsentationen anderer Tierarten oder bei Kleinkindern der Fall ist. Vielmehr gründen sie in den verschiedenen Kategorisierungen, die Individuen aus einer gewissen Anzahl von Möglichkeiten auswählen, welche durch die anderen verfügbaren sprachlichen Symbole verkörpert sind, die sie ebenfalls wählen könnten. Sprachliche Symbole befreien somit die menschliche Kognition von der unmittelbaren Wahrnehmungssituation nicht einfach dadurch, dass sie eine Bezugnahme auf Dinge außerhalb dieser Situation ermöglichen („Verschiebung“), sondern vielmehr durch die Ermöglichung verschiedenartiger, gleichzeitiger Repräsentation aller vorstellbaren Wahrnehmungssituationen.“ (Tomasello, 2002, 19).

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Organismus ist in seinem Verhalten nicht mehr an die aktuell durchlebte Situation gebunden und kann zudem in der Situation flexibler agieren.18 Soweit der Versuch einer an der Evolutionstheorie orientierten Skizze über die „Natur der Freiheit“. Ich möchte nun – unter dem Titel „Kultur der Freiheit“ – versuchen, die Annäherung auch von der anderen Seite – d. h. der Perspektive der Philosophie – ein Stück weit zu betreiben. Auch hier kommt es darauf an, den Freiheitsbegriff zunächst möglichst weit zu fassen und sich nicht durch die Engführungen der Determinismus-Diskussion beschränken zu lassen.

3. Die Kultur der Freiheit Prinzip der alternativen Möglichkeiten In der philosophischen Diskussion wird Freiheit zumeist in Bezug auf das so genannte „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“ bestimmt.19 Nach diesem Prinzip kann das Handeln einer Person dann als frei bezeichnet werden, wenn die Person unter den gegebenen Umständen auch anders handeln könnte. Ein freies Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass bei unveränderten Kontextbedingungen eine oder mehrere Handlungsalternativen existieren, von denen jede tatsächlich realisiert werden könnte. Das Prinzip der alternativen Handlungsmöglichkeiten ist durchaus nahe an unseren lebensweltlichen Intuitionen, insofern ist es nicht falsch. Aus einer Vielzahl von Gründen ist es jedoch problematisch: Es steht z. B. in Konflikt mit einem anderen wichtigen Prinzip der Freiheit – dem „Prinzip der Urheberschaft“20 –, es lässt sich, da identische Kontextbedingungen nicht vollständig reproduzierbar sind, empirisch nicht überprüfen und es verdeckt den phänomenalen Gehalt wirklicher

18 Ein drittes freiheitsrelevantes Merkmal des Symbolbegriffs könnte in der Arbitrarität (sprachlicher) Zeichen gesehen werden: dadurch lässt sich der Übergang vom Erleben zum Ausdruck nicht mehr abbildtheoretisch verstehen und wird strukturell „frei“. 19 Vgl. hierzu Pauen, 2004, 106 ff. 20 Vgl. Pauen: Durch eine strenge Fassung des Prinzips „würde man die Handlung vom Eintreten eines Zufalls abhängig machen und damit von einer Bedingung, auf die die Person keinen Einfluss hat“ (Pauen, 2004, 131).

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Entscheidungsprozesse.21 Ein weiterer Nachteil könnte darin bestehen, dass die abstrakte Fassung des Prinzips geradewegs in die fruchtlose Kontroverse zwischen Freiheit und Determinismus führt. Dies zeigt sich vielleicht besonders gut an den Libet-Experimenten, deren Design direkt der Logik des Prinzips entsprungen scheint.22 Sich innerhalb von drei Sekunden für eine von zwei vorgegebenen und vollständig bestimmten Alternativen zu entscheiden, erzeugt im Hinblick auf das Freiheitsproblem jedoch eine Scheinklarheit. Gerhard Roth hält in der Tat den Versuchsaufbau für vollkommen ausreichend, um die Struktur des Problems zu erfassen: Es sei gleichgültig, „ob es sich um den linken oder rechten Tastendruck oder um das Verkaufen oder Nichtverkaufen eines Aktienpaketes“ handele, wichtig sei allein die Wahl zwischen zwei Alternativen (Roth, 2001, 442). Entweder wir haben diese Wahl oder wir haben sie nicht – tertium non datur. Die Diskussion ist an diesem Punkt im Prinzip beendet. Inhaltliche Fragen nach einem sinnvollen Verständnis von Freiheit brauchen erst gar nicht mehr gestellt zu werden. Das Prinzip der alternativen Möglichkeiten ist also kein guter philosophischer Ausgangspunkt. Man sollte den Freiheitsbegriff nicht – jedenfalls nicht zunächst und ausschließlich – auf isolierte und schon bestimmte – z. B. durch moralische oder rationale Gründe bestimmte – Handlungsoptionen beziehen. Worauf aber dann? Eine mögliche Antwort besteht darin, konsequent die Erste-Person-Perspektive auszuschreiben. Dies bedeutet, den Begriff von seiner erlebten Bedeutung her zu erfassen, die er für das einzelne Individuum besitzt.

Freiheit als individuelles Selbst- und Weltverhältnis Entsprechend zielt der im Folgenden zu skizzierende Vorschlag darauf, Freiheit als ein Aspekt des individuellen Selbst- und Weltverhltnisses aufzufassen. Die Referenz des Freiheitsbegriffs wird damit verschoben auf ein Phänomen, das in Philosophie, Psychologie und Soziologie unter dem Begriff der Identitt untersucht wird. Die Identität einer Person ist etwas, das sich in – vor allem in narrativen23 – Selbstorganisations-, aber 21 Auf den zuletzt genannten Punkt komme ich weiter unten mit Henri Bergson noch einmal zurück. 22 Vgl. Libet, 2004, 2005 und zu einer Kritik u. a. Pauen, 2004, 187 ff., sowie Herrmann et al., 2005. 23 Vgl. hierzu Meuter, 2004.

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Abb. 1

auch in Selbstreflexionsprozessen ausbildet, entwickelt und permanent verändert. Dadurch erhält auch der Freiheitsbegriff eine grundsätzlich prozessuale Form. Freiheit verstanden als ein Aspekt individuellen Selbst- und Weltverhältnisses zielt auf einen Prozess der Befreiung, genauer einen Prozess der Selbstbefreiung. Freiheit ist demnach auch kein Entweder/Oder-Begriff, sondern kennt durchaus unterschiedliche Grade. In der philosophischen Tradition findet sich bei Henri Bergson eine Konzeption, auf die man bei der Entwicklung eines solchen Freiheitsbegriffs zurückgreifen kann.24

Konzeption von Bergson Die Konzeption Bergsons beginnt mit einer phänomenologischen Kritik am Prinzip der alternativen Möglichkeiten. So plausibel das Prinzip auf den ersten Blick auch erscheint, es verfehlt jedoch den phänomenalen Gehalt wirklicher Entscheidungsprozesse. Es bedeutet nämlich eine hochschematisierende Vereinfachung von Abläufen, die tatsächlich viel komplexer sind. Bergson bringt das Prinzip der alternativen Möglichkeiten in folgende Figur (Abb. 1). O ist der Entscheidungspunkt, X und Y die beiden Handlungsoptionen, mit der geschlängelten Linie MO soll das Oszillieren angedeutet werden, das der Entscheidung vorausgehen kann. Entscheidungen sind jedoch keine punktuell stattfindenden Ereignisse, sondern weisen eine mehr oder weniger lange zeitliche Erstreckung auf. Der isolierte Punkt 24 Da Bergson in der aktuellen Freiheitsdiskussion so gut wie keine Rolle spielt, werde ich etwas ausführlicher auf seine Konzeption eingehen.

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Abb. 2

O ist eine Abstraktion, er ist in Wirklichkeit der nicht-herauslösbare Teil eines Prozesses. Bergson schlägt daher eine vollkommen andere Darstellung vor (Abb. 2). Diese Figur muss zunächst verwundern. Was besonders auffällt, ist das Fehlen einer Gabelung in die verschiedenen Alternativen X und Y. Aber Bergsons Position ist in der Tat genau die, dass es diese beiden Alternativen gar nicht gibt, zumindest nicht im Sinne von Möglichkeiten, die bereits klar und deutlich strukturiert sind und die nur noch realisiert werden müssten. Die scheinbar in sich vollkommen bestimmten Alternativen X und Y sind theoretische Handlungskonstruktionen. Die konkret sich ereignende Wirklichkeit lässt sich jedoch mit keiner Konstruktion erfassen: „Ich mag mir noch so sehr im einzelnen vorzustellen versuchen, was mir zustoßen wird: wie arm, abstrakt, schematisch ist doch eine solche Vorstellung im Vergleich zu dem dann wirklich eintretenden Ereignis! Die Verwirklichung bringt ein unvorhersehbares gewisses Etwas mit sich, das alles verändert“. (Bergson, 1985, 110). Für Bergson zeigt sich im Prinzip der alternativen Möglichkeiten ein grundsätzlich falsches bzw. verkürztes Verständnis über das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit. Das Prinzip geht von der Vorstellung aus, dass „die Möglichkeit der Dinge ihrer Existenz vorausgeht“; die Alternativen X und Y können daher „vor ihrer Verwirklichung gedacht werden“ (Bergson, 1985, 119). Genau dies ist jedoch falsch: anzunehmen, „das Mögliche wäre von vornherein dagewesen wie ein Gespenst, das auf die Stunde seines Erscheinens wartet; es wäre also Wirklichkeit geworden durch Hinzufügung von irgend etwas“ (Bergson, 1985, 121). Es ist vielmehr umgekehrt so, dass die Möglichkeit der bereits abgelaufenen Wirklichkeit etwas hinzufügt: „das Wirkliche schafft das Mögliche, und nicht das Mögliche das Wirkliche“ (Bergson, 1985, 124). Das Mögliche wird retrospektiv erstellt, es ist „das Wirkliche mit einem zusätzlichen Geistesakt, der dieses Wirkliche, wenn es einmal da ist, in die Vergangenheit zurückwirft“ (Bergson, 1985, 119). Die erste Figur bildet daher auch nicht den konkreten Prozess des Entscheidens ab, sondern eine gewissermaßen zeitlose Situation oder

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zumindest die Situation nach einer bereits vollzogenen Entscheidung. Das Prinzip der alternativen Möglichkeiten funktioniert nur, wenn man mit der Hypothese eines schon gefassten Entschlusses operiert. Es zeigt „die Handlung nicht, wie sie sich vollzieht, sondern die bereits vollzogene Handlung“ (Bergson, 2006, 135). Im Prozess des Entscheidens selbst finden sich jedoch höchstens Richtungen, die überhaupt noch keine klare Bestimmung besitzen und die einem beständigen Prozess der Veränderung ausgesetzt sind, weil – und dies ist eine von Bergsons zentralen Einsichten – auch das Ich oder das Subjekt der Entscheidung sich in einem permanenten Prozess der Entwicklung befindet: Dadurch, dass ich bestimmte Möglichkeiten erwäge, verändere ich mich selbst und dadurch wiederum erscheinen auch die Möglichkeiten in einem neuen Licht.25 Bergson wählt daher für freie Entscheidungen auch eine ganz andere Metapher als die der Weggabelung: Es wird dabei dann als ausgemacht zu gelten haben, daß dies [die Alternativen X und Y] symbolische Vorstellungen sind und daß es in Wirklichkeit nicht zwei Tendenzen, selbst nicht zwei Richtungen gibt, wohl aber ein Ich, das da lebt und sich gerade vermittelst seiner Schwankungen soweit entwickelt, bis die freie Handlung sich von ihm ablöst gleich einer überreifen Frucht. (Bergson, 2006, 132).

Mit dem Bild der „überreifen Frucht“ verschiebt sich die Vorstellung dessen, was eine freie Handlung sein kann, in einer grundsätzlichen Weise: Eine freie Handlung entwickelt sich, und sie stellt einen konzentrierten und prägnanten Ausdruck dieser Entwicklung dar. Sich frei zu entscheiden bedeutet dann primär nicht, eine fokussierte Wahl zwischen Möglichkeiten zu vollziehen, sondern beschreibt den Sachverhalt, sich aufmerksam der fließenden Komplexität des eigenen individuellen Erlebens zu überlassen und diesem Erleben dann in seinem 25 Vgl.: „Der Determinist aber […] wird uns zeigen, wie dieses Ich zwischen zwei entgegengesetzten Gefühlen schwankt, von einem zum anderen geht und sich schließlich für eines von ihnen entscheidet. Das Ich und die Gefühle, die es bewegen, werden also völlig wohldefinierten Dingen gleichgestellt, die während des ganzen Verlaufs des Hergangs mit sich selbst identisch bleiben. […] Die Wahrheit ist vielmehr, daß das Ich allein dadurch, daß es das erste Gefühl erlebte, schon eine gewisse Veränderung erlitten hat, bis das zweite dazu kam; in allen Zeitpunkten der Erwägung modifiziert sich das Ich und modifiziert es folglich auch die beiden Gefühle, die es bewegen. So bildet sich eine dynamische Reihe von Zuständen, die sich durchdringen, einander verstärken und durch eine natürliche Entwicklung in eine freie Handlung ausmünden.“ (Bergson, 2006, 128 f.)

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Handeln eine neue Form zu geben.26 Sich in dieser Weise zu verhalten, ist allerdings nicht die Regel. Oft und meistens besteht unser Handeln aus sozialen Routinen und vorgefertigten Mustern. Bergson sagt hier: „Wir räumen dem Determinismus übrigens gerne ein, daß wir […] aus Trägheit oder Schlaffheit eben diesen lokalen Prozeß sich vollziehen lassen, wo doch unsre ganze Persönlichkeit sozusagen mitklingen sollte.“ (Bergson, 2006, 127). Das pragmatische passiv-lokale Handeln aus Routinen ist durchaus notwendig, da sich nur so die meisten Alltagssituationen schnell und effektiv bewältigen lassen. Es ist aber – im Sinne Bergsons – kein freies Handeln, da es sich nur auf der Oberfläche unserer individuellen Persönlichkeit abspielt und nicht ihre tieferen Schichten erreicht. Erst wenn die Handlung in Beziehung zum „fundamentalen Ich“ bzw. „Tiefenich“ unserer individuellen Persönlichkeit steht und in diesem Sinne Ausdruck dieser Persönlichkeit ist,27 lässt sich von einer freien Handlung sprechen. „Die Augenblicke aber, wo wir so uns selbst wieder ergreifen, sind selten, und deshalb sind wir selten frei. Meistenteils leben wir uns selbst gegenüber äußerlich“ (Bergson, 2006, 171). Die Freiheit des Menschen manifestiert sich demnach darin, ob es uns gelingt, im Handeln einen angemessenen oder authentischen Ausdruck für unsere individuelle Persönlichkeit zu finden.28 Durch das freie Handeln fügen wir dieser Persönlichkeit einen neuen Aspekt hinzu. Bezogen auf Entscheidungssituationen besteht die eigentliche Leistung 26 Vgl. hierzu auch Schwemmer: „Freiheit ist eine Qualität im ,Werden zur Form‘“, sie besteht darin, die verschiedenen figurativen Dynamiken sich miteinander verschränken und sie dadurch wirken zu lassen, dass man diesem Wirken – in einer aufmerksamen Bereitschaft für dessen möglich Entwicklungen – folgt.“ (Schwemmer, 2005, 248). 27 Vgl. „[Wenn man die] psychischen Zustände mit der besonderen Nuance erfaßt, die sie bei einer bestimmten Person besitzen […], dann bedarf es keiner Assoziation mehrerer Bewußtseinstatsachen, um so die Persönlichkeit wieder zusammenzusetzen: sie ist dann in einer einzigen solchen Tatsache voll und ganz enthalten […] Und die Äußerung dieses inneren Zustands wird gerade das sein, was man eine freie Handlung nennt, weil dann das Ich allein ihr Urheber gewesen ist, weil sie das ganze Ich zum Ausdruck gebracht hat.“ (Bergson, 2006, 125) 28 Vgl.: „Kurz, wir sind frei, wenn unsre Handlungen aus unsrer ganzen Persönlichkeit hervorgehen, wenn sie sie ausdrücken, wenn sie jene undefinierbare Ähnlichkeit mit ihr haben, wie man sie zuweilen zwischen dem Kunstwerk und seinem Schöpfer findet.“ (Bergson, 2006, 129). Dabei ist „Ähnlichkeit“ nicht abbildtheoretisch zu verstehen, sondern als praktische Selbstbestimmung!

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darin, dass diese Situationen und die mit ihr verbundenen Optionen überhaupt hergestellt werden. Die Konstruktion einer Wahl zwischen klaren Alternativen liegt ja nicht einfach so vor, sondern ist das Ergebnis eines u. U. mühsamen und langwierigen Prozesses, in dessen Verlauf unsere Persönlichkeit berührt wird und sich weiterentwickelt. Die kreative Leistung unserer Freiheit liegt in diesem Prozess und weniger in der abschließenden Wahl. In diesem Sinne sagt Bergson, dass nicht die Freiheit durch die Möglichkeiten, sondern vielmehr die Möglichkeiten „durch die Freiheit selbst geschaffen“ werden (Bergson, 1985, 124). Für Bergson wären daher auch die Libet-Experimente keine sinnvolle Überprüfung der Willensfreiheit. Sich auf eine Anweisung zu entschließen, bereits vollständig definierte Körperbewegungen auszuführen oder nicht, hat überhaupt nichts mit Freiheit zu tun. Das Fingerbeugen oder der rechte bzw. linke Tastendruck bleiben der Persönlichkeit des Handelnden vollkommen äußerlich. Allenfalls könnte es sich bei dem Entschluss, an dem Experiment teilzunehmen, um eine freie Entscheidung handeln. Aber auch nur dann, wenn er nicht einfach gedankenlos getroffen wurde, sondern wenn unsere ganze Persönlichkeit mitklingt.29 Das freie Handeln Bergsons bezieht sich daher – anders als in der kantischen Tradition – auch nicht auf rationale und/oder moralische Gründe. Eine freie Handlung kann gerade eine solche sein, zu der wir uns, „ohne Gründe entschieden haben, vielleicht sogar gegen alle Gründe“ (Bergson, 2006, 128). Gründe und Argumente sind in dieser Sicht zunächst einmal sprachliche Artikulationen, die mehr mit einem intersubjektiven Konsens zu tun haben als mit uns selbst.30 Gründe sind in dieser Perspektive lediglich eine Art „Kruste“ (Bergson, 2006, 128) an der Oberfläche des Ichs. Dieser Auffassung wird man sich allerdings nur unter Vorbehalt anschließen wollen, zumindest ist sie zu radikal formuliert. Es ist sicher 29 Vgl. hierzu auch Schwemmer, der darauf hinweist, dass die „die im Experiment auszuführenden Bewegungen als solche für die Teilnehmer völlig belanglos sind. […] Die Bereitschaft, sie tatsächlich – und zwar so, wie sie vom Versuchsleiter beschrieben werden – auch auszuführen, entsteht dann schon bei der Erklärung des Experiments. Es bedarf keiner eigenen Entscheidung zu genau diesen Bewegungen mehr.“ (Schwemmer, 2005, 230 f.) 30 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Matthias Jung in diesem Band, der hier allerdings von Symbolen sprechen würde, da für ihn Artikulationen unvertretbar in der ersten Person vollzogen werden.

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richtig, dass Gründe – und vor allem auch moralische Gründe – ihre motivierende Kraft nur im Kontext der eigenen Person entfalten können. Der Rekurs auf begründetes Handeln muss durch eine solche (aristotelische) Position jedoch nicht aufgegeben werden. Gründe spielen immer dann eine Rolle, wenn es darum geht, ob wir unsere hinreichend verstandenen Gefühle und Wünsche und die daraus resultierenden Handlungen auch billigen können. Man kann daher an dieser Stelle eine (kulturphilosophische) Korrektur vornehmen und in Absetzung von der (lebensphilosophischen) Konzeption Bergsons die positive Bedeutung des Symbolischen für die Prozesse der Identitätsbildung und Selbstbefreiung herausarbeiten. Diese Prozesse sind, so lautet die These, fundamental angewiesen auf die Artikulation symbolischer Formen. Gründe wären dann eine späte und sehr spezifische Form symbolischer Artikulation und müssten nicht in einen theoretischen Widerspruch zur Entwicklung der Persönlichkeit gebracht werden.31 Freiheit und Symbolisierung Die These, dass Freiheit auf Symbolisierung angewiesen ist, schließt in ihrem philosophischen Grundgehalt nach an Hegel, in einer spezifischeren Form an die Kulturphilosophie Ernst Cassirers an. Eine der 31 Vgl. auch Bieri, der (mit anderen Referenzen) ein durchaus ähnliches Programm verfolgt (Bieri, 2003). Bieri spricht von der „flukturierenden Freiheit eines fließenden Selbst“ (Bieri, 2003, 408) und kommt in seinem Konzept der „angeeigneten Freiheit“ (Bieri, 2003, 381 ff.) einigen Vorstellungen Bergsons recht nahe. So betont auch er den „gestaltenden, schöpferischen Aspekt des Entscheidens“ (Bieri, 2003, 382). Ganz ähnlich wie bei Bergson ist auch der Gedanke, dass die Freiheit des Willens etwas ist, „das man sich erarbeiten muß“ (Bieri, 2003, 383). Man kann dabei mehr oder weniger erfolgreich sein, und es kann Rückschläge geben, was man an Freiheit erreicht hat, kann wieder verloren gehen. Willensfreiheit ist ein „zerbrechliches Gut“, um das man sich stets von neuem bemühen muss. Dabei haben für Bieri sprachliche Artikulationen und auch Gründe eine wichtige Funktion. Der Zugang zur eigenen „tiefen Persönlichkeit“ ist nicht einfach gegeben, sondern wir müssen diesen Zugang über die sprachliche Artikulation von Gefühlen und Wünschen selbst herstellen. Diese Artikulationen sind der erste Schritt zu einem möglichen Verständnis unserer Person. Und erst mit diesem Verstehen wächst auch unsere Freiheit. Der freie Wille ist der „artikulierte“ (Bieri, 2003, 385) und der „gebilligte Wille“ (Bieri, 2003, 397). Denn nur aufgrund einer solchen Billigung erscheint uns unser Handeln als freier Ausdruck unserer Persönlichkeit und nicht als zwanghaftes Resultat eines Bedürfnisses.

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zentralen Einsichten Hegels besteht darin, dass der Geist nur über seine Entäußerung – d. h. die konkreten Formen und Gestalten der Weltgeschichte – zu sich selbst kommt. Cassirer übernimmt diese Denkfigur insofern, als er den Prozess des Geistes als einen Selbstbefreiungsprozess im Durchlaufen der verschiedenen symbolischen Formen (Mythos, Kunst, Religion, Sprache, Wissenschaft etc.) begreift. Er wendet sich damit gegen alle romantischen, lebensphilosophischen und kulturkritischen Positionen, die – von Rousseau über Bergson bis Heidegger – das „Eigentliche“ der menschlichen Existenz in einem direkten, unmittelbaren Selbstverhältnis sehen. Der Mensch ist jedoch, so Cassirers zentrale anthropologische Formel, immer und unaufhebbar ein animal symbolicum (Cassirer, 1996, 51). Jeder Bezug des Menschen, auch sein Selbstbezug, ist symbolisch vermittelt. In einer Anspielung auf Kleist sagt Cassirer, dass uns im Unterschied zur tierischen Existenzform die „Vordertür zum Paradies“ (der Eigentlichkeit, der Unmittelbarkeit, der Natur …) verschlossen ist, uns aber die Möglichkeit bleibt, den Umweg (über die symbolischen Formen, die Kultur, die Öffentlichkeit etc.) zu beschreiten, um zu sehen, ob wir nicht doch durch die „Hintertür“ hineinkommen (Cassirer, 1993, 32 f.). Dieser notwendige Umweg ist zugleich der Weg der Selbstbefreiung des Menschen. Symbolisierung bedeutet, daran sei noch einmal erinnert, Repräsentation und Perspektivität. Symbolisierung ermöglicht das Überschreiten von und Flexibilität in Situationen und damit ein distanzierteres und freieres Verhalten. Identitätsbildung und Selbstbefreiung sind demnach nur über den Weg der Kultur – d. h. expressive Artikulation und Symbolisierung – möglich. Diese Annahme darf jedoch nicht zu der (hegelschen) Vorstellung führen, es handle sich dabei um einen wie auch immer zu bestimmenden Fortschrittsprozess hin zu einem „immer authentischerem Individuum“ bzw. zu „immer mehr Freiheit“. Im Gegenteil, kulturelle wie individuelle Erfahrung lehrt, dass Symbolisierungen stets gefährdet sind. Erworbene Selbstverhältnisse sind nicht stabil, errungene Identitäten und Freiheiten können auch wieder verloren gehen. Das ambivalente Verhältnis von Freiheit und Symbolisierung lässt sich durch einen kurzen Rekurs auf psychoanalytische Grundeinsichten aufzeigen.32

32 Vgl. auch Bieri, der auf Freud als einer der „Paten“ seiner Konzeption verweist (Bieri, 2003, 445).

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Ambivalenz des Symbolisierens Die Psychoanalyse bietet sich im Zusammenhang der Freiheitsproblematik auch deshalb an, weil sie in ihren theoretischen Grundlagen wie kaum eine andere Disziplin das fundamentale Bedingtsein der menschlichen Existenz aufgezeigt hat. Sie ist für überzogene Auffassungen über die menschliche Freiheit wenig anfällig. Die oft verwendete Formel vom Ich, das nicht „Herr im eigenen Haus“ sei, fasst das menschliche Bedingtsein prägnant zusammen. Wir sind in unserem Erleben und Handeln von Einflüssen bestimmt, die uns größtenteils unbewusst sind. Auf der anderen Seite bietet uns die Psychoanalyse als eine Form der Praxis jedoch eine Möglichkeit an, zu diesen Einflüssen ein neues und anderes Verhältnis zu gewinnen. Die Psychoanalyse ist, wie Freud sagt, „ein Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll“ (Freud, 1975, 322). Die Praxis der Psychoanalyse ist dabei als eine Praxis des Symbolisierens und symbolischen Verstehens aufzufassen. Sie ist talking cure im klassischen Sinne: Der Analysand überlässt sich dem inneren Strom der Gedanken und Vorstellungen und überführt diese in die symbolische Form der „assoziativen Erzählung“. Der Analytiker sucht in und hinter dieser Form nach dem, was sich an Ungesagtem versteckt. Das Ziel der psychoanalytischen Praxis besteht darin, dass der Analysand in zunehmender Weise Aufklärung über die Verstrickungen seines Erlebens und Handelns gewinnt und die Freiheit eines möglichen anderen Erlebens und Handelns in den Blick bekommt, ohne dass dieses schon inhaltlich bestimmt wäre. Die psychoanalytische Praxis kann daher als ein Prozess der Selbstbefreiung durch Artikulation und Symbolisierung verstanden werden.33 Dabei ist zu beachten, dass Symbolisierungsprozesse nie ab ovo, sondern immer in einer Welt des bereits Symbolisierten beginnen. Zum Ausdruck der „eigenen“ Erlebnisse müssen notwendig die schon vorhandenen „fremden“ Symbole verwendet werden. Wir sprechen von Anbeginn die Sprache der Anderen, benutzen die Symbole, die von 33 Vgl. hierzu Lorenzer, der in seiner psychoanalytischen Symboltheorie explizit an Cassirer und insbesondere an Susanne Langer anschließt (Lorenzer, 1972, 1995). Seine interessante Deutung lautet, dass der Freudsche Primärprozess durch präsentative, der Sekundärprozess durch diskursive Symbolisierungsformen strukturiert wird. Darüber hinaus sucht Lorenzer, das Gespräch mit den Neurowissenschaften (Lorenzer, 2002).

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anderen gemacht worden sind. Der Selbstwerdungsprozess besteht in dieser Perspektive darin, mit dem „fremden“ Material einen authentischen, stimmigen Ausdruck für das „eigene“ Erleben zu finden, das eigene individuelle Selbst im Fremden zu artikulieren. Selbstwerdung spielt sich demnach zwischen idiosynkratischen Unverständlichkeiten und sozialen Klischees ab.34 Die bleibende Ambivalenz dieses Prozesses hängt mit weiteren Struktureigenschaften der Symbolisierung zusammen:35 – Verschiebung: Symbolisierung repräsentiert die symbolisierten Inhalte bzw. Erlebnisse nicht einfach abbildhaft, sondern unterzieht sie einer eigenständigen Formung. Die Formbildung eines Erlebnisses schließt an bereits vollzogene Symbolisierungen an. Der psychoanalytische Begriff der Verschiebung bezeichnet die dabei entstehenden Verzerrungen. Im symbolisierten Erlebnis werden über Formentsprechungen immer auch andere Inhalte gleichsam mitrepräsentiert. Je mehr sich das Verhalten an diesen anderen Inhalten orientiert, desto stärker erscheint es „verschoben“. – bertragung: Werden die Interaktionen mit dem Anderen symbolisch organisiert, führt dies auch in sozialer Hinsicht zu Verschiebungen. Mit dem Phänomen der Übertragung bezeichnet die Psychoanalyse den Vorgang, dass wir nie nur den jeweiligen individuellen Anderen in einer konkreten Situation meinen, sondern im Anderen immer auch weitere Andere bzw. Aspekte dieser Anderen, insbesondere aus frühkindlichen Erfahrungen, mitrepräsentiert sind. Symbolische Interaktionen sind daher prinzipiell von Konflikten und Missverstehen geprägt. – Verdrngung: In Symbolisierungen finden sich in vielfältiger Weise Inhalte (versteckt), die in den Bereich der vom Bewusstsein nichtakzeptierten Triebwünsche fallen und überhaupt nur in verschobener Form zugänglich sind. Symbolisierungen führen daher nicht nur zu befreiten, sondern auch zu „neurotischen“ Selbstverhältnissen.

34 Auch hierzu Lorenzer, 1995. 35 Vgl. die entsprechenden Eintragungen bei Laplanche/Pontalis, 1973.

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Praxis der Selbstbefreiung Der hier kulturphilosophisch und psychoanalytisch anvisierte Freiheitsbegriff zielt demnach auf die symbolischen Kompetenzen des Individuums. Der Titel „Kultur der Freiheit“ bekommt dann über seinen methodischen Sinn hinaus auch eine inhaltliche Bedeutung: Er zielt darauf, dass das Individuum in der Lage ist, die Möglichkeiten, aber auch die Ambivalenzen, die sich aus den symbolischen Ressourcen seiner Kultur ergeben, in sein Verhalten zu integrieren. Um dieses Ziel zu erreichen, muss es sich selbst in seinem Handeln verstehen und in der Lage sein, dieses Verständnis symbolisch zu artikulieren. Dabei stellen Verständnis und Artikulation sich wechselseitig bedingende Aspekte eines Prozesses dar: Die Möglichkeiten der Artikulation sind abhängig von der Tiefe des Selbstverständnisses, und die gelungene Artikulation vertieft ihrerseits das gewonnene Verständnis. Insbesondere gilt es, die strukturell schwierigen Aspekte der Symbolisierung zu durchschauen. Verschiebung, Übertragung, Verdrängung und andere „Schattenseiten“ des Symbolisierens lassen sich jedoch nie vollständig ausschalten oder überwinden, sie gehören konstitutiv mit zum Prozess der Identitätsbildung dazu. Eine freie Handlung ist somit Ergebnis der langwierigen und oft mühevollen symbolischen Arbeit an der eigenen Identität bzw. an der Ausbildung der „tiefen Persönlichkeit“ des Individuums. Wenn diese Arbeit gelingt, fällt sie in der Tat ab wie eine „überreife Frucht“ vom Baum.

4. Zur Diskussion zwischen Philosophie und Neurowissenschaften Gerhard Roth und Wolf Singer haben mit ihrer These, dass es sich bei der – lebensweltlich als selbstverständlich vorrausgesetzten – Annahme, der Mensch besitze einen freien Willen, um eine „Illusion“ handle, die aktuelle Diskussion um den Freiheitsbegriff ausgelöst.36 Bei der Inszenierung dieser These handelt es sich ohne Zweifel um eine herausragende wissenschaftsstrategische Leistung, die dazu beigetragen hat, den Status der Neurowissenschaften als eine neue Leitdisziplin zu manifestieren. Die These selbst ist natürlich hochgradig metaphysisch und lässt 36 Vgl. Roth, 2001, 2003, 2004a und Singer, 2002, 2003, 2004.

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sich empirisch nicht überprüften.37 Ohne Zweifel stehen Menschen als physische Entitäten bzw. lebendige Organismen in kausalen Zusammenhängen. Auch unser – freies – Wollen und Handeln geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern steht unter vielfältigen – auch neuronalen – Bedingungen, sonst könnten wir überhaupt nicht von einem Wollen und Handeln sprechen.38 Aber wer behauptet, unser Wollen und Handeln sei determiniert, behauptet viel mehr. Er macht eine Aussage über die Welt insgesamt, denn seine Behauptung impliziert, dass es von Beginn an nur eine möglichen Weltverlauf hat geben können.39 Es gibt, anders formuliert, keinen lokalen Determinismus. Die Philosophie hat das Diskussionsangebot der Neurowissenschaften vielleicht ein wenig zu schnell angenommen. Man sollte sich jedenfalls nicht freiwillig ins 19. Jahrhundert zurückführen lassen. Die „Kompatibilität“ von Philosophie und Neurowissenschaften erschöpft sich jedoch nicht in der Teilnahme am metaphysischen Sprachspiel „Freiheit und/oder Determinismus“. Der theoretische Rahmen einer produktiven gemeinsamen Forschung lässt sich zumindest programmatisch in zwei Hinsichten skizzieren: (1) Die Basis muss in der Evolutionstheorie liegen und (2) sind die Eigendynamiken der kulturellen Symbolismen zu berücksichtigen.

37 Auch die Libet-Experimente können diese Ansprüche nicht erfüllen, wie Libet selbst ausdrücklich betont: „Die Annahme, dass die deterministische Natur der physikalisch beobachtbaren Welt (in dem Maß, in dem sie zutrifft) subjektive bewusste Funktionen und Ereignisse erklären kann, ist ein spekulativer Glaube und keine wissenschaftlich bewiesene Aussage.“ (Libet, 2004, 285). 38 Vgl. dazu insgesamt Bieri, 2003; Schwemmer zitiert in diesem Zusammenhang einen prägnanten Satz von Cassirer (Schwemmer, 2005, 234): „Es ist nicht die Abwesenheit eines Motivs, sondern der Charakter des Motivs, was eine freie Handlung ausmacht.“ (Cassirer, 1985, 375). 39 Determinismus ist, so auch Goschke/Walter die These, „dass der gesamte Zustand der Welt zu jedem Zeitpunkt eindeutig festgelegt ist und sich der Zustand zum Zeitpunkt t aus dem Zustand zu früheren Zeitpunkten notwendig und wiederum eindeutig ergibt“ (Goschke/Walter, 2005, 85). Eine solche Aussage kann sinnvoll nur in Bezug auf vollkommen geschlossene Systeme – wie sie z. B. in der Mathematik konstruierbar sind – formuliert werden.

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Evolutionstheorie als gemeinsame Basis Menschliche Gehirne sind – wie alle anderen biologischen Phänomene auch – ein Ergebnis evolutionärer Prozesse. Sie befinden sich jedoch, wie bereits erwähnt, nicht in einem „Tank“, sondern in einem lebendigen Organismus und organisieren dessen Umweltbeziehungen.40 Lenkt man den Blick systemtheoretisch auf das Umweltverhalten biologischer Organismen, lässt sich, wie hier vorgeschlagen, ein naturalistischer Freiheitsbegriff entwickeln, der seinen Fokus im Überlagern schematischer Reiz-Reaktions-Muster41 und der Ausbildung zunehmender sozialer Komplexität und Individualisierung der Interaktionspartner findet. Es entstehen, insbesondere in frühen Phasen der Ontogenese, nicht-funktionale Spiel- und Freiräume, die von einem unmittelbaren Verhaltensdruck entlastet sind. Diese können – auf der neuronalen Grundlage der Plastizität des Gehirns – für kreative Verhaltensweisen genutzt werden. Diese Entwicklung führt dann bei der Evolution der Hominiden zum Phänomen der Symbolisierung und damit zu kulturellen Leistungen. Kultur entsteht aus natürlichen Grundlagen. Die Genese des menschlichen Geistes – und damit auch die seiner Freiheit – muss naturalistisch erklärt werden – wie sonst? 42 Auch der eingangs skizzierte pragmatische Perspektivendualismus besitzt ein evolutionäres Fundament. Die beiden Sprachspiele der empirisch kausalen Naturerklärung und der auf Freiheit und Gründe re40 Die Relevanz des Embodiment gilt es auch im Hinblick auf neuronale Prozesse zu sehen. Die Redeweise „das Gehirn entscheidet“ (die von Roth ausdrücklich verteidigt wird (Roth, 2004b)) ist nicht deswegen problematisch, weil das Prädikat „entscheiden“ unzulässigerweise aus der Sphäre menschlichen Handelns herausgenommen und auf eine biologische Referenz angewendet würde, sondern weil diese biologische Referenz – das Gehirn – unzulässigerweise isoliert wird: Nicht das Gehirn entscheidet, sondern der ganze Organismus ist das „Subjekt“ des Entscheidens; andernfalls droht ein Dualismus zwischen „Ich“ und „meinem Gehirn“, siehe dazu Goschke/Walter, 2005, 112. 41 Goschke/Walter vertreten daher einen Kompatibilismus: „Für eine kompatibilistische Konzeption von Willensfreiheit ist der entscheidende Punkt […], dass als Folge der Evolution kognitiver Antizipations- und Selbstkontrollkompetenzen die Verhaltensselektion beim Menschen nicht länger ausschließlich durch die unmittelbare Reizsituation und Bedürfnislage determiniert wird, sondern dass wir in Abhängigkeit von mental repräsentierten Zielen und Erwartungen auf ein und dieselbe Situation in nahezu beliebig unterschiedlicher Weise reagieren können.“ (Goschke/Walter, 2005, 95). 42 Vgl. hierzu Meuter, 2006b.

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kurrierenden Beschreibung unseres Handelns lassen sich offenbar nicht aufeinander reduzieren. Die, so Habermas, „komplementäre Verschränkung anthropologisch tief sitzender Wissensperspektiven“ (Habermas, 2005, 175) impliziert nämlich einen evolutionären Vorteil, der nicht aufgegeben werden kann. Naturerklärungen liefern uns Wissen über die Welt, nicht-kausale Handlungsbeschreibungen erweitern unsere soziale Kompetenz. Die beiden Sprachspiele sind somit als Ergebnisse der Anpassung an verschiedene Umwelten aufzufassen: der natürlichen und der sozialen Umwelt. Beide sind – unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten – unverzichtbar. „Wir sind Beobachter und Kommunikationsteilnehmer in einer Person.“ (Habermas, 2005, 173). Der in der kantischen Tradition in Anspruch genommene „Raum der Gründe“ kann daher auch nicht als bloße Illusion bzw. Epiphänomen konzeptualisiert werden, denn wenn das Sprachspiel der Gründe keine kausale Funktion besäße, bliebe „aus evolutionstheoretischer Sicht rätselhaft, warum sich die Natur den Luxus eines ,Raums von Gründen‘ überhaupt leistet.“ (Habermas, 2005, 186) 43 Vom allmählichen Lockern von Reiz-Reaktions-Ketten bis zum „Raum der Gründe“ ist es natürlich ein weiter Weg. Aber es gibt diesen Weg; er führt über die Symbolisierung. Deren Ursprünge liegen in natürlichen Prozessen des emotionalen Sozialverhaltens höherer Tierprimaten bzw. evolutionärer Vorläufer der Hominiden; voll entwickelt ermöglicht sie die sprachliche Artikulation von Argumenten. Die anvisierte „Versöhnung von Darwin und Kant“ wäre demnach in der genetischen und strukturellen Analyse von Symbolisierungsprozessen zu suchen. Dabei ist von Seiten der Philosophie und der Kulturwissenschaften – gegen ausschließlich naturalistische Ansätze – jedoch die Eigendynamik der Symbolisierung zu betonen.

43 Searle hat darauf hingewiesen, „dass er [scil. der Epiphänomenalismus] allem zuwiderläuft, was wir über die Evolution wissen. Die Prozesse der bewussten Rationalität sind ein so wichtiger Teil unseres Lebens, und vor allem ein biologisch so kostspieliger Teil unseres Lebens, dass es so anders als alles wäre, was wir von der Evolution wissen, wenn ein Phänotyp dieser Größenordnung überhaupt keine funktionale Rolle im Leben und für das Überleben des Organismus spielen würde. Bei Menschen und höheren Tieren wird ein enormer biologischer Preis für bewusste Entscheidungen gezahlt, angefangen von der Art und Weise, wie die Jungen großgezogen werden, bis zur Blutmenge, die zum Gehirn fließt.“ (Searle, 2004, 50).

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Eigendynamik der Symbolisierung Die symbolische Aktivität des Menschen ist zwar auf eine neuronale Grundlage angewiesen, die Symbole selbst jedoch sind außerorganische, materielle Gegenstände, deren Relationszusammenhänge sich nicht auf rein immanente neuronale Aktivitäten zurückführen lassen.44 Symbole sind emergente Formen expressiver Interaktionen und Kommunikationen.45 Aufgrund ihrer außerorganischen Materialität bilden sie eigendynamisch eine neue geistige Wirklichkeit. Daher lassen sich die Strukturen kultureller Werke – in klassisch philosophischer Terminologie: die Strukturen des „objektiven Geistes“ – auch nicht mit rein naturwissenschaftlichen Mitteln erfassen. Ein Roman z. B. oder ein Gedicht besitzt eine immanente ästhetische und keine neuronale „Logik“. Zu ihrem Verständnis benötigt man entsprechendes kulturelles und historisches – und u. U. durch Kulturwissenschaften aufgearbeitetes – Wissen, neurowissenschaftliches Wissen über Gehirnprozesse hilft hier nicht weiter. Mit Aussagen darüber, ob und welche Neuronen z. B. beim Verfassen oder Lesen bzw. Hören eines Gedichts feuern, sind ja noch keine gehaltvollen Aussagen über das Gedicht selbst verbunden. Dies gilt entsprechend für alle geistigen Leistungen des Menschen, d. h. für Verhaltensweisen, die auf symbolische Formen zurückgreifen. Die geistigen Leistungen besitzen also eine naturale Grundlage, lassen sich aber nicht vollständig naturalistisch erfassen. Mit den beiden genannten Aspekten – Evolutionstheorie und Eigendynamik der kulturellen Symbolismen – wäre jedenfalls ein theoretischer Rahmen skizziert, innerhalb dessen sich eine gemeinsame (naturwissenschaftliche und philosophische) anthropologische Erforschung des Menschen und seiner Leistungen – zu bewegen hätte. Man könnte sie mit dem Etikett eines „Kritischen Naturalismus“ versehen.

Nicht-Funktionalität der Freiheit Konkret in Bezug auf das Freiheitsproblem habe ich dazu einige Punkte ausgeführt. Aus der Dritten-Person-Perspektive der Wissenschaften erlauben es die angesprochenen Aspekte – Überlagern von Reiz-Reaktions-Ketten auf der Grundlage komplexer neuronaler Systeme, zu44 Vgl. hierzu Schwemmer, 1997, 2005. 45 Vgl. hierzu Meuter, 2006a.

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nehmende Individualisierung der Sozialpartner mit rudimentären empathischen Fähigkeiten, spielerische mimetische Aktivitäten mit beginnender Symbolisierung – , die Umrisse eines evolutionstheoretischen bzw. naturalistischen Freiheitsbegriffs zu skizzieren, ohne auf die eingefahrenen Fragen der Determinismus-Diskussion einzugehen. Mit Bergson (sowie der kulturphilosophischen und psychoanalytischen Erweiterung) lässt sich ein gehaltvoller philosophischer Freiheitsbegriff entwickeln, der die Erste-Person-Perspektive ausschreibt, ebenfalls ohne sich in der Determinismus-Diskussion zu verstricken. Das Individuum erarbeitet sich seine Freiheit in dem Maße, wie es in der Lage ist, soziale Handlungsroutinen aufzulösen, sich der fließenden Komplexität seines Erlebens anzuvertrauen, aber auch, diese Komplexität symbolisch zu artikulieren und damit der sich ständig entwickelnden Persönlichkeit einen authentischen Ausdruck zu geben. Beide Perspektiven haben ein Strukturmoment gemeinsam, das einen fruchtbaren Bezugspunkt für die Diskussion zwischen Wissenschaften und Philosophie darstellen könnte: Die primre Nicht-Funktionalität der Freiheit, sowohl die Natur als auch die Kultur der Freiheit, vertragen sich offenbar schlecht mit den Zwängen funktionalen Verhaltens.46

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Norbert Meuter

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Verkörperte Freiheit – Der Beitrag des klassischen Pragmatismus MATTHIAS JUNG Es ist zwar erst einige Jahre her, dass die aktuelle Debatte um den Begriff, die Neurobiologie und die Lebenswirklichkeit der Freiheit durch eine Reihe von Beiträgen in der FAZ eröffnet worden ist,1 dennoch soll hier bereits ein historisierender Blick riskiert werden. Mit seiner Hilfe lässt sich erkennen, in welchem Maß die erste Phase der Diskussionen durch etwas geprägt war, was ich ein wenig salopp als Phänomen der explanatorischen Weltverdoppelung bezeichnen möchte. Damit bezeichne ich ein methodisches Grundproblem, von dem die konfliktreiche Beziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nicht erst neuerdings geprägt ist: Der methodisch fundamentale Schritt, ohne den jede Gesprächsanbahnung misslingen muss, besteht hier nämlich darin, die Explananda unterschiedlicher Theorieansätze so weit einander anzunähern, dass eine Erklärung im theoretischen Rahmen von a – sagen wir der Neurobiologie – durch die Protagonisten von b – sagen wir einer geisteswissenschaftlichen Denktradition – überhaupt als eine Erklärung ein und desselben Phänomens anerkannt werden kann. Vom Explanans ist hier überhaupt noch nicht die Rede, denn zur Debatte steht zunächst eine korrekte Identifizierung des Explanandums. Man kann Freiheit nur verteidigen, als Illusion entlarven, ihre Bedingtheit aufzeigen, sie kompatibilistisch oder alternativistisch deuten etc., wenn man dabei jeweils über dasselbe spricht. Und genau diese Grundbedingung war in der ersten Phase der Debatte nicht erfüllt. Freiheitsfreunde und Freiheitsgegner hatten häufig so verschiedene Explananda, dass ein gemeinsamer Bezug auf die Sache gar nicht erst zustande kam. Um das plastisch zu verdeutlichen, bietet sich ein Vergleich von Gerhard Roths Schrift Fhlen Denken Handeln (Roth, 2003) mit Peter Bieris Handwerk der Freiheit (Bieri, 2001) an. Diese Bücher verfolgen offensichtlich sehr unterschiedliche Absichten und bei Roth ist Freiheit 1

Vgl. Geyer, 2004.

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nur eines unter mehreren Themen; nach deskriptiver Angemessenheit darf aber dennoch gefragt werden, und auf den deskriptiven Teil, die Phänomenologie des Begriffs, kommt es mir hier an. In Roths Buch wird die Identifikation des Explanandums auf zweieinhalb („Kleine Phänomenologie des Ich“, S. 379–381) bzw. drei („Kurze Phänomenologie des Willens und der subjektiv empfundenen Willensfreiheit“, S. 495–498) Seiten versucht; Bieri hingegen verwendet hunderte von Seiten darauf, subtile Nuancen der Freiheitserfahrung durch narrative Mittel und solche der phänomenologischen Beschreibung herauszuarbeiten. Auf der einen Seite der fast exzessive Versuch, hermeneutisch die Binnenperspektive frei Handelnder zu rekonstruieren, auf der anderen Seite eine aufs Äußerste reduzierte prima-facie-Skizze, in der auch die Rekonstruktion der Freiheitserfahrung schon von der Theoriesprache des Neurobiologen imprägniert ist. Der Gegensatz besteht hier zwischen „dichten“, die Sinnstrukturiertheit ihres Gegenstandes einbeziehenden, und „dünnen“, externalistischen Beschreibungen. Gegen die Fähigkeit letzterer, ihre Objekte erfolgreich zu identifizieren, sind zahlreiche Einwände vorgebracht worden, die von Dieter Sturma prägnant zusammengefasst werden: „nur in einer dichten Beschreibung, die auch die Semantik selbstreferentieller Ausdrucks- und Verstehenszusammenhänge mit einbezieht, können sich spezifisch menschliche Fähigkeiten und Eigenschaften zeigen“ (Sturma, 2006, 202).2 Es dürfte einleuchten, dass sich unter solchen Umständen der Vorwurf des Reduktionismus weniger auf das Erklärungsmodell selbst, sondern schon vorher auf die Entfaltung dessen, was als Gegenstand der Erklärung gelten soll, beziehen dürfte. Man könnte nun einwenden, die Vorstellung, Explananda ließen sich unabhängig von Theoriesprachen bestimmen, sei ohnehin naiv, und überdies erhebe sich hier der Verdacht einer Immunisierungsstrategie: Die Geisteswissenschaften wollten sich ein Monopol für die Identifizierung des Explandanums sichern, um dann jede naturwissenschaftliche Erklärung als Fehlidentifikation abtun zu können. Hier kommt nun aber folgender Punkt zur Geltung: Beim Thema der Freiheit handelt es sich weder um eine natürliche Entität,3 die sich mehr 2 3

Zu einer auf Ryle zurückgehenden Analyse solcher „dichten“ Beschreibungen vgl. Sturma, 2006, 199 ff. Damit will ich keineswegs die Möglichkeit ausschließen, Freiheit als ein natürliches Phänomen zu behandeln, sondern nur herausstellen, dass es sich hier um einen „Gegenstand-unter-einer-Beschreibung“ handelt, dessen Identifi-

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oder minder unkontrovers den Sinnen darbieten könnte, noch um eine theoriegeladene Entität, wie wir sie im Teilchenzoo der Atomphysik antreffen. Freiheit ist vielmehr ein zentraler Aspekt der Selbsterfahrung der menschlichen Lebensform, in dem sich deskriptive und normative Aspekte untrennbar durchdringen. Wer sich als frei erfährt und dies zum Ausdruck bringt, konstatiert nicht das Vorliegen eines mentalen Zustandes, dessen Realität vom Akt des Ausdrucks gänzlich unabhängig wäre; er steht in einer expressiven Tradition, die auch normative Komponenten einschließt. Und deshalb ist die Artikulation der Freiheitserfahrung in kulturellen Traditionen ein interner Bestandteil ihrer Phänomenologie. Methodisch formuliert: Die Beschreibungen, die die Trägersubjekte des Explanandums von diesem liefern, sind normativ für dessen Identifizierung. Als eine Erklärung des kulturellen Phänomens x kann nur diejenige Theorie gelten, die vorher ihr Explanandum in Begriffen identifiziert hat, die aus der Perspektive der betroffenen Subjekte als eine – nicht in allen Facetten, so doch in den wesentlichen Zügen – zutreffende Charakterisierung anerkannt werden können. Es ist nun sicherlich mehr als eine pro-domo-Argumentation, wenn man betont, dass die Geistes- und Kulturwissenschaften im Laufe ihrer Geschichte subtile Instrumente entwickelt haben, um solche Phänomene angemessen zu beschreiben, deren Eigenart an die Binnenperspektive einer sozial vermittelten Selbsterfahrung gebunden ist. Aus der Perspektive der Naturwissenschaften ist eine hermeneutische Vorgehensweise, die es erlaubt, zu verstehen, um was es überhaupt geht, natürlich nur ein erster Schritt. Aber ohne diesen Schritt können naturwissenschaftliche Erklärungen nicht erfolgreich sein, weil sie, bildlich gesprochen, dann nur einen zahnlosen Papiertiger zur Strecke bringen können.4 Dabei gilt es im Auge zu behalten, dass das Kriterium der Erste-Person-Normativität für die Identifikation des Explanandums zwar

4

zierung deshalb nur mittels einer kritischen Aneignung dieser lebensweltlich gebräuchlichen Beschreibung(en) gelingen kann, nicht dadurch, dass durch deiktische Akte irgendeine Merkmalskonfiguration in der natürlichen Welt herausgegriffen wird. Diese Kulturabhängigkeit der Identifizierung des Explanandums impliziert aber nicht, um es nochmals zu betonen, auch die Kulturabhängigkeit des Explanans. Eine innerneurowissenschaftliche Parallele zu dieser Struktur bildet das Verhältnis von Beobachtungsdaten und Erste-Person-Erlebnissen. Die aufrichtigen Äußerungen der Probanden über ihre mentalen Zustände sind hier insofern autoritativ, als sich durch sie überhaupt erst ein Explanandum konstituiert, mit dem dann bildgebende Verfahren und schließlich theoretische Erklärungen auf neuronaler Ebene korreliert werden können.

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auf dieser – und nur dieser – Ebene eine Art prima-facie-Heimvorteil für die auf Sinnstrukturen spezialisierten Geisteswissenschaften mit sich bringt, aber natürlich keineswegs das Gelingen geisteswissenschaftlicher Deutungen verbürgen kann. Denn auch geisteswissenschaftliche und philosophische Theorien können sich in ihrer Theoriesprache so weit von ihrem Gegenstand entfernen, dass ihnen seine Identifikation misslingt. Ein klassisches Beispiel hierfür bietet Jean-Paul Sartres Behandlung der Freiheit in seinem populären Vortrag Ist der Existentialismus ein Humanismus? Die dort entwickelte Theorie einer völlig dekontextualisierten „radikalen Wahl“ („Sie sind frei, wählen Sie, das heißt erfinden Sie.“) 5 (Sartre, 1968, 19) entfernt sich so weit vom lebensweltlichen Freiheitsverständnis, dass ihr jedenfalls keine identifizierende Beschreibung gelingt. – Dass eine erfolgreich identifizierende Theorie Revisionen im prima-facie-Verständnis ihres Gegenstands – und damit im Selbstverständnis seiner Trägersubjekte – vorschlägt, ist damit natürlich keineswegs ausgeschlossen. Was sich aber verbietet, ist eine reduktionistische Argumentation nach dem Schema „Ihr denkt, Freiheit sei x, ich behaupte aber, sie sei y“ (wobei y nicht nur die lebensweltlichen Erklärungen, sondern auch den phänomenalen Tatbestand revidiert). An seine Stelle muss, um das Angemessenheitsprinzip in Bezug auf das Explanandum zu wahren, folgendes Muster treten,: „Ihr denkt Freiheit sei x, ich behaupte aber, dass die von Euch als x artikulierten Phänomene besser als y verstanden werden können, und dass y zugleich eine Erklärung dafür liefert, warum ihr x als x und nicht als y versteht.“ Wenn diese hier sehr summarisch vorgetragene Einschätzung, dass die erste Phase der Freiheitsdebatte weithin durch das Misslingen der Identifizierung eines gemeinsamen Explanandums charakterisiert war, auch nur einigermaßen plausibel ist, bietet es sich an, eine zweite Phase einzuläuten, die dieses Problem vermeidet. Die Beiträge zu diesem Band unter dem Titel einer Naturgeschichte der Freiheit erscheinen mir als überfällige Schritte in eben diese Richtung. Wer nämlich Freiheit programmatisch eine Naturgeschichte zugesteht, der möchte die dualistische Absonderung des Geistes von der Natur ebenso unterlaufen wie die Obsoleterklärung unseres lebensweltlichen Selbstverständnisses durch naturalistische Metaphysiken, die aus den Naturwissenschaften extrapoliert werden. Die genetische Sichtweise vermeidet vorab die Gefahr, die Frage nach der Freiheit im Sinne einer positiven oder negativen Existenzaussage zu behandeln, die sich auf eine überzeitlich 5

Vgl. auch Charles Taylors Kritik dieser Auffassung in: Taylor, 1992, 29.

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verstandene Ontologie des Menschlichen bezieht. Pointiert gesprochen wird damit die Aufmerksamkeit von essentiellen Attributen der Gattung Mensch zu kontingenten Errungenschaften eines zukunftsoffenen Prozesses verlagert. Nun lässt sich die Formulierung von einer „Naturgeschichte der Freiheit“ in mindestens zwei verschiedenen Weisen deuten. Eine mögliche Lesart wird prominent von Daniel Dennett vertreten, laut Merlin Donald dem „capo di tutti capi of the Hardliner school“ (Donald, 2001, 39), aber auch in einer freundlicheren Deutung sicherlich der prominenteste Vertreter einer philosophischen Richtung, die der erstpersonalen Perspektive jede begriffliche Selbständigkeit absprechen möchte. Freedom evolves – so lautet der programmatische Titel seines einschlägigen Buchs (Dennett, 2003). Freiheit erscheint dann nicht als ein exklusives proprium unserer Gattung, sondern als Resultat einer evolutionären Tendenz der Vervielfältigung von Möglichkeiten, die zwar nur im homo sapiens die Form einer wirklichen Wahl zwischen Alternativen annimmt, aber eben dennoch in Kontinuität zu einer naturalistischen Weltsicht steht, in deren Begriffen sie denn auch besser erläutert werden kann als in der sinnstrukturierten Sprache der Geisteswissenschaften. Inwieweit diese naturalistische Rettung der Freiheit mit einer reichen Phänomenologie unserer Alltagserfahrung als frei Handelnde verträglich ist und also ihr Explanandum erfolgreich identifiziert, ist die entscheidende Frage. Sie wird in ihrer Dringlichkeit unabweisbar, wenn man sich auf eine alternative Lesart der „Naturgeschichte der Freiheit“ konzentriert, die bislang in den Debatten, wenn ich recht sehe, keine große Rolle gespielt hat: Ich meine die Behandlung des Themas im klassischen Pragmatismus. Mit Dennett und anderen uns zeitgenössischen Autoren haben die pragmatistischen Autoren gemeinsam, dass Darwins Evolutionstheorie als der umfassende Rahmen gedeutet wird, in dem sich auch kulturund moralphilosophische Erörterungen bewegen müssen. Vor allem von John Dewey wird Darwins Prinzip der natürlichen Auslese geradezu als vernichtende Widerlegung des Essentialismus aristotelischer Provenienz gedeutet, den er durch die Dominanz unveränderlicher Formen bzw. Zweckursachen charakterisiert sieht. Der von Dewey enthusiastisch begrüßte „Einfluss Darwins auf die Philosophie beruht darauf, dass er die Phänomene des Lebens für das Prinzip des Übergangs erobert hat und dadurch die neue Logik für eine Anwendung auf Geist und Moral und Leben befreit hat.“ (Dewey, 2004, 36) . Doch obwohl dieses Diktum sicherlich Dennetts Zustimmung finden würde, geht die

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pragmatistische Behandlungsart des Themas – bei allen Unterschieden etwa zwischen James und Dewey – in eine ganz andere Richtung. Was die pragmatistische Position in der heutigen Diskussion interessant macht, ist ihre Aufwertung lebensweltlicher Erfahrung und sinnhafter Strukturen innerhalb eines evolutionistischen Rahmens. Der Beobachterstandpunkt der Naturwissenschaften wird von diesen Autoren nicht als die ontologisch überlegene Erschließung einer „an sich“ sinnfreien Natur betrachtet, sondern als die interne Ausdifferenzierung eines basal durch Interaktion mit der sozialen wie natürlichen Umwelt bestimmten Weltverhältnisses. Diese Grundstellung führt nun zu einer stärkeren Lesart des Ausdrucks „Naturgeschichte der Freiheit“. Für einen darwinistischen Autor wie Dennett stellt sich die Sache so dar, dass der – an sich teleologieund sinnfreie – Evolutionsprozess die Mitglieder der Gattung homo sapiens in „autonomous human agents“ verwandelt hat: „Human freedom is real – as real as language, music, and money – so it can be studied objectively from a no-nonsense, scientific point of view.“ (Dennett, 2003, 305) Diese Formulierung ist insofern bezeichnend, als sie den „no-nonsense point of view“ mit dem wissenschaftlichen Standpunkt gleichsetzt. Zwar betont auch Dennett, dass Freiheit als kontingentes Produkt der Evolution eine fragile Errungenschaft darstellt, von der gilt: „its persistence is affected by what we believe about it.“ (Dennett, 2003, ebd.). Die Überzeugungen aber, die über die Fortexistenz der Freiheit mit entscheiden, sind, wenn man diese beiden Sätze zusammennimmt, für Dennett wissenschaftliche Überzeugungen. Der Evolutionstheoretiker wird damit ironischerweise zum Verteidiger der Freiheit auf der Basis einer naturalistisch-selbstobjektivierenden Perspektive, die für die Teilnehmerperspektive derer, die sich selbst als frei empfinden, gar keinen begrifflichen Raum mehr vorsieht. Dennett möchte die Freiheit retten und gleichzeitig, wie exemplarisch in der Schrift The Intentional Stance vorgeführt, das mentalistische Sprachspiel zu Grabe tragen. Insofern erinnert seine Vorgehensweise an das bekannte Aperçu Nietzsches über Kant aus der Frçhlichen Wissenschaft, dieser habe „auf eine ,alle Welt‘ vor den Kopf stossende Art beweisen“ wollen, „dass ,alle Welt‘ Recht habe“ (Nietzsche, 1988, 504). Nicht so die pragmatistischen Autoren: Sie hätten Dennetts Diktum, dass das Fortbestehen der Freiheit von unseren Überzeugungen über sie abhängt, emphatisch bejaht, aber einen ganz anderen Akzent gesetzt. Für diese Autoren war die Vorstellung, das Selbstverständigungsvokabular unserer alltäglichen Sprache müsse durch das externa-

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listische Beobachtungsvokabular der (Natur-)Wissenschaften nicht nur ergänzt, sondern ersetzt werden, zutiefst abwegig. Sie unterscheiden sich von idealistischen und supranaturalistischen Positionen durch ihre Deutung humaner Sinnstrukturen im Bezugsrahmen eines evolutionären Kontinuums und teilen mit Dennett die Betonung einer „forschenden“ Einstellung (Inquiry), die vor nichts halt zu machen braucht, leugnen aber die von weltanschaulichen Naturalisten unterstellte Überlegenheit einer sinnasketischen Beobachter- über die sinnzentrierte Teilnehmerperspektive. Im Gegenteil: Die evolutionäre Kontinuität menschlicher Kulturgeschichte mit der Geschichte des Lebens überhaupt erscheint etwa Dewey als zentrales Argument für die praktische wie epistemische Legitimität einer verstehenden Teilnehmerperspektive und für die Irrationalität einer Wissenschaft, die sich externalistischen Reduktionsprogrammen verschreibt. Während also für Dennett die Naturgeschichte der Freiheit ihre Fortsetzung in der Naturalisierung lebensweltlicher Selbstverhältnisse findet, geht Dewey den umgekehrten Weg: In die als Naturgeschichte begriffene Evolution einer sinnzentrierten Teilnehmerperspektive muss die evolutionäre Errungenschaft wissenschaftlicher Untersuchungen integriert werden. In einem Text aus dem Jahr 1931 artikuliert er diesen für den Pragmatismus zentralen Punkt als Vorrang der Bedeutung vor der Wahrheit: „Sinn oder Bedeutung ist von größerem Umfang und höherem Wert als Wahrheit.“ (Dewey, 2003a, 8) Diese Einsicht darf aber nicht, so beeilt er sich hinzuzufügen, als Lizenz zur Ermäßigung von Wahrheitsansprüchen verstanden werden. Eine solche Behauptung ist gefährlich; sie wird leicht in dem Sinn missverstanden, als bedeute sie, Wahrheit sei nicht unter allen möglichen Umständen von großer Wichtigkeit; während Wahrheit in Wirklichkeit, wenn überhaupt, so unendlich wichtig ist, nämlich bei der Aufzeichnung von Ereignissen und Beschreibung von Realitäten, dass wir ihre Ansprüche sogar auf Gebiete ausdehnen, wo sie keinerlei Rechtsprechung hat. Aber selbst in Hinblick auf Wahrheiten ist Sinn oder Bedeutung die umfassendere Kategorie: Wahrheiten sind nur eine Klasse von Bedeutungen, nämlich diejenigen, in denen ein Anspruch auf Verifizierbarkeit durch Konsequenzen ein immanenter Teil ihrer Bedeutung ist. (Dewey, 2003a, 8 f.)

Ich deute diesen Passus als den Versuch, die epistemische Einstellung der neutralen Perspektive als interne Ausdifferenzierung der praktisch-sinnstrukturierten Einstellung von Teilnehmern am Lebensprozess zu deuten und damit zwei Fehldeutungen gleichzeitig abzuweisen: die „Ko-

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lonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas) durch szientifische Selbstobjektivierung und die axiologische Überformung der Forschungsfreiheit durch sachfremde Werthaltungen. Damit sollte die Pointe dieser Lesart einer „Naturgeschichte der Freiheit“ deutlicher geworden sein: Für Pragmatisten ist die Sinnstrukturiertheit der Lebenswelt kein epiphänomenales Anhängsel von Naturprozessen, sondern konstitutiver Bestandteil des evolutionären Prozesses. Und genau deshalb habe ich oben von einer strkeren Lesart des Begriffs gesprochen: In dem Maß, in dem Freiheit durch ihren Gebrauch Wirklichkeit gewinnt, geht die Naturgeschichte der Freiheit in eine Freiheitsgeschichte der Natur über (die freilich, anders als im Deutschen Idealismus, ohne externe Teleologie auskommen muss und deshalb kontingent und partiell bleibt). Dieser Gedanke kann wiederum in einer eher naturalistischen Variante auftauchen, wie in Deweys Experience and Nature, oder in Gestalt der pluralistischen, religiös aufgeladenen Metaphysik des späten William James (A Pluralistic Universe). In beiden Spielarten geht es aber um die Idee einer „Evolution der Evolution“ (Mead, 1980, 357) und spezifisch um die Abhängigkeit der Freiheit von der Selbstinterpretation der Handelnden und der im Zusammenhang mit dieser hervorgebrachten individuellen und sozialen Wirklichkeit. Die Naturgeschichte der Freiheit wird also im Pragmatismus als ein kontingent-ergebnisoffener Prozess behandelt, der durch graduelle Abstufungen und durch kontingente, pfadabhängige Entwicklungen, keineswegs aber durch die vollständige Disjunktion frei/unfrei geprägt ist. Was wir über Freiheit denken, ob wir uns für ein binnenperspektivisches oder ein externalistisches Vokabular entscheiden, welche Rolle wir in der Öffentlichkeit szientifischen Objektivierungen zubilligen – all das bildet nicht ein davon unabhängiges Phänomen nur besser oder schlechter ab, sondern hat den Charakter von Vollzügen, die den von ihnen artikulierten Wert selbst realisieren und damit über seine Zukunft mitbestimmen. Die Artikulation von Freiheit ist für den pragmatistischen Ansatz also selbst immer ein performativer Akt, und zwar in dem starken Sinn, dass sie nicht nur eine vorausgehende Kompetenz (etwa metaphysischer Freiheit) instantiiert, sondern diese mit erzeugt und fortbestimmt – ähnlich, wie im Sprechen nicht nur die parole ein Exempel der langue statuiert, sondern die langue durch die kreative Weiterbestimmung in einzelnen Sprechakten jeweils neu erzeugt werden muss. Dabei lassen sich entlang der Linie „Individuum-Gesellschaft-Natur“ typisierend

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drei Ebenen der Verkörperung von Freiheit unterscheiden, die für die Pragmatisten zugleich Dimensionen der Integration von lebensweltlichem Freiheitsverständnis und evolutionärer Perspektive darstellen: erstens die artikulierende Aneignung des eigenen Willens, zweitens die pädagogisch-sozialpolitische Schaffung gleicher Freiheitsbedingungen, drittens die Einbettung des Freiheitsbegriffs in die Naturgeschichte der Selektivität. Diese drei Dimensionen gehe ich nun, beginnend mit der biographischen Ausbildung der Freiheit durch, um auf der dritten Stufe die persönliche und sozioökonomische Ebene mit der naturgeschichtlich-evolutionären Perspektive wieder zu verbinden.

Die artikulierende Aneignung des eigenen Willens Nach einer langen und tiefen seelischen Krise trägt William James am 30. 4. 1870 in sein Tagebuch ein: Ich denke, gestern war eine Krisis in meinem Leben. Ich beendete den ersten Teil von Renouviers zweitem ,Essai‘6 und sehe keinen Grund, warum seine Definition des freien Willens – das ,Festhalten eines Gedankens, weil ich mich dazu entschloss, während ich andere Gedanken gehabt haben könnte‘ – die Definition einer Illusion sein muß. Auf jeden Fall will ich für jetzt – bis zum nächsten Jahr – annehmen, dass es keine Illusion ist. Mein erster Akt freien Willens soll sein, an den freien Willen zu glauben. ( James, 1920, 147)

Diese eindrucksvollen Sätze, Jahre vor der Entstehung des Pragmatismus im engeren Sinn niedergeschrieben, enthalten in nuce die zentralen Bestimmungen des pragmatistischen Verständnisses von Freiheit. Sie vollziehen das, was sie beschreiben – genauer: verschränken in der Performanz die deskriptiven und normativen Aspekte ihres Themas – und formulieren damit zugleich eine praktische Konsequenz des Glaubens an die Freiheit, ein Bewährungskriterium, dessen Eintreffen oder Ausbleiben zum Zeitpunkt des Vollzugs noch gar nicht antizipiert werden kann. James entschließt sich, sein Leben aus der Überzeugung heraus zu gestalten, er habe einen freien Willen. Gerechtfertigt wird dieser Entschluss nicht erst dadurch, dass überzeugende Gründe fr die Annahme der Freiheit sprechen, sondern bereits durch die Nichterkennbarkeit 6

Es handelt sich um den zweiten Teil von Charles Renouviers Hauptwerk Essais de critique gnerale mit dem Titel Trait de psychologie rationelle d’apres les principes du criticism.

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überzeugender Gegenargumente. (Ähnlich verläuft später die Argumentation in der bekannten Schrift Der Wille zum Glauben. Dass keine rationalen Ausschlusskriterien vorliegen, sichert dort in Verbindung mit einem praktisch motivierten Wunsch zum Glauben die Rationalität der Entscheidung.) Die Kautele „bis zum nächsten Jahr“ macht aber deutlich, dass dies nicht im Geist einer dogmatischen Selbstimmunisierung, sondern fallibilistisch geschieht: Der praktische Glaube soll, sofern nicht irrational, handlungsleitend werden, weil er nur so imstande ist, zur Entwicklung der Realität beizutragen, von deren keimhaften Bestehen er überzeugt ist. Im Bewusstsein dessen, dass die Entfaltung eines Wertes von der inneren Einstellung der Subjekte zu ihm zum Teil abhängig ist, nimmt ein Subjekt einen Wert tentativ, in einer aus Hoffnung und kognitiven Überzeugungen untrennbar gemischten Einstellung an, um dann den eigenen Lebensvollzug im Lichte dieses Werts als Bestätigung – mit dem Risiko der Enttäuschung – erfahren zu können. Ich borge mir, um diese Struktur zu charakterisieren, eine geglückte Formulierung von Daniel Dennett, die bei ihm allerdings eine Deutung erhält, die von der erstpersonalen Perspektive gerade absieht: „bootstrapping ourselves free.“ (Dennett, 2003, 259) Indem James seinen eigenen Willen zur Freiheit artikuliert, vollzieht er nicht nur einen performativen Sprechakt in dem oben erläuterten Sinn, er praktiziert auch gleichzeitig dasjenige, was die Renouviersche Definition des freien Willens ausmacht, nämlich die Fähigkeit zur „attentionalen Fixierung“ (Herms, 1979, 80) bestimmter Bewusstseinsinhalte. Die zwanzig Jahre später vollendeten Principles of Psychology rücken, vor allem im Kapitel XI (Attention), diese Fähigkeit so entschieden ins Zentrum, dass James mit einer prägnanten Formulierung sagen kann: „My experience is what I agree to attend to.“ ( James, 1950, 402) 7 In diesem minimalen Sinn ist Freiheit eine operative Konstante des Bewusstseinslebens. Weil Menschen aber als Symbolverwender, die in eine intersubjektive Lebensform eingebettet sind, zu ihrem qualitativen Erleben reflexive Distanz entwickeln, kann diese operative Konstante ihre humanspezifische Bedeutung erst entfalten, wenn sie reflexiv angeeignet (bestätigt) 8, also Teil des subjektiven Selbstverhält7 8

Kursiv im Original. Ich knüpfe hier an das Konzept des „reflective endorsement“ an, das Christine Korsgaard in ihrer Schrift The Sources of Normativity entwickelt hat (Korsgaard, 1996, lecture two). Bei Korsgaard steht die Frage nach dem Verhältnis von moralischen Intuitionen und geltungskritischer Reflexion im Mittelpunkt. Ich

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nisses und -verständnisses wird. Die Fähigkeit der aufmerksamen Fixierung erweist sich damit als unselbständige, jedoch unentbehrliche Komponente eines Strukturganzen der Selbsterfahrung und praktischen Selbstbestimmung. Dies geschieht durch die Artikulation der Freiheit, einen lebenslangen Prozess, an dem sich wiederum zwei Aspekte unterscheiden lassen. Der erste Aspekt betrifft das grundlegende Selbstverständnis des Handelnden als frei, also die reflexive Selbsteinholung der gleichsam im Rücken des Subjekts operativen attentionalen Fixierung. Sie kann, wie das Beispiels von James‘ Tagebucheintrag eindrücklich zeigt, selbst emphatischen Handlungscharakter haben, oder aber, weniger krisenhaft, mit dem zweiten Aspekt artikulierter Freiheit verschmelzen. Dieser besteht in der sukzessiv-biographischen Aneignung des eigenen Willens. Hier ist der Gedanke leitend, dass das genaue Profil dessen, was eine Person wirklich will, nicht einfach durch Introspektion gleichsam dem empirischen Charakter abgelesen werden kann, sondern erarbeitet, und das heißt artikuliert werden muss. „Es ist“, wie Peter Bieri lakonisch formuliert, „erstaunlich schwierig zu wissen, was man will“, denn „Wünsche sind dem Wünschenden nicht schon dadurch transparent, daß er sie hat.“ (Bieri, 2001, 385). Dabei ist eine Doppeldeutigkeit der Rede von „wirklichen“ bzw. „transparenten“ Wünschen zu beachten: Sie kann nämlich einerseits auf die reflexive Bewusstmachung meiner first-order-desires 9 zielen, andererseits auf ihre Bewertung durch Werte und/oder Normen. Ob jemand wissen will, was er faktisch will, oder was er wollen will, macht einen entscheidenden Unterschied, denn: „Die Tatsache, daß etwas gewünscht wird, wirft die Frage nach seiner Wünschbarkeit nur auf; sie beantwortet sie nicht.“ (Dewey, 2001, 260). Ohne diese Unterscheidung zwischen dem faktisch Gewünschten und dem gerechtfertigt Wünschbaren kommt eine reflexiv-freie Selbstbeziehung nicht zustande, und „[n]ur ein Kind glaubt […] die Frage nach

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verallgemeinere ihren Gedanken hier im Blick auf das Verhältnis des reflexiven, sprachlich-intersubjektiven Selbst zu den Bedingungen des bewussten Erlebens. Hier greife ich die Terminologie Harry G. Frankfurts auf. Auf die umfangreiche Diskussion zu dessen Unterscheidung von Wünschen erster und zweiter Stufe und sein darauf aufbauendes Freiheitsverständnis kann ich hier nicht eingehen, vgl. aber den Sammelband Freiheit und Selbstbestimmung (Frankfurt, 2001), spez. die Einführungen durch die Hrsg. Barbara Guckes und Monika Betzler. Meine eigene Deutung Frankfurts entwickele ich im Kontext des Freiheitsproblems in Jung, 2006, 204; ausführlicher, aber im Blick auf den Begriff der Erfahrung in Jung, 2005, 124 f.

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der Wünschbarkeit durch die wiederholte Verkündigung ,Ich will es, ich will es, ich will es‘ erledigen zu können“. (Dewey, 2001, ebd.) Den eigenen freien Willen anzueignen, heißt also nicht einfach, ihn möglichst präzise zu beschreiben. So sicher Sorgfalt, Genauigkeit und Aufrichtigkeit notwendige Bedingungen sind, um zum Ausdruck bringen zu können, was man will, sowenig geht es hier in erster Linie um eine deskriptiv-kenntnisnehmende Einstellung. Wer artikuliert, was er will, der transformiert qualitativ-intensiv gespürte persönliche Regungen in öffentlich zugängliche Sprechakte und benutzt dazu eine natürliche Sprache, die von kontrastiven, starken Wertungen,10 moralischen und anderen Normen etc. durchzogen ist. Dieser artikulierende Sprechakt setzt die in attentionaler Fixierung begonnene Selbstbestimmung fort und ist strukturell insofern frei, als zwischen qualitativem Erleben und sprachlichem Sinn keine abbildrealistische Beziehung hergestellt werden kann, die dann ein Kriterium dafür liefern könnte, welche Ausdrucksgestalt welchem Erleben angemessen ist. Bewusstes Erleben einschließlich seiner intentionalen Fokussierung erzeugt Möglichkeitsräume semantischer Bestimmung, individuiert aber für sich noch keine semantischen Gehalte. Dies geschieht erst durch die artikulierende Selektion einer bestimmten Möglichkeit. Dieser Selektionsprozess stellt eine Bewertung dar, und deshalb ist der deskriptive Teil des Projekts, sich über seine eigenen Wünsche klar zu werden, mit seinem bewertenden Aspekt („Ich entscheide darüber, von welchen meiner Wünsche ich will, dass sie mein Selbst bestimmen“) untrennbar verbunden. Dementsprechend schlage ich vor, die von Peter Bieri angeführten drei Facetten der Aneignung, nämlich Artikulation, Verstehen und Bewertung, (Bieri, 2001, 384) als die nur analytisch trennbaren Aspekte eines Prozesses zu begreifen, der insgesamt artikulatorischen Charakter hat. Der erste Aspekt, den alleine Bieri als Artikulation bezeichnet, bezieht sich auf die Gewinnung von Klarheit über die authentischen Volitionen eines Selbst. Schon hier wäre aber das Bild einer wertfreien Beschreibung schief, weil es die Interdependenz von Werten und qualitativen Impulsen unterschlägt. So lässt sich leicht vorstellen, dass etwa eine Person, die mit einer rigiden und dualistischen Sexualmoral aufgewachsen ist, den deskriptiven Aspekt der Artikulation ihres freien Willens erst dann angemessen zur Geltung bringen kann, wenn sie auch die moralische Bewertung ihrer Sexualität so weit verändert hat, dass 10 Vgl. dazu Taylor, 1992, 11 ff.

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eine unbefangene Wahrnehmung sexueller Impulse überhaupt erst möglich wird. Freiheit im Sinne der Fähigkeit zur Revision von Werthaltungen und Freiheit im Sinne der reflexiven Aneignung des qualitativen Bewusstseinslebens greifen hier ineinander. Vergleichbares gilt für den hermeneutischen Aspekt, der zwischen der beschreibenden und der bewertenden Komponente vermittelt. Denn die biographische Aneignungsarbeit, die mir meinen Charakter in seinem So-sein einschließlich seiner von mir nicht oder nur zögernd gebilligten Aspekte verständlich machen kann, greift zwar auf die mir unverfügbar vorgegebenen Kontingenzen meiner Herkunft etc. zurück; zu einem verständlichen Ganzen fügen sich aber die Fragmente der Erinnerung nicht von selbst, sondern erst durch ihre – in der Regel narrative – Artikulation im Licht bestimmter Werthaltungen, deren Angemessenheit dabei wiederum dem Test persönlicher Erfahrung unterworfen wird. Und vollends ist der Aspekt der Bewertung nicht etwas, das zeitlich oder logisch erst nach dem Prozess der Ausdrucksbildung anzusiedeln wäre. Ich kann zwar meine Wünsche nicht angemessen bewerten, wenn ich sie weder kenne noch verstanden habe. Verstehen und identifizierende Beschreibung erweisen sich aber ihrerseits als abhängig von Werthaltungen, in denen der qualitative Gehalt und die Bedeutung des Erlebens nach Maßgabe von intersubjektiven Standards interpretiert werden. Die drei Aspekte der Artikulation des Willens sind in hermeneutischen Zirkeln ineinander verschlungen. Wie Peter Bieri überzeugend gezeigt hat,11 kommt der Idee des Verstehens seiner selbst bei diesem Prozess jedoch eine herausgehobene Stellung zu, weil sie es ist, deren Realisierung erst zwischen den empirischen Volitionen und Erlebnissen einer Person und ihren Werthaltungen ein Verhältnis erzeugt, dass das Selbst emphatisch als frei erfahren kann. Letzteres setzt nämlich voraus, dass die Person nicht nur ihre faktischen Volitionen, sei es billigend oder ablehnend, bewertet, sondern dass auch ihre second-orderWerthaltungen selbst ihrerseits nicht heteronom aufgezwungen sind, sondern aus einer authentischen Artikulation des eigenen Erlebens erwachsen sind, die dieses für die Person selbst verständlich macht. Anders formuliert: Die reflexive Distanzierung vom qualitativen Bewusstseinsleben erzeugt nur dann Freiheit, wenn es sich um, wie Dewey formuliert, „praktische Teilhabe von innen“ (Dewey, 2003a, 269) 11 Vgl. Bieri, 2001, 404 f., wo sich auch viele subtile Erörterungen von Beispielen finden, auf die hier aus Platzmangel nicht eingegangen werden kann.

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handelt, um eine Form der Bewertung, die nicht nur zensiert und subsumiert, sondern das Selbst für sich selbst expliziert. Durch attentionale Fixierung und semantische Artikulation realisieren Personen ihre – mithin immer bedingte – Freiheit. Dieser biographische Prozess ist aber eingebettet in interpersonale Beziehungen, kulturelle Werte, soziale Institutionen und vielfältige Interaktionen mit der natürlichen Welt. Für die pragmatistische Konzeption einer essentiell verkörperten Freiheit sind diese Einbettungen keine Applikationsfelder einer unverlierbaren Eigenschaft des menschlichen Wesens, sondern geradezu Bestandteile ihres Begriffs. In seinem Aufsatz Philosophien der Freiheit, dem ich mich nun zuwende, behandelt John Dewey deshalb die Frage nach einer angemessenen Phänomenologie der Freiheit in engstem Zusammenhang mit ihren sozialen und natürlichen Bedingungen.

Die soziale Konkretisierung der Freiheit Wer in einem biographischen Prozess der Aneignung des Willens an der eigenen Freiheit arbeitet, der verhält sich selektiv, wählt bestimmte Handlungen oder Selbstdeutungen und weist dadurch andere zurück. Freiheit, Wahl und Individualität stehen so in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis. Eine der entscheidenden Einsichten des pragmatistischen Denkens aber ist die soziale Konstitution des Selbst, die Wechselseitigkeit von Individuierung und Vergesellschaftung, wie sie im Zentrum des Werkes von Deweys Freund George Herbert Mead steht. Es wäre daher ein schwerer Fehler, die Artikulationsbedürftigkeit der Freiheit auf die private Sphäre zu beschränken. Und sobald diese Sphäre verlassen wird, gerät die gesellschaftliche Wirklichkeit als Schauplatz von Machtbeziehungen, sozialen Asymmetrien, wirtschaftlichen Ungleichgewichten etc. in den Blick. Freiheit konkretisiert sich dort als Handlungsmacht, als die Fähigkeit, eigene Entscheidungen nicht nur in der Binnensphäre persönlicher Reflexion, sondern auch gegenüber anderen und sozialen Institutionen zur Geltung zu bringen. „Es gibt“, wie Dewey daher betont, „eine immanente Verbindung zwischen Wahl als Freiheit und Macht des Handelns als Freiheit.“ (Dewey, 2003b, 280). Diesen Gedanken entfaltet er durch eine Kritik des klassischen Liberalismus, der in seinen Augen das Junktim von Wahlfreiheit und Handlungsmacht zwar ins Zentrum rückt, es aber

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gleichzeitig auf eine die wirklichen Machtverhältnisse verzerrende Weise interpretiert. John Locke, so referiert Dewey, definiert als klassischer Vertreter des Liberalismus Freiheit als „our being able to act, or not to act, according as we shall chuse, or will.“ (Locke, 1975, 248) Diese Definition verbinde sich in der Folge mit einem politischen Emanzipationsmotiv, das auf die aktive Wahrnehmung von Rechten ziele, und dem ökonomischen Motiv der Entwicklung des Privateigentums und des freien Gütertausches. Den ökonomistischen Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts mit seiner Vorstellung, „alles positive Handeln der Regierung sei repressiv“ (Dewey, 2003b, 272), deutet Dewey vor dem Hintergrund einer individualistischen Verlagerung des Akzentes von der freien Wahl auf die Wunscherfüllung. Und so gelingt es ihm, den ökonomischen Liberalismus mit einer nichtökonomischen Form derselben Idee in Zusammenhang zu bringen, nämlich der „populären Philosophie des ,Selbst-Ausdrucks‘“: „Die weit verbreitete Idee, persönliche Freiheit bestehe im ,freien‘ Ausdruck von Impulsen und Wünschen – frei im Sinne von unbeschränkt durch Gesetz, Brauch und die Hemmungen sozialer Missbilligung“ (Dewey, 2003b, 273), leidet nun Dewey zufolge exemplarisch an einem Mangel, der auch die Theorie des ökonomischen Liberalismus präge, nämlich an einem individualistischen Missverständnis der Begriffe des Wunsches oder Impulses. Übersehen werde „die Rolle, die die Interaktion mit dem umgebenden Medium, besonders dem sozialen, bei der Erzeugung von Impulsen und Wünschen spielt. Impulse und Wünsche gelten als der ,Natur‘ des Einzelnen inhärent, wenn diese als ursprünglich, unbeeinflusst durch Interaktion mit einer Umwelt aufgefasst wird.“ (Dewey, 2003b, ebd.). Weiter schreibt er: „Der wirkliche Fehlschluss liegt in der Vorstellung, Individuen seien von Natur aus oder ursprünglich so mit Rechten, Kräften und Wünschen ausgestattet, dass Institutionen und Gesetze lediglich die Hindernisse beiseite räumen müssen, die sie dem ,freien‘ Spiel der natürlichen Ausstattung von Individuen in den Weg legen.“ (Dewey, 2003b, 275). Der ökonomische Liberalismus und die populäre Attitüde des „Express yourself“ – deren wirkliche soziale Dynamik erst 40 Jahre nach Deweys Aufsatz, nämlich seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, sichtbar werden sollte – können demnach als zwei verschiedene Varianten begriffen werden,

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dem „Mythos des Gegebenen“12 (Sellars) zu erliegen. Und dieser Punkt lässt sich nun mühelos mit dem Argumentationsgang des vorigen Abschnittes verbinden, in dem es um Freiheit im Sinne der artikulierenden Aneignung des eigenen Willens ging: Dort wurde gezeigt, dass das komplexe Zusammenspiel von qualitativem Erleben und semantischer Deutung jede abbildrealistische Auffassung mitsamt der Privilegierung des Gegebenen unterläuft. Expressivität im Sinne einer wertfreien, gar emanzipationsförderlichen Entäußerung ,ursprünglicher‘ Impulse ist ebenso eine Chimäre wie die Vorstellung des ökonomischen Liberalismus, ein normativ entlastetes freies Spiel der Bedürfnisse entspreche der ,Natur‘ des Menschen. Zwischen diesen beiden Extremen, denen Dewey denselben Fehlschluss nachweist, steuert er seinen pädagogischen und sozialreformerischen Kurs, der bei ihm keineswegs ein bloßes philosophisches Lippenbekenntnis ist, sondern sich von der Chicagoer Reformschule bis zur internationalen Politikberatung dem Test der Praxis aussetzt. Dessen Details können hier nicht behandelt werden. Die Grundidee aber besteht immer in dem Versuch, die kreative Kraft des Individuums mit den sozialstrukturellen Bedingungen des Handelns in ein Verhältnis wechselseitiger Stärkung zu setzen. Deshalb bezeichnet Dewey „das Problem der Beziehung von Wahl und ungehinderter effektiver Handlung zueinander“ als „das wesentliche Problem der Freiheit“. Beide Aspekte bilden einen Zirkel, genauer „eine sich erweiternde Spirale“ (Dewey, 2003b, 280): Damit ist die Idee des Wachstums eingeführt, die auf der Realisierung intelligenter Wahlen gegen Widerstände und der daraus resultierenden Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten basiert. Ein soziales Wachstum an Freiheit stellt sich nur dann ein, wenn das Verhältnis der institutionellen und sonstigen sozialen Vorgaben zu den Präferenzen der Individuen so beschaffen ist, dass erstere weder als unübersteigbare Mauer noch als vorgebahnter bequemer Weg erfahren werden. Nur dann nämlich machen die intelligenten Wahlen des Individuums einen Unterschied, wie Dewey mit zwei kontrastierenden Beispielen aus der Pädagogik illustriert: Erfährt ein Kind die Einwirkung seiner Umwelt nur als eine äußerliche Disziplin, unter die es sein eigenes Erleben und Wollen zu subsumieren 12 In einem Text aus dem Jahr 1930 über Qualitatives Denken kritisiert Dewey, Sellars vorwegnehmend, vehement das „Missverständnis der trügerischen Idee des ,Gegebenen‘“, sofern diese mentale oder außermentale Objekte bezeichnen solle (Dewey, 2003a, 107).

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gezwungen wird, kann sich persönliche Freiheit so wenig entwickeln wie im selteneren Fall eines begünstigten scheinbaren Glückskindes, dessen Umgebung seinen first-order-Präferenzen so weit entgegenkommt, dass zwar ein Maximum an äußerer Freiheit entsteht, Werthaltungen, die sich reflexiv und mithin kritisch auf diese Präferenzen beziehen, aber gar nicht erst ausgebildet werden können.

Freiheit und die Naturgeschichte der Selektivität Durch die biographische Arbeit an der Artikulation des Willens entwickelt sich die persönliche Freiheit, immer freilich im Rahmen sozialer Vorgaben, die begrenzt durch Pädagogik und Politik gestaltet werden können. Damit haben wir bereits zwei aufeinander bezogene Stufen der Einbettung des abstrakten Freiheitsbegriffs: Freiheit im Sinne der – zunächst attentionalen, später semantisch bestimmenden – Wahl zwischen Handlungsalternativen ist eingebettet in einen autobiographischen Prozess der Selbstklärung, der ,entdeckende‘ und wertende Aspekte verbindet. Dieser Prozess ist seinerseits eingebettet in die Sphäre sozialer Interaktionen, die teils den Handelnden als institutionelles Sediment früherer Interaktionen im Rücken liegt, teils durch ihr Handeln selbst immer neu erzeugt und verändert wird. Mit der dritten Stufe der Einbettung erweist sich diese komplexe Verschachtelung individueller und sozialer Freiheit als Teil eines evolutionären Prozesses, also der Natur. Obwohl Freiheit, gemessen an einer evolutionären Zeitskala, eine extrem junge Errungenschaft darstellt, ist sie, so argumentiert Dewey, durch charakteristische Eigenschaften mit anderen Evolutionsstufen verbunden, in diachroner Kontinuität und durch strukturelle Parallelen zu gegenwärtigen nichtmenschlichen Lebensformen. Das entscheidende Stichwort hierzu lautet Selektivitt. Wie Dewey nun verfährt, um die Naturgeschichte der Freiheit genauer zu bestimmen, ist für die pragmatistische Position charakteristisch: Er entwickelt nämlich die Idee der freien Wahl aus einer evolutionären Betrachtung des Naturprozesses bis zu dem Punkt, an dem das spezifisch Menschliche ins Spiel kommt, und führt dann den Begriff der „individuellen Teilhabe“ (Dewey, 2003b, 271) ein, an dem die externe Beschreibung in eine binnenperspektivische Sicht der Dinge überführt werden muss. Diese Argumentation gilt es nun zu rekonstruieren: Ihren Ausgangspunkt bildet die ontologische Überlegung, dass „Vorzugshandeln im Sinne von selektivem Verhalten […] eine

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universale Eigenschaft aller Dinge“ ist, „ von Atomen und Molekülen ebenso wie von Pflanzen, Tieren und Menschen.“ (Dewey, 2003b, 269). Natürlich weiß Dewey, dass es eine anthropomorphe bzw. biomorphe Projektion bedeutet, der unbelebten Materie Handeln oder Verhalten zuzuschreiben. Wie kann er unter diesen Umständen seine Redeweise legitimieren? Einmal durch den oben erläuterten Primat von Sinn über Wahrheit, der zur Folge hat, dass die sinnstrukturierte Teilnehmerperspektive der Lebenswelt nicht durch die Beobachterperspektive der Wissenschaft ersetzt werden kann, die auf propositionale Wahrheit abzielt. Weil Menschen aber Teil der Natur sind, kommen, zum anderen, Sinn und mit diesem innere Teilhabe in der natürlichen Welt vor, eine kontinuitätserhaltende Perspektive zwischen ihnen und den Naturprozessen muss also möglich sein. Um diese beiden Aspekte zusammenzudenken, entscheidet sich Dewey für einen methodisch kontrollierten Anthropomorphismus in der Terminologie. Denn „wenn in der Wahl nicht zumindest etwas enthalten ist, das mit dem Handeln anderer Dinge in der Natur in Kontinuität steht, könnten wir ihr wahre Realität nur dadurch zuschreiben, dass wir den Menschen von der Natur isolieren.“ (Dewey, 2003b, 269 f.). Dieses „etwas“, Selektivität, ist natürlich nicht schon Freiheit, aber umgekehrt ist Freiheit wenigstens Selektivität, und Deweys bewusste Anthropormorphismen legitimieren sich dann als Ausdruck einer humanen Anstrengung, sich die natürliche (Vor-) Geschichte der Freiheit begrifflich zu eigen zu machen. Ein damit eng verknüpftes Beispiel dieser für den Pragmatismus charakteristischen Tendenz, Kategorien eines in naturgeschichtlicher Kontinuität verstandenen Humanums dann zur Deutung von Naturprozessen nutzbar zu machen, ist Deweys Verbindung von Selektivität und Individualität. Es klinge vielleicht absurd, Atomen und Elektronen Präferenzen zuzuschreiben, aber das liege nur an der Wortwahl. Der systematisch entscheidende Punkt bestehe darin, dass „sie eine gewisse opake und irreduzible Individualität haben […]. In der Beschreibung kausaler Sequenzen haben wir immer noch mit realen Dingen zu beginnen und von ihnen auszugehen, mit Dingen, die individuell und einzigartig genau das sind, was sie sind.“ (Dewey, 2003b, 287). Diese naturphilosophische Überlegung zur Rolle von Individualität als Selektivität wird dann mit der Steigerung von Komplexität von unbelebten Dingen über Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen zusammengebracht, mit dem Ergebnis, dass wir schließlich „eine wachsende Vielfalt selektiver Reaktionen“ vorfinden, die „von der Lebensgeschichte oder von schon gemachten Erfahrungen abhängen.

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Die Manifestation von Präferenzen wird zu einer ,Funktion‘ einer ganzen Lebensgeschichte.“ (Dewey, 2003b, 270). An diesem Punkt schließt sich der Kreis zu den oben entwickelten Überlegungen bezüglich der biographischen Aneignung des Willens. Entscheidend ist es hier, den Zusammenhang mit der Ausbildung von Willenshaltungen zweiter Stufe zu erkennen, die gesteigerte Vielfalt selektiver Reaktionen also als Mehrzahl von Reaktionsmçglichkeiten zu deuten, zwischen denen reflektiert gewählt werden muss. Dewey sieht deutlich, dass eine bloße Komplexitätssteigerung nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für die Möglichkeit von Freiheit ist, für den „Wandel von Präferenz zu echter Wahl“ (Dewey, 2003b, ebd.). Die Entstehung einer inneren Perspektive, eines individuellen Beitrags, wie sie im Begriff der Freiheit enthalten sind, setzt voraus, dass die biologisch disponierten und biographisch erworbenen Präferenzen kraft ihrer Diffusität, ihrer inneren Gegensätzlichkeit und ihrer aus beidem folgenden semantischen Interpretationsbedürftigkeit von sich aus nicht mehr handlungsleitend werden können. Es ist also die innere Differenziertheit und biographische Plastizität des qualitativen Bewusstseinslebens im Verbund mit der „Fähigkeit, Zeichen und Symbole zu bilden“ (Dewey, 2003b, 271), durch die Handlungsfolgen gegeneinander abgewogen werden können, aus der die Innenperspektive des frei Handelnden hervorgeht. „Wahl im charakteristisch menschlichen Sinn“ – so fasst Dewey den zentralen Punkt zusammen – „präsentiert sich also als eine Präferenz unter und aus Präferenzen; nicht im Sinne einer Präferenz, die schon besteht und stärker ist als andere, sondern als die Bildung einer neuen Präferenz aus einem Konflikt von Präferenzen.“13 (Dewey, 2003b, 270). Die Individualität des Wirklichen, so fasse ich Deweys Gedankengang zusammen, wird im Fall des Menschen selbstreflexiv: Aus einfacher Selektivität wird so Meta-Selektivität, die Fähigkeit, Präferenzen nicht einfach nach Stärke zu sortieren, sondern die Angemessenheit konfligierender Präferenzen zu erwägen, und zwar im Blick auf die Werte und Normen, durch die das Selbst artikuliert, welche praktische Identität es haben möchte. Die Pointe des pragmatistischen Freiheitsbegriffs ist daher in der Tat die Idee der „inneren Teilhabe“: Die evolutionäre Geschichte der Natur erreicht mit dem Menschen den 13 Deweys Unterscheidung zwischen der bloßen Entscheidung für die stärkere Präferenz und der freien Bewertung des Konfliktes zwischen mehreren Präferenzen nimmt präzise Charles Taylors spätere Differenzierungen zwischen „schwachen“ und „starken“ Wertungen (vgl. Taylor, 1992, 11) vorweg.

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Punkt, an dem Selektivität in die Perspektive eines sozial konstituierten Selbst einrückt. An diesem Punkt entsteht Freiheit, indem Handlungsmöglichkeiten nun durch den Filter einer unvertretbar eigenen Wahl gehen mssen. Die Denkfigur einer Naturgeschichte der Selektivität lässt sich daher als eine ,regulative Idee‘ ansehen, durch die Philosophie und Neurowissenschaften in Beziehung gesetzt werden können: Der Philosophie erlaubt sie, humanspezifische Freiheit als Binnendifferenzierung evolutionärer Entwicklungen zu beschreiben, die mit der inneren Teilhabe ein Stadium erreichen, von dem an der „sinnhafte Aufbau“ (Schütz) der sozialen Lebenswelt das Phänomen mitbestimmt. In den Evolutionswissenschaften lenkt er die Aufmerksamkeit auf die neuronalen Prozesse interner Komplexitätssteigerung, die beim Menschen zu hochgradiger Entspezialisierung, Flexibilisierung und Verhaltensoffenheit geführt haben.14 Autoren wie Merlin Donald haben diese beiden Aspekte längst auch innerhalb eines naturwissenschaftlich geprägten Ansatzes zusammengeführt, indem sie, die isolierte Betrachtung des Gehirns bzw. des Organismus hinter sich lassend, von einer „brain-culture-symbiosis“ (Donald, 2001, 202) unserer „hybrid minds“ (Donald, 2001, 155) ausgehen. Die Explananda von Philosophie und Evolutions- bzw. Neurowissenschaften fallen damit zwar keineswegs zusammen, was angesichts der unterschiedlichen Fragestellungen und Zugangsweisen auch weder zu erwarten noch zu wünschen wäre. Aber ein gemeinsamer Bezugspunkt sollte sichtbar geworden sein, und darin liegt doch ein erheblicher Gewinn.

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14 Vgl. dazu den 2. Abschnitt von Norbert Meuters Beitrag „Natur und Kultur der Freiheit“, hier in diesem Band.

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Leben ist das größere Problem Philosophische Annäherung an eine Naturgeschichte der Freiheit VOLKER GERHARDT 1. Freiheit im Widerstreit Über die Freiheit wird derzeit wieder einmal viel gestritten. Schon von den antiken Denkern sind solche Debatten überliefert, die Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts haben sie fortgesetzt, und im 19. Jahrhundert herrschte der Glaube vor, den Streit endgültig erledigen zu können. Dass es dazu nicht gekommen ist, liegt auch an den Widersachern der Freiheit: Denn durch nichts wird die Freiheit besser unter Beweis gestellt, als durch den Versuch, sie zu bestreiten. Warum sollte es nçtig sein, sie in Abrede zu stellen, und wie sollte das mçglich sein, wenn es Freiheit nicht gäbe? Der Versuch, sie zu bestreiten, könnte nur dann als „unfrei“ bezeichnet werden, wenn der Theoretiker zu seinen abschlägigen Thesen gezwungen worden wäre. Denkbar wäre auch, dass er unter Drogen stünde. Doch ich bin weit entfernt, mit einer despektierlichen Mutmaßung aufzuwarten. Vielmehr achte ich auch die Freiheit derer, die sie bestreiten, und wesentlich mit Blick auf die freiwilligen Gegner der Freiheit unternehme ich einen auf Anschaulichkeit angelegten Versuch, die Freiheit philosophisch so zu beschreiben, dass auch die lebenswissenschaftlichen Apostaten der Freiheit erkennen können, wie sehr die Freiheit sie nicht nur persönlich, sondern auch in ihrem eigenen Fach, vornehmlich in Physiologie und Biologie, berührt.

2. Die alltägliche Gegenwart der Freiheit Freiheit, von der wir Menschen mit Rekurs auf unser Selbstbewusstsein sprechen, ist die Freiheit unseres eigenen Tuns. Wir wollen tun und lassen, was wir wollen, und wenn uns daran etwas hindert, sehen wir

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unsere Freiheit eingeschränkt. Die Hindernisse können verschieden sein, wie uns die Rede von der „Beinfreiheit“, die wir uns im Fond eines Wagens wünschen, die „Armfreiheit“, auf die wir bei der Anprobe eines Jacketts zu achten haben, oder die „Bewegungsfreiheit“ eines Kindes im Laufstall lehrt. Hindernisse anderer Art sind im Spiel, wenn von der „Reisefreiheit“ des Touristen, von der „Niederlassungsfreiheit“ des Arztes oder von der „Meinungsfreiheit“ die Rede ist. Freiheit ist also ein Wort, das in vielen Lagen zur Anwendung kommt. Sogar in der Physik ist von den „Freiheitsgraden“ eines beweglichen Körpers die Rede. Aber die vielfältige Verwendung schließt nicht aus, dass es einen erkennbaren Ausgangspunkt für den weit gefächerten Gebrauch des Ausdrucks gibt. Die Etymologie des Wortes verweist auf den gesellschaftlichen Handlungszusammenhang des Menschen. „Freiheit“ hängt in seiner Herkunft mit „Freund“ und „Frieden“ zusammen; es bezeichnet bereits in einer frühen gotischen Verwendung den „Zustand der Freihalsigkeit“. (Kluge, 2002) Dazu braucht man nur zu wissen, dass der Ring um den Hals das altgermanische Kennzeichen der Sklaven war. „Frei“ war einer, der nicht direkt dem Willen eines anderen unterstand und somit seinem eigenen Willen folgen konnte. Als „Freier“ ließ sich somit auch ein Mann bezeichnen, der eine heiratsfähige Frau aus der Verfügung der väterlichen Gewalt befreite.

3. Das individuelle Bewusstsein der Freiheit Selbst wenn die Etymologie uns in die Irre führte, können wir ganz sicher sein, dass die Bedingung für eine sinnvolle Verwendung des Begriffs in der menschlichen Selbsterfahrung liegt. Wer nicht von sich aus weiß, was es heißt, von etwas frei zu kommen, in etwas frei zu sein oder aber eingesperrt zu werden, der wird wohl nie verstehen, was „Freiheit“ heißt. Zwar kann er beobachten, wie ein von der Leine losgelassener Hund seine Bewegungslust austobt; er wird auch eine Ahnung davon haben, warum Tiere im Zoo so traurig wirken und warum „Gefängnis“ als eine Strafe gilt; vermutlich wird er auch die Bilder von der Maueröffnung im Herbst 1989 nicht ohne Anteilnahme sehen. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass er sich in einem Test zu einem weitgehend korrekten Gebrauch des Wortes „Freiheit“ als fähig erweist. Aber verstehen, was Freiheit bedeutet und warum sie dem Menschen so wichtig ist, wird er vermutlich nicht.

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Zu diesem Verständnis gelangt man nur, indem man die Freiheit an sich selbst erfährt. Der letzte Schultag vor den Sommerferien, die Lust, ungestört im eigenen Zimmer zu sein, die Erlaubnis, aus dem Bücherschrank lesen zu dürfen, was immer man will, oder der erste Einkauf mit eigenem Geld: Das sind Situationen, in denen die Freiheit offenkundig ist. Auch der alljährlich wiederkehrende Kampf gegen die kratzigen Winterstrümpfe, gegen das elende „Leibchen“ und die viel zu langen „kurzen Hosen“ sind in meiner Erinnerung mit echtem Freiheitsbewusstsein verbunden. Oder, viel später, das Gewicht der eigenen Entscheidung fr die Philosophie und damit gegen den versammelten Rat der Familie. Das sind mögliche Erfahrungen, die den ursprünglichen Sinn des Begriffs der Freiheit bestimmen. Es ist das aus eigenem Erleben stammende, individuelle Freiheitsbewusstsein, dass uns verstehen lässt, was Freiheit heißt. Es ist nicht zu sehen, warum dieses Bewusstsein im Widerspruch zu den Kausalrelationen der Natur stehen soll.

4. Kleine Phänomenologie der Freiheit Die Selbsterfahrung der eigenen Freiheit dürfte eng mit dem Selbstvollzug unserer Lebendigkeit verbunden sein. Deshalb reichen ihre Wurzeln mit Sicherheit weit in die Naturgeschichte des Lebens zurück. Folglich ist es auch nicht abwegig, Analogien mit dem ungehinderten Lebensvollzug von Pflanzen und Tieren herzustellen. Sie werden von Spinozas umfassender Definition der Freiheit abgedeckt,1 passen aber auch zum weitläufigen Alltagsgebrauch des Begriffs. Es ist daher keineswegs vergeblich, sich an einer Naturgeschichte der Freiheit zu versuchen, die das, was der Mensch an sich selbst erfährt, in einen evolutionären Kontext stellt. Zunächst aber ist festzuhalten, wie eng der skizzierte menschliche Erfahrungszusammenhang an das humane Selbstbewusstsein gebunden ist. Überall dort, wo sich das Individuum als Urheber seiner eigenen Bewegungen erlebt, wo es ihm gelingt, sich selbst aus einer unbeque1

„Dasjenige Ding heißt frei, dass aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur da ist und allein von sich zum Handeln bestimmt wird; notwendig aber oder vielmehr gezwungen (necessaria autem, vel potius coacta) dasjenige, was von einem anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu sein und zu wirken.“ (Spinoza, 1999, I, 7. Definition)

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men Lage zu befreien, wo es einem eigenen Wunsch nachgibt oder sich dem Verlangen eines anderen widersetzt, auch dort, wo es sich selbst bemühen, seine eigenen Kräfte einsetzen oder aus eigenem Impuls Ja oder Nein sagen kann: In allen diesen Fällen liegen Erfahrungen vor, die mit dem Bewusstsein der Freiheit verbunden sind. Die Erfahrung der Selbstbewegung aus eigenem Impuls gewinnt an Prägnanz, sobald sie im Kontrast zu den Impulsen anderer steht. Das geschieht wesentlich durch die Artikulation seines Willens, in dem es den Impuls des eigenen Strebens für andere kenntlich zu machen sucht. Das Erleben der eigenen Freiheit ist mit der Ausbung des eigenen Wollens verknüpft. Dieses Wollen ist, wie Nietzsche sagt, auf „etwas“ gerichtet. Aber das Selbstverständnis des Willens ist immer auch dadurch bestimmt, dass er sich im Verein mit und im Gegensatz zum Willen anderer zu behaupten hat. Wollen ist ausdrücklich eigenes Wollen, das sich in Relation zum Willen eines Gegenübers begreift. Zwar wird man nachträglich auch dort, wo man ohne nachzudenken einfach seinen Eingebungen gefolgt ist, von Ungebundenheit und Freiheit sprechen. Andererseits kann man sich als extrem unfrei erfahren, wenn die Tür hinter einem ins Schloss gefallen ist, und der Weg zurück versperrt ist. Der vom Hochwasser Eingeschlossene, der vom Schnee Verschüttete, der vor Schreck Gelähmte wird sich in extremer Bedrängnis fühlen; niemand käme auf die Idee, ihn als frei zu begreifen, selbst wenn er noch über Handlungsalternativen verfügte. Hier ist es nicht der Willen eines anderen, der für die Einschränkung verantwortlich ist, sondern die Situation ist durch einen ungewöhnlichen Umstand derart verändert, dass die gewohnten Handlungschancen nicht gegeben sind. Gleichwohl dürfte sich das Bewusstsein der menschlichen Freiheit wesentlich in jenen Lagen schärfen, in denen man sich gegen den Willen anderer zu behaupten hat. Das schließt nicht aus, dass man es als erhebend und befreiend empfindet, wenn man sich ohne Zwang dem Willen anderer anschließen kann. Aber dieses „ohne Zwang“, das für das Erleben der Freiheit grundlegend ist, kann nur in Relation zum Wollen anderer verstanden werden. Und da Unfreiheit mit Sicherheit dort gegeben ist, wo man unter dem Diktat des Willens eines anderen steht, darf man im Umkehrschluss behaupten, dass die eigene Freiheit sich im Vollzug des eigenen Willens entfaltet.

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5. Freiheit im Gegeneinander der Willen In ihrer artikulierten Form, so kann man den Ertrag der kleinen Phänomenologie resümieren, bringt die Freiheit einen gesellschaftlichen Tatbestand zum Ausdruck: Sie geht zwar von der Fähigkeit zur individuellen Selbstbewegung aus, setzt aber nicht nur die Kompetenz zum eigenen Handeln, sondern auch zur Verständigung über die eigenen Absichten voraus. Ferner unterstellt sie die Realität gegensätzlicher (und allemal auch individueller) Impulse. Denn nur im polaren Feld von Gegensatz und möglichem Einverständnis kann das eigene Wollen wirklich als frei oder unfrei erfahren werden. Damit kann man die Essenz der Freiheit in der Befreiung von der Verfgung durch den Willen eines anderen sehen. Ursprünglich ist jedes Individuum dem Willen anderer unterworfen. In der Regel sind es die Eltern, die das Kind in ihrer Obhut haben und nach ihrer eigenen Einsicht mit ihm verfahren. Doch die organische Eigenstndigkeit des Einzelnen greift in einer normalen Entwicklung sukzessive auf den Bewegungsapparat und den Ausdruck über. Das Individuum kann, muss und will sich aus eigenem Antrieb bewegen und hat sich zunehmend eigenstndig zu artikulieren. So entsteht und wächst die Geschicklichkeit im Umgang mit sich selbst, die eine weitreichende Kontrolle auch sozial gerichteter Äußerungen im Gefolge hat. Zugleich wachsen die Eigeninteressen und rufen unvermeidlich Konflikte hervor. Sie sind es, in denen sich der Wille des Einzelnen schärft. Im trotzigen „Nein“ des Kindes wird er ihm selbst und anderen vermutlich zuerst bewusst. Sobald er sich differenzierter äußern kann, wird der Wille zu einem für einen selbst wie für die anderen erkennbaren Movens der Freiheit, die ihr sicherstes Bewusstsein in der Unabhängigkeit vom Willen eines anderen hat. Die Eigenständigkeit des eigenen Wollens ist es somit, die wir meinen, wenn wir von Freiheit sprechen. Solange sich ein Mensch nach seinen eigenen Einsichten richten, solange er nach seinen eigenen Gründen handeln kann, begreift er sich als frei. Und daran ändert sich nichts, wenn er die Natur sowohl im Ganzen wie auch im Detail als „determiniert“ bezeichnet. Die „Kausalität aus Freiheit“, von der man im Anschluss an Kant bis heute spricht, bezieht sich auf die Urheberschaft für das eigene Tun. Deren Subjekt ist das sich artikulierende „Selbst“ und damit das sich seiner selbst bewusste Ich, das keinen Anhaltspunkt dafür gibt, die Kausalität des Individuums könne zur Kausalität der Natur in Widerspruch stehen.

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Die Zuschreibung der Urheberschaft erfolgt übrigens nicht mit Blick auf die Hand, die den Backenstreich tut. Die Freiheit ist nicht auf die Lippen beschränkt, über die das unbedachte Wort gegangen ist, und meint, selbst wenn sich jemand aus Ärger über sein Tun an die Stirne fasst, niemals bloß seinen Kopf oder das, was darinnen ist. Sie ist vielmehr stets auf den ganzen Menschen gerichtet, und zwar auf die Einheit, die er in seinem Empfinden, Erleben und Handeln selbst erfährt, die aber auch von seinesgleichen wahrgenommen und angesprochen wird. Die organische Einheit eines Lebewesens trägt auch den praktischen, semantischen und symbolischen Konnex seiner Bewegungen. Die Einheit in der Wirkung und im Sinn seiner Äußerungen hat ihren Grund in der organischen Selbstbezüglichkeit des lebendigen Wesens, bei dem alles, was aus eigenen Systembedingungen heraus erfolgt, als Funktion eben dieses Systems angesehen werden muss. Noch dessen Offenheit und Veränderbarkeit stehen im Interesse des Systems. Folglich kann, ja, muss man auch die affektiven und intelligiblen Leistungen eines Organismus als Momente im Vollzug seiner Eigenart verstehen. Alles, was ihn daran hindert, nach seiner Eigenart zu agieren und zu reagieren, schränkt ihn derart ein, dass man von der Behinderung seines Lebensvollzugs sprechen kann. Das wäre ein Zustand, in dem man es nicht mehr als „frei“ bezeichnen könnte. Doch lassen wir zunächst noch offen, ob sich der Begriff der Freiheit auch auf die ungehinderte Entfaltung nicht-menschlicher Lebewesen beziehen lässt. Beim Menschen ist es so, dass wir von Freiheit dort sprechen, wo er sich als Ganzer uneingeschränkt zum Ausdruck bringen kann. Dabei findet sie ihre Grenze an der Freiheit anderer, nicht aber an der Natur, erst recht nicht am Gehirn des Menschen, selbst wenn es so determiniert oder so determinierend wäre, wie es die Abtrünnigen der Freiheit, die ihre Freiheit nutzen, um Freiheit zu bestreiten, glauben. Das hier skizzierte Verständnis von Freiheit hat eine lange Tradition. Jean Bodin hat ihm zu einem klassischen Ausdruck verholfen: „Natürliche Freiheit bedeutet für uns, […] keinem lebenden Menschen unterworfen zu sein und von niemandem anderen Befehle entgegennehmen zu haben als von sich selbst, d. h. von der eigenen Vernunft, die stets im Einklang mit dem Willen Gottes steht“. (Bodin, 1981, Buch I, Abschnitt 3) 2 2

Dass Bodin nicht nur an die Übereinstimmung der eigenen Tat mit dem eigenen Willen, sondern auch an eine Koinzidenz mit dem Willen Gottes denkt, bringt den Anspruch auf die Vernunft im eigenen Willen zum Ausdruck. Wenn der

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6. Freiheit nur unter der Gesetzmäßigkeit der Natur Auch wenn im Gebrauch des ursprünglich auf den handelnden Menschen bezogenen Freiheitsbegriffs die Kausalität der Naturereignisse gar kein Thema ist, bleibt es eine unausweichliche Frage, wie denn der Mensch mit seinem ihn als Einheit auszeichnenden Freiheitsbewusstsein in den Zusammenhang jener Naturvorgänge passt, denen er selbst als Naturwesen zugehört und die er durch den Begriff der Kausalität zu erfassen sucht. Die erste und wichtigste Auskunft ist die, dass der Mensch in seinem Freiheitsbewusstsein auf nichts so sehr angewiesen ist, wie auf die Verlässlichkeit der ihm bekannten Natur. Bei jedem Schritt, den er tut, bei jedem Bissen, den er schluckt, bei jedem Werkzeug, das er einsetzt, und bei jedem Haus, das er baut, vertraut er auf die unverbrüchliche Gesetzmäßigkeit der umgebenden Welt. Mag er die strikte, alles Geschehen tragende Geltung des Gesetzes der Kausalität auch noch so spät entdeckt und beschrieben haben: In der Sache gründet er seinen Umgang mit den Dingen schon immer auf die lückenlose Geltung der Naturgesetzlichkeit. Wie hätte der Mensch Waffen ohne die Annahme herstellen können, dass sie immer auf dieselbe Weise wirken und durchschnittlich nur den verletzen, gegen den sie gerichtet sind? Wie hätten die Menschen je das Feuer domestizieren können, wenn sie hätten befürchten müssen, dass es jederzeit auch auf die Steine, die Erde, den Ofen oder das Löschwasser übergreift? Was hätten ihnen das Lernen und die Wissenschaft gebracht, wenn die Natur wirklich voller Lücken wäre, die sich erst dadurch füllen, dass einer sie mit freien Handlungen auszustopfen sucht? Im Wissen und im handwerklichen Tun, im Planen und Erinnern, im Umgang mit dem eigenen Körper und den Gegenständen der äußeren Welt, seien es die gebrannten Ziegel, das Saatgut oder das Vieh: In alledem geht der Mensch von der Regelmäßigkeit des Naturgeschehens aus. Er nimmt sie als Voraussetzung seines Handelns an, setzt sie nach Art eines Mittels ein und kann gar nicht umhin, sie auch noch jenen Zuständen zu unterstellen, die er mit seinen willentlichen AktiEinzelne mit seinem Wollen nicht nur im Augenblick übereinstimmen will, muss er sich auf einsichtige Gründe stützen, deren Angemessenheit im Horizont seiner Selbst- und Weltkenntnis tatsächlich am besten dadurch angezeigt werden kann, dass man glauben darf, sie entsprächen dem Willen Gottes.

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vitäten erreichen will. Warum denn sollte er selbst eine Ausnahme von den Naturerscheinungen sein? Oder wird er es schon dadurch, dass er sich zur Ausnahme erklärt? Zur Ausnahme macht sich der Mensch jedenfalls noch nicht, wenn er anderen absichtlich ein Zeichen für das gibt, was geschehen oder verhindert werden soll. Auch andere Lebewesen geben sich Zeichen, die Reaktionen, wie gemeinsame Aufmerksamkeit oder Flucht, veranlassen. Auch hier sind gleich bleibende Ursachen und Wirkungen nicht nur tatsächlich gegeben, sondern auch von den reagierenden Wesen unterstellt. Nicht nur in der Verständigung über gemeinsame Reaktionen, sondern auch in der Täuschung von Feinden sind Regelmäßigkeiten habitualisiert, die kenntlich machen, dass auch der Organismus mit der Gesetzmäßigkeit der Naturprozesse rechnet. Deshalb geht man nicht zu weit, wenn man behauptet, dass Freiheit nur möglich ist, wo sich der Mensch auf die lückenlose Kausalität der Natur verlassen kann. Diese Behauptung gilt im Übrigen nicht nur für die ußeren Handlungskonditionen, sondern auch für die Vorgänge im Inneren des Organismus. Jeder Mensch, der isst und trinkt, weiß davon, und wer eine Kopfschmerztablette nimmt, glaubt daran. Mehr noch: Er müsste an sich selbst irre werden, wenn seine Kausalität aus Freiheit in Widerspruch zur Kausalität der physischen und physiologischen – und am Ende natürlich auch – der neuronalen Prozesse stünde.

7. Die Natur im Widerstreit mit sich selbst Die Natur, die wir sind, die wir erleben und die wir in separierten begrifflichen Leistungen erkennen, ist kein linearer Prozess im ungehinderten Übergang von Ursachen zu Wirkungen. Sie ist zunächst und in allem ein unendlich vielfältiges, myriadenhaft individuiertes und organisiertes, in labilen Gleichgewichten nur zeitweilig austariertes, aber fortlaufend durch sich selbst gestörtes Konglomerat von Gegensätzen, das überdies in seiner energetischen Grundstruktur auf Quanten beruht, deren Verhalten sich unter keinen Bedingungen berechnen lässt. Vermutlich ginge man schon zu weit, wenn man von einem „System“ repulsiver und attraktiver, antagonistischer und symbiotischer Kräfte spräche. Aber es kommt unserem Verlangen, selbst Einheit zu sein, entgegen, wenn wir auch unser Gegenüber als Einheit begreifen. Und die Freiheit, die mit unserem Einheitsverlangen auf das Engste

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verbunden ist, schreiben wir auch diesem Gegenüber zu. Daher die Neigung, die Natur als Ganze selbst als lebendig und eigenständig anzusehen und sie begrifflich entsprechend auszuzeichnen. Gleichwohl verzichte ich darauf, einen Begriff für das Flimmern der Energien zu finden, das sich uns als Natur zu erkennen gibt. Sicher ist nur, dass wir viel zu wenig sagen, wenn wir die kausale Ordnung exponieren, ohne hinzuzufügen, dass sich die Kausalität offenbar bestens mit der inkommensurablen Vielfalt und den chaotischen Gegensätzen in ihrer realen Bewegung verträgt. Erst die Kausalität ermöglicht die Bildung und Verstärkung einzelner Kräfte, und es schmälert ihre strenge Gesetzlichkeit keineswegs, dass sie es ist, die alles wieder zerstört. Das gilt vor allem für die belebte Natur. Hier konzentrieren und multiplizieren sich die Gegensätze ins Unabsehbare. Hier bilden sich immer neue Einheiten, die Lebensformen zerstören und schaffen, welche ihrerseits neuartige Widerstände stimulieren. Am selben Individuum und in derselben Gattung gibt es einen rhythmischen Wechsel von Steigerung und Verfall. Unablässig werden Einheiten gebildet und wieder vernichtet, einzelne Wesen entstehen und vergehen, wobei es auch immer wieder vorkommt, dass neue Arten entstehen. In diesem synergetischen Feld fortgesetzter Kongruenzen und Oppositionen treten also lebendige Wesen auf, von denen sich, ohne dass es jemand bestreitet, sagen lässt, dass sie sich „aus eigenem Antrieb“ bewegen. Auch wenn ihre Bewegungen auf Naturgesetzen beruhen und obgleich sie durch und durch aus lückenlos aneinander liegenden Stoffen bestehen, die selbst ihrer spezifischen Gesetzmäßigkeit folgen, haben die lebendigen Wesen dennoch ihre eigene Dynamik, die sich nach ihren gattungsspezifischen Strukturen und nach Maßgabe ihrer Lernprozesse vollzieht. Angesichts der von den Apostaten der Freiheit unterstellten These einer durchgängig durch Kausalität festgelegten Natur, ist das ein höchst unwahrscheinlicher, vielleicht sogar unmöglicher Tatbestand. Und dennoch gibt es ihn. Er manifestiert sich in jedem Akt des Lebens, das dieselben Theoretiker, die Freiheit bestreiten, als „spontan“ verursacht und als „eigengesetzlich“ beschreiben (Roth, 1990, 167 ff.). Wenn es aber spontane Bewegung, eigene Dynamik und sich selbst erhaltende Strukturen gibt, dann ist nicht einzusehen, warum es ausgerechnet die Freiheit nicht geben soll, die diese Ursprünglichkeit und Eigengesetzlichkeit eines lebendigen Wesens zum Ausdruck bringt.

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8. Das Beispiel eines Schmetterlings Es scheint niemanden zu wundern, dass die Kausalität der Natur eine so große Vielfalt an Formen hervorzubringen vermag und mit ihnen zahllose Wesen, die sich wechselseitig ihre Existenz streitig machen. Ehe wir uns über die Freiheit wundern, sollten wir darüber staunen, dass die Naturkausalität überhaupt so etwas wie Leben zulässt. Möglich ist das Leben nur, weil die Natur nicht in geschlossener Front marschiert. Sie wird nicht von einer einzigen Kausalkette gezogen, sondern besteht auf einer Vielzahl sich wechselseitig verstärkender, behindernder und vernichtender Kräfte, und es ist das Wechselspiel dieser Kräfte, das zum Aufbau einer organischen Einheit so genutzt wird, dass sie sich selbst als eine Kraft behaupten kann, die durch die Integration widerstreitender Kräfte entsteht und alles andere als eindeutig berechenbar ist. Angesichts der Vielfalt tatsächlich wirkender Kräfte ist es, trotz strikter Determination, noch nicht einmal möglich, die nächstliegende Wirkung vorherzusehen.3 Vielleicht kann man das an einem Beispiel illustrieren: Bei einem Schmetterling erfolgt der kontingente Richtungswechsel in Bruchteilen von Sekunden. Jede seiner ausgeführten Bewegungen dürfte kausal verursacht und dennoch vorab kaum berechenbar sein, weil viel zu viele vorher gar nicht absehbare Kräfte von außen auf den Organismus und (teils in Reaktion darauf, teils aus eigenen Strukturbedingungen) in ihm selbst wirken. Jede Analyse der Bewegung des Schmetterlings hat mit der Vielzahl von inneren und äußeren Ursachen zu rechnen, deren Wirkungen in der Bewegung des Insekts zwar eindeutig sind, aber dennoch schwer vorausberechnet werden können. Das kann nur gelingen, wenn man die Ganzheit des Organismus ins Kalkül zieht: Der Organismus ist das „System“, das viele Kräfte auf die für das Ganze charakteristische Weise vermittelt. Dabei verfährt es in 3

In der nüchternen Sprache von Andreas Herz: „Die Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Ereignisse mögen damit deterministischen Gesetzen gehorchen, nicht jedoch das Eintreten (oder Nicht-Eintreten) eines Ereignisses. Diese Schlussfolgerung gilt schon für eine Beschreibung innerhalb der klassischen Mechanik, da ein Organismus kein abgeschlossenes System darstellt, sondern permanent mit seiner Umwelt interagiert. Diese ist beliebig hochdimensional und nicht reproduzierbar. Deshalb kann die zukünftige Entwicklung eines Organismus selbst bei vollständig bekannten internen Anfangsbedingungen nie exakt vorausgesagt werden.“ Vgl. dazu den überarbeiteten Beitrag von Andreas Herz in diesem Band, S. 41.

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den einzelnen Akten kausal, aber die Kausalität des Systems, die sich in den realen Bewegungen des Schmetterlings zeigt, kann nicht auf ein lineares Ursache-Wirkungsschema reduziert werden, weil viele Ursachen gegenläufig ineinander wirken.4 Dadurch, dass sich das System als Ganzes verhält, kann es seine eigenen Bewegungsmuster reproduzieren. Und solange dem System keine Gewalt angetan wird, bewegt es sich nach seinem eigenen Gesetz. Wenn ein menschliches Wesen dieser Eigengesetzlichkeit folgt, nennen wir es „frei“. Warum sollte man diese Redeweise nicht auf andere Lebewesen übertragen können? Ein Schmetterling im Netz ist nicht mehr frei zu nennen.

9. Eigenes im Wechselspiel der Kräfte Ich stelle erneut die für das Verständnis von Freiheit entscheidende, aber in der Regel vergessene Frage: Wie können unter den lückenlos wirksamen kausalen Kräften der Natur überhaupt die Bewegungsspielräume entstehen, die sich im Sinn der Freiheit deuten lassen? Die Antwort erfordert eine Reflexion auf die Natur, deren Mechanik es offenbar nicht verhindert, dass Leben entsteht. Schon diese Art zu reden könnte anstößig klingen, weil es doch die Mechanik der Natur sein muss, die Leben möglich macht. Wie anders sollte denn Leben entstanden sein, als unter den Konditionen unausgesetzter Kausalität? Die Frage aber ist, wie die strikte Folge von Ursachen und Wirkungen dazu führen kann, dass sich inmitten der Mechanik der Natur separierte Kräfte und Kraftzentren bilden, die ihre eigene Ordnung haben, um ihr entsprechend zu selegieren und zu reagieren.5 Dass eine Amöbe ihre eigenen Rezeptions- und Reaktionsformen ausprägt, ist angesichts der Uniformität des Kausalitätsprinzips ein erstaunlicher Tatbestand. Nicht weniger verwunderlich ist die Fähigkeit höher organisierter Lebewesen, nicht nur spezifische, sondern auch individuelle Verhaltensformen auszubilden. Sie leben im selben Umfeld und haben den 4 5

Von einer näheren Betrachtung der nicht eindeutig determinierten offenen Systeme organischer Wesen sehe ich hier ab und verweise auf den Beitrag von Andreas Herz in diesem Band. Julian Nida-Rümelin bietet dafür eine verblüffend einfache Erklärung, indem er in seinem Kugelexperiment demonstriert, dass selbst eine strikt kausale Naturordnung nicht alle Ereignisse festlegt. Vgl. Nida-Rümelin, 2005, §5, insbes. 74 f.; Nida-Rümelin 2001, Kapitel 2.

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gleichen Aufbau, können sich aber dennoch unterschiedlich verhalten. Sie können Spielräume nutzen und auf veränderte Lagen mit veränderten Programmen reagieren. Eben darin zeigt sich die Eigenart des Lebens, das Organismen schafft, welche die Fähigkeit auszeichnet, sich aus eigenem Impuls und in eigener Dynamik zu erhalten. Das Leben hat seine Eigenart darin, dass es Systeme schafft, die nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit verfahren. Die Aussage gilt sowohl für einzelne Wesen als auch für die Populationen, in denen sie möglich sind. Allein die Tatsache, dass die Individualität eines Lebewesens nicht nur in seiner Erscheinungsweise, sondern auch in seinen Verhaltensformen zum Ausdruck kommt, beweist einen Spielraum der lebendigen Natur, der nicht entstehen könnte, wenn es nur die lineare Kausalität der mechanischen Kräfte gäbe. Tatsächlich aber herrscht der Widerstreit unablässig aufeinander einwirkender Kräfte, die sich stören und verstärken, aufheben und neu entstehen, in Gleichgewichtslagen binden und wieder daraus lösen lassen. Es gibt die systemisch geordneten Wirkungsformen lebendiger Wesen, die jeder Art zu ihrer spezifischen und jedem Organismus zu seiner individuellen Form des Verhaltens verhilft. Dadurch sind eigene Äußerungsweisen möglich. Wo es aber Eigenes gibt, kann es von anderem gefördert, eingeschränkt oder beseitigt werden. Das entspricht den Wirkungsformen, die wir aus dem Gebrauch der menschlichen Freiheit kennen – auch und gerade dort, wo sie behindert wird. Wer nun die Besonderheiten einer Gattung oder eines Lebewesens mit der Kausalität der Natur für vereinbar hält, der hat nicht länger Grund, einen Widerspruch zwischen Kausalität und Freiheit anzunehmen. Denn Freiheit ist der prozessuale Ausdruck der Eigentümlichkeit eines menschlichen Wesens – in Relation zur Eigentümlichkeit von seinesgleichen. Sollte es gelingen, dieses Verständnis von Freiheit plausibel zu machen, böte es die Chance, Vorformen der Freiheit auch bei anderen lebendigen Wesen kenntlich zu machen. Das entspricht der Wahrnehmung durch den unbefangen urteilenden Menschen, der Freiheit (als die nicht behinderte Spontaneität seines eigenen Selbst) im strengen Sinn zwar nur von sich selbst kennt, in der lebendigen Natur aber dennoch das ihm Verwandte empfindet. So war es Leibniz und Kant, Goethe und Alexander von Humboldt möglich, die „freie Natur“ des Lebens zu bewundern, die sie von der „gefesselten Natur“ rein mechanischer Prozesse zu unterscheiden wussten.6 6

Dazu: Kaulbach, 1965, 23 ff.; Kaulbach, 1968, 62 ff.; ferner Hamel et al., 2003.

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10. Der natürliche Sockel der Freiheit „Freiheit“ bezeichnet die ungehinderte Entfaltung einer lebendigen Bewegung nach den Konditionen, die für das Lebewesen spezifisch sind. Beim Mensch liegt diese Kondition im eigenen Willen und in der eigenen Einsicht. Beide treten, vom Suizid abgesehen, in der Regel als Anwälte der organischen Eigenständigkeit des menschlichen Wesens auf. Doch selbst der Suizid kann noch als freier Akt der Sicherung der personalen Integrität begriffen werden. In diesem Fall liegt die Eigenständigkeit im Bewusstsein sozialer und moralischer Verbindlichkeiten, mit denen sich eine Person identifiziert. Also kann sie selbst noch in einer aussichtslosen Lage, in der ihr kein Handlungsspielraum mehr zu bleiben scheint, den Akt der Selbsttötung als frei begreifen. Sehen wir von der Grenzsituation der Selbsttötung ab, dann liegt die Freiheit des Menschen in der ungehinderten Eigenständigkeit einer Selbstbewegung, die auf die Erhaltung des Lebens bezogen ist. Die Instanz, welche diese Einheit wahrt, kann als Bewusstsein bezeichnet werden, das seinerseits Instanzen und Instrumentarien zur Regulierung und Steuerung des Verhaltens in einem durch Wissen und soziale Verbindlichkeiten strukturierten Umfeld ausbildet. Vernunft, Einsicht oder Wille sind solche Instanzen und Instrumentarien. Der übliche Begriffsgebrauch von Freiheit ist auf ihren Einsatz, kurz: auf die intelligiblen Fähigkeiten des Menschen bezogen. Es gibt keinen Anlass, daran etwas zu ändern. Gleichwohl kann es das Verständnis dieses Begriffs von Freiheit erhellen, wenn wir seinen Geltungsbereich versuchsweise auf das Verhalten von Lebewesen übertragen, die vermutlich nicht über Vernunft, Einsicht und Wille verfügen. Jedermann weiß, dass in den Freiheitsimpuls des Menschen auch andere Momente eingehen können. Ohne Antriebe, Empfindungen, Gefühle und Gewohnheiten hätte es keinen Sinn von Freiheit zu sprechen. Oft vollstreckt der Wille nur, was die Affekte fordern. Doch auch dann ist er nicht unfrei. Zwar entspricht es dem Ideal, möglichst nur nach eigener Einsicht zu entscheiden, aber im Einzelfall muss jede menschliche Handlung, die von anderen nicht erzwungen ist, als „frei“ bezeichnet werden.7 In ihr folgt der Mensch seinem eigenen Impuls – bricht auf, wohin er will, liebt die Frau, die ihm gefällt, oder kauft Dinge, die er gar nicht braucht. 7

Hinzu kommen Handlungen, die durch einen schweren organischen Defekt, wie zum Beispiel bei einer Sucht, hervorgerufen werden.

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Wenn es dem üblichen Sprachgebrauch nicht entgegensteht, auch in diesen Fällen menschlichen Verhaltens von Freiheit zu sprechen, und wenn überdies auch noch darauf verwiesen werden kann, dass diese Rede als durchaus konsequent bezeichnet werden kann,8 spricht ebenfalls nichts dagegen, den Begriff der Freiheit auf tierisches Verhalten anzuwenden, von dem wir annehmen, dass es ohne die Regulation durch Vernunft, Einsicht und Wille auskommt. Gesetzt, man versteht Freiheit als den (spontanen und nicht gewaltsam behinderten) Vollzug der Eigenständigkeit, kann man sie auch auf andere Lebewesen übertragen, obgleich eindeutige Hinweise auf die Wirksamkeit eigener Einsicht und eigenen Willens fehlen: Auch ein nur seinen spontanen Regungen, seinem eigenen Verhaltensprogramm oder den gattungsspezifischen Regeln seiner sozialen Einheit folgendes Lebewesen kann als „frei“ gelten, solange es nicht in der Falle sitzt, in einen Käfig gesperrt ist oder an der Leine laufen muss. Wenn im Kontext unablässig mit- und gegeneinander auftretender Kräfte, die strenge kausale Gesetze vollstrecken, so etwas wie Leben auftreten kann, ja, wenn es unter ihren Bedingungen sogar möglich ist, von Überraschung, Zufall oder fehlender Berechenbarkeit zu sprechen, dann kann es auch kein Problem sein, eben hier Freiheit für möglich zu halten, ohne von einem Widerspruch zur kausalen Determiniertheit auszugehen. Man muss nur in Erinnerung haben, dass die Erfahrung von Freiheit im vollen Sinn des Wortes nur im Kontext des menschlichen Handelns möglich ist. Von hier aus kann der Mensch dann Vorformen seiner Freiheit im Verhalten der Tiere erkennen. Sogar die – ihrer spezifischen Natur entsprechende – Hinwendung der Pflanzen zum Licht kann der Mensch als eine Vorstufe seiner eigenen Freiheit wahrnehmen, zumal es auch hier die Möglichkeit gibt, die Pflanzen zu reglementieren. Wie die Erfahrung der Freiheit der Möglichkeit einer gewaltsamen Behinderung korrespondiert, so ist auch die Rede von der „freien“ Natur daran gebunden, dass der Mensch ihr „Fesseln“ anlegen kann.

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Etwa dann, wenn jemand seinen Intuitionen folgt und sich von den Gründen anderer nicht beirren lässt. Auch dann handelt er im üblichen Verständnis „frei“.

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11. Natürliche Freiheit Das Leben ist der Bereich der Natur, an dem wir auch „innerlich“ Anteil nehmen. Denn ihm gehören wir nicht nur äußerlich, sondern gänzlich zu – sowohl in unserem Stoffwechsel als auch in unseren Empfindungen und Gefühlen. Die Anteilnahme erlaubt uns zu sagen, ob sich unter den als gegeben beobachteten Bedingungen etwas nach eigenen Kräften ungehindert entwickeln und bewegen kann. In dieser – Erkenntnis immer schon voraussetzenden – Anteilnahme können wir dann sagen, dass sich der Fluss nicht mehr „ungehindert“ durch die Niederungen schlängelt, sondern durch Dämme in ein festes Bett „gezwängt“ ist. Wir sehen nicht ohne Beklemmung auf das in Reih und Glied gesetzte Obst im Spalier, bedauern die mit Maulkorb oder Trense disziplinierten Tiere oder beschleunigen unversehens, wenn wir einen Viehtransporter zu überholen haben. In allen diesen Fällen haben wir eine Vorstellung vom natürlichen Bewegungsverlauf. Er erscheint uns zwangsläufig als „frei“, sobald wir ihn mit dem Verhalten vergleichen, das durch äußere Einwirkung erzwungen wird. Was der naturbelassenen Bewegung ausdrücklich entgegensteht, erscheint uns als gewaltsamer Eingriff, als Behinderung oder Zwang, als künstlich und eben damit nicht als „frei“. Dem entspricht die bereits erwähnte Definition der Freiheit in Spinozas Ethik: „Dasjenige Ding heißt frei, das aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur da ist und allein von sich zum Handeln bestimmt wird; notwendig aber oder vielmehr gezwungen (necessaria autem, vel potius coacta) dasjenige, was von einem anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu sein und zu wirken.“ (Spinoza, 1999, Teil I, 7. Definition) 9 Die Pointe von Spinozas Axiom liegt in der Verschränkung von Notwendigkeit und Freiheit. Frei ist das, was sich nach seinem eigenen Gesetz bewegt. Wir könnten, in Anlehnung an die Terminologie Immanuel Kants (dessen Freiheitsbegriff dem Spinozas nicht widerspricht),10 auch von der „Selbstorganisation“ des lebendigen Wesens sprechen.11 Frei ist demnach das, was sich nach eigenen Gesetzen selbst 9 Die Parallele zur Definition Jean Bodins ist offenkundig. 10 Vgl. dazu: Gerhardt, 2006. 11 In seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft von 1790, hat Kant eine ingeniöse Theorie des Lebens entworfen. Mit ihr hoffte er, den lange gesuchten Übergang von der mechanischen zur dynamischen Naturtheorie zu finden. Demnach beurteilen wir alles Lebendige als einen Fall von individueller Selbstorganisation im Prozess einer sich in und durch die Individuen ver-

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organisiert. Wie nahe sich in diesem Verständnis Natur und Freiheit kommen, hat übrigens bereits ein antiker Denker vor Augen geführt. Wenn Lukrez die Natur als dasjenige definiert, was „selber, spontan alle Dinge ganz aus sich heraus vollführt“ (ipsa sua per se sponte omnia dis agere expers), begreift er sie als eine kosmische Selbstorganisation, die sich jedem einzelnen Lebewesen mitteilt und die ihren höchsten Ausdruck im Verhalten des vernunftgeleiteten Menschen, vornehmlich natürlich des philosophierenden Weisen findet (Lukrez, 1973, II, 1092).12 Das unter Anleitung der modernen Biologie entstandene Verständnis der lebendigen Natur als einer sich in zahllosen Populationen individuell entfaltenden Selbstorganisation bringt die überlieferten Formen von Natur und Freiheit einander beträchtlich näher, als dies unter dem Paradigma der Physik möglich war. Nunmehr erscheint es immerhin als denkbar, eine Naturgeschichte der Freiheit zu entwerfen, die der Kulturgeschichte der eigentlichen, der selbstbewussten Freiheit des Menschen zugrunde liegt.

mehrenden Gattung. Jeden Organismus betrachten wir so, „als ob“ er im strukturellen Aufbau wie auch im Gang seiner prozessualen Entwicklung eigenen (und damit „freien“) Zwecken folgte. Die lebendigen Zwecke kommen unserer eigenen Vernunft in der Selbstbewegung organischer Wesen entgegen. In ihnen zeigt sich die innere Einheit der Natur, für deren Erkenntnis wir nicht mehr benötigen als das Selbstbewusstsein unserer eigenen Freiheit. Diese Freiheit erfahren wir in der Selbstbewegung aus eigener Kraft, in der wir selbstbestimmten Zwecken folgen, so dass wir darin selbst Mittel unserer eigenen Zwecke sind. Im Bewusstsein unserer eigenen Freiheit organisieren wir uns selbst (vgl. Kant, 1902 ff., §49; AA5, 313). 12 Die Feststellung wird in genetischer Perspektive gemacht und bezeichnet die „befreite Natur“ (natura libera), die sich von ihren „herrischen Zwingherren“ (dominis superbis), den Göttern also, losgelöst hat und sich nun ganz aus eigenen Impulsen bewegt. Bemerkenswert ist, dass Lukrez auch den weisen Menschen mit ähnlichen Worten beschreibt, wie die von der Vormundschaft der Götter befreite Natur: „Doch der übrige Teil der Seele, verstreut durch den ganzen Körper, gehorcht und bewegt sich nach Willen und Wink des Geistes. Der ist weise für sich allein aus sich (sibi solum per se sapit), und er freut sich auch für sich, während nichts weder Körper bewegt noch das Leben.“ (Lukrez, 1973, III, 142 ff. ). Dazu systematisch: Gerhardt, 1999, 180 ff.

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12. Die Spontaneität der Selbstorganisation und die Vielfalt der Arten Verstehen wir also das Lebewesen als eine in sich kohärente Einheit, die sich aus eigenem Impuls nach seinen eigenen Regeln zu bewegen vermag: Niemand braucht anzunehmen, dass diese Regeln im Widerspruch zu den Gesetzen stehen, nach denen nicht nur die umgebende, sondern auch die den Organismus durch und durch tragende Natur verfährt. Die Kausalität gilt außen und innen. Sie ist überall anzutreffen, wo einzelne Ereignisse in nahtloser zeitlicher Sukzession aufeinander folgen. In seiner physischen Konstitution macht der Organismus keine Sprünge. Das gilt selbst für jene Fälle, in denen er selbst springt. Nehmen wir das täglich milliardenfach vorkommende Ereignis des Sprungs, ganz gleich ob er bei Flöhen, Fröschen, Spatzen, Delphinen oder Menschenkindern vorkommt. Es ist möglich, weil die Schwerkraft, die mitwirkenden Elemente und die eingesetzten Krfte ihn ausführbar machen. Er ist aber auch möglich, weil ihn die körperliche Konstitution des Lebewesens erlaubt. Er muss innerhalb des Sets von Regeln liegen, die ein artspezifisches Verhalten möglich machen. Wie konnte es, strikte Kausalität vorausgesetzt, überhaupt dazu kommen, dass einige Arten springen oder hüpfen, andere Arten aber nicht? Der Evolutionstheoretiker wird um eine Antwort nicht verlegen sein: Der von Anfang an auf einzelne Organismen aufgeteilte Prozess des Lebens war nicht überall den gleichen Bedingungen ausgesetzt. Also haben sich die Individuen nach den lokalen und epochalen Konditionen differenziert, so dass sich im Laufe von Jahrmillionen die Regeln der Selbstorganisation der Lebewesen geändert und zu hoch differenten Spezies geführt haben. Schon darin zeigt sich eine „Freiheit“ der Natur, die in der Korrespondenz zu spezifischen Umweltbedingungen ganz unterschiedlich reagieren konnte und im Laufe der Entwicklung eine unübersehbare Vielfalt einzelner Arten hervorgebracht hat. Viele können springen, viele aber auch nicht. Die Natur hat sich die Freiheit genommen, die Baupläne der Organismen mal so und mal so anzulegen, obgleich der strenge Mechanismus der Kausalität (so wie ihn sich die Deterministen denken) eigentlich eine universelle Uniformität nahe legt.

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13. Die Individualität der Reaktionen Die gleichen konstitutionellen Regeln, nach denen sich die Individuen einer Art verhalten, haben ebenfalls nicht die Folge, durchweg zu den gleichen Verhaltensweisen zu führen. Es ist nicht so, dass alle Flöhe gleichzeitig in der gleichen Weise springen. Sie springen, jeder für sich und zwar an Ort und Stelle, also dort, wo sie durch ihren eigenen Impuls zu einer bestimmten Reaktion auf die äußeren Reize veranlasst werden. Die Differenzierung der Individuen potenziert die Differenzierung der Ausgangslagen um ein Vielfaches, und niemand wundert sich, dass in der Nacht zwar alle Katzen grau, in ihrem Sprung nach dem Opfer (an Ort und Stelle) aber vollkommen einzigartig sind. Ich kenne niemanden, der unter Hinweis auf die durchgängige kausale Determination, die Vielfalt in den organischen Vollzügen bestreiten würde. Mir ist auch niemand bekannt, der die These vertritt, es könne das von so vielen Zufällen geprägte und so viele Überraschungen bietende Leben gar nicht geben, weil alles kausal determiniert ist. Nun könnte jemand behaupten, dass die Vielfalt in den konkreten Verhaltensweisen die gewachsene Vielfalt der Individuen exakt und unverrückbar wiedergibt. Dass es zwar die Differenz der Arten und der Individuen gibt, dass aber jedes Individuum genötigt ist, auf jeden eindeutig bestimmten Reiz aus seiner Umwelt immer in exakt derselben Weise zu reagieren. Doch auch das ist offensichtlich nicht der Fall. Denn die in allen Nächten graue Katze, muss sich vor dem Mauseloch nicht immer in exakt derselben Weise verhalten: In einem Fall schaut der Mausekopf genügend weit hervor, so dass sie springt, im andern Fall aber unterlässt sie es, weil die Erfolgsaussichten weniger günstig sind. Wie kommt es zu diesem Unterschied: Mal springt sie und mal springt sie nicht? Auch hier wäre vermutlich niemand um eine Auskunft verlegen: Katzen, nicht anders als Flöhe, Frösche, Spatzen oder Delphine, verhalten sich individuell zu den teils vorgefundenen, teils selbst geschaffenen Situationen. Es hängt von den jeweils an Ort und Stelle gegebenen Konditionen im Inneren und im Äußeren des Organismus ab, wie er reagiert. Ist der Bedürfnisdruck hoch, springt die Katze womöglich schon bei der kleinsten Regung vor dem Mauseloch; ist es in der Nacht schon die dritte günstige Gelegenheit, die ihr schon zweimal zu einem Erfolg verholfen hat, kann es sein, dass sie aus Trägheit gar nicht springt,

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obgleich sich die Beute schon in ganzer Länge vorgewagt hat. Wie erklärt uns der Biologe den Unterschied? Ich vermute, er verweist auf den Gesamtzustand des Organismus: Hunger setzt die Schwellenwerte herab, Sättigung setzt sie herauf. Doch das müssen nicht die einzigen Faktoren sein: Hat das Tier Junge zu versorgen, kommen zusätzliche Reaktionsfaktoren hinzu; die Jahreszeit, die Witterung, die Lichtverhältnisse und die Windrichtung können eine Rolle spielen; außerdem muss man die Häufigkeit der Jagdgelegenheit und des Jagderfolgs nicht nur in einer Nacht in Rechnung stellen. Die Frage ist nur, wie, wo und wodurch die verschiedenen Einflussfaktoren verrechnet werden. Wie, wo und wodurch wird entschieden, zu welchem Verhalten es kommt? Es versteht sich heute von selbst, dass man hier nur zu Antworten gelangt, wenn man die Funktionsweise des Gehirns einer Untersuchung unterzieht. Die Funktionsweise des zentralnervösen Organs kann uns vermutlich die wichtigsten Auskünfte über die Reaktionsformen der höher organisierten Lebewesen geben. Deshalb ist die Neurophysiologie gleichsam die Königs- oder die Zentralratsdisziplin der Verhaltensbiologie. Aber sie kommt zu überzeugenden Einsichten nur, wenn sie bei allen Erklärungen den Tatbestand einbezieht, dass sich der Organismus als Ganzer zu verhalten hat. Auch wenn das Gehirn sich wesentlich mit sich selbst beschäftigt, so geschieht das doch nur, um die Leistungsfähigkeit für den ganzen Organismus zu erhöhen. Und stets hängt es vom Gesamtzustand des Organismus ab, welches Verhalten er bei welchen Umweltreizen zeigt. Die Individualität des Organismus und die Situativität seiner spezifischen Reaktionen sind durch die Einheit des Organismus bestimmt. Das ist schon deshalb kein gewagter Schluss, weil jedes Verhalten eines Organismus immer schon ein Ausdruck des ganzen Organismus ist. Jeder Reiz wird dem ganzen Organismus vermittelt; und in jedem Zucken eines Gliedes, erst recht in jedem (den ganzen Organismus mitnehmenden) Sprung, reagiert der Organismus ganz. Auch wenn sich zunächst nur die Schnurrbarthaare der Katze sträuben: Es ist die ganze Katze, die zum Sprung ansetzt.

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14. Reflexive Mechanismen Sobald wir vom Ganzen eines Organismus sprechen, haben wir die lineare Erklärung nach dem Kausalschema hinter uns gelassen. Alle Einzelvorgänge mögen dem direkten Kausalnexus entsprechen, das Ganze aber reagiert als System, das durch seinen spezifischen Konnex spezifischer Regeln seine eigene Gesetzmßigkeit im Umgang mit äußeren Reizen hat. In Relation zu den separaten externen und internen Vorgängen nimmt sich das System, wenn ich so sagen darf, die Freiheit, sich so zu verhalten, wie es ihm entspricht. Natürlich gehen wir nicht so weit, jedem System „Freiheit“ nach Art der menschlichen Selbsterfahrung zuzusprechen. Andererseits aber käme wohl niemand auf die Idee, dem Organismus die Möglichkeiten zu hoch spezialisierten und das heißt zugleich: zu hoch individualisierten Verhaltensformen abzusprechen. Da jedes Individuum einzigartig ist und im Gang seines Lebens durch die Summierung von Eindrücken, Erfahrungen und Leistungen nichts von dieser Individualität verliert, ist auch nicht anzunehmen, dass sich die Besonderheit des Systems verliert, in dem das Individuum seine Einheit hat. Die Lebensgeschichte findet in der körperlichen Beschaffenheit des Organismus ihren Niederschlag. Aber entscheidend sowohl für den Organismus wie auch für den Betrachter ist, dass sich gegebene und gewachsene Individualität im Verhalten des Organismus niederschlagen. Das Verhalten ist Ausdruck des ganzen Systems, als das wir den Organismus begreifen. Folglich sind die Exposition und die Expression des Ganzen durch es selbst vermittelt. – Wem diese Ausdrucksweise zu geheimnisvoll erscheint, der kann den (immerhin technisch simulierbaren) Begriff des reflexiven Mechanismus verwenden, der hinreichend deutlich anzeigt, dass sich das Verhalten eines Organismus nicht auf lineare Kausalrelationen reduzieren lässt. Also haben wir in den reflexiven Mechanismen, von denen in Biologie, Soziologie und Informatik die Rede ist, eine reale Form physischer Wirksamkeit in nicht linear-kausaler Form.13 Wir brauchen 13 Das ist der Prozess, um den es bei der Freiheit geht. Wenn reflexive Mechanismen mit der Naturkausalität vereinbar sind (woran offenbar niemand zweifelt), dann braucht es auch zwischen Leben und Kausalität keinen Widerspruch zu geben – ganz gleich wie man die Kausalität zu fassen sucht. Wenn aber zwischen Leben und physikalischer Ordnung kein Widerspruch besteht, braucht es ihn auch zwischen Freiheit und Kausalität nicht zu geben. Das ist die schlichte These, die aus meiner Überlegung folgt.

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den Bezug auf die individuell verstandene Einheit eines lebendigen Wesens. Dieser Bezug liegt uns nicht zuletzt deshalb so nahe, weil wir uns selbst als lebendige Einheit begreifen. Entsprechendes gilt für soziale Körperschaften, in denen wir uns selbst als ein lebendiger Teil einer lebendigen Einheit verstehen. Dieses Verständnis kann durch die kausalmechanische Reduktion schon deshalb nicht bestritten werden, weil es auch noch den Prozess der Erkenntnis trägt, der zu kausalmechanischen Reduktionismen führt.

15. Freiheit als Selbstbestimmung aus eigenen Gründen Um wenigstens bis an die Schwelle eines systematischen Modells zur Rekonstruktion der Evolution der Freiheit zu gelangen, brauchen wir nur (ich sage „nur“) an die Stelle der sprungbereiten Katze einen seiner selbst bewussten Menschen zu setzen. Es genügt dann schon, das menschliche Bewusstsein als eine Instanz der kommunikativ verfügbaren Realität zu fassen (Gerhardt, 2005), die es ermöglicht, Verhalten wenigstens partiell zu kontrollieren und zu koordinieren, um zu sehen, dass sich durch das Bewusstsein die Zahl der systembedingten Einflussfaktoren exponential erhöht. Ohne das Bewusstsein in seinen Leistungen zu überschätzen, kann man sagen, dass es die Selbstreferenz des Systems erheblich steigert. Im bewussten Zustand werden sachhaltige Momente des Wissens, die Ausdruck einer mit anderen bewusst geteilten Wirklichkeit sind, in den Komplex der Selbstorganisation einbezogen. Der auf den Sprung bereite Mensch wartet auf den vereinbarten Anruf, um sich endlich auf den Weg in den Kreißsaal zu machen. Er hat noch vor Augen, wie es bei der Geburt des ersten Kindes war. Deshalb wartet er schließlich auch nicht länger, sondern gehorcht seiner inneren Unruhe und fährt schon vorher los. Niemand zwingt ihn dazu. Seine Frau hat erst gestern noch einmal betont, er müsse nicht dabei sein, wenn er nicht wolle. Doch die Erinnerung an das erste Mal, die Vermutung, dass es der Frau, trotz der gespielten Gelassenheit, wichtig ist, wenn er dabei ist, nötigen ihn, den Anruf gar nicht erst abzuwarten. Hier reagiert ein Organismus aufgrund der Regeln, die zur naturalen und kulturellen Konstitution seiner Spezies gehören, auf eine Unzahl von äußeren und inneren Gegebenheiten an Ort und Stelle, und er tut dies ganz, also als eine Einheit, die durch die reflexiven Mechanismen der Erinnerung und der bewussten Absicht individuell derart

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komplex werden, dass es (um nicht von einem Gott zu sprechen) nur einem Supercomputer möglich wäre, den ganzheitlichen Effekt der ganzheitlichen Verrechnung aller Faktoren, die zum Verhalten des Menschen führen, aktuell zu erfassen. Diese Verrechnung im Ganzen eines Organismus zu einem Ganzen des Verhaltens, das überdies in einer kommunikativ erschlossenen soziokulturellen Einheit verständlich sein muss, kürzen wir ab und sprechen von „Freiheit“, wenn das menschliche Individuum die für sein eigenes Verständnis wichtigen Momente zu überschauen glaubt und sich ihnen im eigenen Verhalten überlässt. Das kann es nicht, wenn es durch ein anderes Individuum ausdrücklich an der Ausführung des Verhaltens gehindert wird. Ist das aber nicht der Fall und kann es Auskunft über die vermutlich ausschlaggebenden Momente des eigenen Verhaltens geben, kann es die von ihm selbst in seiner bewusst erfahrenen Ganzheit beglaubigten Faktoren „Gründe“ nennen. Wenn er dies tut, sind wir überzeugt, dass er im Bewusstsein der Freiheit gehandelt hat. Dabei hat er nur die Unendlichkeit der individuellen Bedingungen, die durch seine eigene Konstitution, durch die Besonderheit in Raum und Zeit, die Spezifika seiner Kultur und die der gerade gegebenen sozialen Konstellation so abgekürzt, wie das für die sachhaltige Verständigung selbstbewusster Wesen üblich ist. Wenn es möglich sein soll, unter diesen Bedingungen im Rekurs auf die von bewussten menschlichen Wesen beanspruchte intentionale Steuerung ihres Verhaltens sinnvoll zu handeln, ist es unverändert zweckmäßig, sich unter Berufung auf den Begriff der Freiheit zu verständigen. Dabei brauchen wir nicht zu unterstellen, dass im Menschen die Natur in zwei Teile zerfällt. Also brauchen wir auch nicht erst zu Kompatibilisten zu werden, um sinnvoll von Freiheit zu sprechen. Wenn wir den Unterschied zwischen einem Teil und einem Ganzen beachten, verfügen wir auch schon über die ganze Kunst des Perspektivismus, mit dem uns ein Teil der Philosophen die Freiheit verständlich macht. In meinen Augen genügt es, wenn wir nur ernsthaft versuchen, die Eigenart des Lebens zu verstehen. Denn der Physikalismus scheitert nicht erst am Geist, sondern bereits an den Prozessen des Lebens. Und im Vergleich von Freiheit und Leben ist Leben allemal das größere Problem.

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Bibliographie Bodin, Jean (1981): Sechs Bcher ber den Staat. München: C.H. Beck. Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualitt. Stuttgart: Reclam. Gerhardt, Volker (2005): Die Instanz der Realität. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift fr europisches Denken (677/687), 273 – 283. Gerhardt, Volker (2006): Menschheit in meiner Person. Exposé zu einer Theorie des exemplarischen Handelns. In: Byrd, B. Sharon/Joerden, Jan C. (Hg.): Jahrbuch fr Recht und Ethik/Annual Review of Law and Ethics. Bd. 14. Berlin: Duncker & Humblot, 1 – 10. Hamel, Jürgen/Knobloch, Eberhard/Pieper, Herbert (Hg.) (2003): Alexander von Humboldt in Berlin. Sein Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaften. Augsburg: Rauner. Kant, Immanuel (1902 ff.): Kritik der Urteilskraft. Berlin/New York: de Gruyter. Kaulbach, Friedrich (1965): Der philosophische Begriff der Bewegung. Studien zu Aristoteles, Leibniz und Kant. Köln/Graz: Böhlau. Kaulbach, Friedrich (1968): Philosophie der Beschreibung. Köln/Graz: Böhlau. Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wçrterbuch der deutschen Sprache. Berlin/ New York: de Gruyter. Lukrez (1973): De rerum natura. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian (2001): Strukturelle Rationalitt. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian (2005): ber menschliche Freiheit. Stuttgart: Reclam. Roth, Gerhard (1990): Gehirn und Selbstorganisation. In: Krohn, Wolfgang/ Küppers, Günter (Hg.): Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, 167 – 180. Spinoza, Baruch de (1999): Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Hamburg: Meiner.

Namenregister Anderson, Michael L. 11 Ansermet, François 409f. Aristoteles 320 Armstrong, David M. 185 Audubon, John J. 31 Baddeley, Alan D. 83 Baird, Jodie 109 Basar-Eroglu, Canan 125 Beckermann, Ansgar 267 Bekoff, Marc 389 Bergson, Henri 23, 182, 416–423, 431 Bermpohl, Felix 312f., 316 Bieri, Peter 151, 267, 284f., 422f., 427, 435f., 445–447 Birnbacher, Dieter 10 Bischof, Norbert 120, 181f. Blackburn, Simon 299 Blackmore, Susan 197 Blaisdell, Aaron P. 89f. Bodin, Jean 462, 471 Boehm, Christopher 410 Böhme, Hartmut 181 Bohr, Nils 49 Bok, Hilary 233 Bovens, Luc 234 Breidbach, Olaf 194 Broad, Charlie 291 Bugnyar, Thomas 90 Byrd, B. Sharon 479 Byrne, Roger 168f. Call, Josep 97, 108f., 111 Campenhausen, Christoph von 194f. Carnap, Rudolf 234 Carpenter, Malinda 108f., 111 Cartwright, Nancy 7f., 11, 32 Cassirer, Ernst 218, 401–403, 413, 422–424, 427 Chalmers, David J. 256

Chisholm, Roderick 289–292, 307, 326 Chrysipp 229 Church, Alonzo 277 Clarke, Randolph 289 Clayton, Nicola S. 89 Crick, Francis C. 88 Danto, Arthur C. 221 Darwin, Charles 10, 19, 31, 96, 113, 212–216, 392, 403, 406f., 429, 439 Daston, Lorraine 181, 194 Deecke, Lüder 118, 125f. Delius, Juan D. 188 Dennett, Daniel 3, 439–441, 444 Depew, David 180 Descartes, René 70f., 285f., 293, 298, 367, 388 Dewey, John 23, 408, 439–442, 445–453 Dicke, Ursula 152, 154f., 159, 162f., 166 Dickinson, Anthony 89 Dilthey, Friedrich Wilhelm 222, 224f. Donald, Merlin 3, 8, 249, 439, 454 Dretske, Fred 185 Du Bois-Reymond, Emil 194 Dupré, John 4, 8, 11f. Eccles, John C. 121f., 293 Edelman, Gerald M. 91 Eidam, Heinz 197f. Eimer, Martin 9, 339 Ekstrom, Laura W. 289 Elepfandt, Andreas 64 Engelen, Eva-Maria 22, 112, 367, 411 Epikur 257, 293f. Ewer, Rosalie Francis 379

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Namenregister

Fechner, Gustav Theodor 190, 194f., 197 Ferber, Rafael 252, 257–259, 263 Fernandez-Duque, Diego 109 Fischer, John Martin 270 Fischer, Julia 16, 133, 182, 303, 411 Flavell, John 95, 98, 111f. Förstl, Hans 167 Fox Keller, Evelyn 183 Fraisse, Paul 119 Franck, Dierck 378f. Frankfurt, Harry G. 151, 247, 298, 445 Frege, Friedrich L.G. 277, 354 Freud, Sigmund 76, 80, 374, 377, 382, 396, 398, 423f. Friederici, Angela D. 170 Gadamer, Hans-Georg 224 Galilei, Galileo 181, 372 Galizia, Giovanni 15, 59, 133, 376, 378 Gehring, Petra 2 Gerhardt, Volker 5, 8, 23f., 42, 60, 134, 181, 310, 363, 374, 457, 471f., 477 Geyer, Christian 2, 435 Gibson, James J. 312 Gide, André 285 Gierer, Alfred 79 Ginet, Carl 289 Gödel, Kurt 277 Goschke, Thomas 150, 408, 427f. Grene, Marjorie 180 Grünkorn, Gertrud 24 Guo, Aike 54 Gutmann, Mathias 19, 209, 212, 215, 220 Habermas, Jürgen 264–266, 268, 406f., 429, 442 Haggard, Patrick 9, 339 Hahne, Anja 170 Haken, Hermann 128, 338 Hamel, Jürgen 469 Hammerstein, Peter 42, 64, 374, 383 Hampe, Michael 8, 372f., 384

Hampton, Robert 101–104, 107f. Hartmann, Susanne 234 Hassel, Sabine 363 Hawking, Stephen W. 120 Haynes, John-Dylan 42, 123, 128 Heckhausen, Heinz 150 Hegel, Georg W.F. 422f. Heidegger, Martin 423 Heidelberger, Michael 199 Heilinger, Jan-Christoph 60 Heinrich, Bernd 90 Heisenberg, Martin 15, 43, 50, 52f., 133 Helmholtz, Hermann von 76, 83f. Herms, Eilert 444 Herz, Andreas 15, 68, 371, 373f., 466f. Hill, Robert Sean 145 Hitch, Graham 83 Hobbes, Thomas 150 Hucho, Ferdinand 17, 64, 133, 274 Hull, Clark L. 78 Humboldt, Alexander von 194, 468 Hume, David 150, 285, 288, 367 Husserl, Edmund 277, 311 Inwagen, Peter Van

232, 261, 288

Jack, Anthony 199–201 Jackson, Peter 22, 391, 394, 400, 402 James, William 31, 76, 281, 440, 442–445 Janich, Peter 212, 217 Jeannerod, Marc 161 Jordan, Pascual 293 Jung, Matthias 421 Kambartel, Friedrich 10, 210 Kamiya, Joe 128 Kandel, Eric 90, 159, 162, 184, 196 Kane, Robert 275, 289, 292–294 Kant, Immanuel 30, 202, 232, 286, 289–292, 326, 363, 367–369, 380, 396f., 400, 405–407, 429, 440, 461, 468, 471f. Kaulbach, Friedrich 469

Namenregister

Keil, Geert 8, 14, 20, 242, 275, 281, 286, 289–291, 293f., 296f., 299 Kleene, Stephen Cole 277 Kluge, Friedrich 458 Knorr-Cetina, Karin 183 Koch, Christof 88 Köchy, Kristian 18, 179, 183f., 196, 338, 342 Köhler, Wolfgang 90, 123 Kolb, Burkhard 167, 170 König, Josef 222–224, 392 Kornell, Nate 98, 102–104, 107–110 Kornhuber, Hans H. 118, 125f. Korsgaard, Christine 444 Koshland, Daniel 137 Krohn, Wolfgang 180 Küppers, Günter 180 Laplace, Pierre-Simon 294 Laplanche, Jean 425 Laurentiis, Dino de 393, 400 LeDoux, Joseph 154 Leibniz, Gottfried 186, 468 Lesch, Harald 363 Lessing, Gotthold Ephraim 397 Levine, Joseph 99, 256 Leyhausen, Paul 379 Libet, Benjamin 6–9, 16f., 21, 72, 88, 117–121, 124–127, 129–131, 319–321, 327, 335, 337–343, 345, 350–352, 356–358, 363, 416, 421, 427 Locke, John 150, 293, 297, 342, 395, 449 Lockl, Kathrin 111 Lorenz, Konrad 183, 188 Lorenzer, Alfred 424f. Lowe, Ernest J. 109, 289 Lukrez 472 Mach, Ernst 32 Mackie, John L. 241, 278 Magistretti, Pierre 409f. Malthus, Thomas R. 213 Mannaa, Renate 24 Margalit, Avishai 242

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Maturana, Humberto 180, 188, 190, 196, 202f. Mayr, Ernst 212f., 373 McCann, Hugh J. 289 Mead, George Herbert 442, 448 Meixner, Uwe 289 Mele, Alfred R. 289 Menzel, Randolf 16, 75, 196 Merleau-Ponty, Maurice 311 Metcalfe, Janet 95, 97, 101f. Metzger, Wolfgang 123 Meuter, Norbert 22f., 405, 413, 416, 428, 430, 454 Milbrath, Constance 411f. Misch, Georg 222, 224, 399, 472 Müller, Johannes 76, 191f., 194 Müller, Jürgen 363 Müller, Olaf L. 21, 133, 335, 346f., 349ff., 352, 355, 409 Nádas, Peter 375 Nagel, Thomas 189, 256 Narens, Louis 95, 104–106 Nelson, Thomas 95, 104–106 Neumann, Renate 24 Newton, Isaac 232, 372 Nida-Rümelin, Julian 12, 14, 19, 229, 230, 235, 238, 251f., 254–257, 259f., 262, 264, 273, 275, 297f., 363, 467 Nida-Rümelin, Martine 279 Nietzsche, Friedrich 440, 460 Nieuwenhuys, Rob 152, 155, 160, 162f. Northoff, Georg 20f., 307, 310, 312f., 315f., 328, 330, 333 O’Connor, Timothy 289 Oeser, Erhard 200f., 408f. Pauen, Michael 19f., 42, 150f., 200, 247, 256, 265, 267, 270, 278, 407f., 415f. Pavlov, Ivan P. 78 Pepperberg, Irene 98 Plinius 11, 211 Pollock, Jackson 65 Pontalis, Jean-Bertrand 425

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Namenregister

Pöppel, Ernst 120 Popper, Karl Raimund 121, 277 Posner, Michael I. 109 Povinelli, Daniel J. 109, 112 Premack, David 97 Preuss, Todd M. 170 Prinz, Wolfgang 117, 294 Provine, William B. 216 Purkyne, Jan Evangelista 186, 191–194, 202 Putnam, Hilary 21, 344, 347, 350 Quine, Willard Van Orman 348, 376

250,

Rechenauer, Martin 279 Recki, Birgit 22, 386, 391, 396f., 401 Reich, Jens 14, 29 Reimann, Regina 24 Renouviers, Charles 443 Riedel, Rupert 186 Ritzenhoff, Brunhild 113 Rizzolatti, Giacomo 85f. Rohs, Peter 275 Romanes, Georges 96 Roth, Gerhard 2, 17f., 44, 90, 122, 129, 134, 145, 149f., 152, 154f., 159, 161–163, 165f., 179f., 186, 190, 195–200, 202f., 266, 287, 370, 374, 409f., 416, 426, 428, 435f., 465 Roughley, Neil 299 Rousseau, Jean Jaques 423 Roxin, Claus 149 Runggaldier, Edmund 289 Russell, Bertrand 32, 273 Ryle, Gilbert 76, 436 Sachsse, Hans 181 Savage-Rumbaugh, Sue 170 Schacter, Daniel L. 76 Scheiner, Elisabeth 113 Scheler, Max 182 Schickores, Jutta 193 Schiller, Friedrich 22, 64, 367, 386–388, 394 Schirmer, Christoph 24

Schlick, Moritz 1, 183, 229 Schmidt, Carl Christian Erhard 269 Schnalke, Thomas 180 Schneider, Wolfgang 111 Schopenhauer, Arthur 151 Schrödinger, Erwin 293 Schubotz, Ricarda 113 Schumacher, Ralph 87 Schwemmer, Oswald 420f., 427, 430 Searle, John R. 35, 233, 429 Seebaß, Gottfried 282 Seitelberger, Franz 200f., 408f. Sellars, Roy Wood 299, 450 Shallice, Tim 199–201 Shettleworth, Sara J. 97f. Shoemaker, Sydney 181 Singer, Wolf 2, 39, 42, 44, 90, 122, 129f., 180, 197, 202, 276, 287, 338, 360f., 406, 426 Skinner, Burrhus F. 78 Smith, David 97–101, 111 Smith-Churchland, Patricia 85, 90 Son, Lisa 102f., 107 Spinka, Marec 381 Spinoza, Baruch de 459, 471 Spohn, Wolfgang 279 Squire, Larry R. 76 Stadler, Michael 16f., 71, 117, 121, 128 Stegmüller, Wolfgang 237 Strawson, Peter 230, 239, 251, 256 Sturma, Dieter 436 Suppes, Patrick 295 Tang, Shiming 54 Taylor, Charles 289, 438, 446, 453 Taylor-Parker, Sue 411f. Terrace, Herbert S. 95, 97, 103, 107 Teufel, Christoph 113 Thorndike, Edward L. 78, 96 Thorp, John 294 Tolman, Edward 97 Tomasello, Michael 97, 111, 300f., 411, 414 Trautsch, Asmus 24 Tulving, Endel 89, 95

Namenregister

Uexküll, Jakob von 186–190, 192f., 202 Varela, Francisco 196, 202f. Vossenkuhl, Wilhelm 363 Waal, Frans de 412f. Wachsmuth, Oliver 361 Walde, Bettina 363, 394 Walsh, Christopher A. 145 Walter, Henrik 149, 338, 408, 427f. Watson, John B. 97 Wegner, Daniel M. 45, 90, 197, 319, 327 Weingarten, Michael 215, 217 Wheeler, Marc A. 89 White, Hayden 221

485

Whitehead, Alfred North 203 Wild, Verina 24 Wingert, Lutz 9, 264, 268, 340, 342, 346 Wishaw, Ian Q. 167, 170 Witt, Elke 24 Wittgenstein, Ludwig 64, 236, 301f. Wloka, Nicole 24 Wolf, Reinhard 50, 52f. Woodruff, John 97 Wright, Georg H. von 216, 274 Wuketits, Franz M. 186 Wullimann, Mario F. 161 Ziche, Paul 184 Zilles, Karl J. 152, 155, 157, 160

Sachregister acte gratuit 285 affordance 312, 328 Agenskausalität 289–292, 307, 326f. Agent 12, 31, 290, 440 akausal 289f., 292 Akteur 18, 47, 230f., 234f., 239, 274, 282f., 289, 292, 397 Aktionspotential 36f., 76, 252 Aktivität 49f., 52, 54, 67f., 70, 119, 127f., 138, 142f., 147, 191, 251, 253, 260, 353, 403, 413, 430f., 464 – Gehirnaktivität 6, 16, 52, 72, 91, 287 Alternative 20, 40, 134, 149f., 173, 199, 282f., 290, 307f., 318, 321–325, 327, 330f., 336, 350, 415f., 418f., 421, 439 – Prinzip der alternativen Möglichkeiten 282, 295, 298, 415–419 – Verfügbarkeit von Alternativen 20, 307f., 318, 321 animal symbolicum 300, 423 Antezedensbedingung 273, 292 Anthropologie 5, 144, 146, 240, 304, 367 – naturalistische 240 – Paläoanthropologie 301f. – philosophische 304 Autonomie 6, 12, 49f., 193, 198 Autopoiese 194 Autor s. Urheber

274, 290, 293, 337, 369ff., 379ff., 458, 461, 467, 471 Bewusstsein 2, 7, 15, 17, 29f., 40, 46, 59–61, 65f., 68, 70–75, 95, 97, 110, 117f., 121f., 127, 129, 134, 147, 152, 163, 170, 197, 201, 203, 321f., 357, 370, 374, 384–386, 401f., 425, 444, 459–461, 469, 472, 477 – Bewusstsein bei Tieren 15 – Bewusstsein der Freiheit 23, 458ff., 463, 478 – Evolution des Bewusstseins 3 Bildgebende Studien 67, 316, 437 Biofeedback 17, 127–129, 131 Biologie 10, 14, 16, 29–33, 44, 64, 110, 113, 146, 179f., 186, 189, 211, 213, 215, 217, 276, 367, 373, 375, 388, 457, 472, 476 – Humanbiologie 44, 182 – Molekularbiologie 183 – Neurobiologie 4, 15, 61f., 65f., 77, 90, 184f., 197, 199–202, 251, 255f., 435 – Soziobiologie 301 – Verhaltensbiologie 15, 44, 47, 51, 54, 90, 185, 187, 189, 378, 475 Biowissenschaften s. Lebenswissenschaften Bit 344f., 347–358, 361f. Blindsight 105–107

Bedeutung 159, 170, 184, 190, 317, 374ff. Bereitschaftspotential 6, 9, 337–343, 346f., 349, 351f., 354–359, 361 Beweger – erster 288f., 292 – unbewegter 20, 288, 292 Bewegung 76-79, 117, 124, 129, 137, 158, 160ff., 165ff., 203,

causa efficiens 309, 320, 326 causa finalis 320, 326 ceteris-paribus-Bedingung 7f. Clinamen-Auffassung 293 conditio humana 276 Datiertheit 291 delayed auditory feedback

72

487

Sachregister

Deliberation 63, 110, 160, 236, 238, 241, 244, 249, 259f., 275–278, 431 desire-belief-Modell 234f. Determinanten 261 Determination 8f., 229, 257, 259–263, 267, 277f., 285, 287, 290, 294, 312f., 325, 331, 466 – kausale Determination 30, 362, 474 Determinationslücke 293, 295 Determinismus 20, 30–32, 39, 44f., 50, 56, 133, 138, 141, 147, 149–151, 171f., 241, 257–260, 263, 273, 281–283, 287–290, 294f., 298, 308, 319f., 328, 336f., 345, 362f., 371–374, 388, 405, 407, 415f., 419f., 427, 431, 473 – harter Determinismus 281f. – kausaler Determinismus 21, 30, 32, 361 – naturalistischer Determinismus 241, 277 – neuronaler Determinismus 15, 35, 38–40, 42 – physikalischer Determinismus 298, 318ff., 328 – Universal-Determinismus 241 – weicher Determinismus 282 Diskriminierungsaufgabe 103 Drei-Körper-Problem 8 Drosophila melanogaster 15, 47, 51f., 216 Dualismus 20, 91, 117, 121f., 131, 133, 139, 233, 286–288, 406, 428 – Perspektivendualismus 22, 405, 428 Efferenzkopie 79f., 83–86 Einheit 8, 30, 215, 225, 315, 462–466, 469f., 472f., 475–478 Einstellung – epistemische Einstellung 19, 233–236, 441 – konative Einstellung 234, 274 – propositionale Einstellung 233–236, 238, 242, 248, 256, 300

embodied embedded cognition 11 Emotion 20, 75, 111f., 167, 173, 194, 266, 268, 270f., 317, 374, 383, 398 Empirismus 63, 183, 192 Entscheidung 4, 6–8, 15f., 21f., 29, 35, 40f., 47, 51f., 54–56, 59–61, 64–67, 69f., 72–75, 82f., 85, 87f., 90f., 109, 117, 122, 124f., 127, 134f., 137, 168, 173, 200, 230, 235, 238, 241, 258–264, 267, 277, 282f., 286, 289–291, 293f., 296f., 299, 301, 308, 335–343, 349–362, 369, 417, 419, 421, 429, 444, 448, 453, 459 – Entscheidungsfindung 66, 69, 72 – Entscheidungsfreiheit 21, 55f., 64f., 67, 338f., 341, 343, 352, 354f., 369, 396 – Entscheidungsprozess 38f., 40f., 49, 70, 73, 262f., 416f. – Entscheidungsspielraum 262 Epiphänomenalismus 266, 429 Ereignis 35, 43, 46, 67, 88, 125, 233, 248f., 273, 275, 290, 292, 294, 338, 362, 418, 473 – nicht-determiniertes Ereignis 294 Erklärung – funktionale 373 – qualitative 373 Evolution 3, 10, 12, 15–20, 33, 35, 38, 41, 49f., 73, 78, 91, 96, 112, 135f., 138f., 142–146, 151f., 160, 167, 169–172, 209f., 212–214, 226, 298–304, 312f., 332, 373f., 406–409, 428f., 431, 439–443, 451, 453f., 459 – Evolution der Säugetiere 171, 409 – Evolution des Gehirns 149, 409 – Evolution des Geistes 301 – Evolution des Lebens 3 Evolution der Freiheit 3, 19, 59, 110, 149, 179, 225f., 297, 477 facial displays 412 fission-fusion-Struktur forager Gen 69f.

410

488

Sachregister

Freiheit – Bedingungen von Freiheit 4, 12, 248, 324f., 327, 333, 443 – eingebettete Freiheit 319f. – Freiheitsbewusstsein 6, 44, 232, 236, 239, 307, 436f., 470 – Freiheitsdebatte 20, 23, 284–287, 410, 417, 438 – Freiheitsgrade 1, 3, 5, 16, 66, 110, 458 – Freiheitsstrafe 1 – Gedankenfreiheit 1, 5, 47, 55f. – Handlungsfreiheit 1, 5, 45–47, 151, 171, 209f., 307f. – libertarische Freiheit 281f., 284, 289, 292f. – menschliche Freiheit 2f., 5, 7, 9, 12, 19–22, 24, 229, 238, 241, 257, 260, 298f., 304, 396, 424, 460, 468 – Naturgeschichte der Freiheit s. dort – Phänomenologie der Freiheit 23, 448, 459 – unbedingte Freiheit 284f. – Unfreiheit 9, 46, 75, 247, 269f., 275, 282, 327, 330f., 337f., 341, 358, 442, 457, 460f., 469 – Wahlfreiheit 199, 285, 448 – Willensfreiheit 1, 3–7, 9, 14–17, 20, 23, 35, 39–41, 43, 47, 56, 61f., 73, 121f., 140, 149, 151, 179, 182, 197, 199, 201–203, 247, 267, 274, 281, 284, 294, 307f., 335f., 338, 343, 421f., 428, 436 Fremdthematisierung 179, 181f., 184–187, 189, 191f., 196f., 201 Funktionskreis 186f., 190, 379 Gavagai-Beispiel 376 Gedächtnis 76–78, 80f., 89, 125, 137, 409 – Arbeitsgedächtnis 16, 79, 81–83, 85f., 88, 104, 167f., 172 – deklaratives Gedächtnis 76, 81 – episodisches Gedächtnis 89 – Erfahrungsgedächtnis 166, 172 – explizites Gedächtnis 76, 81, 88

– – – –

individuelles Gedächtnis 80 Kurzzeitgedächtnis 81 Langzeitgedächtnis 81, 168 phylogenetisches Gedächtnis 78, 80f. – prozedurales Gedächtnis 76 – Referenzgedächtnis 81, 84–87 Gefühle 7, 16, 20, 40, 46, 71–73, 112, 141, 151, 153, 183, 203, 231, 238, 275, 307f., 318, 323, 325f., 349f., 400, 402, 419, 422, 435, 460, 469, 471 Gehirn – Gehirnentwicklung 48 – Gehirnprozess 29, 119–121, 127f., 185, 293, 343, 362, 430 – menschliches Gehirn 4, 12, 18, 68, 86, 145, 151f., 170f., 253, 368, 428 Gehirnforschung 47, 63, 293, 406 Gehirnregionen – Allocortex 154, 157f. – Amygdala 76, 152f., 155, 158, 166f. – Basalganglien 86, 134, 151, 154, 161–163, 165f., 172 – Broca-Areal 152, 170f. – Endhirn 152, 161 – Frontallappen 160, 170 – Großhirnrinde 37, 123, 134, 151f., 159–161, 163, 408f. – Hippocampus 154f., 159, 166 – Isocortex 152, 154, 156–159 – Kleinhirn 71, 76, 163 – Kortex 71, 84–87, 106, 134, 140, 143, 145, 152, 154–156, 158–161, 163, 165–167, 170–172, 315, 317, 323, 409 – Mittelhirndach 158f. – Mittelhirntegmentum 163 – Pallidum 153f., 161, 163, 166 – Pallium 152, 154–156, 159f., 163, 166 – Rückenmark 161, 163, 172 – Septum 152f. – Sprachzentrum 170 – Stirnhirn 151, 167f.

Sachregister

– Striato-Pallidum-Komplex 153f., 157, 161-163, 166 – Striatum 76, 161, 163, 165f. – Subpallium 152, 161 – Telencephalon 152, 161 – Temporallappen 158, 170 – Thalamus 71, 158–160, 163, 165f. – Vorderhirn 152f. Geist 39, 97, 111, 122f., 134, 195, 237, 293f., 298f., 302f., 314, 347, 373, 386, 402, 411, 423, 428, 430, 437–439, 444, 472, 478 Genetik 2, 145, 217 Genom 135, 141–143, 145f. Gentechnik 183 Gesetze 7f., 35, 68, 133, 140, 152, 169, 232, 237, 243f., 252, 288f., 294, 308, 368–370, 384, 386, 449, 463, 466f., 470–473 – Naturgesetz 2, 6–8, 23, 43, 45f., 120, 232, 243, 253, 260, 266, 283, 288–290, 293, 295, 345, 360f., 370, 372, 465 – Sukzessionsgesetz 290, 294f., 297 – Verlaufsgesetz 231f., 242f., 273, 275, 277 Gesetzmäßigkeit 3, 7, 45, 91, 133, 194, 236–238, 240, 259, 276f., 292, 355, 362, 367, 384, 463–465, 468, 476 Gründe 2, 9, 19f., 22–24, 45–47, 49, 133–135, 139, 146, 149f., 190, 211, 229–233, 235–243, 247–249, 251–271, 273–278, 342, 370–372, 375–378, 386, 388, 405f., 408, 416, 421f., 428f., 461–463, 477f. – Handlungsgrund 19, 229, 233, 238, 249 – handlungsleitender Grund 247 – Handlungswirksamkeit von Gründen 20, 270 – hinreichender Grund 43, 46 – rationaler Grund 20, 270, 416 – Urteilsgründe 277 Grundsatz 63, 254, 267

489

– phänomenologischer Grundsatz 123 – psychophysischer Grundsatz 123f., 131 Halluzination 45 Handlung – freie Handlung 20, 46, 199, 247, 267f., 270f., 286, 289, 419–421, 426f., 463 – intentionale Handlung 251 – rationale Handlung 18, 173, 258, 275f. – unfreie Handlung 20, 247, 267, 270 – Handlungsabsicht 5, 151 – Handlungsalternative 45, 168, 199, 318, 321, 415, 451, 460 – Handlungserklärung 150 – Handlungsgedächtnis 162 – Handlungsplanung 134, 151, 167f., 170, 172 – Handlungstheorie 275, 290 – Handlungsursache 7, 291 – Handlungsvorbereitung 151, 163 Heautognosie 192f. homunculi oeconomici 231 Homunkulus 59, 71, 73 Humanismus 14, 438 Humanprojekt 4f., 24, 42, 64, 79, 87, 134, 143f., 146, 363, 374, 376, 383 Identität 37, 71, 127–129, 149, 222, 224, 283, 290, 296, 397, 415f., 419, 423, 426, 431, 453 – Identitätstheorie 239 Illusion 2, 6f., 22, 29, 35, 39, 41, 45f., 72, 118, 122f., 129, 139f., 197–199, 202f., 238, 260f., 276, 283f., 329f., 338, 402, 426, 429, 435, 443 Impuls 9, 110, 234, 243, 343, 362, 370, 374, 384, 398, 446f., 449f., 460f., 468, 470, 472–474 Indeterminismus 149, 261, 276, 293–298, 318f., 321, 361

490

Sachregister

Individualität 13, 23, 30, 64, 69, 72, 78, 81, 86, 117, 121, 143, 169, 172, 180, 218–220, 242, 269, 374, 382, 398, 407, 409f., 416f., 419f., 423, 425, 428, 431, 442, 448, 451–453, 458f., 461, 467f., 472, 474–478 Individuum 5f., 12, 19, 41, 47, 56, 187, 219, 410f., 416, 423, 426, 431, 442, 450, 459, 461, 465, 474, 476, 478 Information 37, 48, 65, 71, 77f., 80f., 102, 104–106, 108f., 135f., 140, 145–147, 156, 158f., 169, 185, 187, 343f., 358, 408 Inkompatibilismus s. Kompatibilismus/Inkompatibilismus Intentionalität 59, 133, 139f., 255f., 265, 300, 303, 382f., 440, 446, 478 – intentionales Vokabular 301, 376 Interaktion 98, 109, 134, 138–140, 147, 168f., 183, 251, 256, 276, 377, 425, 430, 440, 448f., 451 Interkonnektivität 409 Intersubjektivität 183f., 189, 200, 312, 317, 421, 444f., 447 Introspektion 18, 89, 96f., 112, 184f., 195, 200, 445 INUS-Bedingung 241, 278 Irrtum 72, 107, 181, 230, 241, 350 – Irrtumstheorie 239 Kausalität – Kausalbeziehung 129, 287, 292, 320, 406 – kausale Erklärung 11, 14, 231, 278 – kausale Geschlossenheit 251, 254, 288, 318 – kausaler Determinismus s. Determinismus, kausaler – Kausalität aus Freiheit 290, 461, 464 – Kausalität der Natur 461, 464, 466, 468 – Kausalitätsbedingung 255 – Kausalitätsbegriff 232, 273, 309

– Kausalitätsprinzip 29, 32, 467 – Kausalkette 29, 32, 140f., 288–290, 292, 307f., 325f., 351, 361f., 466 – Kausallücke 294 – Kausalnexus 476 – Kausalprinzip 30, 33, 273, 275, 290, 292 – Kausalrelation 277, 290, 459, 476 – Kausalzusammenhang 239 Kognition 13, 30, 75, 88f., 97, 109f., 112, 125, 127f., 143, 160, 167, 172, 179, 182, 196f., 199–202, 252f., 255–257, 264f., 300f., 303, 310, 312, 314–317, 321–323, 325–327, 329, 331, 378, 382, 414, 428, 444 – Kognitionswissenschaft 4, 11 – kognitive Fähigkeit 16, 96f., 199 – kognitive Neurowissenschaft 18, 76, 179f., 183f., 190, 196, 199, 201 – kognitive Strategie 15, 41 Kommunikation 48, 81, 168–172, 200, 340, 377, 409, 430 Kompatibilismus/Inkompatibilismus 15, 17f., 38, 149–151, 232f., 243, 258, 267, 271, 275, 281–283, 310f., 315, 318f., 330, 402, 405, 407, 427f., 435, 478 – epistemischer Kompatibilismus 19, 243 Komplexität 8, 16, 23, 40, 91, 138–142, 147, 231, 263, 408, 410, 419, 452–454 Konditionierung 51, 67, 76, 99, 377, 396 Konsequentialismus 230 Konsequenzargument 288 Kontrolle 22, 41, 48f., 65, 104, 107, 110, 121, 140, 160f., 167, 192, 199, 238, 258, 293, 296, 369f., 374, 382–386, 412, 461, 477 Körper 2, 38, 73, 77f., 80, 84, 90f., 133, 158, 189, 194f., 218–220, 231, 251, 308, 327–330, 343, 349f., 368, 370–372, 375, 391–393, 409, 458, 463, 472

Sachregister

Korrelat 29, 88, 191, 196, 278, 287 – neuronales Korrelat 85, 129, 183, 287, 327, 329–331 Korrelation 124, 129, 195, 371 Kortex s. Gehirnregionen Kreationismus 300, 304, 392 Kultur 95, 133, 144, 300, 367, 383, 391, 402f., 407, 414, 423, 426, 428, 439, 478 – Kultur der Freiheit 23, 405, 407, 415, 426, 431, 454 – Kulturgeschichte 22, 298, 300, 365, 441, 472 Kulturwissenschaft 22, 429f., 437 Laplacescher Dämon 261, 276 Lebenswelt 5, 239, 311f., 442, 452, 454 Lebenswissenschaften 14, 183 Leib 11, 195, 218–220, 288 Leib und Seele 64, 128, 251, 254, 256, 287f., 363, 472 Leistung 51, 81, 83, 88f., 104, 107, 109f., 128, 170, 193, 217, 264, 301, 303, 349, 413, 420f., 426, 428, 430, 462, 464, 476f. – Gedächtnisleistung 409 – Sinnesleistung 190–192, 203 – Verhaltensleistung 187, 189, 196, 199 Lernen 12, 48, 51, 53f., 66f., 76, 78, 82f., 86, 88f., 96, 104f., 107, 110, 144, 147, 155, 170, 376–378, 396, 409, 463 Libertarismus 20, 233, 242, 256, 275f., 281f., 284–290, 292–297, 304 – ereigniskausaler 292 – ontologischer 19 Libet-Experiment 6-9, 16f., 21, 72, 88, 117-121, 124-127, 129-131, 320, 327, 335, 337, 340, 343, 350-352, 356, 363, 416, 421, 427 Limitation 333 – autoepistemische Limitation 21, 333 Lücke 20, 233, 239, 279, 293–295, 463

491

Materialismus 5f., 375, 420 – eliminativer Materialismus 265 Mechanismus 15f., 41, 65f., 69, 79–81, 83, 107f., 112, 118, 133, 136–138, 140, 142f., 145–147, 165, 172, 189, 295, 300, 380, 473, 476 – biologischer Mechanismus 383 – reflexive Mechanismen 476f. Mensch – Menschenbild 2, 142 – Menschwerdung 22, 392, 395–397, 402 – Phylogenese des Menschen 12 mental 13f., 18, 29, 33, 55, 171f., 179, 182, 184f., 194, 196, 201, 203, 277, 287, 291, 300, 302f., 321f., 348–350, 352, 401, 406, 428, 437, 450 – mentale Eigenschaft 14, 299 – mentale Fähigkeit 97, 299, 301, 303 – mentale Repräsentation 97 – mentaler Prozess 288 – mentaler Vorgang 112 – mentaler Zustand 6, 97, 111, 249f., 264–266, 277, 321f., 333, 437 – mentales Ereignis 287 – mentales Phänomen 185 – mentale Verursachung 297 – mental state 97 – protomental 302 Mentalismus 255, 264-266, 440 Metakognition 16, 95–98, 107–112, 182, 200 Metaphysik 21, 335f., 360, 438, 442 Mimesis 393, 411–413, 431 Molekularbiologie 17, 46, 133–141, 143f., 146f., 250, 344, 452 Monismus 13, 264, 406 Moral 51, 73, 167, 275, 367f., 439 Motiv 13, 17f., 96, 149–151, 167, 171–173, 203, 268, 270f., 275, 293, 397, 427, 449 Motorik 50, 71, 76f., 79, 81, 84f., 106, 150f., 160f., 163, 166f.,

492

Sachregister

170–172, 194, 314–317, 322f., 325, 382, 386, 403, 408f., 414 Natur – belebte Natur 135, 181, 465 – biologische Natur 304 – freie Natur 468 – Naturbedingung 396 – Naturbegriff 220, 396 – Naturbeherrschung 220 – Naturbeschreibung 215 – Natur der Freiheit 407, 413, 415 – Natur des Menschen 141, 394 – Naturerklärung 428f. – Naturforschung 15 – nichtorganische Natur 250 – Regelhaftigkeit der Natur 369 – unbelebte Natur 44 Naturalisierung 212, 215, 265, 441 Naturalismus 14, 19, 31, 247f., 250–254, 256f., 259, 264–267, 275, 278, 299, 304, 336, 350, 360f., 373, 441 – dogmatischer Naturalismus 266 – eliminativer Naturalismus 309 – Grenzen des Naturalismus 14 – kritischer Naturalismus 430 – methodischer Naturalismus 250 – Naturalismus der Freiheit 15, 22, 43, 402 – reduktiver Naturalismus 309 Naturalismus s. auch Materialismus Naturgeschichte 10f., 13, 19, 31, 50, 209–211, 215f., 225, 299f., 373, 378, 386, 438, 441, 443, 451, 454, 459 – Naturgeschichte der Freiheit 1, 3f., 10–13, 16, 18, 23f., 51, 75, 135, 302f., 376, 388, 438–442, 451, 457, 459, 472 Naturphilosophie 195, 211, 367 Naturprozess 442, 451f., 464 Nerven 95, 122 – Nervennetze 48 – Nervensystem 36, 38, 48, 78–81, 85, 135, 147, 195f. – Nervenzelle 37, 45, 48, 139–141, 191, 408

Netzwerk 32, 69, 85, 138–141, 144, 147, 159–161, 166 Neurobiologie – experimentelle Neurobiologie 184f. – neurobiologische Experimente 21 Neuroepistemologie 201 Neuron 67f., 85–87, 143, 145, 147, 198, 252f., 349, 361, 408, 410, 430 – neuronal – neuronale Grundlage 409, 428, 430 – neuronaler Ablauf 12, 38 – neuronale Repräsentation 40, 409 – neuronaler Prozess 2, 12, 15, 20, 29, 35, 37f., 40f., 123f., 247, 253, 260, 264f., 293, 308f., 315, 319, 327, 329, 333, 351f., 371, 428, 454, 464 – neuronaler Zustand 333 – neuronales Netzwerk 29, 38, 68, 73, 91 – neuronales Substrat 87, 287, 360 Neurophilosophie 20, 74, 121, 307, 310f., 315, 317, 329f. Neurophysiologie 59, 182, 244, 276, 335, 337, 350, 475 Neurotransmitter 36, 252 Neurowissenschaft 2, 4, 15, 21, 23, 59–63, 65, 73f., 76–78, 83, 85, 179, 197, 200f., 308, 310f., 315, 319, 328, 363, 424, 426f., 454 Nonkompatibilismus s. Kompatibilismus/Inkompatibilismus Notwendigkeit 2, 22, 195, 200, 223, 256f., 273, 367–373, 383f., 386f., 405, 459, 471 Organismus 8, 11–13, 21, 23, 32, 35f., 41, 49, 134f., 137f., 141–143, 146f., 181, 184, 188, 193, 202, 308f., 311–326, 328, 331, 370, 375, 381–383, 408–410, 414f., 428f., 454, 461f., 464, 466–470, 472–478

Sachregister

Organismus-Umwelt-Relation 21, 312f., 315f., 320–322, 324–326 Person 3, 20, 29, 70, 73, 150f., 168, 173, 183, 231, 240, 242, 244, 247f., 251, 254, 256, 258f., 261–263, 267–271, 284–288, 290–293, 307, 318, 406f., 415f., 420–422, 429–431, 437, 445–448, 469 Personalität 18, 183, 247, 420–422, 426, 431 Perspektivendualismus 22, 405-407, 428 – epistemologischer Perspektivendualismus 14 Perspektivismus 3, 10, 13f., 18, 22f., 29, 96, 113, 135, 181, 187, 200, 217, 220, 225, 230f., 239, 303, 324, 326, 394, 406–408, 414–416, 421, 423, 425, 430f., 437, 439–441, 443f., 452–454, 472, 478 Philosophie – analytische Philosophie 234, 314 – Kulturphilosophie 422 – Lebensphilosophie 23, 422f. – Philosophie der symbolischen Formen 402 – Philosophie des Geistes 250, 326, 328 – Sprachphilosophie 239f. Physikalismus 30, 79, 139, 265, 478 Physiologie 29, 182, 191f., 387, 457 – Sinnesphysiologie 45, 182, 190f., 193f. – Verhaltensphysiologie 186, 189 Plastizität 410, 428, 453 Positivismus 234 Potential 350, 412 Prädikatenlogik 277 Prädiktion 16, 78, 80, 83, 87, 315 Pragmatismus 23, 435, 439, 441–443, 452 Primat 4, 13, 16f., 23, 90, 96, 108, 113, 123, 136, 142–145, 152, 159, 161, 166, 168f., 172, 298, 393, 410–412, 452

493

Probabilismus 237f., 242 Prognostizierbarkeit 54, 237, 273, 342 Projektion 165, 303, 399, 401, 452 Protein 17, 48, 52, 135, 141–144 Psychoanalyse 424f. Psychologie 30, 47, 60, 62–64, 73, 76, 78f., 96, 118, 149, 182, 185, 276, 416, 443 Psychologismus 277 Psychophysik 99, 123, 190, 194f. Qualia 124, 191, 256, 278 Quantenphysik 36, 133, 237f., 242, 273, 361, 464 Rationalität 12, 18, 150, 173, 230f., 234, 236, 238–242, 244, 248, 252–254, 256, 258–264, 267, 269, 271, 275f., 321–323, 344, 421, 429, 444 Reaktion 8, 49, 59, 80, 139, 186f., 239, 247, 251f., 381f., 384, 393, 395f., 401, 408, 452f., 464, 466, 474f. Realisierung 32, 249f., 255, 309, 346, 447, 450 – neuronale Realisierung 255 Reduktion 8, 30, 139, 210, 249f., 264–266, 310, 477 Reduktionismus 436 Reflexbogen 408 Regel 22, 45, 50, 64f., 74, 82, 84, 97, 99, 101, 108, 125, 134, 150, 165, 167, 170, 194, 235, 242, 249, 251, 258, 266f., 270, 277, 293, 302, 353, 368f., 371f., 380f., 393, 420, 447, 461, 463f., 467, 469f., 473f., 476f. Regularität 250f., 273, 371 – probabilistische Regularität 273 Reiz 50, 54, 68, 97, 99, 101, 105, 125, 127, 137, 153, 247, 346, 357, 376, 382, 385, 402f., 408, 474–476 – Reiz-Reaktions-Mechanismus 370, 374, 383, 408, 428–430 – Reizübertragung 192, 370f.

494

Sachregister

– Reizverarbeitung 408 Rekonstruktion 10, 13, 20, 212–214, 216, 218, 221f., 225, 302f., 436, 477 Relation 119, 141, 191, 209, 277, 309, 313, 317, 319f., 322–326, 331, 460, 468, 476 – Relationales Modell von Freiheit 21 Repräsentation 38, 51, 109f., 128, 134, 157–159, 185, 196, 314f., 329, 344, 349, 414, 423 Reproduzierbarkeit 31, 62–64, 66, 140, 217, 415, 466 Rezeptor 136–138, 146, 187, 190 Schimpansenprojekt 143f., 146 Selbstartikulation 19, 220 Selbstbeobachtung 185, 192–195, 197 Selbstbestimmung 1, 3, 6, 9, 12, 22, 24, 224, 370, 420, 445f., 477 Selbstbewegung 374, 384, 460f., 469, 472 Selbstbewusstsein 30, 63, 196f., 201f., 301, 457, 459, 472, 478 Selbstbezug 209, 222–225, 314–317, 405, 423 Selbstbild 187, 230, 244, 259f., 276 Selbsterfahrung 196, 374f., 437, 445, 458f., 476 Selbsterkenntnis 196 Selbstorganisation 3, 8, 24, 69f., 310, 416, 471–473, 477 Selbstreferentialität 18, 179, 186, 191, 193–195, 202 Selbstreflexion 97 Selbstthematisierung 180f., 184, 187, 192, 196f. Selbstverhältnis 225, 423 Selbstverständnis 5, 13, 112, 197, 299, 301, 438, 445, 460 Selektion 16, 52, 80, 83f., 109, 136, 151, 172, 187f., 193, 212f., 309, 311f., 314, 323f., 446, 448, 451–453 Sensorik 50, 160, 315

Sequenz 48, 107, 142f., 145, 394, 398f., 452 Signal 37f., 79f., 84, 87, 90, 127, 135f., 138, 140f., 146f., 166, 344f., 357, 362, 378, 413f. – Signaltransduktion 17, 133, 135f., 138, 142, 144, 146f. – Signalübertragung 39, 48, 358 – Signalverarbeitung 135, 143 Sinn – Sinnesleistung 190-192, 203 – Sinnesreize 49, 52, 187, 343, 376 Sozial 3–5, 11f., 14, 23, 42, 55, 73, 86, 96, 134, 141, 167–169, 172, 200, 310, 312, 377–379, 383f., 406, 410f., 413, 420, 425, 428f., 431, 437, 440, 442, 448–451, 454, 461, 469f., 477f. – soziale Verhältnisse 410 – Sozialverhalten 378, 381, 429 Spezies 78, 143–145, 277, 302, 313, 328, 332f., 473, 477 Spiel – Funktion des Spiels 379 – Spielraum 22, 230, 244, 261f., 264, 286, 297, 355, 362, 379, 396, 402, 409, 468 – Spielverhalten 376, 379f., 412 Spontaneität 8, 24, 31, 68, 78f., 91, 110, 120, 128, 188, 230, 337, 403, 412, 465, 468, 470, 472f. Sprache 50, 61, 63, 75, 95, 121, 143, 146, 151f., 168–172, 224, 243, 255, 265, 276, 298, 300–303, 347, 349–352, 354f., 359f., 375f., 384, 403, 423f., 439f., 446, 466 – Metasprache 23, 406f. – Sprachspiel 209f., 264–266, 406, 427–429, 440 Sprechakt 240, 340, 354, 442, 444, 446 Stimulus 37, 79, 82, 101, 276, 309, 313f., 317, 323f., 396 Stochastizität 15, 41, 68 Struktur 5, 17f., 23, 31f., 36, 50, 76, 82f., 86f., 89f., 105, 119f., 130, 136, 138, 142, 161, 163,

Sachregister

171, 179–182, 186, 189, 191, 193, 197–199, 201f., 212, 215, 231, 315, 323, 355, 373, 410, 416, 430, 437, 440, 444, 465 Subjekt 21, 47, 180, 189, 195, 197f., 220, 223, 249, 307, 318, 323–327, 330, 402, 419, 428, 437, 444f., 461 Subjektivität 2f., 6f., 15, 17, 29, 39–41, 86, 119, 124–126, 129–131, 149, 181, 191–194, 196, 200, 230, 234, 236, 274, 312, 314, 326f., 331, 357, 384, 427, 436, 444 Substrat 87, 90, 287, 360 Symbol 99f., 103, 135, 169, 413f., 421, 424, 430, 453 Symbolisierung 23, 402f., 413, 422–426, 428–431 Synapse 71, 139f., 293, 361, 408 System – chaotisches System 39, 139 – deterministisches System 39, 231, 243, 273 – hyperkomplexes System 17, 139 – lebendes System 3, 33, 179f., 183 – Nervensystem 36, 38, 48, 78-81, 85, 135, 147, 196 – neuronales System 23, 37, 276, 408f., 430 – selbstreferentielles System 18, 128, 179 – visuelles System 83, 158f., 191 Systembiologie 139 Tank 38, 343–351, 353f., 358–361, 363, 409, 428 theory of mind 97 Transversalkraft 274 trial and error 373f. Trieb 386f. Umkehrbrillen-Experiment 53 Umwelt 12f., 21, 23, 35, 37f., 80, 89, 96, 110, 137f., 144, 146, 160f., 171, 187–190, 192, 307–332, 381, 409, 411, 429, 449f., 466, 474

495

– natürliche Umwelt 11, 169, 440 – soziale Umwelt 5, 96, 429 – tierische Umwelt 189 – Umweltveränderungen 381 Unsicherheit 37, 221 Unterbestimmtheit 15, 229, 233, 237, 243, 256 – naturalistische Unterbestimmtheit 19, 229, 233, 236–238, 243f., 275f. Unvereinbarkeit s. Vereinbarkeit/ Unvereinbarkeit Urheber 12, 49, 99, 103, 111, 126, 128f., 198, 200, 230, 268, 307f., 319, 325–327, 381f., 410, 420, 439f., 454, 459 Ursache 8, 13, 17, 19, 31–33, 43, 50, 56, 73, 75, 79, 91, 118, 123f., 129, 133–135, 139–141, 143, 146f., 149f., 198, 247–249, 251–257, 266f., 273–275, 278, 286f., 289–293, 297, 372f., 375f., 405f., 464, 466f. – hinreichende Ursache 43, 47 – naturalistische Ursache 275 – proximate Ursache 16, 91 – ultimate Ursache 16, 91 Verantwortung 2, 6, 12, 17, 19, 55, 122, 129, 131, 230, 232, 238f., 241f., 244, 251, 275f., 406 Vereinbarkeit/Unvereinbarkeit 43, 172, 240–242, 252, 259f., 276, 282f., 290, 299, 304, 308–310, 315, 319, 358, 360–362, 374, 468, 476 Verhalten – funktionales Verhalten 413, 431 – menschliches Verhalten 8, 15, 44, 47, 133–135, 470 – soziales Verhalten 168, 377f., 381 – tierisches Verhalten 56, 188f., 196, 408, 470 Verhaltensforschung 15, 43f., 48, 50, 56, 144, 182–184, 186, 188, 303, 380 Verhaltensfreiheit 49f., 55f.

496

Sachregister

Vermögen 13, 192, 199, 283–286, 289, 291f., 296–298, 335 Vernunft 167f., 172f., 202, 266, 278, 298, 302, 369, 386, 388, 405, 462, 469f., 472 Verschaltung 2, 39, 77, 85f., 165, 287, 408f. Verstand 3, 12, 20, 22f., 38, 117, 142, 151, 167f., 172f., 181, 189, 191, 194, 196, 199, 202, 216f., 224, 230, 233, 248, 274f., 285, 309, 320–322, 368, 375, 384, 417, 424, 438, 441, 447, 460 Wahl 23, 59, 84f., 103, 108, 235, 259, 283, 285–287, 296, 298, 335, 342, 416, 419, 421, 438f., 448–454 Wahrnehmung 22, 46, 53, 76f., 80, 84f., 91, 97, 99, 123, 128, 136f., 140, 159, 167, 171f., 181, 185, 192, 194–196, 234, 239, 254, 349f., 369, 385, 387, 406, 414, 447, 449, 468, 470 Welt – Bit-Welt 344, 361f. – determinierte 6, 258-261, 282, 345 – Lebenswelt 5, 239, 251, 441f., 452, 454 – Weltbild 5, 22, 232, 244, 290, 299, 368f., 373f. – Weltverhältnis, symbolisches 413 – Zwei-Welten-Lehre 405f. Wille 1f., 5, 9, 16, 20, 22, 55, 73, 91, 117f., 129, 149–151, 162, 197, 281f., 284–286, 293, 307, 375, 395, 422, 444, 458, 460–463, 469f.

– freier Wille 8, 30, 63, 65, 67, 73, 117, 121, 284, 363, 367, 406, 426, 443, 446 – Willensakt 40, 47, 119, 121, 129, 247, 338f., 351 – Willensentscheidung 7–9, 16, 29, 90, 118, 121, 123, 338, 353, 357 Wirkungsquantum 36, 43 Wissen 11, 16, 21, 30, 38, 40, 45, 50, 55, 61, 63–68, 75–77, 80, 87–89, 91, 95, 98, 100f., 107f., 110–112, 144, 151, 172, 181f., 189, 213f., 216, 218, 221f., 231, 234, 251, 254, 260, 263, 283, 287, 295, 302, 333, 335, 338, 350, 360, 377, 385, 388, 407, 411, 429f., 445, 458, 463, 469, 477 – deklaratives Wissen 106 – explizites Wissen 16, 75, 89 – implizites Wissen 75f., 80, 87f., 90f. Zeit – physikalische 7f., 17, 35, 39, 72, 91, 119–121, 124, 129f., 133, 135f., 138f., 141, 146f., 191, 194f., 231, 241, 243f., 283, 288, 292, 298, 319–322, 328, 344, 359, 371f., 384, 476 – subjektive 17, 124 – Zeitpunkt 6, 15, 71f., 85, 102, 119f., 124f., 127, 165, 231, 242, 261f., 274, 277, 291, 337, 354f., 357f., 377, 401, 419, 427, 443 Züchtung 19, 212–214 Zufall 43–45, 50, 56, 64, 69, 172, 262, 296, 368, 371, 396, 415, 470