Naturgeschichte des Psychischen 2: Lernen und Abstraktionsleistungen bei Tieren 3593325182

Die Evolution psychischer Prozesse von einfachsten tierischen Organismen bis zu den höheren Säugetieren wird in dieser N

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Naturgeschichte des Psychischen 2: Lernen und Abstraktionsleistungen bei Tieren
 3593325182

Table of contents :
Instinktverhalten und
biologische Lernklassifikationen -
Abstraktionsleistungen bei Tieren - Traditionsbildung
als soziales Lernen.

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Volker Schurig Naturgeschichte des Psychischen 2 Lernen und Abstraktionsleistungen bei Tieren

Studium

Kritische Sozialwissenschaft Psychologie

Texte zur Kritischen Psychologie, Band 4/1 Psychologisches Institut der FU Berlin

Naturgeschichte des Psychischen 2 Die Evolution psychischer Prozesse von einfachsten tierischen Organismen bis zu den höheren Säugetieren wird in dieser Naturgeschichte auf materialistischer Grundlage in ihren wichtigsten Entwicklungsstufen systematisiert. Die Darstellung basiert auf einer Integration genetischer, physiologischer und ethologischer Theorien. Die phylogenetische Interpretation der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Psychologie ermöglicht das Verständnis der Vorformen des Bewußtseins und deren biologischen Gesetze. Ebenso ergibt sich durch sie eine neue Sichtweise des psycho-physischen Problems. Die naturgeschichtliche Analyse ermöglicht eine präzisere Bestimmung der spezifischen gesellschaftlichen Charakteristika menschlicher Lebenstätigkeit und Subjektivität. Inhalt dieses Bandes: Instinktverhalten und biologische Lernklassifikationen Abstraktionsleistungen bei Tieren - Traditionsbildung als soziales Lernen. Band I: Naturwissenschaftliche Kriterien des Psychischen - Grundlagen der Tierkommunikation Reizbarkeit, Signalbildung und Ritualisation als biologische Informationsebenen.

Volker Schurig studierte 1960-1966 Zoologie in Jena. 1969 Promotion am »Institut für philosophische Probleme der modernen Naturwissenschaften« der Humboldt-Universität Berlin über Probleme der Biokybernetik. Bis 1971 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutes für Hochseefischerei Rostock-Warnemünde. Seit 1971 Assistenzprofessor am Psychologischen Institut der FU Berlin. Veröffentlichung: Zusammen mit K. Holzkamp Herausgeber von Leontjew: Die Entwicklung des Psychischen.

Studium: Kritische Sozialwissenschaft Wissenschaftlicher Beirat: Franz Dröge, Bremen; Klaus Holzkamp, Berlin; Klaus Horn, Frankfurt/M.; Urs Jaeggi, Berlin; Ekkehart Krippendorff, Bologna; Hans Joachim Krüger, Gießen; Wolf-Dieter Narr, Berlin; Frieder Naschold, Konstanz; Claus Offe, Bielefeld; Jürgen Ritsert, Frankfurt/M.; Erich Wulff, Hannover Lektorat: Adalbert Hepp/Stefan Müller-Doohm

Volker Schurig Naturgeschichte des Psychischen 2 Lernen und Abstraktionsleistungen bei Tieren

Texte zur Kritischen Psychologie, Bd. 3/2 Psychologisches Institut der FU Berlin

Campus Verlag Frankfurt/New York

ISBN 3-593-32518-2

Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1975 bei Campus Verlag, Frankfurt/Main Umschlagentwurf: Eckard Warminski, Frankfurt/Main Hersteller: Adolf Heinzlmeier Gesamtherstellung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany

Inhalt

1. Das System des angeborenen Verhaltens . 9 1.1. Zur Problematik von Angeborenem und Erworbenem 9 1.2. Die >horizontale< und >vertikale< Organisationsstruktur instinktiven Verhaltens 16 2. Zur Phylogenese des tierischen Lernverhaltens 2.1. Ethologische, lernpsychologische und biokybernetische Taxonomien von Lernprozessen 2.1.1. Metatheoretische Klassifikationsprinzipien 2.2. Einige >Zwischenglieder< der naturhistorischen Lernklassifikakation 2.2.1. Lernverhalten im psycho-physischen Grenzbereich: Habituation 2.2.2. Prägungsverhalten als limitierte Öffnung gegenüber Umwelteinflüssen 2.2.3. Problemlösendes Verhalten bei Tieren (Lernen durch Einsicht)

29 29 37 50 50 61 75

3. Zur Naturgeschichte tierischer Abstraktionsleistungen 3.1. Isolierende Abstraktion als Diskriminationslernen. 3.2. Generalisierende Abstraktionsleistungen 3.2.1. Klassenbildung als >unbenanntes Zählen< bei Vögeln . . . . 3.2.2. >Ich-Bewußtsein< bei nichtmenschlichen Primaten ? 3.3. Relationales Lernen 3.4. Geometrisch-optische Täuschungen bei Tieren 3.5. Experimentelle Untersuchungen über die Entstehung von >averbalen Wertvorstellungen< bei niederen Affen und Schimpansen

89 96 105 110 115 118 123

4. Traditionsbildung bei Tieren

131

126

5. Einige spezielle Aspekte des Verhältnisses von Biologie und Psychologie 143 5.1. Methodologische Implikationen des psycho-physischen Problems 143 5.1.1. Die Anthropomorphisierung des tierischen Verhaltens durch psychologische Begriffe 146

5.1.2. Die logische Struktur der historischen Methode in der Biologie 152 5.1.3. Maschinelle Systeme als technisches Kriterium der Höherentwicklung 162 5.2. Zur erkenntnistheoretischen Bestimmung des Terminus »naturwissenschaftliche Grundlagen der Psychologie< 166 Anhang: Biologische Fachterminologie Weiterführende Literaturauswahl Sachregister

180 202 222

Inhalt von Band 1 Einleitung 1. Allgemeine Aspekte des Verhältnisses von Biologie und Psychologie 1.1. Die Kausalität von Physischem und Psychischem als Gegenstand naturwissenschaftlicher Theorien 1.2. Die Bedeutung der Objektivitätsforderung in der Rekonstruktion psychischer Prozesse bei Tieren 1.3. Die gesellschaftlich-historische Dimension des psycho-physischen Problems 1.4. Das psycho-physische Verhältnis als empirisches Problem . . . 2. Biologische Grundlagen der Entwicklung psychischer Prozesse . . 2.1. Der Beginn der Psychophylogenese 2.1.1. Psychisches und Bewußtsein als unterschiedliche Entwicklungsformen des Ideellen 2.2. Biochemische und histologische Voraussetzungen des Psychischen 2.2.1. Psychische Prozesse bei Einzellern und pflanzlichen Organismen? 2.3. Das Nervensystem als materielle Grundlage tierischen Verhaltens 2.3.1. Das Neuron 2.3.2. Die Entwicklung des Nervensystems 2.3.3. Organisations- und Evolutionsprinzipien der Gehirnbildung 3. Physiologische Kriterien des Psychischen: Reizbarkeit und Erregungsfähigkeit .... 3.1. Die phylogenetische Entwicklung von Receptorsystemen . . . 3.2. Die physiologische Struktur der Reiz-Reaktionsbeziehung. . . 3.2.1. Das Receptorpotential. Die Sinneszelle als Transducer. . . 3.2.2. Das Aktionspotential. Die Kabeleigenschaften des Neurons 3.2.3. Die Erregungsübertragung an der Synapse 4. Die Struktur der Tierkommunikation 4.1. Der Ubergang von der Reizbarkeit zur Signalbildung 4.1.1. Schlüsselreize 4.1.2. Bedingte Reize

9 25 25 31 38 45 59 59 62 70 78 85 85 88 96 103 111 126 128 136 144

. 155 164 166 170

4.2. Die Ritualisation des tierischen Verhaltens in der Evolution und Probleme der >Semantisierung< biologischer Signale . . . . 178 Literaturverzeichnis Register

....191 196

1. Das System des angeborenen Verhaltens 1.1. Zur Problematik von Angeborenem und Erworbenem Jedes tierische Verhalten stellt ebenso wie der morphologische Bauplan des Organismus eine Anpassung an die Anforderungen der Umgebung dar. Seine Ausbildung unterliegt zwei Mechanismen. Einmal kann sich eine spezifische Reaktionsweise phylogenetisch im Laufe der Stammesgeschichte durch mutative Änderungen herausbilden und ist dann in der Erbsubstanz des Organismus manifestiert. Derartige Verhaltenselemente werden als >angeboren< bezeichnet. Wenn die Verhaltenseigenart dagegen nur für die individuelle (ontogenetische) Entwicklung eines Tieres typisch ist und bei seinen Nachkommen nicht mehr unbedingt auftritt, wird sie als >erlernt< charakterisiert. Die entscheidende Frage, die auch in ihrem wissenschaftlichen Wert selbst häufig sehr kontrovers diskutiert wird, besteht in der Klärung des jeweiligen kausalen Abhängigkeitsverhältnisses von angeborenem und erlerntem Verhalten, das sich je nach der phylogenetischen Stellung des Tieres ändert. Eine methodische Möglichkeit der Ermittlung angeborenen Verhaltens bieten die Kaspar-Hauser-Versuche (benannt nach einem Findelkind, das 1828 in Nürnberg auftauchte und angeblich bis zu seinem 16. Lebensjahr isoliert in einem Keller aufgewachsen war). Durch entsprechende Haltungsbedingungen werden die Versuchstiere daran gehindert, die zum Erlernen bestimmter Verhaltenseigenärten notwendigen Erfahrungen zu sammeln. Sie werden deshalb völlig isoliert von ihren Artgenossen in einer möglichst reizarmen Umgebung aufgezogen. Obwohl diese Tiere keine Gelegenheit besitzen, von anderen Tieren zu lernen, verhalten sie sich in der späteren Entwicklung völlig normal, was die Schlußfolgerung zuläßt, daß es sich bei diesen Reaktionen um angeborene Verhaltensmuster handelt. Dies trifft z. B. für das Balzverhalten des Stichlings und das Krähen des Haushahnes zu. Besonders zahlreiche Kaspar-Hauser-Experimente sind an Vögeln durchgeführt worden (z. B. über das arttypische Aufspießen des Neuntöters, die Reviergesänge des Buchfinken, der Amsel, der Dorngrasmücke und der kalifornischen Weißkopfammer [Zonotrichia leucophrys]). Dabei zeigte sich, daß die Gesangsmuster zwar eine angeborene Grundlage besitzen, andererseits aber auch verschiedene Komponenten während einer normalen Entwicklung hinzugelernt werden, die zu besonderen >Ortsdialekten< des Artgesanges führen. Allgemein hat sich gezeigt, daß die Auswirkungen der isolierten Aufzucht um so stärker sind, je höher entwickelt die Tierart ist. Bei als Kaspar-Hauser-Tieren aufgezogenen weiblichen Rhesusaffen kommt es in der späteren Entwicklung zu einer nachhaltigen Störung des Sexualverhaltens und der eigenen Aufzucht der Nachkommen. Gegen eine unkontrollierte Extrapolation von Ergebnissen der Kaspar-Hauser9

Versuche haben sich drei methodologische Regeln als einschränkende Kriterien herausgebildet. Einmal sind der Reduktion der Umweltbedingungen bestimmte Grenzen gesetzt, da z. B. das Aufwachsen in einer reizarmen Umwelt zu Auswirkungen führen kann, die das normale Verhalten deformieren. Es ist deshalb günstiger, wenn z. B. die angeborene Fähigkeit für arttypische Lautmuster überprüft werden soll, dem Vt nur das Hören dieser Strophe vorzuenthalten, es aber sonst in einer normalen Umgebung aufzuziehen. Durch den Entzug nur ganz bestimmter Lernmöglichkeiten soll die Gefahr verringert werden, daß die Aufzuchtbedingungen selbst zu einem Faktor werden, die die Entscheidungsmöglichkeit zwischen angeborenem und erlerntem Verhalten verringern statt objektivieren. Außerdem kann aus dem Fehlen eines bestimmten Verhaltens von einem Kaspar-Hauser-Tier nicht geschlossen werden, daß in der weiteren Entwicklung nicht doch noch angeborene Verhaltensweisen auftreten, da sie erst auf einem späteren Stadium der individuellen Entwicklung funktionell werden und ihr Fehlen in der frühen Entwicklung deshalb keine Bedeutung besitzt. Erschwert wird eine genaue Aussage vor allem durch die Verzahnung zahlreicher Verhaltenselemente, die dann selbst wieder in einem unterschiedlichen Verhältnis angeboren und erlernt sind. So sammeln Finken die für den Nestbau notwendigen Materialien (Grashalme, Federn) ohne Vorbild und Erfahrung ebenso wie die Fluchtreaktion der Jungvögel angeboren ist, während der Gesang angeboren ist, aber durch Umwelteinflüsse modifiziert werden kann. Vor allem die mangelnde Entscheidbarkeit, ob das Ausbleiben eines bestimmten Verhaltenselements die Folge einer mangelnden Umwelterfahrung ist oder aus einer Schädigung des Vt durch das Experiment resultiert, hat bei Überprüfung der Frage, ob das Verhaltenselement angeboren ist oder nicht, zur Entwicklung neuer Methoden vor allem in der Verhaltensgenetik geführt. Mit den Verfahren der Genetik werden statt der Vererbungsgänge von Körpermerkmalen die von besonderen Verhaltensabweichungen überprüft. Da das Verhalten innerhalb einer Art jedoch sehr gleichförmig ist, sind derartige Kreuzungsexperimente bisher nur in wenigen Fällen durchgeführt worden. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Kreuzung zweier Bienenrassen mit einem dihybriden Erbgang, in dem ein Gen für das öffnen der Zelle und das andere für das Abtransportieren der toten Tiere verantwortlich ist. Für das Ablaufen des vollständigen >hygienischen< Verhaltens der Honigbiene müssen beide Erbfaktoren in doppelter Form vorliegen. Wenn nur ein Gen in homozygoter Form existiert, können entweder die Wabendeckel nicht entfernt werden, aber aus künstlich geöffneten Zellen werden die Bienenleichen entfernt, während in einem anderen Fall nur die Deckel geöffnet, die toten Larven aber nicht entfernt werden. Auch für einige Verhaltensformen anderer Tierarten wie das Eintragen von Nestmaterial bei nahe verwandten Papageienarten oder das Kampfverhalten von Grillenlarven liegen Kreuzungsexperimente vor. Ein wichtiges Gebiet für den Nachweis angeborener Verhaltenseigentümlichkeiten ist die Haustierforschung, da die Domestikation in vieler Hinsicht auch auf der künstlichen Auslese besonderer Verhaltensmerkmale wie geringer Aggressivität, geringe Fluchtdistanz usw. beruht. Die Selektion kann dabei aber immer in beide Richtungen vorangetrieben werden, da auch Tierarten wie der Kampffisch (Betta splendens) mit hoher Aggressivität ge10

züchtet werden. In Kaspar-Hauser-Versuchen aufgezogene Kampffische bekämpfen mit der arttypischen Verhaltensweise sogar ihr eigenes Spiegelbild.

Daß Erbgänge von Verhaltensweisen bisher nur in wenigen Fällen aufgeklärt wurden, hat neben der Konformität des artspezifischen Verhaltens noch mehrere andere Gründe. Einmal ist ein so kompliziertes Merkmal des biologischen Systems wie sein Verhalten auch in seinen einzelnen Komponenten wahrscheinlich nur in den seltensten Fällen von lediglich einem Allelpaar abhängig. Kreuzungsexperimente von Erbgängen mit mehr als zwei Genpaaren sind aber schwierig zu analysieren. Außerdem kommen für genetische Verhaltensanalysen nur Tiere mit geringem Haltungsaufwand und schneller Generationsfolge in Frage, was aber gerade für die interessanten höherentwickelten Tiere nicht zutrifft. Ein noch fehlender vollständiger Aktionskatalog des Verhaltensinventars (Ethogramm) des Vt ist dagegen kein entscheidendes Hindernis. Wie schwierig es ist, allein auf der Verhaltensebene zu einer Unterscheidung zwischen den angeborenen und erlernten Anteilen zu kommen, zeigt ein Experiment von Hess (1956) zur Raum Wahrnehmung von Hühnerküken, denen einmal Brillen mit Fensterglas und zum anderen mit Prismenglas aufgesetzt wurden, durch das das Gesichtsfeld um einen bestimmten Betrag nach links oder rechts verschoben wurde. In den ersten Tagen nach den Schlüpfen erfolgt noch ein ungenaues Picken nach Objekten von einer bestimmten Größenordnung, bis eine Einstellung auf Futterkörner erfolgt. Danach verbesserte sich die Genauigkeit der Pickreaktion. Die Küken mit der Brille aus Fensterglas trafen dabei die Körner genau, die Vt mit den Prismenbrillen jedoch um einen bestimmten Winkelbetrag daneben. Ohne den Vergleich mit der zweiten Gruppe würde die (psychologische) Erklärung naheliegen, die erste Gruppe verbessere ihr Verhalten durch die ständige Belohnung durch Futterkörner. Tatsächlich pickt aber auch die zweite Gruppe immer genauer, ohne daß eine Belohnimg vorliegt, so daß die motorische Verbesserung zwar von der Übung, offensichtlich aber nicht von der konkreten Erfahrung mit dem Futterobjekt abhängt. Auf der theoretischen Ebene der Diskussion um das Verhältnis von angeborenem und erworbenem Verhalten können drei Etappen in der Entwicklung des Problembewußtseins unterschieden werden. Zunächst dominierte die Verabsolutierung der einen oder anderen Seite. Psychologisch gesehen ist die Position des orthodoxen Behaviorismus am interessantesten, in der die Bedeutung angeborenen Verhaltens zunächst übersehen und dann bestritten wurde. Der Organismus wird zu einer abstrakten Größe, an der nur die Variabilität als Lernverhalten methodisch interessiert. Für die naturhistorische Betrachtungsweise ist die Funktion behavioristischer Lerntheorien widersprüchlich, da die ahistorische Inter11

pretation psychischer Prozesse als Verhalten einmal die für die Bewußtseinspsychologie unüberwindbare Hürde von tierischen und menschlichen Widerspiegelungsformen nivelliert und damit auch das tierische Lernverhalten zu einem legitimen Gegenstandsbereich der Psychologie werden läßt, andererseits die gleiche abstrakte Denkweise den kausalen Zusammenhang mit noch elementareren Verhaltensmechanismen leugnet. Gegenwärtig kann die Verzahnung von angeborenem und erlerntem Verhalten nicht mehr ernsthaft bestritten werden, da z. B. bedingte Reflexe nur auf der Grundlage unbedingter Reflexe und damit angeborener Mechanismen entstehen können und für viele Tiere die Existenz eines erblich vorbestimmten Lernvermögens nachgewiesen ist. Die Anerkennung der empirischen Existenz beider Verhaltensklassen stellt ein theoretisches Durchgangsstadium dar, da ihr konkretes Verhältnis kein Gleichgewicht ist, sondern bei den einzelnen Tierarten je nach ihrer entwicklungsgeschichtlichen Stellung unterschiedlich gelöst wird. Eine besondere Schwierigkeit ist dabei die jeweils verschieden weite Fassung des Instinkt- und Lernbegriffes. Ebenso wie die Bezeichnung >instinktiv< einmal synonym für alle angeborenen Verhaltensweisen, zum anderen aber auch präziser im Sinne der sich aus Erbkoordination (Instinktbewegung) und Taxis zusammensetzenden Instinkthandlung verwendet wird, existieren auch unterschiedliche Lernbegriffe. Im engeren Sinne bezeichnet dieser Terminus nur gesetzmäßige Verhaltensänderungen in der individuellen Entwicklung zwischen einem Reiz und einer Antwort, in der weiteren Fassung dagegen alle Arten von erfahrungsbedingten Verhaltensänderungen. Während der psychologische Lernbegriff zunächst zu eng definiert war, gilt für den Instinktbegriff das Gegenteil. Er mußte in seinem universellen Gebrauch eingeschränkt und auf naturwissenschaftlich definierte Sachverhalte bezogen werden. Die Schwierigkeiten der dritten und eigentlichen Ebene der Problemdiskussion, in der die historische Abhängigkeit von angeborenem und erlerntem Verhalten in Abhängigkeit von der stammesgeschichtlichen Stellung der betreffenden Tierart formuliert wird, führen gelegentlich zu einer erneuten Reproduktion der Widersprüche der ersten, teilweise bereits wissenschaftshistorischen Betrachtungsweisen. Eine Ursache dafür liegt bereits in der Auswahl des Tiermaterials, da z. B. ein Lernpsychologe, der an den Gesetzmäßigkeiten der Modifikabilität interessiert ist, sich nicht gerade die Tierarten aussuchen wird, an denen der Einfluß des Erbgutes auf die Verhaltensentwicklung besonders prägnant hervortritt. >Je höher eine Tierart stammesgeschichtlich entwickelt ist, desto mehr überwiegt funktionell im Gesamtverhalten auch das Lernverhalteneigentliche< Lernen aber als kurzfristige, ontogenetisch begrenzte Verhaltenseinstellungen aufzufassen sind. Instinkthandlungen werden damit ebenso gelernt wie Lernhandlungen eine instinktive Grundlage haben. Es handelt sich um zwei ineinanderverlaufende Prozeßtypen mit einem jeweils langsamen (phylogenetischen) und einem schnelleren (ontogenetischen) Prozeßrhythmus. In der idealisierenden Denkvorstellung, daß am Beginn der Psychophylogenese ein reiner Instinktorganismus gestanden habe und am Ende der sein Verhalten ausschließlich durch Lernen lösende Mensch stehe, ist das reale Widerspruchsverhältnis von angeborenem und erlerntem Verhalten falsch gelöst, da beide immer nur miteinander vorkommenden Anpassungsformen zeitlich auseinandergezogen und unter Verabsolutierung des phylogenetischen oder ontogenetischen Entwicklungsaspektes gegenübergestellt werden. Die bestimmende Seite in diesem Widerspruch ist das angeborene Verhalten deshalb, da es phylogenetisch früher auftritt oder bei niederen Tieren dominiert, und weil es von seiner Struktur her die primitivere Form der Organisation ist, auf der alle cognitiven Informationsverarbeitungsprozesse beruhen. Man muß deshalb zwei Diskussionsebenen klar unterscheiden. In der Psychophylogenese verschiebt sich die Relation immer mehr zugunsten des Lernverhaltens, was keineswegs bedeutet, daß die Evolution des angeborenen Verhaltens stagniert oder seine funktionelle Bedeutung reduziert wird. Im Gegenteil: Je höher die psychische Informationsverarbeitung entwickelt ist, um so bedeutsamer werden auch die angeborenen Mechanismen da ihr Funktionieren die erste Voraussetzung der Selbsterhaltung bleibt. Diese Wichtigkeit zeigt sich unter anderem darin, daß lebensnotwendige vegetative Reaktionen des Menschen (z. B. Verdauung, Drüsensekretion usw.) dem steuernden Eingriff des Bewußtseins weitgehend entzogen sind, da es andernfalls zu einer Gefährdung der physiologischen Organisation des Organismus selbst kommen würde. Die cognitive Informationsverarbeitung über das ZNS stellt unter diesen Gesichtspunkten lediglich eine extreme Spezialisierung dar, die davon abhängig ist, inwieweit das System der unbedingten Reflexe, Automatismen undlnstinkt13

handlungen funktioniert. Zwischen der Kompliziertheit der Informationsverarbeitung, die den Psychologen primär interessiert, und ihrer funktionalen Wertigkeit für Existenz des Organismus, der theoretischen Perspektive des Biologen, besteht ein Gegensatz, der die Existenz der beiden häufig miteinander verwechselten Diskussionsebenen bedinget. Wenn man die individuelle Modifikabilität als Maßstab der Anpassungsfähigkeit nimmt, ist sie um so günstiger einzuschätzen, je entwickelter das Lernverhalten ist. Auf der Ebene der phylogenetischen Entwicklung, der Arterhaltung, sind die angeborenen Mechanismen dagegen entscheidend. Erbkoordinationen sind hier Anpassungen, an deren Zweckmäßigkeit sich das Uberleben einer biologischen Art, also Tausender von Individuen, entscheidet. Bei einer radikalen Umweltänderung werden die Instinkthandlungen unzweckmäßig und die Art stirbt aus, unabhängig davon, wie hochentwickelt das Lernvermögen ist. Bartmeisen (Panurus biamarcus) z. B. füttern die Jungvögel, solange diese durch einen aufgesperrten Schnabel einen visuellen Auslöser bieten. Beim Ausbleiben der Bettelbewegungen werden die Jungvögel aus dem Nest geworfen, da die Eltern nicht zwischen lebenden und toten Nestlingen unterscheiden. Da unter natürlichen Selektionsbedingungen die Jungvögel durch das geringe Futterangebot ständig sperren, handelt es sich um eine sinnvolle Anpassung. Bei einer Haltung in Käfigen kommt es durch das reichhaltige Futterangebot jedoch zu einer Übersättigung, das Sperren unterbleibt und die Jungen werden aus dem Nest geworfen.

In der Ethologie selbst wird der Instinktbegriff immer weniger in theoretisch unbestimmter Form verwendet, da er teilweise als Synonym für angeborenes Verhalten überhaupt eingeführt wurde, was aber nicht gerechtfertigt ist, da es außer Instinkten auch noch andere Arten angeborenen tierischen Verhaltens gibt und er außerdem durch zahlreiche Kontroversen affektiv besetzt ist und deshalb bereits als Werturteil fungiert. Ein wichtiger Schritt war die Präzisierung des Instinktbegriffes zur Instinkthandlung, die sich aus einer formkonstanten, räumlich geordneten motorischen Bewegungsfolge, der Erbkoordination und einer Orientierungskomponente, der Taxis, zusammensetzt (Lorenz und Tinbergen 1938). Durch diese Kombination, die in einigen Fällen zeitlich aufeinander folgt, indem erst die orientierende Zieleinstellung und dann die Erbkoordination folgt, kann auch der Instinktablauf durch die Intensität und die räumliche Lage der Reize in spezifischer Weise auf die besonderen Umweltbedingungen eingestellt werden. Allerdings hat diese Präzisierung wieder neue theoretische Probleme aufgeworfen, da einmal der physiologische von dem ethologischen Taxisbegriff unterschieden werden muß und sich zum anderen auch ethologisch eine erneute Gegenüberstellung zweier Begriffe ergibt, die in einigen empirischen Fällen wie der Eieinrollbewegung der Graugans oder der 14

Reaktion eines beutefangenden Frosches sehr deutlich ist, aber von mehreren amerikanischen Ethologen bisher nicht übernommen wurde, da für zahlreiche Instinkthandlungen eine präzise Trennung zwischen Erbkoordination und Taxis ebenso schwierig ist wie auf der allgemeineren Ebene zwischen erlerntem und angeborenem Verhalten. Dies zeigt sich z. B. am Begriff des Suchverhaltens, einem aktiven Anstreben einer auslösenden Reizsituation, die zum Ablaufen einer Endhandlung führt. Im einfachsten Fall besteht sie aus einer Taxiskomponente, während kompliziertere Formen des Appetenzverhaltens auch komplexe Orientierungseinstellungen mit erlernten Komponenten einschließen. Da die artspezifische Bewegungsfolge der Instinkthandlung, die sich besonders bei der Körperpflege und beim Balzverhalten leicht beobachten läßt, ebenso wie körperliche Merkmale ein gutes Artmerkmal sind, hat sich das Interesse vor allem auf ihren Ablauf konzentriert. Erbkoordinationen sind durch einige allgemeine Charakteristika bestimmt, die vor allem eine Unterscheidung zu erlerntem Verhalten ermöglichen sollen: a. Erbkoordinationen sind formkonstant und können unter veränderten raum-zeitlichen Bedingungen als solche identifiziert werden. Ihr Intensitätsgrad kann Schwankungen unterliegen und ist von dem Verrechnungsergebnis neuraler Erregungen abhängig. Die Identität einer Erbkoordination ist deshalb unabhängig davon, ob sie schnell oder langsam abläuft. b. Erbkoordinationen müssen nicht durch Außenreize angestoßen werden, sondern sind auch spontan auslösbar. Durch verhaltensphysiologische Experimente ist nachgewiesen, daß die endogene Erregungsproduktion im ZNS auch bereits koordiniert werden kann. Eine derartige zentrale Automatie liegt vielen elementaren Verhaltensstrukuren wie Atembewegungen oder Bewegungsrhythmen zugrunde. c. Erbkoordinationen sind artspezifisch. Wenn eine Artzugehörigkeit aufgrund der gleichen morphologischen Merkmale nicht entschieden werden kann, läßt sich die Artentrennung mitunter durch das verschiedene Inventar von Erbkoordinationen begründen, die besonders bei in ähnlichen Biotopen lebenden Arten divergieren. Obwohl z. B. die Laubsängerarten Fitis (Phylloscopus trochilus), Zilpzalp (P. collybita) und der Waldlaubsänger (P. sibilatrix) unter gleichen ökologischen Bedingungen leben, können sie durch ihre klar unterschiedenen Reviergesänge bereits akustisch auseinandergehalten werden. d. Die Erbkoordination ist genetisch fixiert. Es genügt deshalb keineswegs, die Formähnlichkeit des Verhaltens als hinreichendes Merkmal für Instinktbewegungen zu definieren, da die Entscheidung, ob es sich um erboder erwerbskoordinierte Bewegungen handelt, die beide formstarr sein können, allein durch Verhaltensbeobachtung nicht getroffen werden kann. 15

Trotz dieser Entwicklung in der Biologie, auf die in ihrer Komplexheit hier nicht näher eingegangen werden kann, ist der Instinktbegriff auch in der aktuellen psychologischen Theorienbildung bis auf wenige Ausnahmen in der Entwicklungspsychologie (z. B. das System der prä- und postnatalen Entwicklung des Säuglings bzw. Kleinkindes von Gesell) ein primär negativer Begriff geblieben (vgl. Bd. 1,1.2.). Die Ursachen dafür sind sehr vielschichtig. a. Einen wichtigen Faktor stellt die bereits erwähnte historische Belastung dar, da die Postulierung angeborenen Verhaltens, die allerdings von Psychologen häufig selbst erfolgte, seinem Wesen nach agnostizistisch war und die weitere Kausalanalyse psychischer Prozesse eher behinderte als durchsichtig machte. In einem derartigen Begriff des angeborenen Verhaltens wurden damit gleichzeitig bestimmte historische Erkenntnisgrenzen der Psychologie mit reflektiert. Der Instinktbegriff ist teilweise durch die nuanciertere, aber auch nicht unproblematische Verwendung der Bestimmung >instinktiv< ersetzt worden. b. Das angeborene Verhalten ist methodisch durch die spezifisch psychologische Vorgehensweise nicht mehr erfaßbar. Durch eine negative Abgrenzung ist deshalb eine Möglichkeit gegeben, den eigenen Gegenstandsbereich empirisch genauer zu bestimmen. c. Komplizierter sind die theoretischen Hintergründe jedoch dann, wenn eine Identifizierung zwischen der Varibilität des Verhaltens und psychischen Prozessen angenommen wird. Psychischen Charakter tragen danach nur die Vorgänge, die lernbar sind. Tatsächlich sind jedoch angeborenes und erlerntes Verhalten gleichermaßen ideelle Widerspiegelungen der Umwelt, die jeweils die allgemeine Qualität psychischer Prozesse besitzen und sich nur sekundär in der Starrheit bzw. Flexibilität der Widerspiegelungsmechanismen unterscheiden. Die Ausklammerung des angeborenen Verhaltens aus dem Begriff des Psychischen führt letztlich zu dessen Subjektivierung. 1.2. Die >horizontale< und >vertikale< Organisationsstruktur instinktiven Verhaltens Die verschiedenen Problemaspekte des angeborenen Verhaltens lassen sich in ein generelleres Modell einbringen, das eine >strukturell-horizontale< Systemanalyse der Reiz-Reaktion-Beziehung sowie ihre Zerlegung in Untersysteme ermöglicht. Die einzelnen Abschnitte dieses Strukturablaufs, die zunächst black-box-Charakter besaßen, sind bereits frühzeitig von verschiedenen Ethologen und Verhaltensphysiologen theoretisch gefordert worden, ohne daß zunächst genaue empirische Befunde dazu vorgelegt werden konnten, was die zum Teil künstliche Sprachregelung 16

erklärt. Jedes der drei Untersysteme verfügt über eine eigene komplizierte experimentelle und terminologische Vorgeschichte, in der es zur wechselseitigen Abgrenzung unterschiedlicher methodologischer Konzeption und zu einer fortlaufenden Präzisierung der begrifflichen Grundlagen kam, die in ihren Einzelheiten hier nicht nachvollzogen wird. Zahlreiche Verhaltensbeobachtungen hatten gezeigt, daß viele Tierarten auf spezifische Reizsituationen mit einer typischen motorischen Bewegungsfolge reagieren, so daß zwischen dem Schlüsselreiz und dem Reaktionsmuster eine feste Kopplung angenommen werden kann und die ausgelöste motorische Aktion mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagbar ist. Daraus ergeben sich als theoretische Konsequenzen einmal die Annahme eines Auslösemechanismus (AM) als entsprechendem sensorischen datenverarbeitendem Untersystem des ZNS (1), die Annahme eines inneren Zentrums der Handlungsbereitschaft (HB) als zentralnervöse Grundlage der motorischen Aktivierung (2) und die Forderung eines motorischen Koordinationszentrums (MKT) (3). Zahlreiche Einzelheiten des AM sind sinnes- bzw. elektrophysiologisch, die Funktion des Zentrums der Handlungsbereitschaft und des MKZ verhaltensphysiologisch nachgewiesen. Im Zwischenhirn der Säuger gibt es z. B. besondere funktionelle Zentren, durch deren Reizung der Nahrungstrieb so gehemmt wird, daß die Vt keine Nahrung mehr aufnehmen, während die elektrische Reizung von anderen Gebieten, die die Freßhemmung entkoppeln, zu einer übernormalen Nahrungsaufnahme führt. Aber nicht nur die Auslösung einer Instinkthandlung ist kompliziert, sondern auch die Beendigung, an der ebenfalls innere komplizierte Schaltungen beteiligt sind. Bei der Fliege (Musca domestica) meldet der Nervus recurrens die Füllung des Magens an das ZNS. Wenn dieser Nerv durchschnitten wird, saugt die Fliege bis zum Platzen Flüssigkeit, so daß vermutlich der Vollzug der Instinkthandlung selbst für die Beendigung nicht ausreicht.

Bild 1 Funktionsschema zur Programmierung des Verhaltens. RA und RB = spezif. Reize. RC = Reiz, dessen Wahrnehmung abgeblockt ist. RD = erlernter Reiz. AM = Auslösemechanismus, verantwortlich für die Datenverarbeitung im afferenten Bereich, einschließt. Receptoren. Der AM kann gleichzeitig Speicheraufgaben übernehmen (EAM bzw. EAAM). EUR = exogene unspezif. Reize. EF — endogene Faktoren. HB = Zentrum für Handlungsbereitschaft. MKZ = motorisches Koordinationszentrum. BM = Bewegungsmuster. = Receptor. = Effektor. Nach Buchholtz (1973) 17

Der Zusammenhang von angeborenem und erworbenem Verhalten gilt für alle drei Untersysteme und kann damit in vieler Hinsicht präzisiert werden, indem nun einmal im sensorischen und motivationalen Bereich die einzelnen Komponenten genauer bestimmt werden können und zum anderen der Grund der Starrheit der Kopplung zwischen den einzelnen Untersystemen. Bereits bei niederen Tieren kommt es zu komplexen Leistungen derartiger Instinkthandlungen, in die Automatismen, Bewegungskoordinationen und Taxien eingebaut sind. So bauen Bienen spezielle Zellen für die Brutpflege und Spinnen ein artspezifisches Netz, wobei häufig kein sozialer Kontakt zwischen den aufeinanderfolgenden Generationen besteht, so daß auch keine Möglichkeit des Lernens von Artgenossen gegeben ist. Der AM (1) ist ein neurosensorischer Mechanismus, der sowohl in den Sinnesorganen wie im ZNS lokalisiert ist. Die letztere Annahme ist deshalb notwendig, da in einigen Fällen auf akustische und visuelle Schlüsselreize gleichermaßen reagiert wird, die noch vor der Auslösung des motorischen Verhaltens in bestimmter Weise verrechnet werden. Wenn die Verknüpfung zwischen einem spezifischen Reiz und einer bestimmten Antwort erfahrungsunabhängig ist, so handelt es sich um einen Angeborenen Auslösemechanismus< (AAM). Andererseits gibt es bei zahlreichen Tierarten AM's, die zunächst nur unspezifisch auf einfache Reizkombinationen ansprechen und erst mit zunehmender individueller Erfahrung eine Selektivität gegenüber anderen Reizmustern erhalten. Schleidt (1962) hat deshalb vorgeschlagen, die in der ontogenetischen Entwicklung erworbenen neurosensorischen Mechanismen als >Erworbene Auslösemechanismen< (EAM) zu bezeichnen und ihn von dem AAM, der ein genetisch fixiertes Speicherprogramm darstellt, das erfahrungslos auf Schlüsselreize anspricht, zu unterscheiden. Dabei ist auch die Lösung möglich, daß in den AAM in der Individualentwicklung hineingelernt wird und dieser sich zu einem Ergänzenden Angeborenen Auslösemechanismus< (EAAM) differenziert. Bei Prägungsvorgängen (vgl. 2.2.2.) kann der Ubergang von einem AAM, bei dem ein Entenküken, das erfahrungslos auf einen optischen oder akustischen Reiz reagiert und ihm folgt, zu einem EAAM, bei dem das Nachfolgen nur noch durch eine über Erfahrung differenzierte Reizsituation ausgelöst wird, bis zu einem EAM, wo die im AAM wirksamen Reize nicht mehr die entsprechende Reaktion auslösen, in seinen einzelnen Entwicklungsstadien genau verfolgt und quantifiziert werden. Die harte Gegenüberstellung von Angeborenem und Erworbenem wird hier im neurosensorischen Bereich durch die Einführung vermittelnder Begriffe in vieler Hinsicht differenzierter. Methodisch ist die Uberprüfung aber häufig schwierig, da die Existenz eines AAM durch die Wirkung bestimmter Gestalteigentümlichkeiten des Reizmusters oder durch Abstraktionsleistungen (vgl. 3.), die in ihrem Ergebnis große Ähnlichkeit mit dem angebo18

renen Reagieren auf Schlüsselreize zeigen können, vorgetäuscht werden kann. Die Reizfilterwirkung des AAM ist bei der Katze, dem Kaninchen und einigen Froscharten (Rana pipiens, Rana temporaria) auch neurophysiologisch nachgewiesen worden. Dabei zeigte sich, daß die integrierende Datenverarbeitung bereits in der Retina des Receptors beginnt. In der Retina des Leopardfrosches können 5 Gruppen von Ganglienzellen unterschieden werden, die jeweils nur auf unterschiedliche Reizkonfigurationen reagieren (Maturana u. a. 1960). In der Katzenretina bilden einige Ganglienzellen größere receptive Felder, die einmal primär bei schnellen Bewegungen des Reizes reagieren oder bei richtungsabhängigen Empfindlichkeitsänderungen erregt werden. Im Gegensatz zu den sich in der Froschretina überlappenden receptorischen Feldern sind bei der Katze die on-Zentren, die auf eine Einschaltung des Lichtreizes reagieren, von den peripher gelegenen off-Neuronen getrennt (Hubel & Wiesel 1962). Die Untersuchungen über die neurosensorischen Filter des AAM bei der Katze sind deshalb von besonderer Bedeutung, da hier auch ein funktioneller Zusammenhang zwischen den receptiven Feldern auf der Retina und der neuronalen Organisation im ZNS nachgewiesen werden konnte, indem die elektrophysiologischen Aktivitäten der Neurone des Corpora geniculata und des optischen Zentrums (Cortex striatum) des Katzenhirns mit abgeleitet wurden. Dabei ergab sich eine in der Retina beginnende integrierte Impulsverarbeitung, bei der bestimmte receptive Felder spezifischen Neuronengruppen im Cortex zugeordnet sind. In der Evolution ist die erfahrungsunabhängige Wirkung des AAM z. B. im Brutparasitismus ausgenutzt worden. Verschiedene nesthockende Vögel ahmen hier die auslösende Rachenzeichnung nach, so daß ihre eigenen Jungen von anderen Vogelarten mit aufgezogen werden. Zu ihnen gehören die Witwenvögel (Viduinae) als Brutparasiten der Prachtfinken (Estrildidae) sowie unter den einheimischen Arten der Kuckuck (Cuculus conorus), der seine Jungen durch die Mönchsgrasmücke (Sylbia atricapilla) aufziehen läßt, da der junge Kuckuck den AAM der Dorngrasmücke, einen gelbumrandeten Schnabel, imitiert. Da die Grasmücke nur darauf reagiert, ob die spezifische Rachenzeichnung vorhanden ist oder nicht, ist die Nahrungsversorung des Brutparasiten gewährleistet. Unter natürlichen Bedingungen ermöglicht die Starrheit, die von den Brutparasiten in besonderer Weise ausgenützt wird, eine schnelle und sichere Orientierung sowie Kommunikation zwischen Jungvogel und Elterntier, da z. B. das Brutpflegeverhalten der Grasmücke lediglich um ein einziges Merkmal konzentriert ist.

Das auf den AM folgende Untersystem ist das Zentrum der Handlungsbereitschaft (2), dessen Erregungszustand sowohl von sensorischen Einflüssen als auch der endogenen Reizproduktion abhängt und damit einem ständigen dynamischen Wechsel unterliegt. Eine Reihe wichtiger motivationaler Bereitschaften erfüllen spezifische arterhaltende Funktionen und müssen deshalb als angeboren betrachtet werden. Der ethologische Begriff der Handlungsbereitschaft, der ebenso konstruktiv-hypothetischer Natur ist wie der Terminus des Auslösernechanis19

mus, hat den Vorteil, daß die Diskussion um ein ganzes System anthropomorph angelegter psychophysiologischer Begriffe der Motivationsanalyse wie der Begriffe des Dranges, der Triebbegriff usw. neutralisiert und auf ihre naturwissenschaftlichen Grundlagen zurückgeführt werden kann, da er, durch die Unterstellung eines Handlungsvollzuges zwar auch selbst wieder subjektiv gefärbt, theoretisch weitgehend unbelastet ist. Durch verhaltensphysiologische Experimente konnte zudem der >TriebDrängeTrieb< als aktionsspezifische Energie 20

im Zentrum der Handlungsbereitschaft aufgestaut, bis durch das Ablaufen der Endhandlung dieser Erregungsstau wieder verbraucht wird. Die Veränderung des Aufstaues kann dabei wieder spezifische Rückwirkungen auf den AAM haben, indem die Reizschwelle ansteigt oder absinkt. Bei zunehmendem Erregungs- bzw. Energieverbrauch nimmt die Fähigkeit, spezifische Handlungsbereitschaft mit einer spezifischen Bewegung zu beantworten, ab und die Reizschwelle steigt an. Experimente mit Nahrungsentzug und sexueller Deprivation an Säugetieren haben gezeigt, daß z. B. das Begattungsverhalten bei männlichen Säugetieren um so unspezifischer wird, je länger der sexuelle Entzug dauert. Versuchsserien an männlichen Lachtauben (Sterptopelia roseogrisea) wiesen nach, daß die Isolation die Reizschwelle für das Balzverhalten soweit senkt, daß nach einigen Tagen auch andere Taubenarten (z. B. die Haustaube Columbia livia domestica) wurden angebalzt und nach weiterer Deprivation schließlich auch ausgestopfte Haustauben.

Bild 2 Instinktmodell von Lorenz. R = aktionsspezifische Erregung, T = Zufluß, V und S = Sperrmechanismus, Sp = Auslösereiz, G und Tr = Anzeige und Wirkung unterschiedlich starker Auslösesituationen.

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Bild 3 Ideale Sequenz bei der Reaktionskettenbildung in der Integration des Verhaltens zweier Artgenossen des Fisches Badis badis. Die Reaktionskettenbildung entsteht dadurch, daß bereits jede Verhaltensänderung für den Partner bereits wieder eine neue Reizsituation schafft. Die durch den Ablauf einer bestimmten Verhaltensweise entstandene neue Situation liefert zugleich den Schlüsselreiz für das Auftreten der nächsten Bewegung, so daß eine simultane Synchronizität des Verhaltens zweier Artgenossen erreicht wird. Die Elemente der Reaktionsketten sind bei verschiedenen Tierarten unterschiedlich stark gekoppelt. Während der Kokonbau der Spinne Cupiennius salei z. B. durch Umweltfaktoren nur wenig beeinflußt werden kann, muß beim Zickzacktanz des Stichlings jede Verhaltensweise einzeln ausgelöst werden, da die Handlungsfolge sonst unterbrochen wird.

Die Erhöhung der Reizschwelle, die durch afferente Drosselung ausgelöst wird, ist ebenfalls an mehreren ethologischen Beispielen nachgewiesen, obwohl es schwierig ist, sie von Empfindlichkeitsverstellungen im Bereich der Sinnesorgane und Ermüdungserscheinungen der Muskel zu unterscheiden. Außer der Veränderung der Reizschwellen für den AM durch den Stau aktionsspezifischer Energie werden aber auch allgemeine motorische Aktivitäten in Gang gesetzt wie das Appetenzverhalten, das solange funktionell bleibt, bis durch das Zusammentreffen mit dem auslösenden Reiz die Endhandlung eingeleitet werden kann. Durch das Appetenz- oder Suchverhalten wird so die Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens zwischen Organismus und auslösendem Reiz erhöht. Während die Endhandlung weitgehend formkonstant abläuft und eine Erbkoordination ist, die sowohl zur Annahme des Appetenzverhaltens wie auch einer Reduktion des Erre22

gungsstaues führt, verbraucht das Suchverhalten keine aktionsspezifische Energie und unterscheidet sich von der Endhandlung durch seine variable Kombination mit anderen Verhaltensweisen und den Einbau von Lernund Einsichtsverhalten. Auch für die Begründung von Konfliktverhalten wird die Vorstellung eines Energiestaues im HB-Zentrum herangezogen, um das Entstehen von Ubersprungbewegungen zu erklären, die bei einem Triebstau dann auftreten können, wenn die notwendigen auslösenden Reize fehlen, und die Endhandlung nicht vollständig ablaufen kann, da sie z. B. zu schnell beendet wird, oder wenn es zu einem Konflikt zwischen 2 antoganistischen >Trieben< kommt, indem durch die Reizsituation der Umwelt gleichzeitig mehrere >Dränge< aktiviert werden. Die Bezeichnung >Ubersprung< geht dabei von der Vorstellung aus, daß die aktionsspezifische Energie einer oder beider konkurrierender >Triebe< in eine andere Bahn überspringt und das dann beobachtete, mitunter außerhalb des Situationszusammenhanges stehende Verhalten auslöst. Die Enthemmungshypothese nimmt dagegen an, daß die >Triebe< A und B C hemmen, mit dem Konflikt von A und B sie sich aber neutralisieren und damit die zu C gehörende Verhaltensweise ausgelöst wird. Das Auftreten von Leerlaufhandlungen, die ohne auslösende Reize bei einem sehr starken Erregungsstau entstehen, indem die Reizschwelle soweit gesenkt wird, daß auch unspezifische Reize verhaltensauslösend wirksam werden, zeigt, daß zu den Charakteristika des angeborenen Verhaltens auch seine Spontanität gehört. Hier standen sich zunächst die Reflexkettentheorie, die zahlreiche nicht durch äußere Reize ausgelöste Verhaltensweisen auf die Funktion innerer Reize von Proprioreceptoren, wie sie durch die Veränderung von Sehnen, der Kontraktion von Muskeln usw. entstehen, zurückführte und die alternative Hypothese einer endogenen, spontanen Reizerzeugung durch die Neurone des ZNS gegenüber. Die Koordination des Verhaltens ist danach in einigen Fällen allein eine Funktion des ZNS, das keiner Rückkoppelung aus den Bewegungsorganen bedarf. Obwohl dieser Fall selten >rein< auftritt, gelang es v. Holst (1935) an den Schlängelbewegungen des Aales (Anguilla anguilla) und den Flossenrhythmen anderer Fischarten die Existenz zentralnervöser Automatismen nachzuweisen. Die Muster der Nervenimpulse, die in die entsprechenden Muskelsysteme gelangen und hier die Bewegung auszulösen, brauchen danach nicht von außen angestoßen werden. Damit war die Vorstellung der Reflexkettentheorie, nach der alles tierische Verhalten als Reaktion auf äußere und innere Sinnesreize verursacht sein soll, in ihrer Grundannahme eingeschränkt, da die Desafferentierung, d. h. die experimentelle Durchtrennung der afferenten, von Receptor zum ZNS führenden Nervenfasern, noch zu koordinierten Bewegungen führt. Dieser Fall tritt auch bei einigen Tierarten unter natürlichen Bedingungen ein, wenn der Reflexbogen in der ontogenetischen Entwicklung noch 23

nicht geschlossen, trotzdem aber eine synchronisierte motorisierte Reaktion möglich ist. Das Verhalten findet hier seine kausale Erklärung durch die Annahme einer zentralnervösen Automatie, die zur Spontanität des Verhaltens führt. Die funktionellen Zustandsänderungen von Neuronengruppen im ZNS können nicht mehr aus den entsprechenden Zustandsänderungen der Umwelt kausal abgeleitet werden. Für spontane Instinktbewegungen ist der entsprechende Apparat im Zentralnervensystem lokalisiert, dessen Leistimg dann als zentrale Koordination bezeichnet wird, da die spontan auftretenden Reaktionsmuster keineswegs ungeordnet sind, sondern ihre Elemente in gesetzmäßigen Beziehungen zueinander stehen. Die physiologische Grundlage spontanen Verhaltens sind automatisch tätige Zellgruppen im ZNS.

Die verhaltensphysiologischen Experimente von Hoists haben zwei wichtige methodologische Konsequenzen: a. Einmal zeigen sie, daß bereits auf der Ebene des angeborenen Verhaltens das Verhältnis von äußeren und inneren Bedingungen wesentlich komplizierter ist als in den Vorstellungen der Bewegung als einer Reflexkette, bei der jede Muskelkontraktion den Reiz für die nächste setzt, angenommen wurde. Mit zunehmender Höherentwicklung psychischer Prozesse gewinnt die Funktion des Systeminneren zunehmende Bedeutung. Der Begriff der endogenen Aktivität beschreibt die Wirkung psychophysiologischer Mechanismen, die innerhalb des ZNS entstehen. Die kausalen Ursachen auch des angeborenen Verhaltens können also nicht mehr allein auf äußere oder körperinnere, außerhalb des ZNS liegende Faktoren reduziert werden. Allerdings spielen auch das Ionengleichgewicht oder andere physiologische Bedingungen des »inneren Milieus< in der Umgebung des Neurons eine wichtige Rolle. b. Der Nachweis einer partiellen Spontanit?. tierischen Verhaltens ist verbunden mit der Zurücknahme der mechanischen Kausalitätsauffassung in der Ethologie und Verhaltenspsychologie, die methodologisch besonders an das Reflexkonzept gebunden war. Das Verhältnis von Spontanität und äußerer Reizdetermination ist ein Spezialfall des allgemeineren Problems des Verhältnisses von Zufall und Notwendigkeit. Bereits im angeborenen Verhaltensbereich kann die psychische Reaktionsfähigkeit, trotz ihrer sonstigen Einfachheit nicht auf eine lineare Außendetermination reduziert werden. Obwohl die Spontaneität des tierischen Verhaltens ein Ergebnis objektiver Zufälligkeit ist, unterliegen ihre verschiedenen Erscheinungsformen, wie die Existenz zentraler Koordinationsbeziehungen oder die endogene Rhythmik physiologischer Prozesse zeigt, doch wieder spezifischen Gesetzmäßigkeiten. Phylogenetisch haben sich die spontanen Verhaltensformen durch Selektion als Anpassungen an die zufälligen Einflüsse der Systemumgebung auf die entsprechende biologische Art herausgebildet. Die Erscheinungsformen der Spontanität sind dann sehr verschieden: Einige Verhaltensweisen werden ohne Außenreize vollzogen, 24

wiederholt angebotene gleiche Außenreize können verschiedene Reaktionen auslösen, die Aktivitätsintensitäten ausgelöster Bewegungen können variieren usw. Die letzten hier angeführten Befunde betreffen bereits das dritte Untersystem (MKZ) einer strukturellen Systemanalyse des Verhaltens. Zwischen einer spezifischen Handlungsbereitschaft und dem motorischen Koordinationszentrum bestehen zahlreiche Beziehungen, die dann z. B. in der Aktivität des Verhaltens ethologisch meßbar sind, ähnlich wie sich der Grad der Handlungsbereitschaft anhand des Schwellenwertes für auslösende Reize ermitteln läßt. Wichtige Parameter der motorischen Aktivität sind die Dauer, Frequenz und Geschwindigkeit einer Bewegung. Außerdem wirkt sich eine veränderte Handlungsbereitschaft auf intensitätsabhängige Formvariable motorischer Reaktionen und die Latenzzeit aus. Neben einer derartigen strukturell-horizontalen Systemanalyse, bei der verschiedene Untersysteme gleichwertig nacheinander geschaltet sind und AAM, HB und MKZ trotz unterschiedlicher datenintegrierender Funktionen auf einer Organisationsebene liegen, verfügt speziell die Instinktorganisation system theoretisch gesehen auch über eine vertikale Dimension mit verschiedenen Uber- und Unterordnungen einzelner Funktionsinstanzen. Eine derartige hierarchische Organisation hatte sich bereits verhaltensphysiologisch bei der Koordination des Brust- und des Rückenflossenrhythmus bei Fischen nachweisen lassen, die verschiedenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Bei einer relativen Koordination verläuft der abhängige Rhythmus nicht genau phasengleich zu dem unabhängigen Rhythmus und springt nur bei bestimmten Phasenverschiebungen z. B. durch einen Zwischenschlag der Flosse in die ursprüngliche Phasenbeziehung zurück. Bei der absoluten Koordination zwingt dagegen der dominante Rhythmus dem abhängigen seine Frequenz vollständig auf, so daß letzterer nur dann registrierbar ist, wenn der dominante Rhythmus ausfällt. Diese gegenseitige Beeinflussung zweier verschieden starker Rhythmen bezeichnet v. Holst als Magneteffekt. Bei der Superposition überlagern sich zwei Rhythmen additiv oder der Ausschlag der Flossen verringert sich, wenn sie gegeneinander schwingen.

Tinbergen (1951) hat den Instinkt »als einen hierarchisch organisierten, nervösen Mechanismus, der auf bestimmte vorwarnende, auslösende und richtende Impulse, sowohl innere wie äußere, anspricht und sie mit wohlkooridinierten, lebens- und arterhaltenden Bewegungen beantwortet« definiert. Instinkte können von sehr unterschiedlicher Komplexität sein. Neben Instinkten höchster Ordnung gibt es solche niedriger Ordnung, die spezialisiert sind und nur wenige Erbkoordinationen umfassen. Ein Beispiel für den letzten Fall ist die Analyse der Flossenschwingung bei Fischen, während etwa das Fortpflanzungsverhalten des Dreistachligen Stichlings (Gasterosteus aculeatus) einen Instinkt höchster Ordnung darstellt, in den 25

ein ganzer Komplex von Funktionen eingeht. Baerends (1941), der den hierarchischen Aufbau des Instinktverhaltens an der Sandwespe Ammophila campestris untersuchte, unterscheidet vier Integrationsebenen. Auf Instinkte höherer Ordnung und Instinkte niedriger Ordnung folgen Erbkoordinationen und schließlich die einzelnen Muskelbewegungen. Zentren auf derselben Organisationsebene können sich hemmen, indem z. B. ein stark erregtes Zentrum über andere dominiert. Die einzelnen untergeordneten Zentren können von mehreren übergeordneten kontrolliert werden, was sich darin zeigt, daß motorische Elemente wie z. B. Beißen in mehreren funktionellen Zusammenhängen auftreten können. Die Systemanalyse des angeborenen Verhaltens beschränkt sich aber nicht auf die verschiedenen >horizontalen< und >vertikalen< Strukturen des

Bild 4 (a) Hierarchisches Instinktmodell von Tinbergen, das am Fortpflanzungsverhalten des Dreistachligen Stichlingmännchens entwickelt wurde. Innerhalb eines Hauptinstinktes unterscheidet Tinbergen zwischen Instinktzentren I. Ordnung, das als Wanderzentrum bezeichnet wird und Zentren 2., 3. und 4. Ordnung, das dann zu verschiedenen Endhandlungen wie Verfolgen, Beißen usw. führt. Durch einen bestimmten Stimmungsgrad, der über physiologische Faktoren eingeleitet wird, löst das Instinktzentrum I. Ordnung ein Appetenzverhalten aus, das zum Aufsuchen eines Reviers führt und von einen Instinktzentrum 2. Ordnung reguliert wird, durch das dann verschiedene Instinktzentren 3. Ordnung die Brutpflege, Balz usw. möglich sind, (b)zeigt einen Ausschnitt aus diesem hierarchischen Strukturgefüge mit den AAM auf der jeweiligen Organisationsebene. Nach Tinbergen 1972). 26

Instinktverhaltens, sondern dieses stellt nur das am besten bekannte Element innerhalb eines komplexen Systems der verschiedenen angeborenen Verhaltensmechanismen dar. Zu ihnen gehören z. B. endogene Automatismen, komplexe physiologische Rhythmen wie die innere Uhr, unbedingte Reflexe und Taxien. Eine vollständige Systemanalyse des angeborenen Verhaltens bezieht sich deshalb auf die Erstellung eines logischen Ordnungssystems des angeborenen Verhaltens, indem 1.) die verschiedenen unbedingten Reflexe, Erbkoordinationen usw. untereinander systematisiert werden und 2.) der Zusammenhang zwischen der verschiedenen angeborenen Verhaltensformen hergestellt wird. Ebenso wie der Organismus über mehrere Sinnesbereiche verfügt, besteht auch im instinktiven Bereich ein ganzes Spektrum von Verhaltensmöglichkeiten, das bei den einzelnen Tierarten unterschiedlich ausgebaut ist. Zu den wichtigsten Instinktsystemen unter den Gebrauchshandlungen gehören z. B. Schutzverhalten, stoffwechselbedingte Instinkthandlungen, Territorialverhalten, Fortpflanzungsverhalten, Komfortverhalten und Erkundungsverhalten. Innerhalb der sozialen Organisation des tierischen Verhaltens, das von der Tiersoziologie untersucht wird, sind vor allem aggressives Verhalten, aggressonshemmende Mechanismen, die Werbe- und Balzzeremonien und die Brutfürsorge und Brutpflege wichtig. Jedes dieser Verhaltenssysteme zerfällt in einzelne Komponenten, das stoffwechselbedingte Verhalten z. B. in Nahrungserwerb mit Nahrungsaufnahme und Trinkverhalten, ferner Atmungsverhalten, Schlafverhalten, Defäkieren und Miktion. Die Instinkthandlungen, die in umfassenderen Funktionskreisen des tierischen Verhaltens ablaufen, basieren wieder auf einem komplizierten System unbedingter Reflexe. Im Bereich der Nahrungsaufnahme gehören bei den Säugetieren der Speichelsekretionsreflex, der Schluckreflex, der Saugreflex und der Hustenreflex dazu. Auch der Ablauf dieser polysynaptischen Reflexe ist - wie beim Schluckreflex, dessen Auslösung über ein funktionelles Zentrum in der Medulla oblongata erfolgt - teilweise recht kompliziert. Der Schluckakt ist auch beim Menschen nicht willkürlich durchführbar, sondern an die Existenz zu schluckenden Speichels gebunden. Der funktionelle und phylogenetische Zusammenhang etwa zwischen unbedingten Reflexen und Erbkoordinationen, aber auch der anderen angeborenen Verhaltensformen ist noch ungeklärt. Mitunter wird versucht, Reflexe und Instinkthandlungen durch die fehlende Spontanität unbedingter Reflexe zu unterscheiden, was sich jedoch nicht aufrechterhalten läßt, da bei unbedingten Reflexen ebenfalls Spontanität nachgewiesen wurde, wenn sie auch nicht in dem Maße typisch ist wie für instinktives Verhalten. Physiologisch kann das unterschiedliche Auftreten der Spontanität in beiden Verhaltensformen dadurch erklärt werden, daß bei unbedingten Refle27

xen die Erregbarkeitsschwelle auf einen konstanten Reizschwellenwert eingestellt ist, während bei Instinkthandlungen die innere Handlungsbereitschaft modifizierbar ist und die Möglichkeit besteht, daß die motivationale Auslöseenergie den Schwellenwert ohne Reiz spontan überschreitet. Gegenwärtige Unterscheidungskriterien zwischen unbedingten Reflexen, die im weiteren Sinn ebenfalls als erbkoordiniert zu betrachten sind, und Instinktbewegungen, beschränken sich auf verschiedene quantitative Beziehungen wie ein tieferes Integrationsniveau der unbedingten Reflexe, Ablauf in festen Reflexbahnen und die Integration weniger Nervenelemente als bei der instinktiven Erdkoordination. Auch der Taxisbegriff als Kennzeichnung einer weiteren wichtigen Gruppe von angeborenen Verhaltensmechanismen wird in der Ethologie nicht immer einheitlich verwandt. Im allgemeinsten wird unter einer Taxisbewegung eine räumliche Orientierung eines Tieres zur Reizquelle verstanden. Im engeren Sinn beschreibt der Taxisbegriff auch die Winkeleinstellung der Körperachse im Verhältnis zur Reizquelle, gelegentlich wird auch die Bewegung des Tieres auf den Reizort zu in die Taxisreaktion mit eingeschlossen. Kühn sowie Fraenkel und Gunn haben ein Klassifikationssystem für die verschiedenen Orientierungsbewegungen entworfen, in dem zwischen Kinesen (durch spezifische Reize ausgelösten ungerichteten Bewegungen) und Taxien (räumlich orientierten reizabhängigen Bewegungsänderungen) unterschieden wird. Zu den Kinesen gehören z. B. ungerichtete Bewegungen, deren Tempo und Frequenz reizabhängig ist (Orthokinese), und Richtungsänderungen, deren Häufigkeit und Intensität von der Reizintensität abhängig sind (Klinokinesen bzw. Phobotaxis). Einige wichtige Taxien sind: Symmetrieinsteilungen (Tropotaxis), Zieleinstellungen (Telotaxis), periodische Richtungsänderungen (Klinotaxis), Kompaßorientierung (Einhaltung eines bestimmten Winkels zur Reizquelle), Lichtrückenreaktion, Schwerefeldreaktion und astronomische Orientierung (Astrotaxis).

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2. Zur Phylogenese des tierischen Lernverhaltens

2.1. Ethologische, lernpsychologische Taxonomien von Lernprozessen

und

biokybernetische

Lernen kann, z. B. im Gegensatz zu der phylogenetischen Anpassung des angeborenen Verhaltens, als individuelle Anpassung hochorganisierter dynamischer Systeme definiert werden. Tierisches Lernen enthält außerdem zwei spezifische Variable: der physiologische Variabilität zwischen mehreren Individuen einer biologischen Art bzw. Population und die ökologische Differenz der für diese einzelnen Artmitglieder partiell unterschiedlichen Umgebung, die sich aus ihrer raum-zeitlichen Verbreitung ergibt. Ein Lernprozeß liegt häufig dann vor, wenn sich die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten bestimmter Verhaltensweisen als Folge des Durchlaufens einer ähnlichen Situation ändert, während z. B. ein instinktives Reaktionsmuster gerade dadurch definiert ist, daß der Verhaltensablauf auch bei mehreren Individuen einer Art unter variierenden Umweltbedingungen formkonstant bleibt (vgl. 1.). Während die Ausbildung und Korrektur angeborener Verhaltensmuster die Aufeinanderfolge mehrerer Generationen umfaßt und mit dem Evolutionsprozeß der Artbildung unmittelbar verbunden ist, sind Lernvorgänge entwicklungsgeschichtlich begrenzte psychische Anpassungsreaktionen. Obwohl die durchschnittliche tierische Lerndauer auf das ontogenetische Entwicklungsstadium beschränkt ist, gibt es jedoch auch >besondere< Lernformen, die sich nochmals auf begrenzte Entwicklungsphasen in der Ontogenese selbst spezialisiert haben (z. B. Prägungslernen) oder sich, wie bei der tierischen Traditionsbildung, aus der additiven Kumulation der sozialen Erfahrung mehrerer Generationsfolgen ergeben. Wenn tierisches Lernen als Spezialfall der ontogenetischen Anpassungsmechanismen des Organismus verstanden wird, ergibt sich als erstes die Schwierigkeit einer Unterscheidung zwischen physiologischen und psychischen Adaptionsprozessen. Sowohl bei der neurophysiologischen und sensorischen Adaptation als auch bei der cognitiven Adaptation als tierisches Lernen handelt es sich jeweils um eine Verbesserung des Systemverhaltens durch eine Optimierung des Gleichgewichts zwischen inneren Systemzuständen und der Umgebung. Lernen muß so von ähnlich verlaufenden physiologischen Prozessen wie Sensibilisierung, Schwellenerniedrigung durch unspezifische Reize, Ermüdung, Wachstumsprozesse bei jüngeren, nachlassende Reaktion bei älteren Tieren, einer zunehmenden Erschöpfung des Antriebes bei Instinkthandlungen usw. mit hinreichender Genauigkeit un29

terschieden werden können. In der Lernpsychologie hat sich deshalb die Version durchgesetzt, Lernen negativ gegenüber physiologischen Prozessen abzugrenzen. Hilgard (1956) unterscheidet z. B. Lernen von Verhaltensänderungen durch Drogeneinfluß, angeborenem Verhalten mit response-Wirkung sowie Ermüdungs- und Reifungsprozessen. Unter allgemeineren Gesichtspunkten ist ein derartiges methodisches Vorgehen, das in der Lernpsychologie vor allem durch das Fehlen einer verbindlichen Lerndefinition Verbreitung gefunden hat, problematisch, da es nur den Moment der Trennung von Physischem und Psychischem in der wissenschaftlichen Abstraktion reflektiert. Empirisch ist Lernen aber ein psycho-physiologischer Begriff durch den verschiedene physiologische Prozesse mit stark ausgerägten psychischen Komponenten zu einer Klasse zusammengefaßt werden. Lernvorgänge realisieren sich immer auf der Grundlage physiologischer Veränderungen im Organismus, wenn diese auch gegenüber dem dominierenden psychischen Verhalten weitgehend zurücktreten. Die Konstruktion einer Gegenüberstellung von rein psychischen Prozessen wie Lernen und physiologischen Vorgängen auf der anderen Seite ist eine idealisierende Abstraktion, die dem realen naturgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Physischem und Psychischem nur unzureichend Rechnung trägt. Es ist deshalb sinnvoller, zwischen etwa stoffwechselphysiologischen Funktionen mit einer >geringeren< psychischen Problematik (die aber z. B. in der Humanpsychologie unter spezialisierten Gesichtspunkten wie in der Psychosomatik oder dem autogenen Training von zentraler Bedeutung ist) und physiologischen Prozessen mit einem >starken< psychischen Aspekt wie Wahrnehmung, Lernen, Denken usw. zu unterscheiden. Zwischen beiden Typen besteht ein kontinuierlicher Ubergang. Für den Ablauf eines Lernprozesses sind einige allgemeine funktionelle Voraussetzungen von Bedeutung: a. Lernen ist nicht, wie seine Existenz bei verschiedenen Tierarten nachweist, an die Entstehung des Bewußtseins gebunden, sondern basiert auf elementareren psychischen Prozessen der Informationsaufnahme, -Verarbeitung und -abgabe. Der Unterschied zwischen tierischem und menschlichem Lernen entzieht sich einer ethologischen Bestimmung, da das menschliche Lernverhalten zwar immer in der Form seiner naturhistorischen Vorgeschichte als bedingter Reflex, instrumenteile Konditionierung usw. abläuft, sein Inhalt aber immer durch die konkreten gesellschaftlichhistorischen Bedingungen determiniert ist. b. Die Fähigkeit des Organismus, Informationen in Engrammen zu speichern und wieder abzurufen, ist eine Voraussetzung für Lernverhalten, was in einer gegenüber dem Stoffwechsel selbständigen Form erst mit der Herausbildung des Nervensystems möglich ist. Die für psychische Prozesse wichtigsten Speichersysteme des biologischen Systems sind das Rücken30

mark und das Gehirn. Phylogenetisch und funktionell vor diesen Speicherkapazitäten liegt die Entstehung eines biologischen Artgedächtnisses als Gensatz auf der Basis der DNA-Moleküle. Auf seiner Grundlage entstehen dann das Kurz- und Langzeitgedächtnis bei Tieren und dem Menschen. Das Bewußtsein kann unter diesen Gesichtspunkten noch einmal als ein Spezialfall des Kurzzeitgedächtnisses, das über eine bestimmte zeitliche Repräsentanz als >Gegenwart< verfügt, verstanden werden. c. Der tierische Organismus muß, wenn er die einlaufenden informellen inputs im Lernprozeß auswerten will, über ein Unterscheidungsvermögen zwischen positiver und negativer Erfahrung verfügen. Die phylogenetische Herausbildung einer derartigen Entscheidungs- und Bewertungsinstanz steht im engen Zusammenhang mit dem Aufbau eines »inneren Modells< der Außenwelt im Organismus. Da das biologische System nur über endlich viele unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten auf praktisch unendlich viele und verschiedene Reize verfügt, ist es gezwungen, die eintreffenden Informationen in zentralen Parametern zusammenzufassen und eine Bewertung in Abhängigkeit von dem eigenen inneren Systemzustand vorzunehmen. Gagne (1969) bezeichnet die Fähigkeit, die zu einer Interferenz tendierenden verschiedenen Reiz-Reaktion-Beziehungen auseinanderzudividieren, als »multiple Diskrimination^ die aber selbst nur einen Spezialfall der umfassenderen Generalisierungs- und Diskriminationsfähigkeit ist, die hier als Abstraktion (vgl. 3.) zusammengefaßt wird. Abstraktion ist damit ebenfalls keine nur dem Menschen zukommende Fähigkeit der logischen Klassenbildung, sondern eine allgemein mit der phylogenetischen Entwicklung des Lernverhaltens verbundene Notwendigkeit der Informationsverarbeitung. Ethologisch wird die Abstraktionsfähigkeit der einzelnen Tierarten durch An- und Abdressuren überprüft (vgl. 3.). d. Bei dem Vergleich der Lernfähigkeit verschiedener Arten ist zu berücksichtigen, daß jeweils unterschiedliche angeborene Lerndispositionen bestehen können. Ein als Kaspar-Hauser-Tier aufgezogener Buchfink kann den arttypischen Gesang nicht entwickeln, ist aber in der Lage, ihn perfekt zu lernen wenn er den Gesang hört, unabhängig davon, wie viele Vogelstimmen noch angeboten werden. Auch bei Hühnerrassen sind Generalisationsvermögen, Lerngeschwindigkeit und Lernkapazität deutlich verschieden (Schulze-Scholz 1963). Bei Hunderassen konnten Differenzen zwischen Unterscheidungs- und manipulatorischen Dressuren festgestellt werden (Anastasi 1955). Ausführliche Untersuchungen über den Selektionseinfluß angeborener Lerndispositionen liegen bei Nagetieren (Maus, Ratte) vor, die über Präferenzen in der Orientierung in Labyrinthen verfügen, wobei hier auch gleichalte und gleichgeschlechtige Individuen einer Art über unterschiedliche genetische Anlagen verfügen. Try on (1942) testete das Gedächtnis von Ratten für ein erlerntes Labyrinth und paarte dann 31

die Tiere mit der besten und mit der schlechtesten Leistung. Jede Gruppe wurde dann für sich weiter gezüchtet. Bereits in der F2-Generation wiesen die durchschnittlichen Leistungen beider Gruppen Differenzen auf. Durch die andauernde künstliche Selektion war in der 8. Generation der Leistungsunterschied so groß, daß sich die Variationsbreiten beider Gruppen nicht mehr überlagerten. Die genetisch unterschiedene Fähigkeit für das Labyrinthlernen bei Ratten wurde durch spätere Experimente bestätigt (Thompson 1954). Sowohl angeborenes wie erlerntes Verhalten ändert sich phylogenetisch immer nur über mutagene Veränderungen im Erbmaterial, die durch den Selektionsprozeß dann ausgelesen werden. Auch genetische Lerndispositionen müssen sich deshalb langfristig als positive Selektionsmerkmale für die Arterhaltung erweisen, wenn sie erhalten bleiben sollen. Es ist also nicht so, daß eine durchgehende Verhaltensmodifikation von angeborenem und erlerntem Vehalten besteht, die bei niederen Tieren gering ist, sich mit der Höherentwicklung aber immer mehr vergrößert, sondern die entscheidenden Faktoren für eine Verhaltensänderung sind die Mutationsrate, die Generationsdauer, Zahl der Nachkommen usw. Sowohl für die Evolution instinktiver Reaktionen wie auch des Lernverhaltens gibt es nur einen Änderungsmechanismus: die sprunghafte Änderung des Erbmaterials durch Mutationen, die sich in der Auslese durch die Umwelt dann als arterhaltend oder negativ erweist. Eine andere Frage ist, wie groß die Penetranz der jeweiligen genetischen Merkmalsanlage dann ist und inwieweit seine Ausbildung durch wechselnde Umweltänderungen modifiziert werden kann. Während instinktive Mechanismen wie Schlüssel funktionieren, die nur in ein bestimmtes Schloß passen, wenn dieses aber nicht existiert, sinnlos werden, kann das Lernverhalten eher mit der Funktion eines Dietrichs verglichen werden, der gegenüber verschiedenen Schlössern funktioniert und sich ihnen unter Beibehaltung einiger allgemeiner Strukturmerkmale anpaßt. Der allgemeine Selektionswert des Lernverhaltens, der aber ebenfalls artspezifisch über mutagene Änderungen des Erbmaterials ausgelesen wird, besteht gegenüber den instinktiven Verhaltensweisen darin, daß eine Anpassung auch gegenüber modifizierten Umwelten möglich ist. Sowohl die kaum noch überblickbaren experimentellen Untersuchungen über tierisches Lernverhalten wie auch die Vielzahl der ethologischen und psychologischen Lernsysteme macht es unmöglich, genauer auf die Struktur der einzelnen Lernformen einzugehen. Die hier zu diskutierende Problematik liegt deshalb bereits auf einer methodologischen Ebene, der Klassifikation des Lernverhaltens. Aber auch hier ist eine vollständige Ubersicht ohne einschränkende Gesichtspunkte nicht mehr zu erbringen, da eine vollständige Geschichte der Klassifikation psychologischer Lerntheorien 32

den hier gesteckten Rahmen weit überschreitet. Aus diesen Gründen handelt es sich bei den folgenden Überlegungen überwiegend um eine noch abstraktere Ebene, die Klassifikation von Lernklassifikationen. Daß sich eine allgemein anerkannte Lerndefinition bisher noch nicht durchgesetzt hat, liegt unter anderem in der Spezialisierung von Wissenschaftsdisziplinen begründet, die sich mit Lernprozessen beschäftigen und diese unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten beurteilen. Neben der Verhaltensphysiologie und Ethologie als zoologischen Disziplinen, besitzen die Entwicklungs- und Lernpsychologie, die Tierpsychologie, Psychopathologie, Medizin und verschiedene Gesellschaftswissenschaften jeweils spezifische Lernbegriffe. Es ist klar, daß die Problematik des sozialen Lernens von Einstellungen, Gruppenzugehörigkeit usw. in den zoologischen Lernklassifikationen eine geringere empirische und theoretische Bedeutung besitzt als etwa das Erlernen bestimmter Muskelbewegungen. Umgekehrt gilt die gleiche Relation für sozialwissenschaftliche Lernsysteme. Allgemein sind die zoologischen Lernklassifikationen dadurch ausgezeichnet, daß in ihnen eine naturgeschichtlich orientierte Systematik des Lernverhaltens tendentiell angestrebt wird. Die Anordnung in dem taxonomischen System folgt der realen historischen Entwicklung, d. h. die basalen Lernkategorien sind auch die phylogenetisch elementarsten. Eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Lernsystematiken entsteht hier dadurch, daß jeweils unterschiedliche Kriterien der historischen Entwicklung wie z. B. Abhängigkeitsgrad vom Instinktverhalten, Grad der genetischen Variabilität von Lerndispositionen, Kompliziertheitsgrad der psychischen Verarbeitung usw. verwendet werden. Die biokybernetischen Lernklassifikationen sind dagegen an der Klasse möglicher Verhaltensweisen komplizierter selbstorganisierender Systeme orientiert. Die Systemordnungist hier nicht primär historisch, sonder logisch ausgerichtet. Während die zoologischen Lernklassifikationen eine beschreibende Systematik sämtlicher in der Psychophylogenese aufgetretener Lernformen auf empirischer Grundlage anstreben, also letztlich ein geschlossenes System bilden, das nicht beliebig verändert werden kann, sind die kybernetischen Taxonomien >offenMischform< dar, in die sowohl beschreibende historische Elemente als auch biokybernetisch und mathematisch ausgerichtete Strukturelemente mit eingehen. Psychologische Lernsystematiken nehmen deshalb eine empirische Sonderstellung ein, da 33

menschliches Lernen einmal sämtliche tierische Lernformen als eigene historische Vorformen mit einschließt, sich aber nicht in ihrer Summation erschöpft, zum anderen muß auch die komplizierteste Maschine zunächst vom Menschen durchdacht werden, so daß die verschiedenen Formen der lernenden Automaten nur einen Grenzfall menschlicher Denk- und Lernmöglichkeiten darstellen. Der Mensch ist, gleichgültig ob man ihn unter phylogenetischen Gesichtspunkten oder in seiner Stellung gegenüber Automaten beurteilt, in jedem Fall das System mit den meisten Lernstrategien. Zunächst sollen einige ethologische Lernklassifikationen betrachtet werden. Lorenz (1961) vertritt eine Einteilung individueller adaptativer Modifikationen von 6 verschiedenen Prozeß typen: a. Reizspezifische Reduktion der Reaktion (Habituation) b. Zunahme der Selektivität phylogenetisch angepaßter reizspezifischer Reaktionen (z. B. Prägung) c. Eichung von Zielmechanismen bei Orientierungsbewegungen, Einstellung von Verrechnungswerten und endogenen Rhythmen d. Lernen der Anwendung von Instinktbewegungen e. Lernen von Wegen f. Motorisches Lernen Die Nachteile dieses Klassifikationssystems, das sich nicht durchgesetzt hat, sind, daß verschiedene Kriterien zugrunde gelegt werden und es dadurch zu einer Uberschneidung zwischen den einzelnen Lernkategorien kommt. So kann das Lernen eines motorischen Reaktionsmusters als motorische Prägung, als Imitation eines artfremden Vorbildes z. B. als kinästhetisches Lernen von Bewegungsweisen oder über den Mechanismus der instrumentellen Konditionierung erfolgen als handelndes Erwerben bedingter Reaktionen. Ümstritten bleibt auch die Erfassung der Beeinflussung endogener Aktivitätszyklen durch exogene Faktoren als Lernprozeß. Ebenfalls unter der Berücksichtigung zoologischer Klassifikationskriterien hat sich Thorpe, aber auch andere amerikanische vergleichende Psychologen, um eine Systematisierung des tierischen Lernverhaltens bemüht (Thorpe 1954,1956,1963). Dabei werden 5 Lernformen unterschieden assoziatives Lernen

a. Habituation b. klassische Konditionierung c. trial and error d. latent learning e. insight learning

Das Lernsystem von Thorpe enthält mehrere interessante Gesichtspunkte. Ebenso wie in der Lorenzschen Klassifikation wird nicht die Ausbildung 34

bedingter Reflexe, sondern die Habituation als die elementarste Lernform aufgefaßt und damit zwischen Gewöhnungsprozessen und assoziativen Lernen unterschieden. Die Habituation ist definiert als »relativ anhaltendes Abklingen einer Reaktion als Ergebnis der repetitiven Stimulation, die von keiner Belohnung irgendeiner Art gefolgt ist«, was zu einer Aufgabe der durch die zahlreichen Untersuchungen des bedingten Reflexes getragenen Vorstellungen des tierischen Lernprozesses als Assoziationsbildung überhaupt zwingt. Damit sind zwei Abgrenzungsprobleme entstanden: einmal die Unterscheidung zwischen Habituation und bedingtem Reflex als verschiedene Lernmechanismen, zum anderen aber die strukturelle Abgrenzung der Habituation als Lernprozeß von der physiologischen Anpassung als Einschwingen auf neue Reizzustände. Ein anderes Problem der Thorpeschen Klassifikation besteht darin, daß durch sie zwar einerseits in der Anordnung der einzelnen Lernkategorien der phylogenetische Entwicklungsprozeß mehr oder weniger vollständig abgebildet wird, andererseits aber wieder die feineren Seiten dieser Differenzierung verdeckt werden. Die Kategorie »klassische Konditionierung* stellt so z. B. eine Idealisierung sehr verschiedenartiger konkreter Reiz-Reaktion-Beziehungen dar. Die Vereinfachung beginnt hier mit dem Reizbegriff, der insofern eine Abstraktion darstellt, da das Tier sich nicht an einzelnen Reizen, sondern an Gesamtsituationen orientiert, gegen die die einzelnen Reize differenziert werden. Um die umfassendere phylogenetische Entwicklung zwischen den einzelnen Lernkategorien zu erfassen, muß die Bedeutung des bedingten Reflexes als eigenständiges Entwicklungsprinzip, das im Rahmen der Gesamtklassifikation nur sekundär ist, vernachlässigt werden und der Begriff praktisch als Konstante eingeführt werden.

Latentes Lernen wird von Thorpe als »die Assoziation indifferenter Stimuli oder Situationen ohne eine offenkundige Belohnung« definiert. Besonders das Kennen und Orientieren in einem spezifischen Territorium soll nach Thorpe auf dieser Lernform beruhen. Mit der Kategorie des latenten Lernens, dessen Eigenständigkeit von anderen Lerntheoretikern bestritten wird, da es unter Umständen als Spezialfall in das trial-and-errorVerhalten aufgelöst werden kann (Hinde 1973), ist der Versuch gemacht worden, das Erkundungs- bzw. Neugierverhalten in die Lernklassifikation mit ein zubeziehen. Hassenstein (1969) verwendet ebenfalls unter primär ethologischen Gesichtspunkten folgendes Kategoriensystem zur Systematisierung tierischer Lernprozesse: a. Prägung; Lernen im instinktiven Rahmen (obligatorisches Lernen) b. Bedingte Reaktionen c. Motorisches Lernen d. Bedingte Aktion (instrumenteile Konditionierung) 35

e. Soziale Anregung und Nachahmung f. Zielbedingtes neukombiniertes Verhalten (Lernen durch Einsicht) Neu gegenüber der Klassifikation von Thorpe sind die eigenständige Stellung des Prägungsprozesses, die dort noch unter dem Gesichtspunkt des Lernens durch Einsicht betrachtet wurde und die Hervorhebung der Nachahmungsprozesse. Damit wird der zunehmenden empirischen Bedeutung des sozialen Lernens als Traditionsbildung und des kinästhetischen Lernens, die beide als Sonderfälle des Lernens durch Nachahmung aufgefaßt werden können, Rechnung getragen, wobei natürlich auch hier die Frage bleibt, inwieweit sie als relativ selbständige Erscheinungsformen der instrumentellen Konditionierung verstanden werden müssen. Da Lernvorgänge allgemein an die Aufnahme, Verarbeitung und Übertragung von Information gebunden sind, können nicht nur Tiere und Menschen, sondern auch komplizierte technische Systeme lernen. So sind z. B. lernende Automaten in der Lage, das Verhalten des Gesamtsystems und seine Anpassung an die Systemumgebung durch Lernen zu verbessern. Die kybernetischen Lernklassifikationen sind deshalb überwiegend an der Theorie der lernenden Automaten ausgerichtet. Derartige elektronische datenverarbeitende Maschinen sind in der Lage, sowohl Informationen zu speichern als auch auf der Basis der durch die Programmierung vorgegebenen Arbeits-, Erfolgs- und Bewertungskriterien Entscheidungen zu fällen. Lernende Automaten sind aufgrund der eingegebenen Daten zur Selbstorganisation fähig, indem je nach Umweltbedingungen selbständig Zustandsgrößen des Systems verändert werden. Bei der Lernmatrix werden z. B. die am häufigsten auftretenden Codegruppen technisch durch eine bestimmte Schaltung imitiert, bei der sich kreuzende Leitungsdrähte analog zu den bedingten Reflexen bei biologischen Systemen bedingte Verknüpfungen bilden (Steinbuch 1959). Ähnlich wie in den zoologisch ausgerichteten Lernsystemen konkurrieren auch in der Biokybernetik und Bionik zwei unterschiedlich weit definierte Lernbegriffe. In einem weiteren Sinn wird dabei häufig/We Verbesserung des System Verhaltens gegenüber Störungen als Lernen verstanden, während in einer engeren Fassung Lernen eine aktive Verbesserung des Verhaltens durch eigene, interne Verschaltungsänderungen ist, die über die unmittelbar im Programm gespeicherten Daten hinausgehen. Die biokybernetischen Lernklassifikationen lassen sich nur bedingt auf die Entwicklungsverhältnisse innerhalb der Psychogenese übertragen, da sie überwiegend an den technischen Realisationsmöglichkeiten informationsverarbeitender Maschinen orientiert sind. Dazu kommt, daß nicht nur die Funktionsprinzipien lernender Automaten und die informationsverarbeitenden Prozesse im ZNS in ihrer Verschaltungsstruktur analog sind, sondern daß bei technischen Systemen auch die für biologische Systeme 36

wichtige motivationale Komponente des Lernprozesses nicht mit berücksichtigt ist. Die biokybernetischen Lernklassifikationen folgen nicht der realen Struktur der Evolution des Lernverhaltens in der tierischen Phylogenese, wie dies durch die Mehrzahl der zoologischen Lerntaxonomien potentiell angestrebt wird, sondern den Verhaltensmöglichkeiten dynamischer Systeme überhaupt, unabhängig davon, ob sie historisch jemals vorher existierten. Eine verbreitete kybernetische Lernklassifikation, die die verschiedenen Formen der lernenden Automaten mit berücksichtigt, hat Zemanek & Steinbuch (1962) aufgestellt: Lernform (0) Vorstufe, Klassifizierung oder feste Zuordnung (1) Lernen durch Speichern (2) Lernen durch bedingte Zuordnung (3) Lernen durch Erfolg (4) Lernen durch Optimierung (5) Lernen durch Nachahmung (6) Lernen durch Belehrung (7) Lernen durch Erfassen

Automatentyp programmgesteuerter Automat Automat mit bedingten Befehlen probierender Automat probierender Automat mit Erfahrungsspeicher Automat mit erlerntem Modell der Außenwelt belehrter Automat Lernmatrix

Als elementarste Lernform wird nach dieser Systematik das Lernen durch Speichern aufgefaßt, während das Klassifizieren nur eine Vorstufe zu den eigentlichen Lernprozessen bildet. Das trial-and-error-Verhalten von Automaten tritt immer dann auf, wenn es sich um Orientierungsvorgänge in unbekannten Umgebungsbereichen handelt, deren Bedingungen durch systematisches Probieren erlernt werden. Bei dem Lernen durch Optimierung wird eine bestimmte Versuchsserie nach dem Grad ihres Erfolges bewertet, indem etwa der Zeit- oder Energieaufwand verglichen wird. Bei den höheren Lernformen verfügen die kybernetischen Systeme dann bereits über ein internes Modell der Außenwelt, an dem Operationen vor der praktischen Ausführung durchprobiert werden. Auch für die komplizierteren Lernformen (5), (6) und (7) lassen sich technische Modelle konstruieren. 2.1.1. Metatheoretische Klassifikationsprinzipien. Das theoretische Ziel einer zoologisch orientierten Lernklassifikation ist die Erstellung einer naturhistorischen Systematik von verschiedenen tierischen Lernformen, deren theoretische Stellung untereinander empirisch 37

nachgewiesen werden kann. Wie die angeführten ethologischen, tierpsychologischen u. a. andere Klassifikationsvorschläge gezeigt haben, existiert eine derartige allgemeine Taxonomie noch nicht, sondern nur einige Vorschläge, in denen die einzelnen Lernkategorien teilweise recht unterschiedliche Stellungen einnehmen. Am umstrittensten sind dabei die Anfangsglieder, da teilweise Lernen im instinktiven Rahmen (Prägung), ein unterschiedlich weit gefaßter Gewöhnungsbegriff oder die Entstehung bedingter Reflexe als elementarster Lernprozeß bewertet wird. Trotzdem ist der Kreis phylogenetisch bereits frühzeitig aufgetretener Lernformen beschränkt. Weitgehende Einigkeit besteht darin, daß das primär neukombinierte Verhalten bzw. Lernen durch Einsicht die phylogenetisch am höchsten organisierte tierische Lernform ist und damit den Abschluß der Lerntaxonomie bilden sollte. Es kann hier nicht der Sinn sein, die bisherigen Modellvorstellungen um eine weitere Variante zu bereichern, da dieses Problem letztlich nur in jahrzehntelanger weiterer empirischer Forschung einer Lösung zugeführt werden kann, vielmehr sollen einige Überlegungen über die zweckmäßigsten Prinzipien einer naturhistorischen Lernklassifikation angeführt werden. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die bisherigen Taxonomien sich überwiegend auf der phänomenologischen Ebene bewegen: Lernen wird als Verhalten beschrieben, ohne daß die zugrunde liegenden biochemischen und neurophysiologischen Prozesse mit hinreichender Genauigkeit zugeordnet werden können, obwohl bereits mehrere Versuche vorliegen, diesen Hiatus zwischen der physiologischen und psychischen Ebene zu überwinden (Spencer 1903, Anochin 1967). Ob aber die physiologischen Prozesse Kriterien für eine Vereinheitlichung von Lernprozessen erbringen, erscheint insofern zweifelhaft, da dem äußeren Verhalten durchaus eine qualitative Eigenständigkeit in seiner Verlaufsform zugestanden werden muß, die sich nicht allein auf innere physiologische Prozesse reduzieren läßt. Lernen besitzt eine spezifische Eigengesetzlichkeit, die sich nicht auf die Entstehung von fortgeleiteten Aktionspotentialen, von EPSP und IPSP und Änderungen im EEG beschränkt. Trotzdem sind die Theorien der Nervennetzmodelle, Mechanismen der Gedächtnisbildung oder die Kenntnis der synaptischen Ubertragungsprozesse und anderer Strukturen der inneren Informationsverarbeitung unentbehrlich, um den spezifisch cognitiven Charakter des Lernvorganges kausal zu erklären und den black-box-Status der S-R-Theorien zu überwinden. Ein erstes wesentliches Kriterium, über das sich der naturgeschichtliche Zusammenhang zwischen den einzelnen Lernkategorien realisieren sollte, stellt das natürliche System der Organismen dar, in dem die einzelnen Tierarten so angeordnet sind, wie es ihrem phylogenetischen Verwandtschaftsgrad entspricht. 38

Die Uberfamilie der Hominoidea (Menschenähnliche) z. B. schließt folgende Untergruppen ein: recente und fossile Gibbons, recente und fossile Menschenaffen sowie dierecenten und fossilen Menschenarten. Alle diese Gruppen werden zu einer systematischen Einheit zusammengefaßt, da sie sich seit ca. 25 Millionen Jahren aus gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben. Die verschiedenen Ordnungseinheiten bilden damit systematische Kategorien, die Tiere gleicher phylogenetischer Herkunft und mit ähnlichen Bauplänen umfassen. Die wichtigste biologische Einheit ist die Art, wobei dann noch besondere Untereinheiten wie Unterart (Rasse), Varietät und Individuum unterschieden werden. Eine biologische Art besteht aus Individuen, die über die gleiche Entwicklungsgeschichte und einen gemeinsamen Bauplan verfügen, im Verhalten weitgehend übereinstimmen, untereinander fortpflanzungsfähig sind und deren Nachkommen fruchtbar sind. Die wichtigsten systematischen Kategorien des natürlichen Systems der Organismen sind Reich, Unterreich, Abteilung, Unterabteilung, Reihe, Stammgruppe, Unterstamm, Klasse, Unterklasse, Uberordnung, Ordnung, Unterordnung, Familie, Unterfamilie, Gattung und Art. Die auf Linne zurückgehende binäre Nomenklatur der wissenschaftlichen Bezeichnung eines Tieres umfaßt Gattung, Art und Unterart. Bei dem Schimpansen werden so z. B. zwischen Pan troglodytes troglodytes, Pan t. versus Schwarz und Pan t. schweinfurthii Giglioli sowie dem Zwergschimpansen Bonobo Pan paniscus unterschieden.

familie -

Gattung-

Art-—

• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

• • • • Q-

• • •

-—Art -Sektion

• • •

-Gattung

• • • •

- Gattung

-Gattung

Gattung (monotypisch)

Bild 5 Logische Anordnung biologischer Klassifikationskategorien. Diejenigen Arten, die in vielen Merkmalen übereinstimmen, werden zu umfassenderen Klassen, den Gattungen, zusammengefaßt, die wiederum umfassendere Einheiten, die Familien, bilden. Nach diesem Klassifikationsprinzip entsteht eine Serie jeweils übergeordneter taxonomischer Gruppen. Nach Heywood (1971).

Allgemein basiert das natürliche System der Organismen auf einer logischen Systematik der realen naturgeschichtlichen Entwicklung, deren unterschiedlicher Verwandtschaftsgrad zwischen den einzelnen Tiergruppen 39

sich dann auch in ihrer systematischen Stellung niederschlägt. Es bildet damit die theoretische Grundlage aller weiteren zoologischen Klassifikationssysteme, die - wie die Systematik des tierischen Lernverhaltens - besondere Evolutionsprozesse kategorisieren. Dieses System wird im weiteren bei vergleichenden Betrachtungen des Lernverhaltens und anderer psychischer Leistungen als Maßstab herangezogen. Die Mehrzahl der phylogenetischen Vergleiche zwischen den einzelnen Tiergruppen bezieht sich dabei auf die verschiedenen angegebenen Tierstämme als kategoriale Bezugsebene. Ein besonderes Problem, auf das hier explizit hingewiesen werden soll, da es die Genauigkeit phylogenetischer Entwicklungsreihen mitbestimmt, ist die Beibehaltung einer kategorialen Vergleichsebene etwa als Ein- und Vielzeller, Coelenterata und Bilateralia, die aber häufig nicht eingehalten wird und etwa die Bezeichnungen Protozoa oder Coelenterata in unmittelbarem Zusammenhang mit den verschiedenen Tierstämmen verwendet werden, obwohl sie umfassendere taxonomische Kategorien darstellen. Ähnlich wie phylogenetisch primitive Tiergruppen zu vergleichsweise immer umfassenderen Einheiten zusammengestellt werden, da psychologisch die Entwicklungsunterschiede in Abhängigkeit von der eigenen Stellung im natürlichen System der Organismen mit zumehmender Entfernung geringer eingeschätzt werden, erhalten die einzelnen Klassen und Ordnungen der Chordaten einen höheren systematischen Stellenwert, da die psycho-physischen Unterschiede zwischen Amphibien, Reptilien, Fischen, Vögeln und Säugern in ihrer Organisation genauer untersucht sind als zwischen taxonomisch ähnlich unterschiedenen Tiergruppen niederer Stämme. Rein pragmatisch haben sich für phylogenetische Vergleiche der verschiedenen psychischen Leistungen drei verschiedene taxonomische Ebenen herausgebildet: Einmal der umfassendste naturhistorische Vergleich zwischen den verschiedenen Tierstämmen (1), der naturgemäß besonders bei elementaren psychischen Strukturen herangezogen wird, eine mittlere Ebene (2) innerhalb der Klassen der Chordatiere, bei der bereits höhere sensorische und cognitive Leistungen zwischen Amphibien usw. bis zu den Säugern verglichen werden und schließlich bei den höchstorganisierten psychischen Leistungen der Tiere die Evolution innerhalb der einzelnen Ordnungen wie Insektenfresser, Fledermäuse, Primaten, Nagetiere, Wale, Rüsseltiere, Raubtiere, Huftiere usw. (3). Mit zunehmender Evolutionshöhe nimmt also im Vergleich des Lernverhaltens häufig der Umfang der taxonomischen Kategorien ab.

Die einfachste, gewissermaßen empiristische Klassifikationsmöglichkeit des tierischen Lernverhaltens, die aber praktisch nicht angewendet wird, besteht darin, daß für die einzelnen Tiergruppen des natürlichen Systems das nachgewiesene Lernverhalten inventarisiert wird und keine eigenständige Klassifikation entwickelt wird. Eine derartige Taxonomie ist natürlich sehr aufwendig und durch die nicht vermeidbaren Wiederholungen eine starke Redundanz. 40

Tab. 1 Vereinfachte Ubersicht über das Tierreich. Von den gegenwärtig unterschiedenen 28 Tierstämmen sind aus systematischen Gründen nur 16 aufgenommen worden. Unterreich

Abteilung

Unterabteilung

Reihe

Stammgruppe

1. Flagellata (Geißeltierchen) 2. Rhizopoda (Wurzelfüßer) 3. Sporozoa (Sporentierchen) 4. Ciliata (Wimpertierchen)

1. Protozoa (Einzeller, Urtiere) 2. Metazoa (Vielzeller)

Stamm

1. Parazoa 2. Eumetazoa (Gewebetiere)

1. Coelenterata (Hohltiere) 2. Bilateralia

Articulata (Gliedertiere) 2. Deuterostomia

20000

5. Porifera (Schwämme)

5000

6. Cnidaria (Nesseltiere) 7. Acnidaria (Rippenquallen)

8900 80

8. Plathelminthes (Plattwürmer) 9. Nemertini (Schnutwürmer) 10. Nemathelminthes (Schlauchwürmer)

1. Protostomia

Zahl der lebenden Arten ca.

12400 800 12500

11. Mollusca (Weichtiere)

128000

12. Annelida (Ringelwürmer) 13. Onychophora (Stummelfüßer) 14. Arthropoda (Gliederfüßer)

8700 70 816000

15. Echinodermata (Stachelhäuter) 16. Chordata (Chordatiere)

6000 45000

Bild 6 (a) Stammbaum der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den wichtigsten Hauptgruppen der mehrzelligen Tiere (Metazoa) (b). Hauptgruppen der Wirbeltiere und charakteristische Vertreter. Nach Ziegler (1972) Ein anderes Verfahren geht davon aus, nur ein definiertes Lernverhalten wie die Entstehung bedingter Reflexe bei phylogenetisch verschieden hoch organisierten Tierarten zu untersuchen. Z. B. sind die ursprünglich an Hunden durchgeführten Lernexperimente in zahlreichen methodischen Variationen auf andere Säugetiere übertragen und schließlich auch bei mehreren niederen Wirbeltierarten und bei Wirbellosen experimentell nachgewiesen worden. Neben dem Menschen als Vpn und den klassischen Versuchstieren Ratte und Maus, in einem bestimmten Umfang auch Katze und Kaninchen, ist die Existenz bedingter Reflexe auch bei ausgefalleneren Tierarten wie Ziegen und Schafe (Liddell 1934) oder der bedingte Speichelreflex bei Schweinen (Sutherland 1939) nachgewiesen worden. Von den höheren Primaten sind die Schimpansen mehrmals (Ladygina-Kohts 1935, Hilgard & Marquis 1940, Wazuro 1948) unter dem Gesichtspunkt der Ausbildung komplizierter Handlungsketten auf der Basis bedingter Reflexe untersucht worden. Auch bei Vögeln (Hühnern, Tauben) und Knochenfischen treten bedingte Reflexe auf. Bei den Wirbellosen sind bedingte Reflexe unter anderem bei Einsiedlerkrebsen, Tintenfischen (Young 1961) und Schaben bei den Insekten (Chen, Aranda Luco 1970) in Lernexperimenten nachgewiesen. Von den Anneliden können wowohl Lumbricus (Regenwurm)arten, Eisenia- wie auch Nereis-Arten in einfachen T-Labyrinthen auf die Vermeidung einer Seite dressiert werden (Clark 1964). Wahrscheinlich beruht auch das Lernverhalten von Planarien und Coelenteraten auf der Assoziation von bedingten und unbedingten Reizen. Die Ausbildung bedingter Reflexe ist dabei nicht, wie Pawlow noch postulierte, an die Existenz der Hirnrinde gebunden. Shurrager & Culler (1940) konnten bedingte Reflexe noch bei Hunden registrieren, denen das Rückenmark in der Lumbairegion durchtrennt worden war. Rensch & Fransziskat (1954) konnten bedingte Rückenmarkreflexe auch bei spinalen Wasserfröschen (Rana esculenta) im Experiment reproduzieren. Bei Schaben wird ein bedingter Beinhebereflex auch bei geköpften Tieren und an nervös isolierten Metathorax-Segmenten ausgebildet 42

(Chen, Aranda & Luco 1970). Einmal treten bedingte Reflexe auch bei niederen Wirbeltieren auf, die keinen Neocortex besitzen, zum anderen lassen sich aber auch bei wirbellosen Tieren wie Molluscen, Arthropoden, Anneliden usw. Lernprozesse in Form bedingter Reflexe nachweisen. Da die Nervensysteme hier aber sehr unterschiedlich gebaut sind und keine homologen Verhältnisse zwischen den einzelnen Ganglienkomplexen bestehen, müssen es sehr allgemeine neuronale Bedingungen wie z. B. ein bestimmter Zentralisationsgrad der Neurone sein, um die nervale Grundlage für die Ausbildung von Signalreizen abzugeben.

Die entwickelteren Lernklassifikationen gehen nicht von einem expliziten Bezug auf das natürliche System der Organismen aus, sondern bilden häufig eine Kombination zwischen der Kompliziertheit der psychischen Struktur des jeweiligen Lernvorganges und der phylogenetischen Stellung des Tieres. Die entscheidenden Systematisierungseinheiten sind die verschiedenen Lernkategorien, deren Selbständigkeit und historische Beziehung gegenüber den anderen Lernkategorien, die über ihre Vor- oder Nachordnung bestimmen, dann kritisch überprüft wird. Als repräsentativ für ein derartiges methodisches Vorgehen kann das Thorpesche Lernsystem angesehen werden, das im ethologischen Bereich und innerhalb der vergleichenden Psychologie eine weite Verbreitung erfahren hat. Seine Bedeutung besteht allerdings weniger in den verwendeten Klassifikationskategorien als vielmehr in den zur Anwendung gebrachten Systematisierungsprinzipien, die zu einer beschreibend-historischen Taxonomie geführt haben. Aus diesen Gründen ist es auch von untergeordneter Bedeutung, ob sich die einzelnen Lernkategorien selbst durchsetzen oder durch neue, genauere Termini abgelöst werden, da als allgemeines Systematisierungsziel eine logische Ordnung der phylogenetischen Evolution des tierischen Lernverhaltens angestrebt wird. Solche Operationen wie die Einführung neuer Lernformen von kategorialer Bedeutung wie z. B. die Prägung, die Auswechslung einzelner Lernkategorien oder die Änderung ihrer systematischen Stellung zueinander sind dabei unumgänglich und führen insgesamt zu einer immer genaueren Taxonomie. Das natürliche Klassifikationssystem fungiert weiterhin als theoretisches Hintergrundwissen, auf das aber nur noch implizit Bezug genommen wird, indem die verschiedenen Lernprozesse entsprechend ihrem historischen Auftreten nach angeordnet werden. Dadurch wird die Evolution des Lernverhaltens zwar einerseits zu verschiedenen Stufen verallgemeinert, andererseits wird die Zuordnung durch den Generalisationsgrad immer ungenauer und führt zu Überschneidungen sowie der Konkurrenz zwischen verschiedenen Lerntaxonornien. Häufig schließen sich die einzelnen Lernsystematiken aber nicht aus, sondern sind nur auf der Grundlage verschiedener Kriterien der phylogenetischen Entwicklung konstruiert. Wenn z. B. Hassenstein (1969) die Prägung als elementarste Lernkategorie einführt, so liegt dem die 43

durchaus vertretbare Auffassung zugrunde, daß die systematisch basalen Lernprozesse sich unmittelbar an angeborene Verhaltensweisen anschließen müßten, was dazu führt, daß eine Lernform, die überwiegend erst bei verschiedenen Wirbeltiergruppen auftritt, den Beginn der historisch orientierten Lerntaxonomie bildet. Den Maßstab der Evolution des Psychischen bildet hier das Verhältnis von angeborenem und erworbenem Verhalten unabhängig vom Zeitpunkt des realen Auftretens in der Phylogenese. Sie steht damit im Gegensatz zu den Lerntaxonomien, die sich überwiegend am realen Evolutionsprozeß orientierten, d. h. daß die basalen Lernkategorien auch das Lernverhalten phylogenetisch relativ niedrigstehender Tiergruppen beschreiben. Bei der Konstruktion phylogenetisch orientierter Lernklassifikationen, unabhängig davon, ob der historische Bezug bewußt eingeführt wurde oder sich hinter dem Kopf des jeweiligen Theoretikers durchsetzte, sind dabei vor allem drei Klassifikationsprinzipien zur Anwendung gekommen. Ein besonders für den Beginn der Lernpsychologie charakteristisches Vorgehen ist die Postulierung einer spezifischen Lernform als Mechanismus des tierischen Lernens überhaupt (1). Das unter diesen Gesichtspunkten wohl bedeutendste Klassifikationssystem ist die Theorie der höheren Nerventätigkeit, deren Kern die zunächst nur schwer zu widerlegende Behauptung darstellt, daß alles tierische Lernen auf der Ausbildung bedingter Reflexe beruhe. Allgemein wird Lernen von Pawlow als Verknüpfung eines unbedeutenden neutralen Reizes mit einem biologisch bedeutsamen Reiz zu einem Signal verstanden. Derartige Assoziationen werden kombiniert und führen so zu einer zunehmend komplizierteren Struktur des Psychischen, in die jede andere tierische Lernform aufgelöst werden kann. Der bedingte Reflex ist in der Theorie der höheren Nerventätigkeit zum allgemeinsten Entwicklungsprinzip des Psychischen überhaupt geworden. Jede Evolution psychischer Prozesse wird von Pawlow auf die Assoziationsmechanismen des Signallernens reduziert, dessen faktische und heuristische Grenzen damit bald erreicht wurden und zu immer spekulativeren Annahmen über die »Bewegungsgesetze des Nervensystems< führte. Die Theorie der höheren Nerventätigkeit ist somit nicht nur eine Verallgemeinerung der fundamentalen Bedeutung der Bildung bedingter Reflexe für das tierische und menschliche Lernen, sondern zugleich auch ein umfangreiches, nach den Prinzipien der klassischen Mechanik konstruiertes Kalkül hypothetischer Begriffe, durch das alle nach 1904 entdeckten eigenständigen tierischen Lernformen wie z. B. durch Einsicht in ein Netz bedingter Reflexe überführt werden mußten, um die Eigenständigkeit des bedingten Reflexes als allgemeinstes, allen anderen Lernformen übergeordnetes Entwicklungsprinzip nachzuweisen. Außer Pawlow vertrat aus psychologischer Sicht auch Guthrie die Auffassung, daß Lernen ausschließlich als Assoziation von stimulus und response ohne die Einführung intervenierender Variablen erklärt werden könne (Kontiguitätsprinzip). 44

Der mechanistische Charakter derartiger Entwicklungsvorstellungen betrifft weniger die Reduktionsversuche gegenüber anderen tierischen Lernformen und die Einengung der Mannigfaltigkeit der Evolution des Psychischen auf einen Mechanismus oder die übermäßige Generalisation des bedingten Reflexes, dessen empirische Bedeutung tatsächlich kaum überschätzt werden kann, sondern vielmehr die einsinnige lineare Verlaufsstruktur als einfache Kausalrelation. Der bedingte Reflex in der Interpretation der Theorie der höheren Nerventätigkeit kann kybernetisch als lineare Steuerkette verstanden werden, bei der die äußeren Bedingungen des Tieres sein Verhalten absolut determinieren. Notwendigerweise impliziert diese Vernachlässigung der Wechselwirkung zwischen Reiz und Organismus auch eine entsprechend vereinfachte Auffassung des Psychischen als passives Abbild der Umweltbedingungen. Unter diesen Gesichtspunkten stellen die vor den Experimenten Pawlows liegenden Untersuchungen Thorndikes (1898) über das Verhalten von Tieren in der Problembox, die dann von Skinner (1938) weiter vervollständigt wurde, einen erheblichen theoretischen Fortschritt dar, da durch sie die Bedeutung der Wechselwirkung, speziell der Rückkopplung des Verhaltens, methodisch in umfassender Weise verallgemeinert wurde. Wenn z. B. eine hungrige Katze in einen mit einem spezifischen Mechanismus verschlossenen Problemkäfig gesperrt wird, an dem das Futter außen angebracht ist, so wird das Vt solange probieren, bis durch Zufall die Öffnungsmöglichkeit gefunden ist. Bei einer Wiederholung des Versuches sinkt dann die bis zur Öffnung des Käfigs notwendige Zeit, da durch die Erfahrungsbildung die Zufälligkeit des Verhaltens aufgehoben wird. Thorndike hat dieses Verhalten dann als trial-and-error-Lernen verallgemeinert, das neuerdings wieder durch die Kybernetik an theoretischer Bedeutung gewonnen hat, da es als allgemeinstes Verhalten selbstorganisierender Systeme, darunter auch der Organismen, verstanden werden kann.

Im Gegensatz zu den assoziationstheoretischen Vorstellungen eines Signallernens beruht in den S-R-Theorien Lernen auf der Verknüpfung von Reiz und Verhalten und der Bildung bestimmter Verhaltensgewohnheiten (habits). Thorndikes Verdienst besteht darin, mit dem >Gesetz der Wirkung< ein wichtiges Entwicklungsprinzip des Psychischen, die selektive Wirkung der Rückkopplung im tierischen Verhalten, beschrieben und umfassend verallgemeinert zu haben, das in dem Reafferenzprinzip (v. Holst/Mittelstadt 1950) dann eine theoretische Präzisierung gefunden hat. Wenn eine Erfahrung eintritt, durch die eine Verhaltensweise gestärkt wird, so kann dies zu einer zunehmend gerichteten biologischen und beim Menschen sozialen Bedürfnisbefriedigung führen. Die Verstärkung wird zur Ursache, daß die Umgebungssituation und Verhalten bzw. Reiz und Reaktion assoziiert werden. Thorndike hat dann die Bezeichnungen >Versuch und Irrtum< durch die Begriffe »Auswahl und Verbindung< als Assoziation be45

stimmter Reize (Futter) mit Reaktionen (öffnen des Käfigs) ersetzt (Konnektionismus). Später sind in der behavioristischen Lerntheorie durch Hull, Skinner, Tolman usw. mit der Einführung verschiedener intervenierender Variabler wie Triebreduktion, Erwartung (expedation), Zweck (purpose), Kenntnis (cognition) immer kompliziertere Begriffssysteme aufgebaut worden. Bereits wenige Jahre nach den Untersuchungen Thorndikes ist das trial-and-errorrPrinzip für so extrem entgegengesetzte Verhaltensweisen wie die Orienterung des Einzellers Oxytricha fallix (Jennings 1906) und das Problemlösen bei Erwachsenen verwendet worden (Rugar 1910). Trial-and-error-Verhalten tritt bei selbstorganisierten Systemen immer dann auf, wenn eine Umweltveränderung eine Adaptation erzwingt (vgl. Abb. 10). Weitgehend unabhängig von dem Grad der psychischen Organisation stellt sich der Organismus in mehreren Versuchen jeweils auf die neuen für ihn optimalen Reizbedingungen ein. Durch eine Folge diskreter Verhaltensänderungen versucht das biologische System sich entweder der Umweltänderung zu entziehen oder, wenn sie langfristig anhält, anzupassen, bis ein stabiler Umwelt-Organismuszustand erreicht ist. Das trial-and-error-Verhalten zeigt deshalb Eigenschaften einer gedämpften Schwingung, die sich zwar auf ein Maximum einstellt, dieses aber nicht erreicht, da während der Einstellung bereits neue Reizänderungen wieder auftreten. Ob das trial-and-error-Verhalten z. B.von Protozoen aber bereits als Lernen interpretiert werden kann ist zweifelhaft, da es gerade dadurch charakterisiert ist, daß keine systematische Auswertung der Information erfolgt und die Reaktionen durch das Fehlen eines Algorithmus ausgezeichnet sind. Der stochastische Einfluß der Umweltreize wird strategisch wiederum innerhalb eines Wahrscheinlichkeitsfeldes abgefangen. Dementsprechend sind entweder die biologischen Systeme im Spiel gegen die Umgebung am erfolgreichsten, die über eine hohe Zahl von Nachkommen verfügen, durch die verschiedene Anpassungsvarianten durchprobiert werden können, oder die ein größeres Verhaltensrepertoire und eine entsprechende Generationsdauer besitzen, um möglichst viele Versuche anstellen zu können. Der Einzeller wandert von Zustand zu Zustand, deren Folge den Charakter einer Markow-Kette besitzt und dem äußeren Beobachter als indeterminiertes Verhalten erscheint, bis ein stabiler Zustand erreicht ist. Auf diese Weise gelingt es auch primitiv organisierten Tieren, ein Ziel zu erreichen, ohne daß bereits ein Algorithmus des Verhaltens für die entsprechende Umweltsituation vorhanden ist. Zum Aussterben kommt es auf dieser Entwicklungsebene vor allem deshalb, da nicht genügend Zeit zur Verfügung steht, um in einer diskreten Folge von Verhaltensänderungen einen stabilen Zustand zu erreichen.

Wenn das trial-and-error-Verhalten zum Erfolg führt, so wird durch Rückkopplung oder bei komplizierteren biologischen Systemen durch Reafferenz die vorhandene Reaktionsweise entweder beibehalten oder durch die fortlaufende Bekräftigung verbessert. Das Problemlösen kann als ein Grenzfall für hochentwickelte Systeme mit einem »inneren Modell< der Außenwelt verstanden werden, bei dem die ursprünglich äußeren Versuchsreihen durch ein inneres Prohieren ersetzt werden, bis die Lösung ge46

funden ist. Bei bestimmten Formen des naturwissenschaftlichen Experimentes oder auch in kybernetischen Automaten wird das Zufallslernen dann methodisch ausgenutzt. In der allgemeinen biokybernetischen Fassung des trial-and-error-Prinzips der System Optimierung ist praktisch jede Informationsgewinnung eine elementare Form des Lernens. Notwendig ist dabei das Reagieren auf die Umweltänderung. Das Durchprobieren unterliegt bei >reinem< trial-anderror-Verhalten Zufallsgesetzmäßigkeiten. Die Variation der Systemparameter ist kausal nicht von dem Reiz abhängig. Eine derart weite Fassung des trial-and-error-Prinzips ist zwar in der Lage, die verschiedensten Verhaltensformen nicht nur von Tieren und Menschen, sondern auch bei Automaten, die im Zusammenhang mit der Orientierung in einer veränderten Umwelt auftreten, zu subsumieren. Allerdings handelt es sich dann nicht mehr um eine Lernform, sondern bereits um ein allgemeines Entwicklungsprinzip selbstorganisierender Systeme, das gegenüber konkreten tierischen Verhaltensmechanismen an Bedeutung verliert. Schneiria (1959) hat darauf hingewiesen, daß selbst der qualitative Unterschied zwischen der Orientierung eines Insektes und einer Ratte im Labyrinth durch das trial-and-error-Prinzip kaum noch sinnvoll erfaßt werden kann, da erste nur im begrenzten Umfang fähig sind ein Labyrinth zu durchlaufen, während die Ratte einzelne Merkmale lernt und auch in der Lage ist, das Gelernte auf andere Situationen zu transponieren. Eine Reduktion der verschiedenen tierischen Lernformen auf einen Grundmechanismus, wie sie besonders auf der Basis der klassischen und instrumentellen Konditionierung angestrebt wurde, führt notwendigerweise zur Erhöhung des Allgemeinheitsgrades und der phylogenetischen Betonung des Entwicklungsaspektes. Historisch wurde dieser Prozeß dadurch erleichtert, daß die zuerst entdeckten Lernformen auch real einen großen empirischen Geltungsbereich besitzen, daß andere selbständige Lernformen nur zum Teil bekannt waren und daß sie generelle Verhaltensmodelle wie die Vorstellung einer linearen Steuerkette oder die Bedeutung der Rückkopplung für den Verhaltensablauf darstellen. Die Zusammenfassung der verschiedenen tierischen Lernformen unter einen Begriff wie dem bedingten Reflex oder das trial-and-error-Lernen übt zweifellos durch die damit erreichte Vereinfachung eine gewisse theoretische Faszination aus, was sich unter anderem in der Aufstellung kybernetischer Systeme und Entwicklungsprinzipien oder den verschiedenen allgemeinen Lerndefinitionen niederschlägt. Selbst wo eine, derartige Generalisation sinnvoll ist wie bei dem trial-and-error-Prinzip, wird dadurch die empirische Selbständigkeit der einzelnen Lernformen jedoch nicht berührt. Neben dem Typ der eingliedrigen Lernklassifikation sind auch mehrere 47

Varianten der dichotomen Verhaltensklassifikation eingeführt worden, die an der Zweiteilung des tierischen Verhaltens in angeboren und erlernt orientiert sind (2). Eibl-Eibesfeldt (1967) hat so im motorischen Bereich zwischen >erbangepaßten< und >erwerbangepaßten< bei erwerbkoordinierten Verhaltensweisen unterschieden, was eine weitere Differenzierung von erbkoordinierten und erwerbkoordinierten tierischen Verhalten darstellt. erbangepaßt

erwerbangepaßt

erbkoordiniert

z. B. Sprengen, Zerspleißen, Versteckhandlung des Eichhörnchens

z. B. angeborene Bettelbewegungen von Zootieren wie z. B. Lecken, Scharren usw.

erwerbkoordiniert

z. B. Nestbau der Ratte, Gesang des Buchfinken

z. B. erfundene Bettelbewegungen von Zootieren, Flaschenöffnen bei Meisen

Eine dichotome Lernklassifikation wird von Tembrock (1973) vertreten, der zwischen obligatorischem und fakultativem Lernen unterscheidet. Durch das obligatorische Lernen werden die Verhaltensstrukturen zusammengefaßt, die jedes Tier einer Art lernen muß, damit die arterhaltenden Erbkoordinationen sinnvoll ablaufen können. So kennt z. B. ein Entenküken sein Muttertier angeborenermaßen nicht, sondern muß diese Folgebeziehungen lernen ebenso wie eine Honigbiene die Umgebung ihres Stockes erlernen muß, um sich wieder heimzufinden. Ein charakteristischer Typ des obligatorischen Lernens sind die Prägungsprozesse. Das fakultative Lernen umfaßt alle die individuellen Verhaltensanpassungen, die für den biologisch sinnvollen Ablauf von Erbkoordinationen nicht unbedingt notwendig sind und damit über die Leistungen des obligatorischen Lernens hinausgehen. Es handelt sich um eine wahlweise Anpassung, deren Realisierung sich nach den jeweiligen Umständen richtet, die nicht für alle Individuen einer Art gleich sind. Besonders bei phylogenetisch höher stehenden Tierformen sind fakultative Lernprozesse weit verbreitet. Die Auslese des für die Arterhaltung Wichtigen ist bei dem fakultativ Gelernten wesentlich komplizierter, da auch das innerartliche Entwicklungsgefälle der Psychogenese als Selektionsfaktor zur Wirkung kommt. Ein weiteres Klassifikationsprinzip stellt schließlich das Vorgehen dar, daß mehrgliedrige Lernsystematiken mit endlich vielen Gliedern entwikkelt werden (3). Die weitaus meisten Lerntaxonomien der Lernpsychologie, vergleichenden Psychologie, vergleichenden Verhaltensforschung usw. 48

repräsentieren diesen Klassifikationstyp, bei dem mindestens mehr als zwei empirisch gut abgesicherte Lernkategorien zu einem Ordnungssystem zusammengefaßt werden. Eine fest fixierte Anzahl von Lernformen existiert nicht, meistens schwankt die Anzahl der Klassifikationsglieder zwischen 5 und 10. Jedes dieser drei hier angeführten Klassifikationsprinzipien des tierischen Lernens, deren Möglichkeiten und Zahl damit keineswegs erschöpft ist, bildet die Evolution des Lernverhaltens in der stammesgeschichtlichen Entwicklung in bestimmter Weise ab. Der heuristische Vorteil des 1. Typs ist die Hervorhebung einzelner genereller Entwicklungsaspekte des Psychischen wie die Bedeutung der Rückkopplung oder die Verallgemeinerung des stochastischen Charakters des Lernprozesses im trial-and-error-Verhalten, der historisch allerdings häufig mit der Uberschätzimg einzelner nur spezifischer Seiten des Lernvorganges einherging. Aus der Sicht der beschreibenden historischen Lernsystematik (3. Typ) handelt es sich jeweils nur um die Entwicklung einer spezifischen Lernform, aber nicht um die Evolution tierischen Lernens überhaupt, das nur in der kategorialen Verflechtung verschiedener Lernformen abgebildet werden kann. Aus dieser Sicht ist der Typ 1 nur ein Grenzfall einer umfassenden phylogenetischen Systematik, in die er als eine Lernkategorie mit eingeht. Die tierischen Lernsysteme vom Typ 2 bilden eine Mischform. Einerseits werden bestimmte empirische Gegensätze in das Klassifikationssystem mit aufgenommen und damit in diesem Entwicklungsprozesse abgebildet, so daß die Vorstellung einer einsinnigen Vervollkommnung ohne qualitative Sprünge aufgegeben wird, andererseits wird die reale Mannigfaltigkeit der Evolution des Lernverhaltens durch spezifische Gesichtspunkte wieder reduziert. Auch bei Taxonomien vom Typ 2 handelt es sich um eine Lernklassifikation von Lernklassifikationen, durch die bestimmte Lernformen nochmals zu verallgemeinerten Gruppen zusammengefaßt werden. Sowohl das obligatorische wie das fakultative Lernen umfaßt mehrere Lernformen, die in Taxonomien vom Typ 3 als emprisch selbständige Lernkategorien behandelt werden. Während dem Klassifikationstyp 2 nur eine allgemeine naturhistorische Beziehung zugrunde liegt, existiert in Taxonomien vom Typ 3 bereits ein ganzes Netz konkreter phylogenetischer Abhängigkeiten, so daß sie als die bisher am höchsten entwickelte und wahrscheinlich auch endgültige Klassifikationsform angesehen werden müssen, auf deren Grundlage zahlreiche Varianten vom Typ 2 möglich sind. Die verwirrende Vielfalt der tierischen Lernklassifikationen, durch die verschiedenen Wissenschaftsspezialisierungen noch unterstützt, läßt sich auf verschiedene Ordnungsebenen zurückführen, von denen jede eine selbständige theoretische und methodologische Bedeutung besitzt. Aus diesen 49

Gründen ist es sinnvoll, entweder die verschiedenen Vor- und Nachteile eingliedriger, dichotomer oder mehrgliedriger Lerntaxonomien einander gegenüberzustellen oder unter Voraussetzung dieser methodologischen Klärung nun die verschiedenen einzelnen eingliedrigen, dichotomen oder mehrgliedrigen Systematiken jeweils auf ihrer spezifischen Ebene miteinander zu vergleichen. Beide Betrachtungsmöglichkeiten sollten aber klar voneinander unterschieden werden. In dem folgenden Abschnitt soll ein besonderes Problem der historischen Lernklassifikation vom Typ 3 genauer betrachtet werden. Die phylogenetische Stellung der Lernform entscheidet hier über die logische Anordnung in der Lerntaxonomie. Ein Vergleich der verschiedenen mehrgliedrigen Lernklassifikationen zeigt dabei, daß die phylogenetische Stellung einzelner Lernformen umstrittener ist als die von anderen Lernkategorien, da sie ihre Position in verschiedenen Lernklassifikationen sehr häufig und extrem wechseln. Dies gilt besonders für die elementarsten Formen des tierischen Lernens, die in unmittelbarer Nähe physiologischer Prozeßabläufe stehen und von ihnen häufig nur schwer abgetrennt werden können sowie für die höchstentwickelten tierischen Lernformen im Grenzbereich des Ubergangs von psychischen Prozessen bei Tieren und dem menschlichen Bewußtsein. Als Beispiel einer derartigen Abgrenzung >nach unten< und >oben< werden die Gewöhnungsprozesse und problemlösendes Verhalten herangezogen. Eine Sonderstellung nehmen auch die Prägungsvorgänge ein, da sie zwischen der Stabilität angeborener Verhaltensmechanismen und der Umweltoffenheit des Lernverhaltens stehen. Derartige »Zwischenformen< stellen zwar die Gültigkeit des jeweiligen Klassifikationssystems besonders radikal in Frage, zeigen aber auch die Stärke der historischen Lerntaxonomie, da die Auswechslung der systematischen Stellung tendentiell auf eine Präzisierung der Vorstellungen über die phylogenetische Entwicklung des Lernverhaltens zielen. Einige Lernkategorien wie latentes Lernen< oder »motorisches Lernen< haben sich in diesem Prozeß deshalb nicht durchgesetzt, da sie bereits selbst wieder Zusammenfassungen verschiedener tierischer Lernformen sind. 2.2. Einige »Zwischenglieder* der naturhistorischen Lernklassifikation. 2.2.1. Lernverhalten im psycho-physischen Grenzbereich:

Habituation

Für die Lernprozesse der höherentwickelten Tiere ist charakteristisch, 1.) daß die durch Reize hervorgerufenen Erregungszustände neurophysiologisch als Engramme gespeichert werden und 2.) außerdem während ihrer 50

ontogenetischen Entwicklung sich verschiedene Verknüpfungen zwischen den unterschiedlichen Reizengrammen als Assoziationen herausbilden, so daß wichtige Reizkombinationen bevorzugt >gemerkt< werden können. Derartige Assoziationen zwischen Reizengrammen entstehen, wenn bestimmte Umweltbedingungen, die bei dem Organismus selbst keine Reaktion auslösen, lange genug in Kombination mit einem reaktionsauslösenden auftreten, so daß der Organismus schließlich diese Bedingungen mit der reizspezifischen Reaktion beantwortet, auch wenn der Reiz selbst nicht mehr in dieser ursprünglichen Kombination nachweisbar ist. Beobachtungen über Verhaltensänderungen bei Protozoen haben jedoch gezeigt, daß es offensichtlich noch viel einfacher strukturierte Anpassungen an spezifische Reizsituationen gibt. Wenn dem Ciliaten Stentor roeseli durch eine Pipette ein Wasserstrom entgegen geblasen wird, so zieht er sich sehr schnell in eine Schleimröhre zurück, um sich aber bereits nach kurzer Zeit erneut auszustrecken und mit dem Einstrudeln von Nahrungspartikeln zu beginnen. Wenn diese Reizung mehrmals wiederholt wird, so reagiert Stentor nicht mehr auf diesen Umweltreiz, sondern hat sich ihm angepaßt. Bei einem wiederholt auftretenden unschädlichen Reiz kommt es damit zu einer Gewöhnung, die als ein elementares tierisches Lernen interpretiert werden kann und für das Verhalten der Protozoen von genereller Bedeutung ist, da es auch bei anderen Ciliatengruppen beobachtet werden konnte. Bei einer stärkeren Reizung, die hier aber nicht von theoretischer Bedeutung ist, kommt es nach kurzer Zeit zu einem Wegkrümmen des Vorderendes von der Reizquelle. Wenn Stentor mit einer Tuscheoder Karminsuspension angeströmt wird, kehren die Körpercilien ihre Schlagrichtung um und treiben so die partikelreiche Wolke vom eigenen Standort weg. Bei einer länger andauernden starken Reizung kommt es zu einer Kontraktion und schließlich löst sich Stentor von seiner Unterlage und schwimmt zu einem anderen Standort. Dabei sind allerdings mehrere Problemebenen zu unterscheiden. Einmal besteht die allgemeine Frage, ob Protozoen im Unterschied zu den Metazoa lernen können oder nicht. Eindeutig ist assoziatives Lernen, bei dem afferente und efferente Verknüpfungen entstehen, bei all den Tieren nachgewiesen, die über ein zentralisiertes Nervensystem verfügen. Die Aussage, daß Protozoen lernen können, muß gegenwärtig als eine nicht widerlegbare hypothetische Annahme angesehen werden: Auf die Behauptung der Ausbildung bedingter Reflexe bei Einzellern folgt häufig nur die negative Bestätigung oder eine methodische Kritik. Bramstedt (1935) hatte Befunde veröffentlicht, nach denen Paramecien Wärme und Erschütterungen, Stylonychia Licht und Erschütterungen assoziieren können. Außerdem sollen Paramecien, wenn sie längere Zeit in drei- oder viereckigen Behältern schwimmen, die entsprechende Schwimmweise auch in kreisförmigen Behältern beibehalten. Beide Aussagen konnten durch die Nachprüfungen Grabowskis (1939) nicht bestätigt werden, nach dessen Auffassung im zweiten Fall lediglich eine Auswahl verschiedener Schwimmbahnen erreicht wurde. Auch eine Bestätigung der Assoziationsbildung zwischen unbedingten Reizen und Signalreizen konnte nicht erbracht werden (Grabowski 1939, Dembowski 1950). Bei der erwähnten Reizung von Stentor roeseli mit Karminkörnern unterscheidet Jennings (1906) zwar verschiedene Verhaltensweisen wie Wegwenden, 51

Umkehr des Wimpernschlages, Kontraktion, Wegschwimmen, deren Kombination aber noch keinem eigentlichen assoziativen Lernprozeß entspricht, sondern mit der allgemeinen Steigerung des Erregungsgrades in Zusammenhang gebracht werden kann (Rensch 1973). Machemer (1966) überprüfte in Dressurversuchen, ob bei den hypotrichen Ciliaten Stylonychia mytilus und Keronobsis rubra Verhaltensänderungen in der Kombination von Licht oder Dunkelheit mit rauhem oder glattem Untergrund experimentell ausgebildet werden können. Stylonychia reagierte ebenso wie Keronopsis auf Lichtreize mit einer Meidung, bei den Untergrund reagierte Keronopsis auf rauhen Untergrund positiv, Stylonychia schwach negativ. Die Vt wurden dann 40 min (Stylonychia) und 2-4 Stunden lang (Keronopsis) bei konstanten Licht- und Temperaturverhältnissen den beiden Reizkombinationen >Rauh-Hell< und >Glatt-Dunkel< ausgesetzt und über ein schachbrettartiges Raster eine Auszählung vorgenommen. Dabei ergaben sich in beiden Kombinationsfällen keine Rückschlüsse für eine Beeinflussung im Sinne eines assoziativen Lernens. "Dressur"

R/H-G/D

Übertragung

Test

G/H-G/D

Zählaufnahmen

G/H

Bild 7 Struktur des Testverfahrens zur Überprüfung der Signalwirkung von >Rauh/Hell< (R/H) gegen >Glatt/Dunkel< (G/D) bei Ciliaten. Im Lernversuch sind rauhe und helle Rasterflächen in Deckung. Nach Machemer (1966). Ähnlich negative Befunde erbrachten die Nachprüfungen der Experimente Gelbers (1952) und von Lepley & Rice (1952). Letztere nahmen an, daß in einem T-Labyrinth erlernte Richtungsänderungen der Schwimmbewegungen den Metazoen vergleichbare Lernprozesse sind. Für Ciliaten, die mit ihren verschiedenen Organellen und Wimper-, Cirren- und Membranellenbewegungen bereits differenzierte Bewegungen ausführen können, ist die Frage der Existenz von assoziationsähnlichen Lernprozessen noch nicht entschieden. Bergström (1969) konnte bei einer Ciliatenart eine Lichtmeidung durch die Kombination von Lichtreizen und elektrischen Reizen erzielen. Davon unterschieden ist aber das Problem, wie die bei Protozoen bestätigten Verhaltensänderungen lerntheoretisch erklärt werden können. Smith (1908) hatte experimentell gezeigt, daß das Umwenden eines Parameciums in einer Glaskapillare zunehmend schneller wird. Stylonychia zeigte eine schwach negative Reaktion auf rauhen Untergrund, die durch Erschütterungen gesteigert werden konnte. Die Rauhmeidung hielt bei Stylonychia bis zu 80 min, die mäßig starke Bevorzugung von Rauh durch Keronopsis über zwei Stunden an. Beide Arten zeigten außerdem eine signifikante Lichtmeidung über 1-2 Stunden bei 1000 und 52

160 lux. Die entscheidende Frage ist dabei, ob derartige Sensibilisierungsprozesse als Habituation interpretiert werden sollen oder nicht. Thorpe beschränkte das Lernen durch Gewöhnung ausdrücklich auf kompliziertere Verhaltensänderungen bei Metazoen, was aber nicht allseits akzeptiert wird und den Versuch nahelegt, auch die einfachen Reizsensibilisierungen bzw. die Erhöhung der Reizschwelle für bestimmte Umweltreize bei Protozoen mit unter den Habituationsbegriff zu subsumieren. Ein derartiger Schritt ist deshalb so schwerwiegend, weil damit Lernprozesse bei Einzellern angenommen werden, die nicht an der Lernvorstellung als Signallernen orientiert sind. Andererseits sind Reizgewöhnungsprozesse bei Ciliaten und anderen Einzellerarten mehrfach nachgewiesen. Spirostomum zeigt eine Gewöhnung an rhythmische Erschütterungsreize (Wawrynczyk 1937, die auch in Kontrollversuchen erhalten wurde (Kinastowski 1963). Eine spezifische Einstellung auf verdauliche und unverdauliche Nahrungspartikel ist ebenfalls mehrfach beschrieben worden (Metalnikow 1907, Grittner 1951).

Das klassische experimentelle Beispiel, bei dem die Gewöhnungsreaktion eines Tieres quantitativ gemessen wurde, ist das Zurückziehen der Augenstiele bei der Schnecke (Helix albolabris), das Humphrey (1930) untersuchte. Die Schnecke kriecht dabei auf einer Bodenfläche entlang, die mechanischen Stößen ausgesetzt wird. Diese Reizung führt zu einem Einziehen der Augenstiele für einen bestimmten Zeitraum. Wenn diese Erschütterungen mit der gleichen Intensität und in einem festen Zeitintervall fortgesetzt werden, so wird das Ausmaß und die Zeitdauer des Zurückziehens immer schwächer und verschwindet schließlich ganz. Der Gewöhnungsprozeß besteht darin, daß bei wiederholter Reizung mit demselben Reiz, die von keiner Belohnung irgendeiner Art gefolgt ist, die Reaktionsstärke abnimmt. Wenn dagegen bei der Reizung der Schnecke Rhythmus und Intensität geändert werden, wird das Einziehen der Fühler wieder in seiner ursprünglichen Stärke ausgelöst. Nachweise über Gewöhnungsreaktionen liegen von verschiedenen Tierarten aus allen Tierstämmen unabhängig von ihrer phylogenetischen Stellung vor. Wenn z. B. Filterpapier mit einer spezifischen Lösung getränkt wird, dann nehmen die zu den Coelenteraten gehörenden Seeanemonen (Adamsia) diese Reizwirkung als Nahrung an und verzehren das Papier. Nach einer geringen Zahl von weiteren gleichen Angeboten wird auf das Filterpapier jedoch nicht mehr reagiert (Buytendijk 1933, Munn 1950). Bei den Anneliden ist die Empfindlichkeitsabnahme bei dem Polychaeten Nereis pelagica auf mechanische und optische Reize genauer analysiert worden (Clark 1960). Bei mechanischen Reizen in Abständen von 30 s nimmt nach 10 Reaktionen der Rückzug in die Wohnröhre äb und ist beim zwanzigsten Versuch vollständig erloschen. Ähnliche Werte gelten für die Habituation bei einem vorbeigeführten Schatten. Bei Arthropoden liegen Nachweise für Gewöhnungsreaktionen unter anderem für das Freß- und Beutefangverhalten von Springspinnen (Precht & Freitag 1958) und bei den Insekten über die Gewöhnung an Störquellen im Orientierungsverhalten bei dem Rückenschwimmer (Notonecta glauca) vor (Wolda 1961). Auch hier bringt die Wiederholung eines Reizes die Reaktion zum Verschwinden. 53

Vergleichbare Ergebnisse lassen sich auch in allen phylogenetisch höherstehenden Tierstämmen finden. Ein gut untersuchtes Beispiel sind hier die verschiedenen Gewöhnungsprozesse bei dem Truthahn (Meleagris galloparo) wie z. B. die akustische Auslösung des Kollerns als einen Balzlaut. Nach einer mehrmaligen Anbietung eines reinen Tones wird dieses Signal unwirksam, während ein akustisches Signal in einer anderen Frequenz oder veränderter Lautstärke wieder das Kollern in der ursprünglichen Intensität hervorruft. Schleidt (1961) konnte bei der Reaktion von Puten auf optische Signale den Entstehungsprozeß der Gewöhnungsreaktion genauer verfolgen. Unter kontrollierten Bedingungen wurden den Vögeln Rechtecke und Kreise über den Kopf gezeigt, was zunächst Alarmreaktionen auslöste, denen eine Gewöhnung folgte. Bei dem selteneren Zeigen einer Raubvogelsilhouette wurde eine starke Fluchtreaktion ausgelöst. Wenn dagegen anderen Versuchstieren die Raubvogelsilhouetten häufig gezeigt wurden, die Kreisfiguren aber relativ selten, so erfolgte eine Gewöhnung an die Raubvogelsilhouette, während die anderen Muster starke Fluchtreaktionen auslösen. Da sich die Anfangsraten der Reaktionen auf die verschiedenen Attrappen nicht signifikant unterschieden, muß angenommen werden, daß bei den Puten eine unspezifische Empfindlichkeit gegen unbekannte Flugobjekte von einer bestimmten Größe bestehen, deren Unterscheidung in ihrer biologischen Bedeutung von der Häufigkeit ihres Auftretens abhängig ist. Schleidt zog deshalb die Schlußfolgerung, daß die Fluchtreaktion bei freilebenden Vögeln auf Raubvogelsilhouetten eine Folge der Gewöhnung an andere Flugobjekte ist. Im Laufe der Zeit läßt die Wirksamkeit dieser Reize nach, die nur noch eine Alarmbereitschaft oder überhaupt keine Reaktion mehr hervorrufen.

Gerade die außerordentlich weite Verbreitung der Gewöhnungsvorgänge stellt ihr eigentliches Problem dar, da sie gegenüber anderen Lernvorgängen abgegrenzt werden müssen, aber häufig zusammen mit ihnen auftreten und eine Unterscheidung oft recht schwierig ist. Wahrscheinlich ist der Vorgang der Habituation kein ständig gleichbleibender Gewöhnungsvorgang, sondern hat während der phylogenetischen Entwicklung eine zunehmende Komplizierung seiner zugrunde liegenden Mechanismen erfahren. Der unmittelbare Wirkungszusammenhang z. B. mit dem Ablauf bedingter Reflexe ist auch eine der Ursachen dafür, warum die Habituation relativ spät als eigenständige Lernform erkannt worden ist. So besteht etwa zwischen der Habituation und der Extinktion einer bedingten Reaktion im Prozeß verlauf weitgehende funktionelle Ähnlichkeit, da es in beiden Fällen zu einem Abklingen der Reaktionsstärke in einer sonst gleichbleibenden Situation kommt. Unter diesen Gesichtspunkten gewinnt die Frage an Bedeutung, ob es Tierformen gibt, die bedingte Reflexe nicht ausbilden können, aber in der Lage sind, sich ihrer Umwelt durch Habituation anzupassen. Die klassifikatorische Trennung der Habituation von anderen tierischen Lernformen würde damit zugleich einer wichtigen generellen phylogenetischen Entwicklungsstufe des tierischen Lernverhaltens entsprechen, in der Gewöhnung die einfachste Lernform überhaupt darstellt, wie dies 54

in dem Lernklassifikationssystem von Thorpe reflektiert wird. Diese strukturelle Primitivität des Gewöhnungsprozesses hat andererseits auch zu dem Standpunkt geführt, Habituation nicht mehr als Lernvorgang zu betrachten. Untersuchungen über das Verhalten von Protozoen gehören mit zu den ältesten empirischen Gebieten der Lernforschung überhaupt. Ihre Bearbeitung setzte um 1900 ein und führte zu zahlreichen teils reizphysiologisch teils lernpsychologisch ausgerichteten Untersuchungen (Jennings 1906, Loeb 1906, Kühn 1919). Trotz erheblicher methodischer Fortschritte wie z. B. der Einführung der Massenuntersuchungen von Populationen (Lepley & Rice 1952) ergeben sich aber auch zahlreiche technische und biologische Probleme, da z. B. Paramecien sich unter bestimmten Bedingungen bereits alle 24 Stunden teilen. Da auch durch die hohe Zahl der experimentellen Analyse noch keine definitive Entscheidung über die kausale Struktur des Lernverhaltens getroffen werden kann, ist wiederholt die Auffassung vertreten worden, die Frage nach Lernprozessen bei Einzellern sei falsch gestellt (Köhler 1933, Jensen 1954). Tatsächlich bleibt das Problem, ob die an dem Lernverhalten mehrzelliger Organismen aufgestellten Lernkategorien ohne weiteres auf die Reaktionen von Protisten übertragen werden dürfen oder ob damit nicht bereits eine Verfälschung des theoretischen Blickwinkels eintritt, da hier grundsätzliche phylogenetische und qualitative Unterschiede bestehen. Für eine phylogenetische Klassifikation des Lernverhaltens bleibt die Reaktionsfähigkeit von Protozoen durch zwei gegenwärtig nicht eindeutig entscheidbare Fragen von theoretischer Bedeutung: a. Besitzen Einzeller wie z. B. Paramecium oder Stylonychia assoziatives Lernen oder nicht? Im ersteren Fall wäre Signallernen dann auch ohne ein vollständig ausgebildetes Nervensystem möglich. b. Die nicht weniger grundsätzlichere Frage lautet, ob die verschiedenen Arten der Reizsensibilisierung bei Protozoen als Gewöhnungslernen interpretiert werden sollen oder nicht, was bei dem gegenwärtigen Wissensstand bedeuten würde, daß die Habituationsprozesse die phylogenetisch primitivste tierische Lernform sind. Die Unschärfe des Habitutionsbegriffs beruht nicht zuletzt darauf, daß eine Änderung des Verhaltens bei einer gleichbleibenden Reizsituation in dem Organismus durch sehr verschiedene Faktoren ausgelöst werden kann. Zu ihnen gehören unter anderem Steigerung oder Senkung der Hormonproduktion, Veränderung innerer Rhythmen, Steigerung oder Abschwächung der motorischen Reaktionsfähigkeit z. B. durch Muskelermüdung, nervöse Bahnung oder die Schwellenwertveränderung für eintreffende Reize. Die Erhöhung der Reizschwelle bei einem mehrmaligen Auslösen einer Verhaltensweise mit demselben Reiz kann sowohl durch eine Ermü55

dung des motorischen Apparates, durch das Absinken der Handlungsbereitschaft, durch den Verbrauch aktionsspezifischer Energie, aber auch durch eine Empfindlichkeitsverminderung entweder im Bereich der Sinnesorgane oder der afferenten Bahnen verursacht werden. Häufig kann eine Entscheidung darüber, ob es sich um eine Empfindlichkeitsverminderung in den reizspezifischen afferenten Bahnen des Auslösemechanismus (afferente Drosselung) oder eine physiologische Ermüdungserscheinung handelt, nicht getroffen werden, so daß auch keine Abgrenzung zwischen allgemeinen physiologischen Anpassungsprozessen und einem besonderen Lernverhalten als Gewöhnung möglich ist. Da die generelle Definition der Habituation als Abnahme der Empfindlichkeit gegenüber der Wiederholung eines konstanten Reizes nicht ausreicht, um die Gewöhnungsreaktion von anderen Empfindlichkeitsveränderungen zu unterscheiden, haben Hinde (1954) und Thorpe (1963) zwei positive Identifikationskriterien entwickelt: Die Reizspezifität der Gewöhnung (1) und die Zeitdauer, die zu einer Wiederherstellung der Empfindlichkeit vergeht (2). Die Sperrbewegungen von frisch geschlüpften Nestlingen der Singvögel läßt sich sowohl durch akustische, optische wie auch mechanische Reize auslösen. Wenn ein Reiz aus diesen Bereichen alle 4 s wiederholt wird, erfolgt nach einem bestimmten Zeitraum keine Reaktion mehr. Daß hier keine Verringerung der zentralnervösen Energie für das Einstellen der Verhaltensreaktion ausschlaggebend ist, kann dadurch nachgewiesen werden, daß bei einem Wechsel z. B. von der akustischen Reizung zu einer Erschütterung des Nestes die Sperreaktion wieder vollständig ausgelöst wird. Umgekehrt kann das Sperren auch durch akustische Reize wieder hervorgerufen werden, wenn die Bedeutungslosigkeit der Erschütterungen des Nestes, die in der natürlichen Umwelt durch das Anfliegen des Elterntieres auftritt, gelernt ist und keine Reaktion mehr auftritt. Die Unempfindlichkeit des Sinnesorganes kann dadurch ausgeschlossen werden, da der Nestling durch den Erschütterungsreiz zwar nicht mehr sperrt, dafür aber z. B. bestimmte Schutzreakti^nen ausführt. Ebenso hat bei dem Anneliden Nereis pelagica die Gewöhnung an eine mechanische Reizung keinen Einfluß auf die Empfindlichkeit gegenüber einer Reizung durch Veränderung der Lichtverhältnisse und umgekehrt. Hinde (1962) zeigte bei der Haßreaktion des Buchfinken auf Raubfeinde, daß hier die Gewöhnungsreaktion von der Spezifität der verschiedenen optischen Konfigurationen abhängig ist. Nach der Gewöhnung an die Anwesenheit einer Eule lebt die Haßreaktion bei einem Wiesel oder anderen Raubtieren wieder auf. Die reizspezifische Reaktionsabnahme als Gewöhnung, die, wie die zentrale Umstimmung als Verhaltensänderung bei gleicher Reizung zeigt, nicht auf einer Empfindlichkeitsabnahme der Receptoren beruht, kann damit von der reaktions56

spezifischen Abnahme einer Verhaltensweise aufgrund motorischer Ermüdungserscheinungen zumindest in einigen Fällen klar unterschieden werden. Dazu muß aber einschränkend gesagt werden, daß sich die Empfindlichkeitsabnahme als Lernprozeß nur selten rein aus den gleichzeitig mit ablaufenden Anpassungsprozessen herausheben läßt, da sich reaktionsspezifische und reizspezifische Veränderungen gegenseitig bedingen und häufig noch von übergeordneten zentralnervösen hemmenden oder fördernden Prozessen überlagert sind. Das zweite Kriterium, um den Prozeß verlauf der Habituation zu präzisieren, bezieht sich auf die Erholungsrate. Die Gewöhnung ist dadurch charakterisiert, daß zu ihrer Erholung im Gegensatz zu sinnes- und neurophysiologischen Regenerationserscheinungen ein längerer Zeitraum (Minute, Stunden, Tage) benötigt wird, während eine sensorische Adaptation von Receptoren als Folge einer mehrfachen Reizung im Sekundenbereich liegt. In der Ausdehnung des Zeitfaktors scheint auch ein wesentlicher Selektionsvorteil des Lernens durch Gewöhnung zu liegen, da es die Anpassung an neuartige Reize bedeutet, die für das Uberleben ohne entscheidende Bedeutung sind. Im Gegensatz zu den anderen Lernformen kommt es nicht zu einer aktiven Zuwendung, sondern zu einer Ausschaltung von Umweltreizen für das weitere Behalten. Das Besondere des Gewöhnungslernens besteht darin, auf bestimmte Reize nicht zu reagieren. Im einfachsten Fall besteht die Habituation deshalb auch in einer einfachen Abnahme der Intensität und der Zahl der Reaktionen, was Thorpe zu der Einschätzung als elementarster Lernform veranlaßte. Innerhalb der weiteren phylogenetischen Entwicklung wurden aber auch für dieses passive Reaktionsvermögen immer kompliziertere zentralnervöse Verrechnungsmechanismen notwendig, da dem Lernprozeß eine spezifische Reizbewertung zugrunde liegt. Die eigentliche Leistung des Gewöhnungslernens besteht in der Entscheidung, ob der ankommende Reiz für das weitere Verhalten, damit unter Umständen für das Uberleben, wichtig ist oder nicht. Fehlleistungen innerhalb des Gewohnheitslernens haben damit viel radikalere Folgen für die Selbst- und Arterhaltung wie das Ausbleiben einer >positiven< Lernleistung etwa durch Assoziation eines bisher neutralen Umweltreizes. Ein wichtiger Mechanismus, über den sich der Bewertungsaspekt des Reizes mit herausbildet, ist dabei die Zeitdauer des Einflusses, da mit zunehmender Wahrscheinlichkeit des Auftretens ohne eine entsprechende zentralnervöse Reaktionsbereitschaft die biologische Bedeutung zunehmend abnimmt. Neurophysiologisch bleibt das Lernen durch Gewöhnung gegenüber zahlreichen Begriffen abzugrenzen, von denen hier nur einige angeführt werden können. a. Schwierig bleibt die. Differenzierung zwischen Ermüdung und Habi57

tuation, da beide Reaktionstypen eine Reihe funktioneller Gemeinsamkeiten aufweisen, obwohl ihnen jeweils ein mehr physiologischer und mehr psychischer Status zugesprochen wird. Die Veränderung des dargebotenen Reizes führt in beiden Fällen zur Wiederherstellung der ursprünglichen Reaktionsstärke, ebenso ist die Reaktionsminderung jeweils von der Stimuluszahl abhängig. Sowohl für Ermüdungsprozesse wie für Habituation ist die Reizspezifität ein charakteristisches Merkmal ganz abgesehen von der allgemeinen Eigenschaft der Reaktionsminderung bei wiederholter Reizung. Daß beide Reaktionsformen doch unterschieden werden müssen, ist darin begründet, daß Ermüdungserscheinungen - gleichgültig, ob sie den afferenten, zentralnervösen, motorischen oder den effektorischen Bereich betreffen - allein auf physiologischen Adaptionsprozessen beruhen und nicht mit einer neuronalen Informationsspeicherung verbunden sind. Von der Verlaufsform her ist die physiologische Adaptation als Ermüdung ebenso wie die sensorische Adaptation gegenüber der Habituation durch ihre rasche Reversibilität gekennzeichnet. b. Die Gewöhnung als Lernprozeß muß außerdem von der Senkung der Handlungsbereitschaft von Instinkthandlungen unterschieden werden, die zwar angeborene Verhaltensforrnen sind, aber doch zu einer ähnlichen Einstellung der Reaktionsbereitschaft führen. Bei der Reduktion der Antriebsbereitschaft kann dabei der Ablauf der Instinkthandlung selbst triebreduzierend wirken z. B. durch die Veränderung des Blutzuckerspiegels, die Entleerung der Harn- oder Samenblase usw. Wenn z. B. ein Stichlingmännchen ein Gelege besamt, nimmt als Folge seine Bereitschaft zum Zickzacktanz für eine Stunde ab. Die Ursachen der Antriebsverringeruug sind dabei aber nicht eine effektorische Ermüdung der Muskeln, sondern spezifische Reizsituationen (ablaichendes Weibchen, Existenz des Nestes). Außerdem gibt es noch eine langfristige Abnahme des Sexualtriebes des Stichlingmännchens, die von der Anzahl der Besamungsvorgänge abhängig ist und zum Verlust der Antriebsbereitschaft für den Zickzacktanz führt. c. Neben der Unterscheidung von physiologischen Adaptionsprozessen und der Verminderung der Antriebsbereitschaft bei Instinkthandlungen ist auch die Abgrenzung gegenüber ähnlichen Lernprozessen notwendig. Eine besondere funktionelle Ähnlichkeit besteht zwischen dem Erlöschen eines bedingten Reflexes und der Empfindlichkeitsänderung als Gewöhnung. Wenn die Ausbildung eines bedingten Reflexes abgeschlossen ist und der bedingte Reiz wiederholt in Abwesenheit des unbedingten Reizes geboten wird, so verschwindet allmählich die Empfindlichkeit des Organismus für den bedingten Reiz (Extinktion). Das Tier kehrt zu seinem ursprünglichen Zustand zurück, so daß alle Spuren der Konditionierung verlorengegangen sind und der bedingte Reiz erst nach der Extinktion wieder eine gewisse Wirksamkeit erlangt. Die Extinktion ist ein aktiver Hemmungsprozeß, der 58

zu einer Unterdrückung des Funktionierens der bedingten Verbindung führt. Am schnellsten wirkt die Auslöschung dann, wenn vorher jede einzelne Antwort positiv belohnt worden ist, während bei einer nur gelegentlichen Bekräftigung die Resistenz gegenüber einer Hemmung wesentlich größer ist. Der wesentliche Unterschied zwischen der Extinktion, die von dem zeitabhängigen Vergessen, das langsamer abläuft, getrennt werden muß, und der Habituation ist darin zu sehen, daß bei dem Erlöschen ein bekräftigender Reiz entfernt wird, während bei dem Lernen durch Gewöhnung die Bekräftigung vom Beginn des Prozeßverlaufs an fehlt. Auch im receptorischen Bereich spielen Adaptationsprozesse, die vom Gewöhnungslernen unterschieden werden müssen, eine wichtige Rolle. Innerhalb des allgemeinen Prozesses der Reizempfindlichkeitsänderung gibt es dabei zwei grundsätzliche Reaktionstypen. Bei der Sensibilisierung wird durch die wiederholte Darbietung eines Reizes die Empfindlichkeitsschwelle für diesen Reiz gesenkt. Bei einem Lanzettfischchen (Amphioxus) kann z. B. mit intensivem Licht Flucht ausgelöst werden, während es auf geringe Intensitäten nicht reagiert. Wenn dem Vt ein schwacher Lichtreiz zusammen mit einem Elektroschock angeboten wird, reagiert es nach einiger Zeit mit Flucht. Da die Reiz-ReaktionBeziehung zwischen Licht und Flucht bereits vor der Versuchsdurchführung bestand, wurde durch das Experiment selbst lediglich die Auslöseschwelle herabgesetzt. Bei der Gewöhnung kommt es dagegen umgekehrt zu einer Erhöhung der Reizschwelle durch afferente Drosselung. Bei den verschiedenen sensorischen Adaptationserscheinungen an Receptoren handelt es sich ebenfalls um eine Veränderung der Schwellenreizstärke, die zu einem ähnlichen Prozeßverlauf wie im Gewöhnungslernen führt, jedoch physiologischer Natur ist. In der visuellen Wahrnehmung des Menschen gehören dazu z. B. die Dunkeladaptation, die Helladaptation und die Lokaladaptation, bei der die mittlere Leuchtdichte der Umwelt unverändert bleibt, aber einzelne Bezirke der Netzhaut unterschiedlich stark belichtet werden. Adaptationserscheinungen gibt es aber auch in allen anderen Sinnesbereichen. Wenn eine Vpn die Hand in warmes Wasser (33° C) hält, spürt sie zunächst eine ausgeprägte Warmempfindung, die aber bereits nach kurzer Zeitspanne wieder verlorengeht, obwohl die physikalische Wassertemperatur annähernd konstant geblieben ist. Erst wenn die Hand zurückgezogen und erneut eingetaucht wird, kommt es wiederum zu einer Warmempfindung. Eine ähnliche Anpassung gilt auch für die Kälteeempfindung, wenn bei hoher Umwelttemperatur der Körper in Wasser mit einer Temperatur von 25° C getaucht wird, da dieser Unterschied von Haut- und Wassertemperatur ebenfalls zunächst als >kalt< registriert wird, sich aber dann allmählich neutralisiert. Die Warm- bzw. Kaltempfindung wird nur solange aufrecht59

erhalten, bis eine Anpassung der Temperaturempfindung auf die neue Hauttemperatur erfolgt ist. Allerdings gilt diese Empfindungseinstellung nur in einem mittleren Temperaturbereich. Abkühlungen der Haut unter 20° C lösen eine permanente Kaltempfindung aus, ebenso die Erhöhung der Haut über 40° C eine dauernde Warmempfindung. Ein Überblick über die anderen Sinnesbereiche des Menschen zeigt, daß hier ebenfalls sowohl beiGeschmack wie etwa beim Gehör derartige Anpassungsprozesse auftreten, indem z. B. die Gehörschwelle erhöht wird. Am extremsten ist dieser Vorgang bei der Geruchsempfindung ausgebildet. Bei lang anhaltenden Reizen mit hoher Intensität kann nach einer bestimmten Zeit die Geruchsempfindung vollständig verschwinden. Eine Ausnahme bildet lediglich im Bereich der somato-visceralen Sensibilität die Schmerzempfindung, die wahrscheinlich nicht oder nur in einem geringen Maße adaptiert. Sinnesphysiologisch ist der Adaptionsvorgang damit wie die Gewöhnung als Abnahme des Reizerfolges innerhalb eines bestimmten zeitlichen Verlaufs bei konstanten Umweltbedingungen definiert. Wenn die Reizstärke ansteigt, so nimmt im allgemeinen damit auch die Amplitude des Receptorpotentials zu. Wenn der Reiz in seiner Stärke dann konstant bleibt, trifft dies für das Receptorpotential nicht mehr zu, sondern dieses nimmt ab und >gewöhnt< sich an den Reiz. Dieses Einschwingen auf die entsprechende Umweltbedingungen wird als sensorische Adaptation bezeichnet. Biokybernetisch entspricht das einer Proportional-Differential-Empfindlichkeit der Sinnesorgane, da sie bei dem Auftreten eines Reizes zunächst mit einer höheren Frequenz feuern und erst anschließend eine Einstellung zur Reizstärke als proportionales Erregungsmuster erfolgt. Die verschiedenen Receptoren unterscheiden sich vor allem in der Geschwindigkeit des Adaptationsvorganges. Dieser Anpassungsprozeß erscheint dann in der Entladungsfolge der afferenten Nervenfasern: Adaptation bedeutet hier Abnahme der Frequenz der Erregungsfolge bzw. Vergrößerung des zeitlichen Abstandes zweier benachbarter Nervenimpulse. Die selektionsspezifischen Vorteile betreffen dabei zwei Dimensionen der Informationsaufnahme; einmal die Orientierung des Organismus über die Stärke des eintreffenden Reizes, zum anderen aber auch über seine Änderung. Neurophysiologisch ist der Adaptationsvorgang allgemein in der Erhöhung des Schwellenwertes nach einer vorausgegangenen Reizung meßbar, wobei sich gleichzeitig beim Menschen die Intensität der Empfindung abschwächt. Nur durch die starke Adaptation der Mechanoreceptoren der Haut ist es so z. B. möglich, daß der Mensch Kleidung tragen kann ohne dadurch ständig taktil gereizt zu werden. Adaptation ist also keineswegs nur eine physiologische Abnutzungserscheinung von Receptorzellen, sondern eine sinnvolle Anpassung, in die eine aktive neutrale Komponente mit eingeht und damit im physiologischen Vorfeld viel komplizierterer Verhaltensänderungen wie dem Lernen angesiedelt ist. Der Rückgang der Entladungsfrequenz bei Dauerreizung entspricht einer biologischen Ökonomie der Informationsaufnahme und Verarbeitung: geringer Energieaufwand für wenig Impulse pro Zeiteinheit, Erhöhung des Reservoires für Meldungen einer generellen Änderung eines Reizzustandes und Schutz des ZNS vor Überlastung durch unwichtige Meldungen.

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2.2.2. Prägungsverhalten als limitierte Öffnung gegenüber Umwelteinflüssen Die Prägung gehört ebenso wie die Gewöhnung zu den systematisch relativ spät untersuchten tierischen Lernformen. Die Ursachen dafür sind sehr verschiedenartig. Ein Faktor, der sich eher hemmend als fördernd auswirkte, war, daß Prägungsprozesse von Craig und Heinroth zuerst bei nestflüchtenden Vögeln beschrieben wurden und keine Tatsachen vorlagen, die eine Übertragung auf das menschliche Verhalten gerechtfertigt hätten. Gegenwärtig sind Prägungsvorgänge auch bei Nesthockern unter den Vögeln wie Tauben und verschiedenen Arten der Prachtfinken (Estrildidae) bekannt. Immelmann (1970) hat umfangreiche Austauschexperimente mit dem autralischen Zebrafinken (Taeniopygia guttata castanotis) und dem Japanischen Möwchen (Lonchura striata) durchgeführt, in denen sowohl die Aufzucht von Zebrafinken durch Japanische Möwchen als auch umgekehrt die Aufzucht von Japanischen Möwchen durch Zebrafinken gelang, wenn den brütenden Vögeln jeweils die arteigenen Eier entfernt und die artfremden untergeschoben wurden. Nachweise für Prägungsprozesse in anderen Tiergruppen liegen bei den Evertebraten von Insekten, bei den Vertebraten von Reptilien, Fischen und Säugetieren, hier auch verschiedenen Primatenarten, vor, so daß dem Prägungsvorgang mit Sicherheit eine allgemeinere biologische Bedeutung zukommt. Ein weiteres Moment, was die wissenschaftliche Entwicklung der theoretischen Auffassungen mitbestimmte, war die Unklarheit darüber, ob der Prägungsprozeß ein Lernvorgang sei oder nicht. Die überwiegende Mehrzahl der biologischen und psychologischen Autoren, die experimentelle Untersuchungen über das Prägungsverhalten durchgeführt haben oder theoretische Modelle aufstellten, definieren die Prägung als Lernprozeß, für den allerdings mehrere besondere Kriterien angegeben werden. Während Eibl-Eibesfeldt (1972) in dem Prägungsprozeß ein allgemeines Beispiel für eine weitgehend programmierte Steuerung des Lernverhaltens sieht, die auf bestimmte Phasen der ontogenetischen Entwicklung beschränkt bleibt, differenziert Tembrock (1973) zwischen drei Stufen der Fixierung an den Artgenossen: der genetisch determinierten Selektion bestimmter Informationen (1), der Objektfixierung von Verhaltensweisen als Prägung (2) und prägungsabhängige sensorische Musterbildung durch Strukturierung der vom Prägungsobjekt ausgehenden Signale (3). Der Prägungsvorgang kann sich dabei auf Objekte in der Umgebung des Tieres beziehen (Objektprägung), oder der Lernprozeß erstreckt sich - wie bei dem Gesangserwerb einiger Singvogelarten - auf den motorischen Bereich, wobei jedoch eine genetische Präferenz für den arteigenen Gesang besteht. 61

Wenn z. B. ein Zebrafink von einem Japanischen Möwchen gefüttert wird, so lernt er den Möwchengesang unabhängig von weiteren akustischen Signalen, bei einer Fütterung von Zebrafinken und Japanischen Möwchen wird jedoch der Zebrafinkengesang gelernt (Immelmann 1971). Die theoretische Alternative, wie sie unter anderem von Hess (1959) diskutiert wird, wäre die Begründung einer selbständigen Verhaltensform von Tieren als Prägung, die sich in mehreren Merkmalen explizit von den anderen bekannten tierischen Lernformen unterscheiden müßte. Entscheidend für ein derartiges Vorgehen ist letzlich die Begrenzung oder Erweiterung der verschiedenen Lernkriterien, denn es steht außer Frage, daß der Prägungsvorgang über einige allgemeine Besonderheiten wie die extreme Stabilität des Gelernten verfügt, die wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem inneren Erregungs- und Aktivitätszustand stehen. Bei einer engeren Fassung des Lernbegriffs würde der Prägungsvorgang zu den Verhaltenskomplexen wie Neugierverhalten, Spielverhalten usw. gerechnet werden müssen, die bisher in der Verhaltenstaxonomie ebenfalls eine Sonderstellung zwischen den zwei großen Klassen von angeborenem und erworbenem Verhalten einnehmen. Die mitunter sehr widersprüchlichen Auffassungen über den Prägungsprozeß, die sich nicht nur auf die besondere jeweils ethologische und psychologische Perspektive gründen, da bei der Beobachtung über Prägungsprozesse beim Menschen auch psychoanalytische und medizinische Standpunkte miteingehen, haben zu einer intensiven methodischen Weiterentwicklung der Untersuchungsverfahren geführt, in der hier nur drei Entwicklungsabschnitte berücksichtigt werden können. In einer ersten Phase dominierte die systematische wissenschaftliche Beobachtung. Lorenz (1935) stellte bei dem Verhalten von Graugänsen nach dem Schlüpfen fest, daß, wenn ein Teil der Graugänse isoliert gehalten wird, die zweite Gruppe jedoch mit dem Muttertier in Berührung kommt, bei den isoliert gehaltenen Tieren die Tendenz auftritt, bewegten Gegenständen einer bestimmten Größenordnung, z. B. auch dem Versuchsleiter selbst, zu folgen. Wenn anschließend beide Gruppen wieder zusammengefaßt, von den >Muttertieren< getrennt und anschließend zusammengebracht wurden, so zeigte sich, daß nur die eine Hälfte der Gössel dem natürlichen Muttertier folgte, während die isoloiert von einer adulten Graugans aufgezogenen jungen Graugänse wieder dem Versuchsleiter folgten. Diese kurz nach dem Schlüpfen entstandene Verhaltensbindung zwischen Jungen und Mutterobjekt war nicht oder nur sehr schwierig zu korrigieren. Durch die Verhaltensbeobachtungen konnte festgestellt werden, daß sich der Prägungsvorgang immer nur auf eine bestimmte Reaktion z. B. als Nachfolgereaktion bezieht, deren jeweils auslösende Reizsituation in dem Prägungsprozeß determiniert wird. In der Regel verfügt das Mutterobjekt dabei über keine besonders auffallenden Merkmale, so daß eine weite genetische Disposition für das Hinzulernen von Reizen bei dem Jungtier besteht. Die Untersuchungen von Hess (1959) dokumentieren dann bereits den methodi62

sehen Übergang von der systematischen Verhaltensbeobachtung zum Experiment, durch das zahlreiche in der Beobachtung festgestellte Tatsachen weiter quantifiziert werden konnten. So konnte Hess nachweisen, daß junge Stockenten nur auf optische Merkmale geprägt werden, bei denen in Abhängigkeit von der Farbe ein unterschiedlich starker Prägungseinfluß besteht. Die technische Grundlage für quantitative Prägungsuntersuchungen war die Konstruktion eines Prägungsapparates, bei dem eine Stockerpelattrappe, die über einen Lautsprecher Lockrufe aussendete, in einer Kreisbahn mechanisch bewegt wurde. Die nach dem Schlüpfen zunächst im Dunkeln gehaltenen Küken wurden zu verschiedenen Zeiten auf die sich bewegende Attrappenapparatur gesetzt und mußten ihr eine Stunde lang folgen. Nach einer anschließenden erneuten Isolation wurde ihnen dann ein männliches und ein weibliches Elterntier als Attrappen zur Wahl angeboten. Dabei wurden vier Varianten benutzt. Entweder die Attrappen schwiegen und bewegten sich beide nicht (1), die Attrappen blieben unbewegt, riefen aber dabei (2), die männliche Attrappe blieb unbewegt und rief gegenüber der bewegten und rufenden weiblichen Attrappe (3), während bei einem vierten Test ein unbeweglicher und schweigender Erpel gegenüber einer weiblichen Attrappe angeboten wurde, die sich bewegte und rief (4). In allen vier Prüfungssituationen wurde die Reaktion auf den Erpel als positiv bewertet, bei der positiven Beantwortung der gesamten Testserie betrug der Prägungserfolg 100%. Nach einer bestimmten Periode kommt es durch auftretende Fluchttendenzen zu einer Verringerung der Lernleistung und zu einer Verringerung der Stabilität des Lernerfolges. Eine dritte methodische Untersuchungsebene des Prägungslernens deutet sich an, wenn durch die Verabreichung von Tranquilizern der Erregungsgrad des ZNS beeinflußt wird und es dadurch zu einer Veränderung auch des Prägungslernens kommt, indem z. B. bei einer Senkung der Erregung durch Pharmaka auch der Prägungseffekt schwächer nachwirkt.

Das Prägungslernen gehört zu den durch ethologische Beobachtungen gefundenen tierischen Lernformen (Heinroth 1911), was insofern keiner Erwähnung wert wäre, wenn durch die Bestimmungen des Prägungsprozesses (imprinting) nicht mehrere in psychologischen Lerntheorien verwendete Lernkriterien zurückgenommen bzw. zumindest relativiert werden müßten. In dem Klassifikationssystem des tierischen Lernens von Thorpe (1956) wird Prägung noch nicht als eigenständige Lernkategorie behandelt bzw. fällt überhaupt als Lernform aus. Lorenz (1935), der den Prägungsprozeß erstmals ausführlich untersuchte und damit praktisch in den wissenschaftlichen Diskussionsprozeß einbrachte, unterschied infolge des Vorherrschens behavioristischer Lernvorstellungen Prägung generell als eine besondere tierische Reaktionsweise von dem Lernverhalten. Die von ihm aufgestellten Kriterien des Prägungsprozesses, die durch zahlreiche experimentelle Untersuchungen (Bateson 1966, Klinghammer 1967, Schutz 1968, Immelmann 1970) präzisiert und eingeschränkt worden sind, dienten vor allem der Unterscheidung von dem Assoziationslernen als klassischer und 63

operanter Konditionierung. Während Lorenz sich lediglich der Nachfolgeund Geschlechtspartnerprägung zuwandte, ist gegenwärtig bereits ein ganzes System von Prägungsvorgängen bei Tieren bekannt. Buchholtz (1973) unterscheidet zwischen neurosensorischer Prägung, zu der sie die Lebensraumprägung, Nahrungsprägung und als Prägung auf Artgenossen die Nachfolgeprägung, Brutpflegeprägung und Geschlechtspartnerprägung rechnet, Prägungseinflüsse auf die Handlungsbereitschaft als agonistische und kohäsive Prägung und motorische Prägung. Die Ausklammerung der Prägung aus dem Lernverhalten hat sich nicht durchgesetzt, sondern einige behavioristische Lernvorstellungen mußten korrigiert und den neuen Befunden angeglichen werden. Das Interesse der Psychologie an der Entwicklung des tierischen Prägungslernens zeigen die zusammenfassenden Darstellungen von Sluckin (1972) und Hess (1973). Die Mehrzahl der experimentellen Befunde sind Daten über die Nachfolgereaktionen nestflüchtender Vögel wie Gänse- oder Entenküken, aber auch von Teichhühnern (Gallinula chloropus) und Bleßhühner (Fulica atra). Die Prägungsexperimente von Schutz (1965) über die Geschlechtspartnerprägung bei verschiedenen Arten erbrachte dabei eine weitgehende Abhängigkeit des Prägungsgrades von dem Verwandtschaftsgrad der jeweiligen Arten. Stockentenerpel konnten so auf Kolbenenten (Aythyini), Brandenten (Tardonini) und Gänse (Anderini), aber nur schwierig auf Haus- und Bankivahühner (Phasianidae) und Bleßhühner (Rallidae) in der Geschlechtspartnerprägung geprägt werden. Von anderen Vogelarten sind Silbermöwen (Larus argentatus) auf Nahrungsprägung, Halsbandschnäpper (Ficedula albicollis), Kurzschwanz-Sturmtaucher (Puffinus tenuirostris) und von Klopfer (1968) eine nordamerikanische Baumfinkenart (Spizella passerina) auf Lebensraumprägung untersucht worden. Auch die Navigationsleistungen der Lachse, die im Süßwasser geboren werden und dann in das Meer wandern, aber zum Ablaichen wieder in das Süßwasser wandern, beruhen wahrscheinlich auf einer olfaktorischen Prägung des Geburtsgewässers, was nur durch leistungsstarke chemische Receptoren und eine stabile Informationsspeicherung möglich ist (Hasler 1960). Der Zusammenhang zwischen Lebensraumprägung und Navigationsleistung, durch die beim atlantischen Lachs mehrere tausend Kilometer Distanz überbrückt werden müssen, konnte durch entsprechende Markierungsversuche noch nicht eindeutig geklärt werden. Daß auch Wirbellose bereits über prägungsähnliche Lernprozesse verfügen, zeigt die Aufzucht der Stubenfliege (Musca domestica) auf Fischmehl und reifen Bananenschalen. Die Imagines zeigten später eine signifikante Bevorzugung des entsprechenden Substrates für die Eiablage. Für die Reptilien sind Lebensraumprägung für die Suppenschildkröte (Chelonia mydas) und Nahrungsprägung für die Schnappschildkröte (Chelydra serpentina) nachgewiesen.

In der Psychologie wird der Lernbegriff häufig als permanente Verhaltensänderung eingeführt, die primär vom Auftreten eines bestimmten Stimulus abhängig ist, sonst aber keinen Beschränkungen unterliegt. Der Ausschluß eines derart steten Lernprozesses ist von Lorenz als ein Krite64

rium des Prägungsprozesses definiert worden, der damit zeitlich auf bestimmte sensible Perioden beschränkt ist, die bei Vögeln und Säugetieren häufig in dem Zeitraum kurz nach der Geburt liegen, aber sich nicht darauf beschränken. Bei Ziegen und Schafen existiert auch für die Muttertiere kurz nach der Geburt eine sensible Periode, in der eine olfaktorische Prägung auf das Jungtier erfolgt (Klopfer & Gamble 1966). Gleichgültig ob eine Prägung des Jungtieres auf Objekte oder Verhaltensweisen oder eine Prägung des Muttertieres im Zusammenhang mit der hormonell bedingten psycho-physischen Änderung im Funktionskreis der Brutpflege auftritt, ist die Zeitspanne der Verhaltensfixierung immer begrenzt und die Struktur des Lernprozesses innerhalb der ontogenetischen Entwicklung damit diskontinuierlich. Das zeitliche Ausmaß der sensiblen Periode ist dabei nicht nur zwischen verschiedenen Arten unterschiedlich, sondern mitunter bestehen auch innerhalb einer Art unterschiedliche Präferenzen für akustische und optische Reize. Entenküken z. B. sprechen nach dem Schlüpfen bei der Stockente (Anas platyrhynchos) zwar selektiv auf die Lockrufe der Elterntiere an, die optischen Merkmale des Elterntiers müssen jedoch im Prägungsprozeß gelernt werden (Hess 1959). Die Nachfolgereaktionen nestflüchtender Vögel sind im allgemeinen auf die ersten Lebenstage begrenzt. Wenn diese Zeit verstreicht, ohne daß ein Kontakt mit dem Elterntier bestand, kann das Jungtier nicht mehr geprägt werden. Hühnerküken folgen so einem sich bewegenden Gegenstand, der im Normalfall das Eltern tier ist, wenige Stunden nach der Geburt noch nicht, ebenso nach der sensiblen Periode nicht, wenn diese ohne Kontakt verstrichen ist, sondern nur während dieses zeitlich begrenzten Zwischenraumes. Bei dem Stockentenküken liegt die Periode der höchsten Prägbarkeit zwischen der 13. und 16. Stunde nach dem Schlüpfen, bei Schafen beträgt die sensible Periode 30. Minuten. Das Ende einer sensiblen Periode ist nicht dadurch gekennzeichnet, daß die Nachfolgereaktionen als wichtigstes Kriterium in ihrer Intensität schwächer werden, obwohl diese Erscheinung auch eintritt, sondern daß insgesamt weniger Individuen mit den gleichen Ausgangsbedingungen dem sich bewegenden Objekt nachfolgen. Der Prägungsvorgang beginnt bei dem Stockentenküken eine Stunde nach dem Schlüpfen und endet nach 32 Stunden (Hess 1959), wobei ein Maximum des Lernerfolges zwischen der 13. und 16. Stunde eintritt, die deshalb auch als kritische Periode bezeichnet wird. Die Ausdehnung des Prägungsvorganges macht es verständlich, warum Küken, die älter oder jünger sind, immer noch Lernleistungen zeigen, aber nicht mehr das Maximum erreichen. Als physiologische Faktoren, die den Beginn der sensiblen Periode mit bedingen, kommen bei der Nachfolgeprägung auf der Grundlage optischer Muster die Organisation der Retina, der Ausreifung des Nervensystems und der Entwicklung der lokomotorischen Möglichkeiten eine besondere Bedeutung zu. Es ist jedoch keines65

Alter in Stunden

Bild 8 Hypothetische und empirische Kurve für die sensible Periode bei Küken und jungen Enten. Schraffierte Flächen zeigen den Prozentsatz von Tieren, die sich in einer Standardreaktion weiter als 1 m in der Minute bewegen und den Teil, der Angstreaktionen zeigt. Die karierte Fläche unter beiden Kurven ist eine hypothetische sensible Periode, die davon ausgeht, daß die sensible Periode durch diese beiden Faktoren begrenzt ist. Die empirisch gefundene Kurve ist für junge Enten gestrichelt, für Küken ausgezogen. Aus Hinde (1973) nach Hess wegs so, daß der Eintritt in die sensible Periode einem starr fixierten genetischen Entwicklungsplan folgt. Schneiria & Rosenblatt (1963) zeigten am Saugverhalten junger Katzen, daß ein deutlicher Verhaltensunterschied zwischen isoliert aufgewachsenen und mit Geschwistern aufgezogenen Tieren besteht, da der Kontakt auch zu einer Änderung des Annäherungsverhaltens führt. Auch für junge Kohlmeisen ist nachgewiesen, daß ihre Reaktivität auf bemalte Objekte bis zu 15 Wochen ansteigt und dann wieder abfällt, wobei diese Verhaltensänderung durch die Erfahrungsbildung mit beeinflußt werden kann. (Vince 1964). Der Eintritt in die sensible Periode ist damit bei bestimmten Lernprozessen auch von der Erfahrungsbildung abhängig und kann durch sie verschoben werden. Das gleiche gilt für das Ende der sensiblen Periode, die bei Hühnerküken durch isolierte Aufzucht verlängert werden kann. Während des Lernens in der sensiblen Periode wird ein bestimmtes Verhaltens- oder Objektschema aufgebaut, dessen Identifikation mit wirklichen Objekten die Nachfolgereaktion auslöst, sonst aber Fluchtverhalten. Das Prägungslernen beendet damit unter natürlichen Bedingungen die sensible Periode durch den Lernprozeß selbst. 66

Am Ende des Prägungsprozesses ist damit eine Tendenz entstanden, dem Muttertier oder dem Testobjekt zu folgen, die gleichzeitig von der Ausbildung der Verhaltenstendenz begleitet ist, bei Abweichungen von dem in der sensiblen Periode erworbenen Reaktionsschema Flucht auszulösen. Während des Prägungsvorganges kommt es zu einer Gewöhnung an Gegenstände aus der Umgebung des Tieres, die von der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens abhängig ist.

Wenn ein Tier in der sensiblen Periode eine spezifische Präferenz für ein Muster entwickelt hat, dann endet nicht nur seine Lernbereitschaft, sondern es hält auch in einer für das Prägungslernen typischen Stabilität an dem bereits Gelerntem fest. Mit der Ausbildung der Nachfolgeprägung kommt es zu einer zunehmenden Bevorzugung einer Signalquelle. Huftiere oder optisch geprägte Hühner- und Entenküken, die auf den Menschen geprägt wurden, lassen sich nur schwer wieder an den Artenossen anschließen. Lorenz hat deshalb die Irreversibilität des Lernprozesses zu einem wesentlichen Kriterium des Prägungsprozesses erhoben, was zu einer Problematisierung all der Lernvorstellungen führt, die den Lernvorgang am Ausmaß des Vergessens von anderen Verhaltensänderungen unterscheiden wollen. Die Besonderheit des Prägungslernens gegenüber der Assoziationsbildung bedingter Reaktionen besteht darin, daß die in einem kurzen Zeitraum gebildete Erfahrung effektiver ist als die kontinuierliche Verteilung über einen längeren Zeitraum, was durch die intensive Speicherung erklärt werden kann. Bei einigen Stockentenküken genügt während der sensiblen Phase eine Lernzeit von einer Minute, um eine Objektbindung herzustellen, die dann bis zu zehn Tagen durch die Nachfolgereaktion nachgewiesen werden konnte (Schutz 1964). Während einige Buntbarscharten arteigene von artfremden Jungen, die gefressen werden, auf der Grundlage angeborener Dispositionen unterscheiden können, wird der Buntbarsch Hemichromis bimaculatus zu Beginn des Brutzyklus auf die eigenen Nachkommen als Objekt der Brutpflegehandlungen geprägt. Bei einer Fehlprägung durch ein Vertauschen der Eier kommt es zu einer irreversiblen Objektprägung, die auch während der nachfolgenden Brutzyklen aufrechterhalten wird (Myrberg 1964). Bei der motorischen Prägung, die für das Erlernen von Gesangsvariationen bei mehreren Singvögeln nachgewiesen ist, wird der Erwerb des Lautmusters häufig bereits abgeschlossen, bevor der eigene Gesangbeginn möglich ist, so daß eine mehrmonatige >stille< Speicherung dazwischenliegt. Von den nichtmenschlichen Primaten liegen über mehrere Arten Daten über die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung und Störungen durch Entzugserscheinungen vor. Am ausführlichsten sind hier bisher die Folgen der Mutterentbehrung bei Rhesusaffen untersucht worden, einmal weil diese Primatenart relativ günstig in Gefangenschaft gehalten werden kann, zum anderen aber auch durch die weitgehende Parallelität der ontogeneti67

sehen Entwicklung bei jungen Rhesusaffen und Säuglingen (Harlow & Harlow 1962, Spencer Booth, Minde & Bruce 1965, Kaufmann & Rosenblum 1969). Die Beobachtungen wurden entweder an Tieren gemacht, die isoliert in relativ kleinen Käfigen lebten, dadurch aber in ihrem Verhalten gut kontrolliert werden konnten, oder die Tiere wurden in Gruppen zusammengefaßt, die aus jeweils einem Männchen mit 3 bis 4 Weibchen und ihren Jungen bestanden, deren Verhalten dann mit Reaktionen freilebender Rhesusaffen verglichen wurden. Nach diesen Experimenten besteht kein Zweifel mehr, daß die sozialen Bedingungen, unter denen der junge Rhesusaffe aufwächst und der Zeitpunkt, zu dem er die ersten sozialen Erfahrungen mit Artgenossen sammelt und Kontakte herstellt, für die Ausbildung eines normalen Sozial- und Sexualverhaltens von großer Wichtigkeit sind. Reger Sozialkontakt in den ersten Lebenswochen und -monaten ist wahrscheinlich mit prägungsähnlichen Lernprozessen verbunden, deren Störung durch soziale Deprivation die Ursache späterer motorischer und psychischer Abnormitäten im Verhalten ist. Der Grad der psychischen Schädigung steht dabei in einem gesetzmäßigen Verhältnis zum Ausmaß und dem Zeitraum der sozialen Isolation. Harlow (1959) hat verschieden intensive Trennungsverfahren von jungen Rhesusaffen von der mütterlichen Umgebung experimentell hergestellt. Keine Abweichung von der Normalentwicklung ergab sich dabei, wenn die Tiere etwa zehn Stunden nach der Geburt von den Müttern getrennt wurden und sie entweder durch Menschen weiter aufgezogen wurden oder eine künstliche Ersatzmutter aus weichem Material und mit Nahrungsfunktion den sozialen Kontakt stellvertretend übernahm. Ein zweiter Schritt brachte mit der Differenzierung der Ersatzmütter als Stoff- und Drahtattrappe eine weitere Verschärfung der sozialen Isolation. Wenn die Stoffmutter gleichzeitig Nahrungsquelle war, blieb die Drahtattrappe weitgehend unbeachtet. Diese Bevorzugung, die zu einem Konfliktverhalten führt, wenn die Milch über die Drahtattrappe angeboten wurde, wird von Harlow dahingehend interpretiert, daß für eine normale Mutter-Kind-Beziehung bei Primaten nicht nur die Nahrungsaufnahme wichtig ist, sondern eine Dominanz des Kontaktbedürfnisses besteht. Die Stoffattrappe wird von den Rhesusaffen gleichzeitig als Sicherheitsfaktor bewertet, dessen Wegnahme zu ängstlichen Reaktionen und zur Bewegungslosigkeit führen können. Ebenso wie von den stoffbezogenen Ersatzmüttern Erkundungsversuche gegenüber der näheren Umgebung und fremden Objekten unternommen werden, erfolgt bei kritischen Situationen ein Rückzug auf die Stoffattrappe. Wenn die Isolation zwischen der natürlichen Mutter und dem jungen Rhesusaffen über sechs Monate nach der Geburt dauert, kommt es trotz der Anwesenheit von stoffbezogenen Ersatzmüttern, durch die das Kontakt- und Nahrungsbedürfnis befriedigt werden kann, zu irreversiblen Schädigungen der psycho-sozialen Entwicklung. Im Grad der Abnormalität des Verhaltens zeigen sich zwischen den an Drahtund den an Stoffattrappen aufgezogenen Rhesusaffen nur geringfügige Unterschiede. Teilweise umklammerten die Tiere sich selbst, zeigten verschiedene Arten von stereotypem Verhalten wie Kriechbewegungen oder permanente schaukelnde Bewe68

Durchschnittliches Alter

Bild 9 Durchschnittliche Zahl von Stunden pro Tag, die isoliert aufgezogene junge Rhesusaffen an Stoffmütter bzw. Drahtersatzmütter angeklammert verbringen. Nach Harlow & Zimmerman (1959) gungen oder lutschten am Daumen. Der soziale Kontakt mit der Umgebung ist hochgradig gestört und es entstehen zahlreiche neuroseähnliche Symptome. Neben einem teilnahmslosen Dasitzen und Vorsichhinstarren kommt es bei Kontakt mit normal aufgewachsenen Rhesusaffen häufig zu aggressiven Aktionen, aber auch Selbstverletzungen treten auf. Auch eine jahrelange Gewöhnung an normale Rhesusaffen führte nicht mehr zu sexuellen Spielen und Paarungsverhalten. Die unter besonderen Bedingungen doch herbeigeführten Paarungen zeigten an Attrappen aufgezogenen Müttern eine Störung der Mutter-Kind-Beziehung, da sich die Weibchen aggressiv oder desinteressiert gegenüber den Nachkommen verhielten. Männliche Rhesusaffen spielen gegenüber Jungtieren eine geringe Rolle, da sie die Beschützung des Trupps und die Schlichtung der Streitigkeiten zwischen den Weibchen übernehmen. Zu den Verhaltensstörungen der weiblichen Tiere muß auch gerechnet werden, daß die Mutter-Kind-Bindung durch die Aktivität des Muttertieres nicht gelöst wird, da sie diese im natürlichen Verband vorkommende Form der Kontaktlösung durch die Bindung an die Attrappe selbst auch nicht vollzogen worden ist. Wie intensiv die Kommunikation zwischen Jungtier und Mutter im Normalfall ist, zeigt die Tatsache, daß die Entfernung des Muttertieres auch für wenige Tage bereits zu einer Reduktion der allgemeinen Aktivität und des Spielverhaltens des jungen Rhesusaffen führt.

Die Frage, ob die Prägung als ein Spezialfall des assoziativen Lernens zu deuten ist oder ob sie sich vom Konditionierungsprozeß in grundlegender Weise unterscheidet, kann noch nicht eindeutig beantwortet werden. Dazu kommen besondere interne Probleme des Prägungsprozesses wie die Frage, ob es sich bei der Objektprägung und der Prägung auf bestimmte Verhaltensweisen um den grundsätzlich gleichen Lernmechanismus handelt. 69

Hinde (1973) weist auf mehrere Faktoren hin, die Gemeinsamkeiten zwischen dem >perceptiven Lernen< und dem Prägungsprozeß hervorheben, wie z. B. die Unabhängigkeit der Reaktion auf einen Reiz von einer Assoziation mit einer Belohnung. Die Tiere folgen danach einem Gegenstand um so eher, je auffallender dieser ist. Außerdem besteht die Tendenz, sich einer Stimulationsquelle mit niedriger Reizintensität zu nähern, hohen Reizintensitäten dagegen auszuweichen. Andererseits gibt es mehrere Lernexperimente, die zeigen, daß das Jungtier eine Vorliebe für das Objekt entwickelt, über das eine Bekräftigung ausgelöst wird. So müssen nach einer Prägung auf bewegte farbige Attrappen junge Enten nach einer Taste hacken, um das Prägungsobjekt zu sehen. Die Konfrontation mit dem Prägungsobjekt nach dem Hacken führte dann zu einer Verstärkung der motorischen Aktion (Peterson 1969). Offensichtlich wirken Prägung und instrumentelle Konditionierung unmittelbar zusammen, wobei die Prägung oder insofern die Konditionierung determiniert, als über sie entschieden wird, welche Reize eine bekräftigende Wirkung besitzen. Daß einem Gegenstand, auf den ein Küken geprägt wird, eine bekräftigende Wirkung im Sinne der instrumentellen Konditionierung zukommen kann, ist sowohl durch Lernexperimente in T-Labyrinthen wie auch durch Wahlversuche mehrfach nachgewiesen worden. Allgemein nimmt dabei die Bereitschaft eines Tieres, einem Objekt zu folgen, mit dem Erfahrungsgrad zu. Die zahlreichen Besonderheiten des Prägungsprozesses, die als allgemeine Voraussetzungen den Konditionierungsablauf in seiner Richtung erst bestimmen, haben dazu geführt, daß zumindest in den ethologisch orientierten Lernklassifikationen der Prägungsvorgang als selbständige Lernkategorie betrachtet wird (Tembrocfe 1973, Eibl-Eibesfeldt 1972, Buchholtz 1973). Argumente dafür sind: a. Die besondere biologische Funktion eines inneren physiologischen Erregungszustandes, aus dem Hypothesen über die angstreduzierende Eigenschaft der Nachfolgereaktion (Moltz 1963) oder die charakteristische Stabilität der Informationsspeicherung beim Prägungsprozeß abgeleitet werden. Klix (1973) kommt z. B. zu der hypothetischen Annahme, daß alle die Verhaltensweisen prägbar sein müßten, deren Ablauf bei spezifischen Situationsmerkmalen zur Lösung hoher Erregungszustände führt. b. Die genetische Disposition einer zeitlich begrenzten Phase der Lernbarkeit, die das Prägungslernen von fakultativen Lernformen wie z. B. der klassischen oder instrumentellen Konditionierung unterscheidet. c. Spezifische Eigenarten gegenüber besonderen Lernformen wie der Konditionierung. Dazu wären etwa zu rechnen, daß z. B. der Buchfink und andere Singvögel den Gesang zu einer Zeit lernen, in der sie selbst noch nicht singen können, diese Information aber speichern. Zwischen input und output liegen damit extrem lange Zeiträume, die nicht mehr sinnvoll mit 70

dem Reiz-Reaktion-Zusammenhang der bedingten Reaktion in Zusammenhang gebracht werden können. Dazu zählt auch das Ausbleiben der Extinktion beim Prägungsprozeß, während konditionierte Reaktionen ohne Bekräftigung allmählich erlöschen. Erstaunlich ist ferner die Tatsache, daß in der sensiblen Phase mit dem Prägungsobjekt zusammen angebotene Schmerzreize den Lernvorgang als Nachfolgereaktion positiv beeinflussen, während bei der Konditionierung ein Fluchtverhalten ausgelöst werden würde. Ebenso können Prägungsmodelle, die zunächst Angst auslösen, nach einer bestimmten Gewöhnungsphase zu Folgereaktionen führen. Dagegen wird häufig auch in modernen psychologischen Lernklassifikationen versucht, die Prägung in andere Lernkategorien aufzulösen. Klix (1973) stellt den Prägungsvorgang im Rahmen grundsätzlicher Modellüberlegungen über organismische Lernprozesse in die Nähe der bedingten Reaktionen und spricht sich gegen eine Sonderstellung aus. Gerade die Berücksichtigung der allgemeinen biologischen Strukturmerkmale des Prägungsvorganges zeigt aber, daß die >Zwischenstellung< des Prägungslernens, die zu ganz verschiedenartigen Einordnungen in die Lernklassifikationen führt, auf faktischen Besonderheiten gegenüber angeborenem und erlerntem Verhalten beruht. In der phylogenetischen Entwicklung selbst kann dem Prägungslernen kein bestimmter Status im Sinne einer systematischen Tiergruppe zugeordnet werden, sondern hier wirken wahrscheinlich besondere Aufzuchtbedingungen der Nachkommen fördernd auf die Auslese von Prägungsmöglichkeiten ein. Die Schlupfwespe Nemeritis canescens, deren Larven auf der Motte Epestia parasitieren, lokalisiert den Wirt gewöhnlich durch den Geruch (Thorpe 1963). Wenn die Wespen auf neuen Wirten wie z. B. der Larve von Meliphora aufgezogen werden, eigneten sie sich die Empfindlichkeit gegenüber dem Geruch dieser Larve an, blieben aber auch gegenüber dem Geruch des normalen Wirtes Ephestia sensibel. Dieser Versuch zeigt, daß bereits bei Insekten prägungsähnliche Prozesse mit besonderen Bereitschaftsperioden der Empfindlichkeit gegenüber Reizeinflüssen im Zusammenhang mit ihrer allgemeinen Verhaltensbiologie möglich sind, deren Einflüsse dann wieder bei den eierlegenden adulten Tieren auftreten. Bei den nestflüchtenden Vögeln sind diese Prägungsprozesse besonders zahlreich ausgebildet, während Angaben über Prägungsprozesse bei Säugetieren, bis auf die systematischen Untersuchungen an Primaten, nur vereinzelt vorliegen. Der Erwerb des adulten Motivgesanges bei Vögeln durch das Hinzulernen neuer Gesangsmerkmale neben dem angeborenen Strophengerüst läßt sich aber nicht mehr aus den Notwendigkeiten der Aufzucht erklären, sondern unterliegt allgemeineren Selektionsvorteilen. Im Grund ist bereits die Vielseitigkeit der Prägungsformen, wie die olfaktorische Prägung auf Nahrungsobjekte, Prägungsprozesse im Zusammenhang 71

mit dem Ablaichen bei Fischen oder die motorische Prägung, ein Hinweis auf den positiven Selektionswert unter bestimmten Lebens- und Aufzuchtbedingungen. Besonders mannigfach sind aber Prägungsvorgänge im Bereich des sozialen Kontakts mit Artgenossen, wie die Brutpflegeprägung, die Geschlechtspartnerprägung oder die Prägung auf Artgenossen. Zunächst soll aber kurz der Selektionswert des Prägungsvorganges gegenüber dem angeborenen Verhalten aufgrund seiner Struktureigentümlichkeiten hervorgehoben werden. Die Klasse des angeborenen Verhaltens stellt, biokybernetisch betrachtet, einen nahezu geschlossenen Regelkreis dar: Das Auftreten eines Schlüsselreizes führt zu einem nicht modifizierbaren Reaktionsablauf. Instinktive Verhaltensweisen sind deshalb stereotyp, da Bewegungsmuster (Nestbau, Nahrungsaufnahme usw.) bei allen Vertretern einer Spezies gleich sind, und einmal ausgelöst in ihren Verlaufsdetail mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagbar. Von dem Ausmaß ihrer Beweglichkeit und der Strukturänderung her gesehen erscheinen derartige geschlossene Verhaltensstrukturen als konservativ. Durch den langen Zeitraum der Selektion sind die angeborenen Verhaltensweisen jedoch für das entsprechende Biotop optimal angepaßt. Ein Abweichen vom Arttypischen wäre für das einzelne Individuum mit dem Absinken der Vollkommenheit verbunden. Der Nachteil der angeborenen Verhaltensorganisation ist die Unfähigkeit, auf relativ kurzfristige Umweltänderungen mit entsprechenden Anpassungsschritten zu reagieren. Durch die große Geschlossenheit des Regelsystems Individuum-Umwelt funktioniert das Schlüssel-Schloß-Prinzip von Reiz und Verhaltensauslösung nicht mehr, was zur Vernichtung der Art durch die natürliche Auslese führen kann. Das tierische Lernverhalten stellt dagegen den Typus eines offenen Regelkreises dar, in dem eine Umweltänderung eine entsprechende Anpassung im Verhalten hervorruft. Durch die Plastizität des Verhaltens können vielseitigen Änderungsprozessen entsprechend vielseitige Anpassungsstrategien gegenübergestellt werden. Die Optimierung innerhalb des ultrastabilen Systems Organismus-Umwelt führt zu kurzfristigen Reaktionsmöglichkeiten, die auch das individuelle Uberleben des einzelnen Vertreters der Art sichern. Das Prägungslernen stellt gegenüber diesen zwei Idealfällen eines weitgehend geschlossenen Verhaltenskreises, z. B. als Instinkthandlung, oder des maximal gegenüber der Umwelt geöffneten Regelkreises, z. B. als Werkzeugbenutzung, Lernen durch Einsicht oder problemlösendes Verhalten, eine Mischform dar, die praktisch an beiden Kriterien gemessen werden muß. Gegenüber dem geschlossenen, instinktiven Funktionskreis ist der Erwerb einer sensiblen Phase als Lernphase ein Evolutionsfortschritt. 72

Dabei wird die Geschlossenheit des instinktiven Verhaltens zwar durchbrochen, aber nicht vollständig aufgegeben. Der Öffnungsgrad ist genetisch determiniert, kann aber durch Erfahrungsbildung selbst wieder in bestimmten Grenzen modifiziert werden. Der Selektionsvorteil besteht in dem kurzfristigen Lernen von Umweltänderungen zwischen den Generationsfolgen. Einige Faktoren begünstigen den Öffnungsprozeß. a. Als ein wesentliches Merkmal des Prägungsvorganges wird von Lorenz (1935) das Lernen von Artmerkmalen aufgefaßt, obwohl hier Einschränkungen notwendig sind, da wahrscheinlich vor allem bei höher entwickelten Säugern auch Prägungen auf individuelle Merkmale möglich sind. Im allgemeinen gelten für die Reizstrukturierung aber nur generelle Kennzeichen, was die Prägung auf sehr verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten z. B. eines optischen Musters gestattet. Ein Küken etwa folgt einem blauen Objekt leichter als einem roten und zieht dieses wiederum einem gelben vor (Hess 1959). Bei einem zu großen Objekt können Fluchtreaktionen ausgelöst werden, bei einem zu kleinen wird danach gepickt. Ein wesentliches optisches Prägungsmerkmal ist, daß sich das Prägungsobjekt bewegt. Die Unspezifität des Reizmusters, die so verschiedenartige Nachfolgereaktionen wie auf das Muttertier und den Menschen ermöglichen, ist unter natürlichen Entwicklungsbedingungen ein Vorteil, durch den die Kürze der Lernphase in bestimmten Grenzen kompensiert werden kann. b. Der Lernprozeß während der sensiblen Periode wird außerdem dadurch erleichtert, daß sich das Prägungsobjekt, unter natürlichen Bedingungen das Muttertier, in der unmittelbaren Umgebung des Kükens befindet. Dadurch verringert sich die Wahrscheinlichkeit, daß die günstige Lernphase ungenutzt verstreicht. c. Durch den Prägungsvorgang wird der Anpassungsvorgang besonders innerhalb mehrgliedriger sozialer Selektionsbeziehungen wesentlich dynamischer, da etwa die Veränderung im Gefieder oder der akustischen Signale des Elterntieres durch den Prägungsvorgang aufgefangen werden kann und nicht die Kontakte von Jungtier und Elterntier während der Brutpflege belastet. Gleiches gilt für die Geschlechtspartnerprägung, bei der eine verschiedene Anpassung möglich ist, während sonst dem Anpassungsdruck durch eine veränderte Umwelt die biologische Fixierung der Partnerbeziehungen gegenübersteht. Der Prägungsvorgang ermöglicht außerdem eine kurzfristige Anpassung während der ontogenetischen Entwicklung, was seine positive Selektion innerhalb der Gruppe nestflüchtender Vögel bestätigt. Bereits wenige Stunden nach dem Schlüpfen ist eine vollständige Orientierung notwendig, in der das Muttertier eine Schlüsselstellung einnimmt. Die Fixierung an das Elterntier, dessen Verhalten ein Maximum an Anpassung darstellt, ermöglicht eine Partizipation an dessen biologischer Erfahrung, die wiederum durch eine möglichst enge Beziehung sicherge73

stellt wird. Dieses Bild einer progressiven Organisationsform tierischen Verhaltens, das durch den Bezug auf angeborene Organismus-Umwelt-Beziehungen entsteht, ändert sich aber, wenn der Prägungsvorgang entwickelteren und damit offeneren Lernformen gegenübergestellt wird, unter denen er dann durch seinen weitgehend noch geschlossenen Charakter als konservativ hervorsticht. a. Abgesehen von der zeitlichen Begrenzung, die für andere Lernformen in diesem Maße nicht typisch ist, erfolgt auch in der sensiblen Phase die Öffnung gegenüber der Umwelt akzentuiert unter mehrfacher Sicherung. Bei der Prägung des Entenkükens ist das Zusammenspiel von akustischen und optischen Reizen für die Optimalität der Nachfolgereaktion entscheidend. Die Öffnung gegenüber der Umwelt durch eine Prägungsperiode kann dadurch kontrolliert werden, indem etwa akustisch durch Stimmfühlungslaute der Kontakt auf der angeborenen Kommunikationsebene hergestellt wird, während optisch ein Lernprozeß durch Prägung möglich ist. Das Prinzip einer doppelten Sicherung kann die Risiken der Umweltöffnungen mindern, indem in diesen Prozeß selbst wieder geschlossene Strukturelemente eingebaut sind. b. Schutz (1965) kommt nach seinen Untersuchungen an Enten zu der Auffassung, daß unter natürlichen Bedingungen bei unterschiedlich gefärbten Weibchen und Männchen nur die Männchen sexuelle Prägungsprozesse vollziehen, während Weibchen experimentell nicht prägbar sind. Die Wahl des Geschlechtspartners erfolgt bei ihnen auf der Grundlage eines AAM. Dagegen sind bei der chilenischen Krickente (Anas flavirostris), bei der Weibchen und Männchen unauffällig gefärbt sind, sowohl das Weibchen wie der Erpel sexuell auf andere Arten prägbar. Die einseitige Prägung im Zusammenhang mit der Ausbildung auffälliger und äußerst artspezifischer Musterungen der Erpel kann ebenfalls als arterhaltende Funktion verstanden werden. c. Ein weiteres konservatives Element innerhalb der partiellen Umweltöffnung ist die weitgehende Irreversibilität des in der sensiblen Phase gelernten Musters. Homosexuell geprägte Stockerpel lassen im adulten Stadium einen stabilen Prägungseffekt erkennen, der auch durch die mißlingenden Begattungsversuche mit dem Erpel der eigenen oder der fremden Art nicht beeinträchtigt wird (Schutz 1965). Durch die Unveränderlichkeit der gelernten Erfahrung wird die weitere ontogenetische Entwicklung in quasi-genetischer Weise determiniert. Nach der allgemeinen Verhaltensorganisation besitzt der Prägungsvorgang eine charakteristische Doppelnatur: einmal die partielle Umweltoffenheit, die gegenüber den Instinkthandlungen bei kurzfristigen Umweltänderungen einen positiven Anpassungseffekt bewirkt. Häufig besteht 74

dabei, wie bei Baumenten, die ihre Eier in Baumhöhlen ausbrüten und die Jungen dann akustisch ins Wasser locken, ein enger Zusammenhang zwischen den spezifischen Mechanismen der Prägung und der besonderen Lebensweise der betreffenden Art. Zum anderen erscheint bei dem Prägungsvorgang gegenüber anderen tierischen Lernformen die zeitliche Beschränkung und die Stabilität des Gelernten als relativ geschlossen und als Ubergang zu angeborenen Verhaltensstrukturen. Der besondere Selektionsvorteil des Prägungslernens ist gerade darin zu sehen, daß jeweils die Vorteile offener und geschlossener Regelkreise des Verhaltens unter Vermeidung ihrer Nachteile und der Berücksichtigung der artspezifischen Lebensumstände kombiniert werden. 2.2.3. Problemlösendes Verhalten bei Tieren (Lernen durch Einsicht) In klassifikatorischer Hinsicht stellt das einsichtige Lernen bei Tieren ein ähnliches Zuordnungsproblem dar wie das Gewöhnungslernen: Während sich im letzteren Fall ein Abgrenzungsproblem >nach unten< gegenüber bloß physiologischen Anpassungsproblemen ergibt, muß die Existenz problemlösenden Lernverhaltens als ein Aspekt des Tier-Mensch-Vergleiches und hier besonders des Uberganges vom Psychischen zum Bewußtsein betrachtet werden. Lernen durch Einsicht ist die komplizierteste Möglichkeit einer individuellen psychischen Anpassung tierischer Organismen an die Umgebung. Gegen die Annahmen eines einsichtigen Verhaltens bei Tieren, das aber als Terminus technicus in der Ethologie und Lernpsychologie eine weite Verbreitung gefunden hat, ist gelegentlich der Vorwurf des Anthropomorphismus erhoben worden, hinter dem sich theoretisch häufig die Vorstellung verbirgt, daß sich ausschließlich humane Lernformen finden lassen müßten, die scharf gegen das tierische Lernverhalten abgegrenzt werden können. Ebenso wie für andere zunächst spezifisch menschlich angesehene allgemeine Lernprozesse (z. B. Lernen durch Wahrnehmung, Begriffsbildung usw.) haben sich aber auch für das problemlösende Verhalten zahlreiche naturgeschichtliche Vorstufen finden lassen, die keineswegs nur auf Schimpansen begrenzt sind. Köhler, der mit Untersuchungen von 9 Schimpansen von 1912-20 auf einer Forschungsstation in Teneriffa die empirischen Grundlagen für weitere Experimente über höhere psychische Prozesse bei nichtmenschlichen Primaten schuf, nennt als einen Grund seines Forschungsinteresses das Problem, inwieweit die anatomisch und biochemisch festgestellte phylogenetische Verwandtschaft zwischen Menschenaffen und Mensch Einfluß auf die Organisation cognitiver Strukturen hat. Ähnliche Untersuchungen, allerdings ohne die gestalttheoretische Interpretation Köhlers, hatte auch Yerkes (1926) durchgeführt, der sich für die später im englischen Sprach75

gebrauch übliche Bezeichnung >insigth learning< entschied. Die empirischen und theoretischen Auswirkungen der Experimente Köhlers waren außerordentlich und beeinflußten sowohl die Entwicklung der Tierpsycholgie, mit deren empirischer Variante eine enge Wechselbeziehung bestand, der Primatologie, vergleichenden Psychologie und Ethologie. Der Vorschlag Köhlers, die Intelligenzleistungen der Menschenaffen mit der Entwicklung der Intelligenz des Kleinkindes zu vergleichen, gehört zu den heuristisch wertvollsten Ansätzen sowohl der Entwicklungspsychologie wie auch der Humanethologie und ist mehrfach realisiert worden (Carlyle, Jacobson & Yosicka 1930, Kellog 1933, Ladygina- Kohts 1935, Hayes 1951, Gardner 1969). Bereits in den darauffolgenden Jahren folgten umfangreiche Untersuchungen über die Lernleistungen von Schimpansen (Bingham 1929, Jackson 1942, Bird 1942), bei niederen Affen (Neilmann & Trendelenburg 1926, Bierens de Haan 1931, Klüver 1933) als auch die Überprüfung einsichtigen Lernverhaltens bei phylogenetisch tieferstehenden Tierarten wie z. B. Ratten (Tolmann & Honzik 1930). Theoretisch werden durch die gestalttheoretische Interpretation des Lernverhaltens bestimmte inhaltliche Grenzen der in der Lernpsychologie zunächst allgemein verbreiteten Assoziationspsychologie aufgezeigt und die Entwicklung cognitiver Lerntheorien eingeleitet.

Zwei im Anschluß an die Versuchsanordnungen Köhlers weiterentwikkelte Verfahren, mit denen die einsichtige Bewältigung von Aufgaben experimentell überprüft werden, sind verschiedene Varianten von Umwegversuchen und die Fähigkeit der Werkzeugbenutzung und -herstellung. Der Aufbau der Versuchsanordnung spielt dabei eine große Rolle auch für die spätere Interpretation der Experimente. Zwei Faktoren sind von besonderer Bedeutung. Einmal können die Bedingungen bereits durch den Experimentator so zweckmäßig angelegt sein, daß auch dem Vt keine andere Möglichkeit bleibt, dem vorgezeichneten Weg zu folgen, was aber noch nicht unbedingt als einsichtiges Lernen aufgefaßt werden muß, obwohl dem Beobachter dann das Verhalten des Tieres als besonders sinnvoll erscheint. Das Ausbohren zweier Stöcke z. B. ist eine zweckgebundene Handlung des Menschen, dem dann natürlich unter Umständen das Zusammenstecken durch das Vt folgt, dessen Verhalten aber nur auf der Grundlage des vorausgehenden zweckmäßigen Herrichtens des Stockes möglich ist. Zwischen der Konstruktion der Versuchsanlage und dem durch sie implizierten einsichtigen Lernen besteht insofern eine enge Beziehung, da die Übertragung von menschlichen Sinn- und Zweckmäßigkeitsvorstellungen auf das Verhalten des Vt weitgehend reduziert werden sollen, indem z. B. mehrere Kombinationsalternativen angeboten werden. Umgekehrt ist die Interpretation als Lernen durch Einsicht um so problematischer, je enger die Kopplung zwischen der Reaktion des Schimpansen und einer zweckbezogenen Konstruktion der Anlage bleibt, da hier nur ein Nachvollzug der vom Experimentator vorgedachten Sinnhaftigkeit des Handlungsablaufes möglich ist. 76

Bild 10 Lernstrategien bei verschieden hoch entwickelten Tieren, (a). Das Pantoffeltierchen orientiert sich in einer Umgebung mit unterschiedlicher Salzkonzentration nach dem trial-and-error-Prinzip und findet damit die optimale Konzentration, (b) Das Umweglernen des Zwergchamäleons wird von einigen Ethologen bereits als einsichtiges Lernen interpretiert, (c) Entscheidungsverhalten eines Hundes an zwei Kästen, von denen der punktierte Futter enthält: Das Vt läuft stets zuerst nach rechts, II: Das Vt geht abwechselnd erst nach rechts, dann nach links. III: Richtige Entscheidung für den Futterkasten. Nach Fischel (1974). (d) Schnuranordnungen von je drei Fäden, von denen einer am Ende mit einer Futterbelohnung (dicker Punkt) verbunden ist. Die untere Punktreihe ist das Käfiggitter. Von Gorillas wird die rechte Fadenanordnung, bei der die mit der Belohnung verbundene Schnur mehrmals um 90° abgewinkelt ist, nur nach anfänglichen Fehlern gelöst. Nach Guilläume und Meyerson (1930) aus Rensch (1973)

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Außerdem soll durch die Versuchsbildungen aber auch die Wahrscheinlichkeit von Zufallslösungen möglichst gering gehalten werden. In der Skinner-Box ist die Kopplung des Hebels mit dem Futter für das Vt verborgen, so daß die Möglichkeit einsichtigen Verhaltens nahezu perfekt ausgeschaltet ist und nur die Möglichkeit des Lernens durch Versuch und Irrtum bleibt. Um einsichtiges Verhalten objektiv überhaupt zu ermöglichen, müssen deshalb die sensorischen und motorischen Fähigkeiten des Vt unbeschränkt verfügbar sein. Wichtig ist dabei das erstmalige Lösen einer Aufgabe, denn ein mehrmaliges Durchlaufen der Problem situation läßt keine klare Entscheidung mehr zu, ob das Vt die Lösung durch Einsicht oder wiederholtes Probieren gefunden hat. Ob sich allerdings dieser scharfe methodische Gegensatz von trial-and-error-Lernen und Lernen durch Einsicht auch phylogenetisch aufrechterhalten läßt, bleibt zweifelhaft. Wenn etwa ein höheres Säugetier (Hund, tierischer Primat, kleines Kind) durch ein Hindernis vom Ziel getrennt ist, kommt es nach einer kurzen Orientierung zu einem direkten Handlungsablauf, in dem das Ziel erreicht wird, während bereits bei Vögeln ein ständiges Hin- und Herlaufen ausgelöst wird, bis durch Zufall das Hindernis überwunden werden kann. Das Lernen durch Einsicht kann unter diesem Gesichtspunkt als ein Grenzfall des Lernens durch Versuch und Irrtum aufgefaßt werden, bei dem die Zahl der Irrtümer gegen Null geht, aus dem es sich aber historisch entwickelt hat, indem sich die Zahl der Versuche durch Einsatz des Gedächtnisses, der Auswertung verschiedener sensorischer Informationen usw. immer mehr verringert hat. Zu den wichtigsten Kriterien des einsichtigen Lernens gehört es deshalb, daß die Lösung sofort gefunden wird,nachdem eine motorische Ruhepause eingetreten und sensorisch eine Beziehung zwischen dem Ziel, möglichen Hindernissen und Hilfsmitteln hergestellt worden ist. Bei den Umgehungsversuchen muß im Gegensatz zur Skinner-Box die räumliche Situation für das Vt vollständig überblickbar sein. Mit dem Verlust der sensorischen vermittelten Einsicht gehen auch die Kombinationsmöglichkeiten des Verhaltens zurück. Bei der folgenden Reaktion soll hier bereits von einer Handlung gesprochen werden, da sie unterbrochen verläuft und vor allem an einem Ziel ausgerichtet ist. Es können aber auch Einzelhandlungen auftreten, die nur im Zusammenhang mit anderen für sich ebenfalls unzweckmäßigen Reaktionen einen funktionellen Systemaspekt bilden, indem sich etwa das Vt wie bei den Umwegversuchen vom Ziel entfernt, um es dadurch zu erreichen. Der Nachweis des Lernens durch Einsicht bei höheren Primaten bedeutet nicht, daß zwischen tierischem und menschlichem Lernen keine qualitativen Unterschiede mehr bestehen, sondern nur, daß verschiedene Differenzen und Gemeinsamkeiten genauer erfaßt werden können. Zu den letzteren ist die Ähnlichkeit des Problemerfassens und des Problemlösens 78

zu rechnen. Andererseits unterscheidet sich die menschliche Hirntätigkeit von der der Primaten durch das Denken in Wortsystemen und eine erheblich längere Assoziationsfolge als vergangenheitsbezogenes und zukunftsorientiertes Erfassen von Handlungsfolgen. Höchster psychischer Ausdruck dieser zeitlichen Dehnung ist die Planung von Reaktionsfolgen und die Beibehaltung von Zielstellungen. Da aber auch Schimpansen in der Lage sind, komplizierte Handlungsketten zu erlernen, ist in verschiedenen Lernexperimenten das Ausmaß der Abstraktion einer Zielgröße gegenüber mehreren Einzelhandlungen zum Maßstab der psychischen Leistungsfähigkeit erhoben worden, der einen Vergleich mit menschlichem Verhalten ermöglichen soll. Wazuro (1956) brachte dem zwölf Jahre alten männlichen Schimpansen Rafael folgendes Reaktionsmuster bei. Auf einem von zwei auf einem See schwimmenden Flößen befand sich ein Wasserbehälter, der durch einen Hahn geöffnet werden konnte. Rafael befand sich zusammen mit einer Kiste, in die der Experimentator einen Becher gestellt hatte, auf einem dieser Flöße. Die Kiste konnte durch einen besonderen Mechanismus geöffnet werden. Außerdem war auf dem Floß Rafaels noch eine Bambusstange und ein Apparat mit Feuer, der außerdem die Belohnung enthielt. Die schließlich von Rafael beherrschte Handlungsfolge bestand darin, die Kiste zu öffnen, den Becher herausnehmen, mit der Bambusstange die beiden Flösse zu verbinden, auf dieser Verbindung auf das Nachbarfloß zu balancieren, hier die Büchse mit Wasser zu füllen und nach der Rückkehr auf das erste Floß das Feuer zu löschen. Jeder dieser einzelnen Abschnitte, wie das Füllen der Büchse mit Wasser, das Feuerlöschen usw., wurde in einzelnen Experimenten erlernt, bis die Struktur schließlich den geschilderten Komplexitätsgrad erreichte. Wazuro wollte mit derartigen Lernexperimenten, die in verschiedener Weise modifiziert wurden, zeigen, daß auch die höchsten psychischen Leistungen des Schimpansen lediglich auf einer Vernetzung vorher selbständiger bedingter Reflexe beruhen. Die Neuartigkeit des Verhaltens bleibt an der äußeren Reaktionsfolge kontrollierbar und wird auf dem Wege des aktiven Manipulierens mit Gegenständen erworben. Die eigentliche Kreativität zeigt sich aber offensichtlich nicht nur in der Länge der Assoziationsbildung, sondern vielmehr gerade in der Abkürzung motorischer Reaktionen, indem sie verinnerlicht und durch Einsicht in die Zusammenhänge mehrere Glieder übersprungen werden. Das Interessante dieses Experimentes ist nicht die Verknüpfung der für das natürliche Verhalten des Schimpansen extremen Momente der Uberwindung des Wassers oder das Feuerlöschen oder die Kompliziertheit dieser Konstruktion, sondern der nebenbei erwähnte Einfall Rafaels, das Wasser schließlich direkt aus dem See zu schöpfen.

Eine Schwierigkeit des Lernens durch Einsicht besteht darin, daß die Verinnerlichung des Reaktionsablaufes zwar vermutet wird, aber nicht eindeutig nachgewiesen werden kann, ob der Handlungsablauf etwa von vorstellungsähnlichen Prozessen begleitet wird. Außerdem läßt sich mitunter nur schlecht entscheiden, inwieweit ein erlernter Reaktionsschritt Voraussetzung für das Erreichen des nächsten Zwischenzieles ist, das dann wie79

derum eine Fortsetzung der Handlungsfolge ermöglicht. Auch der Zusammenhang der Planung einer Handlung, der Einfluß sensorischer Prozesse und eines averbalen Vorstellungsvermögens auf den Handlungsablauf und weitere Faktoren sind nur schwierig abzuschätzen. Inwieweit die Handlungsplanung von dazwischengeschalteten Operationsphasen beeinflußt wird und von der Bildung allgemeiner Ablaufvorstellungen abhängt, hat Döhl (1966, 1968) an der Frage untersucht, wieviel selbständige Ziele ein Schimpanse in eine durchgehende Handlungsfolge einbeziehen kann. In dem Käfig des Vt stehen zehn festgeschraubte Kisten, die mit Plexiglas abgedeckt sind und jede mit einem besonderen Werkzeug geöffnet werden muß. Die Schwierigkeit der Handlungsfolge bestand dabei darin, daß eine Kiste das Futter enthielt, eine zweite Kiste das Werkzeug für das öffnen der Futterkiste, die wiederum nur geöffnet werden konnte, wenn der Öffnungsmechanismus aus einer dritten Kiste geholt wurde usw. Bei sechs Kisten (drei Zwischenzielen) konnte auch die Aufstellung der Kisten untereinander verändert werden, ohne daß das Vt versagte. Maximal überblickte die Schimpansin Julia fünf Zwischenziele. Im Gegensatz zu den Köhlerschen Versuchen hatte das Vt das öffnen der Kisten ebenfalls selbständig gelernt und verfügte damit bereits über eine Erfahrung, auf der sich dann ein komplexeres Lösungsverhalten entwickelte. In einigen Fällen beobachtete Döhl, daß die Schimpansin den Lösungsweg vom Ziel ausgehend rückwärtig verfolgte. Wenn sie anfangs das falsche Öffnungsinstrument wählte, endete ihre Handlung in einer leeren Kiste. Das Vt mußte sich vor dem Beginn der Handlung optisch einen Uberblick über die zehn am Boden liegenden Kisten machen, bevor es mit den eigentlichen Operationen begann. Eine andere Methode, die Phase der wahrscheinlichen inneren Kombination näher zu quantifizieren, entwickelten Rensch & Döhl (1968), indem sie das in Lernexperimenten angewandte geschlossene Labyrinth in ein System verwandelten, das der Schimpanse durch eine Glasplatte überblicken kann. Die fünf Jahre alte Schimpansin Julia lernte zunächst für einen Eisenring Futter in einen Automaten einzutauschen. Dieser Ring mußte mit Hilfe eines Magneten aus einem mit einer Plexiglasplatte verdeckten Gangsystem herausgeholt werden. Dabei wurden, nachdem die Problemsituation erlernt war, immer kompliziertere Labyrinthsysteme verwendet.

Bild 11 Links elementares Versuchsbrett, auf den der Eisenring an 4 Ausgänge gezogen werden kann. Rechts in der Versuchsserie verwendetes komplizierteres Labyrinth, dessen Gangsystem nicht sofort überblickbar ist. Nach Rensch & Döhl (1968). 80

Jeweils nur ein Weg führte zu dem Ziel, der Öffnung an der Seite des Labyrinthes. Fehlermöglichkeiten bestanden darin, entweder den Zusammenhang mit der Lage des Eisenringes und der richtigen Öffnung nicht herzustellen oder auf diesem im Prinzip richtigen. Weg sich in eine Sackgasse zu verirren. Neben der einsichtigen Lösung war eine bestimmte Konzentration notwendig. Wenn das Labyrinth verändert wurde, begann das Vt nicht sofort, den Eisenring aus dem Gangsystem zu ziehen, sondern es folgte erst eine kurze Pause des >Nachdenkens< über den zukünftigen Handlungsablauf, die dazu führte, daß Julia bei hundert gestellten Aufgaben in sechsundachtzig Fällen richtig wählte und nur in 4,5% der Fälle in abzweigende Sackgassen geriet. Das Vt kontrollierte das Versuchsbrett zunächst optisch und zog dann den Eisenring zielstrebig einen bestimmten Weg zur Öffnung. Diese Phase des Planens und Nachdenkens dauerte 61-75 s., wenn es sich um schwierige Labyrinthanordnungen handelte. Das planende Vorausschauen war in diesem Experiment damit meßbar. Auch hier konnte der Fall beobachtet werden, daß von den Ausgängen am Brettrand her das Gangsystem rückwärts aufgeschlossen wurde. Die Planungszeit der Studenten, die als Vergleichspopulation das gleiche Wegsystem auffinden mußten, benötigten etwa die Hälfte der Zeit des Vt, während die Zeit des Durchziehens selbst in beiden Fällen nahezu gleich war (Rensch & Döhl 1968).

Ein paradigmatisches Beispiel, das die unterschiedliche Interpretation psychischer Prozesse bei höheren Primaten zwischen der Gestalttheorie und der Theorie der höheren Nerventätigkeit verdeutlichen kann, ist die Herstellung von Instrumenten für die Erreichung eines Zieles bei Schimpansen. Die Tatsache selbst ist unbestritten, die Genese dieser Problemlösung wird jedoch unter entgegengesetzten Gesichtspunkten erklärt. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die Struktur der experimentellen Situation, da ihre Spezifik entscheidenden Einfluß auf die psychischen Reaktionsmöglichkeiten nimmt. Von Wazuro (1948) wurde mit dem erwachsenen männlichen Schimpansen Rafael die Versuche Köhlers (1921) wiederholt, der die Herstellung eines Werkzeugs zur Erreichung einer Banane außerhalb des Käfigs durch Sultan genauer analysiert hat. Sultan, später auch Chica, lernten, zwei harte Schilfrohre von verschiedener Dicke so ineinanderzustecken, daß sie eine außerhalb des Käfigs liegende Frucht erreichen, wozu die Länge des Stockes allein nicht ausgereicht hätte. Der erste Entwicklungsschritt der Problemlösung besteht darin, daß mit einem Stock wie bereits bei früheren Versuchen das Heranziehen der Frucht versucht wird. Köhler unterscheidet bei dem Problemlösungsverhalten des Schimpansen zwischen >guten< und »schlechten Fehlern«. Zu den letzteren zählt er das Herantragen einer Kiste an das Gitter, da das Tier zwar etwas tut, sein Verhalten aber keinen Lösungsschritt für das weitere Verhalten darstellt. Charakteristisch für die gestalttheoretische Interpretation ist dann folgender >guter Fehler< Sultans. Der Schimpanse nimmt ein Schilfrohr, führt dies soweit wie möglich aus dem Käfig in Richtung Banane hinaus, nimmt dann das zweite Schilfrohr und schiebt mit ihm das erste 81

Rohr auf das Ziel zu, daß ein materieller Kontakt zwischen Tier- und Ziel hergestellt wird, ohne daß aber das Futter selbst erreichbar ist. Entscheidend für diese Lösung ist, daß sie mechanisch zwar unsinnig, optisch aber richtig ist und damit einen Entwicklungsschritt der wirklichen Erreichung des Zieles darstellt. Sultan stellte über den Stock ein Bindeglied zwischen sich und dem Futter dar, das als verlängerter Arm diente und bereits eine Beeinflussung ermöglichte. Derartige Widersprüche zwischen mechanischer und optischer Problemlösung traten auch in mehreren anderen Versuchssituationen auf. Entscheidend für das Verhalten des Schimpansen ist nach der Auffassung Köhlers die optische Erfassung der Totalität der Gesamtsituation. Das Vt ist dann in der Lage eine Aufgabe sehr schnell zu lösen, wenn sich alle für die Lösung notwendigen Elemente im Blickfeld des Schimpansen befinden. Das Gestaltprinzip ist damit als eine besondere Form des perceptiven Lernens bei Tieren aufzufassen. Diese Erklärungsmöglichkeit gilt auch für einfachere Aufgabensituationen, bei der beobachtet werden konnte, daß der Schimpanse sich nach mehreren erfolglosen Versuchen zurückzieht, seine Umgebung mit den Augen absucht und dann spontan einen Lösungsweg findet. Wenn z. B. eine Banane vor dem Käfig liegt, in diesem aber ein Stock, so erfolgt innerhalb weniger Sekunden nach der optischen Kontrolle das Aufspringen des Tieres, Ergreifen des Stockes und der Biß in die Banane, ohne daß dieser Prozeßablauf durch besondere Probierphasen unterbrochen wurde. Die Kombination zwischen Hilfsmittel und Ziel erfolgt hier unmittelbar, nach der optischen Orientierung erfolgt die Handlung. Der entscheidende Schritt zur Erreichung des Zieles ist in dem Versuch Köhlers dadurch vorbereitet, daß beide Schilfrohre unterschiedliche Öffnungen haben und sich beide Rohre ineinanderschieben lassen. Außerdem wird das Erlernen des Zusammensteckens beider Rohre dadurch erleichtert, daß der Versuchsleiter vor dem Tier Manipulationen an der Öffnung eines Schilfrohrs durchführt. Trotzdem gelingt die Kombination beider Stöcke durch den Schimpansen zunächst nicht. Nach etwa einer Stunde erfolgt dann die Zusammensetzung beider Stöcke zu einem Instrument und die sofortige Umsetzung in den adäquaten Handlungsvollzug, der zum Erreichen des Zieles führt. Auch hier erfolgte die Problemlösung wieder, als das Tier in jeder Hand einen Stock festhält und damit die optische Kopplung eine mechanische nahelegt. Interressant ist das Verhalten Sultans nach der Problemlösung, da die Erfindung nicht nur ausgenutzt wurde, um die Bananen zu erreichen, sondern auch gegenüber neutralen Gegenständen ausprobiert wurde, was auf die Ausbildung eines begrenzten >Problembewußtseins< schließen läßt, aufgrund dessen die Bedeutung der Lösungsfindung zunächst über die Appetenz gegenüber dem Ziel dominiert. Köhler hat dann die Versuchsbedingungen in verschiedener Hinsicht er82

schwert indem z. B. drei Stöcke miteinander kombiniert werden mußten oder die Öffnung durch einen Holzpflock verschlossen wurde. Sultan war schließlich in der Lage, die Öffnungen der Stöcke selbst zuzubereiten, wenn sie nicht paßten. Die Kombination des dünneren mit dem stärkeren Rohr erfolgte nach der optischen Kontrolle ohne Ausprobieren. Auch eine Generalisation der Technik auf andere Problemlagen ist möglich, wenn die Frucht z. B. nicht außerhalb des Käfigs liegt, sondern der Raum vertikal überbrückt werden muß, da die Frucht an der Decke befestigt ist und ein Stock zum Erreichen zu kurz ist. Eine wichtige Voraussetzung für einsichtiges Lernverhalten bei Schimpansen ist, daß die Zielvorstellung von den Funktionsmöglichkeiten einzelner Umweltbestandteile getrennt werden kann. Besonders deutlich wird dies bei direkten Versuchsanordnungen, wo das Erreichen des Zieles an aufeinanderfolgende Problemlösungsschritte gebunden ist. Wenn z. B. vor dem Käfig eine Frucht und ein langer Stock liegt, in dem Käfig aber nur ein kurzer Stock, so muß mit dessen Hilfe zunächst das eigentliche Lösungsinstrument erfaßt werden, um die Frucht zu erreichen. Die Lernleistung besteht hier in der Abstraktion vom Hauptziel, das den Reaktionsablauf zwar generell bestimmt, zunächst aber vernachlässigt wird. In der Beschreibung Wazuros (1948), in der das Verhalten Rafaels bei der Zusammensetzung zweier Stöcke registirert wird, kommt dagegen der Bedeutung der zufälligen Kombination zwischen den einzelnen Lösungsschritten ein größerer Stellenwert zu, während die Ganzheitlichkeit der Problemsituation in den Hintergrund tritt. Rafael versucht ebenfalls abwechselnd mit beiden Stöcken die Frucht zu erreichen, ohne dabei auch nach längerem Probieren effektive Fortschritte zu machen. Am nächsten Versuchstag bemerkt Rafael Unebenheiten durch Manipulationen an den Stockenden, kratzt sie aus, stellt den Stock mit der Öffnung aber dann nach oben und füllt sie mit Futterresten wieder aus. Auch nachdem das Zusammenstecken der beiden Stöcke gelernt ist, erfolgt noch keine Übertragung dieser Lösung auf die eigentliche Problemsituation, sondern das Ineinandersetzen wird mehrmals wiederholt. Auch in den folgenden Versuchstagen werden die zwei verschiedenen Stöcke nach mehrmaligen Durchprobieren zusammengesetzt. Nach einem Zeitraum von zehn Tagen wurde diese Versuchsserie unter modifizierten Bedingungen wiederholt, da ein Stock nicht nur eine Öffnung am Ende, sondern auch noch drei Öffnungen an der Seite enthielt. Während der Manipulation mit beiden Stöcken steckt Rafael den dünneren Stock in eine der seitlichen Öffnungen des stärkeren Stockes, so daß eine T-förmige Kombination entsteht, die aber für das Erreichen des Zieles ohne Funktionswert ist, da insgesamt keine effektive Verlängerung stattgefunden hat. Trotzdem versucht Rafael mit dieser Konstruktion, obwohl sie in der 83

Handhabung viel schwerfälliger ist, durch das Gitter hindurch in mehreren Versuchen die Frucht zu erreichen. Erst nachdem die Stöcke mehrmals falsch zusamengesteckt wurden, erfolgte der Ubergang zu der richtigen Kombination, die aber ebenfalls mehrmals ohne Anwendung durchprobiert wurde. Dembowski (1956) faßt einige Gesichtspunkte zusammen, in denen sich die Interpretation der Gestalttheorie als Lernen durch Einsicht und die Auffassungen Wazuros über die Struktur des Lösungsmechanismus unterscheiden: a. Eine erste richtige Lösung erfolgt nicht sofort, sondern bedarf einer längeren Probierphase. b. Auch bei einer Wiederholung des Versuchsablaufs erfolgt keine sofortige Reproduktion der bereits einmal erzielten Lösung, sondern lediglich die Zahl der Versuche verringert sich. c. Die Zusammensetzung der Stöcke durch Rafael erfolgt auch ohne Belohnung. Ein Einwand gegen die Versuchsanordnung Köhlers besteht darin, daß Sultan durch die Manipulation mit Bämbusstöckchen auf die später gestellte Aufgabe vorbereitet wurde und deren Lösung nichts grundsätzlich Neues darstelle, sondern nur das Herausstellen dieser begrenzten späten Entwicklungsphase diesen Eindruck hervorrufe. d. Die Stöcke werden unter veränderten Bedingungen auch so zusammengesetzt, daß weder eine optische noch eine mechanische Verlängerung erreicht wird, was gegen einen besonderen Einfluß der Gesamtstruktur der Problemlösung auf die Aufgabenlösung spricht. e. Gegen ein intelligentes Verhalten des Schimpansen spricht, daß bei einer Wiederholung des Experimentes auch die dabei begangenen Fehler wieder mit reproduziert werden. Köhler bestreitet das Auftreten der von ihm als >grobe Gewöhnungstorheiten< bezeichneten Fehler wie das Heranschleppen einer Kiste durch Sultan nicht, erklärt sie aber anders, nämlich als Nachwirkung früherer echter Lösungen. Bei einer häufigen Wiederholung tritt die Tendenz auf, daß sie auch in späteren neuen Problem Situationen sekundär ohne Rücksicht auf deren Spezifik wieder durchprobiert werden. Wazuro erklärte das Verhalten Raf aels als Resultante eines komplizierten Zusammenwirkens von bedingten und unbedingten Reflexen, die in ihrer Kombination dann auch zu ganzheitlich strukturierten psychischen Strukturen führen. Insgesamt resultiert die Problemlösung Rafaels aus einer sowohl analytischen wie auch integrativ-synthetischen Funktion des ZNS. Wazuro wendet sich gegen die Auffassung Köhlers, das Verhalten des Schimpansen sei von Beginn an ganzheitlich ausgerichtet und betont das suczessive Herausbilden eines einheitlichen Problemzusammenhanges, in dem aber jeder einzelne Lösungsschritt eine eigene Stimulation besitzt, was 84

dazu führt, daß sie häufig mehrmals unmotiviert wiederholt werden und das Durchlaufen einer Handlungsfolge damit keineswegs konsequent ist. Das gesamte Verhalten Rafaels entspricht der normalen Ausbildung bedingter Reflexe, die mehrmals durchprobiert werden müssen, bis sie eine entsprechende Stabilität besitzen. Ausgangspunkt der Reaktionsfolge sind nicht die allgemeinen Strukturzusammenhänge, sondern die Zuwendung zu kleinsten Einzelheiten einer Situation. Wenn der Stab ergriffen wird, so nicht unter dem Gesichtspunkt seiner funktionellen Brauchbarkeit als Instrument, sondern nur als erreichbarer Gegenstand, da auch Steine benutzt werden, diese aber keine Bekräftigung erfahren. Erst die wiederholte erfolgreiche Anwendung des Stockes führt zur Ausbildung eines bedingten Reflexes und damit auch zu einer Unterscheidung zwischen dem Funktionswert verschiedener erreichbarer Objekte, die zunächst aber nur aktuelle Reize sind. Die zu beobachtende allgemeine Zuwendung zu einer Problemsituation wird in der Theorie der höheren Nerventätigkeit durch eine Hemmung bedingter Reaktionen, wie z. B. das Aufnehmen des Futters, erklärt, die zu einer Verstärkung der allgemeinen Orientierungsreaktion führt. Durch diese Aktivierung werden die konkret in der Umgebung des Tieres vorfindbaren Gegenstände Objekt gesteigerter Aufmerksamkeit. Nach mehrmaligen erfolglosen Durchprobieren erfolgt eine Hemmung der Reaktion, die dann wieder durch den Anblick der Frucht in Aktivität umschlägt. Im Gegensatz zu der gestalttheoretischen Interpretation des Verhaltens des Schimpansen, in der die Plötzlichkeit der Lösung und das einsichtige Verhalten vom Typ einer >Aha-Reaktion< hervorgehoben wird, die beide zu einer abgehobenen Neuartigkeit der Reaktion des Vt führen, betonen Vertreter der Theorie der höheren Nerventätigkeit (Ladygina-Kohts, Wazuro, Paw low), daß nicht Merkmale der Gesamttätigkeit wie die Gestaltung des optischen Feldes, sondern die Verknüpfung der einzelnen Elemente (bedingte Reflexe) sinnvolle Lösungen zulassen, wenn die einzelnen Schritte hinreichend stark bekräftigt werden. Wazuro, der mit Köhler darin übereinstimmt, daß die Entstehung der Problemlösung nicht durch die Versuch-und-Irrtum-Methode erklärt werden kann, räumt der Zufälligkeit bei der Kombination der einzelnen Lösungsschritte eine wesentlich größere Bedeutung ein. Er kommt zu einer Systematisierung in drei aufeinanderfolgende Entwicklungsphasen: a. Die Periode der ungeordneten Tätigkeit, die zu einem ungeordneten Manipulieren mit verschiedenen Gegenständen führt und allgemein unter dem Einfluß der Orientierungsreaktion steht. Die Orientierungsreaktion dient dem Aufnehmen essentieller Informationen, und ist von einer starken Motivation und allgemeinen Erregung begleitet, die zur Unterdrückung anderer Verhaltenstendenzen führen kann. Die Objektmanipulationen 85

werden nicht durch Belohnungen verstärkt, was zu einer Hemmung der Untersuchungstätigkeit führt, die schließlich zu einem Ruhezustand des Tieres überleitet. Der dominierende sensorische Bereich in dieser Phase ist der kinästhetische Analysator. b. Die zweite Periode ist durch die äußerliche Ruhe des Tieres gekennzeichnet. Es kommt unter anderem zu einer sekundären Reizung des kinästhetischen Analysators z. B. durch optische Reize, da das Vt nicht mehr mit den Gegenständen manipuliert, aber mit ihnen visuell in Kontakt steht. c. Die dritte Periode ist die Phase der adäquaten Reaktion, in der die verschiedenen entstandenen bedingten Reflexe ausgewertet und kombiniert werden. Wesentlich für die Lernauffassung der Theorie der höheren Nerventätigkeit ist dabei, daß es sich immer nur um die Reproduktion bereits existierender und in der Vorgeschichte gelernter bedingter Reflexe handelt, so daß wirklich Neues eigentlich nicht entsteht. Ein positiver Nebeneffekt in der Kontroverse und eine Erklärung des einsichtigen Verhaltens, in der nicht nur die Auffassungen über die verschiedenen Lernmechanismen, sondern auch die Bedeutung der einzelnen Receptorbereiche für das Lernen divergieren, war eine genauere Analyse der sensorischen Diskriminationsfähigkeit höherer Primaten. Wazuro untersuchte in einer Versuchsserie mit Rafael die unterschiedliche Schnelligkeit mit der auf der Grundlage optischer und kinästhetischer Faktoren gelernt wird. Dabei mußte das Vt von zwei Stöcken den richtigen (schwarzen) in die Öffnung einer Kiste stecken, die sich dann öffnete und das Futter freigab. Das Lernen der Unterscheidung zwischen zwei gleichschweren jeweils schwarzen und weißen Stöcken erwies sich dabei als langwieriger als die Diskrimination zwischen zwei gelblichen 1600 g und 900 g schweren Stöcken gleicher Größe. In einer dritten Versuchsserie wurde dann das positive optische Merkmal (schwarz) mit dem negativen kinästhetischen Merkmal (schweres Gewicht) verbunden. Dabei zeigte sich, daß die Gewichtsmerkmale eine größere funktionelle Bedeutung besitzen als optische Reize. Nach der Auffassung der Theorie der höheren Nerventätigkeit dominiert bei der Herausbildung einer Handlungsgewohnheit der direkte Kontakt mit dem Gegenstand während die optische Unterscheidungsfähigkeit erst sekundär auf dieser Grundlage an Bedeutung gewinnt. Wazuro vermutet, daß dies auch die Ursache dafür ist, daß bedingte Reflexe auf der Basis kinästhetischer Reize bei Primaten stabiler sind als visuell konditionierte Verbindungen. In der gestalttheoretischen Interpretation wird dagegen die Umgebung des Schimpansen als ein in verschiedene Bezüge gegliedertes Wahrnehmungsfeld verstanden, dessen einzelne Aspekte eine unterschiedliche funktionale Bedeutung besitzen, die zu einer Gliederung des Lebensraumes mit verschiedener Wertigkeit führen. Die psychische Organisation entsteht 86

primär über eine Verarbeitung visueller Informationen. Durch die Einführung eines Zieles entsteht in diesem System biologischer Gegebenheiten ein Spannungsfeld, das durch das Auftreten von Hindernissen (z. B. Gitter) verstärkt wird. Die Struktur des einsichtigen Lernens ist im Vergleich zu elementareren tierischen Lernformen dadurch komplizierter, da Reaktionsziel und Reaktion zumindest zu Beginn der Lösungsphase auseinanderfallen und z. B. bei indirekten Zielen eine räumliche Orientierung in andere Richtungen erfolgen muß. Die räumliche Nähe des kritischen Objektes zum Zielbereich bleibt zunächst eine wichtige Voraussetzung für eine Problemerfassung im tierischen Verhalten. Außerdem tritt der instrumentale Charakter verschiedener Objekte des Lebensraumes um so klarer hervor, je mehr sie sich von dem allgemeinen Orientierungshintergrund abheben. Köhler ist der Auffassung, daß der Schimpanse in der optischen Struktur einer Situation gewisse Totalitäten (Gestalten) aufnehme, die dann zu Determinanten seiner Reaktionen werden. Die Lösung erfolgt spontan, wenn sich alle Bestandteile einer Situation in seinem Blickfeld befinden. Auf die theoretischen Hintergründe der Kontroverse zwischen der Gestalttheorie und der Theorie der höheren Nerventätigkeit kann hier nicht eingegangen werden. Wichtig bleibt die Tatsache, daß die psychische Leistungsfähigkeit bei Primaten bereits so hochentwickelt ist, daß sie Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen psychologischen Theorien wird. Gegen den Begriff »einsichtiges Lernen< haben sich vor allem assoziationstheoretisch festgelegte Lerntheoretiker wie Thorndike und Pawlow gewandt. Ihre Kritik hat sich aber nicht durchgesetzt, da sie auf die Negation der wesentlichsten Lerneigenschaft, dem Entstehen neuen Verhaltens ausgerichtet ist, wie es auch in der neueren modifizierten Bezeichnung wie »primär neukombiniertes Verhalten« usw. betont wird. Die bereits einfachere Lernexperimente bei Tieren begleitenden methodischen Schwierigkeiten treten bei dem problemlösenden Verhalten in besonders systematischer Weise auf. Zu ihnen gehören: a. Die Rolle der Introspektion bei der Interpretation des Verhaltens. So ist es z. B. naheliegend, die Reaktionsphase, in der Sultan unbeweglich sitzt, dann aufspringt und das Problem löst, als »Nachdenken« zu beschreiben, was aber empirisch nicht beweisbar ist. Besonders auffallend ist das subjektive Moment bei der Beobachtung freilebender Schimpansen (LawickGoodall 1971). Die Verwendung von »Werkzeugen« wie Blätter, Stöcke usw. legt zwar einsichtiges Problem verhalten nahe, ist aber ebenfalls kein Beweis, da die Verwendung von Objekten mit instrumentellem Charakter auch durch soziales Lernen innerhalb von Nachahmungsprozessen erworben sein kann. Der Ubergang von der einfachen Verhaltensbeobachtung zur experimentellen Analyse kann zwar den Einfluß der Subjektivität des Beobachters zurückdrängen, wirft aber andererseits auch verstärkt die 87

Frage auf, von welcher Komplexität an psychische Prozesse selbst wieder als >subjektiv< bezeichnet werden können. b. Im Gegensatz zu den Lernexperimenten an Ratten beziehen sich die Verhaltensuntersuchungen an Menschenaffen nur auf sehr kleine Populationen oder einzelne Individuen. Es ist für viele Problemlösungsvarianten typisch, daß sie nicht von verschiedenen Individuen einer Art reproduziert werden können, sondern daß die psychische Individualität eine zunehmende Bedeutung erhält. So zeigte in den Untersuchungen Köhlers z. B. Sultan eine Überlegenheit gegenüber den anderen Vtn bei cognitiven Leistungen, während Chica über besondere motorische Fertigkeiten verfügte. Durch systematische Verhaltensbeobachtungen in den Feldgehegen von Primatenzentren konnte auch nachgewiesen werden, daß in Gruppen von Schimpansen zwar Einzeltiere zu besonderen Problemlösungen kommen, in die jedoch häufig dann alle Gruppenmitglieder integriert werden. c. Zahlreiche bei anderen tierischen Lernformen noch als motorische Reaktionen vollzogene Verhaltensabschnitte werden nur noch als psychische Prozesse wiederholt. Es kommt also zu einer stärkeren Diskrepanz zwischen >äußerem< und >innerem< Verhalten. Die Kausalstruktur der psychischen Reaktionen ist allein durch visuelle Beobachtungen nicht mehr empirisch zu erschließen, sondern äußere Verhaltenserscheinungen wie Inaktivität, motorische Unruhe, Mimik und Gestik werden nur noch zu Sekundärkriterien. Der Interiorisationsgrad ist beim problemlösenden Verhalten bereits soweit fortgeschritten, daß die >innere< (psychische) Komponente überwiegt. d. Das wesentlichste Moment des problemlösenden Verhaltens ist seine Neuartigkeit. Je unwahrscheinlicher die Lösungsvariante ist, um so höher ist die cognitive Leistung zu bewerten. Eine Voraussetzung dafür ist, daß die einzelnen informellen inputs und ihre psychischen Mechanismen unterereinander frei kombinierbar sind.

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3. Zur Naturgeschichte tierischer Abstraktionsleistungen

Nach der modernen, aus der mathematischen Logik entwickelten Auffassung liegt ein Abstraktionsprozeß immer dann vor, wenn aus wechselnden Informationen Invarianten herausgehoben werden, die verschiedenen Informationsmengen gemeinsam sind. Im günstigsten Fall kommt es dabei zu einer eindeutigen Abbildung zweier Mengen aufeinander. Eine derartige isomorphe Abbildung, bei der Abbild und Abgebildetes vollständig übereinstimmen, ist für die tierischen Abstraktionsprozesse jedoch nur ein theoretischer Grenzfall, der in dem Verlauf der Psychophylogenese zwar tendenziell angestrebt, letztlich aber nur vom Menschen innerhalb des logischen Denkens erreicht wird, wenn zwei strukturgleiche Mengen aufeinander abgebildet werden. Bei den tierischen und den meisten menschlichen Abstraktionsprozessen wird die Umgebung lediglich angenähert isomorph (homomorph) in das ZNS übersetzt. * Abstraktionsprozesse liegen praktisch allen Lernprozessen von der einfachen Reizgeneralisierung bis zu komplizierten Musterwahlversuchen, in denen zwischen mehreren Reizmengen unterschieden werden muß, zugrunde. >Lernen< kann unter diesen Gesichtspunkten als eine spezialisierte psychologische Fassung des Abstraktionsproblems angesehen werden, in der die cognitiven Leistungen der >inneren< Informationsverarbeitung wieder rückkoppelnd über das veränderte Verhalten des Vt der sinnlichen Kontrolle zugänglich gemacht werden. Foppa (1972) nennt als einige derartige >äußere< (Verhaltens-)Kriterien des Lernvorganges die Veränderung der Fehlerzahl im Lauf der Durchgänge, Anzahl der Wiederholungen bis zum Erreichen des Zieles, Veränderung der Reaktionsgeschwindigkeit und Änderung der Reaktionsstärke. Jedes dieser Kriterien wird in den verschiedenen Lernexperimenten nochmals modifiziert. Die häufigsten Verhaltenskriterien für psychische Leistungen bei Tieren sind das Zeitmaß der Reaktion, Häufigkeitsverteilungen, die Resistenz gegen Extinktionen und die Veränderung der Reaktionsnorm. Andererseits ist klar, daß ein derartiger Lernbegriff um so mehr an theoretischem Gewicht verliert, je weniger der psychische Vorgang am äußeren Verhalten abgelesen werden kann. Praktisch ist dieser Ubergang schon bei den cognitiven Leistungen der Tiere erreicht, die hier als Abstraktionen bezeichnet werd m.

Aus der natürlichen Umgebung des Tieres strömen Reize nicht als gleichbleibende Merkmale ein, sondern werden durch unterschiedliche Helligkeitswerte, Veränderung der Farbenverhältnisse, der Größe und andere physikalische Faktoren erheblich variiert. Bei einer reizauslösenden Umweltsituation handelt es sich deshalb bereits um gemittelte Reiz- und 89

Signalwerte, die innerhalb bestimmter Grenzen schwanken können. Erkennungsmerkmale wie Schlüsselreize haben nicht das Ziel, das Objekt im ZNS in allen Einzelheiten abzubilden, sondern es genügt zur Identifikation ein einfaches Schema, durch das die verschiedenen Schwankungserscheinungen abgefangen werden können. Diese Vereinfachung der Identifizierung des Abbildes (z. B. als Efferenzkopie) im ZNS mit Umweltreizen ist nur über die Abstraktionsleistung des Nervensystems zu erreichen. Hassenstein (1969) weist darauf hin, daß elementaren nervalen Schaltungen wie dem Reafferenzprinzip verschiedene Verrechnungsoperationen von Informationswerten zugrunde liegen, die mathematisch als Additions-, Subtraktions- oder Multiplikationsprozesse angesehen werden können. Weitere durch Abstraktionsvorgänge zu verrechnende Werte sind bei entwickelten Tieren die Mobilität, Veränderungen der körpereigenen Stellung im Raum oder Wechsel der Blickrichtung, die von einer Veränderung des Reizes selbst unterschieden werden. Auch die Lokalisation einer Reizquelle im Raum stellt eine Abstraktionsleistung dar, die durch verschiedene Eigenschaften des Sinnesapperates ermöglicht wird. Einmal kann eine Identifizierung bereits durch die Empfindlichkeit für Stärkeunterschiede des Reizes erreicht werden. Außerdem kann sich die Erregung des Receptors mit der Richtung des Reizes ändern ebenso wie der Zeitunterschied bei der Reizung zweier Receptoren eine Berechnung der Entfernung der Reizquelle ermöglicht. Orientierungsreaktionen zeigen, daß mitunter eine verschiedene Lokalisation der Reizempfänger des Tieres ausreicht, um elementare Abstraktionen zu ermöglichen, da die Erregung etwa eines rechten Receptors für die Ausrichtung der Bewegung einen spezifischen Informationswert besitzt.

Der Selektionswert tierischer Abstraktionen resultiert aus zwei Faktoren: a. Vereinfachte Schemata der Umwelt, die als artspezifische Informationen genetisch fixiert sind, ermöglichen ein erfahrungsloses Auffinden von Nahrung und sichern damit die Selbsterhaltung. Die Abstraktion ist eine biologische Anpassung, die eine schnelle und sichere Informationsverarbeitung ermöglicht. Besonders in den Umwelten niederer Tiere ist das Abbild der Umwelt von erstaunlicher Einfachheit und besteht mitunter nur aus einem Schlüsselreiz. Die Abstraktionsleistung besteht hier darin, dieses für die Selbsterhaltung essentielle Merkmal aus der Umgebung herauszufiltern. b. Abstraktionen sind auch zur Identifizierung des Artgenossen notwendig. Häufig handelt es sich nicht nur um einfache Raummuster oder Kontraste, sondern um kombinierte Raum-Zeit-Gestalten von Informationen. Die auslösenden Signalmuster erhalten hier Gestalteigenschaften. Wenn in einem Attrappenversuch einem Singvogel sein artspezifisches Gesangsmuster mit einem falschen Rhythmus oder in einer veränderten Reihenfolge der Lautmuster angeboten wird, so erfolgt keine Identifikation. Im Laut90

muster der Heuschrecke ist z. B. die Tonhöhe für die Arterkennung relativ unwesentlich, während umgekehrt die zeitliche Dauer des Tones und die strukturelle Aufeinanderfolge der Töne einen hohen Signalwert besitzt. Die Abstraktion auf immer spezifischere Gestaltmerkmale erhöht dabei die Sicherheit der innerartlichen Kommunikation. Da die Raumordnung der Reize häufig dazu nicht ausreicht, entstehen besondere >Zeitgestalten< wie z. B. bei den Blinkmustern von Leuchtkäfern, deren zeitliche Aufeinanderfolge artspezifischen Signalcharakter für den Empfänger besitzt. Die Herausfilterung essentieller Invarianten aus den Reizeinflüssen der Umwelt kann sehr verschiedene Formen annehmen. Häufig werden die Einzelreize zu räumlichen und zeitlichen Einheiten zusammengefügt, die durch ihre Kontrastierung mit der Umgebung leicht von ihr abgehoben werden können und damit eine Identifizierung erleichtern. Bereits auf dieser Ebene setzt ein intensiver Selektionsdruck ein, indem die Tierarten versuchen, bestimmte Konturen zu entdecken oder zu verbergen. Die Kontrastierung spezifischer Reizmuster ergibt sich physikalisch aus der unterschiedlichen Intensitätsverteilung im Reizfeld und wird dann sensorisch ausgenutzt. Durch die Ähnlichkeit von Details und ablenkende Konturen (z. B. ein Augenmuster am Schwanzstiel des Fisches) wird im Zusammenspiel mit einem adäquaten Tarnverhalten ein Täuschungseffekt des Raubfeindes erzielt, der seinerseits mit einer Weiterentwicklung des sensorischen Apperates reagiert, zu der besondere Leistungen des ZNS kommen. Die Merkmalskonstanz von Form, Farbe und Größe sind lebenswichtige Umweltreize, die auch unter anderer Perspektive, einer veränderten Beleuchtung und unterschiedlichen Entfernungen wiedererkannt werden und es dem Tier ermöglichen, sich auch in einer verzerrten Umwelt zurechtzufinden. Voraussetzung ist die Existenz eines abstrakten Umweltmodells im ZNS, über das eine Identifizierung in zentralen Kennwerten erfolgt. Die wichtigsten Invarianten des tierischen ZNS sind bereits abstrakte Klassen von Objekten oder Objektmerkmalen, deren Struktur dann das motorische Verhalten gegenüber der Umwelt bestimmt. Der Vorteil derartiger Klassenbildungen besteht darin, daß mit minimalem Leistungsaufwand des Nervensystems maximal viele verschiedene konkrete Situationen identifiziert werden können. Damit wird die Speicherkapazität des ZNS erheblich erhöht, da immer ein ideelles Merkmal mehrere materielle Objekte oder Ereignisse erfaßt. Die Aufstellung derartiger Invarianten als Kopie der Außenwelt ist also keineswegs nur eine Fähigkeit des menschlichen Gehirns, sondern auch Tieren möglich, und kann sogar maschinell imitiert werden. Der wichtigste Unterschied zwischen der maschinellen und der menschlichen bzw. tierischen Abstraktionsfähigkeit ist darin zu seheny daß sie auf 91

unterschiedlichen materiellen Strukturen beruheny funktionell jedoch zu gleichen Ergebnissen führen können. Umgekehrt bestehen zwischen den Abstraktionsleistungen von Tieren und Menschen grundlegende naturhistorische Gemeinsamkeiten, da ihre materielle Basis jeweils ein strukturell ähnlicher sensorischer input der Informationen über Receptoren und die Verarbeitung der Reize im ZNS ist. In dem Entwicklungsgrad der Abstraktion bei den einzelnen Tierarten gibt es dann wesentliche Unterschiede. Die Mehrzahl der ethologischen und tierpsychologischen Bezeichnung tierischer Abstrakta trägt dieser Tatsache Rechnung, obwohl gerade in dieser Frage keine einheitliche Terminologie besteht. Einige wichtige Begriffe sind: >Unbenanntes Denken< (Koehler 1941), >averbale Begriffsbildung< (Rensch 1962), >averbale Schlüsse< (Rensch 1973) usw. Auch die Bezeichnung >Generalisationsfähigkeit< wird häufig synonym mit der Entwicklung tierischer Abstraktionsfähigkeit gebraucht, ist jedoch insofern unglücklich, da streng genommen nur eine bestimmte Seite des Abstraktionsvorganges - die Fähigkeit zur Verallgemeinerung - berücksichtigt wird. Die graduellen Entwicklungsunterschiede zwischen tierischen und menschlichen Abstraktionsleistungen, die hier nur erwähnt werden können, betreffen sowohl den Informationsgehalt der Abstrakta, den Umfang der Klassenbildung als auch ihre logische Verknüpfung über Prädikate und Relationen. Am kürzesten lassen sie sich durch den Hinweis auf eine fehlende Verwendung von Symbol- und Zeichensystemen in der Tierkommunikation charakterisieren. Die Invarianten des menschlichen Abstraktionsprozesses können von ihm selbst benannt werden, wozu das Tier nicht in der Lage ist. Trotzdem ist die Unterscheidung zwischen tierischer und menschlicher Abstraktion in ihren verschiedenen Merkmalen nur ein Problem 2. Ordnung, das nur nach der Klärung ihrer verschiedenen Gemeinsamkeiten sinnvoll betrieben werden kann. Auch die menschliche Sprache in ihrer akustischen, informellen und semantischen Eigenart sollte deshalb in die Kette ihrer naturhistorischen Vorformen der Tierkommunikationssysteme hineingestellt werden, da nur diese einen objektiven Vergleichsmaßstab bilden. >Sprache< bedeutet deshalb einmal im engeren Sinn die gesellschaftlich-historische Spezifik des menschlichen Informationsaustausches, zum anderen die innerartliche Kommunikation von Organismen überhaupt, deren Prinzipien auch für die menschliche Sprache gültig sind. Methodisch werden Abstraktionsleistungen von Tieren mit sehr verschiedenen Verfahren untersucht. Einige wichtige Untersuchungsstrategien sind: a. Spontanes Wahlverhalten in definierten Reizsituationen. Derartige Versuche ermöglichen sowohl einen Einblick in die sensorischen Fähigkeiten des Tieres als auch in das Verhalten bei Konfliktsituationen. Z. B. können Bienen verschiedene Blütenattrappen mit unterschiedlichen Farben al92

ternativ mit bestimmten Helligkeitsabstufungen als Grautöne angeboten werden. Damit kann überprüft werden, ob Bienen überhaupt Farben unterscheiden, welche Farbe bevorzugt wird, ob die Farbe als Schlüsselreiz über die Formgestalt dominiert usw. Derartige Freilandexperimente unter möglichst natürlichen Bedingungen werden vor allem in der Ethologie durchgeführt. b. Durch Attrappenversuche wird in der Verhaltensforschung die Wirkung von Reizen und Reizkombinationen untersucht. Uber die Abwandlung der ursprünglichen Reizstruktur in übernormalen Attrappen kann die Evolutionsrichtung der Reizwirkung überprüft werden. Gleichzeitig ist eine systematische Aufschließung der jeweiligen spezifischen Umwelt des Vt möglich, wenn die sensorischen Eingänge experimentell beherrscht werden. Sowohl die Aufnahme von Schlüsselreizen als auch die komplizierte Wirkung der sozialen Signale (Auslöser) stellen durch die Identifizierung gleicher figuraler und zeitlicher Informationsmuster elementare Abstraktionsleistungen dar. c. Eine große Gruppe ethologischer Experimente beschäftigt sich mit dem Einfluß der Reizwirkung auf das Orientierungsverhalten. Eines der am intensivsten untersuchten Gebiete stellt dabei die Problematik des Vogelzuges dar. Systematische Vogelberingungen werden seit ca. 50 Jahren betrieben. Die einfache Fernglasbeobachtung ist hier durch Radar, Funkpeilung und die Telemetrie ergänzt worden. Der Zugweg etwa der Küstenseeschwalbe (Sterna paradisea), die im nördlichen Kanada brütet, den Atlantik bis England überquert um dann in südliche Richtungen bis in die Antarktis wandert, stellt eine erstaunliche Navigationsleistung dar, der komplizierte Verrechnungen zugrunde liegen müssen. d. Zu den in der Lernpsychologie verbreitetsten experimentellen Techniken zur Ausbildung von Reizgeneralisationen gehört der bedingte Reflex. Die von Pawlow begründete und systematisch eingeführte Methodik ist in vieler Hinsicht modifiziert und auf immer neue Tierarten übertragen worden. e. In Dressurversuchen wird das Vt darauf abgerichtet, bestimmte Farben und Formen zu unterscheiden. In zahlreichen Lernexperimenten wird die Lernfähigkeit auch dadurch überprüft, indem nach einer Positivdressur auf ein Reizmuster dieses soweit abgewandelt wird, bis die eigentliche Invariante des Abstraktionsprozesses herausgefunden und ihr Generalisationsgrad quantifiziert werden kann. Im Gegensatz zu den spontanen Wahlversuchen erfolgt ein gezielter Eingriff des Experimentators, der die Dressur über Belohnung und Bestrafung forciert. f. Die Verhaltensuntersuchungen von Tieren in Labyrinthen gehört zu den klassischen Gebieten der Lernpsychologie, das auf die Experimente Smalls (1900) zurückgeht. Das jeweilige Vt muß im Labyrinth einen Weg 93

zu dem Ziel lernen, das es von seinem Standort aus weder visuell noch olfaktorisch orten kann. Die Ratte erlernt das Durchlaufen eines Labyrinthes zwar auch ohne Belohnung, jedoch sind dann die Lernergebnisse durchschnittlich schlechter. Als Maßstab der Ausbildung einer Kopie im ZNS des Vt werden häufig die Anzahl der Sackgassen, in die die Ratten einbiegen, und die Durchlaufzeit genommen. Die dabei gewonnenen, Lernkurven zei-

Ziel

Bild 12 Mehrere Arten der in der Labyrinthforschung angewendeten Irrgärten, mit denen die Orientierungsfähigkeit verschiedener Nagetiere überprüft werden kann. Die Lernergebnisse einer Ratte in einem Tieflabyrinth und in einem formgleichen Hochlabyrinth weichen nicht wesentlich voneinander ab, so daß die Umgebung auf das Zielverhalten nur einen geringen Einfluß ausübt. Wichtig sind jedoch die Anzahl der Wendungen und die Länge des Weges im Labyrinth, der gewissermaßen zu einem Heimweg wird, wenn sich der Nestkasten in der Labyrinthanordnung befindet. Durch Weglassen der Beköderung konnte festgestellt werden, daß der Geruchssinn nur eine untergeordnete Rolle spielt ebenso wie die optische Orientierung. Erblindete Ratten lernen im Labyrinth ebensogut wie sehende Tiere. 94

gen, daß beim mehrmaligen Durchlaufen die Fehlerzahl abnimmt und die Zeit kürzer wird. In dem Durchlaufen des Labyrinthes bildet die Ratte eine »cognitive KarteZiel-Gradienten< und eines >Bekräftigungsgradienten< eingeführt. Der Reiz am Ziel des Labyrinthes soll danach eine >Ziel-Reaktion< verursachen, deren Wirkung mit zunehmendem Abstand in Raum und Zeit sinkt. Das von Small nachgebaute Hampton-Court-Labyrinth erwies sich besonders für das Lernverhalten niederer Tiere als zu schwierig. Watson konstruierte dann Kreislabyrinthe und Carr quadratische Labyrinthformen. Später wurden, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu erleichtern, Irrgärten aus gleichartigen Teilstücken mit V-, Y- oder T-Form konstruiert. Neben den Tieflabyrinthen, in denen das Vt zwischen Wänden läuft wurden Hochlabyrinthe, dreidimensionale Labyrinthe mit treppenartig ansteigenden Wegen und Schwimmlabyrinthe gebaut. Letztere ermöglichten die Untersuchung der Generalisation eines gelernten Weges auf andere motorische Reaktionsmuster. Die Ergebnisse führten dazu, daß das Lernverhalten von Ratten im Labyrinth zu den am besten bekannten Gebieten überhaupt gehört, was aber auch einschließt, daß sich die Experimentatoren zunehmend über die methodischen Grenzen eines derartigen Vorgehens einig wurden und die Labyrinthforschung ihre einstige theoretische Bedeutung fast vollständig verloren hat. Einige Ursachen dafür sind: a. Die Zahl der Tierarten, deren Lernvermögen im Labyrinth getestet wird, ist gering, da die Orientierung unter diesen Bedingungen eine besondere Lerndisposition für Ratten, Mäuse oder den Maulwurf (Talpa europea) ist, die in entsprechenden Umwelten leben. Eine Vergleichbarkeit ist damit erschwert. Gerade für eine vergleichende Lernpsychologie ist die Labyrinthforschung eine relativ ungeeignete Methode. b. Die Einflüsse der verschiedenen Sinneserregungen bei dem Erlernen der motorischen Bewegungsfolge ist nicht eindeutig geklärt. Vt, denen die Tasthaare entfernt wurden, die geblendet sind und geruchsunfähig, können lernen, ein Labyrinth richtig 95

zu durchlaufen. Rensch (1973) weist auf die Möglichkeit hin, daß die Vt sich möglicherweise durch einen für den Experimentator nicht wahrnehmbaren Ultraschall orientieren, da einige Mäuse Tieflabyrinthe auch das erste Mal bereits ohne entscheidende Fehler durchliefen. c. Obwohl zahlreiche Einzelsachverhalte für einen optimalen Lernerfolg oder die Erkenntnis, daß die Zahl der Fehler zuerst in der Nähe des Zieles geringer wird, empirisch gut gesichert sind, besteht keine Einigkeit über den eigentlichen Lernmechanismus. Während Tolman (1932) der Auffassung ist, daß das Vt bereits die Bedeutung des Zieles lernt, interpretiert Fischel (1974) das Verhalten als kinästhetisches Lernen bestimmter Wendungen und Muskelbewegungen, deren Integration mit einem mehrmaligen Durchlaufen des Labyrinthes verbessert wird. Eine derartige Interpretation würde erklären, daß bei dem Ausfall der Exteroceptoren die Funktion der Interoceptoren ausreicht, um einen Weg zu lernen. Trotz der verschiedenen Einschränkungen zeigen die Labyrinthversuche, welche abstrakten Vorstellungen die Vt von gewohnten Wegen haben. Diese Abstraktionsleistung tritt besonders dann hervor, wenn das gelernte Labyrinth in gezielter Weise verzerrt und verändert wird. Dies kann durch eine Verdopplung aller Strecken bei unveränderten Winkel, der Veränderung der Winkel abwechselnd um 45 und 135 Grad, die Abwandlung des Labyrinthes in sein Spiegelbild und die bogenförmige Abrundung aller rechten Ecken geschehen. Mäuse beherrschten die jeweils veränderten Labyrinthe nach einigen Fehlern ohne Neudressur, was auf eine komplizierte Kopie des Weges schließen läßt. Während die klassischen, geschlossenen Labyrinthe so konstruiert sind, daß von keinem Punkt aus alle möglichen Wege überblickt werden können, wird in der Primatenforschung das Labyrinth unter umgekehrten Vorzeichen eingeführt, indem eine optische Orientierung vor dem Durchlaufen die Einsichtigkeit des folgenden Verhaltens zeigen soll.

3.1. Isolierende Abstraktion als Diskriminationslernen Eine besondere Abstraktionsleistung, die sowohl von den sensorischen Möglichkeiten als auch dem zentralnervösen Differenzierungsgrad des Vt abhängt, ist die Unterscheidung einzelner Merkmale in seiner Umgebung. Diese Zerlegungsfähigkeit ist in spezifischer Weise bereits durch die begrenzte Anzahl von Sinneskanälen, innerhalb derer die Diskrimination erfolgt, objektiv beschränkt. Die Isolation einer spezifischen Umwelt aus der Umgebung ist damit sensorisch durch die Spezialisierung auf einige wichtige Receptorbereiche prädeterminiert, innerhalb der dann die eigentliche isolierende Abstraktion einsetzt, indem z. B. im visuellen Bereich in einem unterschiedlichen Ausmaß zwischen einzelnen Informationsparametern unterschieden werden kann. Durch die isolierende Abstraktion werden einzelne Seiten der Umgebung aus ihrem realen Zusammenhang herausgelöst und erfahren eine spezifische Verselbständigung als ideelle Kopie der Außenwelt. Das Ausmaß der analy96

tischen Zerlegung bestimmt in letzter Konsequenz Präzision und Umfang des Abbildes der Umgebung, in der die verschiedenen durch isolierende Abstraktion gewonnenen Einzelmerkmale wieder zusammengefaßt werden. Die Fähigkeit zur isolierenden Abstraktion, die bei den einzelnen Tieren je nach ihrem phylogenetischen Entwicklungsstand sehr unterschiedlich ist, kann experimentell dadurch getestet werden, daß zunächst ein definiertes Engramm ausgebildet wird, dessen Umsetzungsmöglichkeiten in bestimmte motorische Reaktionsfolgen kontrolliert wird. In einem ersten Versuchsschritt wird eine fest umrissene Merkmalsklasse ausgebildet, deren Zerlegung in verschiedene Unterklassen dann überprüft wird. Bei der isolierenden Abstraktion geht es um die Kontrolle der »inneren Strukturiertheit< des Psychischen, die letztlich auf den verschiedenen, durch die biologischen Bedürfnisse vermittelten Reizintensitäten der Umgebung beruht. >Lernen< ist in der experimentellen Anordnung dann ein motorisches, durch den Versuchsleiter sensorisch unmittelbar überprüfbares Kriterium der Struktur der Abstraktion. Wie die Konstruktion der Lashleysehen Sprungapperatur (Abb. 14.) zeigt, ist die Umsetzung von Abstraktionsleistungen in motorische Reaktionen des Vt als empirisches Kriterium nicht unproblematisch. Für Ratten ist z. B. die Unterscheidung von Dressurmerkmalen schwierig, wenn der Versuchsapparat durchlaufen werden soll. Wenn die Tiere springen können, erweisen sich ihre Lernleistungen jedoch als wesentlich besser. Eine weitere Differenzierung ist dann notwendig, wenn das Vt z. B. eine Klappe öffnen soll. Die isolierende Abstraktion kann experimentell in sehr verschiedenen Versuchsanordnungen überprüft werden. Einfache Diskriminationsmöglichkeiten werden durch die Konditionierung in Labyrinthversuchen kontrolliert. Das Vt muß sich z. B. an Gabelungen zweier Wege für eine Richtung entscheiden, die über eine Futterbelohnung bestimmt werden kann. Bei einem wiederholten Lauf wird die Fehlentscheidung nicht belohnt. Der Vorteil einfacher T- oder Y-Labyrinthe besteht darin, daß in ihnen das Lernverhalten auch niederer Tiere wie Platt- und Ringelwürmer untersucht werden kann. Das Erlernen von Labyrinthwegen bei Insekten ist an Ameisen (Formica incerta) und Schaben (Periplaneta americana) untersucht und positiv bestätigt worden. Es handelt sich in diesen Fällen um einfache Rechts-Links-Dressuren, die an einem definierten Entscheidungspunkt zu einer alternativen Wahl zwingen, in der die Abstraktion von anderen real möglichen Laufrichtungen überprüft wird. Dieses räumliche Diskriminationslernen kann in seiner Höherentwicklung durch kompliziertere Labyrinthe weiterverfolgt werden, indem Versuchsanordnungen mit mehreren Zwischenzielen konstruiert werden. Auch in den für die operante Konditionierung gebauten Versuchsanlagen werden für das Verhalten des Vt isolierende Abstraktionsleistungen gefordert. Die Skinner-Box, eine Standardversuchsordnung behavioristischer Lernexperi97

mente an Tauben und Ratten, enthält z. B. eine Scheibe, gegen die eine Taube pickt, wobei dann durch einen eingebauten Apperat eine Belohnung freigegeben wird. In einer Vorbehandlung wird zunächst auf das Geräusch des fallenden Futters eine konditionierte Bewegung ausgelöst. Gleich nach dem ersten belohnten Picken wird häufig sofort eine hohe Pickrate erreicht, was aber wahrscheinlich kein Kriterium für intelligentes Verhalten ist, da das Vt vom Menschen nur unwesentlich übertroffen ist. Wenn die Taube in der Skinner-Box, in der sie zunächst nicht auf Lichtreize dressiert wurde, beim Picken gegen die Scheibe nur noch belohnt wird, wenn eine rote Lampe brennt, aber nicht bei grünem Licht, so wird das Picken bei grünem Licht durch Extinktion unterdrückt. Die Taube reagiert in dieser Phase des Experimentes unterschiedlich auf beide Farben und und hat mit dieser Diskrimination zugleich eine Reizbewertung vorgenommen.

Allgemein sind alle lernfähigen Tiere in der Lage, für sensorische Reize, die sie aufgrund ihres angeborenen oder erworbenen Diskriminationsvermögens trennen können, bestimmte >Bewertungen< auszubilden, die in enger Beziehung zu ihrem Funktionszusammenhang in der natürlichen Umwelt stehen, in der biologisch wichtige Reizmuster höher bewertet werden. Die analytische Zergliederung der Umwelt ist eine Voraussetzung für eine schnelle Identifizierung von Nahrungsobjekten oder Freßfeinden. Im Lernexperiment werden die Reizumstände beim Nichterreichen der gewohnten Belohnung zu bedingten Strafreizen, gegen die häufig Flucht- und Meidereaktionen ausgebildet werden. Die am häufigsten zur Uberprüfung der Diskriminationsfähigkeit herangezogenen experimentellen Verfahren sind Muster- und Farbwahlversuche. Es handelt sich dabei um eine Auswahl einer bestimmten Farbe oder eines Musters aus mehreren Färb- oder Muster alternativen. Wichtig für den Ablauf des Unterscheidungsverfahrens ist, daß die für das Vt günstigste sensorische Dimension gewählt wird, in der dann zwei Alternativen zur Wahl abgeboten werden. Die richtige Wahl wird in der Regel durch Futter belohnt. Um den Einfluß anderer mit Farbe eventuell assoziierter Reize zu verringern, werden die Farbmuster in unregelmäßiger Anordnung oder Zufallskombinationen in das Experiment eingeführt. Mit dieser Vorgehensweise konnte festgestellt werden, daß zahlreiche Säugetiere farbenblind sind und ihre visuelle Umwelt sich damit wesentlich von der der Primaten (Simiae) unterscheidet, da sie bei der Diskrimination von Farben versagen. Eine Unterscheidung von Blau und Grün muß jedoch nicht nur aus ihrer Verschiedenfarbigkeit resultieren, sondern kann auch durch ihren unterschiedlichen Helligkeitsgrad bedingt sein, durch den dann eine Farbdiskrimination vorgetäuscht wird. Ratten z. B. reagieren auch auf geringe Helligkeitsunterschiede des Lichtes, während Farbdifferenzen keine oder nur eine geringe funktionelle Bedeutung besitzen. 98

Bild 13 Schwarz-Weiß-Musterpaare bei der Dressur von Mäusen und Ratten. Das positive Dressurzeichen ist jeweils links. Nach Reetz (1957)

Neben der Farbendiskrimination wird im visuellen Bereich auch die Alternative zwischen verschiedenen geometrischen Figuren als Unterscheidungsverfahren häufig eingesetzt. Auch hier kann es sich entweder um eine Zwei- oder Mehrfachwahl handeln. Innerhalb der visuellen Muster werden wieder besondere Varianten wie Winkelgröße, Anzahl der Ecken, Rundungen, gekreuzte Linien, Bevorzugung vertikaler oder horizontaler Linienführung gebildet, deren Abstraktion die zentralnervöse Grundlage umfassender Orientierungsleistungen ist. Die unterschiedliche Gewichtung der Abstraktionsleistung entspricht dabei ebenfalls den funktionellen Anforderungen der jeweiligen Umwelt. Sie ermöglichen die Wanderung innerhalb der Umwelt oder die Heimfindung zum Bau oder Nest innerhalb eines bestimmten Territoriums. Bereits im visuellen Bereich ergeben sich damit drei Wirkungsebenen der isolierenden Abstraktion (1). Einmal muß zwischen verschiedenen Farben unterschieden werden, wobei zwei absoluteEinschränkungen gelten. Einmal können Zapfen überhaupt fehlen, zum anderen sind auch bei farbsehenden Tieren bestimmte Bereiche des sichtbaren Lichtes durch eine Spezialisierung der Farbempfindung objektiv ausgeschlossen (beim Menschen UVLicht). Nur die sichtbaren Farben werden dann unterschiedlich bewertet. 99

Gleiches gilt für die Formwahrnehmung. (2) Auch hier können verschiedene Tiere auf bestimmte geometrische Figuren nicht dressiert werden, während bei anderen Gestalteigenschaften eine Diskrimination stattfindet. Schließlich kann die Dominanz der Färb- gegen Formwahrnehmung unterschiedlich gelöst sein (3).

Bild 14 Verschiedene Versuchsanordnungen zur Überprüfung der Diskriminationsfähigkeit auf zwei Muster bei Nagetieren und Fischen.

Im Lernexperiment vollzieht sich die Entwicklung der isolierenden Abstraktion allgemein in drei Schritten: a. Das Vt kommt in eine definierte experimentelle Situation, in der z. B. ein prägnantes optisches oder akustisches Muster angeboten wird. Die erste Entwicklungsstufe der isolierenden Abstraktion besteht darin, von der Gesamtsituation zu abstrahieren und die besondere funktionelle Bedeutung des spezifischen Reizmusters innerhalb der experimentellen Anordnung herauszufinden. Diese erste analytische Zerlegung wird häufig durch zwei Faktoren erleichtert. Einmal wird die Mehrzahl der Lernexperimente mit Reizmustern durchgeführt, die auch in der natürlichen Umgebung des Tieres von funktioneller Bedeutung sind, und deshalb schnell aus dem sonst unspezifischen Reizhintergrund herausgefunden werden. Außerdem wird die funktionelle Beziehung von Reizmuster und Vt durch Belohnung aktiv hergestellt und verstärkt. Die isolierende Leistung des Vt liegt in dieser Experimentierphase darin, nur bestimmte Reizkomponenten zu beobachten und sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Von den Möglichkeiten der visuellen, akustischen, taktilen, olfaktorischen usw. Reizaufnahme muß die Beschränkung auf einen Sinnesbereich erfolgen, was häufig dadurch erschwert ist, daß im Versuchsverlauf z. B. das Anbieten optischer Muster auch immer mit einer bestimmten Geräuschproduktion verbunden ist. Die isolierende Beschränkung ist die Voraussetzung für die zunehmende Beschleunigung des Lern Verhaltens und die Ausbildung von »learning set sDreieck< und >Quadrat< ist aber nur möglich, wenn nach ihrer Trennung die sie unterscheidenden Merkmale wieder als spezifische Merkmalsklasse >Dreieck< und >Quadrat< generalisiert werden. Jede dieser Abstraktionsklassen enthält dann verallgemeinert die Kriterien, die das Dreieck als Nichtquadrat und das Quadrat als Nichtdreieck bestimmen. Die Merkmalsklasse >Dreieck< kann sich dabei durchaus auch von verschiedenen anderen geometrischen Figuren absetzen. Die Lernleistung in dieser Phase, die dann meist zur quantitativen Messung herangezogen wird, ist doppelter Natur. Zuerst muß eine analytische Zerlegung des optischen Musters in mindestens zwei Unterklassen erfolgen, wobei natürlich auch mehrere Unterklassen je nach Lernkapazität gebildet werden können. Anschließend erfolgt eine Generalisation der isolierten Merkmale. Innerhalb der optischen Muster können dabei bestimmte allgemeine Tendenzen wie die Gegenüberstellung der Diskriminationsfähigkeit innerhalb von Färb- und Formenunterschieden überprüft werden. Für uneingeschränkt farbentüchtige Wirbeltiere wurde dabei festgestellt, daß sie Farbunterschiede leichter erlernen als Formunterschiede (Rensch 1973). Eine weitere Differenzierungsstufe ist dann z. B. die Dressur auf Farbunterschiede. Hier ergaben Untersuchungen, daß die Farbtüchtigkeit selbst bei phylogenetisch sehr nahestehenden Tierarten sehr unterschiedlich ausgebildet sein kann. So ist bei den Schleichkatzen (Viveridae) die Genette (Genetta tigrina suahelica) farbenblind, der Mungo (Herpestes edwardi) vollständig färben tüchtig und die Zibetkatze (Vivericula malaccensis) gelb-blau-blind (Dücker 1957). c. Auch das positive oder negative Dressurmuster wird nicht als undifferenziertes Ganzes aufgenommen, sondern kann noch ein spezielles System von Invarianten bilden, für die mitunter wieder verschiedene Gedächtnisleistungen nachgewiesen werden können. Das optische Muster >Dreieck< kann z. B. gegenüber dem Quadrat bereits dann differenziert werden, wenn das allgemeine Merkmal >Spitzigkeit< gegenüber waagrecht verlaufenden Linien unterschieden wird. Eine genauere Abbildung findet statt, wenn zu 101

dem Charakteristikum >Spitzigkeit< das invariante Merkmal >drei< gefunden wird und beide miteinander kombiniert werden. Einen noch größeren Informationswert enthält das Speicherprogramm >Dreieck< dann, wenn auch die Winkelgröße mit registriert wird. Die Komplexqualität eines gelernten optischen Musters setzt sich deshalb bei höherentwickelten Tieren aus sehr vielen Einzelheiten zusammen, deren geringfügige Änderung auch die Erscheinungsform des Ganzen verändern kann, das dann nicht wiedererkannt wird. Im Prozeß der isolierenden Abstraktion werden aus komplexen optischen Gestalten einzelne Merkmale herausgegriffen, die dann Signalfunktion übernehmen. Je stärker ein Reizmuster zergliedert werden kann, um so wesentlichere Eigenschaften des Objektes können dann wieder als Invarianten zusammengefaßt werden. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die entsprechende Organisation des Receptorsystems und die Herausbildung assoziativer Hirnstrukturen. So können Säugetiere auf ein Streifenmuster gegen ein helligkeitsgleiches Grau bei optimaler Belichtung und günstigstem Wahlabstand dressiert werden. Wenn in der Versuchsreihe der Streifenabstand immer weiter verringert wird, bis keine eindeutige Diskrimination gegenüber dem Grau mehr eintritt, kann damit der kleinste Sehwinkel, bei dem Streifen noch unterschieden werden, festgestellt werden. Diese Werte betragen beim Esel 8*36", beim Indischen Elefanten l O ^ " , beim Rothirsch (Cervus elaphus) i r i 8 " , beim Goldhamster (Mesocricetus) 64" und beim Menschen 20" (Rensch 1973). Auf der Grundlage der Zweifachwahl sind phylogenetisch sehr unterschiedliche Tier gruppen auf ihre analytische und generalisierende Abstraktionsleistung, Farbunterscheidungsvermögen, Lernen von Formunterschieden oder Gedächtnisdauer und Lernkapazität untersucht worden. Von den wirbellosen Tieren sind besonders Insekten Lernexperimenten unterzogen worden. Neben Hummeln und Wespen gehören hier die Bienen zu den bevorzugten Untersuchungsobjekten. Aber auch für die Waldameise (Formica rufa) sind Präferenzen für optische Muster erwiesen. Waldameisen sprechen im Dressurexperiment stärker auf vertikale als auf horizontale Streifenmuster an und sind nicht in der Lage, negative vertikale gegen positive horizontale Streifenmuster zu wählen. (Voss 1967). In einem komplizierten Labyrinth mit 6 Abzweigungen vermochte die Ameisenart Formica incerta den erlernten richtigen Durchlauf bis zu 2 Monate zu speichern (Schneiria 1966). Dressierte Rote Waldameisen behalten die Laufrichtung gegenüber einer künstlichen Lichtquelle bis zu 5 Tagen (Jander 1957). Bienen können ein Kreuz von einem Streifenmuster unterscheiden und sind in der Lage, ein Streifenmuster von einer konturenarmen geschlossenen Fläche zu unterscheiden (Schnetter 1968). Ebenso erfolgt ein Unterscheidungslernen zwischen einer schwarzen Kreisfläche und einem Dreieck oder Quadrat. Andererseits lernen Bienen allgemeinere Invarianten, da sie geometrische Figuren auch dann wiedererkennen, wenn sie vor einem anderen Hintergrund oder in veränderter Farbe geboten werden. So wurde in einem Lernversuch mit Honigbienen eine grüne gegliederte Figur positiv 102

mit Futter belohnt, während eine danebenstehende kompakte grüne Figur keine Bekräftigung für einen Anflug erbrachte. Danach wurden die Merkmale »blau/gegliedert und >blau/kompakt< in ihrer Bevorzugung überprüft. Da die Biene die Invariante >gegliedert< durch isolierende Abstraktion und anschließende Generalisation gebildet hatte, bevorzugte sie auch >blau/gegliedert< gegenüber >blau/kompakt< oder >gelb/kompakt< (Mazochin-Porshnakov 1969). Bei der Differenzierung zwischen einem horizontal angeordneten schwarzen Streifenkreuz und schrägen schwarzen Streifen zeigte sich, daß als invariantes Strukturmerkmal die Winkelstellung gespeichert wird. Honigbienen sind danach in der Lage, Streifen, die um 10 Grad und Kreuzmuster, die um 4 Grad von einander abweichen, zu unterscheiden (Wehner & Lindauer 1967). Auch bei anderen Wirbellosen wie den Cephalopoden ist eine Generalisation auf der Grundlage isolierender Abstraktion eines Merkmals möglich. Kraken (Octopus) können auf die Unterscheidung zwischen einem schmalen senkrechten Rechteck und einem horizontal liegenden Rechteck dressiert werden (Parriss & Young 1962). Die Vt reagierten auch dann noch im Dressursinn als richtig, wenn sich ihre eigene Entfernung gegenüber den optischen Mustern verändert hatte, oder diese selbst vergrößert oder verkleinert wurden. Auch bei der Unterscheidung von Dreieck und Quadrat fand eine derartige Größengeneralisation statt. Kraken sind damit in der Lage, verschiedene Objekte in ihrer Umgebung wie Freßfeinde, Beutetiere usw. auch aus wechselnder Entfernung als gleich zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Die Voraussetzung dieser psychischen Leistungsfähigkeit ist die Bildung bestimmter Invarianten durch Abstraktion. Das hochentwickelte Nervensystem der Cephalopoden ermöglicht es, daß ein Krake gleichzeitig auf ein großes gegenüber einem kleinen Quadrat, ein horizontales gegenüber einem vertikalen Rechteck und auf eine schwarze gegenüber einer weißen Kreisfläche dressiert werden kann (Young 1961). Bei Fischen existieren zahlreiche Versuche sowohl über die Unterscheidungsfähigkeit von Farben, von Formen als auch von Farben gegen Formen. Elritzen (Phoxinus phoxinus) können auf verschiedene schwarze Buchstaben auf weißem Grund dressiert werden. Flußbarsche (Perca fluviatilis) lernten, ein schwarzes R auf weißem Grund von einem weißen L auf schwarzem Grund zu unterscheiden. Dabei wurde allerdings nicht die Form des Buchstaben gelernt, sondern die unterschiedliche Schwarz-Weiß-Verteilung des optischen Musters, denn wenn ein schwarzes L auf weißem Grund als positives Merkmal angeboten wurde gegenüber einem weißen R auf schwarzem Grund, so erfolgte die Wahl des ersteren (Herter 1953). Ebenso ist es möglich, Gründlinge (Gobio gobio) auf die Unterscheidung von zwei ungleichseitigen schwarzen Dreiecken mit jeweils nach oben und nach unten gerichteter Spitze zu dressieren. Herter (1953) konnte außerdem zeigen, daß mehrere Fischarten Farben stärker beachten als Formen. Wenn die Vt z. B. zunächst auf die Unterscheidung von Rotund Blau und dann auf die Differenzierung zwischen Kreis und Dreieck dressiert wurden, so konnte nach der Beherrschung dieser Muster die als positiv erlernte Farbe in dem negativen geometrischen Muster und umgekehrt zur Wahl angeboten werden. In der Mehrzahl der registrierten Reaktionen folgte eine Bevorzugung der Farbe. Mehrere auf Rot-Grün- und Blau-Gelb-Aufgaben dressierte Forellen (Trutta iridea) lernten diese Unterscheidung schneller als die Differenzierung von Kreuz gegen Kreis, während andere geometrische Muster wie senk103

rechte Schlangenlinien gegen horizontale schwarze Balken ebenso schnell wie eine Farbunterscheidung Blau-Gelb gelernt wurde (Saxena 1960). Während zwei Zahnkarpfenarten (Lebistes reticulatus und Xiphophorus helleri) in der Zweifachwahl nacheinander die 4 Aufgaben Rot gegen Grün, Quadrat gegen Kreuz, Blau gegen Gelb und breite gegen schmale schwarz-weiße Streifen unterscheiden lernten, die jedoch nicht bei allen Vt noch zu signifikanten Testergebnissen führten (Rensch 1973), können größere Raubfische wie die Forelle sukzessiv auf 7 verschiedene optische Musterpaare dressiert werden (Saxena 1960). Auch die Gedächtnisdauer ist bei den Guppys geringer. Die Dressur auf 3 waagrecht gegen 2 senkrecht angeordnete Punkte wurde nach 17 Tagen nicht mehr mit repräsentativen Werten beherrscht, während die Forelle die Aufgabe Kreuz gegen Kreis noch 80 Tage nach der Dressur mit 84% (n= 50) löste.

Bild 15 Lernkurven zu Dressuren über die Formunterscheidung bei verschiedenen Fischarten. Auf der Abszisse ist die Anzahl der Dressurfütterungen, auf der Ordinate die Anzahl der positiven Wahlen in Prozent aufgetragen. o o = Zehnergruppen. Nach x x = Zwanzigergruppen. Nach Herter (1953) Auch bei zahlreichen Säugetieren sind Lernexperimente entwickelt worden, um den Generalisationsgrad eines einzelnen Reizes, eines Signals oder bereits eines komplizierten optischen oder akustischen Musters zu überprüfen. Neben den häufig verwendeten Labortieren wie Maus, Ratte, Goldhamster von den Nagetieren und Hund und Katze als Vertreter der Raubtiere finden sich aber auch bereits Angaben über seltener untersuchte Tierarten, von denen die verschiedenen Primatengruppen immer mehr an Bedeutung gewinnen. Einzelne Daten existieren z. B. über Generalisationsleistungen des Waschbären (Procyon lotor) im haptischen Sinnesbereich, über Wickelbären (Potos flavus) sowie über die Bedeutung taktiler Reize beim Erlernen von Labyrinthwegen des Maulwurfs (Talpa europea). Von den stammesgeschichtlich niedriger organisierten Säugetieren sind unter anderem das Opossum (Didelphys virginianus) und das Riesenkänguruh (Macropus rufus) in bezug auf ihr visuelles Unterscheidungsvermögen geprüft worden. Bei dem Opossum, einem nächtlich lebenden Beuteltier, ist das visuelle Lernvermögen sehr begrenzt, während das Riesenkänguruh, das zwar ebenfalls zu den primitiven Beuteltieren gehört, sich aber durch ein relativ gut entwickeltes Gehirn auszeichnet, 7 Zeichenpaare speichern und sukzessiv unterscheiden konnte (Neumann 1961). Bei den Unpaarhufern sind Generali104

sationsexperimente mit optischen Mustern von Giebel (1958) an Pferd, Esel und Zebra durchgeführt worden. Der Indische Elefant ist in seinem optischen Leistungsvermögen, mit der Dressur auf Tonfolgevariationen und das absolute Tongedächtnis mehreren Lernexperimenten unterworfen worden (Altevogt & Rensch 1953, Reinert 1957). In der Mehrzahl der untersuchten Fälle konnte dabei die Entstehung eines generalisierten Begriffes z. B. der >Kreuzhaftigkeit< nachgewiesen werden, (z. B. bei Ratten, Mäusen, Pferd, Esel, Zebra und Elefanten).

3.2. Generalisierende Abstraktionsleistungen Jede isolierende Abstraktion ist zugleich mit einer Generalisation des isolierten Form- oder Farbmerkmals verbunden. Wenn der Experimentator dem Vt z. B. ein bestimmtes optisches Muster anbietet, das unter Beibehaltung mindestens eines invarianten Merkmals in seinen anderen Eigenschaften variiert wird, kommt es im ZNS durch Abstraktion zur Entstehung einer Merkmalsklasse, die durch dieses eine Merkmal definiert ist. In dieser Invarianten sind zugleich die allgemeinsten Eigenschaften einer Klasse von Mustern aufgehoben. Umgekehrt kann das Vt alle weiteren Muster, die über diese Invariante verfügen, mit der gebildeten Merkmalsklasse identifizieren. Der vollständige Abstraktionsprozeß setzt sich daher aus zwei gegenläufigen Komponenten zusammen: einmal aus der analytischen Zergliederung der Umgebung durch isolierende Abstraktion durch die Trennung für das Tier biologisch wesentlicher und unwesentlicher Merkmale, zum anderen aus der Zusammenfassung dieser isolierten Merkmale zu Merkmalsklassen durch generalisierende Abstraktion. Die isolierende Abstraktion kann damit mit gleichem Recht als Voraussetzung der generalisierenden Abstraktion aufgefaßt werden wie umgekehrt die Fähigkeit der Unterscheidung bestimmter Merkmale die Existenz genereller Merkmalsklassen voraussetzt, die die Trennungskriterien liefern. Experimentell ist deshalb eine Uberprüfung von Diskriminationsleistungen nicht möglich, ohne daß zugleich auch Aussagen über die Möglichkeit der Klassenbildung gemacht werden. Die Trennung beider Seiten des tierischen Abstraktionsprozesses ist damit eine nur für den menschlichen Erkenntnisvorgang mögliche methatheoretische idealisierende Abstraktion, da beide objektgebundenen Abstraktionsrichtungen trotz ihres engen funktionellen Zusammenhanges auch über eine spezifische Eigengesetzlichkeit verfügen. Im Prozeß der generalisierenden Abstraktion erfolgt eine Synthese der Ergebnisse der isolierenden Abstraktion, deren Umfang dann die cognitive Leistungsfähigkeit des Vt bestimmt, da mit dem Umfang der Klassenbildung auch die Zahl der Verhaltensmöglichkeiten gegenüber einer immer 105

größeren Menge von Ereignissen in der Umgebung anwächst. Die Generalisationsfähigkeit von Tieren betrifft aber nicht nur die Extension von Merkmalsklassen, sondern auch bereits die Entstehung mehrerer intensionaler Abstraktionsebenen. a. Einmal wird die Menge der isolierten Merkmale eines Gegenstandes zu verschiedenen Merkmalsklassen zusammengefaßt. Die Abstraktionsleistung ist dabei 1.) von der Anzahl der objektiv vorhandenen Gegenstandseigenschaften und 2.) vom Grad der analytischen Zerlegung der verschiedenen Objekteigenschaften durch isolierende Abstraktion abhängig, die bei den jeweiligen Tierarten je nach ihrem phylogenetischen Entwicklungsstand sehr unterschiedlich ist. Während bei elementaren Abstraktionsleistungen das Objekt nur über ein zentrales Merkmal identifiziert wird,kann das gleiche Objekt durch höherentwickelte Tierarten z. B. bereits in bezug auf seinen Temperaturgradienten, die Farbe, die geometrische Figur, Masse und andere Eigenschaften im ZNS abgebildet werden. Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist die permanente praktische Auseinandersetzung des Tieres mit diesem Gegenstand durch seine biologische Bedeutsamkeit z. B. als Nahrungsobjekt. Der Selektionsdruck durch Nahrungskonkurrenten zwingt zu einer immer vollständigeren und vielseitigeren Widerspiegelung in einer Kopie. Durch die ständige Wendung der Abstraktion auf dieses eine Objekty dessen Totalität in einem System von Merkmalsklassen ideell reproduziert werden muß, bildet sich eine Vorform des konkreten (dialektischen) Denkens heraus. Maßstab der Abbildung bleibt der Gegenstand selbst. b. In der generalisierenden Abstraktion kann aber auch eine Klassenbildung über die Anzahl der Wiederholungen eines identischen Futtergegenstandes erfolgen. Uber die Menge der fortlaufenden Wiederholungen kann damit selbst wieder eine Merkmalsklasse gebildet werden. Ein weiterer Komplikationsgrad der tierischen Abstraktion ist dann erreicht, wenn von der Gleichheit in der Wiederholung abstrahiert werden kann und über die Merkmalsklassen >Apfel< und >Buch< die Klasse >zwei< gebildet wird, wie dies in Lernversuchen mit Menschenaffen erreicht werden konnte. Jeder Gegenstand, der in der Tendenz a.) der generalisierenden Abstraktion die empirische Grenze der Klassenbildung ist und ihren Umfang objektiv bestimmt, ist nun selbst wieder Element einer umfassenderen Klasse, über deren Konstituierung lediglich seine allgemeinste Eigenschaft - Existenz oder Nichtexistenz - entscheidet. Diese Klassenbildung über Klassen kann als eine naturhistorische Vorform des abstrakten (logischen) Denkens betrachtet werden. Experimentell ist diese Fähigkeit bisher besonders in >Zählversuchen< bei Vögeln untersucht worden. Die Tendenzen zu >konkreten< und >abstrakten< Abstraktionen im tierischen Abstraktionsprozeß zerfällt, wie bereits angedeutet, ebenfalls wieder in spezifische Unterebenen. So kommt es in der Abstraktionsrichtung a.) 106

einmal zur Generalisation der verschiedenen Eigenschaften eines Gegenstandes, gleichzeitig ist aber klar, daß biologisch ein ganzes System derartiger Nahrungs-, Feind- und Sexualobjekte für die Art und Selbsterhaltung wichtig ist. Dieses System der möglichst vielseitig bestimmten Objekte macht die spezifische Umwelt eines Tieres aus, die aus der Sicht der Abstraktionsleistungen damit zwei Dimensionen enthält: einmal die maximale Totalität des einzelnen Objektes, zum anderen aber die Totalität der Verknüpfung möglichst vieler derart bestimmter Gegenstände. Auf der Grundlage mehrerer Abstraktionsprozesse, die zunächst zu einer einfachen Klassenbildung, bald aber auch zu einer Zusammenfassung dieser verschiedenen Merkmalsklassen in allgemeinere Klassen als logische Oberbegriffe führen, entsteht schließlich im ZNS ein ideelles inneres Modell der Umgebung als >UmweltUmwelt< auch eine spezifisch soziale Dimension mit der Abbildung der Rangstrukturen.

Bild 16 Generalisationsexperiment beim Indischen Elefanten (Rensch & Altevogt 1953). Durch die Abwandlung des Kreuzmusters kann die Generalisationsfähigkeit der isolierten Invariante >Kreuzhaftigkeit< geprüft werden. Eine Verminderung der schwarzen Fläche wirkt störender als eine Drehung um 45 Grad (Schrägkreuz). Die Umkehr der Schwarz-Weiß-Verhältnisse des Kreuzmusters bietet auch bei anderen Tierarten besondere Schwierigkeiten. 107

Auch für die abstrakte Tendenz tierischer Abstraktionsleistungen ist eine Stufung anzunehmen, da ein Unterschied besteht, ob die Klassenbildung über eine identische Wiederholung des gleichen Gegenstandes wie z. B. eines Futterkorns kommt, was den einfacheren Fall darstellt, oder abstrakte Klassen über eine Reihenfolge verschiedener Gegenstände gebildet werden. Die Verwendung des Zahlbegriffs bedeutet dabei nicht, daß die Elementmenge 3 oder 5 benannt werden kann, sondern lediglich die Anzahl. Ebenso bezeichnet die >averbale Begriffsbildung< bei Tieren die Entstehung einer Merkmalsklasse, die im Unterschied zum Menschen nicht verbal artikuliert und durch besondere Zeichensysteme (Wörter) explizit benannt werden kann, aber doch auch zunehmend die Verhaltenskontrolle übernimmt. Die Kenntnis des Generalisationsgrades der >averbalen Begriffsbildung< ermöglicht Voraussagen, die experimentell als >Lernen< gemessen werden können.

Bild 17 Abstraktionsschwierigkeiten bei der Generalisation enthält auch das sogenannte Oddity-Problem, das Lashley (1938) in Lernexperimenten mit Ratten entwickelte. Dabei wird zunächst ein Kreuz als positives Merkmal gegenüber zwei Kreisflächen angeboten, anschließend wird das Vt auf die Kreisfläche gegenüber zwei Dreiecken dressiert. Der entscheidende Generalisationsschritt besteht dann darin, jeweils das ungleiche Objekt zu wählen, gleichgültig, ob dies das dreieckige oder runde Objekt ist.

Gegenüber den jetzt überwiegend auf der Verhaltensebene angesiedelten Lernexperimenten über die Invariantenbildung durch Generalisationsprozesse und Diskrimination ist von der Theorie der höheren Nerventätigkeit 108

ursprünglich ein mehr physiologisches Modell der Abstraktionsbildung bei Tieren entwickelt worden. Pawlow (1953) hatte bei Experimenten an Hunden beobachtet, daß ein bedingter Reflex des Versuchstieres nicht eindeutig auf einen Reiz ausgebildet wird, sondern innerhalb eines Reizkontinuums von Reizänderungen existiert. Der bedingte Reflex ist deshalb nicht streng an die physikalischen Eigenschaften des bedingten Reizes gebunden, sondern folgt deren Abänderung seinerseits mit einer entsprechenden Abschwächung des Verhaltens, gleichgültig, ob es sich z. B. bei einer auditiven Konditionierung um eine Veränderung der Tonhöhe oder der Amplitude handelt. Wenn ein Hund auf einen bedingten Reiz von 1000 Hz zur Speichelsekretion konditioniert wird, so tritt, wenn der bedingte Reflex ausgebildet ist, außerdem eine Speichelabsonderung bei 1200 Hz und 1400 Hz sowie auch bei 800 Hz und 600 Hz auf. Je ähnlicher der Reiz der ursprünglichen physikalischen Eigenschaften des bedingten Reizes ist, um so ähnlicher ist auch die Reaktion. Umgekehrt findet auch bei einem Unterschied von plus oder minus 400 Hz mit großer Regelmäßigkeit noch eine Speichelabsonderung des Versuchstieres statt. Diese kontinuierliche Integration ähnlicher Reizmerkmale in die Funktion des bedingten Reizes bezeichnete Pawlow als Generalisation, die eine elementare tierische Abstraktionsleistung darstellt und direkt in der Abnahme der Amplitude der bedingten Reaktion bei einer Verringerung der Reizähnlichkeit gemessen werden kann. Der bedingte Reiz ist also keine Konstante, sondern realisiert sich innerhalb eines sensorischen Kontinuums, dessen Parameter durch die ursprünglichen Reizbedingungen definiert sind. Die genauen Grenzen des Generalisationsprozesses können durch Diskriminationslernen festgelegt werden, wenn z. B. ein Ton von 200 Hz mit einem unbedingten Reiz gekoppelt wird, um beim Füttern die Speichelsekretion auf einen bedingten Reiz, in diesem Fall ein akustisches Signal, zu konditionieren, gleichzeitig aber auch mit dieser Ausbildung ein Ton mit der Frequenz von 1000 Hz angeboten wird, auf den der unbedingte Reiz als Futterreaktion nicht folgt. Der Diskriminationsvorgang beschreibt dabei genau die Grenzen der Klassenbildung des Generalisationsprozesses des bedingten Reizes: Bei 200 Hz erfolgt eine eindeutige Speichelsekretion, bei 1800 Hz jedoch nicht. Je nachdem, in welchem Bereich die differentielle Verstärkung durch einen unbedingten Reiz erfolgt und in welchem nicht, kann die Bildung von Reizklassen und damit das Ausmaß der Generalisation bestimmt werden. Der ursprünglich positiv bedingte Reiz nimmt bei der von ihm ausgehenden Reaktionsintensität in einem Generalisationsdekrement ab. Die zwischen dem 1. Reiz (200-Hz-Ton mit Speichelabsonderung) und dem 2. Reiz ((1800)-Hz-Ton ohne Speichel) bestehende Funktion der Abnahme der Speichelsekretion wird auch als Generalisationsgra109

dient bezeichnet. Die Ausbildung von Merkmalsklassen bei der Entstehung bedingter Reize entspricht bereits einer einfachen Mengenbildung, die in diesem Fall kontinuierlich in andere Reizklassen übergeht. Durch eine differentielle Verstärkung von zwei oder mehreren Reizen kann die Extension dieser Klasse genau bestimmt werden, indem der bedingte Reflex auf den 1. bedingten Reiz (200 Hz) in seiner Amplitude bekräftigt, die Generalisation auf den 2. bedingten Reiz aber abgeschwächt wird. Die Reizdiskrimination ist damit der gegenläufige Prozeß zur Reizgeneralisation.

Bild 18 Generalisationsgradient, derauf einen sensorischen Bereich begrenzt bleibt. Pawlow beobachtete auch Generalisationen zwischen verschiedenen sensorischen Bereichen wie z. B. taktil bedingten Reizen und auditorischen Reizen.

3.2.1. Klassenbildung als mnbenanntes 2ählen< bei Vögeln Die Abstraktionsfähigkeit von Tieren, Mengen von Elementen selbst wieder zu Elementen einer abstrakten Menge zusammenzufassen, ist von Koehler (1941) als >unbenanntes Zählenaverbalen Zahlenbegriffes< bezeichnet worden. Im Gegensatz zum menschlichen Zählen existieren keine Zahlwörter. Daß derartige Dressurversuche, die meist ohne Strafreize durchgeführt werden, sich überwiegend auf Vögel beziehen, hat lediglich methodische Gründe, da hier die Experimente leichter durchführbar sind. Sowohl für die Fähigkeit, gleichzeitig (simultan) nebeneinander gebotene Anzahlen voneinander zu unterscheiden wie auch nacheinander (successiv) gebotene Klassen motorisch abzuhandeln, besteht nach den bisherigen 110

Ergebnissen eine objektive obere Grenze, die von dem phylogenetischen Entwicklungsstand des Vt abhängt. Bei der Taube beträgt sie 5, bei der Dohle und dem Wellensittich 7, bei der Elster und dem Kolkraben 7, während ein Graupapagei 8 erreichte. Möglicherweise hat die Lerntechnik einen Einfluß auf den Umfang der Klassenbildung, da bei Tauben mit der Skinner-Methode höhere Werte erreicht wurden. Sowohl die simultane wie auch die successive Abstraktionsfähigkeit kann dann in verschiedenen Kombinationen überprüft werden: a. Simultan-simultane Musterwahlversuche. Aus einer bestimmten Anzahl von Mustern muß dabei das einzige mit dem positiven Dressurmerkmal gleiche ausgewählt werden. Auch eine Umkehrung ist möglich. Danach muß aus mehreren gleichen Mustern das einzig andere ausgewählt werden. b. Bei simultan-successiven Abstraktionsleistungen werden gesehene Anzahlen in motorische Reaktionen umgesetzt. Z. B. werden dabei soviel Körner aufgepickt, wie auf einem Muster aufgezeichnet sind, auch wenn

Bild 19 (a) Das Dreiermerkmal wird belohnt, bei dem Deckel mit 4 Punkten wird das Vt jedoch verjagt. Wenn auf den Deckeln keine Punkte, sondern nur Mehlwürmer sind, wird nur die vorher gelernte Menge aufgenommen. Zwischen den Bildern ist durch Abstraktion eine durch die Elementzahl bestimmte Identifikation hergestellt worden, (b) Das Vt lernt, 4 Körner zu fressen, 5 jedoch liegenzulassen. Auch nach einer Verschmelzung der Mengen wird weiter die gleiche Anzahl aufgenommen. Die Möglichkeit, daß keine Anzahlen, sondern die regelmäßige Folge von Pickbewegungen gelernt wird, kann dadurch ausgeschlossen werden, indem die Anzahl in unterschiedlich großen Zeitabständen angeboten wird. 111

die angebotene Menge größer ist. Derartige Umsetzungen sind sowohl auf visuellen wie auch auf akustischen Gebieten durchgeführt worden. c. Bei successiv-simultanen Abstraktionsleistungen werden z. B. eine bestimmte Anzahl von Ködern aufgepickt und dann nach der Menge der Pickreaktion das entsprechende visuelle Muster gewählt. d. Auch eine successiv-successive Umsetzung gleicher Klassen ist möglich, indem z. B. gesehene Reizfolgen abgehandelt werden. Ein Graupapagei lernte so nach zwei Lichtblitzen an ständig wechselnden Schälchenreihen die entsprechende Anzahl von Futterstückchen aufzunehmen. Nach dieser Abstraktionsleistung, die auch mit anderen Zahlenwerten durchgeführt werden konnte, war eine dressurfreie Umstellung auf akustische Signale möglich. Diese Gleichsetzung von akustischen und optischen Signalen zeigt, daß die Transponierbarkeit der Klassenbildung unabhängig von der sensorischen Grundlage erfolgt. Die Fähigkeit zur Unterscheidung simultan angebotener Klassen ist bei mehreren Tierarten experimentell überprüft worden. Das Vt lernt dabei z. B., den Deckel einer Futterschale abzuwerfen, der eine in der Dressur gelernte bestimmte Punktzahl aufweist, während gleichzeitig angebotene Deckel mit einer anderen Punktzahl keine Reaktion auslösen. Ein Stieglitz (Carduelis carduelis) kann darauf dressiert werden, von einer Unterlage drei Hanfkörner aufzupicken, ein einzelnes aber liegen zu lassen. Bei einer Wahl von 3 gegen 2 Körner wählte der Vogel bei 45 Versuchen 43 mal die richtige Menge. Methodisch überzeugender sind die Lernversuche, wenn die kleinere Futtermenge als positiv ausgewählt werden muß, da hier keine automatische Zuwendung zu der größeren Anzahl als erleichternde Bedingung unterstellt werden kann. Haustauben konnten darauf dressiert werden, von Körnergruppen, deren Elementmenge jeweils drei und vier war, die Gruppe mit drei Körnern aufzupicken, die andere Körnergruppe aber unberührt zu lassen. Wenn der Fall experimentell hergestellt wird, daß die beiden zu unterscheidenden Mengen nur um ein Element differieren und gleichzeitig die Gesamtzahl beider Elementmengen proportional vergrößert werden, so ergibt sich eine objektive Grenze für das Erfassen von Anzahlen. Während eine Unterscheidung von 5:4 bei positiver Belohnung der ersten Menge bei der Mehzahl der Versuchstiere noch einwandfrei gelang, bereitet die Differenzierung von Körnergruppen mit 6:5 Elementen bereits Schwierigkeiten. Bei Dohlen und Wellensittichen können Mengen bis 6 richtig identifiziert werden, Kolkraben und Amazonenpapageien reagieren noch bei Elementmengen mit 7 Einheiten mit signifikanten Werten, während der Graupapagei die für die Vögel bisher höchste Zahl von 8 erreicht. Bei den Säugetieren, von denen aber bisher nur wenige Arten in dieser Abstraktionsfähigkeit der Unterscheidung simultan angebotener Mengen mit einer möglichst großen Anzahl von Elementen untersucht worden sind, betragen die Werte für das Eichhörnchen 7, für den Rhesusaffen 13, während für den Menschen auf der Basis tachistokopischer Darbietungen die Unterscheidungsfähigkeit von Mengen mit 17 gegen 16 Elemente nachgewiesen ist. (Rensch 1973) 112

Eine weitere Steigerung der Abstraktionsfähigkeit des Simultanvermögens als gleichzeitiger Unterscheidung verschiedener Elementmengen kann erreicht werden, wenn die im sukzessiven Lernexperiment aufeinanderfolgenden Elementmengen selbst wieder variieren, und zunächst Mengen mit vier, dann mit sieben usw. Elementen angeboten werden. Uber die Identifizierung der jeweiligen Punktzahl und der Menge der Körner hinaus muß im Wechsel der Elementmengen unabhängig von ihrer spezifischen Zahl die Identität von Punktmenge und Körnermenge als allgemeines invariantes Merkmal gelernt werden. Bereits bei der Erfassung der Punktmenge des optischen Musters muß davon abstrahiert werden, in welcher räumlichen Konfiguration die einzelnen Elemente angeordnet sindy so daß es sich bei der averbalen Zahlenbildungnichtum eine einfache Reproduktion optischer Struktureigentümlichkeiten des Reizmusters handelt. Der Abstraktionscharakter der Mengenbildung wird auch durch die Transponierbarkeit der Elementzahl nahegelegt. So wurden Dohlen darauf dressiert, von Futterschalen den Deckel mit 3 Punkten abzunehmen, den mit 4 Punkten jedoch nicht zu berühren: Als auf den entsprechenden Deckeln aber keine Punkte mehr waren, sondern Mehlwürmer lagen, fraß das Vt nur die drei Mehlwürmer und warf auch den Deckel von der Futterschale nicht mehr ab. Eine andere Erschwerung, die die Lernleistung demonstriert, ist z. B. die Auswahl einer relativen kleinen Futtermenge von zwei oder drei Körnern, gegenüber einer großen Futtermenge. Wellensittiche hören so im Dressurexperiment bereits nach 2 Körnern auf zu picken, obwohl die Gesamtzahl der vorhandenen Futterkörner mehrere hundert betragen kann. Andererseits gibt es auch verschiedene Möglichkeiten, die Ausbildung derartiger averbaler Zahlen begriffe durch ein schrittweises methodisches Vorgehen im Experiment zu erleichtern. Der erste Schritt besteht darin, daß auf einer Unterlage nebeneinander zwei Gruppen von Körnern ausgelegt werden. Das Vt darf dann z. B. nur von der Zweiergruppe, aber nicht von der Dreiergruppe fressen, von der es fortgescheucht wurde. Einen größeren Schwierigkeitsgrad stellt dann die Variation dar, bei der die Körner in einem verdeckten Kästchen aufgesucht werden sollen, da in diesem Fall erst der Deckel abgeworfen und die entsprechende Mengenvorstellunge auf die Belohnung transponiert werden muß. Die Ausbildung der Verstärkerwirkung und damit das Ausmaß der Transponierbarkeit des averbalen Zahlenbegriffs kann dadurch erleichtert werden, daß die Mengen auf den Deckeln an unterschiedliche geometrische Muster gebunden sind. Die Unterscheidung zwischen zwei Mengen mit einer unterschiedlichen Elementzahl wird dann durch die visuelle Diskrimination z. B. zwischen Quadrat und Dreieck unterstützt. Schließlich können die verschiedenen Mengenelemente auch in beliebiger räumlicher Anordnung in das Experiment eingeführt werden. Bei Tieren mit hoher Abstraktionsleistung wie Rabenvögeln können die Mengenbildungen auch ohne eine vorhergehende figurative Unterstützung erreicht werden. Kolkraben z. B. und Dohlen lernen die Unterscheidung zwischen zwei Mengen mit einer unterschiedlichen Elementzahl auch trotz verschiedener Abänderungen der konfigurativen Anordnung, der Lage und der Größe der Punkte. Eine qualitativ neue Entwicklungsebene der generalisierenden Abstraktion ist schließlich dann erreicht, wenn die Vögel in der Lage sind, eine bestimmte Elementmenge in einer zeitlich verschiedenen Folge aufzunehmen. Die Vt lernen dann z. B., keine Deckel mehr abzuheben, wenn sie eine bestimmte Menge von Körnern gefun113

den haben, oder sie nehmen aus einer größeren Elementmenge nur eine bestimmte Anzahl auf. Dabei kann das simultane Abstraktionsvermögen, zwischen räumlich gleichzeitig angebotenen unterschiedlichen Elementmengen zu unterscheiden, in das sukzessive Abstraktionsvermögen transformiert werden und eine bestimmte Elementmenge in eine entsprechende Menge motorischer aufeinanderfolgender Reaktionen ineinander überführt werden. Wenn eine Taube z. B. simultan die Elementmengen 2:1 unterscheiden kann, ist es möglich, die räumliche Lage der ursprünglichen Zweiergruppe so zu verändern, daß alle drei Elemente auf dem Körnerbrett gleich weit voneinander entfernt sind. Auch in diesem Fall fraß die Taube zwei Körner und ließ das dritte liegen. Durch eine entsprechende Strukturänderung konnte jedes der drei angebotenen Körner übrigbleiben. Das Vt hatte durch Simultanwahl einen bestimmten Mengenbegriff gebildet, der anschließend in eine Sukzessivwahl transformiert wurde. Wenn ein umfangreicherer Mengenbegriff gebildet worden war, so wurden von der Taube ebenfalls zunächst zwei oder drei Körner als eine Gruppe aufgenommen und anschließend aus einer unendlich großen Menge von Körnern die entsprechende Elementzahl ergänzt, ohne daß mehr Körner gefressen wurden. Daß es sich bei dem sukzessiven Unterscheidungsvermögen von Mengen in einer bestimmten Handlungsfolge nicht um das Erlernen eines Prozeßrhythmus handelt, konnte dadurch ausgeschlossen werden, indem das Vt z. B. lernte, die entsprechende Anzahl von einer Drehscheibe zu nehmen, an deren Futteröffnung ein Korn, Korngruppen oder auch Körner erschienen. Ebenso erlernten Tauben, aus einer Serie von Futternäpfen eine bestimmte Anzahl von Erbsen aufzunehmen, gleichgültig, ob in einem Futternapf mehrere oder keine Erbsen waren. Die Mengenbildung wurde dann eingehalten, wenn die einzelnen Elemente in zeitlich unterschiedlichen Abständen angeboten wurden. Da in einigen Versuchen auch ein mehrmaliges Picken notwendig war, um die definitive Endzahl zu erreichen, kann ausgeschlossen werden, daß die entscheidende Rückmeldung nur über den Vollzug der motorischen Reaktion erfolgt. Eine interessante Umsetzung von durch generalisierende Abstraktion gebildeten Mengen in eine entsprechende Handlungsfolge erreichte Ferster (1964) bei Schimpansen, die gesehene Anzahlen von einer Projektionswand in ein binäres Codierungssystem umsetzen konnten. Die Vt lernten zunächst, den Zustand von drei waagerecht nebeneinanderstehenden dunklen und hellen Kreisflächen durch das Einbzw. Ausschalten von 3 Lampen wiederzugeben. Je nach Zustand der auf der Projektionswand erscheinenden Muster wurde durch das unterschiedliche Ein- und Ausschalten der Lampen das optische Muster codiert (1. durch dunkel-dunkel-hell, 2. durch dunkel-hell-dunkel usw.). Nach dieser Einschaltoperation wurde ein weiterer Schalter betätigt, der ein Lämpchen außerhalb des Musters aufleuchten ließ, wenn die Codierung richtig erfolgt war. Wenn dies der Fall war, wurde eine Futterbelohnung freigegeben.

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3.2.2. >Ich-Bewußtsein< bei nichtmenschlichen Primaten f Sowohl die Evolution isolierender wie generalisierender Abstraktionsleistungen ist das Ergebnis eines harten zwischenartlichen Konkurrenzdrukkes bei der Erschließung neuer ökologischer Nischen und des Ausweichens vor Raubfeinden. Ihr Selektionswert ist unter anderem auch dadurch begründet, daß aus der Vielfalt der Abwandlungen eine durchschnittliche Reizkonstellation herausgefiltert wird, die auch bei einer Umgebungsänderung noch ein biologisch sinnvolles Reagieren gestattet. Ein besonderer Aspekt der generalisierenden Abstraktion ist dabei die Verarbeitung der über mehrere Sinnesmodalitäten einfließenden Informationen. Zahlreiche Dressurversuche arbeiten mit geometrischen Strukturen, die aus menschlichen Raumvorstellungen abgeleitet sind. Lehr (1967) hat deshalb das Generalisationsvermögen von Kapuzineraffen, Rhesusaffen und Halbaffen (Lemur catta) an Objekten untersucht, die für die Vt auch unter natürlichen Lebensbedingungen von biologischer Bedeutung sind. Zunächst wurden die Tiere auf naturalistische, nichtfarbige Blütenbilder dressiert, die von gleichgroßen Blatt- und Samenbildern unterschieden werden mußten. Auch bei stark abweichenden Blütenschemata wurden die Blüten in signifikanten Prozentsätzen identifiziert. Eine weitere Vereinfachung auf nur wenige Gestaltkomponenten zeigte, daß für die generalisierende Abstraktion die sternförmige Anordnung der Formelemente als Blüte entscheidend war. Für eine positive Reaktion genügt bereits eine halbe Sternfigur, so daß Blütenbilder auch in der Seitenansicht richtig bewertet werden. Eine ähnliche Generalisationstendenz läßt sich auch in der Klassenbildung über Insekten feststellen. Dabei mußten verschiedene Insektenformen von in der Natur ähnlichen vorkommenden Strukturen wie Welkblätter, Knöchelchen u. ä. unterschieden werden. Außerdem wurden die in Grautönen dargestellten Bilder auch um 90,180 und 270° gedreht. Selbst bei einem Test auf 20 unbekannte Muster, die langbeinige und kurzbeinige Insekten in der Seitenansicht darstellen, reagieren Kapuzineraffen mit 87% und Rhesusaffen mit 88% Richtigwahlen. Insekten gehören zu der tierischen Kost zahlreicher Primatenarten.

Die Maxima der generalisierenden Abstraktion bei Primaten sind in mehreren Experimenten überprüft worden. Bernstein (1961) hat die Generalisationsfähigkeit von Rhesusaffen, Schweinsaffen, Schimpansen, Orang-Utan und Menschen untersucht, indem aus einer Versuchsserie von 5 verschiedenen Objekten jeweils dasjenige mit extremen Eigenschaften (abweichende Form, besondere Färbung) ausgewählt werden mußte. Auch die restlichen 4 unter diesem Gesichtspunkt gleichen Objekte unterschieden sich nochmals in verschiedenen Eigenschaften, so daß aus einer insgesamt sehr verschiedenen Menge von Merkmalen die eigentliche Invariante herausgefunden werden mußte. Eine Identifizierung dieses Merkmals an neuen Objekten wurde von allen genannten Primatenarten gelöst. Derartige Ergebnisse zeigen, daß die Umwelt der Primaten bereits in einem hohen Maße durch generalisierende Abstraktionen verschiedenen 115

Allgemeinheitsgrades gebildet wird. Die Umwelt selbst stellt eine Generalisation der verschiedenartigen generalisierenden Einzelabstraktionen dar, die aber nun bereits auch selbst wieder individualisiert wird. Besonders bei Tierarten, deren Abstraktionsmöglichkeiten durch angeborene Verhaltensreaktionen determiniert werden, sind die Umwelten der verschiedenen Artgenossen weitgehend konstant und zwischen verschiedenen Individuen mit gleicher Motivation homogen. Der Wechsel verschiedener »Stimmungen z. B. als Flucht, Aggression usw. wiederholt sich innerhalb der Art synchron. Die Erschließung der Umwelt eines bestimmten Individuums ist zugleich die Erschließung der Umwelt der jeweiligen Art. Die Umweltstruktur selbst (also die ideelle Abbildung der Umgebung in ZNS des Tieres) kann davon unabhängig bereits diskontinuierlich strukturiert und mit verschiedenen psychischen Akzentuierungen besetzt sein. Diese Beziehung wird dann komplizierter, wenn die zunächst artgleiche Umwelt zunehmend individuelle Besonderheiten annimmt durch den Einbau von Lernerfahrungen, Traditionsbildung, Berücksichtigung der eigenen sozialen Stellung in der Gruppe usw. Diese Individualisierung der Umweltbeziehungen, die besonders bei sozial lebenden Primaten naheliegend ist, führt zu einem besonders interessanten Generalisationsprozeß: der Verallgemeinerung der verschiedenen Erfahrungen über die eigene Individualität. Die Frage, inwieweit höhere Primaten innerhalb bestimmter Situationen bereits einen averbalen Ich-Begriff ausbilden, ist vor allem methodisch ein schwieriges Problem, da zwar zahlreiche Verhaltensbeobachtungen unterschiedlicher Autoren vorliegen, in letzter Konsequenz aber doch eine introspektive Interpretation des Verhaltens unterstellt wird. Besonders die Verschiedenartigkeit der einzelnen Beobachtungen zeigt jedoch, daß die Annahme eines begrenzten Selbstverständnisses der eigenen psychischen Individualität in zeitlich limitierten, teilweise nur wenigen Minuten dauernden Situationen die bisher plausibelste Erklärung ist. Diese Herauslösung der eigenen Existenz aus dem Naturzusammenhang wird über die Strukturierung der Umweltvorstellung eingeleitet, in der die Entdeckung des eigenen Ich einen Abschluß und eine besonders umfassende Generalisierung bildet. Zunächst erfolgt die psychische Akzentuierung über die Heraushebung besonderer Umweltbereiche, die biologisch wichtig sind. Ideell werden sie über eine umfassende generalisierende Abstraktion reproduziert, der sich, wie bei Freilandbeobachtungen an Schimpansen bestätigt werden konnte (Lawick-Godall 1971), eine materielle Herauslösung von Gegenständen als Manipulationsinstrumente anschließt. Die Umwelt wird damit nicht nur ein ideelles Abbildverhältnis, sondern ein aktives Wechsel Verhältnis, das durch ein Tätigkeitsmoment charakterisiert ist. In dieser Zerlegung der Umwelt, am direktesten in der 116

materiellen Aneignung, wird die Unterschiedenheit zu eben dieser Umwelt erfahren und allmählich eine Subjekt-Objekt-Trennung vorbereitet. Die Entstehung elementarer Vorformen der Subjektivität, die zugleich der Ausdruck höchster psychischer Individualität ist, ist selbst wieder Rejektion der Erfahrung, durch eigene Operationen die Umwelt ideell und materiell in verfügbare Abschnitte zu zerlegen. Dieser Zustand ist bei Primaten zunächst sicher nicht gattungsbedingt gewesen, sondern beschränkte sich auf einige besonders entwickelte Individuen, die ihrerseits nur während kurzer Phasen die Ebene der Selbstreflektivität erreichten. a. Als eine Verhaltensgrundlage für die Entstehung elementarer IchVorstellungen können die verschiedenen Aspekte der Komfortbewegung wie Sichlecken, Sichwälzen, Baden usw. angesehen werden, durch die zunächst auf angeborener Basis eine Zuwendung zum eigenen Körper erfolgt, bis später kompliziertere psychische Beziehungen entstehen. Durch Bewegen der eigenen Extremitäten, Schmerzen und positive Stimmungszustände kann schließlich eine psychische Trennung der eigenen Situation von den Objekten der Umgebung erleichtert werden. Sowohl Köhler (1973) als auch Hayes (1951) berichten über ein Verhalten von Schimpansen, das als >Schmücken< verstanden wird, da die Tiere sich mit bestimmten Gegenständen behängten oder mit Kalk bemalten. Ob es sich dabei um ein ästhetisches Selbstverständnis handelt ist zweifelhaft. Näherliegend ist wohl eine lustbetonte Steigerung des allgemeinen psycho-physischen Zustandes, da z. B. die Schimpansin Chica mit einem kiloschweren Stein paradiert und rhythmische Bewegungen ausführt. b. Eine andere ethologische Möglichkeit der Evolution eines >Ich-Verhaltens< bietet das Schutz- und Territorialverhalten, indem ein bestimmtes Biotop zum >Heim< wird und eine entsprechende Behandlung erfährt. Das Gebiet wird schließlich als >Besitz< behandelt und entsprechend verteidigt, was zunächst ebenfalls auf der Grundlage von Erbkoordinationen geschieht. Derartige Bindungen können sich auch auf materielle Objekte oder Jungtiere bzw. Artgenossen beziehen, was jeweils die Unterscheidung von anderen Bezugssystemen voraussetzt. c. Köhler (1973), Wazuro (1956), Crawford (1937) u. a. beobachteten mehrmals das kooperative Verhalten bei Schimpansen, die bei einer zu schwierigen Aufgabe entweder den Artgenossen oder den Experimentator in den Lösungsablauf mit integrierten. So lernten Schimpansen, eine schwere Kiste mit Futterbelohnung mit Hilfe zweier Stricke heranzuziehen, indem sie gemeinsam arbeiteten. Andererseits liegen aber auch zahlreiche Beobachtungen vor, die nur eine begrenzte Kooperationsfähigkeit zeigen und bei denen praktisch jedes Tier individuell seinen eigenen Lösungsweg sucht. Wahrscheinlich gibt es auch hier zwischen den solitären Lösungsversuchen und dem idealen menschlichen Kooperationsverhalten 117

zahlreiche Ubergänge, bei denen sowohl die Art der Aufgabe wie auch die Anwesenheit eines besonders intelligenten Schimpansen, durch den dann die Integration erfolgt, eine wichtige Rolle spielen. Die Einsicht in die eigene Beschränkung, die immer ein elementares Selbstverständnis mit beinhaltet, braucht bei den verschiedenen Tieren einer Population nicht gleichmäßig vorhanden zu sein, sondern existiert selbst wieder in einem individualspezifischen Gefälle. d. Daß die subtileren Formen der Selbstidentifikation einen komplizierten Lernprozeß voraussetzen, zeigt das Verhalten des Schimpansen Washoe, der sich selbst im Spiegel erkennt (Gardner 1969), während Yerkes (1926) lediglich von aggressiven Reaktionen gegen den Spiegel berichtet. Gallup (1970) bestätigte, daß Schimpansen, wenn sie über mehrere Tage mit ihrem Bild im Spiegel vertraut gemacht werden, sich schließlich selbst erkennen. Bei dem Erlernen der Taubstummensprache verwendete Washoe die Begriffe >Ime< und >you< sinngemäß, ebenso wie die Schimpansin Sarah Personalbezeichnungen wie >SarahMary< im semantischen Kontext (Premack 1971). Auch hier hat ein umfassender Lernprozeß zu einem allgemeinen und richtigen Verständnis der eigenen psychischen Individualität geführt, die bereits in syntaktischen Konstruktionen richtig reflektiert wird. Washoe lernte während eines dreijährigen Trainings 85 Zeichen, die dann zu verschiedenen grammatikalischen >Sätzen< zusammengesetzt wurden. DieZeichen >I< und >me< werden durch die Bewegung des Zeigefingers auf die eigene Brust repräsentiert, während >you< von einer Zeigeoperation auf die entsprechende Person begleitet ist. Washoe gelang es, in satzartigen Kombinationen sowohl den eigenen Motivationszustand auszudrücken, indem z. B. die Gesten von >Ich< und >Trinken< zu >Ich trinken< kombiniert wurden, als auch in dialogischer Form zu kommunizieren. Die Geste für >you< wurde auch mit Personen in Zusammenhang gebracht, mit denen es vorher keinen Kontakt hatte, so daß hier eine richtige generalisierende Abstraktion vorliegt, mit der bestimmte personale Objekte von leblosen Dingen unterschieden werden. 3.3. Relationales Lernen In der Natur ist es nicht nur wichtig, bestimmte Merkmale absolut zu lernen, da sich hier z. B. nicht nur die Beleuchtungsverhältnisse ändern, sondern auch die eigene Stellung zur Reizquelle. Andererseits bleiben in diesem ständigen Wechsel von Form- und Farbmerkmalen einige Beziehungen gleich. Im Experiment zeigt sich dieser Sachverhalt darin, daß die Vt hier nicht primär die absoluten Merkmale des Dressurmusters wählen, sondern ihre relationale Abhängigkeit von anderen Merkmalen. 118

Insgesamt ist das Spektrum der von Tieren lernbaren relationalen Strukturbeziehungen bereits außerordentlich mannigfach. Zu ihnen gehören z. B. die Abhängigkeiten »größer gegen kleiner^ >mehr gegen wenigen, »schwerer gegen leichten, »schneller gegen langsamer, »lauter gegen leiser< usw. Im Grunde setzt jede Diskriminationsfähigkeit oder Generalisation von Merkmalen zu einer Klasse von Merkmalen bereits eine Unterscheidungsfähigkeit von anderen Generalisationen voraus.

Bild 20 Relationales Lernen, (a) Einem Stichling wird zuerst ein großes Dreieck gegen einen kleinen Kreis angeboten und das erste Merkmal positiv belohnt. Wenn danach ein sehr großer Kreis gegen das gleich gebliebene Dreieck gestellt wird, so wählt das Vt den Kreis als positives Merkmal. Zwischen beiden Merkmalspaaren ist eine teilinhaltliche Übereinstimmung erzielt worden, die primär auf den konstant gebliebenen Größenverhältnissen beruht, während die Form für die Identifikation keine Rolle spielt. Innerhalb der einzelnen relationalen Merkmalsbeziehungen bestehen bestimmte Präferenzen im Abstraktionsverhalten, da die einzelnen Merkmalskombinationen von unterschiedlicher funktioneller Bedeutung sind. Bei gleich großen Mustern besteht deshalb dann die Möglichkeit, daß die beiden Merkmalskombinationen aufgrund bestimmter Formmerkmale getrennt werden, (b). Relationales Lernen an Streifenmustern. Tiere reagieren nicht nur auf eine unterschiedliche horizontale bzw. vertikale Anordnung der Streifen, sondern auch auf ihre relative Stärke. Es wird nicht die absolute Schmalheit der Streifen gelernt, sondern die relationale Beziehung zu anderen Streifen. Wenn z. B. in der Dressur schmale Streifen positiv belohnt werden, in einem darauf fogenden Versuch aber noch schmaler als Muster angeboten werden, so erfolgt eine Übertragung der bisher gelernten Beziehung. Wenn zunächst die Kombination a-c angeboten wird und die Streifenstärke c das positive Merkmal ist, wird in der Kombination c-b auf b positiv reagiert. 119

Das Lernen von Relationen zwischen zwei oder mehreren Merkmalen ist als Spezialfall der Reizunterscheidung bei Zwei- oder Mehrfachmusterwahlversuchen immer bereits mit enthalten, da die Unterscheidung zwischen zwei Mustern zugleich die Existenz einer umfassenderen Klasse voraussetzt. Die Diskriminationsfähigkeit beruht auf einer Kombination isolierender und generalisierender Abstraktionsleistungen, indem erst Merkmalsklassen aufgestellt werden, dann aber wieder eine Differenzierung und die Bildung bestimmter Unterklassen erfolgt. Die Aufnahme relationaler Abhängigkeiten in die ideelle Kopie der Außenwelt entspricht logisch gesehen der Bildung von Oberbegriffen, auf deren Grundlage die positive oder negative Reizbewertung vorgenommen wird. Diese ist ursprünglich aber keine freie Entscheidung, sondern wird durch die jeweiligen Umweltbedingungen ausgelesen, da es unter Umständen günstiger ist, auf Größen- statt auf Form Verhältnis zuerst zu reagieren. Das relationale Lernen kann bei einer allmählichen Wiederholung in ein absolutes Lernen der Merkmalskombination übergehen und schließt dieses nicht aus. Hühner lernen ein Streifenmerkmal auch absolut, wenn Dressurmuster und positiv verschobenes Musterpaar längere Zeit im Wechsel wiederholt angeboten werden. Durch das absolute Lernen werden die Details eines Gegenstandes gelernt, was für die Arterhaltung eine ebensolche Bedeutung besitzen kann wie die schnelle Reaktion über ein Beziehungsgefälle globaler Relationen. Ein weiterer Komplikationsgrad des relationalen Lernens ist dann erreicht, wenn die Transformation der relationalen Bewertung nicht nur auf Musterabwandlungen innerhalb eines Sinnesbereiches beschränkt bleibt, sondern auch eine Übertragung zwischen zwei oder mehreren Receptorbereichen möglich ist. Pawlow (1953) ist bei der experimentellen Ausbildung bedingter Reflexe bei Hunden auf Sachverhalte gestoßen, die auf eine Generalisation des Gelernten zwischen verschiedenen sensorischen Bereichen schließen läßt. Intersensorische Transformationen wurden vor allem zwischen taktilen bedingten Reizen und thermalen sowie auditorischen bedingten Reizen nachgewiesen. Eine Bestätigung liegt sowohl von anderen Tiergruppen als auch durch eine von der Ausbildung bedingter Reflexe unterschiedenen Methodik vor. So haben Lernversuche an verschiedenen Vogelarten wie z. B. dem Graupapagei, der die Dressur von Lichtsignalen auf Tonfolgen überträgt, die nochmalige Generalisation relationaler Beziehungen zwischen verschiedenen Sinnesbereichen bestätigt. Der Grad der Transponierbarkeit ist dabei artspezifisch, wahrscheinlich gibt es außerdem noch Unterschiede zwischen den Individuen einer Population. Auch für das motorische Verhalten von Vt im Labyrinth ist eine derartige 120

Transponierbarkeit der erlernten Leistung nachgewiesen, was für eine abstrakte ideelle Fixierung des irrtumsfreien Weges bzw. eines Zielpunktes spricht. Ratten können so einen einmal erlernten Weg sowohl laufend wie auch schwimmend bewältigen, unabhängig davon, wie er sensorisch gelernt wurde. In der Theorie der höheren Nerventätigkeit sind von Pawlow verschiedene Modellvorstellungen über den neurophysiologischen Ablauf von Abstraktionsprozessen entwickelt worden, die zwar zahlreiche Vereinfachungen enthalten, aber doch auch einen Einblick in die möglichen Gehirnmechanismen der Bildung von Oberbegriffen ermöglichen. Bei der isolierenden Abstraktion kommt es zu einer von einem bestimmten >Reizpunkt< ausgehenden Ausbreitung der Erregung als Irradiation. Wenn nun innerhalb eines Reizkontinuums mehrere derartige >Reizpunkte< bestehen, so können sie bei fehlender sensorischer Diskrimination zunehmend verschmelzen, oder sie führen bei Diskrimination zu einer Polarisierung und zunehmender gegenseitiger Abgrenzung. Innerhalb haptischer Reize kann es so zu einer Differenzierung zwischen >rauh< und >glatt< auf der Grundlage einer allgemeinen Empfindlichkeit gegenüber Berührungsreizen kommen. In den Zweifachversuchen wird ein derartiges Diskriminationsvermögen dann systematisch aufgebaut und überprüft, indem z. B. die Reaktion auf einen hohen Rauhigkeitsgrad positiv, das Alternativmerkmal dagegen negativ bewertet wird. Der synthetische Charakter des relationalen Lernens gegenüber der isolierenden und der generalisierenden Abstraktion besteht darin, daß hier nochmals ein averbaler Oberbegriff gebildet wird, auf dessen Grundlage die Bewertung >rauh< gegen >glatt< vorgenommen wird. Voraussetzung dafür ist das Diskriminiationsvermögen verschiedener Aspekte von Berührungsreizen und ihre Generalisationsfähigkeit, nun die zwei Merkmalsklassen den Charakter von Teilmengen bekommen. Der entscheidende Unterschied des relationalen Lernens gegenüber der

Bild 21 Modellvorstellung über die Bildung von Oberbegriffen aus verschiedenen Teilklassen durch Generalisation 121

einfachen Generalisation ist darin zu sehen, daß hier eine besondere psychische Beziehung zwischen zwei Merkmalsklassen hergestellt wird, die nur im ZNS des Vt existiert. Die Entstehung einer bestimmten Reizgeneralisation oder auch der umfassendere Fall der averbalen Begriffsbildung kann noch aus einer einfachen Abbildung der Umgebung in das ZNS erklärt werden. Bei dem relationalen Lernen werden nun bereits die verschiedenartigsten Beziehungen zwischen diesen einzelnen Generalisationsklassen hergestellt. Es entsteht ein kompliziertes Netz psychischer Beziehungen, die nur noch indirekt auf die Außenreize vermittelt werden. Damit ist eine wichtige Entwicklungsstufe in der Selbständigkeit des >internen Modells< der Außenwelt im ZNS des Organismus erreicht, das sich nun in zweifacher Weise vervollkommnet: einmal durch die Zunahme der Menge der relationalen Verknüpfungen zwischen den einzelnen Reiz- und Merkmalsklassen, zum anderen wird über diese Beziehungen erneut ein Netz von Relationen gebildet, so daß es zu einer zunehmenden hierarchischen Schichtung der psychischen Struktur kommt. Dabei handelt es sich nicht nur um eine räumliche Konzentration von >Reizpunkten< (die wohl eher Erregungsfelder sind) in bestimmten Hirnteilen, sondern vor allem auch um eine zeitliche Organisations- und Einflußbeziehung. Bei der »positiven Induktion< z. B. erhöht ein negativer bedingter Reiz die Wirkung des zeitlich nachfolgenden positiven Reizes, während im Fall der »negativen Induktion< ein positiver Reiz die Wirkung des nachfolgenden negativen Reizes hemmt. Beide Wirkungen beziehen sich dabei sowohl auf die Amplitude wie die Latenzzeit der entsprechenden bedingten Reaktion. (Tab. 2) Tierexperimentell kann relationales Lernen unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten überprüft werden. Sehr häufig erfolgt eine Dressur auf Größenunterschiede oder Punkt- bzw. Streifenmusterrelationen, in der dann z. B. die Beziehung »regelmäßig gegen unregelmäßig< als Unterscheidungskriterium benutzt werden kann. Aber auch die Dressur auf verschiedene Helligkeitsstufen oder haptische und auditive Transpositionen sind bei mehreren Tiergruppen als Dressurgrundlage benutzt worden. Relationales Lernen ist von zahlreichen höheren Tierarten bekannt, aber auch von Bienen. Bei Fischen ist die Dressur auf relationale Abhängigkeiten im visuellen Bereich unter anderem für Stichlinge (Gasterosteus acuelatus), Karauschen (Carassius carassius), Elritzen (Phoxinus phoxinus) und Forellen (Trutta iridea) nachgewiesen. Wenn zwei deckungsgleiche, gleichfarbige, aber verschieden große Figuren erlernt werden, nach dieser Dressur aber die Muster in veränderter Größe geboten werden, erfolgt die Wahl meist im Sinne der relationalen Übertragung des Dressurergebnisses. Eine Übertragung gelingt auch, wenn andere Figuren angeboten werden, die in einer ähnlichen Größenrelation wie das Dressurmerkmal zueinander stehen. Bei Vögeln ist die Entstehung von Invarianten von relationalen Abhängigkeiten 122

Tab. 2 Positive (a) und negative (b) Induktion der Speichelsekretion bei Hunden (Nach Pawlow 1953) Zeit

Bedingte Reize (30 sec)

Spelchel/cc (30 sec)

Latenzzeit

16:10 16:26 16:35 16:35:30 16:48 17:00

Licht Licht Ton Licht Licht Licht

9 8.5 0 13 6 7

3 3 - Positive 2 Induktion 9 4

Zeit

Bedingte Reize (30 sec)

Speichel/Tropfen/ 30 sec

11:25 11:30 11:42 11:49 11:56 12:06

60 Schläge 60 Schläge 60 Schläge 60 Schläge 120 Schläge 60 Schläge

0 0 3 4 8.5 Negative 0 Induktion

(+ ) (+) (-) (+) (+) (+ )

Alle Reize durch unbedingten Reiz verstärkt

vor allem bei Hühnern untersucht worden (Stichmann 1962, Schulte 1970). Wie auch in anderen Problembereichen setzten die ersten Lernexperimente hier sehr früh ein (Köhler 1915, Revesz 1922). Andere gelegentlich verwandte Vogelarten sind Lachtauben, der Wellensittich und Dohlen. Bei den letzten beiden Arten wurde besonders das auditive Transpositionsvermögen überprüft. Dohlen (Coleus monedula) konnten auf die Unterscheidung eines f und j Taktes dressiert werden. Die Vt reagierten auch dann noch positiv wenn sich die Gesamtdauer der Takte, das Tempo oder die Tonhöhe änderten (Reinert 1957). Bei Säugern ist die relationale Lernfähigkeit durch den Behaviorismus an Nagetierarten (Mäusen, Ratten) und die Theorie der höheren Nerventätigkeit an Hunden auch quantitativ untersucht worden. Auch bei-Primaten (Macaca irus, Pan paniscus) existieren zahlreiche und bereits frühzeitig durchgeführte Experimente über das Ausmaß von relativem Lernen (Trendelenburg 1926, Yerkes 1926, Klüver 1933).

3.4 Geometrisch-optische Täuschungen bei Tieren Eine besonders unter wahrnehmungspsychologischen Gesichtspunkten wichtige Gruppe von Experimenten über die visuelle Diskriminations- und Generalisationsleistung phylogenetisch verschieden hoch organisierter Tiergruppen beschäftigt sich mit den verschiedenen Möglichkeiten der 123

geometrisch-optischen Täuschung durch eine Veränderung der Umweltreize. Die Mehrzahl der Untersuchungen beziehen sich auf optische Größenänderungen von Flächen und Strecken. Erste systematische Experimente führte Revesz (1922) durch, später folgten Warden & Baar (1929), Herter (1930, 1953), Winslow (1933) und Dücker (1966). Eine allseits akzeptierte Theorie über Täuschungsphänomene existiert bisher noch nicht, sondern nur mehrere entweder mehr sinnesphysiologisch oder mehr wahrnehmungspsychologisch orientierte Erklärungen. Humanpsychologisch ausgerichtete Modelle entwickelten unter anderem Hering (1861), Wundt (1893), Müller-Lyer (1896), Ebbinghaus (1913), Ehrenberg (1925), Tausch (1954), Tolansky (1964) und Metzger (1961). Eine kritische Darstellung der Bedeutung von Sinnestäuschungen in dem naturgeschichtlichen Selektionsprozeß bei Tieren und der Funktion »richtigen und >falscher< Wahrnehmungsprozesse unter dem Einfluß gesellschaftlichökonomischer Faktoren findet sich bei Holzkamp (1973). Bei geometrisch-optischen Täuschungen erscheinen den bisher untersuchten Tierarten zweidimensionale Figuren größer oder kleiner als sie in Wirklichkeit sind. Daß die Integration der Sinnesreize im ZNS zu optischen Täuschungen auch auf relativ primitiven Organisationsstufen des Psychischen vorkommen kann, ist durch methodisch gut abgesicherte Experimente mehrmals nachgewiesen worden. Die tierexperimentellen Untersuchungen sind dabei insofern wichtig, da durch die unterschiedliche phylogenetische Stellung der einzelnen Tierarten die Geltung einiger spekulativer, ausschließlich auf die höheren psychischen Funktionen des Menschen bezogener Hypothesen in ihrer Geltung eingeschränkt werden können. Das Auftreten der gleichen geometrisch-optischen Täuschungen z. B. bei Fischen und dem Menschen ist ein Argument gegen eine ausschließlich kausale Erklärung als Urteilstäuschung, da die psychischen Hirnfunktionen hier sehr stark unterschieden sind. In dem einen Fall bei dem Vt handelt es sich um die zentralnervöse Verarbeitung von Sinnesreizen, beim Menschen ebenfalls um die Integration von Sinnesdaten, die aber unter dem Einfluß der höheren corticalen Funktionen einen spezifisch menschlichen Charakter als Wahrnehmung annehmen. Dieser phylogenetische Unterschied wird auch durch die neuroanatomischen Verhältnisse unterstrichen. Bei den Fischen erfolgt eine Assoziation der einlaufenden optischen Reize im Tectum opticum (Mittelhirn), bei den Vögeln im Mittelhirn unter Beteiligung des Vorderhirns, bei dem Menschen aber im Vorderhirn mit spezifischem Schwerpunkt in der Sehregion. Mehrere experimentelle Nachweise für das Reagieren von Fischen auf geometrisch-optische Täuschungen hat Herter (1953) erbracht. Er dressierte Elritzen (Phoxinus phoxinus) zunächst auf zwei verschieden große Kreisflächen, dann aber auf zwei gleichgroße schwarze Kreisflächen, die je124

weils einmal von 9, zum anderen von 5 fein gezeichneten Kreisen umgeben waren (Ebbinghaussche Täuschung). Die auf den größeren Kreis dessierte Elritze bevorzugte in 17 von 20 .Tests die von kleinen Kreisen umgebene, größer erscheinende Figur, während der auf die kleinere Kreisfläche dressierte Fisch ebenfalls signifikant die von wenigen großen Kreisen umgebene, ihm kleiner erscheinende Figur wählte. In beiden Fällen reagierten die Elritzen im Sinne einer erlernten, objektiv aber nicht mehr existierenden Größenbeziehung und unterlagen damit einer optischen Täuschung. Umfangreiche Versuchsserien hat dann Dücker (1966) durchgeführt, in denen die Wirksamkeit der Zöllnerschen Täuschung, der Ebbinghausschen Täuschung und der Ehrenbergschen Täuschung quantitativ bei verschiedenen Tierarten untersucht wurden. Zu den Versuchstieren gehörten von den Fischen die Karausche (Carassius auratus gibelio), von den Vögeln Hühner (Gallus domesticus), Glanzstare (Lamprotornis splendidus), Misteldrosseln (Turdus viscivorus) und Tigerfinken (Amandana amandana), zu den Säugetieren das Meerschweinchen (Caria cobaya). Auf die Zöllner-Täuschung reagierten 4 Karauschen, 1 Huhn, 2 Tigerfinken, 2 Glanzstare, 1 Misteldrossel und 2 Meerschweinchen. Der Ebbinghausschen Täuschung unterlagen mit signifikanten Werten 5 Karauschen, 2 Tigerfinken, 1 Glanzstar und 4 Meerschweinchen, während die Geltung der Ehrenbergschen Täuschung bei 7 von 8 Karauschen nachgewiesen werden konnte.

Bild 22 Experimentell überprüfte optische Täuschungen bei Tieren. Nach Dücker (1966) 125

Die Uberprüfung der Geltung geometrisch-optischer Täuschungen bei den verschiedenen Tierarten beruht nicht nur auf der isolierenden Abstraktion für einzelne Merkmalsklassen, sondern auf der Kombination einer ganzen Reihe von Abstraktionsprozessen, die hier aber aus systematischen Gründen getrennt wurden. In einem ersten Schritt wird das Vt auf ein spezifisches optisches Muster angelernt, das es sowohl generalisieren wie auch von anderen Formen unterscheiden muß. Die Dressur erfolgt dabei zunächst auf real vorliegende Größen-, Krümmungs- oder Richtungsunterschiede. In der Testwahl wird dann Umfang und Diskriminationsfähigkeit gegenüber allgemein veränderten Mustern überprüft. Dücker (1966) mußte einige optische Täuschungen wie die Vertikal-Horizontal-Täuschung, die Müller-Lyersche Täuschung, das Sandersche Parallelogramm aus der Versuchserie ausschalten, da eine Hinführung auf die Täuschungskomponenten nicht gelang. Die Herausbildung einer entsprechenden optischen Diskriminiationsfähigkeit ist damit eine elementare Organisationsvoraussetzung des optischen Receptors und des ZNS, damit das Vt überhaupt einer Täuschung unterliegen kann. Der experimentelle Nachweis ist schließlich auch davon abhängig, in welchem Grad das Vt in der Lage ist, Größenrelationen zu erlernen und auf veränderte Verhältnisse zu übertragen. Bei der Ebbinghaus-Täuschung wurden die Karauschen zuerst auf die Unterscheidung der Kreisflächen von 10 und 6 mm Durchmesser dressiert, die dann auf 8 gegen 6 mm transponiert werden mußten. Die Täuschungsfiguren selbst mit gleich großen zentralen Kreisflächen wurden dann in drei verschiedenen Variationen angeboten. Es zeigte sich, daß die objektiv gleich großen Kreisflächen entsprechend der erlernten Reaktion als verschieden groß bewertet wurden. Die Vt reagieren damit auf Größenverhältnisse, die in Wirklichkeit nur scheinbar vorliegen. Inwieweit die Verbesserung der allgemeinen Lernfähigkeit durch die Entwicklung der isolierenden Abstraktion und Diskrimination zwischen optischen Täuschungen verstärkt wird, ist noch nicht überprüft, sondern es ist lediglich nachgewiesen, daß z. B. bei Fischen das Erlernen des Unterschiedes zwischen Kreis gegen Quadrat auch weitere optische Diskriminationen wie etwa Kreis gegen andere Figuren erleichtert.

3.5. Experimentelle Untersuchungen über die Entstehung von >averbalen Wertvorstellungen< bei niederen Affen und Schimpansen Die Ausbildung von Relationen zwischen Merkmalsklassen ist immer zugleich mit einer Reizbewertung verbunden, durch die die Alternative >mehr 126

oder wenigeraverbalen Wertbegriffaverbale Wertsysteme< zur Einschätzung etwa des Nahrungswertes bestimmter Objekte existieren. Primaten verfügen in der freien Wildbahn über Hunderte von verschiedenen Nahrungsobjekten, von denen jedes wiederum z. B. nach seinem Reifungszustand eingeschätzt wird. Der ungeheure Reichtum der Savannengebiete und des tropischen Regenwaldes an Kleintieren, Früchten, Pflanzen usw. übt aber nur einen geringen Selektionsdruck zur Abhebung expliziter Wertsysteme aus, da bei Ausfall einer Spezialität genügend andere Pflanzen und Früchte zur Verfügung stehen. Trotzdem ist die Erfahrung bereits so groß, daß z. B. bei japanischen Makaken die Weitergabe des Nahrungswertes bereits über Traditionsbildung erfolgt, was für die Existenz eines allgemeinen >averbalen Wertbegriffs< und entsprechender Diskriminiations- und Abstraktionsleistungen in diesem Verhaltensbereich spricht. Schaller (1963) konnte außerdem bei freilebenden Berggorillas die Bevorzugung ganz bestimmter Nahrungsobjekte beobachten, die auf ausgedehnten Wanderungen gesammelt werden. Im Experiment wird dann die mögliche psychische Entfaltung dieses Wertsystems überprüft. Potentiell werden die Vt hier Mitglieder der Warengesellschaft und reproduzieren im Tierexperiment die Grundoperation der gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen: das Austauschen materieller Objekte, mit denen auf einer primitiven Stufe bestimijite Mangelsituationen ausgeglichen werden, indem es zur Vorratsbildung kommt, was zugleich ein elementares Besitzdenken darstellt. Das Vt durchbricht seine momentane Gebundenheit an die Reizsituation und schließt zukünftige Verhaltensnotwendigkeiten in seine Reaktionen ein. Die symbolische Beziehung bedeutet die Herausbildung einer grundsätzlich neuen Abstraktionsebene, die potentiell auch für die hochentwickelten Primaten erreichbar ist: Die Objekte erhalten einen spezifischen Tauschwert, der von ihrem tatsächlichen Gebrauchswert verschieden ist. In der Warengesellschaft übernimmt diese Funktion der Spielmarken das Geld, die Abstraktionsgrundlagen bleiben aber die gleichen. Der Einfluß des Experimentators auf das Vt ist hier bereits so intensiv, daß eine Vergesellschaftung erfolgt, die aber 1. nur in spezifischen Grenzen möglich ist und 2. von den naturge128

schichtlichen Voraussetzungen, d. h. von dem Entwicklungsgrad des Psychischen abhängig ist. Neben der Diskussion der Frage, inwieweit durch das Experiment eine >Humanisierung< des tierischen Verhaltens stattfindet, die dann als Maßstab für den Grund der psychischen Höherentwicklung herangezogen werden kann, besteht natürlich auch das Problem der Rückverfolgung der naturgeschichtlichen Genese derartiger averbaler Wertbegriffe und -systeme. Kapune (1966) hat unter diesem Gesichtspunkt verschiedene andere Primatenarten (Rhesusaffe, Kapuzieraffe und den Halbaffen Lemur catta) untersucht. In einer ersten Versuchsreihe lernte der Rhesusaffe (Macaca mulatta), zwischen 3 Kästen, die mit verschiedenfarbigen Mustern gekennzeichnet waren, zu wählen. Jede Wahl wurde unterschiedlich belohnt, so daß schließlich drei Wertstufen zu 100% beherrscht wurden. Für die Differenzierung zwischen der niedrig-, mittel- und hochbelohnten Kiste genügte eine unmittelbare Reizdiskrimination mit direkter Generalisation. In einer folgenden Versuchsserie mußte die Rhesusäffin die verschiedenen Wertstufen jedoch mit verschiedenfarbigen Eisenringen verbinden, die dann an einem Automaten gegen Futter eingetauscht werden konnten. Grundlage war hier also die Diskriminationsfähigkeit zwischen verschiedenen Farben, deren Bedeutung generalisiert und mit verschiedenen Nahrungsobjekten in Zusammenhang gebracht werden mußte. Das Vt beherrschte schließlich 6 Wertstufen, davon eine unbelohnte. Die Eisenringe mußten dabei von einem Wahlbrett mit insgesamt 12 Ringen ausgewählt werden. Besonders zwei Beobachtungen Kapunes lassen dabei auf die psychische Selbständigkeit eines ausgeprägten Wertsystems auch bei niederen Primatenarten schließen: a. Wenn an dem Wahlbrett nur unbelohnte (rote) oder niedrigbelohnte (blaue) Ringe hingen, sammelte das Vt solange, bis eine bestimmte Punktzahl zusammen war. Umgekehrt wurden nur wenige hochbelohnte (gelbe bzw. weiße) Ringe aufgesammelt, so daß die Einstellung des Vt auf einen bestimmten Belohnungspegel anzunehmen ist (Kapune 1966). Die Unterscheidung der einzelnen Wertstufen wurde sicher beherrscht, während es zwischen der niedrigbelohnten und unbelohnten Wertstufe zu gelegentlichen Vertauschungen kam, wahrscheinlich, da der Belohnungswert der blauen Ringe bereits sehr gering war. b. Die hochbelohnten Farbringe wurden eindeutig bevorzugt, wobei mit der Veränderung der Farbringe sich auch das Wertbezugssystem des Vt relativ verschob. Wenn die am besten belohnten gelben Farbringe fehlten, traten die weißen Ringe als bisher zweithöchste Stufe an die Spitze der Werthierarchie und wurden jetzt zuerst gewählt. Das averbale Wertsystem kann damit, wenn es einmal ausgebildet ist, den jeweiligen Realitäten angepaßt werden. Der Generalisationsprozeß ist hier wesentlich umfassender 129

als nur eine direkte Reizgeneralisation der einzelnen Farben. Der ständige Wechsel der äußeren Wertbeziehungen bereitete dem Vt keine Schwierigkeiten, da es in einem »inneren Modell< die Relationen zwischen 2, 3,4 oder 5 gleichzeitig angebotenen Farben beherrschte und sich dementsprechend auf ihr Vorhandensein einstellen konnte. Das Wertsystem wurde von der Rhesusäffin noch nach 7 versuchsfreien Monaten in signifikanten Prozentsätzen beherrscht. Der Halbaffe erbrachte nicht derart hohe Dressurleistungen, insgesamt war auch die Lerngeschwindigkeit geringer und die Fehlerquote größer. Im Anschluß an die Lerntheorie Hulls (1943) sind verschiedene Experimente an Ratten und Tauben zur Uberprüfung der Wirksamkeit von »secondary reinforcers< unternommen worden. Dabei wurden unterschiedliche Futtermengen z. B. mit verschiedenfarbigem Licht angeboten und dann die Wirksamkeit dieser sekundären Verstärker gemessen, indem das Futter dann ohne Reiz wieder angeboten wurde. Die Veränderung des Verhaltens unter dem Einfluß einer sekundären Bekräftigung kann als eine mögliche elementare Vorstufe später entstehender averbaler Wertbegriffe bei höheren Tierarten verstanden werden, deren Entstehung nach Kapune jedoch nicht mehr durch die gleichen psychischen Mechanismen erklärt werden kann.

130

4. Traditionsbildung bei Tieren

In der Entwicklung des tierischen Verhaltens können drei generelle Stufen unterschieden werden: die Evolution des angeborenen Verhaltens, die Entstehung des Lernverhaltens und die Traditionsbildung. Ihre Aufeinanderfolge ist nur im allgemeineren Sinn als linear zu verstehen und schließt keineswegs aus, daß Traditionsbildung z. B. auch bei niederen Tieren (Insekten) vorkommt. Die Notwendigkeit, immer kompliziertere Verhaltensmechanismen in der Evolution der verschiedenen Tierstämme zu entwickeln, kann letztlich nur aus bestimmten grundsätzlichen Mängeln der phylogenetisch vorausgehenden Organisationsebenen erklärt werden, wobei die Existenz des angeborenen Verhaltens die Basis bleibt, auf der dann kompliziertere Formen der Informationsverarbeitung entstehen können. Das angeborene Verhalten ist nicht nur die verbreitetste, sondern auch funktionell wichtigste tierische Reaktionsform auf Umweltänderungen. Die phylogenetische Elementarität des angeborenen Verhaltens, die sich unter anderem darin zeigt, daß jedes Tier, auch wenn es zu keinen besonderen Leistungen fähig ist, über ein lebenserhaltendes Repertoir von unbedingten Reflexen, Erbkoordinationen und angeborenen Orientierungsmechanismen verfügt, darf nicht mit struktureller Primitivität gleichgesetzt werden. Der innere Aufbau von Instinkthandlungen kann durch die Integration mehrerer hierarchisch organisierter Funktionszentren und die Verzahnung mit anderen Gebrauchshandlungen außerordentlich komplex werden (vgl. Bd. 2.1.) Die wichtigsten Selektionsnachteile des angeborenen Verhaltens sind: a. Die starre Geschlossenheit des Reaktionsablaufes. Wenn die entsprechende äußere Reizsituation auf eine adäquate innere Handlungsbereitschaft trifft, laufen Erbkoordinationen automatisch ab, ohne daß eine Korrektur des Ablaufs möglich wäre. Instinktbewegungen werden deshalb nicht wie instrumenteil bedingte Reaktionen vom unmittelbaren Erfolg her gesteuert, sondern können bei einer kurzfristigen Änderung der Umweltsituation als sehr unzweckmäßig erscheinen. Erbkoordinationen laufen ohne jede Einsicht des Tieres oder des Menschen in ihre arterhaltende Leistung ab. Ihre Starrheit ist auch die Ursache für zahlreiche Fehlleistungen, wie sie z. B. in der Gefangenschaft bei Tieren durch Änderung der Lebensbedingungen beobachtet werden können. Andererseits kann diese Starrheit durch die Kombination mehrerer Erbkoordinationen oder die Uberlagerung durch angeborene Orientierungsbewegungen partiell wieder eingeschränkt werden. 131

b. Für die Veränderung des angeborenen Verhaltens werden phylogenetische Zeiträume benötigt. Ebenso wie die Geschlossenheit ist dieses Strukturmerkmal in seiner Leistungsfähigkeit widersprüchlich, da für die Arterhaltung in letzter Konsequenz die langfristigen Anpassungen des Organismus entscheidend sind. Jede kurzfristige Umweltänderung kann aber die Möglichkeit einer allgemeinen, allmählichen Änderung der Verhaltensstruktur bereits grundsätzlich in Frage stellen und zum Aussterben der Art führen. Die verschiedenen Grenzen des angeborenen Verhaltens bestimmen dann die kausale Struktur des erlernten Verhaltens. Dabei ist es aber nicht so, daß die verschiedenen »progressivem Merkmale des tierischen Lernens absolut gesetzt werden dürfen, sondern sie erhalten ihren Selektionswert allein aus der Kombiniation mit den Struktureigentümlichkeiten des angeborenen Verhaltens. Voraussetzung der Evolution des tierischen Lernens ist deshalb die Existenz geschlossener Reaktionsmechanismen von hoher Stabilität, durch die die verschiedenen elementaren Lebensfunktionen gesichert werden. Möglicherweise stellt der Erwerb des tierischen Lernverhaltens in der Phylogenese zunächst ein luxurierendes Verhaltensmerkmal dar, das nicht an den zentralen Gebrauchssystemen ansetzt, sondern sich vor allem im Bereich des Informations wechseis, der Umwelterkundung, der innerartlichen Kommunikation usw. durchsetzt. Die vegetativen Funktionen des Menschen sind deshalb bis zur Gegenwart einer Modifikation durch Lernverhalten kaum zugänglich. In der stammesgeschichtlichen Entwicklung erfaßt die mutagene Variabilität des Verhaltens immer zahlreichere Reaktionsmuster, die entsprechend den Umweltbedingungen ausgelesen werden. Diese Kombination stabiler und flexibler Verhaltensstrukturen erhöht sowohl die Gesamtstabilität des biologischen Systems als auch seine Evolutionsgeschwindigkeit. Die wichtigsten Nachteile der Struktur des Lernverhaltens sind: a. Von den verschiedenen Artgenossen lernt jedes Individuum für sich allein. Tierisches Lernen ist damit immer ein individueller Anpassungsprozeß, der zunächst vor allem der Selbsterhaltung dient, während das angeborene Verhalten zwar starr ist, aber über die verschiedenen Tiere einer Population gleichmäßig verbreitet ist, so daß jedes Tier von seinen genetischen Voraussetzungen her die gleichen Chancen besitzt und phylogenetisch wirksam bleibt. Die Zerlegung der Artanpassung in ein System individuell voneinander abweichender Reaktionsmöglichkeiten geschieht nicht über eine Modifizierung des Verhaltens, sondern durch sprunghafte mutative Änderungen und ihre Auslese im Selektionsprozeß. b. Noch schwerwiegender ist der Mangel, daß die über das Lernverhalten erworbene Erfahrung mit der individuellen Vernichtung weitgehend verlorengeht. Da jeder Nachkomme eines Tieres mit dem Lernprozeß 132

praktisch wieder auf dem Punkt Null anfangen muß, sind die Grenzen der Lernfähigkeit zugleich durch die Gesetzmäßigkeiten der ontogenetischen Entwicklung determiniert. Jedes Tier kann zwar ein Maximum an Information sammeln, die aber nach seiner Vernichtung wieder verlorengeht. Langfristig wirkt sich die erhöhte Anpassungsfähigkeit erst wieder durch die genetische Absicherung der entsprechenden Lerndispositionen aus. Aus diesen strukturellen Mängeln des tierischen Lernverhaltens hat sich in der Psychophylogenese dann eine dritte grundlegende Verhaltensklasse herausgebildet, die Entstehung von Traditionen in Tiergesellschaften. Ebenso wie das erworbene Verhalten auf der Existenz angeborener Verhaltensweisen aufbaut, die dann in Teilbereichen in ihrer Entwicklungsfähigkeit dynamisiert werden, kann die Traditionsbildung wieder als Spezialfall des Lernens verstanden werden und wird bisher überwiegend auch als ein Ergebnis tierischer Nachahmungsleistung gegenüber einem bestimmten Original betrachtet. Die Traditionsbildung unterscheidet sich in zwei wichtigen allgemeinen Strukturmerkmalen von allen anderen tierischen Lernformen. Einmal kommt es zu einer Aufhebung der ontogenetischen Begrenzung der Stabilität der Lernerfahrung. Außerdem müssen nicht zwei oder mehr Individuen einer Art jedes für sich den Lernprozeß durchlaufen, sondern bei der Traditionsbildung lernt unter günstigen Umständen ein besonders intelligentes Individuum für die gesamte Gruppe. Bestimmte Problemlösungen, die zunächst nur von erfahrenen und motorisch geschickten Schimpansen durchgeführt wurden, sind z. B. dann sehr schnell von allen Gruppenmitgliedern akzeptiert worden. Durch die Traditionsbildung werden sowohl die Risiken für die Selbst- und Arterhaltung verringert sowie auch die Ausbreitung des Gelernten in quasi-phylogenetische Zeiträume ermöglicht. Der besondere Selektionsvorteil der Traditionsbildung ist vor allem darin zu sehen, daß die Flexibilität der Verhaltensmodifikation des Lernverhaltens mit der Stabilität phylogenetischer Strukturmerkmale kombiniert wird, da die tradierten Merkmale über Generationen beibehalten werden können, ohne daß sie der Starrheit genetischer Faktoren unterliegen. Die tierischen Traditionen können in bestimmten Moden variiert werden oder sterben wieder aus, ohne daß die Art dadurch vernichtet wird. Im Gegensatz zu den tierischen Lernformen der zweiten Entwicklungsebene des Verhaltens bezieht sich die Traditionsbildung nicht mehr auf Individuen, sondern Populationen. Sie kann deshalb als soziales Lernen den anderen, individuell begrenzten Lernformen gegenübergestellt werden. Das bedeutet allerdings nicht, daß der Tradierungsprozeß bestimmter Verhaltensmerkmale nur bei sozial lebenden Tierarten auftritt. Die wichtigste ethologische Grundlage der Traditionsbildung ist die Eltern-Jungtier-Beziehungy so daß eine Erfahrungsweitergabe auch bei solitär lebenden 133

Arten wie z. B. den Singvögeln auftritt, wobei der Streuungseffekt ontogenetisch bereits wieder beschränkt wird und auch phylogenetisch die Tradierung überwiegend entlang der Generationsfolgen verläuft. Zu den spezifischen Problemen der Brutpflege gehören vor allem die Futterübergabe, Entfernen von Kot und der Schutz der Jungtiere etwa durch Transport an eine andere Lokalität. Bei Fischen kommen außerdem die Regulation der Sauerstoffzufuhr und bei Vögeln das Bebrüten der Eier hinzu. Eine wichtige Kommunikationsgrundlage ist durch die Pflege der Jungen, die Verteidigung und das Führen gegeben. Die Bedingungen der Traditionsbildung während der Brutpflege sind im allgemeinen um so günstiger, je länger und intensiver der soziale Kontakt zwischen den Jungen und dem Elterntier dauert. Generell können zwei Arten der tierischen Traditionsbildung unterschieden werden: a. Bei der innerartlichen Tradition wird eine erlernte Fähigkeit zwischen aufeinanderfolgenden Generationen einer Art weitergegeben. Der Gimpel (Pyrrhula pyrrhula) lernt z. B. unter natürlichen Bedingungen seinen Gesang von dem männlichen Elterntier. b. Bei der zwischenartlichen Traditionsbildung werden homologe Signalstrukturen auf untereinander stammesgeschichtlich nicht direkt verwandte Individuen verschiedener Arten verteilt. Wenn z. B. der Ziehvater eines Gimpels ein Kanarienvogel ist, so lernt der Gimpel den Kanariengesang und gibt ihn dann auch über mehrere Generationen wieder an seine eigenen Nachkommen weiter. Mitunter besteht für die Imitationsfähigkeit, die sowohl von den morphologischen Voraussetzungen als auch der funktionellen Ähnlichkeit des Signals zwischen Vorbild und Kopie abhängt, eine allgemeine genetische Disposition. Besonders bei sozialen Tieren haben sich viele Verhaltensleistungen, die zunächst als angeboren betrachtet wurden, als über komplizierte Lernprozesse vermittelte Nachahmungen herausgestellt. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Selektionsvorteile tradierter Merkmale ist die Weitergabe bestimmter Futtergewohnheiten bei Ratten, von denen jeweils bestimmte Nahrungsobjekte bevorzugt und gemieden werden. Wenn ein Individuum einer Gruppe z. B. im Rahmen der Schädlingsbekämpfung mit vergifteten Nahrungsmitteln negative Erfahrungen gemacht hat, breitet sich diese Information über die Rudelmitglieder aus, und das entsprechende Nahrungsobjekt wird über mehrere Generationen gemieden. Uber die Verzahnung der verschiedenen Mechanismen, die zur Traditionsbildung führen, ist bisher noch wenig bekannt. Einmal wird die Entstehung von Traditionen im begrenzten Umfang durch genetische Faktoren kontrolliert. Außerdem haben Ertaubungsexperimente den Nachweis erbracht, daß die akustische Rückkopplung etwa bei der Übernahme eines Gesangsmusters für die Koordination des Lautmusters und seine weitere Differenzierung wichtig ist. Aber auch in der normalen Entwicklung ist bei einigen Singvogelarten das Lernvermögen von Nachahmungen rela134

tiv begrenzt. Thorpe (1958) zog Buchfinken (Fringilla coelebs) als Kaspar-HauserTiere auf, um das genetisch vorprogrammierte Grundgerüst der Gesangsleistung zu ermitteln. Der normale Buchfinkgesang dauert ca. 2-2,5 Sekunden und umfaßt etwa 25 Laute. Praktisch besteht hier aber immer noch die Möglichkeit, am eigenen Gesang zu lernen. Die ebenfalls an Buchfinken durchgeführten Ertaubungsexperimente brachten dann auch gegenüber den Kasper-Hauser-Tieren abweichende Befunde. Zumindest für den Beginn der Traditionsbildung kommt der operanten Konditionierung deshalb eine wichtige Funktion zu, wobei das Tier entweder von einem Original lernt oder seine eigenen Gesänge miteinder vergleicht. Wenn Singvögeln in der Kannphase durch Ertaubung diese Rückkopplungsmöglichkeit genommen wird, behalten sie die bis dahin erlernten Lautmuster bei. Bei sozial lebenden Tieren können dann die auf der operanten Konditionierung einzelner Individuen beruhenden Lernleistungen von den verschiedenen Mitgliedern der Sozietät^ durch Nachahmung übernommen werden und über Zeiträume, die mehrere Generationen dauern können, stabil bleiben.

Die Traditionsbildung bei Primaten ist in systematischer Weise an Rotgesichtsmakaken (Macaca fuscata) untersucht worden. Japanische Forscher haben über mehrere Jahre Beobachtungen über die Weitergabe tradierter sozialer Erfahrungen durchgeführt und zusammenfassende Berichte veröffentlicht (Kawamura 1963, Kawai 1965, Miyadi 1973). Miyadi (1973) unterscheidet bei der Traditionsbildung zwei allgemeine Kommunikationswege: Während bestehende Gewohnheiten überwiegend von der Mutter zum Kind und von älteren zu jüngeren Affen weitergegeben werden, nimmt die Übernahme neu entstandener Gewohnheiten meist den umgekehrten Weg. Die Ausbreitung der Erfindung eines besonders intelligenten Affen, die z. B. die Ernährungsbedingungen im Gruppenverband verbessert, wird als >precultural behavior< bzw. >subcultur behavior< bezeichnet. Im September machte das IV2 Jahre alte Makakenweibchen Imo die Entdeckung, eine Süßkartoffell, die mit Sand bedeckt war, in Wasser zu waschen. In einer Gruppe von 60 Tieren hatten drei Jahre später (1956) 11 Gruppenmitglieder das >Sweet-Potatoe-Washing< übernommen. Nach weiteren 2 Jahren hatten nur 2 von 11 adulten Tieren die Entdeckung erlernt, von 19 Tieren im Alter von 2-10 Jahren hatten aber 15 Individuen das Kartoffelwaschen erworben. (78,9%). Dabei zeigte sich, daß Makaken, die vor 1956 geboren wurden, das neue Waschverhalten erwarben, während adulte Tiere, die es bis zu diesem Zeitpunkt nicht übernommen hatten, das Kartoffelwaschen niemals erlernten. Während weibliche Makaken in allen Altersgruppen (1-3 Jahre alt, junge Mütter von 5-6 Jahren und ältere Tiere) das Waschverhalten erlernten, übernahmen es Männchen, die älter als 4 Jahre waren, praktisch nicht mehr. Am leichtesten erfolgte der Erwerb bei Tieren im Alter von 1-2 V2 Jahren beiderlei Geschlechts, während die Zeitdauer des Zusammenlebens nicht von entscheidender Bedeutung ist. Die Lebensdauer des Rotgesichtsmakaken beträgt etwa 30 Jahre, die Weib135

chen werden mit ungefähr 4 Jahren geschlechtsreif. Wenn in dem darauffolgenden Jahr bereits eine Geburt erfolgt, lebt die FrGeneration noch 25 Jahre, die F2-Generation noch 20 Jahre mit der Erfindergeneration zusammen, während erst die F6-Generation keinen Kontakt mit der P-Generation mehr hat. Das Ubergreifen der Tradition zwischen den Generationen wird dann am günstigsten erfolgen, wenn die Erfahrung bereits Allgemeinbesitz der Parientalgeneration ist. Die entscheidende Lernperiode ist dabei die Jungtierzeit, während ältere Weibchen wenig und Männchen in einem bestimmten Alter nichts mehr lernen. Die Ursachen dafür sind in dem Vehalten zu sehen, an die Peripherie der Gruppe auszuweichen um den stärkeren Männchen zu entgehen, so daß der soziale Aktionsradius dieser Männchen erheblich eingeschränkt ist. Kawai (1965) unterscheidet in dem Ausbildungsprozeß der Tradition innerhalb einer Tierpopulation zwei Entwicklungsphasen: die »period of the individual propagation und die »period of the precultural propagations In der ersten Phase wird die Erfahrung durch Kontakt innerhalb des engeren Verwandtenkreises weitergegeben. Das Alter, die soziale Stellung, Geschlecht sowie allgemein die individuellen Beziehungen sind wichtige Determinanten in der Ausbreitung der Tradition. Zuerst erlernte die Mutter des Weibchens Imo das Kartoffelwaschen, dann die Spielgefährten und Geschwister. Die zweite Entwicklungsphase war bei den japanischen geboren (vor 1947) 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957

Bild 23 Schema der Ausbreitung des Süßkartoff ei waschens bei japanischen Makaken auf der Insel Koshima durch Traditionsbildung. Der Index unter dem Geschlecht bezeichnet das Individutim. Tiere mit schwarz ausgefüllten Symbolen haben das Kartoffelwaschen bereits erlernt, die Zahl gibt die Reihenfolge an. Nach Miyadi (1973). 136

Makaken 1959 erreicht worden, da nun das Kartoffel waschen zu einem festen Verhaltensbesitz der gesamten Gruppe geworden ist. Die individuelle Erfahrung eines Einzeltieres ist endgültig zur sozialen Erfahrung einer Population geworden. Die Basis der Traditionsweitergabe ist die unmittelbare Demonstration am Objekt im Rahmen der Mutter-Kind-Beziehung, bei der das Jungtier die Manipulation des Kartoffelwaschens zum erstenmal beobachtet und dann selbst übernimmt. Sehr aufschlußreich ist die weitere Entwicklung des Kartoffelwaschens innerhalb der Makakengruppe, das als Modellfall für die Weiterentwicklung tradierter Erfahrung in subhumanen Populationen angesehen werden kann. Nachdem das Waschverhalten Allgemeinbesitz der Gruppe geworden war, erfolgte eine Vervollkommnung der Entdeckung Imos, da die Süßkartoffeln nicht mehr nur in einem Bach gewaschen wurden, sondern bald der Ubergang zum Waschen in dem Salzwasser des Meeeres erfolgte (>seasoning behaviorbathing-behavioroben nach unten< erfolgte. Häufig kommt es zu einer Verlangsamung der Ausbreitung durch die Stabilität bereits bestehender subkultureller Traditionen, da die ranghöheren Tiere dem Erwerb von neuen Verhaltensweisen Widerstand entgegensetzen und das Durchprobieren neuer Möglichkeiten durch Kontrolle und Sanktionen unterbinden. Wenn in einem Makakentrupp bereits spezifische Freßgewohnheiten bestehen, werden Neuerungen nur zögernd aufgenommen, da sie gegenüber dem Bewährten mit bestimmten Risiken verbunden sind. Erleichtert wird ein Neuerwerb dadurch, daß, wie bei dem Reinigen der Süßkartoffel im Wasser, eine bereits bestehende Verhaltensweise, wie daß Reinigen der Nahrung vor der Aufnahme, an einem neuen Medium durchprobiert wird und sich damit organisch in das bestehende Verhaltenssystem einordnet. Die Mehrzahl der Affen prüft die Nahrung durch Betasten, Beriechen und optische Kontrollen sehr genau. Das Zusammenwirken der verschiedenen fördernden und hemmenden Mechanismen bei der Ausbreitung subkultureller Freßgewohnheiten führt dazu, daß bei der Makakenpopulation in der freien Wildbahn zwischen den einzelnen Trupps verschiedenartige Spezialisierungen entstanden sind. Der Ubergang von der individuellen Erfahrung Imos zur sozialen Gruppenerfahrung der Population der Insel Koshima wird einmal durch die Verbesserung und Vereinfachung der bisherigen Situation begünstigt, zum anderen ergibt sich die Frage, wie Imo dieses Verhalten selbst erworben hat. Die naheliegendste Erklärung ist die Entstehung einer bestimmter Zwangssituation durch Umweltänderungen (z. B. Austrocknen des Baches), die unterschiedliche Aktivitäten der Tiere verursacht und dadurch den Ubergang zum Gebrauch des Salzwassers erzwingt. Der Erwerb des Schwimmverhaltens bei der untersuchten Gruppe zeigt andererseits aber, daß der 139

Erwerb und die Ausbildung neuer Verhaltensweisen auch auf spielerischem Weg erfolgen kann. Während das Seewasser ursprünglich nur ein zu überwindendes Medium war, um zu der Nahrung zu gelangen, wurde das Zurücklegen des Weges im Wasser bald von dem ursprünglichen Ziel - dem Nahrungserwerb-gelöst und erhielt eine eigenständige Motivation, indem die Tiere schwammen, vom Felsen sprangen und bis zu 1,5 m tief tauchten. Der Erwerb des Schwimmverhaltens zeigt modellhaft die evolutive Bedeutung neuer Verhaltensweisen, die zunächst nur Mittel zum Zweck sind, dann einmal erlernt aber auch von grundsätzlicher Bedeutung für die räumliche Erweiterung des Lebensraumes sind, wenn z. B. benachbarte Inseln schwimmend erreicht oder Flüsse überwunden werden können. Außer der Verallgemeinerung der individuellen Erfahrung zu einer Tradition der gesamten Gruppe ist aber auch die Generalisationsfähigkeit der Entdeckung selbst ein interessanter Entwicklungsfaktor. Die Entdeckung des Weizenwaschens ist so wahrscheinlich eine direkte Folge des Erwerbs des Kartoffelwaschens (Kawamura 1963), da nur verschiedene Objekte mit dem gleichen Medium behandelt werden. Die andere Entwicklungsmöglichkeit, die ebenfalls aufgetreten ist, besteht darin, verschiedene Zustände des Mediums (z. B. Süß- und Salzwasser) an dem gleichen Objekt (z. B. Süßkartoffel) durchzuprobieren. Der Selektionsvorteil einer individuellen Entdeckung, der für eine schnelle Umsetzung zu einer gruppenspezifischen Tradition mit ausschlaggebend ist, hängt damit wesentlich von der Generalisationsfähigkeit ab, die im günstigen Fall zu einer Kette abgeleiteter Traditionsformen führt. Einige Selektionsvorteile der Traditionsbildung, die besonders bei sozial lebenden Insekten wie den Bienen, bei Singvögeln und verschiedenen Primatenarten verbreitet ist, sollen gegenüber den individuellen tierischen Lernformen nochmals zusammengefaßt werden: a. In der Traditionsbildung ist der Informationsgehalt nicht mehr direkt an die biologischen Strukturen fixiert. Die Aufgabe der strengen Kopplung zwischen materiellen Informationsträgern und Information, die bereits den Ubergang vom angeborenen zum erworbenen Verhalten kennzeichnet und durch die mehrdeutige Abbildung verschiedenen Verhaltens auf ein Nervensystem die Variabilität als Lernen ermöglicht, ist noch einen Schritt weiter vorangetrieben. Durch die Ausdehnung der Speicherkapazität für besondere Signale, Kommunikationsformen oder besondere Erfahrungen auf verschiedene Individuen vervielfachen sich auch die Informationsmöglichkeiten der einzelnen Gruppenmitglieder. Bei der Traditionsbildung kommt es dadurch gegenüber dem individuellen Lernen zur Ausbildung einer Stabilität des Informationssystems höherer Ordnung, die sich nicht nur in der Vervielfachung der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung zeigt, sondern auch in der geringen Störanfälligkeit. Der Verlust einzelner Ele140

mente bzw. Individuen kann das tradierte Kommunikationssystem nicht mehr zerstören. Durch die Kombination der Lernfähigkeit mehrerer Tiere wird die Speicherkapazität der Traditionsbildung als eine Art »soziales Gedächtnis< praktisch unbegrenzt, auch wenn diese Möglichkeit bei den einzelnen Tierarten biologisch nur in einem geringen Umfang ausgenutzt wird. Während beim Buchfink die Tradierung zunächst nur beschränkt ist, da hier die Grundstruktur des Gesanges vererbt ist und dann der Vergleich des Gesungenen mit dem Gehörten die weitere Voraussetzung für die Ausbildung des Lautmusters bleibt, besitzen zahlreiche andere Singvögel, die deshalb auch als >Spötter< bezeichnet werden, eine erheblich erweiterte angeborene Einstellung für Lautmuster, durch die sie in der Lage sind, fast beliebige Gesangselemente zu imitieren. b. Die Selektionsleistung der Traditionsbildung kann in zweierlei Richtung wirken. Einmal kann eine besonders günstige Erfahrung eines Einzeltieres in seiner arterhaltenden Leistung vervielfacht werden. Bei Schimpansen konnte außerdem die Demonstration negativer Erfahrungen wie das Berühren eines elektrischen Zaunes oder das öffnen einer Kiste mit Schlangen durch erfahrene Tiere vor der Gruppe beobachtet werden. In jedem der beiden möglichen Fälle beruht der besondere Leistungseffekt der Traditionsbildung gegenüber einem nur individuellen Lernen auf der Zusammenfassung bisher isolierter Elemente zu einem unfassender strukturierten Kommunikationsystem. Die Traditionsbildung dient dabei der Weitergabe sowohl >positiver< wie >negativerpraekulturellen< tierischen Traditionsleistungen über materielle Gegenstände.

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5. Spezielle Aspekte des Verhältnisses von Biologie und Psychologie

5.1. Methodologische Implikationen des psycho-physischen Problems Die methodischen Schwierigkeiten der naturwissenschaftlichen Kausalanalyse psychischer Prozesse sind primär durch die ideelle Natur des Psychischen begründet, die sich dem sinnlichen Vorstellungsvermögen entzieht. Die Immaterialität des Psychischen, die sich am einfachsten mit einer negativen Umschreibung fehlender physikalischer Eigenschaften wie räumlicher Ausdehnung, bestimmten geometrischen Konfigurationen oder Masseerscheinungen charakterisieren läßt, hat häufig als >positiver< Bestimmungsversuch zu einer Identifizierung mit materiellen biologischen Systemeigenschaften geführt. Die Geschichte des psycho-physischen Problems ist deshalb auch eine Geschichte der Konstruktion und Verwerfung empirischer Sekundärkriterien des Psychischen, die einer Kontrolle durch die Sinnesorgane unterworfen werden können. Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken des Menschen können ebensowenig wie die elementaren psychischen Prozesse bei Tieren gesehen, gehört oder ergriffen werden und entziehen sich dem direkten Zugriff der Erfahrungsbildung, die lediglich für den Menschen in einer eigentümlich subjektivierenden Form, der Introspektion, möglich ist. Die besonderen Eigenschaften des Ideellen, die zu einer fortwährenden Unterstellung verschiedener Substanz- und Stoffeigenschaften materieller Körper führen, machen es verständlich, daß seine Erforschung im besonderen Maße von metaphysischen Spekulationen einerseits und positivistischen Präzisierungsversuchen andererseits begleitet ist. Als ein wichtiges Forschungshindernis hat sich dabei erwiesen, daß das Psychische, da es nicht über die sonstigen physikalischen Eigenschaften materieller Körper verfügt, auch nicht mit den üblichen Verfahren gemessen werden kann, sondern einer eigenen Maßgröße, der Information, bedarf, die erst definitorisch eingeführt werden mußte. Der Informationsgehalt eines Reizes bzw. eines Signals ist abhängig von der Häufigkeit des Signals. Die einfachste Möglichkeit einer Auswahlentscheidung für den Empfänger ist dann gegeben, wenn der Zeichenvorrat des Signals aus 2 Zeichen besteht. Es hat sich als zweckmäßig erwiesen, den Auswahlvorgang der Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten auch als Maßeinheit für den Informationsgehalt bzw. die Informationsmenge zu benutzen. Diese Maßeinheit wird als >bit< bezeichnet 143

(engl, binary digit). Der Informationsgehalt eines Signales in bit ist dann um so größer, aus je mehr Alternativen die Auswahl ermittelt wird. Mathematisch wird der mittlere Informationsgehalt (IG) nach der Shannonschen Formel berechnet IG max =

Pi

ldirbit

pi bezeichnet die verschiedenen Auftretenswahrscheinlichkeiten des Signals. Je größer die Anzahl der Alternativen ist, die durch Signale eindeutig bezeichnet werden, um so mehr Signale müssen pro Meldung zur Verfügung stehen. Mit der Messung des Informationsgehaltes ist im Prinzip auch eine quantitative Erfassung psychischer Prozesse bei Tieren möglich, (vgl. Marko 1968)

Jede der drei in 5.2 angeführten Strukturebenen des biologischen Systems (die genetische, physiologische und die Verhaltensebene) hat vor oder in der experimentellen Aufschließung durch eine überdimensionale Projektion auf das psycho-physische Grundproblem verschieden radikale Formen der methodologischen Verselbständigung erfahren, da in ihnen unausgesprochen oder direkt eine Erklärungsmöglichkeit des Psychischen gesehen wurde. Die theoretische Bedeutung der genetischen Ebene wurde zu einer nazistischen Denkweise hypostasiert, die Physiologie zum Physiologismus und die Verhaltensebene zum Behaviorismus. Am durchsichtigsten war diese Zweckfunktion im Nativismus, der von der richtigen Erkenntnis ausging, daß die genetische Determination ein wichtiges Moment der Kausalanalyse des Psychischen ist. Da die Identifizierung der Erbsubstanzen DNA und RNA, die Entschlüsselung des genetischen Codes usw. erst jüngere Ergebnisse der biologischen Theorienbildung sind, die erst durch die Einführung neuer experimenteller Methoden und die Entstehung der Molekularbiologie, der Humangenetik und der Verhaltensgenetik einen für die Psychologie interessanten Präzisionsgrad erreicht hat, führte die Postulierung der Existenz angeborenen Verhaltens in der Psychologie vor der empirischen Detailkenntnis nur zu einer Dogmatisierung des Denkens und erfüllte häufig lediglich Alibifunktionen. Der Nativismus kann deshalb durch seine spezifischen theoretischen Funktionen in der psychologischen Theorienbildung auch als ein potentieller naturwissenschaftlicher Agnostizismus betrachtet werden, der mit Scheinerklärungen operiert. Wesentlich komplizierter ist jedoch die methodologische Struktur des Physiologismus und Behaviorismus, die theoretische Begleiterscheinungen der experimentellen Aufschließung neuer für die Psychologie relevanter Organisationsebenen des biologischen Systems waren. Noch stärker als für den Nativismus gilt für diese beiden methodologischen Richtungen, unabhängig von ihren zahlreichen theoretischen und methodischen Grenzen, 144

auf die hier nicht eingegangen werden kann, daß sie zugleich auch mit der Erkenntnis wesentlicher Seiten der materiellen Grundlagen des Psychischen verbunden sind, die aber in charakteristischer Weise vereinseitigt wurden. Die Ursachen dafür lagen entweder in der Neuartigkeit des empirischen Datenmaterials oder einem fehlenden kausalen Bezug zu den anderen Aspekten der biologischen Grundlagen des Psychischen. Die Hypostasierungen einzelner biologischer Ebenen des psycho-physischen Problems, die sich in ihrer methodischen Radikalität aber eben dadurch auch gegenseitig ausschlössen, führte nach einer Phase der Konfrontation zu einer allmählichen wechselseitigen Neutralisierung, indem z. B. der Physiologismus den absoluten Geltungsanspruch behavioristischer Aussagen relativierte und umgekehrt, so daß sich über einen jahrzehntelangen Austauschprozeß allmählich das kausale Netz einer objektiven naturwissenschaftlichen Kausalerklärung der biologischen Grundlagen des Psychischen herausbildete. Der Abbau der einzelnen Hypotasierungen vollzog sich in der Regel dabei so, daß die Entdeckung neuer empirischer Strukturebenen auch zur Entstehung neuer theoretischer Argumentationspositionen auf den bereits bekannten Erklärungsebenen führt. So finden sich auf der Verhaltensebene etwa neben der >reinen< (behavioristischen) Hypostasierung von Verhaltensfunktionen zunehmend auch eine kausale Zurückführung motorischer und motivationaler Reaktionen auf die Aktivität bestimmter Hirnteile als (verhaltens)physiologisches Erklärungsmodell, die Einschränkung einer unbegrenzten Manipulation des Verhaltens durch die Kenntnis genetischer Faktoren, die auch Einfluß auf cognitive Leistungen nehmen oder ethologische Aussagen über die funktionale Bedeutung instinktiver Verhaltensmechanismen. Entsprechend führt umgekehrt die experimentelle Erschließung der Verhaltensebene auch zu einer Modifikation der >reinen< physiologischen und genetischen Erklärung psychischer Prozesse. Erst die vollständige Abbildung der Verflechtung zwischen allen biologischen Erklärungsmöglichkeiten, die für das Verständnis psychischer Prozesse von Bedeutung sind, verhindert die Verabsolutierung der Physiologie ebenso wie die Reduktion tierischen Verhaltens nur auf Lernprozesse, allerdings noch nicht, wie man hinzufügen muß, eine Biologisierung des Bewußtseins, da die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Psychologie nur eine, die naturhistorische, Seite seiner materiellen Voraussetzungen erfassen. Für eine Theorie der naturgeschichtlichen Entwicklung des Psychischen bei Tieren besteht die methodologische Gefahr einer Biologisierung nicht, da begründet werden kann, warum die gesellschaftlich-sozialen Faktoren für die Ausprägung der Widerspiegelungsfähigkeit bei Tieren keine Rolle spielen, und die angegebenen Strukturbeziehungen damit ein objektives Erklärungssystem abgeben, wenn die Forderung nach Vollständigkeit und permanenter Einbeziehung historisch neu entstandener experimenteller Gesichtspunkte beachtet wird.

Nativismus, Physiologismus und Behaviorismus besitzen trotz ihres auch gegeneinander formulierten Ausschließlichkeitsanspruches eine Reihe 145

inhaltlicher und methodologischer Gemeinsamkeiten: a. Es handelt sich jeweils um partielle Methodensysteme, die in ein umfassenderes naturwissenschaftliches Kausalverständnis des Psychischen eingeordnet sind und es in bestimmter Weise modifizieren oder unter besonderen Bedingungen auch mit einem totalen Geltungsanspruch auftreten. Das Entstehen derartiger methodologischer Teilsysteme einer biologischen Erklärung des Psychischen ist nicht unbegrenzt, sondern von real existierenden Organisationsebenen abhängig. b. Dem Wesen nach handelt es sich bei allen drei angeführten Richtungen um wissenschaftshistorische Erklärungsformen des Psychischen, die methodologische Übergangslösungen zwischen der Einführung neuer experimenteller Verfahren und der Objektivierung ihrer Ergebnisse in wissenschaftlichen Theorien darstellen. c. Ihr erkenntnistheoretisch-historischer Charakter bedingt eine durchgängig widersprüchliche Struktur zwischen rationalen Momenten und historischen Einseitigkeiten. Der Behaviorismus bemüht sich so einerseits um die Auflösung >mentalistischer< pyschologischer Begriffe wie den des Psychischen oder des Bewußtseins - nicht ohne dabei selbst wieder eine nun empiristische Metaphysik hervorzubringen - , andererseits werden in diesem Objektivierungsversuch wichtige Lerngesetze des tierischen und menschlichen Verhaltens entdeckt und das Tierexperiment im breiten Umfang in die Psychologie eingeführt. d. Gegenwärtig vollzieht sich eine Aufhebung der positiven Theorienund Methodenelemente in objektivierte naturwissenschaftliche Spezialdisziplinen. Der behavoristische Lernbegriff wird z. B. durch die Verhaltensforschung relativiert, der Physiologismus durch die Neuro- und Sinnesphysiologie aufgelöst, und nativistische Erkenntnispositionen erfahren eine empirische Kontrolle durch die Verhaltensgenetik. Aus diesen Gründen ist es auch günstiger, von den empirischen Grundlagen des psycho-physischen Problems und den entsprechenden naturwissenschaftlichen Theorien selbst auszugehen als von bestimmten bereits historischen Methodologien. 5.1.1. Die Anthropomorphisierung tierischen Verhaltens durch psychologische Begriffe Eine Größenordnung schwieriger als die Vereinseitigung bestimmter Aspekte des psycho-physischen Problems durch spezialisierte Methodologien oder Theorien ist die Anthropomorphisierung des Psychischen, da sie das generelle Verständnis seiner qualitativen Natur betrifft. Eine introspektive Übertragung eigener Erfahrung auf tierisches Verhalten, die theoretisch teilweise in sehr raffinierter Form auftritt, ist gelegentlich auch 146

ein Argument für die Ablehnung des Begriffes des Psychischen überhaupt, da dieser Terminus die Subjektivierung im besonderen Maße erleichtere. Die eigentlichen Wurzeln der Psychologisierung des Psychischen liegen aber tiefer. Das gegenwärtige Anthropomorphismusproblem (die Subjektivierung begleitet das psycho-physische Problem seit seiner expliziten Formulierung und paßt sich dem jeweiligen Erkenntnisstand an) besteht darin, die psychischen Prozesse bei Tieren einerseits so zu beschreiben, daß der qualitative Unterschied zum bewußten Verhalten deutlich wird, andererseits aber hervorgehoben werden muß, inwieweit es sich bereits um entwicklungsgeschichtliche Vorstufen des Bewußtseins handelt. Insofern sind Fragestellungen wie z. B.: Können Tiere denken? bereits falsch gestellt, da sie die Geltung bewußtseinspsychologischer Begriffe bei nichtmenschlichen Organismen unterstellen. In Band 1,1.2. wurde betont, daß die Verhaltensforschung ein wichtiges Instrument zur Objektivierung der Verhaltensebene gegenüber verschiedenen methodologischen Vorläufern in der Untersuchung des tierischen Verhaltens wie der klassischen Tierpsychologie oder dem Behaviorimus ist. Historisch hat sie sich vor allem als wissenschaftliches Programm zur Uberwindung introspektiver Tierbeobachtungen, der Anthropomorphisierung des Tierverhaltens und der Tierpsychologie herausgebildet, so daß ihr Subjektivitätsgrad als der gegenwärtig objektiv mögliche Maßstab sachlicher Verhaltensbeschreibung angesehen werden kann. Trotz ihrer objektivierenden Erkenntnisfunktion gegenüber psychologisierenden tierischen Verhaltensbeschreibungen, die besonders nach außen gegenüber anderen Spezialdisziplinen wirksam ist, ist der Grad der inneren Anthropomorphisierung der Ethologie erstaunlich und zeigt die schwierige Kontrolle subjektiver Parameter, wenn der Gegenstand des Bewußtseins psychisches Verhaltens ist. a. Besonders häufig sind Anthropomorphismen ausder Zeit der klassischen Ethologie als Verhaltensbeschreibungen wie >StimmfühlungslautUbersprungbewegungDemutverhaltenImponierverhalten< usw. Durch die Entlehnung aus dem menschlichen Verhaltensbereich, wo diese Muster ebenfalls auftreten, aber neben der biologischen Informationsübermittlung vor allem im Dienste der sozial-gesellschaftlichen Kommunikation stehen, wird dem Tier eine psychologische Intention unterstellt, die empirisch nicht nachweisbar ist. Einige dieser ethologischen Fachtermini sind durch zusätzliche Bestimmungen objektiviert worden (z. B. Ubersprungbewegung = deplazierteBewegung)oder werden direkt definiert (z.B.Imponierverhalten = ambivalentes Verhalten als Resultante der Uberlagerung von Angriff/Abwehr oder Angriff/Flucht). Von der psychologisierenden Sprache der Ethologie kann also nicht direkt auf eine anthropomorphe Gegen147

standsbetrachtung geschlossen werden, da zahlreiche Fachbezeichnungen aus historischen oder pragmatischen Gründen beibehalten werden und neben einem objektiven Problembewußtsein stehen, ähnlich wie sich der Kraftbegriff in der Physik, dessen subjektiver Ursprung heute ohne jede theoretische Problematik ist, im wissenschaftlichen Sprachgebrauch durchgesetzt hat. b. Auch komplexe phylogenetische Prozeßabläufe werden in der Verhaltensforschung mit anthropomorphen Begriffen belegt. So ist z. B. aus dem gesellschaftlich-historischen Bereich der Ritualisationsbegriff auf das tierische Verhalten übertragen worden und beschreibt hier das Entstehen von Signalhandlungen (vgl. Bd. 1,4.2.) Ebenso bezeichnet die >Semantisierung< einer Verhaltensweise oder eines Signals die Entstehung einer spezifisch biologischen Bedeutung innerhalb eines Kommunikationsprozesses und geht damit weit über den Sinn einer bloß sprachlichen Bedeutung hinaus. In der vergleichenden Verhaltensforschung (Lorenz, Eibl-Eibesfeldt) werden die zu Signalen differenzierten tierischen Verhaltensweisen (z. B. das Balzverhalten bei Vögeln) als >Ausdrucksbewegungen< bezeichnet, ein Terminus, der insofern introspektiv ist, als er die schon beim Menschen problematische psycho-physische Einheit in Gestik und Mimik, die die besondere Problematik der Ausdruckspsychologie ausmacht, nun auch auf Tiere überträgt, ohne daß hier der Ausdrucksbegriff im einzelnen definiert wird. Andererseits ist es unbestreitbar, daß besonders hochentwickelte Säugetiere über eine differenzierte Gesichtsmotorik verfügen, die in enger Beziehung zu ihrem Motivationsstatus steht und der innerartlichen Kommunikation dient. Wie kompliziert Objektivierungsversuche angelegt sind, zeigt der Vorschlag Tinbergens (1951) und Tembrocks (1971), die Bezeichnung >Ausdrucksbewegung< durch den Terminus >Signalhandlung< zu ersetzen, der den gemeinten Sachverhalt inhaltlich präziser bestimmt und hier übernommen wird. Andererseits ist die theoretische Basis der Signalhandlung ebenso wie die seines Gegenbegriffs der Gebrauchshandlung als einem rein stoffwechselbedingten Verhalten ohne Kommunikationsaufgaben der anthropomophe Handlungsbegriü, durch den wieder Ziel- und Tätigkeitskriterien auf das tierische Verhalten übertragen werden. c. Sehr verbreitet ist die subjektivistische Bezeichnung der sensorischen Reizaufnahme bei Tieren als Empfindung oder Wahrnehmung z. T. auch in bestimmten »Kompromißlösungen wie >Reizempfindung< usw. Eine logische Konsequenz der wahrnehmungspsychologischen Verhaltensbeschreibung bei Tieren ist die Annahme, daß z. B. Hunde >sehen< oder >riechen< können. Durch eine noch weitere Generalisierung überträgt sich die Anwendung spezifisch menschlicher Wahrnehmungskategorien dann auch auf morphologische Bezeichnungen, und aus den Sinnesorganen der Tiere 148

werden >Augen< und >OhrenLernen und Einsieht^ Planhandlungenaverbal< wieder korrigiert wird), Imitation, Neugier- und Spielverhalten usw. haben sich im wissenschaftlichen Sprachgebrauch allgemein durchgesetzt, wenn auch gelegentlich neue Objektivierungsvorschläge vorgebracht werden (z. B. Ablösung des Lernens durch Einsicht durch den neutralen Terminus »neukombiniertes Verhalten^. Die Subjektivität psychologisierender Begriffe in der Ethologie, in der sie, bedingt durch die Natur ihres Untersuchungsgegenstandes, besonders gehäuft auftreten, würde dann hinfällig werden und sie zu Bezeichnungen der Subjektivität machen, wenn sich entsprechende psychische Entwicklungsformen bei Tieren nachweisen ließen. Psychisches und Bewußtsein sind jedoch nicht nur Widerspiegelungsformen, zwischen denen eine kontinuierliche historische Beziehung besteht, sondern sie repräsentieren in diesem Prozeß auch zwei unterschiedlich organisierte Entwicklungsformen des Ideellen. Ein spezieller Aspekt, der ihre kategoriale Trennung mit begründet, ist das Auftreten der Subjektivität als Merkmal bewußten Verhaltens. Es ist also keineswegs so, daß das Verhältnis von Physiologischem und Psychischem identisch ist mit der erkenntntistheoretischen Problematik von Subjektivem und Objektivem, sondern die Subjektivität ist vielmehr ein spätes Entwicklungsprodukt des Psychischen, das sich während der Hominisation wahrscheinlich erst im Tier-Mensch-Übergangsfeld herausgebildet hat. Die bloße Wirkung biologischer Selektionsfaktoren, die zwar die Psychogenese aus elementareren Mechanismen der biologischen Informationsübertragungen erzwangen und zu einer weiteren Differenzierung als Psychophylogenese führten, genügten in ihrem Entwicklungsdruck nicht, um die Evolution psychischer Prozesse bei Tieren bis auf die Ebene der Subjektivität voranzutreiben, sondern sie entstand erst durch das Zusammenwirken biologischer und ökonomischer Entwicklungsfaktoren. Die materielle Grundlage der Entstehung der Subjektivität als höchstentwickelter ideeller Widerspiegelungsform ist die Herausbildung des Arbeitsverhältnisses, dessen Veränderung dann in verschiedenen Bewußtseins formen reflektiert wird. 149

Die Unterstellung einer >tierischen Subjektivität bedingt in ihrer theoretischen Konsequenz die Aufhebung des Entwicklungsunterschiedes zwischen Psychischem und Bewußtsein, Tier und Mensch sowie allgemein die theoretische Negation der Bedeutung der gesellschaftlich-ökonomischen Naturbeziehung und ihrer Auswirkung auf die Organisation ideeller Prozesse. Tiere können also, um die eingangs gestellte Frage zu beantworten, weder >denken< noch >wahrnehmen< oder »subjektiv empfindenWirbeltierrein< nicht vorkommen. Uber den Mechanismus ihrer phylogenetischen Entstehung besteht noch keine einheitliche Auffassung. Besonders aus paläoontologischer Sicht ist die Hypothese vertreten worden (Schindewolf 1972), daß für die Entstehung 152

neuer biologischer Baupläne andere Evolutionsmechanismen zur Wirkung kommen als bei der Entfaltung dieser Typen im Detail. Danach entstehen qualitative Bauplanänderungen durch qualitative Sprünge auf der Grundlage von Makroevolution. Gegenwärtig ist die Selektionstheorie jedoch auch bereits in der Lage, Typenänderungen höherer taxonischer Einheiten durch allmähliche mikroevolutive Veränderungen zu erklären. Gegenüber den morphologischen Entwicklungsreihen stößt eine naturhistorische Reproduktion tierischen Verhaltens auf zusätzliche Schwierigkeiten. Einmal besitzen Verhaltensweisen einen größeren Freiheitsgrad als somatische Merkmale, was zu einer insgesamt höheren Variabilität führt. Dazu kommt, daß die Möglichkeit fehlt, fossile Zwischenglieder zu heute auftretenden Verhaltensweisen zu finden. Verhaltensfossilien liegen lediglich als Laufspuren, Fraßspuren an verschiedenen Nahrungsobjekten oder Nestern von Insekten oder Vögeln vor. Aus diesen Gründen wird die Rekonstruktion von Verhaltensweisen gelegentlich skeptisch beurteilt. Häufig ist außerdem die Möglichkeit, welche Anteile des Verhaltens genetisch bestimmt sind und damit für die Stammesgeschichte in Frage kommen, sehr schwierig zu entscheiden. Dies hängt zum Teil mit der Unscharfe der bezeichneten Verhaltenseinheiten zusammen, da solche Begriffe wie >NahrungserwerbKampfverhalten< usw. noch an bestimmten funktionellen Leistungskriterien ausgerichtete Einheiten darstellen. Z. B. stehen >Nester< von Menschenaffen in engem Zusammenhang mit dem Schlafverhalten, während sie bei anderen Tiergruppen wie Ratten oder Vögeln in das Fortpflanzungsverhalten integriert sind. Die Faktoren, die zu einer Evolution des Nestbauverhaltens führen können, sind also sehr mannigfach, so daß nicht bloß eine Evolutionslinie angenommen werden kann, ebenso wie das Präparieren einer besonderen Stelle zum Niedersitzen motorisch auf sehr unterscheidliche Weise, etwa durch den Schnabel, die Vorderextremitäten usw. erfolgt. Eine andere Schwierigkeit der phylogenetischen Rekapitulation des Verhaltens resultiert daraus, daß keine eindeutige Zuordnung zwischen Verhaltens- und Körperbaumerkmalen existiert. So besteht die Möglichkeit, daß die Verhaltensentwicklung der Evolution morphologischer Merkmale vorausgeht, zum anderen existieren jedoch auch phylogenetische Verhaltensrelikte, während das entsprechende körperliche Merkmal bereits wieder verschwunden ist. Darwin beschrieb z. B. das Herunterziehen der Mundwinkel als mimisches Element des Menschen, durch das funktionell die Eckzähne sichtbar werden. Bei Primaten (Madrill, Gorilla) - die im Gegensatz zum Menschen noch eine heteromorphe Caninusgruppe mit dominanten Eckzähnen besitzen - tritt dieses Verhalten beim Drohen auf. Ein analoger Entwicklungstrend besteht bei Hirschen, von denen die Sambar153

hirsche ebenfalls durch das Hochziehen der Lippe drohen, die Eckzähne funktionell aber bereits durch das Geweih als Waffe ersetzt sind, während bei primitiven geweihlosen Hirscharten (Muntjak) dadurch die Eckzähne entblößt werden. Aus diesen Gründen ist es verständlich, daß der wichtigste methodische Weg zur Ermittlung natürlicher Verwandtschaft als Ergebnis der Stammesgeschichte, die Homologieforschung, seinen Ausgang von der Analyse morphologischer Strukturen nahm. Die von Remane (1956) formulierten Homologiekriterien sind dann auch entweder direkt oder mit verändertem Stellenwert in die Verhaltensforschung übernommen worden (Wickler 1967, Tembrock 1964, Eibl-Eibesfeldt 1972). Auch in der Ethologie werden dann zwei Verhaltensweisen verschiedener Tierarten auf ihren gemeinsamen historischen Ursprung hin untersucht, wobei die Voraussetzung gegeben sein muß, daß sie nicht so arm an Untermerkmalen sind, daß gemeinsame und unterschiedliche Merkmale nicht mehr mit hinreichender Genauigkeit getrennt werden können. Die Feststellung von homologen Verhaltensweisen ist eine wichtige methodische Grundlage der Verhaltensphylogenetiky einer speziellen Forschungsrichtung der Ethologie, die sich aus der Übertragung der Methoden der Evolutionsforschung auf das tierische Verhalten ergeben hat. Die Verhaltensphylogenetik interessiert sich primär für die Entwicklung angeborener Verhaltenselemente und ihre arterhaltende Funktion. Neben dem KasparHauser-Versuch als wichtigstem Kriterium (vgl. 1.) ist aber auch der Vergleich von zwei oder mehreren Verhaltensweisen typisch, obwohl damit nicht die Frage »angeboren oder erworben