Die alte Klosterschule: Eine Welt der Strenge und der kleinen Rebellen [2 ed.] 9783205210436, 9783205210412

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Die alte Klosterschule: Eine Welt der Strenge und der kleinen Rebellen [2 ed.]
 9783205210436, 9783205210412

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Roland Girtler

DIE ALTE KLOSTERSCHULE Eine Welt der Strenge und der kleinen Rebellen

2., ergänzte Auflage

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gewidmet meinen Lehrern und Freunden in der Klosterschule, von denen einige meinten, ich sei ein Faulpelz und ein Nichtsnutz.

1. Auflage 2000 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Kölblgasse 8-10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen: Eberbach, Kloster, Kreuzgang/Foto, AKG402114 Fotograf: Bildarchiv Monheim GmbH Klassenfoto, AKG5420854 Fotograf: Niklaus Stauss Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21043-6

Vorwort zur 2. Auflage

Dem Böhlau Verlag danke ich sehr, dass mein Buch über die alte Klosterschule, die auf einer alten Geschichte, die bis in das ausgehende 16. Jahrhundert zurückreicht und die in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts allmählich »unterging«, wieder aufgelegt wird. Darüber bin ich sehr froh, schließlich habe ich in der alten Klosterschule viel für mein Leben gelernt. Ich bin in der Klosterschule zu einem Überlebenskünstler geworden. Obwohl ich einiges in der Klosterschule mitgemacht habe, denke ich dennoch in Hochachtung an meine alten Lehrer, die durchwegs Mönche des Klosters Kremsmünster waren. Als dieses Buch in der 1. Auflage erschien, schrieb mir Herr Dr. Sepp Schmid, Professor an der Universität Bamberg – auch er drückte die Schulbank in Kremsmünster – diese Zeilen, die ich hier wiedergeben möchte, weil sie gut aufzeigen, worum es mir in diesem Buch geht: »Lieber Roland! Ich bin soeben mit der Lektüre Deines Werkes über die ›Alte Klosterschule‹, die uns nur allzu bekannt ist, fertig geworden. Ich gratuliere Dir zu der minutiösen Analyse und launigen und gewiss scharfsinnigen Beschreibung aller Vorgänge. Das Panorama, das Du entrollst und das bis in unsere Kinderseelen hineinleuchtet, ist bestimmt das Ergebnis Deiner kulturanthropologischen Methode, der nichts entgeht und mit der auch nichts vergessen wird. Damit hast Du mir und manch anderen ein Stück Jugend quasiarchivarisch wiedergeschenkt. Beste Grüße von Sepp in Bamberg«. Vielen Dank für diese Worte, lieber Sepp, der Du bereits bei unseren Altvorderen im Jenseits weilst und auf uns herunterlächelst. Ich bin den Damen und Herren vom Böhlau Verlag, vor allem Frau Mag. Eva Buchberger, für das Wohlwollen, das ich stets genießen durfte, sehr dankbar. Roland Girtler, Jänner 2020

Brief des Stiftszöglings Roland Girtler an seine Eltern

Inhalt

Einleitung – zum Begriff des Rebellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Forschungsvorhaben und Dank an freundliche Leute . . . . . . . 13 I. Religiosität und Frömmigkeit: Ora et labora . . . . . . . . . . . . 18 Das wüste Treiben in Rom und die Idee des heiligen Benedikt  19 Das alte Kloster, sein Gymnasium und das Konvikt – ein historischer Spaziergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Das Ansehen der Klosterschüler – der »Studenten« – bei Bürgern und Bauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 II. Die Ankunft im Kloster – die Konviktsnummer und das Heimweh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 III. Typologie der Studenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 A. Der Streber  43 | B. Der intelligente Student  44 | C. Der faule und »dumme« (minderbegabte) Student  44 | D. Der fleißige und »dumme« (minderbegabte) Student  45 | E. Der faule und intelligente Student  45 | F. Der Arschkriecher 45 | G. Der kameradschaftliche Student  45 | H. Der verwegene oder rebellierende Student  46 | I. Der dominierende Student  46 | J. Der degradierte Student 46 | K. Der gescheiterte Student  47 IV. Die Karriere des Studenten – Stufen der Rebellion . . . . . 48 1. Das Zurechtfinden – der Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Die Kunst des Überlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3. Neue Freiheiten und Kontakte zum Ort . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4. Die Oberstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 5. Das letzte Rennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 6. Die Befreiung – die Matura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 7

Die alte Klosterschule

V. Typologie der Professoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 A. Der edle Professor  51 | B. Der gütige und heitere Professor als Freund der Schüler  52 | C. Der alles beherrschen wollende Professor und Präfekt  53 | D. Der gelassene Professor  53 | E. Der besorgte, strenge und zornige Professor  53 | F. Der niederträchtige und sadistische Professor  54 | G. Der feige Professor  55 | H. Der verräterische Professor  55 VI. Niederträchtigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Die Niedertracht der Schüler und Zöglinge: Die Tyrannei der Kameradschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Die Niederträchtigkeiten gegenüber dem gütigen Lehrer . . . . 58 VII. Die fünf Prinzipien des Überlebens als Klosterschüler  59 1. Der ständige Kampf um Behauptung – Verspottung und Raufereien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Der Streit und die rituelle Rauferei 61 2. Der Reiz des Verbotenen – heldenhaftes, rebellisches Tun  65 Eine wahre rebellische Heldentat 68 3. Kameradschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4. Keine Standesunterschiede – aber Rangordnungen . . . . . . . 74 5. Humor – Scherze und Spitznamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Der Spitzname des Professors 77 | Der Spitzname des Schülers 81 | Scherze mit Mitschülern 85 VIII. Die barocke Welt des Konvikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Grosse Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Rituale der Ehrerbietung, die Anrede und das Grüßen . . . . . . 90 Kleidung: Verhüllung des nackten Fleisches und Mode . . . . . . 95 Der Tagesablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 IX. Der Schlafsaal und die Freude am Schlafen . . . . . . . . . . . . 104 Die Polsterschlacht als Akt der Rebellion . . . . . . . . . . . . . . . . 109 X. Der Morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Aufstehen und Waschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Das Duschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 8

Inhalt

Ministrieren und der Besuch der Studentenkapelle . . . . . . . . . 117 Morgensport als Neueinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Das Frühstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 XI. Das Gymnasium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Die alten Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Der Gang zur Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Die Kultur des Klassenzimmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Buntheit und Plage des Unterrichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Latein und Griechisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Schwindeln als Akt der Rebellion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Das Ritual der Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Der Unterricht als Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Der Sport: Marschieren, Turnen, Handball, Skifahren und Schwimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Rebellische Heiterkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Die Pause – Zeit der Abwechslung und kleine Rebellion . . . . . 179 XII. Rauchen: Mannbarkeit und Rebellion . . . . . . . . . . . . . . . . 182 XIII. Die Sorge der Eltern: Elternsprechtage . . . . . . . . . . . . . 188 Briefe und Packerl der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Der Besuch der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 XIV. Das Mittagessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 XV. Der Nachmittag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Die Studierstunde: Studium und Silentium . . . . . . . . . . . . . . . 205 Die Jause – ein Lob den Bedienerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 XVI. Der Abend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Das Abendessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Die freie Zeit am Abend: Lesen, Spiel und Nachhilfe . . . . . . . 213 XVII. Strafen für Rebellen: Spanischer, Ohrfeigen, Hausarrest und Hinauswurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 XVIII. Die Flucht – Rebellion und Abenteuer . . . . . . . . . . . . . 229 9

Die alte Klosterschule

XIX. Der Donnerstag und der Sonntag – Kirchenbesuch und freie Stunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Das Taschengeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Der Nachmittag – Spaziergänge und Gasthausbesuche . . . . . . 237 XX. Die Schank: Schankstunde, gemeinsames Trinken und Feiern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 XXI. Kulturelle Spezialisten: Sänger, Theaterspieler, Musikanten und Bildungsbeflissene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 XXII. Die Ferien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Die traurige Rückkehr von den Ferien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Grippeferien – die Krankenabteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Schulausflüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 XXIII. Fromme Unternehmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 XXIV. Die Sache mit der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Die Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 XXV. Schulschluss: das Hinausblasen – die Promulgation . 279 XXVI. Die Matura – der Pflanzsonntag und das Valet . . . . . 281 XXVII. Rachegelüste und Aussöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 XXVIII. Gescheitert oder erfolgreich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 XXIX. Der Untergang der alten Klosterschule und die Klosterschule heute – ein paar Gedanken . . . . . . . . . . 291 XXX. Nachwort: Was ich in der Klosterschule gelernt habe .293 Die fünf Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Fotos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

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Einleitung – zum Begriff des Rebellen

Dieses Buch handelt nicht von den Kunstschätzen oder der prachtvollen Geschichte eines Klosters, sondern von jungen Burschen, die in der Welt des Klosters eine Zeit zu leben und zu lernen hatten, und dabei spannende Strategien des Überlebens entwickelt hatten. Seit Jahren habe ich die Idee, die alte Klosterschule, die mir typisch für andere Klosterschulen im österreichischen, deutschen oder überhaupt europäischen Raum zu sein scheint und die ich in ihrer ganzen Strenge, Buntheit und Vielfalt kennengelernt habe, zu beschreiben. Ich wage die Behauptung, dass die Klostererziehung, die ich auf Wunsch meiner gütigen Eltern von 1951 bis 1959 auf mich zu nehmen hatte, ein Relikt des Mittelalters, also einer alten Kultur, ist. Diese Kultur ist allmählich, spätestens in den Siebzigerjahren, zu Ende gegangen, ebenso wie die alte bäuerliche Kultur, in die auch das Kloster eingebunden war und die durch die Jahrhunderte bestehen konnte. Heute gibt es sie nicht mehr, diese alte Klosterschule, in der fromme Patres in aller Strenge regierten, in der es aber auch so etwas wie kleine Rebellen gab, die mit allerhand Witz und Kreativität zu überleben wussten. Zu diesen kleinen Rebellen zähle auch ich mich in aller Bescheidenheit, der ich mich fast acht Jahre lang kalt waschen musste. Es war eine harte Zeit, die ich durchlebt habe, die auch ihre Schönheiten hatte, die aber auch kleine Rebellen hervorbrachte. Vorab gestatte ich mir ein paar Gedanken zum Rebellen. Typisch für den Rebellen, wie ich ihn sehe, ist, dass er kein großer Ideologe oder Verschwörer ist, der sich kritisch und intellektuell mit seiner Gesellschaft befasst. Ein Rebell ist vielmehr für mich jemand, der sich auf sein altes Recht beruft und sich dieses Recht auch nimmt, wie eben das alte Recht der Freiheit, von dem er meint, dass man es ihm genommen hat. 11

Die alte Klosterschule

Und um diese Freiheit geht es auch für den Rebellen in der Klosterschule. Danach ist der Rebell nicht gewillt, die »normale« Rolle des Unterdrückten zu spielen, er lehnt sich gegen jene auf, die ihm als Despoten und Leuteschinder erscheinen. Der Rebell im wahren Sinn setzt alles darein, gegenüber seinen Unterdrückern seine Freiheit und auch die der anderen zu erkämpfen, und zwar mit Mitteln, über die er als Geknechteter verfügt, nämlich mit Mut, Schlauheit und auch mit Treue gegenüber seinen Freunden. 1 Rebellen waren in diesem Sinn auch die alten Wilderer, die den hohen Herren, von denen sie sich ausgebeutet sahen, die Gams weggeschossen haben. Nicht große, aber kleine Rebellen gab es auch in der Klosterschule. Ihre Strategien konnten, wie wir sehen werden, die Nichtbefolgung gewisser Vorschriften oder die bewusste Verärgerung von übelwollenden Vorgesetzten sein. Rebellen dieser Art waren es, die der Klosterschule auch ihre Buntheit gaben. Mein Leben ist eng mit dieser Klosterschule verbunden. Obwohl ich dort viel mitgemacht habe und ein schlechter Schüler war, der allerdings keine Klasse wiederholen musste, hat sich in mir eine eigentümliche Bindung an dieses Kloster erhalten. Diese Bindung zeigte sich bei mir zum Beispiel darin, dass ich bei meinen Forschungen immer wieder irgendwie an dieses Kloster, das auch den von mir sehr verehrten Adalbert Stifter zum Schüler hatte, erinnert werde. So als ich mich vor Jahren mit der Nordpolfahrt von Payer und Weyprecht (1872–74) beschäftigt habe. Die beiden kamen zwar nicht zum Nordpol, aber sie entdeckten eine prächtige Insel, die sie Kaiser-Franz-Joseph-Land nannten. Auf der von ihnen verfassten Karte dieses Gebietes entdeckte ich ein Kap Kremsmünster. Ich schrieb darüber dem Abt, dieser las mei1 Siehe zum Begriff des Rebellen: Roland Girtler, Wilderer – Rebellen der Berge, Wien 1998; und: Derselbe, Randkulturen, Theorie der Unanständigkeit, Wien 1995. An der Methode Interessierte verweise ich auf mein Buch »Methoden der qualitativen Sozialforschung«, Böhlau-Verlag, Wien 1996.

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Einleitung – zum Begriff des Rebellen

nen Brief im Refektorium, dem Speisesaal der Patres, den Mitbrüdern vor, doch niemand wusste von diesem Kap und konnte sich auch nicht erklären, warum man dort oben im Norden ein Kap nach dem Kloster benannte hatte. Erst später löste sich das Rätsel. Die Erziehung in der alten Klosterschule war im Wesentlichen durch das alte griechische Sprichwort bestimmt: »O me dareis anthropos ou paideuetai«, »Der Mensch, der nicht geschunden wurde, ist nicht erzogen«. Ich werde hier über den Alltag der Burschen im Konvikt und im Gymnasium berichten, über eine Welt, in der die Strenge regierte und vieles verboten war, was heute den Jugendlichen selbstverständlich erscheint. Die Strenge und Kargheit des Klosters förderte auf der anderen Seite das Rebellentum. Vorrangig handelt das Buch von jenen Burschen, die nicht nur das Klostergymnasium besucht haben, sondern die auch im Konvikt untergebracht waren. Die sogenannten »Externen«, die entweder bei ihren Eltern im Ort oder in einem Kosthaus wohnten, fallen weitgehend aus meiner Betrachtung, da sie nach meinem Verständnis keine echten Klosterschüler waren. Diese alte Kultur der Klosterschule wird von der Warte des »kleinen Studenten« dargestellt werden, die wohl eine andere ist als die der frommen Patres.

Forschungsvorhaben und Dank an freundliche Leute Ich verstehe meine Arbeit als eine wissenschaftliche, aber nicht im üblichen Sinn, als Anhäufung grauer historischer Fakten und langweiligen statistischen Materials. Vielmehr will ich eine eingermaßen spannende und anregende Studie vorlegen, die den Alltag der Klosterschule in seiner ganzen Buntheit dartut. Meine Leser und Leserinnen sollen ein Gefühl für diese alte Kultur der Klosterschule gewinnen. Dies lässt sich nicht durch abgehobenes 13

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theoretisches Geplänkel erreichen, sondern eher durch gute Berichte, die ans Erzählerische grenzen. Ich meine überhaupt – hier befinde ich mich im Gegensatz zu vielen Kollegen –, dass gute kulturwissenschaftliche Arbeit auch gute Literatur sein soll. Die Arbeit baut methodisch auf freier Forschung auf. Ich habe diese Methode der Kulturwissenschaften an einem anderen Ort beschrieben. Zu meiner Forschung über die alte Klosterschule gehören sowohl eigene Erinnerungen, die durchaus ihre wissenschaftliche Berechtigung haben, als auch sogenannte »ero-epische« (freie) Gespräche. Diesen Ausdruck »ero-episches Gespräch« konnte ich prägen, weil ich in der Klosterschule Griechischunterricht genossen habe. Der Begriff Interview gefällt mir nicht, weil er aus der Welt des Journalismus kommt. Obwohl ich ein schlechter Schüler war, habe ich mir eine gewisse Liebe zum Altgriechischen erhalten. Ich darf mich als Altphilologen im wahrsten Sinn des Wortes betrachten, denn »philos« heißt der Freund und Liebhaber! Man kann ein Altphilologe sein, ohne deswegen als Schüler geglänzt zu haben. Das Wort »Ero-episch« setzt sich übrigens aus »eromai« für »fragen« und »epein« für »erzählen« zusammen. Gespräche dieser Art finden sich in der »Odyssee« des großen Homer: Durch Fragen zum Beispiel des Königs Alkinoos und Erzählungen des Odysseus, der sich dabei dem Weingenuss hingibt, erfährt man eine Menge über das Leben und den Alltag im alten Griechenland. Wichtig ist beim »ero-epischen Gespräch«, dass im Gegensatz zum Interview, bei dem durch einseitige und langweilige Fragen schnell etwas über andere Leute zutage kommen soll, Forscher und Kontaktperson gemeinsam an einem Thema arbeiten, zum Beispiel über die Randkultur der Prostitution oder eben über die Kultur der Klosterschule. Die Fragen beim »ero-epischen Gespräch« ergeben sich meist während des Gesprächs, wobei der Forscher sich von seinem Gesprächspartner weitgehend leiten lässt. Das Gespräch wird in lockerem Rahmen geführt. Während des Erzählens wird oft auch gemeinsam getrunken und gegessen. Solche Gespräche führte ich mit freundlichen Herren, die ehedem im Kloster lebten und sich dort dem Studium hingegeben haben. Mit 14

Einleitung – zum Begriff des Rebellen

einigen verbrachte ich gemütliche Stunden, während der wir uns vergangener Zeiten nicht nur in Heiterkeit erinnerten. So saß ich im Hause meines Freundes Rudi Lughofer, des bekannten Dudelsackpfeifers, und ließ mir von ihm und von Erwin Starl aus alten Zeiten erzählen. Beide sind Maturajahrgang 1967. Dabei erwies sich Erwin geradezu als ein Meister der Erzählkunst, der ich einiges für dieses Buch verdanke. Auch Waldtraud, die liebenswürdige Frau Rudis, erzählte mir Aufregendes aus der Sicht der jungen Mädchen, in die sich Klosterschüler verliebt haben. Rudi hatte mich an einem kalten Jännertag zu sich eingeladen. Ich kam mit dem Zug aus Spital am Pyhrn in Kremsmünster an und wanderte durch den Ort, der sich geradezu katastrophal verändert hatte. Dort, wo es früher gemütliche Wirtshäuser gab, in denen wir als junge Studenten zechten, gibt es heute Geschäfte mit Billigangeboten und Ähnliches. Es hat sich also viel verändert, merkte ich, als ich zunächst über die Tendelleiten auf eisigem Weg hinauf zur sogenannten Moschee marschierte. Ich machte einen Blick auf die alten Bäume und den Sportplatz. Ich drehte wieder um, um über den Markt und den sogenannten Töttenhengst zum Kloster und schließlich zum Haus Rudis beim alten Schwimmbad zu wandern. Dabei dachte ich an vergangene Zeiten des Leidens und der Freude. Beides hatte ich hier in Kremsmünster erlebt. Als ich beim Haus der früheren Gemischtwarenhandlung Lughofer läutete, war ich gut auf das Gespräch mit Rudi und Erwin eingestimmt. Sehr behilflich war mir auch Freund Dr. Gustav Adolf Bihlmayer, Maturajahrgang 1957, der sich die Mühe gemacht hat, einige seiner Erlebnisse aus der Erinnerung für mich handschriftlich niederzuschreiben. Seine vorbildliche Handschrift, die er sich wahrscheinlich in Kremsmünster angeeignet hat, erweckte meine besondere Begeis­ terung. Schließlich nahm er es auch auf sich, das fertige Manuskript durchzusehen und es durch ein paar Gedanken zu ergänzen, die er mir bei einem Frühstück, zu dem ich ihn eingeladen hatte, servierte. Auch Herr Sepp Unterkircher, der bekannte Architekt, der zwar nur zwei Klassen mit mir in Kremsmünster verbracht hat, hat einiges 15

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beigetragen. Die Eindrücke von damals haben ihn bis heute nicht losgelassen. Wir trafen uns in einem ruhigen Kaffeehaus in der Wiener Innenstadt. Ich war mit dem Fahrrad dorthin gefahren. Für dieses Buch höchst förderlich waren auch längere Gespräche mit Freund Dr. Helmut Obermayr, Maturajahrgang 1967, Chef der Abteilung Religion des Österreichischen Rundfunks, beim Bier im Stile des klassischen Symposions. Dieses Treffen fand übrigens im Gasthaus »Spatzennest« in 7. Wiener Gemeindebezirk statt. Auch er sah das Manuskript durch und brachte seine wohlmeinende Kritik an, die ich pflichteifrig verarbeitet habe. Ebenso freundlich behilflich war mir Hans Aigner, würdiger Bäcke­ rei­unternehmer in Windischgarsten, der mir in seinem Garten Interessantes über seine Zeit in Kremsmünster erzählte. Bei diesem Gespräch setzte er mir übrigens prachtvolle Topfengolatschen, mein Lieblingsgebäck, vor. Einen schönen Abend verbrachte ich mit Wolfgang Mayr, Maturajahrgang 1962, ehemaliger Chefredakteur der Austria Presse Agentur, und seinem Bruder Bruno, Maturajahrgang 1970. Wolfgang Mayr verdanke ich eine stattliche Anzahl von ihm eifrig gesammelter Aussprüche seiner alten Professoren. Kühne Geschichten über den Alltag im Konvikt erfuhr ich von dem freundlichen Herrn Mag. Stephan Proksch, der dort in einige Raufereien verwickelt war. Ebenso sprach ich mit Herrn Diplomingenieur Christian Ehrengruber, unter anderem über seltsame Erziehungspraktiken. Zu diesem Gespräch hatte mich Christian gemeinsam mit seiner liebenswerten Frau Gemahlin Monika, die für mich eine prächtige Topfentorte gebacken hatte, mit seiner charmanten Schwiegermutter und mit seinen Buben in Spital am Pyhrn besucht. Einiges über den Tagesablauf in der Klosterschule, wie er ihn erlebt hat, erzählte mir mein lieber Bruder Univ.-Prof. Dr. Dietrich Girtler. Für eine kluge Anregung bin ich Frau Mag. Anna Steinböck dankbar. Danken möchte ich aber noch folgenden Herren, wobei ich deren eventuelle Titel weglasse: Lothar Aichberger, Ernst Binder, Wieland 16

Einleitung – zum Begriff des Rebellen

Gmeiner, Lothar Grabner, Herbert Hiesmayr, Anton Hofstötter, Hubert Pichler, Herwig Pointner, Franz Rammerstorfer, Helmut Rathmayer, Fritz Rauscher, Gerald Rollé, Volker Schernthanner, Kurt Springer, Franz Thallinger, Adolf Tragler und Erwin Vierhauser; ebenso Georg Kinsky und Karl Schöllhuber. Von diesen hier genannten möchte ich besonders Gerald Rollé hervorheben, er war ein guter Freund, der mich nicht nur bei den Mathematikschularbeiten prächtig und in verbotener Weise unterstützt hat, sondern der mir auch geholfen hat, bei der Matura durchzukommen. Karl Gatterbauer, Helmut Pöpperl und Johannes Wittenberger kann ich nur mehr post mortem grüßen, sie sitzen wahrscheinlich auf einer Wolke weit oben und lächeln auf uns herab, genauso wie die alten Patres, die meine Lehrer waren und die sich über mich von oben herab vielleicht wundern, dass ich dieses Buch schreibe. Ihnen allen sei hier ganz herzlich gedankt. Auch meiner gütigen Frau Gemahlin Birgitt sei gedankt, denn immerhin verstand sie es, einem alten Klosterschüler, der seinen rebellischen Geist trotz Ehe bewahren konnte, mit aller Nachsicht zu begegnen.

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I. Religiosität und Frömmigkeit: Ora et labora

Wichtigster Aspekt des Lebens in der Klosterschule, wie ich sie noch erlebt habe, war die besondere Art der Religiosität. Der Grundsatz der Benediktiner »ora et labora«, also; »arbeite und bete«, galt nicht nur für die Mönche, sondern auch für die Schüler. Dies bedeutete, dass mit der Arbeit im Klassenzimmer des Gymnasiums und im Studierraum des Konvikts stets auch Religiosität und Frömmigkeit eng verbunden waren. So wurde vor und nach dem Unterricht gebetet, und der Beginn und das Ende des Schuljahres war mit festlichen Hochämtern begleitet. Schließlich war es für die Schüler des Gymnasiums verpflichtend, an religiösen frommen Übungen, wie den Sonntagsgottesdiensten und den Exerzitien, teilzunehmen. Dazu kommen noch die dauernden Begegnungen mit den ihre Kutten tragenden Patres, den Jüngern des heiligen Benedikt. Sie waren für uns zunächst geradezu wandelnde Symbole für ein heiligmäßiges Leben. Dieses heiligmäßige Leben faszinierte uns in den ersten Klassen, als man uns auf den Wert der Frömmigkeit und das Edle des mönchischen Daseins in aller Deutlickeit hinwies. Damals hatten nicht wenige von uns die Idee, selbst einmal Mönch zu werden. Doch dieser Wunsch legte sich allmählich. Frömmigkeit gehörte zum Leben der Mönche und Studenten. Allerdings konnte Frömmigkeit auch übertrieben und falsch verstanden werden. Über eine solche falsch verstandene Frömmigkeit erzählte mir damals im Kloster ein Pater: Ein Bursche, der ein schlechter Schüler war, hatte vor einer alles entscheidenden Schularbeit seine Füllfeder, mit der er diese schreiben wollte, über Nacht in den Weihwasserkessel der Kirche gelegt. Er tat dies in der Hoffnung, auf diese Weise eine gute Arbeit zu schreiben, jedoch vergebens. Um die benediktinische Tradition der Klosterschule zu verstehen, 18

Religiosität und Frömmigkeit: Ora et labora

ist es wohl nützlich, einen Blick in die Geschichte dieses Ordens, der sich immerhin nun schon bald tausendfünfhundert Jahre bewährt hat, zu geben.

Das wüste Treiben in Rom und die Idee des heiligen Benedikt Die klassische Klosterschule geht weit in das Mittelalter zurück. Sie baut auf Ideen des heiligen Benedikt von Nursia, des Gründers des Ordens der Benediktiner, auf. Dieser Benedikt wurde um 480 geboren und ist um 547 in Montecassino verstorben. Er war der Großstadt Rom, deren wüstes Leben und Treiben ihn angewidert hatte, entflohen, zunächst in eine Höhle und dann auf den Berg mit dem Namen Montecassino, wo er schließlich sein Kloster errichtete. Wie widerlich dem heiligen Benedikt, der selbst nie Priester war, das wüste Treiben der Römer und Römerinnen war, zeigt sich in einer interessanten Begegnung. Um 542 empfing er bei sich, wie überliefert ist, den Gotenkönig Totila, nachdem dieser gerade zuvor mit seinen germanischen Kriegern Rom eingenommen hatte. Wahrscheinlich unterhielt er sich mit Totila über die in Rom begangenen Sünden. Benedikt selbst wollte mit seinen Brüdern ein Leben in klösterlicher Einfachheit, Bescheidenheit und Sittlichkeit führen. Seine Vorstellungen legte er in der berühmten Benediktinerregel, der »Regula Benedicti«, nieder. (Erst vor einigen Jahren entdeckte man, dass diese Regel eine Weiterführung mönchischer Regeln ist, die von Unbekannten bereits einige Zeit vor Benedikt aufgestellt worden waren.) Die Ordensregeln des Benedikt bewährten sich und machten die Benediktiner zu einem der erfolgreichsten und wohlhabendsten Orden. Ein Manager namens Veith Risak versuchte deswegen diese benediktinischen Regeln für Menschen anwendbar zu machen, die in der Wirtschaft Karriere machen wollen (Risak, 1987). Die Benediktiner blieben ihrem Spruch »ora et labora« (»bete und arbeite«) durch die Jahrhunderte treu. Im Sinne dieses Leitgedankens 19

Die alte Klosterschule

gründeten Benediktiner schon sehr früh Klosterschulen und legten diesen Prinzipien zugrunde, an denen sich noch nach vielen Jahrhunderten Zöglinge erfreuen konnten. Diese alte Klosterschule hat in den letzten Jahrzehnten aufgehört zu bestehen. Es gibt sie nicht mehr, es gibt sie nur mehr in Erzählungen.

Das alte Kloster, sein Gymnasium und das Konvikt – ein historischer Spaziergang Im Wesentlichen ähnelten sich die österreichischen und die deutschen Klosterschulen mit ihrer langen, oft tausendjährigen bunten Geschichte. Die Klosterschulen hatten im Allgemeinen einen guten Ruf. Allerdings gab es nicht nur pflichteifrige Lehrer. So zum Beispiel besorgten in Kremsmünster im 14. Jahrhundert Magistri den Unterricht, die aus dem Stande der Vaganten, also aus dem fahrenden Volke, kamen. Deren Lebenswandel soll sittenlos und ihr Einfluss auf die Schüler schädlich gewesen sein2. Im oberösterreichischen Alpenvorland ist es gelegen, dieses alte, 777 von Herzog Tassilo von Bayern gegründete Kloster der Benediktiner zu Kremsmünster, durch dessen Anlage wir nun spazieren wollen. Seit über 1.200 Jahren beten und arbeiten in Kremsmünster Mönche, sie widmeten sich nicht nur der Urbarmachung des Bodens, sondern förderten auch die kulturelle Entwicklung. So kümmerten sie sich mit Erfolg um die Erziehung junger Burschen. Mädchen hatten nie Zugang, erst nach dem fundamentalen Wandel des Stiftsgymnasiums zum Ende des Jahrtausends hin werden auch Mädchen als Schülerinnen aufgenommen. Aber dies war auch das Ende der alten Kultur der Klosterschule. Seit 1549 spricht man von der Klosterschule in Kremsmünster als dem Gymnasium, da sie nun allgemein zugänglich wurde. 2 A. Mandorfer, Erziehung und Unterricht in Kremsmünster, in: Krems­ münster – 1200 Jahre Benediktinerstift, 2. Aufl. Linz 1978, S. 150.

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Abb. 1: Alte Ansicht vom Stift Kremsmünster, Oberösterreich (um 1930).

Ein neues Schulhaus wird erbaut. Bald danach betätigt sich bereits ein Schüler rebellenhaft, indem er dieses Schulhaus, vielleicht aus Zorn gegenüber seinen Lehrern, in Brand steckte. Abt Jodok Sedelmayr (1568–1570) musste darauf ein neues Schulhaus errichten. Das jetzige Gymnasialgebäude stammt aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts, es wurde 1891 eingeweiht. Es ist Teil des Klosters, dessen Geschichte eine höchst aufregende ist. Nach der Gründungssage wurde das Kloster dort errichtet, wo Tassilos Sohn tot aufgefunden wurde, nachdem er bei der Jagd von einem Wildschwein verletzt worden war. Das Wildschwein ist daher auch im Wappen des Klosters zu sehen, und jedes Jahr am sogenannten Stiftertag, der an die Gründung durch den Herzog erinnern soll, gibt es für die Patres einen Wildschweinbraten. Hie und da bekamen auch wir Studenten Stückchen von diesem prächtigen Mahl. Dieser Stifter war übrigens ein unglücklicher Mensch. Er hatte Karl den Großen zum Feind, der dagegen war, dass Tassilo sich ein eigenes, 21

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Abb. 2: Lageplan »Der Spaziergang« 1 Sternwarte | 2 Gymnasium | 3 Kunstsammlungen | 4 Sportplatz | 5 Moschee mit Hofgarten | 6 Stiftsmauer | 7 Teiche | 8 Schwimmbad | 9 Konventgarten | 10 Konviktshof | 11 Studentenkapelle | 12 alte Schank | 13 Konviktsabteilungen | 14 Innerer Stiftshof oder Prälatenhof | 15 Stiftskirche | 16 Pforte | 17 Klausur – der Konvent | 18 Juvenat (Internat für Priesterstudenten) | 19 Brücke | 20 Äußerer Stiftshof | 21 Wassergraben | 22 Maierhof | 23 Theater | 24 Gymnasialgang | 25 Riedergang | 26 Eichentor

von ihm unabhängiges Stammesherzogtum Bayern schaffe. Tassilo, der die Tochter des Langobardenkönigs, Liutpirc, geheiratet hatte – was ihm auch nichts nützte –, wurde von Karl dem Großen geblendet und in ein Kloster gesteckt. Auf dem Grabstein Tassilos soll stehen: »Primum dux, post rex, ad imum monachus« – »zuerst Herzog, dann König [da er sich Karl dem Großen gleichstellte], und zum Schluss Mönch«. Tassilo hinterließ mit Kremsmünster ein großzügig angelegtes Stift. Der prachtvolle Tassilokelch ist bis heute der Stolz des Klosters. Am Fuß des Kelches ist zu lesen »Tassilo dux fortis + Liutpirc virgo regalis« (Tassilo tapferer Fürst + Liutpirc königliche Jungfrau). Ich hatte übrigens als junger Ministrant einmal den echten 22

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Kelch, der neben anderen Kelchen in einer Art Panzerschrank in der Sakristei der Klosterkirche aufbewahrt war, in den Händen. Darauf war ich mächtig stolz. Der Tassilokelch, der in der Bibliothek des Stiftes gezeigt wird, ist ein Duplikat. Das Kloster erhebt sich stolz über dem Markt von Kremsmünster mit seinen Gasthöfen und Geschäften. Das Kloster liegt einladend mit seinen Höfen da, zur Zierde der Kirchtürme inmitten der Anlage gesellt sich an seinem östlichen Rand, gleich neben dem Prachtbau des Gymnasiums, seit 1758 die weithin berühmte Sternwarte, der mathematische Turm, wie man sie auch nennt. Berühmte Gegenstände sind hier aufbewahrt, darunter ein Kepler-Fernrohr, das Skelett eines Höhlenbären, das vor langer Zeit in der sogenannten Lettenmaierhöhle am Weg nach Kirchberg gefunden wurde, völkerkundliche Materialien, seltene Steine und vieles andere mehr. An den Wänden des Stiegenhauses sind die Bilder von noblen Herren zu sehen, nämlich von Herren, die in der früheren Ritterakademie des Stiftes einiges für ihre höfische Bildung lernten. Diese Ritterakademie bestand zwischen 1744 und 1787. Besonders faszinierte uns ein geheimnisvolles Pendel, das in einem schmalen Schacht von der Spitze der Sternwarte bis in den Keller hing. Brachte man dieses Pendel in Bewegung, konnte man an der Veränderung des Pendellaufes die Erddrehung beobachten. Für uns Schüler war die Sternwarte voll der Schätze und Mirakel. Wenn es sich mit einer Unterrichtsstunde verbinden ließ, führte uns ein Professor durch die kostbaren Sammlungen, die brave Mönche durch die Jahrhunderte gestaltet hatten, und erklärte uns etwas über Schachtelhalme oder versteinerte Vögel der Vorzeit, wie den raren Archaeopteryx, von dem das Stift ein Exemplar besitzt. Weiters sind kostbare Gemälde und sogar ein Sessel aus Elefantenknochen, ein höchst seltsames Stück, zu bewundern. Der Elefant, dessen Knochen hier als edle Sitzgelegenheit der Nachwelt im Kloster demonstriert wird, gehörte dem Kaiser Maximilian, der diesen angeblich von Italien nach Österreich, nach Wien, kommen ließ. Einige Gasthäuser, die auf dem Weg, den der Elefant nahm, liegen, nannten 23

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sich fortan »Zum Elefanten«. In Salzburg gibt es eine derartige Stätte der Gastlichkeit mit diesem Namen. Eine besondere Ehre für das Kloster war es, dies sei hier festgehalten, dass Kaiser Maximilian, als er am 12. Jänner 1519 auf dem Weg nach Wien in Wels starb, vom Abt von Kremsmünster die Letzte Ölung erhalten hat. Darauf waren auch wir Schüler stolz. An die Sternwarte schließt das Gymnasium mit seinen zwei Stockwerken an. Zu meiner Zeit gab es acht Klassenzimmer, für jede Klasse eines, ein Musikzimmer, einen großen Zeichensaal, eine Bibliothek, ein Zimmer für den Herrn Schulwart, der in der großen Pause an uns Milch und Salzstangerln mit Wurst verkaufte. Im Parterre befand sich auch der große Turnsaal, der später zur Sternwarte hin erweitert wurde. Die Leibesübungen wurden sehr gefördert. Für Turnen und Sport hatte man hier etwas übrig. Im ersten Stock schließlich residierte der Herr Direktor in einem prächtigen Zimmer, dem ein weniger prächtiges Vorzimmer angeschlossen war. In diesem Vorzimmer waltete eine Klosterschwester, ebenso vom Orden des heiligen Benedikt, über allerhand Schriftstücke. Ihr wichtigstes Instrument war eine Schreibmaschine. An der Wand vor der Direktion segnete eine Muttergottesstatue die vorbeieilenden Professoren und Studenten, irgendwo daneben stand drohend zu lesen: »non scholae sed Vitae discimus« (»nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir«). Für mich war dieser Spruch stets unklar, da ich beim Lernen nur an die Schule dachte, die hinter mich zu bringen mein oberstes Ziel von allem Anfang war. Das Leben stellte ich mir jedenfalls anders vor, als dieser Spruch ahnen ließ. In der Aula im Parterre ist an einer Seite eine große Tafel angebracht, auf der zu lesen ist, dass unter der ehrwürdigen Regierungszeit von Kaiser Franz Joseph im Jahre 1891 das Gebäude dieses »Obergymnasiums« eingeweiht worden war. Von dieser Halle zeigte nach Süden ein großes Tor, das in späteren Jahren aus mir unverständlichen Gründen einfach zugemauert wurde. Dieses Tor führte zum Sportplatz der Schule, auf dem wir uns wilde 24

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Handballmatches lieferten. Fußball war verboten. An der Seite zum Markt hin, zur sogenannten Tendelleiten, schloss sich ein Areal mit seltenen Bäumen und der sogenannten Moschee an. Über diese Tendel­ leiten führte steil bergab ein kleiner Weg zur Stiftsmauer hinab. An dieser Mauer gab es eine Tür, durch die man das Marktgebiet von Kremsmünster betreten konnte. Hinter dem Sportplatz schlossen sich Gärten mit einer Gärtnerei und einem Sägewerk an. Erst dann zeigte die alles umfassende Stiftsmauer an, dass es hier zu Ende sei mit dem Territorium des Klosters. Innerhalb des weitläufigen Gebietes befanden sich auch Teiche, wie der Tassilo- und der Guntherteich. Nach der Stiftsmauer, gegen Kirchberg zu, auf der anderen Seite der Straße, ebenso ummauert, befand sich das Schwimmbad des Gymnasiums, das nur den Studenten, nicht dem gewöhnlichen Volk Kremsmünsters offenstand. Neben dem stets verschlossenen Tor zu dieser Erholungsstätte lag und liegt ein liebliches altes Kaufhaus, die Gemischtwarenhandlung Lughofer, in dem ich mir ab und zu, wenn es mein Taschengeld erlaubte, eine Wurstsemmel oder Zuckerln kaufte. Heute bewohnt mein Freund Rudi Lughofer, der Dudelsackpfeifer, dieses Haus, das allerdings keine Gemischtwarenhandlung mehr ist. Rudi hat aber in lobenswerter und traditionsbewusster Weise darauf geachtet, dass das Wort »Gemischtwarenhandlung« weiterhin die Front des Hauses ziert. Nun weiter in unserem Spaziergang. Vom Gymnasium aus betreten wir zum Stift hin den sogenannten Konventgarten, einen herrlichen Garten mit wohlriechenden Blumen und alten Bäumen. Dieser Garten war für uns Studenten verbotenes, heiliges Territorium, er war den Herren Patres vorbehalten, die sich hier von uns vielleicht erholten und manchmal auch ihr Brevier lasen, jenes Buch, mit Bibel und anderen Texten, aus dem die braven Mönche verpflichtet waren, täglich einige Episteln zu lesen. Vom Konventgarten betreten wir durch ein Tor den Hof des Konviktes. Von diesem führen Stiegen zur sogenannten Akademischen Kapelle, der Studentenkapelle. In dieser hatten wir an den schulfreien Tagen vor dem Frühstück dem Gottesdienst beizuwohnen. Gleich neben dem Aufgang zu diesem heiligen Ort befand sich die weithin berühmte frühere Stiftsschank. Heute sind in ihren 25

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Räumen, so glaube ich, irgendwelche Musikzimmer untergebracht. Diese Stiftsschank war gemütlich, ihre Tische und Täfelungen waren aus angenehm dunklem Holz. Die Schank besaß eine Veranda hin zum Wassergraben, in der es sich an warmen Tagen trefflich zechen ließ. Wir durften nur in den beiden oberen Klassen zweimal in der Woche diese heilige Stätte des Trinkens aufsuchen. Neben der Schank war die Küche des Konvikts untergebracht. Über dieser residierte der Konviktsdirektor in einem herrschaftlichen Zimmer. Neben den Räumen dieses gütigen Herrn befand sich ein kleiner Schlafsaal für Studenten, zu dem einige Stufen hinunterführten und den wir daher in Anlehnung an die griechische Unterwelt »Hades« nannten. Dieser Hades war offensichtlich eine Schlafstätte für etwas privilegierte Studenten, die zumindest während des Schlafens der direkten Jurisdiktion des Herrn Direktors unterstanden, sonst aber einer Abteilung angehörten. Über der Direktion lag die Kranken­ abteilung des Konviktes, die aus zwei bescheidenen Zimmern bestand. Diese Krankenabteilung, über die ich auch noch berichten werde, bei Grippe oder Ähnlichem für ein paar Tage aufsuchen zu dürfen, bedeutete stets Genuss und Freude, denn hier konnte man für ein paar Tage ausspannen, blieb den ganzen Tag im Bett und war so dem Trott des Schulalltags enthoben. Eine Klosterschwester vom Orden des heiligen Benedikt achtete auf die kranken Zöglinge, versorgte sie liebevoll mit Tabletten, heißem Tee und der üblichen Konviktsnahrung. Diese freundliche Frau bewohnte daneben ein Zimmer, an dem das Wort »Klausur« prangte, womit den Herren Studenten klargemacht wurde, dass diese Räumlichkeit von einem geistlichen weiblichen Wesen, nämlich unserer Klosterschwester, bewohnt wurde und von einem Vertreter der Männerwelt nicht betreten werden durfte. Vom Gang, an dem die Krankenabteilung lag, führte eine Tür zum hinteren Teil der Studentenkapelle, direkt zur Orgel, an der der Organist, ein Student, mit einem anderen Studenten, meist einem jüngeren, der den Blasebalg der Orgel durch Treten mit den Füßen betätigte, während der Studentenmessen waltete. Vom oberen und unteren Gang führten schließlich Türen in die beiden Speisesäle des Konviktes. Per Aufzug 26

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brachte man dorthin in Töpfen das Essen für die Studenten. Diese dampfenden Töpfe wurden von weiblichem Personal auf den Tisch gestellt. Es war eine geradezu heilige Handlung, wenn von diesen Jungfrauen das Essen in Schöpfern auf Teller gegeben und den hungrig harrenden Studenten serviert wurde. Hinter oder vor den Speisesälen – je nach der Richtung des Spaziergängers – befanden sich die großen Gänge des Konviktes, an denen die Abteilungen eingerichtet waren. Im oberen Stock befand sich damals die erste und um die Ecke die zweite Abteilung. Zur Abteilung gehörte jeweils ein großer Studiersaal, das Zimmer des Präfekten, ein Schlafsaal und ein Waschraum. Insgesamt gab es zunächst sechs, dann fünf Abteilungen für die ungefähr 220 Zöglinge. In der ersten Abteilung lebten und studierten die Schüler der ersten Klasse. In der zweiten und dritten Abteilung, sie waren jeweils etwas kleiner, waren Zweit- und Drittklassler untergebracht. Die vierte Abteilung war der dritten Klasse vorbehalten, aber auch einigen von der vierten. Die oberen Klassen, deren Schülerzahl sich durch Hinauswurf der aufrührerischen Elemente deutlich verringert hatte, wurden in der fünften und sechsten Abteilung beherbergt. Die Abteilungen waren in den Trakten des Stiftes um den Konviktshof und den inneren Stiftshof gereiht. Am Durchgang zwischen diesen beiden Höfen lag ein besonders bemerkenswertes Zimmer, nämlich das Zimmer, in dem die Musikkapelle probte und in dem die Instrumente hingen. Die Mitglieder dieser Kapelle waren hoch musikalisch, zumindest in meinen Ohren, ich bringe keinen Ton richtig heraus. Diese Burschen trugen, wenn sie musizierten, die alte purpurne Mütze mit den Farben Weiß und Grün. Diese Mütze war ehedem die rituelle Kopfbedeckung der Kremsmünsterer Studenten. An ihr konnte man sofort feststellen, dass ihr Träger ein würdiger Student des Stiftsgymnasiums war. Der innere Stiftshof, den wir nun betreten, ist auf der einen Seite durch die machtvolle Kirche begrenzt. Diese Kirche war ursprünglich im gotischen Stil errichtet und später barockisiert worden. Erst vor ein paar Jahrzehnten kam man der Gotik wieder auf die Spur und legte die gotische Apsis, die man vom Konventsgarten aus sehen kann, frei. Die barocke Kirche dürfte eine Demonstration katho27

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lischer Macht gegenüber den aufständischen Bauern gewesen sein. Zur Zeit der Bauernkriege waren auch in der Gegend des Stifts wütende Bauernheere unterwegs. Im Stift soll sich kurze Zeit der große oberösterreichische mir höchst sympathische Bauernführer Stefan Fadinger aufgehalten haben. Ein Bild, das im Stift zu sehen ist, zeigt Fadinger im Speisesaal des Klosters an der Vorderseite eines großen Tisches sitzend, wobei er sich von Patres Wein kredenzen lässt. Unter dem Bild steht ungefähr dies zu lesen: »Ich, Stefan Fadinger, bin oben an gesessen und habe gar stattlich gefressen.« Die frommen, aber schlauen Patres hatten den kühnen protestantischen Bauernführer, der mit seinen Mannen 1626 wild durch das Land zog, ordentlich bewirtet. Derart, dass er zufrieden aus dieser katholischen Hochburg wegzog und die Mönche unbeschadet ließ. Neben der Kirche befindet sich die sogenannte Pforte, die Türe zur Klausur, dem eigentlichen heiligen Bereich des Stiftes, in dem die frommen Patres wohnen und den kein weibliches Bein betreten darf, um die Patres von ihrem »ora et labora« nicht abzuhalten. In der Pforte, dem Durchgang zur Klausur oder zum Konvent, war ein Raum für einen Bruder eingerichtet, dessen Aufgabe es war, die Besucher nach ihrem Begehr zu fragen und sie, wenn er es für richtig hielt, in den Konvent einzulassen. Die Zellen der Mönche, die auf der einen Seite hinunter in den Markt sehen und auf der anderen Seite in den Konventgarten, sind von bescheidener Eleganz. Dem Konvent war auch das sogenannte Juvenat eingeschlossen, in dem jene Burschen ab der fünften oder sechsten Klasse wohnten, von denen man hoffte, sie würden einmal Mönche werden wollen. Sie waren gegenüber ihren Kollegen in jeder Hinsicht privilegiert, nicht nur, weil sie in engem Kontakt zu den Patres standen, sondern weil sie auch am gemeinsamen Tisch im sogenannten Refektorium ihre Mahlzeiten einnehmen durften. Wir gehen nun zurück in den inneren Stiftshof, über diesen zum Durchgang zur Brücke und zum äußeren Stiftshof. Von diesem Durchgang führen Stiegen in die Abteilungen. Dort befand sich auch der Raum eines Portiers, der Ansichtskarten verkaufte und sich um Führungen für die Besucher kümmerte. Die Brücke über den Wassergraben schmückten schmiede28

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eiserne Geländer. Über dem Durchgang auf der Seite der Brücke sind in Stein die Figuren von Tassilo, dem Herzog von Bayern, von Kaiser Karl dem Großen und von Kaiser Heinrich II. zu bestaunen. Rechts – in Richtung äußerer Stiftshof – von der Brücke erstreckt sich zum Gymnasium hin der Rest des berühmten Wassergrabens. Auf der anderen Seite, auf der einmal der Wassergraben weitergeführt wurde, liegt unten ein von den früheren Grabenmauern umgebener Sandplatz, auf dem wir uns in unserer Freizeit am Ballspiel erfreuten. Links an der Front des Klosters war ein weiterer derartiger Platz. Jeder Abteilung war ein solcher Bereich zugeordnet. Für die erste Abteilung war es der Hof bei der Studentenkapelle, auf dem sich die jüngsten Konviktbewohner austoben konnten. Über die Brücke gelangen wir zum äußeren Stiftshof und rechts zum Maierhof. An diesen grenzen die Wirtschaftsgebäude des Klosters an, als hier noch eine echte bäuerliche Kultur mit Ställen für Kühe und Pferde, mit Mägden und Knechten existierte. Symbolisch zeigte sich diese alte Kultur darin, dass Mägde und Knechte, ihnen voran der Moarknecht, zu Mittag um die gemeinsame Schüssel, wie ich selbst noch beobachten konnte, saßen und mit ihren Löffeln in diese langten. Heute ist dort ein großes Andenkengeschäft eingerichtet, in dem Prälatenwein ebenso zu bekommen ist wie Ansichtskarten und Kerzen. Gleich daneben liegt der berühmte Fischbehälter aus der Barockzeit, der darauf hinweist, dass die fromm fastenden Patres auch während der Fastenzeit Gutes zu essen hatten. Gegenüber liegt die Weinkellerei, an die sich der Theatersaal des Gymnasiums und die moderne Schank anschließt. Diese neue Schank, die auch ihren Reiz hat, ist großräumig angelegt und fasst eine Menge Besucher. Ich wünsche ihr ein gutes Geschäft. Vom Stiftshof direkt von der Brücke führt zum Gymnasium ein Gang, der seinen Zauber hatte. Diesem Gang gegenüber führt ein anderer zum Stift hinaus. Heute liegt an seinem Ende eine Bücherei der Pfarrei, früher war hier eine Tabak-Trafik, in der ich mir die damals billigsten Zigaretten, die Austria 3, erwerben konnte. Zurück zum äußeren Stiftshof. Abgeschlossen wird dieser durch 29

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ein riesiges Tor, nämlich das große Eichentor aus Holz. Auf diesem ist folgender Spruch, auf der einen Seite in Latein und auf der anderen in Deutsch zu lesen: »Porta patens esto, nulli claudatur honesto« (»Das Tor soll jedem offen stehn, der ehrbar will durch dieses gehen«). Neben diesem Eichentor ist an der äußeren Wand ein Brunnen mit einem Löwenkopf angebracht, an dem unter der Jahreszahl 1722 zu lesen ist: »Guett Watter, Wein better.« Es ist bemerkenswert, dass dort auch ein Taferl mit dem Hinweis angebracht ist: »Kein Trinkwasser.« Das Eichentor ist in einem prächtigem Vorbau mit imposantem Dach eingebaut, an den sich die Mauern des Stiftes schützend anschließen. Der Besucher, der sich von der Straße nach Wels dem Stift nähert, erfreut sich an dem Eichentor, das ihm das Kloster des heiligen Benedikt mit seinem Gymnasium und seinem Konvikt erschließt. Hier lebten die »Studenten«, wie die Schüler nach altem Brauch genannt wurden. Über sie soll nun erzählt werden.

Das Ansehen der Klosterschüler – der »Studenten« – bei Bürgern und Bauern Das Kloster mit seiner alten Schule war wie andere Klöster auch fest eingegliedert in das bäuerliche und bürgerliche Umfeld, eben in den Markt von Kremsmünster mit seinen Geschäften, zwei Cafés, Gasthäusern und großen Bauernhöfen, die um den Markt bis zum Gustermaierberg, nach Rohr, Vorchdorf und Sippachzell hin die Landschaft beherrschen. Dorthin zog es nicht nur die frommen Patres, die einem Schluck Most bei einem Bauern oder einem Krug Bier in einem der Marktgasthäuser nicht abgeneigt waren. (Zum Thema Trinken werde ich in einem der letzten Kapitel noch einiges zu erzählen haben.) Die Patres waren gute Gäste, die Schüler, die man geradezu ehrfürchtig als »Studenten« bezeichnete, waren es aber auch. Die Schüler der unteren Klassen suchten die freundlichen Gaststätten mit ihren Eltern auf. Der Markt profitierte von den Patres, den Eltern und den hoffnungsvollen Schülern. Aber auch die Bauern im Umkreis freuten 30

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Abb. 3: Studenten mit Kremsmünsterer Mütze, um 1960

sich, wenn ein Pater mit Studenten bei einer kleinen Wanderung auftauchte. Man fühlte sich vom Besuch des geistlichen Herrn geehrt und setzte guten Most vor. Die Studenten gehörten zum Leben im Markt und auch auf dem umliegenden Land, wo sie in freien Stunden spazieren gingen. Sie hielten oft engen Kontakt zu den Leuten von Kremsmünster und Umgebung. Die heutigen Studenten kennen die Menschen von Kremsmünster nicht mehr, denn an den freien Tagen dürfen sie nach Hause fahren, was früher verboten war. Auch für den Studenten galt die »stabilitas loci« des Mönches, auch er war an den Ort gebunden. Und daher entstanden auch freundliche Beziehungen zu den Menschen um das Kloster. Besonders zeigte sich dies am »Pflanzsonntag«, über den ich noch erzählen werde. An diesem Tag vor der schriftlichen Matura verabschiedeten sich die Studenten auf heitere Weise von der 31

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Bevölkerung. Die Studenten gehörten zum Leben im Markt. Vor allem die Mädchen von Kremsmünster machten sich ihre Gedanken über die Burschen aus dem Kloster. Seit Jahrhunderten bestand der Reiz der hübschen Mädchen des Ortes für die streng gehaltenen Klosterschüler. Darauf verweist ein altes Gedicht, das mir mein Vater, auch ein Altkrems­münsterer, des Öfteren deklamierte, wenn er in heiterer Stimmung war. Ich hörte dieselben Zeilen auch von älteren Damen und Herren, die nachsichtig mit dem Übermut der studierenden Jugend im Kloster umzugehen wussten. Dieses Gedicht, das von Hönig zu einer Zeit gedichtet sein dürfte, als es noch kein elektrisches Licht gab, lautet so: »In Kremsmünster da is’s finster, Und de Weg san voller Stoan, Und d’ Studenten, des san Lumpen, ob s›iatzt groß san oder kloan.« Höchst bemerkenswert ist, dass die Schüler des Gymnasiums von allen als »Studenten« bezeichnet wurden und sie sich auch selbst so bezeichneten, obwohl dieser Titel seit jeher nur den Studierenden an den Universitäten vorbehalten ist. Der Begriff Schüler wäre zu gewöhnlich gewesen für die noblen jungen Besucher der Klosterschule. Daher empfand man die Bezeichnung »Student« als richtig, schließlich verlangte man von ihnen auch, dass sie sich eifrig und gottergeben dem »Studium« im Kloster widmeten. Die Studenten von Kremsmünster waren im Markt und auf den Bauernhöfen gut angesehen, man gestand ihnen eine gewisse Vornehmheit zu, zumindest was die Würde des Gymnasiumsbesuches anbelangt. Schließlich gab es sonst im weiten Umkreis kein echtes Gymnasium. Die Klosterschule hatte eine gewisse noble Monopolstellung, die verschwand, als im Bezirkshauptort Kirchdorf und auch in anderen Städtchen Mittelschulen eingerichtet wurden.

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II. Die Ankunft im Kloster – die Konviktsnummer und das Heimweh

Am Ende der unbeschwerten Volksschuljahre mussten künftige Gymnasiasten eine Auffahmeprüfung ablegen. In Begleitung der Eltern kamen die Kinder in die höhere Schule ihrer Wahl und mussten in einem der Klassenzimmer des Gymnasiums einen Aufsatz schreiben und Rechenkünste vorweisen. Hatte im Stift Kremsmünster ein Bursch bestanden, wurde dem künftigen Gymnasiasten von einem der geistlichen Lehrer eröffnet, dass er aufgenommen sei. Dann suchten die Eltern mit dem jungen Burschen den Konviktsdirektor auf, der den künftigen Zögling mit freundlich-strengen Blicken erzittern ließ und ihm die künftige Konviktsnummer mitteilte, die ihn in den nächsten Lebensjahren begleiten sollte. Diese Konviktsnummer hielt der Herr Direktor in einem Büchlein fest. Der vorige Besitzer dieser Nummer war bereits ausgestrichen. Nun wurde der Name des neuen Zöglings zur Nummer geschrieben. Diese Vergabe der Nummer hatte etwas von einem Ritual an sich, das – allerdings nur im entfernteren – an die Zuteilung von Nummern an die neu eingelieferten Bewohner eines Gefängnisses erinnerte. Hier wie dort wird dem Neuankömmling mehr oder weniger klargemacht, dass er ab nun einer Institution angehören werde, die ihn vollkommen vereinnahmen wird. Der Soziologe Goffman hat für Institutionen dieser Art den Begriff »totale Institution« entwickelt. Damit soll ausgedrückt werden, dass der Angehörige einer solchen Einrichtung in dauerndem Kontakt mit seinen Mitzöglingen (oder Mithäftlingen) steht, dass die Kontrolle über ihn ziemlich perfekt ist, dass eine Möglichkeit des persönlichen Rückzuges kaum besteht und dass die verschiedenen Lebensbereiche, die ansonsten eher getrennt sind, ab nun zusammenfallen. So sind die Bereiche, in denen geschlafen, gegessen, gelernt, gearbeitet und sonst gelebt wird, in der »totalen Institution« grundsätzlich vereint. Und 33

Die alte Klosterschule

dies ist charakteristisch für das klassische Kloster und ebenso für die Klosterschule. Hinter der Klostermauer befinden sich Studierzimmer, Schlafsäle, Speisesäle und auch das Gymnasium. Allerdings ist das Konvikt, in dem die Burschen leben, vom Gymnasium baulich getrennt, jedoch nicht tatsächlich, denn die lehrenden Patres waren auch die Präfekten, die Erzieher im Konvikt. Wohl gab es für das Konvikt und das Gymnasium verschiedene Direktoren. Beide waren Mönche. Und es konnte durchaus sein, dass der Gymnasialdirektor Präfekt im Konvikt oder der Konviktsdirektor Professor, zum Beispiel für Latein und Griechisch, im Gymnasium war. Gymnasium und Konvikt waren für Patres und Zöglinge eng miteinander verbunden. Das bedeutete, dass Ärgernisse im Gymnasium sich im Konvikt fortsetzen konnten und umgekehrt. So wurde lausbübisches Handeln im Konvikt bisweilen durch strengere Prüfungen im Gymnasium geahndet. Und schlechtes Abschneiden zum Beispiel im Griechischen konnte den Pater als Lehrer und Präfekt veranlassen, den faulen Studenten durch Abprüfen von Vokabeln oder durch Strafstudium in der Freizeit zu bändigen. Das Leben im Konvikt war räumlich von dem im ungefähr zweihundert Meter entfernten Gymnasium getrennt, ein Unterschied, der schon durch den Marsch der Studenten vom Konvikt im Stiftshof über die Brücke und durch den Gang entlang des Wassergrabens zum Gymnasium symbolisiert wurde. Dieser Weg war nicht der kürzeste, der kürzeste führte vom Inneren Siftshof gerade durch den Konventgarten zum hinteren Tor der Schule. Dieser Weg, ebenso wie der Garten, war den Patres vorbehalten. Der Konventgarten, wie schon erzählt, diente mit seinen prächtigen Sträuchern und Blumenbeeten alleine der Erbauung der Mönche. Einmal sogar, wie ich mich erinnere, ließ man ein Reh, das offensichtlich dem Forstmeister des Klosters gebracht worden war, hier ein freundliches Dasein führen. Dieser Konventgarten unterschied sich wesentlich von den staubigen Höfen des Klosters. Der Konventgarten trennte räumlich Konvikt und Gymnasium, aber er trennte nicht nur, sondern er verband auch beides, gerade für 34

Die Ankunft im Kloster

Abb. 4: Schulanfang um 1954

die Patres, die an schönen Sommertagen am Weg zum Gymnasium sich noch kurz erholen konnten. Für den Studenten war dieser Garten heilig, da er ihn nur äußerst selten betreten durfte. Ich kann mich an ein einziges Mal erinnern, dass wir ihn für den Durchgang benutzen durften, nämlich, als große Kälte das Land überzog. Tiefe Minustemperaturen ließen uns frieren. Vielleicht war dies der Grund, dass einer der beiden Direktoren Mitleid mit uns hatte und uns den kürzeren Weg zur Schule gestattete. Das Konvikt mit dem nahen Gymnasium erfasste die Schüler vollkommen, ganz im Sinne des Begriffes der »totalen Institution«. Eine solche ist das Gefängnis, aber in anderer Weise als ein Konvikt, obwohl im Englischen Konvikt auch Gefängnis bedeutet. Dies nur nebenbei. Durch die Überreichung einer Nummer an den künftigen Zögling durch den Konviktsdirektor begann die Karriere des Klosterschülers. Ich bekam also die Nummer 107, die meine gütige Mutter während des Sommers in irgendeiner Firma in großer Zahl auf ein dünnes Band sticken ließ. Von diesem schnitt sie jeweils ein Stück, auf dem meine 35

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Abb. 5: Rechnung über die Ausgaben eines Studenten im Konvikt für ein halbes Jahr

Initialen mit der Konviktsnummer »RG 107« standen, herunter. So ziemlich alles, was ich zu tragen hatte, Hosen, Röcke, Mantel, Stutzen, Hemden, diverse Wäschestücke, wurden nun mit der mich ausweisenden Nummer versehen. Während der Ferien verbrachten meine Mutter und eine von ihr bestellte Näherin viel Zeit damit, dieses Merkmal meiner Person auf die betreffenden Stücke zu nähen. Die meisten meiner Hemden wurden gleich vorne in der Mitte derart verziert. Im Konvikt war es dadurch kein Problem, den einzelnen Burschen ihr Eigentum zuzuorden. Auch die Schultasche und das Schuhzeug wurden mit meiner Nummer beschriftet. Noch heute besitze ich Gegenstände, wie einen Schal oder ein Handtuch, die meine Konviktsnummer 36

Die Ankunft im Kloster

tragen. Sie erinnern mich an die erste Zeit in der Klosterschule, aber auch an die Arbeit meiner Mutter. In Erinnerung dieser Art schwelgt der Altkremsmünsterer Obermayr: »Ich habe die Konviktsnummer 170 gehabt. Heute habe ich noch alte Wollhandschuhe, die mir meine Großmutter geschenkt hat und die ich beim Eisstockschießen verwende. In diesen steht noch immer meine Konviktsnummer.« Die Aufnahme in die Klosterschule wurde also schon vor den Ferien abgemacht. Mein Vater marschierte mit mir nach der Aufnahmsprüfung und dem Besuch beim Konviktsdirektor in ein Gasthaus im Markt, wo er sich mit Freunden aus seiner Kremsmünsterer Zeit traf. Die Söhne tranken Kracherl, die Väter Bier. Man war heiter und lachte über uns künftige Gymnasiasten. Man bezeichnete uns als Volksschulmaturanten, als Absolventen der Volksschule, die die Aufnahmsprüfung bestanden hatten. Nach den Ferien, in denen wir Buben noch einmal die alte Freiheit genießen durften, begann dann die bittere Zeit fernab der Eltern in der Klosterschule. Mein Vater machte mich beim Nachtmahl des Öfteren nicht besonders taktvoll darauf aufmerksam, dass das schöne Leben für mich nun zu Ende sei. Ich, der ich damals vom Herumstreunen bei den Bauern und vom Schwimmen im Dorfschwimmbad tiefbraun war, müsse gefasst sein, dass vom Studium meine Haut erbleiche. Solche Aussichten waren wenig tröstlich, ebenso die Vorstellung, dass ich ab Herbst regelmäßig die Schule zu besuchen und zu lernen hatte. Die gestrengen Patres würden darauf achten. Mir wurde klargemacht, dass ich ab nun in meinem Tun kontrolliert werden würde. Die Aussichten waren für mich nicht sehr erfreulich, denn während der Volksschulzeit hatte ich ein relativ freies Leben geführt, da meine beiden Eltern als Ärzte nur wenig Zeit hatten, sich um mich und meinen Bruder zu kümmern. Meine Freude, bald stolzer Klosterschüler zu sein, war eher gedämpft. Aber andererseits war ich meinen Freunden gegenüber stolz, dass ich, obwohl ein im Dorf bekannter Lausbub, demnächst in eine gehobene und angesehene Schule überwechseln würde. 37

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Der Herbst nahte, und das Gymnasium drohte. Mit dem Eintreffen im Konvikt wechselte ich in eine vollkommen neue Welt, in der nicht mehr die Eltern zu bestimmen hatten, sondern wildfremde Menschen, noch dazu Mönche. Typisch für diese neue Welt des Konviktes war, das war das vielleicht Beklemmendste für jeden Einzelnen, dass man nun mit vielen anderen Gleichaltrigen das Leben zu teilen hatte. Für Buben, die wohlbehütet bei ihren Eltern oder auch bei Mutter und Tante, wie ein Bekannter von mir, dessen Vater im Krieg geblieben war, aufgewachsen waren, bedeutete diese neue Situation etwas ungemein Belastendes, gerade in der ersten Zeit. Daher wollte man auch von der Seite der Patres nicht, dass in den ersten Wochen Eltern auf Besuch kamen. Der Abschied von den Eltern, die zu Beginn des Schuljahres im Herbst ihren Sohn zum ersten Mal in das Konvikt gebracht haben, war daher regelmäßig schwer für beide Seiten. Der Sohn eines Gastwirtes, der wahrscheinlich ähnlich frei wie ich aufwuchs, empfand es so: »Mir hat der Schulanfang in der ersten Klasse ein bisserl weh getan, weil ich daheim etwas lockerer erzogen worden bin. Meine Eltern hatten ein Gasthaus und eine Metzgerei. Bei ihnen hat übrigens der Pater Rupert seine Primiz [die erste Messfeier, bei der nachher in den betreffenden Gasthäusern groß eingeladen wird] gehabt, so um 1920. Zu mir hat er immer gesagt: ›Drei Kreuzer für eine Speckwurst haben wir bei euch gezahlt, S., du Hund du.‹ Von diesem Gasthaus bin ich in die Klosterschule gekommen. Ein bisserl Heimweh habe ich schon gehabt, genauso wie die anderen. Ein paar von uns haben geröhrt [geweint]. Das ist halt so. Ein paar arme Würstel waren schon dabei. Man hat halt die Krot [Kröte] gefressen, hat es hingenommen. Ich habe mir damals gedacht, wenn ich mich richtig zurückerinnere, es kommt einmal die Zeit, in der ich etwas anderes tue.« Aber dennoch bedrückte es ihn, als seine Eltern ihn alleine zurückließen in dieser neuen Welt des Klosters: »Beide Eltern haben mich in Kremsmünster abgeliefert, sogar mein Vater ist mitgefahren, obwohl er nie viel Freude mit mir gehabt hat. Sie brachten mich in die erste Abteilung, und plötzlich sehe ich mich als verlassenes Ding. 38

Die Ankunft im Kloster

Abb. 6: Rechnung für die Unterkunft im Konvikt für ein halbes Jahr

Ich wollte nicht, dass meine Eltern wegfahren. Da ist mir etwas eingefallen, damit sie wenigstens noch zehn Minuten dableiben. Ich habe zu meiner Mutter gesagt, dass ich das Zahnbürstel vergessen habe. Jetzt sind sie noch eine Viertelstunde geblieben, wir haben das Zahnbürstel nicht gefunden. Das hat mir über die erste Nacht hinweggeholfen. Ich habe gehofft, sie kommen in zwei oder drei Tagen mit dem Zahnbürstel.« Für die Erstklassler, wie man die Studenten der ersten Klasse nannte, bedeutete der Abschied von den Eltern am ersten Tag eine große Belastung. So empfand auch einer meiner früheren Klassenkollegen. Dieser Bursche war nach dem Krieg, er ist Jahrgang 1941, in Altaussee aufgewachsen. Dorthin hatte es ihn mit Schwester und Mutter ver39

Die alte Klosterschule

schlagen, der Vater, ein in Wien beliebter Schauspieler – Unterkircher ist sein Name  –, war bereits während des Krieges auf die Idee gekommen, sich in Aussee anzusiedeln, da er bereits das Problem mit den Russen voraussah. Er hatte seinen Sohn Sepp nach Kremsmünster in die Klosterschule gegeben, weil diese nahe bei Aussee zu sein schien. Mit dem Auto, der Vater hatte schon eines, waren sie über Lambach und Sattledt – in der Nähe von Wels – nach Kremsmünster gefahren. Nach einer freundlichen Abschiedsszene ließen die Eltern den Buben im Stift zurück und fuhren ab. Jetzt erst wurde dem Buben so richtig bewusst, dass er alleine war und nun ohne Eltern auskommen müsse. Die unbeschwerte Zeit in Aussee war zu Ende. Er erzählte: »Ich bin auf der Stiftsbrücke, auf der Brücke, die über den Wassergraben führt, gestanden, auf der Seite, auf der im Wasser die Karpfen geschwommen sind. Dort habe ich meine Tränen hinuntergelassen. Wie ich so stehe und weine, hat mir einer auf die Schulter geklopft. Das war der Wöran, der Turnprofessor, der hat zu mir gesagt: ›Du wirst es schon überstehen.‹ So war das bei mir. Irgendwie habe ich es überstanden.« Aber es war nicht leicht für den Burschen, der noch ein Kind war und fernab der Heimat in diese angebliche Eliteschule einrücken musste. Den Altkremsmünsterer O. plagte wie den anderen das Heimweh: »Es war am Anfang sehr hart für uns. Wir durften sechs Wochen keinen Besuch erhalten. Und die ersten vier Wochen durften wir keinen Brief empfangen, um das Heimweh zu überwinden. Das war hart für uns. Wahrscheinlich war es für die Mütter härter. Vielleicht auch für die Väter.« Das war eine Art Rosskur, die hinter sich zu bringen war, um einigermaßen an Leib und Seele überleben zu können. Für den jungen Burschen war daher das Hinbringen in den Schulort von großer Bedeutung. Manche Eltern brachten ihre Buben mit dem Zug, manche aber bereits mit dem Auto. Die Fahrt hatte geradezu etwas Rituelles an sich. Allmählich näherte man sich dem Studienort, und man wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, dass man der Obhut, Fürsorge und Zuneigung von Eltern, Geschwistern und Freunden aus der Volksschulzeit entrissen wird. Das Heimweh, die Trauer, die liebgewordene Welt des heimatlichen Dorfes und des häuslichen 40

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Herdes verlassen zu müssen, stieg an und konnte sich schließlich in Tränen äußern, wie bei Sepp Unterkircher, der seine Tränen dem Wassergraben mit seinen Karpfen übergab. Bei mir spielte sich die erste Ankunft im Kloster ähnlich, aber doch um eine Nuance anders ab. Ich war zu Schulbeginn an irgendeinem Fieber erkrankt, was mir damals gerade recht kam. Erst nach ungefähr vierzehn Tagen hielten mich meine Eltern, die Arzte, für körperlich geeignet, mich in das Konvikt zu bringen. Tage zuvor wurde ein großer verschließbarer Korbkasten aus geflochtenen Weidenruten mit den mir gehörenden Wäschesachen bepackt. Auf diese Truhe wurde mein Name mit meiner Konviktsnummer geschrieben. Ich erinnere mich, dass während des Packens in unserer Küche ein Patient meiner Eltern kam und neugierig zusah. Dann fragte er, ob ich nun in eine Lehre zu einem Handwerker, vielleicht zu einem Schuster, käme. Man verneinte und erzählte stolz von meinem künftigen Gymnasium. Wenn ich heute zurückdenke, so wird mir klar, dass damals noch, zu Beginn der Fünfzigerjahre, Menschen mit Sack und Pack zu bestimmten Zeiten herumzogen. So waren Dienstboten mit ähnlichen Truhen, wie ich eine hatte, zu Bauern unterwegs, um dort zu arbeiten, oder Lehrbuben suchten ihre Meister auf, bei denen sie Kost und Quartier erhielten. Nicht anders war es offensichtlich mit einem Klosterschüler, der sich nun einer neuen Welt anvertrauen musste, die ihn vollständig umschloss. Heute hat sich hierin Wesentliches geändert. Die meisten Schüler fahren heute täglich mit der Bahn oder einem Schulbus von ihren Eltern zu ihrem Gymnasium und zurück. Sie fallen eigentlich nicht wirklich aus ihrer häuslichen Welt heraus, denn sie können täglich in sie zurückkehren. Ähnlich ist es auch mit Arbeitern und anderen Leuten, die pendeln müssen. Damals jedoch verließ man eine Welt, um in einer anderen zumindest für eine Zeit zu leben. Und daher war es nötig, dass der oder die Abreisende die notwendigen Habseligkeiten mit sich führte. So wurde mit mir auch mein gewaltiger Wäschekoffer in die Klosterschule gebracht. In ihrem alten Auto, einem Steyrer Baby, brachte mich meine Mutter nach ungefähr zwei Wochen in das Konvikt der Klosterschule. 41

Die alte Klosterschule

Meine Mitschüler waren bereits eine Zeit dort und schon gewissermaßen eingewöhnt. Für mich war die Sache schwierig. Meine Mutter kaufte für mich in einem kleinen Lebensmittelgeschäft des Ortes noch ein großes Glas Erdbeermarmelade, aus dem ich täglich sparsam etwas auf das trockene Brot, das man mir vorsetzen würde, schmieren könne. Sie begleitete mich zum Präfekten, irgendwie kam mein Wäschekasten hinauf in den zweiten Stock des Konvikttraktes. Der Präfekt, ein manchmal listig-freundlicher und manchmal gestrenger Herr, begrüßte mich mit lächelndem Ernst. Mir wurde mein Bett im Schlafraum und mein Pult im Studiersaal gezeigt. In diesem Saal saßen ruhig die Erstklassler beim Studium, es war gerade Studierstunde, und taten so, als ob sie lernten. Neugierig blickten einige mich an, nicht gerade freundlich. Der Präfekt zeigte mir den Waschraum, die Toiletten und das Esskastl, in dem ich mein Marmeladeglas verwahren konnte. Meine Mutter verabschiedete sich, ich war sehr traurig, versuchte, es aber nicht zu zeigen. Dann betrat ich den Studiersaal der ersten Abteilung, in der die Buben der ersten Gymnasialklasse untergebracht waren. Für mich begann eine nicht leichte Zeit.

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III. Typologie der Studenten

In meiner Klasse waren 56 Burschen. Von diesen 56 haben 13 maturiert, darunter war ich. Insgesamt waren wir 21 bei der Matura, samt den später Hinzugestoßenen. Viele von denen, die die Schule verlassen haben, wurden von ihren Eltern aus der Schule genommen, weil sie mit dem psychischen Druck der Klosterschule nicht fertiggeworden waren. Die meisten mussten aus disziplinären Gründen, weil sie gegen wichtige Regeln des Klosters verstoßen haben, oder aus schulischen Gründen, weil sie die entsprechenden Leistungen nicht erbrachten, aus der klösterlichen Welt verschwinden. Die vorzüglich studierten, brav lernten, entsprechend gehorsam waren, überlebten. Einige kamen durch, zu diesen gehörte ich, die eine Art Gratwanderung vollbrachten, indem sie rebellisch sich einiges herausnahmen, was die anderen nicht wagten, aber so, dass man sie nicht erwischte. Bevor ich näher das Alltagsleben im Konvikt und in der Schule beschreibe, möchte ich eine Typologie der Studenten versuchen. Es ist sicher ein kühnes Unternehmen, aber ich denke, es ist notwendig, um sich ein Bild von den Studenten zu machen. Jeder für sich ist eine einmalige Persönlichkeit. Dennoch gibt es so etwas wie Typen, allerdings keine reinen. In manchen Burschen mögen sich mehrere dieser Typen vereinen, wie zum Beispiel der des Streberers und der des Arschkriechers. Folgende Typen kann ich feststellen:

A. Der Streber Hier handelt es sich um jenen Studenten, dem es grundsätzlich wichtig ist, die an ihn von Eltern und Schule herangetragenen Anforderungen durch entsprechenden Fleiß und durch Anpassung an die Normen des Konvikts und des Gymnasiums zu erfüllen. Er hat mit Professoren 43

Die alte Klosterschule

und Präfekten keine Schwierigkeiten. Er wird bisweilen anderen als Vorbild hingestellt. Auf ihn können sich die Lehrer verlassen. Und die Eltern sind stolz auf ihn. Allerdings ist er nicht immer bereit, Kollegen bei Lausbübereien zu unterstützen.

B. Der intelligente Student Dieser Student hat den Vorteil einer schnellen Auffassungsgabe. Er versteht in kurzer Zeit den Lehrstoff zu erfassen und wiederzugeben. Hier paart sich Talent mit vielleicht schon früher erworbenem Wissen. Ihm gelingt es, ohne große Probleme das Klassenziel zu er­­rei­ chen. Bisweilen zeigt sich der intelligente Student auch als guter Kamerad, der nicht abgeneigt ist, Verwegenes zu tun. Ein solcher Student war ein gewisser A. H., der einer der besten Schüler seiner Klasse und ein ausgezeichneter Schiläufer war, der sich jedoch einmal auf eine eher harmlose Spielerei einließ, die als Verstoß gegen die guten Sitten gewertet wurde. Er musste Schule und Konvikt verlassen.

C. Der faule und »dumme« (minderbegabte) Student Eine geradezu klassische Kategorie ist der faule und dumme Schüler. Ihm ist das Lernen zutiefst widerlich. Dazu gesellt sich auch eine mangelhafte Auffassungsgabe. (lch will hier nicht auf die Diskussion eingehen, ob es Dummheit überhaupt gibt.) Die Mahnungen seiner Eltern nützen nicht viel. Er hat größte Schwierigkeiten bei Schularbeiten und Prüfungen. Studenten dieser Art schaffen es nicht lange. Entweder sie wiederholen die Klasse, oder man entfernt sie. Hie und da gelingt es einem solchen Studenten, dennoch zu maturieren. Aber dies dürfte eher selten sein.

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Typologie der Studenten

D. Der fleissige und »dumme« (minderbegabte) Student

Aber es gibt auch fleißige Studenten, die eher langsam im Denken sind. Irgendwie schaffen sie die Matura. Eherner Fleiß, verbunden mit Nachhilfeunterricht durch einen Studenten einer oberen Klasse, verhilft ihnen zu bescheidenen Erfolgen. Irgendwie gelten auch sie als Streberer. Mir wurde erzählt, einmal sei eine Mutter zum Lateinprofessor gekommen und habe vorgebracht, ihr Sohn hätte nur darum bei einer Schularbeit versagt, weil er faul sei. Intelligent sei er jedoch. Darauf antwortete der Pater: »Das stimmt nicht, der Bub ist sehr fleißig, aber saublöd.«

E. Der faule und intelligente Student Interessant ist dieser Typus des Studenten. Er kann, wenn überhaupt, durch klugen Einsatz seiner Fähigkeiten die Schule mit geringem Einsatz absolvieren. Er zieht es vor, das Leben zu genießen. Studenten dieser Art haben Fantasie und können gute Kameraden sein. Sie sind bei rebellierenden Lausbübereien dabei, aber so, dass ihnen nichts passieren kann.

F. Der Arschkriecher Ein für alle Schulen charakteristischer Typus ist der des arschkriechenden Studenten. Er wird von den anderen bisweilen als Gefahr gesehen. Er hat beste Kontakte zu den geistlichen Herren und informiert sie auch über Dinge, die in der Klasse oder Abteilung passieren. Er weiß sich ihnen bestmöglich anzubiedern und wird auch bisweilen von ihnen auf ihr Zimmer eingeladen.

G. Der kameradschaftliche Student Dieser versucht, der Freund der Klasse zu sein. Er hält zu seinen Kollegen, wenn sie Probleme haben. Er hilft beim Schwindeln bei den 45

Die alte Klosterschule

Schularbeiten und gibt Informationen weiter, die seinen Freunden helfen können. Grundsätzlich, wie noch zu sehen sein wird, ist das Leben der Studenten unter das Prinzip der Kameradschaft gestellt. Dieser verkörpert dieses Prinzip schlechthin.

H. Der verwegene oder rebellierende Student Ein Held der Klasse ist dieser Student, er wagt Dinge, die sich andere nicht getrauen. Er besucht verbotenerweise Kinos, trifft sich im Verborgenen mit Mädchen und umgeht geschickt gewisse Normen. Auch lässt er sich auf Lausbübereien ein, die die Geistlichen ärgern. Er neigt zur Rebellion, weil ihm die Klosterordnung unangenehm ist.

I. Der dominierende Student Jede Klasse und Abteilung hat Studenten, die in Kompanie mit ein paar anderen versuchen, die Klasse zu dominieren. Sie haben durch ihre Art eine gewisse Autorität. Was sie sagen, hat Gewicht. Sie sind es auch, die mitunter Kollegen gegeneinander aufhetzen. Sie haben eine Führerrolle. Andere, weniger lauthals auftretende Studenten, versuchen bisweilen, sich ihnen anzupassen, um Prestige in der Klasse zu erwerben.

J. Der degradierte Student Am unteren Ende der Hierarchie der Klasse ist dieser Studententypus einzuordnen. Zu ihm gehören jene, die von den anderen auf niederträchtige Weise verspottet werden und die es nicht wagen, sich aufzulehnen. Sie versuchen vielmehr, alle Angriffe heil zu überstehen. Sie neigen zur Feigheit. Gelingt es ihnen aber doch, einmal ihren Schatten zu überspringen und sich gegen die Degradierung ihrer Person zu wehren, können sie einiges Ansehen erwerben.

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Typologie der Studenten

K. Der gescheiterte Student

Ihm ist es nicht gelungen, die Klosterschule hinter sich zu bringen, weil er aus welchen Gründen immer die Schule verlassen hatte oder verlassen musste. Typisch für den gescheiterten Studenten ist, dass er gelitten hat und psychisch mit der Situation der Klosterschule nicht fertiggeworden ist. Ich sprach mit solchen Studenten. Einer, der ein guter Schüler war, erzählte mir, er habe die Klosterschule verlassen müssen, weil man ihn zu Unrecht verdächtigt hatte, homosexuell zu sein. Er maturierte in einer anderen Schule, aber er hatte es nicht überwunden, dass er in der Klosterschule scheitern musste. In seinem Unglück sprach er dem Alkohol kräftig zu, und er benötigte eine Zeit, sich von diesem zu befreien. Er studierte an der Technischen Hochschule. Trotz seiner Begabung gelang es ihm nicht, sein Studium positiv abzuschließen. Es mag sein, dass er seelisch durch das Scheitern in der Schule dauerhaft verwundet war. Es dauerte einige Jahre, bis er sich davon erholt hatte. Dank seiner Talente ist er heute in seinem Beruf ein hochangesehener Mann. Diese Studententypologie ist freilich nur idealtypisch, denn in der schulischen Wirklichkeit überschneiden sich vielmehr die einzelnen Typen. Es kann aber auch sein, dass ein Bursch von einem Typ zu einem anderen sich wandelt. So kann aus einem dominierenden und verwegenen Schüler ein degradierter Schüler werden. Dies vielleicht dann, wenn er von den Patres wegen schlechter Noten oder Lausbübereien derart bestraft worden ist, dass er resigniert, um nicht aus der Schule zu fliegen. Auf diese Weise kann er zu einem Gegenstand der Neckerei werden. Der Kampf um Behauptung, wie ich in einem der nächsten Kapitel zeigen werde, bestimmt die Hierarchie unter den Schülern.

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IV. Die Karriere des Studenten – Stufen der Rebellion

Jeder Student, der acht Jahre hindurch im Konvikt und am Klostergymnasium den Erziehungskünsten der Patres ausgesetzt ist, macht eine spezifische Karriere durch, die bei den meisten, die nicht aus der Schule entfernt werden, einigermaßen gleichmäßig verläuft. Auf folgende sechs Phasen dieser Karriere bin ich gekommen:

1. Das Zurechtfinden – der Beginn Der Ankömmling in der Klosterschule, der Erstklassler, hat zunächst das Problem des Zurechtfindens in dem System des Klosters und der Klosterschule. Die erste Zeit leidet er an der vollkommen neuen Welt. Er lernt aber schnell die Regeln des Gehorsams, denn deren Nichtbefolgung ist mit Strafe bedroht. Eigentlich lebt er in ständiger Angst, den Unwillen der Patres im Gymnasium und im Konvikt zu erregen. Allmählich lernt er aber Tricks, um gewisse Regeln zu umgehen. Die Rebellion ist zunächst eine nur zaghafte. So wagt er es nur sehr vorsichtig, zum Beispiel im Schlafsaal nach dem Abdrehen des Lichtes mit dem Bettnachbarn zu tratschen. Einige tun es doch, auch auf die Gefahr hin, dass der Präfekt sie erwischt. Und in der Schule probiert er sporadisch zu schwindeln. Der Neuling entwickelt Sympathien für Schüler aus den höheren Klassen, die sich rebellisch mit den Patres anlegen.

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Die Karriere des Studenten – Stufen der Rebellion

2. Die Kunst des Überlebens Der Student leidet weiterhin, hat aber schon gelernt, einigermaßen zu überleben, und er hat Freunde gewonnen, die es ihm erleichtern. Der Schüler der zweiten und dritten Klasse fühlt sich bereits eng dem Konvikt verbunden. Immerhin ist es ihm gelungen, die erste und dann die zweite Klasse des Gymnasiums zu bewältigen. Er hat einen Erfolg, auf den er stolz sein kann. Manche kennen nun die Regeln bereits genau und verstehen sie mit Geschick zu umgehen. So war es ein wichtiges Gebot, nicht zu rauchen. Aber dennoch faszinierte gerade das Umgehen dieses Gebotes. So holten wir aus einem nahen kleinen Wald Lianen, die wir uns in Zigarettenlänge zuschnitten. Diese rauchten wir. Es stank fürchterlich und schmeckte ebenso, aber wir hatten das Gefühl, etwas Männliches und Verbotenes geleistet zu haben. Auch kauften wir heimlich Zigaretten. Für uns waren dies rebellische Akte, mit denen wir uns gegen die Strenge des Konvikts auflehnten. Und noch etwas ist typisch für die Schüler dieser Phase. Die schlechteren, aber verwegeneren Schülern gehen daran, bei den Schularbeiten zu schwindeln. Und entwickeln dabei bereits eine besondere Kunst. Auch ich setzte viel Energie bei der Vorbereitung von Schwindelaktionen ein. Und noch etwas zeichnet sich ab: Manche ziehen es vor, während des Studiums, anstatt zu lernen, Abenteuerbücher zu lesen, die sie in der Fantasie in die weite Welt hinaustrugen.

3. Neue Freiheiten und Kontakte zum Ort In der dritten Phase entdeckt und schafft sich der Student neue Freiräume. Bis zur vierten Klasse ist er noch in der sogenannten Unterstufe. Der Präfekt diktiert weiterhin sein Leben. In der vierten Klasse darf der Student einen Teil der freien Zeit mit Spaziergängen in den Ort verbringen. Meist sind es die freien Schulstunden von elf bis zwölf, die derart verbracht werden dürfen. 49

Die alte Klosterschule

Die vorsichtige Rebellion gegen das Klosterleben wird stärker. Bewusst werden schon Regeln umgangen. Manche machen es sich während des Studiums gemütlich. Der Leidensdruck wird dadurch erleichtert, dass man sich kameradschaftlich mit anderen zusammentut.

4. Die Oberstufe Ab der fünften Klasse befindet man sich in der Oberstufe. Die Freiheiten werden größer. Die Studenten entwickeln sich allmählich zu Individuen, die sich nicht so ohne Weiteres unterkriegen lassen. Nun gelingt es den Studenten – die Patres sprechen vom Flegelalter –, sich größere Freiräume zu erobern. Obwohl das Ortsgebiet nicht verlassen werden darf, halten sich nicht alle daran. Die Rebellion steigert sich allmählich, aber mit großer Vorsicht.

5. Das letzte Rennen Ab der siebten Klasse sieht man allmählich, dass das Gymnasium auch einmal ein Ende haben wird. Man hat die Hoffnung, es positiv hinter sich zu bringen. Die verbotenen Aktivitäten werden immer gewagter. Mancher fliegt noch aus der Schule, bevor er zur Matura kommt.

6. Die Befreiung – die Matura Die Matura mit ihren alten Ritualen wird von manchen als Befreiung von der Zwangsherrschaft gesehen. Daher, wie wir sehen werden, wird der Abschied vom Kloster besonders ausgelassen gefeiert.

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V. Typologie der Professoren Bevor ich zu dem Kapitel über die Selbstbehauptung in der Klasse komme, wage ich eine ideale Typologie der Lehrenden.

A. Der edle Professor Der edle Professor und Präfekt lebt für die Studenten. Er ist ehrlich um ihr Heil bemüht. Ein edler Herr war Pater Albert, der spätere Abt des Klosters. Über ihn schrieb mir Freund Bihlmayer dies: »Er war ein Musterbeispiel seines Standes. Er lebte ehrlich nach dem Grundsatz Ora et labora. Ich habe ihn als Präfekt in der ersten Abteilung gehabt. Er hat damals wirklich versucht, uns Buben die Eltern zu ersetzen. Ehe wir in der Früh aus den Federn mussten, las er schon die Messe. Auf die Schule hat er uns stets vorbereitet. Er hat sehr darauf geachtet, dass wir unseren EItern auch regelmäßig schreiben. Ob er unsere Briefe gelesen hat, weiß ich nicht. Aber er hat zumindest kontrolliert, dass wir die richtige Anschrift auf das Kuvert schreiben. Das war wichtig, denn es gab sogar jemanden, der geschrieben hat: An meine Eltern in Linz. Als Professor war er ein Quälgeist. Gott sei dank habe ich ihn nicht in Latein gehabt, aber in Philosophie. Er hat für uns Skripten verfasst, die ich heute noch besitze. Er schrieb Skripten und machte Dia-Vorträge für die Reisen nach Rom und Athen, die er selbst organisierte. Er hat uns auf diese gut vorbereitet.« Das Edle des Paters Albert zeigte sich auch darin, dass er noch nach der Matura einen schönen Kontakt zu seinen früheren Schülern pflegte. Darüber erzählte mir Helmut Obermayr: »Was mich besonders gefreut hat, war, dass mir Jahre nach der Matura der Pater Albert, dem ich zu Weihnachten geschrieben hatte, mir mit diesen Worten antwortete: Quondam magister, semper amicus! Das heißt: einstens Lehrer, immer Freund!« Obermayr fügte noch hinzu: »Ich habe ihn, den Pater Albert, sehr geschätzt.« 51

Die alte Klosterschule

Übrigens hat Pater Albert mir zur Hochzeit ein Bild vom Tassilokelch geschickt, dabei wies er darauf hin, dass die Frau Tassilos Liutpirg geheißen habe, womit er auf die Ähnlichkeit mit dem Namen meiner Frau Birgitt aufinerksam machen wollte. Ich habe mich darüber gefreut. Als edel bezeichne ich auch solche Lehrer, die großzügig über gewisse Sachen hinweggehen und gegebene Versprechen halten. Ein solcher gütiger Herr war unser Religionsprofessor. Dieser fragte einmal unsere Klasse, wir waren damals in der vierten, wann denn das erste ökumenische Konzil von Nizäa gewesen wäre. Niemand konnte ihm dies sagen. Der Professor war darob nicht erfreut und meinte verzweifelt, dem, der ihm dies sagen könne, würde er bis zur Matura ein »Sehr gut« in Religion im Zeugnis geben. Ich schlug unter der Bank das Buch mit gut Glück auf und fand gleich die Seite, auf der zu lesen war, dass dieses Konzil 325 gewesen sei – diese Jahreszahl habe ich nicht vergessen. Ich zeigte auf, der Professor sah mich erwartungsvoll an, und ich sagte ihm das Jahr. Der gute Mönch möge mir meine List vom Himmel herunter verzeihen. Er war jedenfalls erfreut, wohl dachte er sich, dass sein Unterricht doch nicht vergebens gewesen sei. Ich erhielt darauf im nächsten Zeugnis mein »Sehr gut« in Religion, aber auch in allen anderen Zeugnissen bis hin zur Matura. Es war übrigens mein einziges »Sehr gut« neben dem in Turnen.

B. Der gütige und heitere Professor als Freund der Schüler Er ist verwandt mit dem edlen Lehrer und Präfekten. Seine Güte zeigt sich darin, dass er vielleicht noch intensiver sich um die ihm zum Schutze Befohlenen bemüht. Mit großer Geduld und mit heiterer Gelassenheit sieht er dem Treiben der Studenten zu. In der reinen Form ist er die Seltenheit. Ein solch gütiger Freund der Schüler soll Pater Gregor in den Sechzigerjahren gewesen sein. Er half als Präfekt der ersten Abteilung den Buben dadurch, dass er mit ihnen die erste Zeit gemeinsam sang, damit sie den Abschiedsschmerz vergäßen.

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Typologie der Professoren

C. Der alles beherrschen wollende Professor und Präfekt

Dieser Typ scheint charakteristisch für Klosterschulen zu sein. Ihm ist es wichtig, dass die Schüler sich an die Regeln der Schule und des Konviktes exakt halten, wobei er es als Pflicht der Schüler ansieht, ihn und seine Mitmönche als geistliche Personen zu hofieren. Ihm nähert man sich für gewöhnlich unterwürfig und lässt ihn in dem Glauben, hochgeschätzt zu sein. Er ist es auch, der als Professor durch Prüfungen die ganze Klasse in Angst und Schrecken versetzen kann. Wenn er die Klasse betritt, stehen die Schüler stramm, sind schweigsam und hoffen, nicht geprüft zu werden. Wenn er am Katheder sitzt und seine Blicke über die Klasse schweifen lässt, gehen die eher faulen Schüler hinter ihren Vordermännern in Deckung, um nicht gesehen zu werden, um den Herrn Professor nicht auf die Idee zu bringen, gerade sie zu prüfen. Ähnlich verhält es sich mit dem Präfekten, der die Abteilung zu beherrschen wünscht. Man neigt ihm gegenüber zur Heuchelei. Die Strafen bei Disziplinarverletzungen sind bisweilen fürchterlich.

D. Der gelassene Professor Hier handelt es sich um jenen Professor, der in aller Gelassenheit das Leben der Studenten hinnimmt. Wohl achtet er auf Disziplin, aber er kann leicht hintergangen werden. Und er wird es auch. Er ist bisweilen auch ein Freund der Schüler.

E. Der besorgte, strenge und zornige Professor Diesem Professor geht es um die verlangte Disziplin, damit es den Buben einmal gutgehe. Er findet jedes Abgehen von den traditionellen Normen höchst verwerflich, und er hofft, dass aus den Zöglingen einmal etwas »Ordentliches« werde. Er kann höchst zornig werden, wenn die Gewaltunterworfenen nicht das tun, was er will. Ein solcher Professor predigte einmal in der Studentenkapelle, als ich während seiner ernsten Worte mich mit meinem Nachbarn, wir waren in der vorletzten Klasse, heiter unterhielt. Als der geistliche Herr mich 53

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lachen sah, unterbrach er die Predigt und sagte: »Während ich hier predige, lacht hinten einer. Er weiß, dass ich ihn meine. Er soll nachher zu mir kommen.« Der predigende Professor sah mich dabei nicht an, ich wusste aber, dass er mich meinte. Ich ging nachher zu ihm und entschuldigte mich mit dem Hinweis, dass mein Nachbarn bei seiner Predigt ziemlich »blöd dreinschaute«. Der gute Herr sah dies ein und war mir nicht mehr böse. Sorge und Güte bestimmten diesen Mönch, zu denen sich beinahe heiliger Zorn gesellte, wenn er sich getäuscht sah.

F. Der niederträchtige und sadistische Professor Auch Exemplare dieser Art gab es in Klosterschulen. Das Spektrum ist hier groß. Hierher gehören jene Professoren, die bewusst Schüler hineinlegen, sie täuschen und sich an schlechten Noten und dem Unglück der Studenten erfreuen. Ein solcher Herr ließ zum Beispiel die Klasse wissen, er werde zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht prüfen. Tatsächlich prüfte er aber. Auf diese Weise flog ich in Physik in der achten Klasse. Darüber erzähle ich später noch. Der niederträchtige Herr Professor hatte aus irgendeinem Grund sich an mir rächen wollen. Niederträchtig handelte dieser Professor auch, als er mir, der ich Freude am Ministrieren hatte, vor einer Gruppe von Burschen vorwarf, ich würde die Hände beim Gebet als Ministrant nicht würdig falten. Mich traf dieser Vorwurf damals tief. Niederträchtig sind jene Lehrer oder Erzieher, die dem Schüler sich sexuell nähern oder diesen unter sexuellen Druck setzen. Solche Herren mag es gegeben haben und geben. Ich selbst jedoch bin nie von einem geistlichen Herrn in dieser Richtung belästigt worden. Sadistisch war aber jener Professor, der mir, als ich in die erste Klasse ging, mir vor dem Läuten der Pausenglocke verbot, das Klassen­ zimmer zu verlassen, um die Toilette aufzusuchen. Die Glocke erlöste mich von dem ungemeinen Druck, der auf meiner Blase lastete. Es hätte nicht viel gefehlt, und es wäre ein Malheur geworden. Ich hatte 54

Typologie der Professoren

aufgezeigt und gebeten, auf das Klosett gehen zu dürfen, aber der Herr Professor, wir hatten ihn in Geografie, bestand darauf, dass ich bis zum Ende der Stunde im Klassenraum zu bleiben hätte.

G. Der feige Professor Ein solcher ist jemand, der sich hütet, dem Studenten die Wahrheit zu zeigen, da er dessen Reaktion fürchtet. Einerseits spielt er sich als Freund der Studenten auf, andererseits fällt er ihnen bei den Kollegen in den Rücken.

H. Der verräterische Professor Herren dieser üblen Art gibt es wohl, sie erhoffen sich einen Vorteil dadurch, dass sie die Direktion oder sonstjemand davon benachrichtigen, dass sie bestimmte Studenten in verbotenen Situationen erwischt hätten. So wurde ich vom Turnprofessor beim Konviktsdirektor angeschwärzt, weil ich mich einmal mit einem Mädchen im Ort getroffen hatte und einmal verbotenerweise ins Kino gegangen war. Beide Male ertappte mich der Herr Turnprofessor, der allerdings kein Geistlicher, sondern ein weltlicher verheirateter Herr war. Der Herr Konviktsdirektor, ein ansonsten gütiger Herr, schrieb darauf meinem geplagten Vater einen Brief mit dem Hinweis, dass ich damit rechnen müsse, die Schule noch vor der Matura verlassen zu müssen, denn ich ginge ins Kino und spräche mit Mädchen. Grundsätzlich gab es, wie bei den Schülern, keine reinen Professo­ ren­typen. Viele der Patres waren echte Mischtypen, bei denen sich Güte mit oft übertriebener Strenge mischte, aber dennoch denke ich, dass eine derartige Typologie hilft, sich ein Bild von der Autorität im Kloster zu verschaffen. Die Patres glichen sich jedoch alle in der Vorstellung, dass der junge Mensch, soll aus ihm etwas werden, sich an Regeln und Rituale zu halten habe. Wurden Regeln gröblich verletzt, so war es für sie alle selbstverständlich, dass der Übeltäter Schule und Konvikt verlassen musste. 55

VI. Niederträchtigkeiten

Die Niedertracht der Schüler und Zöglinge: Die Tyrannei der Kameradschaft Ideale Böden für Niedertracht sind Konvikte und Internate. In gewisser Weise ähneln sie Gefängnissen, nicht nur wegen der Nummer, die der Neuankömmling erhält. Schule und Gefängnis sind Institutionen, in denen von den Schutzbefohlenen Gehorsam verlangt wird und die sich an vorgegebene Regeln streng zu halten haben. In gewisser Weise habe ich es hier mit Unterdrückten zu tun, denen es ein Gefühl der Erhabenheit vermittelt, andere unter sich zu sehen. Dies gelingt aber nur, wenn Leute vorhanden sind, die man in niederträchtiger Weise unterdrücken kann. Offensichtlich macht es Freude, anderen gegenüber sich als Unterdrücker aufzuspielen. Dies scheint ein allgemeinmenschliches Phänomen zu sein. Bemerkenswert ist wohl, dass die Schüler der Klosterschule, die im Konvikt im Internat leben, als Zöglinge bezeichnet wurden, ein Begriff, der dem des Häftlings sprachlich ähnlich ist. Bei beiden Gruppen ist die Niedertracht beheimatet. (Siehe näher dazu mein Buch »Bösewichte – Strategien der Niedertracht«, Wien 1999.) Im Konvikt blühte die Niedertracht, besonders in den unteren Klassen. Für den jungen Burschen, wie ich zeigen werde, ist es nicht leicht, sich zu behaupten. Vielleicht lernen gerade in den Konvikten die »Zöglinge« der ersten Klassen schon sehr früh Strategien der Niedertracht, die vielleicht helfen mögen, mit der eigenen unglücklichen Situation fertigzuwerden. Niederträchtiges Handeln wird gefördert, wenn der Zögling die zumindest stillschweigende Unterstützung durch andere Schüler besitzt. Ein beliebtes Ziel der Niedertracht sind daher Mitschüler, die in der Klassengemeinschaft kein besonderes Prestige genießen und 56

Niederträchtigkeiten

die keine Sanktionen setzen können, sei es, dass sie die Spötter nicht zu verprügeln vermögen, oder sei es, dass sie keinen Schutz durch die Heroen der Klasse erwarten können. Die Strategien der Niedertracht im Konvikt sind vielfältig. Sie reichen von Verspottungen wegen körperlicher Mängel bis hin zu Ritualen der Degradierung durch Schläge. Im Konvikt, in dem es so etwas wie einen persönlichen Rückzug nicht geben konnte, war man dauernd der Nähe der anderen ausgesetzt. Und das war das große Problem. Jeder war der aufgezwungene Kollege, Kamerad oder Freund des anderen, wie Dostojewski im Rückblick auf seine Erfahrungen im Gefängnis festhält. Dostojewski spricht von der »Tyrannei der Kameradschaft«. Es gibt sie auch im Konvikt, nicht nur im Gefängnis. Und diese kann furchtbar sein. Der einzelne Zögling ist, genauso wie der Häftling, ständig den anderen ausgeliefert. Es entwickeln sich daher Hierarchien, an deren oberen Enden die Klassenführer sich befinden, und an deren unteren Enden jene, die als Widerspenstige, Abweichler, Dumme oder Schwächlinge, ohne deswegen wirklich solche zu sein, gesehen werden. Erstere leiten ihre Führerposition von ihrer körperlichen Stärke, von ihrer Wortgewalt oder auch von ihren schulischen Leistungen ab, oder von allen gemeinsam. Sie diktieren das Geschehen zwischen den Schülern. Ihr Wort gilt etwas, und ihre Meinung dominiert das Gespräch. Sie bestimmen geradezu die Linie des Klassenverhaltens. Die Letzteren, die Underdogs der Klasse, haben keine Chance, ernst genommen zu werden, sie werden belächelt, und sie sind es, an denen andere ihren Mut unter dem oft gezwungenen Gelächter des »Mittelteils« probieren können. Dieser Mittelteil der Klasse besteht aus Anpasslern, die einfach überleben wollen und die daher den Stärkeren zujubeln. Typisch für Klosterschulen sind Neckereien übelster Art, bei denen die Betroffenen oft in niederträchtigster Weise hineingelegt werden. Ich werde unten an einer Geschichte demonstrieren, bei der einem Neuankömmling von den Kollegen erklärt wurde, er müsse als »Neuer« beim Abendgebet ein Lied anstimmen. Dem niederträchtig Hineingelegten drohen Spott und Schaden. 57

Die alte Klosterschule

Die Niederträchtigkeiten gegenüber dem gütigen Lehrer Die Niedertracht der Schüler richtet sich nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen den Lehrer, den zu ärgern Freude bereiten kann. Auch hier sind es die eher milden Lehrer, die wenig Disziplin zu verlangen vermögen, die zum Gegenstand des niederträchtigen Scherzes und Spottes werden. Ich erinnere mich an unseren Englischprofessor am Klostergymnasium, er war ein Weltlicher, der uns viel durchgehen ließ. Auf üble Scherze von uns reagierte er mit Güte. Diesen Mann haben wir ausgelacht, wir belustigten uns über ihn. Bei den anderen Professoren hätten wir nicht gewagt, uns nur annähernd so aufzuführen wie bei diesem Herrn, bei dem wir unsere Niedertracht austoben konnten. Jahre nach der Matura besuchte ich ihn, über den wir uns belustigt hatten, in seiner Wohnung in Linz. Als er mich sah, erschrak er, offensichtlich befürchtete er irgendwelche neue Attacken von mir. Er war aber dann überrascht und erfreut, als ich mich bei ihm für meine Frechheiten ihm gegenüber entschuldigte, schließlich sei er doch uns gegenüber freundlich gewesen. Und es sei nicht fair gewesen von uns, seine Güte derart auszunützen. Ich freute mich, als ich sah, wie dieser alte Herr über meine Worte glücklich war und über unsere früheren Niederträchtigkeiten nun lächelte. Mir war es ein Bedürfnis gewesen, ihn zu sprechen. Die Niedertracht der Schüler kennt keine Grenzen, wenn sie keine Schranken fühlt.

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VII. Die fünf Prinzipien des Überlebens als Klosterschüler

Die Schüler des Gymnasiums, die gleichzeitig Zöglinge des Konvikts waren, mussten Strategien des Überlebens entwickeln, um über die Runden zu kommen. Es sind im Wesentlichen fünf Prinzipien, die das Leben im Stiftsinternat bestimmen. Gewiss mögen sich ähnliche Prinzipien auch in anderen Schulen finden, in der Klosterschule sind sie jedoch von größerer Eindringlichkeit, da die Schüler ständig in engem Kontakt zueinander stehen. Diese Prinzipien sind: 1. Der ständige Kampf um Behauptung – Verspottung und Raufereien,
 2. der Reiz des Verbotenen – heldenhaftes, rebellisches Tun,
 3. Kameradschaft,
 4. keine Standesunterschiede – aber Rangordnung,
 5. Humor – Scherze und Spitznamen.
 Darauf soll nun näher eingegangen werden.

1. Der ständige Kampf um Behauptung – Verspottung und Raufereien Schon vom ersten Tag an steht der Zögling und Schüler unter dem dauernden Druck, sich behaupten zu müssen, wie ich oben schon ausgeführt habe. Der junge Bursch muss den anderen zeigen, dass er sich gewisse Angriffe nicht gefallen lässt. Diesem Kampf um Behauptung ist derjenige am stärksten ausgesetzt, der als Neuer zu der Gemeinschaft stößt. Da ich im ersten Jahr etwas später, ich war krank gewesen, ins Gymnasium und in das Konvikt kam, musste ich mir die erste Zeit allerhand gefallen lassen. Man 59

Die alte Klosterschule

machte sich lustig über mich, sagte mir, ich würde aus einem Bauerndorf kommen, außerdem schaue ich blöd aus, und mein Vater wäre nur ein gewöhnlicher Bauerndoktor. Verspottung scheint geradezu charakteristisch für die ersten Klassen zu sein. Um selbst besser dazustehen, bedarf es des Schwächeren, den man degradieren und verspotten kann. Und der Schwächere ist der Neue, der körperlich Benachteiligte und überhaupt jeder, der sich nicht wehren kann, weil er keine Lobby hat. Auf schutzlose Leute stürzt sich der junge Schüler mit Vorliebe. Das Abwerten anderer lässt ihn mit seinen eigenen Problemen fertigwerden, mit seinem Heimweh und seiner Angst vor den schwarzgekleideten Patres. Das Opfer dieser Angriffe steht unter dem Druck, sich gegen seine Klassenkameraden verteidigen und behaupten zu müssen. Manchmal kommt es dabei zu echten Schlägereien. Körperliche Stärke kann dabei ein gewisser Vorteil sein. Manche Schlägereien werden provoziert, um dem anderen zu zeigen, dass man ihn nicht respektiere. Dies konnte allerdings fatal ausgehen, wenn der Provozierte die Herausforderung annahm und sich als besserer Raufer erwies. Eine solche Provokation leistete ich mir einmal, als ich einen mir unsympathischen Burschen, der sich mit roher Gewalt Vorteile verschaffte, regelmäßig als »fette Sau« bezeichnete. Meist wurde ich von ihm gehörig verdroschen, indem er mich mit seinen Armen an der Brust umfasste, mich aufhob und zu Boden warf. Dennoch hörte ich nicht auf, ihn zu beschimpfen. Ich blieb bei meiner Provokation, weil ich nicht einsehen wollte, dass dieser Bursche andere nur durch seine Kraft dominierte. Verspottung und böse Neckerei waren typisch für die unteren Klassen. In den oberen Klassen wünschte man sich allmählich Freunde unter den Klassenkollegen und begriff, dass Schlägereien eher als Zeichen der Unreife anzusehen waren. Feinere Strategien der Niedertracht wurden nun eingesetzt. Ein beliebtes Mittel bestand darin, den Kollegen nicht bei Schularbeiten zu unterstützen, ihm nicht beim Schwindeln zu helfen. Man ergötzte sich an seinem Unglück, wenn er zum Beispiel die Mathematikaufgabe nicht richtig zusammenbrachte, bei der man ihm hätte helfen können. 60

Die fünf Prinzipien des Überlebens als Klosterschüler

Erst mit zunehmender Reife und aufgrund entsprechender Erfahrungen kamen die Burschen zu der Einsicht, dass man aufeinander angewiesen ist, und gegenseitige Achtung lernte. In diesem Sinn schrieb mir Gustav Bihlmayer: »Im Lauf der Jahre glichen sich die Gegensätze an. Man hatte Toleranz gelernt. Weder der Gescheitere noch der Stärkere dominierte. Diese Toleranz ging soweit, dass man auch die Patres mit ihren Stärken und Schwächen tolerierte.«

Der Streit und die rituelle Rauferei Zu den Rebellen zähle ich auch jene Burschen, die sich der Rauferei mit Kollegen stellten. Sie zeigten damit, dass sie bereit waren, sich Respekt zu verschaffen. Im Sinne der Patres wäre es gewesen, dass die Zöglinge sich in allem unterordnen und jedem Streit mit ihren Kommilitonen aus dem Weg gehen. Das erklärte mir ein freundlicher Präfekt, der dahintergekommen war, dass ich mich mit einem Mitzögling ordentlich gestritten hatte. Er meinte, ich müsse lernen, Ärgernisse und Bösartigkeiten einzustecken. Dies würde mir im späteren Leben helfen, in dem viele Bösartigkeiten auf mich warteten. Es mag sein, dass ich im Kloster ein solches Einstecken gelernt habe. Dennoch lehrte die Klosterschule und speziell das Konvikt auch Streit und Selbstbehauptung unter Gleichgestellten. Durch den engen direkten Kontakt zueinander kam es nicht nur zu der erwähnten Tyrannei der Kameradschaft, sondern auch zu einer dauernden Auseinandersetzung mit dem Kommilitonen, ein Wort, das geradezu zugeschnitten scheint auf die Insassen des Konvikts, denn Kommilitone heißt nichts anderes als »Mitsoldat« oder »Mitkämpfer«. Und zu Kämpfern mussten die Burschen werden, um sich behaupten zu können. Der Einzelne musste immer rechnen, in einen Streit mit einem Kollegen verwickelt zu werden. Meist hatte der Streit geradezu etwas Rituelles an sich, ähnlich wie bei Kämpfen in Stammesgesellschaften, bei denen die Streitenden nach gewissen Regeln mit dem Speer aufeinander losgehen. 61

Die alte Klosterschule

Grundsätzlich musste man im Kontakt mit den Kollegen vorsichtig sein. Ein falsches Wort, ein Wort der Beleidigung konnte, wenn der andere über entsprechende Kräfte und Freunde verfügte, sofort oder bei der nächsten Gelegenheit tätlich geahndet werden. In den unteren Klassen drohte ständig die Prügelei. Über eine Rauferei, bei der er von einem Pater ertappt wurde, erzählte mir ein früherer Klosterschüler: »Einmal habe ich jemanden, der mich geärgert hat und mich als Wiener ›Bazi‹ genannt hat, nach dem Lichtabdrehen im Schlafsaal verdroschen. Dem haben die Schläge gebührt. Das Pech war, dass das Schlafsaalfenster zum Stiftshof hin offen war und unten gerade der Pater N. vorüberging. Der hat gehört, wie ich jemanden verdresche, weil er geschrien hat. Der Pater N. ist sofort in unseren Schlafsaal von der dritten Abteilung gerannt, obwohl er der Präfekt von der letzten Abteilung war. Er hat gar nicht hierhergehört. Er hat das Licht im Schlafsaal aufgedreht und hat gerufen: ›Wer war das?‹ Ich habe mich gemeldet. Ich konnte es ja auch nicht verheimlichen. Dann hat er gesagt, dass ich ordentlich bestraft werden müsse deswegen. Ich bekam eine Woche Pultarrest und durfte dabei nichts reden.« Die Raufereien fanden im Geheimen statt. Das war auch typisch für diese Art der Streitbeilegung durch Rauferei, dass man über diese nach außen Stillschweigen breitete. Es war verpönt, einem Pater zu erzählen, man sei von jemandem verdroschen worden. Es galt geradezu als unehrenhaft, Derartiges an die hohen Geistlichen weiterzumelden. Ein solcher Vernaderer hätte, wäre man ihm dahintergekommen, damit rechnen müssen, irgendwann einmal zumindest geohrfeigt zu werden. Es ist übrigens bemerkenswert, dass es Patres gab, die, wenn sie von solchen Raufereien erfuhren, nicht darauf mit einer Strafe reagierten. Sie werden sich gedacht haben, dass die Schüler unter sich auf diese direkte Weise ihre Konflikte viel besser austragen, als wenn sie sich einmischten. Eine interessante Rauferei erlebte ich einmal mit einem Schüler der dritten Klasse, den ich damals für furchtbar eingebildet hielt und der es inzwischen sogar zum Justizminister gebracht hatte. Ich hatte 62

Die fünf Prinzipien des Überlebens als Klosterschüler

ihn, weil er mich so von oben herab behandelt hatte, als »blöden Kerl«, was er sicher nicht war, oder als etwas Ähnliches bezeichnet. Der Bursch wollte mir daraufhin sofort eine Ohrfeige geben. Ich meinerseits wollte ihm zuvorkommen und tat so, als ob ich auf ihn einschlagen wollte. Gleich darauf balgten wir uns am Pflaster auf der Brücke vor dem inneren Stiftstor. Wir befanden uns eben auf dem Weg von der Schule in das Konvikt. Es war Mittag. Zunächst dachte ich, ich könne den Burschen zu Boden ringen. Doch bald umstanden uns Schüler aus der Klasse meines Kontrahenten, die ihn anfeuerten und mich heruntermachten. Kollegen aus meiner Klasse waren nicht zu sehen. Ich sah mich in meinem Kampf alleine. Vielleicht war dies der Grund dafür, dass meine Kräfte schwanden. Irgendwann schlug mein Kopf auf den Boden, und ich hörte auf, mich zu wehren. Damit war die Sache erledigt. Ich galt als der Besiegte, der Unterlegene, akzeptierte dies und entfernte mich schnell vom Ort des Kampfes. Diese Rauferei hatte etwas Rituelles an sich. Insofern, als niemand von den Umstehenden und Freunden sich in die Kampfhandlung einmischte, gehorchte sie den Regeln des Duells. Es war verpönt, sich einzumischen. Darauf achteten die Zuschauer. Man mischte sich höchstens ein, wenn einer der beiden derart unterlegen war, dass die Rauferei sich auf sein körperliches Wohl unangenehm auswirken würde. Raufereien dieser Art gehörten zum Alltag im Konvikt. Sie hatten hier wesentlich mehr Bedeutung als vielleicht in den üblichen Schulen, in denen die Schüler nur eine kurze Zeit des Tages beisammen sind. Hier im Kloster dienten solche Raufereien wesentlich dazu, dem anderen klarzumachen, dass er zum Respekt verpflichtet sei, ein Respekt, der sich auch auf das Leben im Konvikt bezog und nicht bloß auf die Schule. Bei Raufereien ging es auch um die Rangordnung in der Klasse oder in der Abteilung. Als ich in der dritten oder vierten Klasse war, kam es zu einer denkwürdigen Rauferei zwischen den beiden stärksten Burschen. Beide waren etwas älter als die anderen, der eine kam von einem Bauernhof, und der andere war der Sohn eines Landarztes. Wie zwei starke Löwen ließen sich die beiden grundsätzlich in Ruhe. Jeder 63

Die alte Klosterschule

von den beiden achtete den anderen, er ging ihm sogar aus dem Weg. Vielleicht hatte sich in beiden ein Groll gegeneinander aufgestaut. Im Verlauf eines Streitgesprächs zwischen den beiden kam es zur Eruption der beiden Vulkane. Sie beschimpften sich und gingen gegeneinander los, wobei bald der Bauernsohn die Oberhand gewann. Dieser Raufhandel spielte sich im Studiersaal ab, von einem Präfekten war nichts zu sehen. Und wir Kollegen der beiden umstanden wortlos das wilde Kampfschauspiel. Es endete damit, dass der Sohn des Landarztes sich seinem bäuerlichen Gegner durch Flucht zwischen den Pulten zu entziehen suchte, wobei er noch einige Schläge abbekam, ich glaube, sogar von einem dicken Seil oder einem Tuch, das der siegreiche Recke um seinen Kopf schwang. Dann herrschte Ruhe. Niemand erzählte davon dem Präfekten, und der unterlegene Kämpfer ließ fortan davon ab, seinen Gegner zu belästigen. Körperliche Auseinandersetzungen gehörten zum Leben in der Unterstufe der alten Klosterschule, in den oberen Klassen fand man mehr und mehr gewaltfreie Formen des Streits. Weil Raufereien üblich waren, war man, wie erwähnt, vorsichtig im Umgang miteinander, vor allem gegenüber Älteren. Freche Äußerungen gegen Respektspersonen höherer Klassen führten sofort zu einer »Pflichtwatschen«. Wagte man zum Beispiel zu einem Älteren zu sagen, er sei ein »blöder Kerl«, erhielt der Beleidiger eine Ohrfeige, eine »Pflichtwatsche«. Manchmal wurde die »Watschen« nur angedroht. In den oberen Klassen ließen körperliche Auseinandersetzungen untereinander wohl nach, aber nicht gegenüber den jüngeren Schülern, deren Frechheiten weiterhin mit Watschen bedroht waren. Streitfälle in den oberen Klassen wurden so geahndet, dass man dem Beleidiger seinen Unmut auf andere Weise als durch körperliche Attacken spüren ließ. Ein beliebtes Mittel war, den anderen völlig zu ignorieren. Man ging an ihm grußlos vorbei und antwortete nicht, wenn dieser einmal etwas wollte. Fatal konnte sich diese Nichtbeachtung des anderen auswirken, wenn ihm Sachen verweigert wurden, die er benötigte oder besonders begehrte, wie ein Stück Kuchen, das der 64

Die fünf Prinzipien des Überlebens als Klosterschüler

Beleidigte von seinen Eltern geschickt bekommen hatte. Schlimmer war noch, wenn die Hilfe bei Schularbeiten versagt wurde, indem man ihm zum Beispiel keinen Schwindelzettel bei Schularbeiten zukommen ließ. Ein besonderer Spezialist im Ignorieren war ein gewisser Aiches, so hieß er mit dem Spitznamen. Dieser Aiches konnte besonders hart gegenüber denen sein, mit denen er gestritten hatte. Diesen versagte er, der aus reichem Hause war und über reichlich Taschengeld verfügte, seine Gunst. Die bestand vor allem darin, dass er seine Freunde, die allesamt nicht viel Geld hatten, hie und da zum Beispiel auf ein Bier und einen Schweinsbraten einlud. Während der letzten Monate der achten Klasse bis zur Matura hatte Aiches heimlich ein Moped nach Kremsmünster gebracht. Irgendwo bei einem braven Bürger durfte er es einstellen. Dieses Moped schien schon deswegen begehrenswert, weil es strikt verboten war, derartige Fahrzeuge zu gebrauchen. Wir durften ja nicht einmal Fahrrad fahren! Mit diesem Moped ließ Aiches nur seine Freunde fahren. Mit Strategien dieser Art konnte Aiches jene treffen, mit denen er im Streit lag oder die ihn beleidigt hatten. Der Kontakt wurde wiederhergestellt, wenn die beiden Widersacher sich gegenseitig wieder benötigten, wie bei der Vorbereitung von Schularbeiten, oder wenn sie einsahen, dass Kameradschaft überlebenswichtig war. Da sich die Streithähne nicht einfach dem System des Klosters unterordnen, wie es im Sinne der Präfekten gewesen wäre, sondern sich wehrten, handelten sie auch rebellisch.

2. Der Reiz des Verbotenen – heldenhaftes, rebellisches Tun Die Geschichte der Klosterschule kann auch als eine Geschichte der Rebellion beschrieben werden. Die Rebellion war für die Burschen, die unter der Härte und unnachgiebigen Disziplin der Klosterschule litten, nötig, um ihren Seelenhaushalt im Gleichgewicht zu halten. Leider liefen die Rebellen ständig Gefahr, aus Konvikt und Schule zu 65

Die alte Klosterschule

fliegen. Die Gratwanderung zwischen Verstoß und Anpassung gelang nicht jedem. Einige Rebellen hatten Glück und besaßen so viel Geschick, dass sie erfolgreich maturierten. Für das Selbstverständnis des Rebellen war das Brechen von Normen wichtig. Man bewies sich und anderen, dass man sich nicht unterkriegen ließ. Das konnte so aussehen, dass man während der Studierstunde Karl May las oder sich im Verborgenen am Kartenspiel mit dem Sitznachbarn ergötzte. Ein besonders reizvolles Verbot des Klosters war, Kontakte mit Mädchen des Ortes aufzunehmen. Ein anderes Verbot bezog sich auf den Kinobesuch. Das Kino wurde als Tempel des Lasters angesehen, in den Fünfzigerjahren galten die Filme mit Brigitte Bardot oder Marilyn Monroe als besonders verrucht. Einen solchen Film mit einem dieser Sexsymbole zu sehen galt als Heldentat. Ebenso verschrien waren wegen ihrer Herkunft aus dem angeblich kulturlosen Amerika die »Wildwestfilme«. Auch diese waren ein begehrtes Ziel rebellenhaften Tuns. Wurde man beim Besuch eines solchen Films im Kinosaal des Marktes erwischt, musste man mit beson­ deren Strafen rechnen, unter Umständen sogar das Konvikt v­ erlassen. Es ist bemerkenswert, dass nicht nur ich, sondern auch andere Klosterschüler von damals sich die Freude an solchen Wildwestfilmen – vielleicht zum Spott der Ehefrauen – erhalten haben. Es mag sein, dass das durch diese Filme dargetane Heldentum oder Rebellentum auch bei den alten Herren ihren Reiz behalten hat oder sie an altes Rebellisches erinnert. Eine besondere Heldentat, auf die ich heute noch stolz bin, vollführte ich während der Faschingszeit, als ich in der letzten Klasse war. Für uns war es damals gänzlich undenkbar, mit Mädchen zu tanzen oder gar einen Ball aufzusuchen. Tanzkurse gab es für uns keine, aber das Tanzen reizte uns. Ein Besuch einer Tanzveranstaltung war etwas Besonderes, etwas, das sich einige vielleicht in den Ferien gönnten. Der Besuch derart lasterhafter Veranstaltungen, bei denen wir vielleicht in körperlich harmlosen Kontakt mit dem jungen Weibsvolk treten konnten, war mit dem strengsten Verbot belegt. 66

Die fünf Prinzipien des Überlebens als Klosterschüler

Ungefähr zwei Stunden nach dem Abdrehen des Lichtes im Schlafsaal, in diesem lagen bei dreißig Burschen, stand ich auf, zog meinen schönen Sonntagsanzug an und präparierte das Bett. Es konnte ja sein, dass der Präfekt in der Nacht einmal nachsah, ob alles in Ordnung war. Dann schlich ich mich auf den Gang und kletterte über ein großes barockes Gitter, dann ging es auf leisen Sohlen beim Kaisersaal vorbei, durch eine Tür, von der ich wusste, dass sie auch während der Nacht unversperrt blieb, auf den Stiftshof. Im Schatten der Mauern kam ich zum Gymnasium, von dort stieg ich einen kleinen bewachsenen Hang hinunter in den Markt. Der große Ball am Faschingssamstag fand im Gasthof »Zur Sonne« statt. Ich betrat, es war gegen 23 Uhr, den Ballsaal. Er war gesteckt voll, die Bürger mit ihren jugendlichen Töchtern und Söhnen waren hier versammelt. Ein äußerst hübsches Mädchen forderte mich zum Tanz auf. Sie dürfte erfasst haben, dass ich ein Gymnasiast aus dem Klosterkonvikt war, der trotz Verbotes rebellisch an diesem Ball teilnahm. Nachdem ich mich eine Zeit bei Tanz mit dem Mädchen und bei gutem Wein vergnügt hatte, schlich ich ungesehen zurück in das Kloster und das Konvikt und legte mich wieder nieder. Es war nicht aufgefallen, dass ich die Nacht auf lasterhafte Weise verbracht hatte. In den nächsten Tagen zitterte ich, ob nicht doch jemand von den geistlichen Herren von meinem Abenteuer erfahren habe. Wäre man hinter diese Flucht für eine Nacht gekommen, hätte man mich sofort hinausgeworfen. Meine Freunde in der Abteilung, die von meiner Heldentat wussten, schwiegen kameradschaftlich. Für sie mag ich ein Held gewesen sein, zumindest glaubte ich dies damals. Allerdings war ich, als ich das hohe Gitter überkletterte, mit der schmutzigen Sohle eines meiner Schuhe am Plafond des Ganges angekommen, sodass man den Abdruck der Sohle sehen konnte. Ein paar Tage nach meinem Abenteuer fragte mich der Präfekt etwas listig, ob ich wisse, von wem diese Spur stammen könne. Ich erwiderte höflich, ich könne mir nicht vorstellen, wer da über das Gitter geklettert sei. Der Pater stellte keine weiteren Nachforschungen an. Dieses Barockgitter, über das ich geklettert war, wurde bereits einige 67

Die alte Klosterschule

Jahre vor mir von kühnen Studenten als Schleichweg in die Abteilung benutzt. Der Präfekt war dahintergekommen und hatte veranlasst, dass auf dieses Gitter ein Stacheldraht kam. Die Herren Studenten versahen darauf, den Präfekten verhöhnend, den Stacheldraht mit WC-Papier.

Eine wahre rebellische Heldentat Hier sei einer Heldentat gedacht, die ein gewisser Brandner, wir waren damals in der 1. Abteilung, vollbracht hat. Dieser Brandner, der den schönen Spitznamen »Jack« trug, war ein heiterer Bursche. Wir mochten ihn alle, weil er uns durch seine Scherze aufheiterte. Die Herrschaft des Präfekten war gewaltig. Uns gegen ihn aufzulehnen war nicht denkbar, denn der Präfekt hatte die Möglichkeit, uns jederzeit ordentlich zu strafen, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen hätten können. Um so mehr erfreute es uns, wenn Brandner seine eher harmlosen Späße mit dem Präfekten trieb. So meinte er zum Beispiel zu ihm, er würde lieber spazieren gehen, als hier im Studiersaal langweilige Sachen studieren und den Präfekten anschauen zu müssen. Solche und ähnliche »Meldungen« kamen vom Brandner, »Meldungen«, die den Präfekten verärgerten, gegen die er aber zunächst nichts unternahm. Eines Abends, das Licht im Schlafsaal, in dem wir bei vierzig Buben in unseren in zwei Reihen angeordneten Betten lagen, war schon abgedreht. Das Licht im Studiersaal hatte der Präfekt noch angedreht. Wir sahen es unter der Türritze durchschimmern. Plötzlich ging die Tür auf, und da stand der Herr Präfekt. Mit unheilvoller Stimme schrie er: »Brandner, komm her!« In geduckter Haltung schlich Brandner, angetan in seinem Pyjama, zum Präfekten. Dort angekommen, packte ihn der Präfekt und zog ihn zu einem Sessel, auf den er sich setzte. Den überraschten Brandner legte er nun über seine Knie, mit dem Hinterteil nach oben. Nun holte er einen dünnen elastischen Stock hervor, den sogenannten »Spanischen«, und hieb auf den Delinquenten ein. Dieser ließ dies eine Zeit geschehen, doch dann, als der Präfekt nicht aufhören wollte, entzog er sich den Händen des Präfekten, packte den Spanischen und zerbrach ihn heldenhaft. Die 68

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Überraschung lag nun beim Präfekten. Brandner lief nun kreuz und quer, an den Pulten vorbei durch den Studiersaal, der Präfekt ihm nach. Irgendwann erwischte er ihn, mit starker Hand drückte er ihn zu Boden und hieb mit dem Rest des Spanischen auf ihn ein. Die Schmerzens- und Wutschreie des Brandner ließen ihn ungerührt. Am nächsten Tag zeigte uns Brandner die blauen Striemen auf seinem Rücken, die von den Rutenstrichen herrührten. Ich möchte hier ehrend des Jack Brandner gedenken. Er ist einige Zeit später aus Schule und Konvikt geflogen. Was aus Jack Brandner geworden ist, weiß ich nicht. Für uns war er zum Held geworden, zum Rebellen gegen die Übermacht des von uns nicht sehr geschätzten Herrn Präfekten.

3. Kameradschaft Ein wesentliches Prinzip für das seelische wie körperliche Überleben in der Klosterschule und im Konvikt war das der Kameradschaft, das allerdings erst in den oberen Klassen sich so richtig auswirkte. Dies hing auch mit der Reife und der Einsicht der Burschen zusammen, dass man der vielfältigen Unterstützung der Leidensgenossen bedarf. Kameradschaft und der Bezug zu Freunden war wichtig, da man von allem Anfang an unter einer großen Belastung stand. Man war weit entfernt vom Elternhaus und war den nicht gerade zimperlichen Aktivitäten der Patres schutzlos ausgeliefert. Dazu meint ein früherer Zögling: »Bei der Predigt am Sonntag und auch beim Abendgebet hat man uns spüren lassen, dass es mit uns nicht weit her ist. Wir hatten geradezu ein dauerndes Schuldgefühl.« Und tatsächlich scheint es manchen Patres Freude gemacht zu haben, uns zu zeigen, dass unser Weg zum Vollmenschen noch weit sei. Und vielleicht weil wir uns nicht voll genommen fühlten und unter unserer Ohnmacht litten, weil wir der Willkür der Patres ausgeliefert waren, bedurfte es umso mehr der gegenseitigen Unterstützung. Dazu passt auch die schöne Geschichte eines Kommilitonen, dem man noch während der Matura augenzwinkernd klarmachen wollte, 69

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dass er als Schüler des Gymnasiums keinen Anspruch darauf hatte, als »Herr« tituliert zu werden: »Wir waren drei, die erst am letzten Maturatag zur Prüfung antreten sollten, die anderen waren schon fertig und sind nach Hause gefahren. Die ganze Schule hat schon freigehabt. Wir waren die einzigen im Konvikt. Da wir nur zu dritt waren, hat man uns in der Konviktsküche das Essen kredenzt und nicht im großen Speisesaal. Der Hackl hat mir, wie wir so dort sitzen, einen Brief gebracht, den mir meine Schwester geschrieben hat. Sie hat geglaubt, den Brief erhalte ich erst, wenn ich die Matura schon hinter mir habe. Aber ich war noch mitten in der Matura. Auf dem Brief ist gestanden: ›Herrn Helmut Obermayr‹. Der Hackl hat mir den Brief hergegeben und hat gesagt: ›Herr? Ein Herr bist du noch nicht. Ein Herr bist du vielleicht heute nachmittag, wenn du maturiert hast. Sag das deiner Schwester.‹« Höhnisch-scherzend wird dem Burschen angedeutet, dass er erst nach der Matura den Fängen des Klosters entkommt und zum selbstständigen Menschen wird. Solange der junge Mann den Patres untergeordnet war, bedurfte es der Kameradschaft, um mit Demütigungen solcher Art fertigzuwerden. Wäre kein Druck dagewesen, hätte man Kameradschaft nicht so bitter nötig gehabt. Wie wichtig Kameradschaft war, darauf verweist auch diese Geschichte: »Wir hatten in der sechsten Klasse im Schlafsaal um Mitternacht einmal eine wilde Polsterschlacht, die leider aufflog. Wir hatten darauf die größten Schwierigkeiten. Einige flogen aus dem Konvikt und der Schule. Unsere Klasse hat darauf noch mehr zusammengehalten. Die, die sie nicht hinaushauen konnten, ließ man gleich in ein paar Gegenständen durchfallen. Wir waren am Ende der sechsten Klasse ziemlich dezimiert.« Und weiter: »Ich habe im Kloster als Schüler Jahre hindurch gelernt, den Kollegen zu helfen, damit sie von denen da oben nicht bestraft oder sonst hineingelegt werden. Das ist meine Philosophie, die ich mir dort angeeignet habe. Kameradschaft war ungemein wichtig, denn man saß ja im gleichen Boot. Hat jemand von uns einen anderen verraten, so war der für uns ein Schwein, ein Kameradschaftsschwein. Ich ärgere mich heute über die kleinen 70

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Beamten, auch die müssten – ähnlich wie bei uns – den anderen kleinen Leuten helfen, aber die tun es nicht, auch wenn jemand in der Scheiße steckt.« Besonders dort wurde Kameradschaft wichtig, wo es um den Lernerfolg ging. Kollegen, die in der Schule schlecht fortkamen, wurden oft als »Hatschierer« bezeichnet. Der Begriff Hatschierer leitete sich von den Soldaten ab, die bei einem Feldzug als Letzte marschierten. Den Hatschierern halfen bisweilen die tüchtigeren Kollegen in edler Kameradschaft. Ein solcher edler Kamerad war ein gewisser Jimmy. Ich war in Mathematik ein bedauernswert fauler und schlechter Schüler. Er verhalf mir in den letzten beiden Klassen zu guten Schularbeitsnoten. Der Mathematikprofessor war ein Diplomingenieur, der erst im vorgerückten Alter in das Kloster eingetreten war. Er hatte interessanterweise bei meinem Großvater, der Professor an der Technischen Hochschule in Wien gewesen war, studiert. Mich hielt er für einen traurigen Nachkommen dieses Mannes. Jedenfalls war der Mathematikprofessor mir nicht gut gesonnen. Und da er zu Recht meinte, ich würde bei den Mathematikschularbeiten schwindeln, musste ich mich jedesmal in die erste Reihe direkt vor den Katheder setzen, auf dem er die meiste Zeit wie ein Wachhund thronte. Ich stand also während der Mathematikschularbeiten unter der direkten Aufsicht dieses Mannes. Neben mir saß Jimmy. Damit die Sitznachbarn nicht voneinander abschreiben konnten, hatten sie jeweils andere Aufgaben zu berechnen. Der gute Jimmy, ein ausgezeichneter Mathematiker, rechnete nun nicht nur seine Aufgaben, sondern auch meine, deren Texte ich ihm hinübergeschoben hatte. Er gab die gelösten Aufgaben mir heimlich unter der Bank zurück. In aller Ruhe schrieb ich sie ab und erntete jeweils ein »Sehr gut« oder ein »Gut« – zur Überraschung des Herrn Professors. Aber nicht nur bei Schwindelaktionen dieser Art, darauf werde ich noch einmal später eingehen, halfen die guten Kameraden, sondern auch, wenn es um Nachhilfe für faule oder begriffsstutzige Kollegen ging. Jimmy bereitete mich so auf die Nachprüfung in Physik am Ende der Sommerferien vor, eine Prüfung, die ich glänzend bestand. Auch lernte er mit mir für die Matura in Mathematik. 71

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Kameradschaft dieser Art gedeiht hinter den Klostermauern eher als in den öffentlichen Schulen, in denen der Kontakt der Schüler untereinander loser ist. Wie Kameradschaft das Leben im Konvikt beherrschte, wird auch in dieser Geschichte eines Kommilitonen deutlich: »Ein guter Kamerad von mir war ein gewisser Klaus, der nach dem Wunsch seines Pfarrers und seiner Eltern Pfarrer hätte werden sollen. Der Pfarrer hat ihn studieren lassen. Es war oft so, dass aus Pfarreien, die zu Kremsmünster gehörten, arme, aber gescheite Burschen auf Kosten des Stiftes in diesem studieren durften. Man hoffte, sie würden einmal in das Kloster eintreten. Dies hoffte man auch vom Klaus. Und daher kam er ab der fünften Klasse in das sogenannte Juvenat, das war drüben im Konvent bei den Patres. Er sollte zum Pfarrer vorbereitet werden. Das ist ja nichts Schlechtes. Jeder bildet seine Lehrlinge aus. In der achten Klasse ist dann Feuer am Dach, denn da heißt es, jetzt musst du bald in das Kloster eintreten. Man muss gut beisammen sein, um das alles mitzumachen. Klaus ist aber nachher doch nicht Pfarrer geworden. Obwohl er drüben im Juvenat war, ist er weiterhin unser Kamerad geblieben. Er war nicht mehr gemeinsam mit uns im Konvikt, aber in der Klasse waren wir beisammen. Er ist acht Jahre in der Klasse neben mir gesessen. Man wollte nicht, dass die vom Juvenat zu uns in das Konvikt auf Besuch kommen. Vielleicht fürchtete man, wir würden die Pfarrerlehrlinge verderben. Mir hat es weh getan, dass der Klaus im Juvenat war. Wir haben bis dahin alles voneinander gewusst, wo uns etwas gefehlt hat und so weiter. Man hat es dem Klaus zur Last gelegt, dass er oft bei uns war. Aber das war ihm egal. Für uns war er wichtig, denn er hat uns in Mathematik vieles erklärt, bei dem wir uns nicht ausgekannt haben.« Auch wir hatten einen Kommilitonen, der im Juvenat untergebracht war. Dies war ein gewisser Johannes Wittenberg, Wittex genannt, ihm sei hier ehrend gedacht, denn er weilt bereits in der Ewigkeit. Dieser Wittex saß direkt vor mir in der ersten Reihe am Rand. Ich saß in der zweiten und war eifrig bemüht, mich hinter dem Rücken des Wittex zu verstecken. Er bot eine gute Deckung beim Schwindeln, oder wenn 72

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ich mich mit anderen Dingen beschäftigte als mit dem vorgetragenen Gegenstand. Immer, wenn ich ihm zuflüsterte, dass ich seine Deckung benötige, richtete er sich auf und schützte mich sorgsam vor dem Blick des am Katheder sitzenden Professors. Wittex war auch sonst ein guter Freund, bei dem man seine Sorgen, und solche hatte man viele im Kloster, loswerden konnte. Eine besondere Art der Kameradschaft zeigte sich, wenn man im Konvikt Hunger litt, und man litt oft daran. Daher war man ganz begierig darauf, dass man von denen, die von den Eltern genügend Esswaren erhielten, hie und da etwas abbekam. Hier zeigte sich wahre Kameradschaft. Besonders beliebt war bei uns Helmut Rathmayer, dessen Eltern reiche Bauern in Alkoven waren. Da er das einzige Kind war, war deren Liebe voll auf ihn konzentriert. Diese Liebe äußerte sich darin, dass Helmut regelmäßig von zu Hause einen großen viereckigen Kuchen erhielt, der einen Großteil seiner Fresslade ausmachte. Dieser Kuchen war eine Art Marmorkuchen, das heißt, er bestand wahrscheinlich aus einer Kakaomasse. Überzogen war dieses Prachtstück mit Marmelade und einer herrlichen Schokoladeglasur. Dieser Kuchen gehörte für mich zum Besten, was ich damals zu mir genommen habe. Und es war für mich stets eine Freude, wenn mir Helmut ein Stück Kuchen gab. Dieses Überreichen des Kuchens war für mich ein geradezu ritueller Akt. Er führte mich dabei zu seiner Esslade, öffnete sie, streifte das Papier vom Kuchen, schnitt ein Stück Kuchen herunter und überreichte mir dieses mit einem freundlichen Lächeln. Ich war ihm, und bin es heute noch, für diesen Genuss höchst dankbar. Dieses Verzehren des wunderbaren Kuchens war ein festlicher Akt, denn damals in den Fünfzigerjahren waren derartige Köstlichkeiten eine Seltenheit. Und es war Zeichen großartiger Kamerad- oder Freundschaft dieses Burschen, mich und auch andere an seinem Kuchen teilhaben zu lassen. Ein wichtige Regel in Konvikt war es daher auch, gerade in den letzten Klassen, »Fresssachen« mit anderen, die weniger hatten, zu teilen.

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4. Keine Standesunterschiede – aber Rangordnungen Es entwickelte sich in der Klosterschule eine oft feste Gemeinschaft und Kameradschaft. So etwas wie Standesunterschiede gab es unter den Studenten grundsätzlich nicht, allerdings entstand eine Rangordnung. Standesunterschiede, wie sie durch Geburt und Herkunftsmilieu bestimmt sind, kannten wir nicht. So hatten wir in der Klasse den Nachkommen eines sehr bekannten altösterreichischen Adelsgeschlechtes, einen gewissen Grafen K., der jedoch in keiner Weise besser oder bevorzugt behandelt wurde, weder von uns noch von den Professoren. Wohl sprach ihn ein Professor, ein alter Herr, mit »Graf« an, aber er er hielt genauso seine Ohrfeigen von ihm, allerdings mit dem Zusatz: »Dafür, Graf, hast du dir eine Watsche verdient.« Ebenso hatten die Söhne von Ärzten, zu denen ich mich zählte, von Rechtsanwälten, von Fabrikanten und von anderen mehr oder weniger noblen Leuten keine Privilegien zu erwarten. Sie wurden in der Klassengemeinschaft nicht höher bewertet als die Söhne von Kleinbauern und Taglöhnern, die der Pfarrer studieren hat lassen. Hierin mag ein großer Vorteil der Klostererziehung liegen, die Standesdenken bewusst zur Seite schiebt. In diesem Sinn meinte ein alter Kommilitone: »Eine Klassengemeinschaft ist bei uns entstanden. Standesunterschiede hat es bei uns überhaupt nicht gegeben. Es ist nie besonders betont worden, dass der oder der ein Sohn von dem oder dem ist. Das war ganz wurscht. In einer Klasse ist alles zusammengekommen.« Und tatsächlich waren Burschen aus den verschiedensten Schichten in der Klosterschule vereint. Unter ihnen fand sich der Sohn des Kapellmeisters der amerikanischen Militärmusik in Oberösterreich und der Sohn eines Maurers aus Bad Hall. Auch wenn es keine Standesunterschiede gab, entwickelte sich sehr wohl eine Art Rangordnung, in der diejenigen Burschen oben rangierten, denen es gelang, ihre Meinung, ihre Weltsicht den anderen aufzudrängen. Ihre Meinung hatte Gewicht. Es war ein Zusammenspiel mehrerer Komponenten, die den Rang der Burschen untereinander bestimmte. Dazu zählten Schlagfertigkeit, ein gewisser Mut, 74

Die fünf Prinzipien des Überlebens als Klosterschüler

Schulleistungen, körperliche Stärke, Witz, Kameradschaftsgeist und eine gewisse Distanz gegenüber den Ärgernissen des Konvikts sowie der Schule. Der Ranghöchste schien über den Dingen zu stehen. Das machte auch seine Überlegenheit aus. Mit gespielter Großzügigkeit und kühler Arroganz gegenüber den Aktivitäten der Professoren vermochte er zu beeindrucken. Allerdings gab es nicht so etwas wie die Alleinherrschaft einer Führernatur. Es waren meist zwei oder drei Burschen, die ihre Position genossen und die sich gegenseitig unterstützten. Gegen sie wagte sich niemand aufzulehnen. Die Kollegen behandelten den Ranghöheren entgegenkommend. Man borgte ihnen selbstverständlich Bücher oder half ihnen beim Schwindeln. Das Ansehen solcher Klassenführer kann auf vielfältige Weise gegründet sein. Ein gutes Beispiel dafür ist das Absondern von vier Burschen der sechsten Klasse während einer Romwallfahrt, über die ich unten noch etwas erzählen werde. Die vier wurden als »liederliches Kleeblatt« bezeichnet, da sie den Mut zu einigen Abenteuern hatten. Dadurch erlangten sie einiges Ansehen bei den Freunden. Ein Ansehen, das ihnen auch sonst nützte in der Gemeinschaft der Klasse und ihre hohe Position in der Rangordnung festigte. Der Mut, sich über gewisse unangenehme und einengende Regeln hinwegzusetzen, durfte allerdings kein allzu waghalsiger sein, um nicht aus Schule und Konvikt hinauszufliegen. Also: Mut gepaart mit raffinierter Klugheit brachte auf die Dauer jenes Ansehen, durch das der Schüler in der Rangordnung ganz nach oben stieg.

5. Humor  – Scherze und Spitznamen Zum seelischen Überleben in einer solchen Einrichtung wie einer Klosterschule bedarf es einer gehörigen Portion Humor. Besonders in Situationen der Bedrängnis oder der Gefahr überhaupt erhält Humor, das Lachen, hohen Stellenwert. Im Konvikt galt es, Gelegenheiten zu suchen, in denen der Witz diktierte. Nie wieder habe ich 75

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derart witzige Situationen erlebt wie in der Klosterschule. Der Witz entstand hier als ein Akt der Befreiung von den Lasten des klöster­ lichen Alltags mit all seiner Strenge und Kontrolle. Scherze bestimmten weitgehend das Leben der Burschen in der Klosterschule. Sie verhalfen zur Distanz von täglichen Sorgen. Solche Scherze konnten auch etwas deftig sein, wie mir ein Altkremsmünsterer erzählte: »Wenn das Licht im Schlafsaal abgedreht war, haben wir oft noch Witze gemacht. Wie wir in der dritten Klasse waren, wurde gelacht, wenn jemand einen besonders lauten Schas [flatum – Körperwind] ließ. Es gab auch richtige Wettbewerbe, wer den besten Schas von sich geben kann.« Das Spektrum solcher Scherze, bei denen man sich über die »guten Sitten« belustigte, war weit. Ein typischer Scherz in dieser Richtung war, während der Schulstunden hinter dem Rücken der Vordermänner lustige Zeichnungen anzufertigen, um andere damit zu unterhalten. Befreiend wirkten Scherze über den Präfekten oder den Professor. Über einen Schabernack, der gegen einen Präfekten gerichtet war, erzählte mir ein Altkremsmünsterer: »In der dritten Abteilung waren Burschen aus der dritten und vierten Klasse beisammen. Der Schlafsaal war ziemlich groß, er war gleich beim Studiersaal. Einmal hatten wir eine große Gaudi. Um den Pater G. zu ärgern, holten wir uns kleine Steine vom Stiftshof. Nach dem Lichtabdrehen am Abend, ungefähr um neun Uhr, sind wir vom Schlafsaal in den Waschraum und von dort auf den Gang mit dem Steinboden. Wir waren ein paar Burschen. Jeder hat einen Stein auf den Boden fallen lassen, das hat sich so angehört: tak, tak, tak und dann klang es: ping, denn zum Schluss war ein Holzboden vor der Doppeltür des Zimmers von Pater G. Wir haben dies gemacht, weil der Pater G. sich immer so gefürchtet hat. Er hat immer geschrien, wenn ihm jemand im Dunkeln begegnet ist: ›Halt, wer da?‹ Und jetzt wollten wir ihn mit den Steinen schrecken. Gleich nachdem wir die Steine im Takt niedergeworfen haben, sind wir sofort zurück in den Schlafsaal. Gleich darauf sehen wir unter der verschlossenen Tür das Licht vom Studiersaal. Ich bin in mein Bett gesprungen, auch der Gusenleiter wollte in sein Bett springen, aber 76

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die Bettschere hat ihn zurückgeworfen. Wir hatten damals bei den Betten so Scheren, damit die Tuchent nicht hinunterfällt. Und über diese Bettschere ist er nicht gekommen, der Gusenleiter. Plötzlich stand der Pater G. im Schlafsaal: ›Wer da?‹ Wir sind alle, außer dem Gusenleiter, im Bett gelegen, vor Lachen hat es uns schon fast zerrissen. Den Gusenleiter hat der Pater gefragt, was er außerhalb des Bettes zu tun habe. Der Gusenleiter hat gemeint, dass er sich den Mond angeschaut hat. Der Pater hat sich nicht ausgekannt. Das Fürchterlichste ist es gewesen, wenn man außerhalb des Bettes erwischt wurde. Wegen dieser Sache waren wir knapp am Abfahren [wären wir schon bald aus der Schule geflogen].« Es machte Freude, über den Präfekten und seinen Ärger lachen zu können.

Der Spitzname des Professors Zum Thema Humor gehören auch die sogenannten Spitznamen, die die Burschen ihren Erziehenden verpassten. Auf diese Weise belustigten sie sich nicht nur über diese, sondern sie zeigten damit auch an, dass sie doch nur gewöhnliche Menschen sind, auch wenn sie in aller Strenge sich als unnahbare und besonders heilige Personen zu geben versuchten. Nicht nur Schüler, wie ich noch zeigen werde, trugen also Spitznamen, die ihnen Kollegen und Freunde zuschrieben, sondern auch die geistlichen Herren als Lehrer und Erzieher wurden mit solchen bedacht. Ähnlich wie die der Schüler werden sie erfunden, um den betreffenden Professor in seiner Eigenartigkeit zu beschreiben. Im Wesentlichen waren es zwei Typen von Professoren und Präfekten, die Spitznamen bekamen. Die einen, weil wir sie wegen ihrer Liebenswürdigkeit oder Schrulligkeit achteten. Die anderen, weil wir Angst vor ihnen hatten. Der Spitzname verhalf dazu, dem Gefürchteten die Gefährlichkeit zu nehmen, weil man über ihn lachen konnte. Aber zumeist waren die Spitznamen für die geistlichen Herren eher freundlich gemeint. Einen Spitznamen, der sich auf Freundlichkeit und Güte bezog, hatte 77

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unser Latein- und Griechischprofessor, ein ungemein liebenswürdiger Herr, der aber in seinem Zorn furchtbar sein konnte. Wir nannten ihn »Dady«. Er hatte tatsächlich etwas Väterliches an sich, schließlich war er auch Konviktsdirektor. »Dady« genoss unsere Hochachtung. Seiner Güte im Griechischunterricht verdankten wir eine gewisse Liebe zu dieser alten Sprache. Ich war zwar in den alten Sprachen, wie in den anderen Gegenständen auch, ein eher schlechter Schüler, aber dennoch hat in mir dieser geistliche Herr ein Feuer gerade für das Altgriechische entfacht. Dafür sei ihm gedankt. Zu seiner väterlichen Art gehörte auch eine gewisse Art des Schimpfens, zum Beispiel, wenn man eine schlechte Übersetzung lieferte. So schimpfte er nach heutigen Verhältnissen etwas hart, was aber damals von uns nicht so empfunden wurde, denn wir fühlten, dass er es besser meinte, als er es zum Ausdruck brachte. Interessante Spitznamen wurden dem Naturgeschichtsprofessor gegeben. Er konnte uns durch seine Art ungemein einschüchtern. Er sprach uns grundsätzlich mit »Er« an, genauso wie im Mittelalter der Bedienstete von seinem Herrn angesprochen wurde. Manchmal kamen ihm die Anredeformen durcheinander. So soll er einen Burschen schimpfend so angesprochen haben: »Sie Lümmel du, hat Er kein Benehmen!« Früher, in der Zeit vor dem Krieg, soll dieser Herr »dem Tod sein Spion« geheißen haben. In den Fünfzigerjahren nannten wir ihn zunächst »Tschik«, weil er so viel rauchte. Dann wurde er zum »Hackl«, womit auf seine Bosheit hingewiesen werden sollte, für die die Hacke als Symbol stand. Wir zitterten zwar vor ihm, aber andererseits hatte er sogar etwas Sympathisches an sich, auch etwas Skurriles, nämlich in seinem Lächeln, bei dem er uns so ansah, als ob er Maß für einen Sarg nehmen würde. Der Turnprofessor erhielt den Spitznamen »Turninger«, womit lediglich eine Berufsbezeichnung ausgedrückt werden sollte. Sein Spitzname half uns, ihn weniger ernst zu nehmen, wenn er sich wieder einmal unangenehm aufspielte. Professoren, die es nicht verstanden, in aller Güte Autorität zu zeigen, die erfolglos um die Anerkennung durch ihre Schüler rangen, 78

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konnten mit verspottenden Spitznamen rechnen, wie zum Beispiel der Englischprofessor, ein weltlicher Herr. Er wurde lächelnd als »Freddy« bezeichnet, denn er hieß mit Vornamen Friedrich. Den Deutschprofessor, einen »Weltlichen«, nannten wir wegen seiner schlanken Statur einfach den »Zwirn«. Bereits das Aussprechen dieses Spitznamens regte uns zur Heiterkeit an, die jedoch keineswegs bösartig war. Als einmal Studenten des Gymnasiums Shakespeares »Der Widerspenstigen Zähmung« aufführten, marschierte ein dürrer Bursche mit wiegendem Gang in regelmäßigen Abständen über die Bühne an den Schauspielern vorbei. Unter einer Achsel hielt er eine Klosettpapierrolle, und in der Hand glänzte ein Schlüssel. Der, den dieser Mann darstellte, war eindeutig der »Zwirn«, der sich beim Gehen gerne elegant wiegte, wobei der Oberkörper leicht nach vorne gebeugt war. Der Gymnasialdirektor, der von Statur her klein war und dessen kleinliche Genauigkeit manche ärgerte, wurde »Pippin« genannt, nach dem fränkischen König Pippin, der »der Kleine« hieß. Der Mann hatte zwar etwas Freundliches an sich und kümmerte sich redlich und ehrlichen Herzens um die Schüler des Gymnasiums. Mit seinen Ermahnungen zu mehr Fleiß und gutem Betragen konnte er uns aber auch erfolgreich Schuldgefühle machen. Mich ließ er einmal nicht zu einem Jugendskirennen im Salzkammergut fahren, weil er meinte, es wäre für mein gymnasiales Fortkommen besser, wenn ich am Studienort bliebe und mich lernend und nicht skifahrend betätigte. »Pippin« hatte von früheren Studenten wegen seiner schwäbischen Herkunft und seiner Sprache, die etwas Schwäbelndes an sich hatte, den Spitznamen »Schwab« erhalten. Der geradezu asketische, fromme und bisweilen sehr strenge Pater Albert, Professor für Philosophie und alte Sprachen, hieß kurz »Ali«. Mit dieser Abkürzung seines Namens sollte etwas Freundliches ausgesagt werden. Tatsächlich war dieser Pater meist freundlich. Seine Freundlichkeit konnte aber blitzartig in geradezu heiligen Zorn umschlagen, wenn er merkte, dass jemand ihn hinterging, ketzerisch war oder grobe Unfolgsamkeiten lieferte. So musste in meiner Klasse, wir waren in der fünften, einer der Buben sich in die Ecke knien, weil 79

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er das »Ave-Maria« nicht auf Altgriechisch heruntersagen konnte. Wenn »Ali« sich ärgerte, kam er ins Stottern und wetzte mit dem Zeigefinger der rechten Hand am Ausschnitt zwischen seinem Hals und dem weißen Kragen seiner Kutte. Ali war seinen Schülern im Gymnasium und im Konvikt in Freundlichkeit zugetan. Seine Freundlichkeit währte über die Matura hinaus. So erhielt ich von ihm regelmäßig Ansichtskarten. Der Spitzname eines Professors konnte einiges über die Qualität eines Lehrers und Erziehers aussagen. Es gab aber auch neutrale Spitznamen, die den Betreffenden überhaupt nicht einordneten, wie zum Beispiel die Benennung nach seinem Mönchsnamen, ohne das Wort Pater davor, bloß »Paulus« oder »Emmeran«. Es war aber auch beides möglich: Mönchs- und Spitzname. So sprach man über einen äußerst beliebten und anständigen Pater als »Theoderich«, aber auch als »Theo« und »Fips«. Und der nicht bei allen beliebte Mathematikprofessor Pater Johannes wurde als »Jo« (Oscho gesprochen) bezeichnet. Für Pater Veremund, unter dem einige zu leiden hatten, hatte man den Namen »Vetschi« bereit, eine Bezeichnung, die an das Wort »Watsche« erinnert haben mag. Tatsächlich war dieser »Vetschi« ein Pädagoge, der gewaltige Ohrfeigen austeilen konnte – einige davon gab er mir zu spüren. Ein bei manchen Burschen äußerst beliebter Physikprofessor hatte den Spitznamen »Harry«, der sich auf einen mehrjährigen Amerikaaufenthalt dieses Paters bezog. Er war gegenüber gewissen »Freunderln« von penetranter Freundlichkeit. Grausam war er mit jenen, die sein Wohlwollen verloren hatten. Zu diesen Bedauernswerten gehörte ich. Auf allgemeinen Wunsch hin hatte ich ihm, dem Turnprofessor und meinen Klassenkollegen während eines Skikurses an einem gemütlichen Abend ein Lied vorgesungen, das ich einmal auf einer Skihütte gehört hatte. In diesem Lied wurden die Mädchen auf lockere Art besungen. Es hieß in dem Lied ungefähr so: »Ich ging einmal spazieren, um mich zu amüsieren. Da sah ich in der Ferne ein Mädchen stehn. Ich fragte sie bescheiden: Ach Fräulein, darf ich Sie begleiten … der Busen, den sie hatte, der war doch nur aus Watte, und jeden Tag ein neuer, der käme viel zu teuer.« Obwohl ich als unmusikalischer 80

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Mensch das Lied gänzlich unmelodisch von mir gegeben hatte, erhielt ich vor allem von meinen Klassenfreunden kräftigen Applaus. Auch Harry, unser Physikprofessor, lächelte. Die Hinterlist dieses Lächelns erkannte ich erst, als er mich unmittelbar nach dem Skikurs so hart prüfte, dass ich ein »Nicht genügend« erhielt. Und auch im Zeugnis erhielt ich dann den »Pinsch«. Harry hatte die Meinung gewonnen, dass ich ein ganz und gar unmöglicher Schüler sei, der nicht nur frech und faul sei, sondern der auch ordinäre Lieder sang. Die Spitznamen zeigen, dass der Betreffende zumindest Beachtung findet, auch wenn man ihn nicht leiden mag. Dadurch, dass man Lehrern und Erziehern einen heiteren Spitznamen verpasste, stellt man sich gleichzeitig über ihn und belustigte sich über ihn.

Der Spitzname des Schülers Scherzhafte Kurzbezeichnungen gab es nicht nur für die Lehrer, sondern auch für die Schüler untereinander. Wie überall wurden Mitschüler mit zum Teil recht eigenartigen und witzigen Namen belegt, allerdings glaube ich, dass in einer Klosterschule, in der der Kontakt untereinander ein sehr intensiver ist, die Spitznamen viel mehr aussagen als in »gewöhnlichen« Schulen. Allerdings kommt nicht jeder in den Genuss eines solchen Scherznamens. Unauffällige Kollegen erhielten kaum einmal einen Spitznamen, während auffälligere mehrere Namen auf sich zogen. Diese Auffälligkeit konnte zum Beispiel in einem besonderen Charisma bestehen. So wurde in unserer Klasse der körperlich Größte, der auch im Alter uns etwas voraus war, in Anlehnung an den einäugigen Riesen, dem Odysseus mit seinen Gefährten sein einziges Auge ausgestochen hat, von uns »Polyphem« gerufen. Es mag sein, dass der Primus, der Klassenbeste, auf die Idee gekommen war, diesen liebenswürdigen Bauernsohn, Adolf Tragler hieß er und wurde später Missionar in Indien, derart zu benennen. Jedenfalls genoss Polyphem vor allem wegen seiner körperlichen Stärke in der Klasse und in der Abteilung höchstes Ansehen. Er war ein besonnener und stets 81

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freundlicher Bursche, der ganz und gar keine Ähnlichkeit mit dem menschenfressenden Riesen hatte. Aber die auffällige Körpergröße genügte als Anregung für diesen Spitznamen. Charisma hatte auch ein gewisser Franz Rammerstorfer, der ein wunderbarer Kamerad und ausgezeichneter Handballspieler war. Er wurde, aus welchen Gründen weiß ich nicht, bloß »Kores« genannt. Er führte neben seiner Existenz als der Franz Rammerstorfer noch die Existenz des Kores, und die war eine bedeutend andere. Mit dem Namen Kores verband sich für uns ein Bündel guter Eigenschaften: Kraft, Schlauheit, Kameradschaft und Intelligenz, denn immerhin gehörte er zu den Besten in der Klasse und war eine Koryphäe in Altgriechisch. Allerdings, dies sei hier eingefügt, war sein Lebensweg nach der Matura nicht der, den man sich von diesem gescheiten Mann erwünscht und erhofft hatte. Er studierte zwar Jus und schloss dieses Studium auch ab, aber er hatte kein besonderes Interesse an dieser für ihn langweiligen Wissenschaft und schon gar nicht an einem juristischen Beruf. Er kaufte sich ein Haus aus dem 15. Jahrhundert im Zentrum des Stiftsortes, wurde für eine Zeit Kellner in einem Sommerfrischeort im Salzkammergut und später schließlich eingestellt als Mitarbeiter in einem kleinen Betrieb, der Rinderhorn verarbeitete. Er arbeitete dort, weil er in der Nähe seines Hauses lag. Hin und wieder verrichtete er Dienste auch als Maurer. Als das Kloster und das Gymnasium für ein Jubiläum renoviert wurde, war er beim Bemalen der Außenmauern des Gymnasiums dabei. Mir wurde erzählt, dass Kores einmal in Maurerkleidung vor einem offenen Klassenfenster auf dem Gerüst arbeitete. Drinnen in der Klasse war gerade Unterricht in Griechisch. Er hörte zu, und als ein Schüler bei der Übersetzung einer Vokabel Schwierigkeiten hatte, soll er diesem vom Fenster aus die richtige Bedeutung zugerufen haben. Der Bursche sei erstaunt gewesen, dass ein unbekannter Maurer Altgriechisch beherrschte. Mit dem Spitznamen, dies wollte ich hier ausdrücken, konnte sich ein bestimmtes Charisma verbinden. Freundlich waren auch jene Spitznamen, die eine besondere Eigenschaft wie eine äußerliche Auffälligkeit, ein exquisites Interesse oder ein auffälliges Gehabe hervorhoben. Auf ein heiteres Aussehen deutete zum Beispiel der Spitzname 82

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›Jimmy‹ für meinen Freund Gerald Rollé hin. Jimmy war der Name eines Elefantenbabys, über das wir damals einen Zeichentrickfilm gesehen hatten und dessen lieblicher Blick uns an unseren Klassenfreund erinnerte. Der Spitzname »Popanz«, den Freund Helmuth Pöpperl trug, leitete sich von dessen Größe und Schwere ab. Er war eine stattliche Erscheinung und wäre gerne Schauspieler geworden. Einmal lasen wir im Deutschunterricht das Schillersche Theaterstück »Wilhelm Tell«. In einem Text, den Helmuth las, damals nannten wir ihn schon Popanz, hieß es: »Da hängt der Popanz an der Stange.« Damit war für uns klar, dass Popanz zu Recht so heiße. Sicherlich war uns der Spitzname Popanz auch darum angenehm, weil Helmuth im Familiennamen Pöpperl hieß, ein Name, der eigentlich gar nicht zu ihm, dem großen blonden Burschen, passte. Gut passte der Spitzname Knut zum Kurt Springer, dessen hagere Gestalt und rotblonden Haare an einen altnordischen Helden erinnerten. Seinem besonderen Interesse am intensiven Lesen von Büchern des beliebten Karl May verdankte mein Bett- und Sitznachbar Karl Gatterbauer seinen Spitznamen »Hadschi«. Er verbrachte einen Großteil des Tages mit der Lektüre der Karl-May-Romane. Er las während des Unterrichtes, soweit es möglich war, unter der Bank, beim Frühstück, heimlich während der Studierstunden und auch am Klosett seinen »Karl May«. Er bekam den stolzen Namen »Hadschi« nach dem Reisegefährten des Kara Ben Nemsi im Orient, »Hadschi Halef Omar«. Übrigens war es damals unser Stolz, sämtliche Namen des »Hadschi Halef Omar Ben Hadschi, Abul Abbas …« und so weiter auswendig herunterzusagen. Und besonders gut konnte dies Karl Gatterbauer, den wir daher zu Recht Hadschi nannten. »Düses« hieß ein anderer Bursche. Sein Name leitet sich von seinem Interesse an den Düsenflugzeugen ab. Eine andere Deutung verweist darauf, dass Erwin Vierhauser im Schlafsaal entsprechende Gerüche von sich gegeben habe. Andere Spitznamen waren nichts anderes als Verballhornungen oder heitere Abkürzungen des Familiennamens, wie zum Beispiel 83

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»Thales« für Thallinger, »Wittex« für Wittenberger, »Radlmoar« für Rathmaier, »Hiasi« für Hiesmayer, »Graves« für Grabner oder »Aiches« für Aichberger. Daneben gab es noch Spitznamen, die nichts anderes waren als irgendwelche Vornamen oder Abkürzungen von Vornamen, die eigentlich mit dem Namen des Betreffenden nichts zu tun hatten, wie Mucki, Jack und Mike. Amerikanische oder englische Namen waren wegen ihrer Internationalität spannend. Wolfgang Mayr hieß sogar »Liesl«. Er erzählte mir, diesen Namen habe er bei einem Schulausflug nach Altpernstein in der ersten Klasse erworben. Auf der Burg war irgendwo der Name Liesl Mayr von einer Besucherin eingeritzt worden. Jemand aus seiner Klasse sah dieses Graffito und sagte darauf zu ihm: »Liesl Mayr.« Seit damals hatte er diesen Namen. Auch sein Bruder Bruno, der viele Jahre nach ihm an das Gymnasium kam, hat diesen Namen und aus praktischen Gründen auch seine Konviktsnummer übernommen. Der durch den Spitznamen Ausgezeichnete konnte sicher sein, dass er den Freunden nicht unwichtig war, sondern dass man vielmehr Interesse an ihm bekundete. Der Spitzname, auch wenn er den Glücklichen zunächst beleidigen sollte, wie der des oben genannten »Düses«, hob ihn aus der Anonymität heraus, er verschaffte ihm eine gewisse Attraktivität. Ähnlich war es auch mit der Benennung durch den Vornamen, dies drückte eine gewisse Sympathie und Anerkennung aus, vor allem in den letzten Klassen. Wenn es hieß: »Der Anton hat auf der Schularbeit ein ›Nicht genügend‹«, so mag daraus freundschaftliches Mitgefühl gesprochen haben. Hieß es jedoch bloß: »Der Hofstötter hat ein ›Nicht genügend‹«, so konnte dies als Schadenfreude aufgefasst werden. Wurde jemand bloß mit dem Familiennamen angesprochen, so war dies mitunter als Zeichen der Degradierung, Missachtung und Antipathie zu deuten. Eine besondere Auszeichnung war es, wenn Professoren Burschen mit ihrem Vornamen oder ihrem Spitznamen ansprachen. Besonders verstanden sich darauf der Turnprofessor und der Physikprofessor, die auf diese Weise Schüler eng an sich zu binden verstanden. 84

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Feste Regeln gab es bei den Spitznamen nicht, vieles war auch ein Zufall, dennoch sagte die Benennung von Klassenkameraden durch Spitznamen und Vornamen einiges über ihre Stellung und Beliebtheit aus.

Scherze mit Mitschülern Die Scherze, die ich im Folgenden bespreche, unterscheiden sich von den schon erwähnten Infamien, bei denen Klassenkollegen regelrecht verspottet und erniedrigt werden. Auch bei den harmlosen Scherzen lacht man auf Kosten anderer, aber man degradiert sie nicht, man belustigt sich nur. Scherze dieser Art wurden von den Betroffenen hingenommen, um nicht als »Spaßverderber« dazustehen. Fühlte sich jemand durch einen solchen Scherz beleidigt und zeigte dies, wurde er zumeist zurechtgewiesen: »Bist du aber leicht angerührt!« Im Falle solcher gemäßigten Scherze hatte man als Betroffener vorsichtig zu reagieren, um das Ansehen bei den Freunden nicht zu verlieren. Diese Scherze konnte man auch nur wieder durch Scherze kontern. Offene Aggressionen wurden von den anderen übelgenommen, da, so hieß es dann, es sich ja »nur« um einen Scherz oder Witz gehandelt habe. Zu den harmlosen Scherzen gehörte es, dem Freund einen Kleiderbügel mit der Spitze nach oben unter das Leintuch ins Bett zu stecken. Legte sich nun dieser müde von des Tages Last hinein, machte er sogleich die schmerzliche Erfahrung mit dem verborgenen Scherzartikel. Lächelte er, ohne viel Aufhebens zu machen, konnte er vielleicht damit rechnen, in Zukunft nicht mehr belästigt zu werden. Regte er sich aber furchtbar auf und wurde zornig, lieferte er genau die Reaktion, die die anderen amüsierte, und wurde als dankbares Objekt registriert. Es gab aber auch Scherze, bei denen jemand mit heiteren Worten »gepflanzt« wurde, ohne dass Bosheit dahintersteckte. Diese Art der Neckereien wurde von den Betroffenen mit Heiterkeit aufgenommen, 85

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nämlich dann, wenn sie darin eine Form der Zuneigung und An­­ erkennung sahen. Sie fühlten sich geradezu geschmeichelt, wenn sie zum Ziel bestimmter Späße wurden. Ein freundlicher Spaß war zum Beispiel, jemandem die Schultasche oder ein anderes wichtiges Utensil zu verstecken, um es ihm dann doch zu geben, oder jemandem die Ärmel seines Nachthemdes zuzubinden. Oder man belustigte sich blödelnd beim Biertisch über den Freund, wobei ihm das Gefühl blieb, geachtet und beliebt zu sein. Diese Art des Blödelns hielt sich bei manchen früheren Klassenfreunden nach der Matura noch viele Jahre lang.

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VIII. Die barocke Welt des Konvikts

Grosse Räume Das Konvikt war die Heimstätte für den Klosterschüler schlechthin, denn im Konvikt verbrachte er den größten Teil des Jahres in engem Kontakt zu Kollegen und Patres. Allerdings war das Konvikt mit dem Gymnasium eng verflochten, wie oben schon festgehalten. Ein nicht unerheblicher Stress entstand, weil die Studenten mit den Patres, mit denen sie im Gymnasium zu tun hatten, auch im Konvikt belastet waren. Dadurch bestand zwischen beiden Anstalten eine enge Verbindung durch die personelle Einheit in der Betreuung. Aber es gab auch zwei wesentliche Unterschiede zwischen Konvikt und Gymnasium. Erstens den baulichen. Das Konvikt war direkt im Klostertrakt untergebracht, in alten barocken Sälen und Gängen, die durch barocke schmiedeeiserne Gitter von anderen Bereichen des Klosters abgegrenzt waren. So befand sich hinter dem Gitter der letzten Abteilung der prunkvolle Kaisersaal, der Renommiersaal des Stiftes, in dem feierliche Veranstaltungen stattfanden. Das Gebäude des Gymnasiums dagegen ist viel jüngeren Datums als das Konvikt, es ist ein historistischer Bau aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Der zweite Unterschied zum Konvikt bestand darin, dass das Gymnasium immer nur für die Schulstunden aufgesucht wurde. Die echte Heimat des Studenten war das Konvikt. Barock waren seine Gänge und Räume, wie die heilige Ordnung, die hier herrschte. Im Sinne dieser Ordnung war es, dass der Konviktsdirektor wie ein souveräner Herrscher von einem prachtvollen Zimmer aus das Konvikt regierte. Die Studenten waren seinen Befehlen unterworfen und hatten so gut wie keine Chance, sich gegen gewisse Kühnheiten seinerseits zu wehren. Die Vertreter des Direktors in den einzelnen Abteilungen 87

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waren die Präfekten, die ebenso beinahe unbeschränkt, schließlich waren sie die Vertreter der Eltern, in ihren Bereichen herrschten. In dieser barocken Atmosphäre mit ihren Zimmerfluchten und mit ihrer Hierarchie, der klaren Ordnung, in der die geistliche Autorität beinahe die Stufe der Heiligkeit erreichte, lebten und studierten die Klosterschüler. Auf den jungen Studenten wirkte das Konvikt von seinen Räumlichkeiten her nicht gerade anheimelnd, denn von der Architektur her unterschieden sich die Räumlichkeiten des Konvikts wesentlich von den elterlichen Wohnungen, aus denen die Burschen kamen. Man gewöhnte sich bald an die großen und hohen Räume und langen, großzügigen Gänge, die zum Paradieren einluden, aber dennoch bot das Konvikt dem jungen Studenten keine Welt der Gemütlichkeit und der stillen Freude. Es bot aber etwas anderes: In der Architektur des Konviktes lebte Geschichte, dies fühlte man schon als Erstklassler. In diesem prächtigen Umfeld des alten Klosters konnte sich das Denken in geschichtlichen Zusammenhängen entwickeln, das mir als Autor in späteren Jahren sehr nützen sollte. Ein früherer Klosterschüler bestätigte meine Erfahrung: »Ich habe im Konvikt, im Kloster, sehr viel historisches Bewusstsein gelernt, ohne dass ich Einzelheiten weiß. Auch, was den Umgang mit alten Dingen anbelangt. Ich halte heute noch alle Leute, die Biedermeiermöbel haben und stolz darauf sind, für lächerlich. Denn unsere Präfekten haben Barockmöbel gehabt. Das war für sie selbstverständlich. Wie ich zu studieren begonnen habe, habe ich mir gedacht, da brauche ich sicherlich einen Codex juris civilis. Wo bekommst du so etwas her? So ein Buch kostet viel Geld. Ich überlegte, dass man im Kloster ein solches vielleicht haben werde. Da bin ich in den Ferien zum Kloster gefahren und habe zum Pater B., der für die Bibliothek zuständig ist, gesagt, ich brauche einen Codex juris civilis. Kannst du haben, hat er gesagt. Er ist mit mir in das Depot gegangen und hat mir einen Codex aus dem 17. Jahrhundert, in Schweinsleder gebunden, gegeben. Und er fügte hinzu: ›Wenn du ihn nicht mehr brauchst, bringst du ihn mir wieder.‹ Es war Vertrauen da. Nicht einmal eine Unterschrift 88

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musste ich leisten. Es war selbstverständlich.« Und speziell zu der Weitläufigkeit des Konviktes meinte mein Freund: »An etwas erinnere ich mich genau aus meinem ersten Jahr. Wir haben im Einfamilienhaus meiner Oma gewohnt. Die war eine ungemein fleißige Frau, die hat, obwohl ihr Mann gefallen war, sich ein Einfamilienhaus gebaut. Sie hat ihr Leben lang Schulden gehabt. Der Abgang zum Keller bei der Küche, wo wir als Kinder gespielt haben, ist mir immer als großer Platz vorgekommen. Und dann war ich im Kloster in diesen riesengroßen Räumen. Wie ich zu Allerheiligen heimgekommen bin, habe ich geglaubt, mir fällt die Decke auf den Kopf. Jahrelang war das so, dass ich mich an das kleine Häusl erst wieder gewöhnen habe müssen.« In dieser klösterlichen Welt mit den hohen Sälen verbrachten die Burschen die meiste Zeit des Jahres. Nach Hause zum elterlichen Herd fahren, wie schon angedeutet, durften die Schüler nur zu Allerheiligen, zu Weihnachten, zu Ostern, zu Pfingsten und schließlich zu den großen Ferien. Das Konvikt bot den Rahmen und die Grundlage für das Leben im Kloster und die Arbeit im Gymnasium. Besonders für die Burschen aus den unteren Klassen bedeutete die erste Zeit harte Bewährung, denn man war den Eltern entzogen, obwohl man sie noch gebraucht hätte, und musste lernen, ohne familiären Schutz zu überleben. Das Konvikt bestand aus Abteilungen, die sich im Wesentlichen alle ähnelten. Die Anzahl der Abteilungen variierten entsprechend der Zahl der Zöglinge im Laufe der Zeit. Einmal gab es sieben, dann wieder sechs und schließlich fünf Abteilungen, so war es, wie ich das Konvikt besucht habe. Jeder Abteilung stand ein Präfekt vor. Sie verfügte über einen großen Studiersaal, einen großen Schlafsaal, einen Waschraum und Toiletten. Untergebracht waren diese Räume an einem langen, großzügigen Gang, wie er typisch für barocke Repräsentativbauten ist. Die Studierräume waren in den unteren Klassen auch gleichzeitig die Aufenthaltsräume, in denen man vor allem im Winter auch die Freizeit verbrachte. In den beiden oberen Abteilungen gab es eigene Räume 89

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für die Freizeitgestaltung. Sie trugen den stolzen Namen »Rek«, abge­ leitet von »Recreatio«, was so viel wie »Erholung« heißt. Wie ich schon erzählt habe, erstreckten sich die Abteilungen des Konvikts an den inneren Stiftshöfen. Die erste Abteilung, in der Schüler der ersten Klasse untergebracht waren, lag im zweiten Stock im Trakt zwischen diesen beiden Höfen. An diese Abteilung schloss sich rechts der große Speisesaal an, er blickte hinunter in den kleineren Stiftshof. Und nach links um die Ecke lag die zweite Abteilung, welche einige wenige aus der ersten und mehrere aus der zweiten Klasse beherbergte. Darunter lag die dritte Abteilung, in der Burschen aus der zweiten Klasse wohnten. Im selben Stock, aber nicht durch einen Gang miteinander verbunden, befand sich die vierte Abteilung mit Schülern aus der dritten und auch vierten Klasse. Im Trakt an der gegenüberliegenden Seite des großen Stiftshofes waren im zweiten Stock die fünfte und im ersten Stock die sechste Abteilung zu finden. In der fünften Abteilung waren Burschen aus der fünften und sechsten Klasse, und in der letzten Abteilung waren Burschen aus der siebenten und achten Klasse untergebracht. Unterhalb der ersten Abteilung im ersten Stock war der »kleine Speisesaal« angesiedelt, im dem die Bewohner der vierten Abteilung zu Tische saßen.

Rituale der Ehrerbietung, die Anrede und das Grüssen In der Ehrerbietung, die man sich bezeigte, und in den Anreden, zeigten sich alte, barocke Formen der Höflichkeit. Diese barocke Ordnung mit ihren heiligen Personen, denen gegenüber man sich als Student höchst ehrerbietig zu benehmen hatte, gibt es heute nicht mehr. Ich habe sie in den Fünfzigerjahren noch er lebt. Ich lernte damals, dass die Patres nicht nur als unsere Lehrer und Präfekten, sondern als geistliche Leute, die für den Dienst Gottes geweiht sind, von unserer Seite allerhöchste Achtung zu genießen hatten und daher von uns stets zu grüßen waren. Es war uns selbst90

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verständlich, dass wir, wenn ein Pater den Studierraum betrat, sofort aufstanden und grüßten. Besonders wichtig nahm man das Grüßen. Es wurde uns aufgetragen, jeden Herrn, der geistliches Gewand trug, gleichgültig, ob wir ihn kannten, laut und deutlich in aller Höflichkeit zu grüßen. Wir lernten gewisse Rituale der Ehrerbietung, Rituale, die heute noch in mir wirken. Wenn ich einen Pater in der Ferne erblickte, nahm ich sofort innerlich eine würdige Haltung an. Irgendwie wurde mein Gang ein anderer, ein geraderer als sonst, und der Kopf ging in eine Art Abwartehaltung über, die so lange dauerte, bis der Pater nur mehr einige Schritte von mir entfernt war. Dann erfolgte die Verneigung, wobei der Kopf mit dem Oberkörper nach vorne gebogen wurde. Dazu rief ich ein verständliches und unterwürfiges »Grüß Gott, Herr Professor«, wenn der Pater ein Lehrer am Gymnasium war, oder »Grüß Gott, Pater Edmund«, wenn er dies nicht war. Bemerkenswert ist dabei übrigens, dass die bloße Anrede mit »Herr Professor« ohne Vor- oder Familienname immer passte. Die Verbindung von »Herr Professor« mit dem Familiennamen des Paters war nicht üblich und auch nicht im Sinne des Klosterlebens, denn Mönche wurden im Kloster grundsätzlich nur mit ihrem Ordensnamen, der nach einem Heiligen gebildet war, angesprochen, wie »Pater Emmeran« oder »Pater Paulus«. So stand es auch an ihren Zellen, oder besser: Zimmern, im Konvent des Klosters. Wir sagten aber fast zu jedem Geistlichen, mit dem wir es im Gymnasium und im Konvikt zu tun hatten, Professor. Dies war einfach und schmeichelhaft. Und uns war es egal. Durfte man einen Pater begleiten, hatte man stets an dessen linker Seite zu gehen, denn derjenige, der rechts geht, ist der Würdigere. Darauf wurden wir schon sehr früh vom Präfekten aufmerksam gemacht. Mir gingen diese Regeln derart in Fleisch und Blut über, dass ich heute noch jeden an meiner rechten Seite gehen lasse. Wir lernten, dass wir im Gegensatz zu allen anderen eigentlich die weniger würdigen Personen seien, die prinzipiell links zu gehen haben. Zu den Ritualen der Höflichkeit gehörte auch, dass wir, wenn wir einen Pater grüßten oder mit ihm redeten, die Hände keinesfalls in der Hosentasche belassen durften. Hatte jemand gerade seine Hände 91

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in den Hosentaschen, vielleicht weil ihm kalt war, musste er diese beim Anblick eines Paters sofort aus diesen entfernen, um nicht dessen Unwillen zu erregen. Zur ehrerbietigen Haltung gehörte auch, dass man die Hände frei sichtbar bewegte und sie nicht versteckte. Auch darauf achteten die Patres. Auch Pünktlichkeit musste gelernt werden. Die Patres waren in dieser selbst das beste Beispiel. Pünktlichkeit war das Symbol der Höflichkeit schlechthin. Ein Altkremsmünsterer meinte einmal zu mir, viele ehemalige Klosterschüler hätten darum beruflich Erfolg gehabt, weil sie gelernt hatten, pünktlich zu sein. Diesen Ritualen der Ehrerbietung entsprach auch eine Pflicht auf der Seite des Gewürdigten. Obwohl grundsätzlich der Schüler oder der Zögling nur wenig Möglichkeiten hatte, ein freundliches Verhalten ihm gegenüber zu verlangen, durfte er erwarten, dass der von ihm geehrte Pater zumindest seinen Gruß in aller Freundlichkeit erwidere. Und die Patres waren auch meist freundlich. Sie konnten aber sehr böse reagieren, wenn man sie nicht grüßte. Das gegenseitige Grüßen war ein wesentlicher Bestandteil des Lebens im Kloster, auch unter den Kommilitonen. Hier bestand eine Art Grußpflicht für die jüngeren gegenüber den älteren Kollegen. Es konnte schon vorkommen, dass ein Bursch aus einer oberen Klasse einem Jüngeren eine Ohrfeige verabreichte, wenn dieser grußlos an ihm vorüberging. Nicht zu grüßen konnte als Beleidigung aufgefasst werden. Sinn dieser Kultur des Grüßens war es, dass die gemeinsam im Kloster Lebenden sich gegenseitig akzeptierten. Es war demnach durchaus als persönliche Aner­ kennung aufzufassen, wenn ein Pater einem jungen Studenten hutschwenkend, sich höflich lächelnd verneigend oder ähnlich auf seinen Gruß antwortete. Jedenfalls grüßte man. Bemerkenswert waren die Formen der Anrede gegenüber den Studenten. Die Burschen der ersten Klassen wurden von den Patres mit ihrem Familiennamen angesprochen. Es hieß da zum Beispiel: »Springer, hast du etwas gelernt?« Oder: »Hofstötter, komm her, wo warst du am Nachmittag?« Oder: »Thallinger, ich muss dir leider deswegen eine Ohrfeige geben, die hast du dir verdient«, oder: »Pointner, du 92

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machst mir große Freude mit deinen Lateinkenntnissen.« Oder: »Du, Girtler, bist ein besonderer Depp.« Anreden dieser Art entsprachen der Über- und Unterordnung von Patres und Studenten. In späteren Klassen konnte es sein, dass einige Patres oder Professoren ein besonders enges Verhältnis zu Schülern hatten und sie daher mit ihrem Vornamen ansprachen. Dies tat zum Beispiel der Philosophieprofessor Pater Albert, der auch unser Griechischprofessor war. Dieser sprach, wenn er gut aufgelegt war, seine Schützlinge mit ihrem Vornamen oder mit ihrem Spitznamen an. Das klang dann so: »Gerald, wie schön, dass du dich über Aristoteles so gut vorbereitet hast.« Oder: »Was macht denn unser Franzi heute?« Die Patres waren durchwegs freundliche Leute, sie wussten aber auch, dass sich kaum jemand gegen ihre etwaigen Unhöflichkeiten zur Wehr setzen würde. Man hätte auch keine Chance gegen sie gehabt. Mit dem Eintritt des Studenten in das Obergymnasium änderte sich sein Status, er wurde als junger Erwachsener begriffen, dies zeigte sich traditionell darin, dass er ab nun mit »Sie« angesprochen wurde. Doch in den Zeiten nach dem Krieg ging man allmählich davon ab. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren gab es noch eine Reihe von Patres, die die Studenten der oberen Klassen mit »Sie« ansprachen, wie die Professoren aus Deutsch, Latein und Griechisch und der Konviktsdirektor. Die Verwendung des »Sie« im Umgang mit Studenten hatte eine doppelte Bedeutung. Zum einen wurde der Student damit als reifer Bürger anerkannt, von dem man erwarten könne, er werde sich benehmen. Mit dem »Sie« verband sich die Hoffnung, der Angesprochene werde sich dessen für würdig erweisen. In dieser Richtung sind jene Sätze, die Wolfgang Mayr gesammelt hat, zu verstehen. So meinte der Lateinprofessor zu einem Schüler, der bei der mündlichen Prüfung in seiner Hosentasche ergebnislos nach einer Übersetzungshilfe suchte: »Seien Sie nicht nervös. Wenn Sie etwas gelernt haben, brauchen Sie nicht nervös zu sein. Geben Sie die Hand aus der Hosentasche.« Oder zu der ganzen Klasse sagte derselbe: »Da ich bemerke, dass Ihr Désintéressement stark in den Vordergrund getreten ist, bitte ich 93

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Sie alle, für jede Stunde 20 Zeilen vorzubereiten.« Durch die Anrede mit »Sie« konnte man dem Studenten auch anzeigen, dass man auf Distanz zu ihm geht, während im ersten Fall man dem mit »Sie« Geehrten eine gewisse Anerkennung entgegenbringt. Das Ansprechen mit »Sie« konnte nicht immer als Kompliment aufgefasst werden. Es konnte auch das Gegenteil ausdrücken. So meinte der Lateinprofessor zu einem Studenten, der sich über die Liebesbeziehung von Dido und Aeneas belustigt hatte: »S., ich schmeiße Sie hinaus, lachen Sie nicht über so traurige Angelegenheiten.« Ich erinnere mich, dass der Konviktsdirektor bei einer Speisesaalaufsicht einen Studenten aus der siebenten Klasse beschimpft hat, weil er irgendeinen Blödsinn gemacht hatte, vielleicht hatte er während des Gebetes getratscht: »Sie Lausbub, Sie! Was fällt Ihnen ein …« Und einen anderen schrie er so zusammen: »Sie Hosenpumperer! So etwas wie Sie habe ich noch nicht erlebt.« Die Rede hält sich nicht immer im Rahmen der Höflichkeit, wenn ein Pater einen Studenten mit der Höflichkeitsform ansprach. Für den jungen Studenten mit fünfzehn Jahren hatte die Ansprache mit »Sie«, egal, wie sie gemeint war, immer etwas Schmeichelhaftes, denn sie gaukelte ihm vor, er würde als Erwachsener behandelt. Mit »Du« wurden wir weiterhin von jenen Patres angesprochen, die uns bereits ab den ersten Klassen unterrichtet hatten, und jenen, die bewusst einen freundschaftlich-väterlichen Kontakt zu uns suchten, wie die meisten der Präfekten. Der Naturgeschichtsprofessor fiel als Einziger aus dem Rahmen. Er verwendete weder »Du« noch »Sie«, sondern sprach uns im Stile mittelalterlicher Grundherren an, die so die Distanz zu unwürdigen Bauern zeigen wollten, nämlich mit »Er«. Das klang dann ungefähr so. »Er komme heraus an die Tafel!« Oder: »Er weiß einen Dreck.« Zu meinem Bruder, der damals in der achten Klasse war, er war zwei Jahre nach mir, sagte er einmal: »Als sein Bruder [ich] die Schule verlassen hat, habe ich das Tedeum gebetet. Wenn Er die Schule verlassen wird, werde ich es auch beten.« Diesem Pater, einem hageren Gesellen, machte es offensichtlich Freude, uns mit derartigen Sprüchen zu 94

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ärgern. Er schien sich an unserem Entsetzen zu weiden. Aber im Kern dürfte er kein schlechter Mensch gewesen sein. Ich erinnere mich nicht, dass er irgendjemanden hat durchfallen lassen. Die alte Welt der Klosterschule schien, was die Rituale der Ehrer­ bietung und der Anreden anbelangte, geradezu von barocker Dimension.

Kleidung: Verhüllung des nackten Fleisches und Mode Zur alten Kultur der Klosterschule gehörte auch eine beinahe barocke Kleiderordnung. Der Zögling sollte sich möglichst sorgfältig und den sogenannten »guten Sitten« entsprechend kleiden. Eine einheitliche Schultracht, wie sie in England zum Beispiel üblich ist, gab es nicht. Eine solche, an militärische Vorbilder erinnernde Schultracht würde zwar einer modischen Kleiderkonkurrenz zwischen den Schülern vorbeugen, würde aber auch gegen deren Individualität gerichtet sein. Es mag sein, dass dieser Gedanke die Patres schon früher bewegte und sie abgehalten hat, den Schülern so etwas wie eine einheitliche Ordenskleidung aufzuzwingen. Es genügte, dass sie selbst, die sich für immer dem Kloster verbunden hatten, durch ihre Mönchskutten als Jünger des heiligen Benedikt zu erkennen waren. Auch wenn es keine Schuluniform gab, trugen die Schüler doch zumindest bis zum Krieg eine Studentenmütze. In Kremsmünster bestand diese aus purpurnem Samt im Oberteil, daran schlossen die Farben Grün-Weiß als die Kremsmünsterer Farben, der Schirm war schwarz. Diese Studentenmütze wurde nur kurzzeitig in den Sechzigerjahren wieder eingeführt. In der Musikkapelle der Studenten wurde sie weiterhin getragen – als Tracht der Blasmusik. Bemerkenswert und schon vergessen ist übrigens, dass zu Beginn der Fünfzigerjahre wahrscheinlich nach amerikanischem Vorbild – ich glaube nur in den unteren Klassen – eine Art Käppi, wie sie Bischöfe und auch Rabbiner verwenden, getragen wurde. Jede Klasse hatte ihre speziellen Farben für diese Käppis. Unsere Klasse hatte blaue Käppis mit vier gelben Längsstreifen. Die Klasse über uns hatte rote Kapperln. 95

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Aufgrund dieser eigenartigen, für die Kremsmünsterer Klostertradition ganz und gar nicht typischen Kopfbedeckung konnte man deren Träger symbolisch den einzelnen Klassen zuordnen. Diese Käppis wurden auch mit einigem Stolz getragen, um so zum Beispiel zu dokumentieren, dass man schon der zweiten Gymnasialklasse angehöre und nicht mehr der ersten. Größter Wert wurde auf gepflegte und den »Sitten gemäße« Kleidung gelegt. Noch in der Nachkriegszeit war es nicht ungewöhnlich für einen Schüler, zu Jacke und Hemd eine Krawatte zu tragen. So boten die Schüler einen noblen Eindruck, durch den sie von dem gewöhnlichen Volk der Bauern und Vagabunden unterschieden waren. Es scheint, dass erst gegen Ende der Fünfzigerjahre allmählich eine lockerere und freiere Kleidermode aufkam, zu der Pullover und offene Hemden und Jeans gehörten, die bis dahin verpönt gewesen waren. Die alten Patres stellten sich nicht so schnell um. Es war noch lange unvorstellbar, leicht und offenherzig bekleidete Schüler zu sehen, denn der Schüler des Gymnasiums musste als solcher erkennbar sein. Diese Vorstellung entspricht auch der Tradition der alten englischen Internate, in denen die Zöglinge vornehme Anzüge tragen, durch die sie sich vom »ordinären« Volk abheben. In diesem Sinn verstehen sich auch die Worte eines Paters, die wir uns aufgeschrieben haben: »In der Schule könnts ihr nichts […] ihr kommts daher wie die Fleischhackerburschen. Benehmen habt ihr keines, muss ich sagen.« Er meinte damit, dass die Kleidung mancher Schüler an Handwerksburschen erinnerte. Besonders verpönt war es, nackte Haut zu zeigen. Zu mir meinte dieser Pater einmal, als er mich einmal in der Schule mit offenem Hemdkragen sitzen sah. »So viel nacktes Fleisch, schämst du dich gar nicht?!« Da wir ihn in Latein als Lehrer hatten, befürchtete ich Sanktionen und bemühte mich, zumindest eine Zeit lang, um eine »ordentliche« Kleidung. Meine Mutter schickte mir ein paar Krawatten, die ich dann auch zu jedem Hemd, auch zu einem gelben, mit braunen Streifen versehenen dicken wollenen Skihemd, trug, in der Hoffung, dadurch das Wohlwollen des Herrn Professors zu erreichen. 96

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Der offene Kragen war für die alten Herren Patres tatsächlich ein Problem. Schließlich gehörte auch zur benediktinischen Tracht der geschlossene Kragen als Abschluss dieser schwarzen, den gesamten Körper von den Schuhen weg umhüllenden Kutte. Diese Kutte, die nur den Kopf und die Hände als Beweise der Fleischlichkeit des menschlichen Körpers freiließ, schmeichelte den Gestalten mancher Patres, da sie eine beginnende Korpulenz gut kaschierten. Große, nicht mehr zu verbergende Bäuche zeichnete die benediktinische Ordenstracht wohlwollend ab. Den Schülern war auch während der warmen Monate verboten, zu kurzen Leder- und Stoffhosen Socken zu tragen. Wer kurze Hosen trug, sollte doch im Sinne der Sittlichkeit möglichst wenig Haut zeigen. Die Hosen hatten daher bis zum Knie zu reichen, und nach einem kurzen Stück Haut sollten lange bis knapp unter das Knie reichende Stutzen oder Kniestrümpfe die Waden verhüllen. Die Patres achteten darauf sehr. Wurde jemand mit kurzen Hosen und Socken erwischt, hatte der Sünder mit Hausarrest oder einer ähnlichen Strafe zu rechnen. Deswegen wagte kaum jemand, durch Tragen von Socken anstelle von Kniestrümpfen die Geduld gütiger Patres auf die Probe zu stellen. Hielt es jemand an heißen Tagen nicht mehr mit Kniestrümpfen aus, musste er sehr vorsichtig sein. Das Sockentragen konnte auch rebellisch gemeint sein. Besonders die Spaziergänge an den freien Tagen in den oberen Klassen ermunterten einige waghalsige Kollegen, nach dem Verlassen des Klosters an einem gemütlichen Plätzchen die Stutzen gegen die Socken zu wechseln. Kamen die Mauern des Klosters wieder in Sicht, musste er sich die Zeit nehmen, um seine Beinkleider – im wahrsten Sinne des Wortes – wiederum zu vertauschen. Einmal, wie ich mich erinnere, hatte ein Bursche, er dürfte damals in die fünfte Klasse gegangen sein, die Kühnheit, in kurzen Hosen und mit Socken angetan im Speisesaal zum gemeinsamen Abendessen zu erscheinen. Im Speisesaal standen die Tische in langen Reihen. Der Pater, der die Aufsicht führte, im großen Speisesaal war es der Konviktsdirektor höchstpersönlich, ging, während die Burschen aßen, zwischen den Reihen auf und ab. Allerdings mar97

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schierte er nur zwischen den Reihen, die weit auseinander standen, wie die von der einen Tür zur anderen stehenden. Jeder Zögling hatte je nach Klasse seinen festen Platz im Speisesaal. Nach dieser Sitzordnung saß der junge Herr mit den Socken und den nackten Waden auf der Seite des Tisches, an der der Pater auf und ab spazierte. Während des Sitzens, ich beobachtete dies damals genau, dürfte dem Sockenträger doch bewusst geworden sein, dass er sich in großer Gefahr befand, denn dem spazierenden Pater würde über kurz oder lang doch auffallen, dass da einer die Frechheit besaß, in Socken zum Essen zu erscheinen. Der Bursche bat daher seinen ihm gegenübersitzenden Kollegen, mit ihm die Socken gegen dessen Stutzen zu tauschen. Dieser willigte ein, und es fand ein aufregender Wechsel der Beinbekleidung zwischen den beiden Freunden statt. Behutsam und zu einem Zeitpunkt, zu dem der Pater gerade zwischen anderen Reihen wandelte und darauf achtete, dass niemand sich ungebührlich verhalte, zog nun der am Gang sitzende Bursche jeweils einen Socken aus und einen Stutzen an, den ihm der Freund unter dem Tisch gereicht hatte. Socken und Stutzen wechselten ihre Besitzer. Die Nachbarn des kühnen Sockenträgers passten auf, dass diese Umtauschaktion auch problemlos funktioniere. Sie ließen den beiden mit dem Aus- und Anziehen Beschäftigten wichtige Meldungen zukommen, wie, dass der Pater herblicke oder dass man hinsichtlich einer Entdeckung nichts zu befürchten habe. Rebellenhaftes Handeln, zu dem zweifellos das Sockentragen gehörte, bedurfte auch der Kameradschaft, um in diesem System zu überleben. Gerade in Klosterschulen ist Kleidung ein wichtiges Symbol der Disziplin und Ordentlichkeit. Auf Kleidung achteten die Schüler auch aus eigenem Antrieb, vor allem in den oberen Klassen, denn durch eine modische Kleidung konnte man den Kommilitonen in den oberen Klassen zeigen, dass man aus begütertem Elternhaus stamme und über ein modisches Bewusstsein verfüge. Schließlich war es auch im Sinn der Eltern, gut angezogene Söhne zu haben, für die man sich nicht genieren müsse. Die EItern kümmerten sich daher auch um die Kleidung. Vor allem 98

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die Eltem der jüngeren Schüler besorgten die Kleidung, ohne dass dies die jungen Burschen viel kümmerte. Später wurde es wichtig, Einfluss auf den Kauf von Kleidungsstücken zu nehmen, um im Kreis der Klassenfreunde glänzen zu können. Burschen, die aus den Städten kamen, wie Linz und Salzburg, waren dabei im Vorteil, da sie andere Beziehungen zur modischen Welt hatten als Leute vom Land. Gerade für die Burschen vom Land wiederholte sich der jährliche Kleiderkauf zu Beginn des Schuljahres wie ein Ritual. Meine Eltern fuhren mit uns Buben jedes Jahr ungefähr zwei Wochen vor Schulbeginn nach Linz, wo wir ein Kleiderhaus im Stadtzentrum aufsuchten. Es existiert heute nicht mehr, es hieß Kralka. Wir erhielten Hose, Rock, wenn es notwendig war, auch einen Anzug. Wir waren mächtig stolz auf unsere neuen Kleider, um die uns die Kollegen beneiden konnten. Übrigens: Mein erster schöner Anzug wurde mir vom Dorfschneider angemessen und geschneidert. Dieses Stück mag von gewisser Eleganz gewesen sein, war aber nicht gerade der letzte Schrei. Dieser Anzug bestand aus einem grauen Rock, der hinten eine große Falte und eine Art Halbgürtel besaß, und einer Knickerbocker, die damals am Beginn der Fünzigerjahre bereits zu altmodisch für einen noblen Anzug, einen Sonntagsanzug, erschien. Die anderen in meiner Klasse trugen bereits die normalen langen Hosen. Besonders wohl fühlte ich mich nicht in meinem Anzug. Ich war heilfroh, dass meine späteren Anzüge beim Kralka in Linz gekauft wurden. Damals unterschied man noch zwischen Sonntagsanzug und Alltagsgewand. Der Sonntagsanzug war jener Anzug, in dem man sich an den Feiertagen als nobler Herr präsentierte. Ein solcher feiner Anzug wurde meist so gekauft, dass man »hineinwachsen« könne, meist um eine Nummer größer. Dieses feierliche Gewand begleitete den Studenten von der ersten feierlichen Messe am Schulanfang bis hin zur Matura. Vor der Matura wurde schließlich ein feiner schwarzer Anzug, der sogenannte Maturaanzug, gekauft. In diesem legte man die mündliche Matura ab und ließ sich in ihm samt Zylinder mit den Klassenfreunden fotografieren. Darauf wird unten noch näher einzugehen sein. Dieser geradezu rituelle Anzug wurde später meist auch 99

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an der Universität für die großen Prüfungen, die Promotion und schließlich die Hochzeit eingesetzt. Vielleicht gibt es auch Männer, die im Maturaanzug begraben wurden. Feierliche Kleidung war auch zu den klösterlichen Festtagen geboten. Eine besondere Bedeutung hatte damals die kunstvoll gebundene Krawatte, wobei bei den Modebewussten nicht der gewöhnliche, einmal gebundene Krawattenknopf den Vorzug genoss, sondern der dreieckige amerikanische, der allerdings nicht leicht zu binden war. Ich entwickelte mich zum Spezialisten im Binden dieses amerikanischen Knopfes. Dies brachte mir zumindest bei einem Kollegen, wenn ich mich recht erinnere, einiges Ansehen. Dieser, er war auf seine Schönheit besonders bedacht, bat mich regelmäßig um das Binden des Knopfes. Ich kam seinem Wunsch gerne entgegen. Ich verweigerte ihm das Binden der Krawatte dann, wenn ich mich von ihm beschimpft oder sonst degradiert sah. Ich erzwang mir so seine Freundlichkeit. Ein besonderer Augenmerk galt auch den Schuhen. Damals, um die Mitte der Fünfzigerjahre, waren die vorne sehr spitzen italienischen Schuhe modern. Daher bildete man sich auch etwas darauf ein, solche Schuhe zu besitzen und mit ihnen unter die Leute zu gehen. Für Spaziergänge in der Umgebung des Klosters wurden festere Schuhe vorgezogen. Um diese Schuhe kümmerten im Konvikt des Stiftes sich freundliche Frauen, die Bedienerinnen, die man oft auch despektierlich als Putzfrauen bezeichnete. Am Spätnachmittag, wenn wir von den Spaziergängen oder aus dem Gymnasium nach Hause gekommen waren, reinigten und polierten sie unsere Schuhe. Gegen Ende der Sechzigerjahre kam ein Präfekt allerdings auf die Idee, die Zöglinge sollten doch selbst ihre Schuhe putzen. So geschah es auch. Damit begann symbolisch ein Abgehen von alten Traditionen der Klosterschule. Sonntags besuchten wir im besten Anzug die Messe, auch beim Studium während des Vormittages ließ man das Sonntagsgewand an. Erst nach dem Mittagsmahl vertauschten wir die Kleidung gegen eine mehr legere. An Sonntagnachmittagen beliebten wir übrigens auch mit gutem 100

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Rock, guter Hose und Krawatte den Markt aufzusuchen, vielleicht auch auf der Suche nach freundlichen Mädchenaugen. Zum guten Aussehen gehörte auch eine prächtige Frisur. Manche Studenten konnte lange Zeit vor dem Spiegel stehen, um sich das Haar kunstvoll zu frisieren. Beliebt waren damals übrigens Frisuren, bei denen der Hinterkopf nicht nach preußischer Art geschoren war, sondern an dem weit hinunter bis zum Übergang zum Genick man das Haar dick wachsen ließ. Man sprach da vom »Packl«, das man am Kopf hinten habe. Dieses »Packl« wurde schließlich vom Friseur noch ausrasiert. Die Haare dieses Packls wurden hinten schließlich in Form eines Schwalbenschwanzes frisiert. Und vorne liebten einige eine mit Brillantine gefestigte Locke im Stile von Elvis Presley und Bill Haley, den Rockhelden der Fünfzigerjahre. Der Anblick dieser Frisuren war für die damalige Zeit neu und für den braven Bürger auch verwunderlich. Und weil diese Frisuren etwas Rebellisches an sich hatten, hatten sie auch einen gewissen Reiz für einige Burschen. Ähnlich rebellisch wirkten auch die Jeans, jene aus Amerika nach Europa gelangten Hosen, die bereits in einzelnen Schlagern wie »Blue jeans boy and blue jeans baby« besungen wurden. Noch kann sich die alte Ordnung mit ihren Kleidervorstellungen halten, aber nicht mehr lange. In den Sechzigerjahren scheint der große Wandel auch auf dem Gebiet der Kleidung sich anzubahnen, ein Wandel, der sich darin zeigt, dass man den Studenten von der Kleidung her nicht mehr vom »Handwerksburschen«, wie der oben genannte Pater meinte, zu unterscheiden vermag.

Der Tagesablauf Alles hatte seine Zeit und seinen Ort in dieser alten klösterlichen Welt. Das Leben im Kloster war durch genau geregelte Abläufe bestimmt, ganz in der Tradition der alten Mönchsregeln und speziell der des heiligen Benedikt. Wer dem Kloster angehörte, auch der Kloster101

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schüler, wusste genau – oder er sollte es wissen –, wann und wo er was zu tun oder sich einzufinden habe. Ein präzises Wissen über die verschiedenen Termine der Ereignisse im Kloster war wichtig, um in der Klosterschule problemlos zu überleben. An den gewöhnlichen Wochentagen mussten die Burschen in aller Früh um sechs Uhr aus dem Bett. An den Donnerstagen, an denen nie Schule war, konnte man bis halb sieben Uhr schlafen und am Sonntag bis sieben Uhr. Vor allem die Sonntage genoss man wegen des längeren Schlafens. Und darauf freute man sich besonders. Der typische Tagesablauf während der Woche schaute so aus: 6 Uhr: Wecken und aufstehen 6 Uhr 20: Morgengebet Bis 7 Uhr 30: Besuch der Messe oder Studium 7 Uhr 30: Frühstück 7 Uhr 45: Gang zum Gymnasium 8 Uhr bis 11 Uhr 50: Unterricht 12 Uhr: Mittagessen 12 Uhr 30 bis 13 Uhr: Freizeit 13 Uhr bis 13 Uhr 45: Studium 14 Uhr bis 16 oder 17 Uhr: Unterricht 16 Uhr bis 16 Uhr 30 (in den unteren Klassen, sonst 17 Uhr): Freizeit, Jause 16 Uhr 30 oder 17 Uhr bis 18 Uhr: Studium 18 Uhr 05:
 Abendessen 18 Uhr bis 20 Uhr 15 oder
 20 Uhr 45 (obere Klassen): Freizeit, dann Abendgebet und Waschen Um 20 Uhr 30 oder 21 Uhr: Abdrehen des Lichtes im Schlafsaal Am Sonntag war der Tagesablauf so: 7 Uhr: Wecken 7 Uhr 30: Besuch der Messe in der Studentenkapelle 102

Die barocke Welt des Konvikts

8 Uhr 30: Frühstück Bis 9 Uhr 30: Freizeit 9 Uhr 30 bis 11 Uhr: 
 Studium
 11 Uhr bis 12 Uhr:
 Freizeit
 12 Uhr:
 Mittagessen
 12 Uhr 30 bis 13 Uhr:
 Freizeit 
 13 Uhr bis 14 Uhr:
 Studium 14 Uhr bis 16 oder 16 Uhr 30
 
 (obere Klassen): 
 Freizeit 
 16 Uhr oder 16 Uhr 30 bis 18 Uhr: Studium
 18 Uhr 05:
 Abendessen
 Weiter wie am Wochentag. Der freie Donnerstag verlief ähnlich, allerdings wurde schon um 6 Uhr 30 geweckt. 7 Uhr: Messe 7 Uhr 30: Frühstück ab 8 Uhr bis 11 Uhr: Freigegenstände und Turnen
 oder: 7 Uhr bis 9 Uhr: Freizeit 9 Uhr bis 11 Uhr: Studium Weiter sonst wie am Sonntag.


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IX. Der Schlafsaal und die Freude am Schlafen

Die alte klösterliche Tradition, die hierin der bäuerlichen ähnelte, verlangte ein frühes Aufsuchen des Nachtlagers sowie sehr zeitiges Aufstehen. Es hieß um halb neun Uhr für die unteren Abteilungen und um neun Uhr für die oberen, sich ins Bett zu legen und das Licht zu löschen. Die Schlafsäle, die man nach dem gemeinsamen Abendgebet und dem Besuch des Waschraumes aufsuchte, erinnerten an die kargen und asketischen soldatischen Unterkünfte in Kasernen. Sie entsprachen auch den ursprünglichen Regeln des heiligen Benedikt. In diesen Regeln ist noch vom gemeinsamen Nachtlager der Mönche in einem einzigen Raum, in dem die Mönche nebeneinander lagen, die Rede. Erwähnenswert ist übrigens, dass Benedikt verlangte, dass jeweils zwischen zwei jugendlichen Mönchen ein älterer Mönch schlafen möge. Vielleicht befürchtete Benedikt die Ungestümheit der Jugend, den Tratsch während der Bettruhe oder gar sexuelle Neckereien. Die Benediktiner in Kremsmünster nächtigten nicht mehr so. Sie verfügten über sehr nobel, fast aristokratisch eingerichtete Zellen. Das gemeinschaftliche Schlafen im Sinne des heiligen Benedikt überließen die frommen Mönche jedoch uns Studenten, die wir somit in der wahren benediktischen Tradition zu Bette lagen. Mit der Einschränkung, dass in den Schlafsälen der Abteilungen keine älteren Herren zwischen den jüngeren schliefen, wie es der heilige Benedikt verlangt hatte, sondern Gleichaltrige in schöner Eintracht nebeneinander nächtigten. Auf Eintracht und Disziplin im Schlafsaal achtete alleine der Herr Präfekt, der in Abständen immer wieder an der Schlafsaaltür lauschte. Lautes Verhalten wurde mit Strafen geahndet. Diese reichten von der Ohrfeige bis zum Hausarrest. 104

Der Schlafsaal und die Freude am Schlafen

In den meisten Abteilungen schloss der Schlafsaal direkt an den Studierraum an und war von diesem aus begehbar. In den beiden oberen Abteilungen war es allerdings nicht so, dort kam man vom Gang aus in die Schlafsäle. In den Schlafsälen standen die zwanzig bis dreißig und auch mehr eisernen oder hölzernen Betten, durch Nachtkästchen getrennt, nebeneinander in zwei Reihen. Heizung gab es keine in den Schlafsälen, was für die Abhärtung und überhaupt für die Gesundheit als förderlich gesehen wurde. Daher war gerade in den Wintermonaten der Wechsel des Gewandes mit dem Pyjama am Abend und umgekehrt in der Früh ein beinahe heroischer Akt, an den der Zögling sich aber bald gewöhnte. Dieses Ent- und Bekleiden war im Sinne der damaligen Vorstellung von der Sündhaftigkeit des Körpers eine sehr vorsichtige Angelegenheit. Man achtete sorgfältig darauf, die Pyjamahose über den unteren Teil des menschlichen Körpers zu ziehen, solange man noch das über einen gewissen Körperteil hinabreichende Hemd anhatte. Der brave Klosterschüler durfte nie vollkommen nackt sein, nicht einmal beim Duschen. Darauf wird noch einzugehen sein. Im Pyjama suchte man auch die Waschgelegenheit auf, über deren Eigenart ich etwas später noch erzähle. Manche abgehärtete Burschen entblößten dabei den Oberkörper. Man begnügte sich oft mit dem Waschen der Hände und mit schnellem Zähneputzen. In diesen Minuten vor dem Abdrehen des Lichtes flogen noch Scherzworte, Streitereien wurden ausgetragen, und hie und da wurden unbeobachtet vom Präfekten Ohrfeigen ausgeteilt oder Raufereien begonnen. Der Präfekt trieb zur Eile an. Und um halb neun oder neun Uhr drehte er das Licht ab. Nun sollte absolute Ruhe herrschen. Doch sie herrschte nicht immer, überhaupt wenn man sicher war, dass der Präfekt nicht lauschte und in seinem Zimmer blieb. Mit dem Nachbarn tratschte man. Den Nachbarn konnte man sich nicht selbst aussuchen, genauso wie im Studiersaal. Grundsätzlich lagen und saßen die Burschen nach dem Alphabet nebeneinander. So saß und lag ich Jahre hindurch neben Karl Gatterbauer, einem liebenswürdigen Freund, der aus Tamsweg in Salzburg stammte und als Sohn eines hohen Finanzbeamten in die 105

Die alte Klosterschule

Klosterschule gesteckt wurde. Ihm möchte ich hier besonders gedenken, da er mir ein guter Freund war, der mir beim Schwindeln half. Leider lebt er nicht mehr. Er mag von oben mit Lächeln ansehen, was ich hier schreibe. Mit diesem Karl Gatterbauer – den wir, wie oben schon beschrieben, Hadschi nannten, weil er gerne Karl-May-Bücher las – tratschte ich regelmäßig in den oberen Klassen meist so lange, bis uns vor Schlaf die Augen zufielen. Gegenstände zum Tratschen gab es genug. Besonders interessant waren Erzählungen über Kinofilme, die wir während der Ferien gesehen hatten, denn grundsätzlich war es ja dem Klosterschüler verboten, im Ort das Kino zu besuchen. Wir schilderten einander mit Begeisterung möglichst spannend diverse Wildwestfilme mit John Wayne, Burt Lancaster und Gary Cooper oder die üblichen heiteren Filme österreichischer Produktion mit Gunther Philipp und Peter Alexander. Es gab aber auch manchmal Streit, der vorsichtig ausgetragen wurde, um den Präfekten nicht aufmerksam zu machen. Ein beliebter Streit bezog sich auf das Offenhalten oder Schließen der Fenster. Während der Sommermonate hatten jene Burschen einen gewissen Vorteil, deren Betten an den Fenstern lagen, denn die Frühlings- und Sommerluft wurde als höchst angenehm im Schlafsaal empfunden. Anders war es allerdings im Winter, denn offene Fenster wurden wegen der oft beißenden Kälte zum großen Problem. Daraus entwickelten sich immer wieder Streitigkeiten. Die einen, die in irgendeiner Ecke fernab des Fensters ihr Bett hatten, litten unter den Ausdünstungen der anderen Schlafenden. Diese Unglücklichen verlangten nach offenen Fenstern. Die bei den Fenstern Liegenden wieder wollten geschlossene Fenster. Und die übrigen schlossen sich einmal diesen und dann wieder den anderen an. Bei diesen Streitereien fielen oft heitere Sätze. So riefen die einen vom Fenster den Gegnern der offenen Fenster zu: »Die Fenster bleiben geschlossen. Das ist auch besser so, denn erfroren sind schon viele, erstunken aber noch keiner.« Und die Burschen bei der Wand wieder antworteten zum Beispiel: »Das stimmt nicht, denn wenn die Fenster zu sind, werden wir da hinten vergast.« Manchmal konnte man sich vielleicht dahingehend einigen, dass die Fenster nur 106

Der Schlafsaal und die Freude am Schlafen

Abb. 7: Im Schlafsaal

einen Spalt offen gelassen wurden. Jedenfalls waren die Nächte während des Winters in den Schlafsälen oft eisig. Waschlappen, die Burschen nass an die Innenseite der Fenster gehängt hatten, waren am nächsten Tag steif gefroren. Unter der Tuchent war es, wenn sie dick genug war, wohlig warm. Um an keinem Körperteil zu frieren, musste man sich als Ganzer, auch mit dem Kopf, unter die Tuchent zurückziehen. In den oberen Klassen wussten manche diesem Rückzug unter die Tuchent dadurch noch einen besonderen Reiz abzugewinnen, dass sie mit der Taschenlampe spannende Bücher als Nachtlektüre genossen. Dabei musste die Tuchent so gelagert werden, dass kein Lichtstrahl nach außen gelangen konnte, der den im geheimen Lesenden dem Präfekten, falls er stichprobenmäßig plötzlich auftauchte, verraten hätte. Unter der Tuchent konnte man es sich fast wie in einem Zelt 107

Die alte Klosterschule

gemütlich machen und dabei Karl-May-Bücher lesen oder sich Illustrierte ansehen. Der Besitz solcher illustrierten Zeitungen, in denen bisweilen Filmschauspielerinnen wie Brigitte Bardot und Elizabeth Taylor leicht bekleidet abgebildet waren, war streng verboten. Unter der Bettdecke war Literatur dieser seichten Art ungestörter zu genießen als zum Beispiel im Studiersaal, wo jeden Moment der Herr Präfekt hinter einem stehen konnte. In dieser kleinen Welt unter der Tuchent war man, mit Taschenlampe und Buch versehen, endlich alleine. Das war höchst erholsam nach der Belastung des Tages. Dabei hatte man noch das Gefühl, ein verwegener Bursche, ein Rebell, zu sein. Ein Rebell, der sich ein Recht nimmt, eine kleine Freiheit. Man hatte den Präfekten und überhaupt das System des Klosters hineingelegt! Genauso war es auch in den oberen Klassen, als manche die Kühnheit aufbrachten, einen Kopfhörer mit in das Bett zu nehmen. Mit speziellen Kopfhörern konnte man, wenn man das Kabel in eines der beiden Löcher in den Steckdosen, die es in jedem Schlafsaal gab, verfrachtete, ein Programm des Österreichischen Rundfunks hören. Mit einem Detektor war es möglich, mehrere Programme hereinzuholen. Dafür musste man das Loch der Steckdose erwischen, das für die Erdung bestimmt war, aber es machte auch nichts, wie ich mich erinnere, wenn das andere Loch verwendete wurde. Man hatte auf diese Weise gute Unterhaltung unter der Tuchent. Einen Kopfhörer oder einen Detektor hatten freilich nur ganz wenige Burschen. Sie hatten die Geräte auf geheimen Wegen erworben. Einer meiner Gesprächspartner erinnerte sich: »Detektor hat das Zeug geheißen. Es war schwerst verboten, noch dazu im Schlafsaal. Man hat den Detektor bestellen müssen. Es war aber nicht leicht, ihn zu bekommen. Der Händlhuber wusste, wie man zu so etwas kommt. So bin auch ich zu einem Detektor gekommen. Hundertzehn Schilling hat er gekostet. Das war damals um 1965 viel Geld. Man bekam den Detektor, in Teilen. Heimlich habe ich ihn zusammengebaut. Er wurde in der Steckdose, in der Erdung, angesteckt. Das war ein Oberhit! Ich bin mit dem Kopfhörer am Ohr im Bett gelegen und habe Musik gehört. So bin ich eingeschlafen.« Die Eigentümer solcher Kopfhörer und Detektoren 108

Der Schlafsaal und die Freude am Schlafen

wurden beneidet. Stand man bei ihnen in Gunst, konnte man sich ein solches Gerät manchmal für die Stunden im Bett ausborgen. Einige Male konnte ich einen Kopfhörer fürs Bett ausborgen. Glücklicherweise befand sich bei meinem Bett eine Steckdose. Ich erinnere mich an eine wöchentliche Sendung, die ich mit Vorliebe gehört habe. Sie hieß, wenn ich mich nicht irre, ungefähr so: »Neun Kegel hat das Kegelspiel und neun Bundesländer hat Österreich.« Es war eine Art Ratespiel zwischen zwei österreichischen Teams, die aus diversen Städten der einzelnen Bundesländer kamen. Erfinder und Leiter dieses Spiels war ein gewisser Ernst Hilger, der seine Hörer höchst anregend und heiter unterhielt. Man hatte so die Welt in der Enge des Konviktsbettes zu Gast. Gegen Mitternacht war damals Sendeschluss, so dass man, wenn man nicht schon vorher entschlafen war, bis zum Morgen noch ausreichend Schlaf tanken konnte. Etwas später tauchten dann kleine Radios auf, die die Unterhaltung im Bett wesentlich einfacher machten.

Die Polsterschlacht als Akt der Rebellion Nicht immer diente der Schlafsaal dem Rückzug unter die Tuchent. Hie und da wagten wir auch kühne Unternehmungen während der Nacht. Aus Übermut veranstaltete man Polsterschlachten, die allerdings, weil es dabei hoch herging, vom Präfekten leicht bemerkt und gestört wurden. Die Strafen dafür konnten fürchterlich sein. An eine Polsterschlacht erinnere ich mich, wir waren damals als Zweitklassler in der dritten Abteilung. Gegen Abend kam einer auf die Idee, während der Nacht, ungefähr drei Stunden nach dem Abdrehen, eine Polsterschlacht zu veranstalten. Der Großteil der Burschen war dafür, die Braven wollten warnen, aber sie hielten sich dann doch zurück. Und tatsächlich gegen Mitternacht weckte einer der Burschen die anderen, und einer drehte das Licht auf. Nun ging es im erleuchteten Schlafsaal los. Polster flogen und wurden auf die Köpfe der Nachbarn gedroschen. Einige sprangen auf den Betten auf und ab, dass die Federn krachten. 109

Die alte Klosterschule

Andere lachten laut, und die ganz Braven versuchten ihre Köpfe unter der Tuchent zu verstecken. Sie wollten offensichtlich nicht als Befürworter dieses Krawalls gesehen werden. Nach ungefähr fünfzehn Minuten wurde der Präfekt von dem Wirbel geweckt. Er erschien bekleidet mit seiner Kutte, schreiend und mit den Händen drohend. Die Rädelsführer waren bald festgestellt. Sie erhielten vom zornigen Präfekten einige Ohrfeigen und außerdem saftige Strafen. Damit hatte sich die Sache. Bei einer anderen Polsterschlacht reagierte ein Präfekt viel hinterhältiger, er unterstellte den Burschen unzüchtiges Handeln, das keineswegs beabsichtigt war. Darüber erzählte mir ein Kommilitone, der um 1965 maturiert hat: »Wie ich in der sechsten Klasse war, haben wir auch einmal eine wilde Polsterschlacht veranstaltet. Der Pater V. hat davon erfahren. Ein paar von uns, darunter ich, waren richtig deswegen angeklagt. Einzeln mussten wir in das Gymnasium hinüber. Dort haben der Pippin, der Gymnasialdirektor, und der Pater V. auf uns gewartet. Es war wie bei der Inquisition. Ich war der vierte und letzte beim Verhör. Ich bin gegenüber vom Pater V. gesessen. Der hat stenografiert, was wir gesagt haben. Es war mein Glück, dass ich gut stenografieren konnte. Ich konnte auch verkehrt lesen. So las ich, was die vor mir gesagt haben. Daran konnte ich mich ausrichten. Dem Abt hat der Pater V. etwas von Unsittlichkeit gesagt, die wir bei der Polsterschlacht getrieben hätten. Das Gefüge würde auseinanderbrechen und solchen Blödsinn. Dabei ist bei der Polsterschlacht überhaupt nichts geschehen, was anstößig gewesen wäre. Wir waren lediglich ausgelassen und lustig. Das war alles. Dennoch hat sich einer aus unserer Abteilung darüber aufgeregt und dem V. davon berichtet. Er hat ihm erzählt, wir hätten andere bei den Eiern angegriffen. Das stimmte aber nicht. Vielleicht ist jemand zufällig bei jemanden an den Eiern angekommen. Der Pater V. hat geglaubt, wir sind alle unsittlich. Daher wurden auf der Stelle zwei hinausgeworfen aus dem Konvikt und dem Gymnasium. Ich selbst bin ihnen ausgekommen. Vier, darunter ich, haben je einen Vierer in Betragen im Zeugnis bekommen. Unsere Klasse hatte noch lange darunter zu leiden. Den, der uns verschuftet 110

Der Schlafsaal und die Freude am Schlafen

[verraten] hat, haben wir bestraft. Viel ist ihm nicht passiert. Aber er war ein Verräter.« Und ein Klassenkollege ergänzte: »Der Bursche, der uns verraten hat, ist in der Klasse ordentlich sanktioniert worden, denn keiner hat mit ihm die nächste Zeit geredet. Wir haben ihn auch ins Ziegelholz gelockt.« Dieses Wäldchen liegt beim Schacherteich. Adalbert Stifter hat es übrigens schön beschrieben. »Dort wollten wir von dem Verräter wissen, welche Leute er verraten hat. Wir wollten ihn auch verhauen, haben dies dann aber nicht getan.« Diese Polsterschlacht hat sich als fatal erwiesen. Die Patres sahen in dieser nicht nur einen Akt der Disziplinlosigkeit, sondern auch einen der Unsittlichkeit.

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X. Der Morgen

Aufstehen und Waschen Man freute sich auf das Schlafen, da war man für sich allein und dem Ärger mit Präfekten und Kommilitonen entzogen, zumindest für die Nacht. Daher war das Aufgewecktwerden durch den Präfekten um sechs Uhr und das Aufstehen um so bitterer. Man freute sich, an den Donnerstagen und Sonntagen länger schlafen zu dürfen. Für denjenigen, der neu zur Klosterschule hinzukam, bedeutete das tägliche frühe Gewecktwerden eine große Belastung, gerade in der dunklen Jahreszeit. Während der Woche hieß es um 6 Uhr aus dem Bett. An den Donnerstagen, an denen keine Schule war, war es 6 Uhr 30, und an den Sonn- und Feiertagen war es 7 Uhr, wenn die Zöglinge aus dem Schlaf gerissen wurden. Der Präfekt achtete mit aller Strenge darauf, dass die Burschen pünktlich aus dem Bett sprangen und zum Waschraum eilten. Für gewöhnlich riss der Präfekt die Tür auf, drehte, wenn es dunkel war, das Licht auf und rief »Guten Morgen, aufstehen!« Es gab Präfekte, die, wenn sie gut aufgelegt waren, mit freundlichem Lachen die noch Schlafenden weckten, es gab aber auch Spezialisten, die in wahrer Kasernenart die noch müde im Bett Liegenden erschreckten. Eine besondere Taktik hatte Pater Paulus, dessen Spezialität es war, überhaupt nichts zu sagen. Und wenn er etwas sagte, sagte er dies kurz und etwas näselnd. Dieser Pater, der in der letzten Abteilung, bei den Großen, wirkte, öffnete bloß die Tür des Schlafsaales und drehte das Licht an. Dann blieb er stumm mit durchdringendem Blick in der Türe stehen. Auf das feste Öffnen der Tür waren die meisten bereits auf und eilten zum Waschraum, denn mit dem Pater wollte sich keiner anlegen. Blieb nun jemand doch liegen, 112

Der Morgen

eilte Pater Paulus festen Schrittes an dessen Bett und zog wortlos die Tuchent weg. Einmal soll jemand, um den Pater zu entsetzen, nackt im Bett gelegen haben. Und Nacktheit war damals äußerst verpönt. Wenn Pater Paulus uns strafen wollte, weil wir zum Beispiel am Vorabend gelärmt oder ihn sonstwie verärgert hatten, weckte er uns schon um fünf Uhr. Seine Taktik war immer dieselbe. Er riss die Tür auf, drehte das Licht an und blieb in der Tür des Schlafsaales stehen. Dabei kam kein Wort über seine Lippen. Jeder wusste nun, der verärgerte Pater wollte uns mit dieser Frühaktion strafen. Keiner wagte es, zu protestieren. Verschlafen standen wir auf, und verschlafen gingen wir in den Waschraum. Gerade während der Wintermonate waren dieses frühe Aufstehen und besonders das Gewecktwerden um fünf Uhr für uns Burschen, die wir damals in der letzten Abteilung waren und zu den Großen gehörten, eine furchtbare Sache. Damals in den Fünfzigerjahren wurde kaum geheizt, wir froren, und das Wasser, das aus den Hähnen rann, war kalt. Im ungeheizten Waschraum sich kalt zu waschen war angeblich gesund, aber dennoch eine Tortur, die uns auf den Ernst des Tages bestens vorbereitete. In den ersten Abteilungen verfügten wir noch über kein festes Waschbecken, sondern wuschen uns über Schüsseln, die halbkugelförmig und drehbar waren. Man konnte durch Drehen dieser Schüssel das Wasser schnell in einen Abguss entleeren. Unser Waschzeug hatten wir in eigenen Fächern untergebracht. Die Waschlappen, die wir verwendeten, hingen an einem Nagel oder Haken. Wenn es kalt war, kam es nicht selten vor, dass sie gefroren waren. Aber dies schien uns damals nicht zu stören. Wir waren froh, wenn das Waschen vorüber war und wir uns warme Kleidung anziehen konnten. Beim Waschen wollten daher manche nicht zu viel Zeit verschwenden. Die Herren Patres wussten dies und kontrollierten daher auch unsere Waschkünste. Sie achteten nicht nur darauf, dass wir uns ordentlich die Zähne putzten, sondern sie schauten auch sonst, allerdings auf jene Teile des Körpers, die aus dem Gewand schauten, das waren eigentlich nur die Hände und der Hals samt dem Kopf. Die anderen körperlichen Bereiche, wie die Füße, schienen sie wenig oder gar nicht zu interessieren. 113

Die alte Klosterschule

Der erwähnte Pater Paulus war als Präfekt in einer unteren Abteilung, bei den »Kleinen«, geradezu spezialisiert auf den Hals. Er betrachtete eingehend, zum Beispiel während des Studiums, die Hälse seiner Schutzbefohlenen. Sah er, dass Grind einen Hals zierte, rieb er wortlos mit einem seiner Finger den Hals derart, dass sich der zarte Drecküberzug am Hals etwas wuzelte. Dies sah er als Beweis an, dass der Besitzer des Halses diesen nicht oder nur oberflächlich gewaschen hatte. Der Ertappte musste, um nicht das Wohlwollen des Paters zu verlieren, falls er es je besessen hatte, sich bei der nächsten Gelegenheit besonders gut den Hals waschen, denn er wusste, dass der Pater diesen Körperteil demnächst wieder kontrollieren werde. Die Herren Präfekten waren, vielleicht weil die Aufsicht über die sich Waschenden doch eher langweilig war, sehr daran interessiert, dass das Waschen schnell und beinahe militärisch ablief, schließlich mussten sich die Burschen die Waschlavore mit zumindest einem anderen teilen. Über einen Präfekten, der besonders auf den raschen Ablauf des Aufstehens und Waschens zu achten schien, erzählte mir ein früherer Zögling, der allerdings erst lange nach mir die Freuden des Konviktes genoss, er war damals zwölf Jahre alt: »An eine unangenehme Sache mit dem Pater F. kann ich mich erinnern, bei der er seinen Sadismus etwas ausgelebt hat. Er hatte ein hartes Kartonrohr, in dem man sonst Plakate verschickt. Um 6 Uhr in der Früh war Tagwache. Er hat geschrien: ›Guten Morgen!‹ Dann hatte man fünf Minuten Zeit, um aus dem Bett hinaus und hinein in den Waschraum zu rennen. Und ich lag ganz hinten im Eck im Schlafsaal. Ich war jedenfalls der letzte im Waschraum. Das war in der dritten Abteilung. Der letzte hat immer einen auf den Arsch mit diesem Kartonrohr bekommen. Das hat weh getan. Der Präfekt hat wirklich angeraucht [geschlagen]. Der ist mit diesem Rohr herumgegangen wie ein Reiter mit seiner Peitsche. Als Instrument seiner Macht. Und hat den Leuten eine hinübergewichst mit dem Rohr. Alle sind hinausgerannt, und der letzte hat eine hinaufbekommen. Dadurch hat er erreicht, dass die Burschen schnell im Waschraum waren. Kaum waren wir aufgewacht, haben wir, noch tramhappert [verschlafen], gehört: ›Guten Morgen.‹ Nun wussten wir: 114

Der Morgen

Jetzt müssen wir in den Waschraum laufen. Das war hart, so in aller Früh.« Das tägliche Waschritual bereitete den Zögling auf den Tag vor, es kündigte ihm an, dass er sich den festen Regeln des Konviktes und den Anordnungen des Präfekten zu fügen hatte. Der Freiraum des nächtlichen Schlafes mit seinen Träumen, die jedem selbst gehörten, war mit dem Öffnen der Türe durch den Präfekten zu Ende. Nach dem Waschen wurde mit dem Pater zu Morgen gebetet, und zwar im Studierraum.

Das Duschen Bevor ich weiter auf den Tagesablauf eingehe, will ich hier eine Pause einschalten und über das Reinigen des ganzen Körpers durch Duschen berichten. Ich tue dies, um die Ausführungen über das Waschen zu ergänzen. Badewannen standen nicht zur Verfügung. Einmal in der Woche, nämlich am Donnerstag, wurde nach einem festen Plan geduscht, und zwar in einer besonderen Duschanlage. Diese bestand aus einem Umkleidezimmer und einem Duschraum. In diesem waren einige Reihen von Duschen nebeneinander und hintereinander angebracht. Der Donnerstag war der ideale Tag für diese Ganzkörperreinigung, da dieser Tag schulfrei war. Das Duschen war zum Glück für die Zöglinge während der Studierstunden angesetzt, sodass man keine freie Zeit mit Duschen vertun musste. Wir duschten daher gerne, denn schließlich war dies eine angenehme Unterbrechung der Studierstunde. Zum Duschen wurden die Burschen entsprechend den Abteilungen geschickt. Zuerst kamen die aus der ersten, dann die aus der zweiten und so fort. Die Aufsicht führte dabei der Konviktsdirektor. Geduscht wurde im Sinne der Sittlichkeit nicht nackt, sondern in Badehosen. Die Burschen stellten sich unter die Duschen. Dann drehte der Herr Direktor das heiße, aber nicht zu heiße Wasser auf, das als durchaus angenehm empfunden wurde, gerade in der kalten Jahreszeit. Das dauerte etwa 115

Die alte Klosterschule

zehn Minuten, während der wir uns ordentlich einseiften und dabei auch züchtig unter die Badehose fuhren. Dann plötzlich, es wurde von mir wie ein Schock empfunden, war es aus mit dem warmen Wasser, und kaltes Wasser übergoss uns. Dem Herrn Konviktsdirektor dürfte es Freude bereitet haben, uns durch das schnelle Aufdrehen des kalten Wassers zu erschrecken. Er achtete dabei auch darauf, dass wir uns dieser kalten Flut stellten. Während des Duschens und Ankleidens wurde gescherzt, obwohl uns dies verboten war, aber wir hielten uns nicht daran. Wir versuchten, heiter mit dieser Art des Duschens umzugehen. In den Jahren danach, etwa Ende der Sechzigerjahre, änderte sich auch das Duschen in der Klosterschule. Nun duschten sich die Burschen im Konvikt nicht bloß einmal in der Woche, sondern zweimal, allerdings nicht mehr in dem alten gemeinsamen Duschraum. Über die neue Regelung erzählte mir ein früherer Zögling des Konviktes: »Es gab eine Duschordnung. Wir mussten zweimal die Woche duschen. Das war schwierig, weil es im Waschraum nur drei Duschen gab. Wir hatten eigene Duschkabinen, aber die waren zu wenig für so viele Kinder. Daher gab es eine Duschordnung, der eine jeden Montag und Donnerstag, der andere jeden Mittwoch und Samstag usw. Wenn man einmal nicht geduscht hat, ist man vernadert worden.« Und noch etwas trug mit den Sechzigerjahren zur öfteren Benetzung des gesamten Körpers durch Wasser bei: die Erweiterung des alten Turnsaales hin zur Sternwarte. Dazu berichtet mir ein Kommilitone, der 1967 maturiert hat: »Wie sie den neuen Turnsaal gebaut haben, haben sie auch ordentliche Duschen eingerichtet. Und wie der Turnsaal fertig war, haben wir zweimal in der Woche nach dem Turnen geduscht. Allerdings in der Badehose und mit der Auflage, mit der Seife unter die Badehose zu fahren.« Dieses Duschen nach der Anstrengung des Turnens und auch nach dem Ballspiel auf dem Sportplatz des Gymnasiums war etwas Neues in der vielhundertjährigen Geschichte des Gymnasiums. In den Fünfzigerjahren war es selbstverständlich gewesen, in aller Sorgfalt Leiberl und Turnhose, ohne die Schamgegenden zu entblößen, nach dem Turnen sofort wieder auszuziehen. Verschwitzt 116

Der Morgen

erschienen wir nach den Turnstunden zum weiteren Unterricht. Daran war man gewöhnt, Reinigungs- und Erfrischungsrituale im Anschluss an sportliche Aktivitäten waren uns damals fremd, ohne dass wir körperlichen Schaden nahmen. Im Sommer bot das zum Stift und dem Gymnasium gehörende Schwimmbad außerhalb der Stiftsmauer willkommene Erfrischung, aber auch Reinigung. Auch dort gab es zunächst keine Duschen, in denen man sich vom Staub oder Dreck der Wiese hätte befreien können. Aber alleine das Schwimmen und Tauchen bereitete Freude und wahrscheinlich auch Loslösung von der Last angesammelten feinen Schmutzes. Dieses Schwimmbad soll übrigens das älteste Freibad Oberösterreichs sein (s. u.).

Ministrieren und der Besuch der Studentenkapelle Ich will nun im Tagesablauf weitergehen. Nach dem morgendlichen Waschen war bis halb acht Uhr Studierstunde. Statt dieser konnte man in der Stiftskirche einer Messe von vielen, die die Patres ungefähr zur gleichen Zeit an den verschiedenen Altären lasen, beiwohnen oder dabei ministrieren. Nicht wenige besuchten die Stiftskirche, weil sie sich dadurch ersparten, unter Aufsicht des Präfekten zu lernen. Es gab übrigens sehr fleißige Studenten, die es vorzogen, in ihren Büchern zu verharren, statt in die Kirche zu gehen. Manche standen freiwillig schon vor sechs Uhr auf, um sich für die Schule vorzubereiten. Faule Studenten, die während der übrigen Zeit des Jahres nicht viel für die Schule gearbeitet hatten, die unter Druck geraten waren, positive Noten zu erringen, um die Klasse nicht wiederholen zu müssen, mussten deshalb manchmal früher aufstehen. Dennoch war das Interesse am Besuch der Stiftskirche und am Ministrieren groß. Dieses Ministrieren war gerade für die Burschen der ersten Klassen von besonderer Attraktivität. Für manche war dieses beinahe ein morgendliches Abenteuer, auch für mich, denn die Rituale, die damals 117

Die alte Klosterschule

mit der Messfeier verbunden waren, waren nicht einfach. Ein guter Ministrant musste einiges können. Und um ein solcher zu werden, bedurfte es nicht nur eifrigen Auswendiglernens der lateinischen Gebete, mit denen man am Altar dem Priester antwortete, sondern auch einer guten Konstitution, denn man hatte viel zu laufen und zu tragen. Bei den gewöhnlichen Messen der Patres ministrierte oft nur ein Bursche. Dieser trug aus der Sakristei das Messbuch voran zu einem von den vielen Altären der Stiftskirche, der für den Pater bestimmt war. Dann musste er das Buch auf den Altar legen und sich auf der Stufe zum Altar niederknien. Nun begann das Eingangsgebet, der Introitus, bei dem in schöner Abwechslung einmal der Pater und dann der Ministrant Lateinisches von sich gaben. Die ersten Worte des Ministranten waren, wie ich mich noch gut erinnere: »Ad meum quae laetificat juventutem meam.« Was diese Worte und alle anderen bedeuteten, war mir damals gleichgültig. Ich habe auch nie nachgefragt. Während der Wandlung läutete man kunstvoll dreimal eine Glocke und hielt den Ornat des Priesters mit einer Hand in die Höhe, dies sah aus, als ob man es lüftete. Dieses Ritual erinnerte an alte byzantinische Bräuche. Der Ministrant war, wenn er nicht kniete, dauernd in Bewegung. Er trug das Buch von einer Seite zur anderen und auch wieder zurück. Er schenkte Wein und Wasser ein. Dabei fiel ihm auf, dass manche Patres mehr Wein als Wasser wollten und andere wieder weniger. Um ein guter Ministrant zu sein, musste man einiges können. Wichtig war auch, dass man mit größtem Ernst bei der Sache war. Mir passierte es einmal, dass ich meine Hände nicht jungfräulich zum Gebet erhoben hatte, sondern sie schlampig gefaltet einfach herunterhängen ließ. Ein Pater, der nicht meine Sympathien genoss, hatte mich dabei beobachtet und mich in einer Heimstunde der Jungschar vor den anderen deswegen gedemütigt, indem er darauf verwies, in welch schändlicher, geradezu gotteslästerlicher Weise ich mich während einer Messe verhalten hätte. Man ministrierte aber nicht nur alleine, sondern auch zu zweit, wobei der eine der Ministranten die führende Rolle einnahm. Als 118

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zweiter Ministrant fungierte meist einer, der noch keine große Übung im Ministrieren hatte oder dabei war, es zu lernen. Jedenfalls umgab die ganze Messe, durch dieses Ritual und die lateinischen Sätze, etwas höchst Geheimnisvolles und Feierliches, was uns allen besonders imponierte. Und man war stolz darauf, ein guter Ministrant zu sein. Und einige sahen im Ministrieren, wie mir ein freundlicher Herr erzählte, eine Möglichkeit, sich vor den Patres als besonders fromm darzutun: »Wir sind oft nur vor Prüfungen ministrieren gegangen. Wir haben geschaut, ob wir bei dem Pater, bei dem wir ministriert haben, eine Prüfung haben werden.« Ich selbst ministrierte in den oberen Klassen einige Male aus einem solchen Grund bei Patres, bei denen ich Schwierigkeiten in der Schule befürchtete oder von denen ich bereits schlechte Noten erhalten hatte, in der Hoffnung, sie für mich milde zu stimmen. Besondere Achtung genossen jene Ministranten, die bei den Hochämtern in der Stiftskirche eingesetzt wurden. Sie waren echte Könner, denn sie trugen Kerzen und wussten mit den Patres auch umzugehen. Mit heute noch sichtbarem Stolz erwähnte ein Kommilitone mir gegenüber: »Ich war Prälatenministrant. Ich bin mit den Leuchtern bei den Hochämtern gegangen. Am Stiftertag durften ich und ein anderer die beiden Tassiloleuchter tragen.« Auch bei den Maiandachten wurde ministriert, auch vom gewöhnlichen Volk der Studenten. Dabei bedurfte es einer besonderen Fertigkeit der beiden Ministranten, die beiden schweren Kerzenleuchter aus Silber, die von der Sakristei dem Priester voran zum Marienalter getragen wurden, würdevoll während des Gehens zu halten. Mir wurde vorgeworfen, ich würde den Kerzenleuchter wie ein Maschinengewehr tragen. Mich kränkte diese Feststellung. Das Interesse am Ministrieren war gerade bei den Burschen der unteren Klassen groß, denn mit der Kunst des Ministrierens verband sich das Bewusstsein, der Heiligkeit des Klosters und damit dem Himmel nahe zu sein. Schließlich stand man mit den frommen Patres am Altar in engem Kontakt. Man fühlte sich offenbar dadurch besonders 119

Die alte Klosterschule

gewürdigt. Mancher Ministrant, der die Heiligkeit seines Tuns erlebte, wünschte sich einmal Priester zu werden. Auch meine Gedanken bewegten sich kurze Zeit in diese Richtung. Gewöhnlich war es so, dass je nach Wochentag das Ministrieren in der Stiftskirche den Burschen einer Abteilung vorbehalten war. Am Montag waren es meist Burschen aus der ersten Abteilung, am Dienstag solche aus der zweiten, am Mittwoch aus der dritten und am Freitag und Samstag solche aus den anderen Abteilungen, die mit Begeis­ terung ministrierten. Immerhin befreite das Ministrieren vom Studium, vom Lernen, obwohl gerade dieses als Vorbereitung für die Stunden im Gymnasium höchst nützlich war. Gleich nach dem Aufstehen rannte man, auch ich gehörte zu jenen, die Freude am Ministrieren hatten, hinüber zur Stiftskirche. In der Sakristei, die rechts neben dem Hauptaltar liegt, nahm man je nach Ankunft dort Aufstellung. Die als Erste dort waren, kamen auch als Erste zum Ministrieren dran. Die Burschen standen in Reih und Glied in der prächtig eingerichteten Sakristei mit dem kostbaren Holzinventar und den durch eine eiserne Tür versperrten Wandschrank, in dem die kostbaren Kelche des Stiftes standen. Als ich damals um 1954 Ministrant war, erblickte ich dort auch den echten Tassilokelch. Eine Kopie dieses Kelches befand sich in der Bibliothek des Stiftes für das staunende große Publikum, das offensichtlich glaubte, in dieser das Original zu erblicken. Dieses war hier in der Sakristei und für uns Ministranten erreichbar. Ich nahm ihn damals, ohne dass mich jemand daran hinderte, ehrfurchtsvoll in meine Hand und hielt ihn vor den anderen Minis­ tranten in die Höhe. Sorgfältig stellte ich das kostbare Stück zurück. In dieser kleinen weltgeschichtlich bedeutsamen Welt der Sakristei warteten die Ministranten mehr oder weniger geduldig auf das Erscheinen der Patres. Hier und da rätselten wir, wer von den Herren als nächster durch die vom Konvent herführende Türe kommen werde. Die geradezu heilige Aufgabe des Ministranten war es, in der Sakristei dem Pater beim Anlegen des Messgewandes zu helfen. Er half ihm in das weiße Gewand, reichte ihm das Zingulum, eine lange weiße Schnur, 120

Der Morgen

Abb. 8: Vor der Studentenkapelle. 5. Klasse 1929

die der Pater um seine nicht immer schlanke Taille schlang, und achtete darauf, dass er in das kostbare Messübergewand schlüpfen könne. Dann marschierten die beiden, voran der Ministrant mit dem Messbuch, zu einem vom Pater ausgesuchten Altar, wo die heilige Handlung begann. Man war froh, bei einem Pater zu ministrieren, der seine Messe schnell las, manche, weil sie gerne diesen Dienst hinter sich hatten. Aber es gab auch Ministranten, deren Freude daran derart groß war, dass sie, wenn es die Zeit vor dem Frühstück zuließ, gerne noch ein zweites Mal ministrierten. Dies war nur mögich, wenn der Pater die Messe schnell las. Es gab echte Spezialisten unter den Patres, was das schnelle Lesen von Messen anbelangte. Zu ihnen gehörte Pater Reinhard. Bei ihm musste auch der Ministrant sehr schnell sein, zum Beispiel wenn er das Buch von einer Seite des Altares zur anderen trug. Ließ sich der Ministrant etwas Zeit, nahm der Pater selbst das Buch und transportierte es in Windeseile hinüber, wo er dann die Episteln im Schnellzugstempo 121

Die alte Klosterschule

las. Es wurde mir erzählt, früher habe ein Pater Hildebrand, den ich nicht mehr erlebt habe, ebenso schnell die Messe gelesen. Es soll sogar, wie mir Freund Bihlmayer erzählte, ein richtiges Wettlesen der Messe zwischen den beiden Patres Reinhard und Hildebrand gegeben haben. Die Messen der Schnellleser, zu denen auch Pater Ansgar gehörte, hatten ihren besonderen Reiz. Langweilig waren dagegen die Messen, die der Gymnasialdirektor Pater Pankraz, Pippin genannt, zelebrierte. Sie endeten nie. Ich erlebte einmal, dass ein junger Ministrant, mit dem ich da gemeisam ministrierte, bei einer der ewigwährenden Messen dieses Paters dem Druck seiner Blase nicht mehr widerstehen konnte und während des Kniens einfach drauflospinkelte. Der Bub genierte sich, ich tröstete ihn jedoch und meinte, so etwas könne eben passieren. An den freien Tagen, dem Donnerstag und dem Sonntag, besuchten die Angehörigen des Konvikts die Studentenkapelle, die im hinteren Stiftshof in dem Trakt hin zum Konventgarten eingerichtet war. Am Donnerstag, an dem man um halb sieben Uhr aufstand, begann dort um sieben Uhr und am Sonntag, an dem um sieben Uhr geweckt wurde, um halb acht Uhr die Messe. Die Messe am Donnerstag war eine »schnelle Partie«, wie mir gegenüber ein Kollege meinte, denn da ist keine Predigt gehalten worden, sie dauerte ungefähr 35 Minuten. Die Sonntagsmesse war wesentlich länger, da der die Messe haltende Pater eine oft lange Predigt hielt, mit der er uns zu frommem Tun zu ermuntern hoffte. Ich selbst wurde einmal, wie ich an anderer Stelle schon schrieb, von einem Pater, dem ich offensichtlich auffiel, von der Kanzel aus während der Predigt beschimpft, weil ich mich mit meinem Sitznachbarn, dem Karl Gatterbauer, leise lächelnd unterhalten hatte. Die Messen in der Studentenkapelle wurden von einem in der Musik höchst kundigen Studenten auf der Orgel mit heiligen Melodien begleitet, zu denen wir fromme Lieder zu singen hatten, wie zum Beispiel »Meerstern ich dich grüße« zu Ehren der Mutter Gottes, der die Studentenkapelle auch gewidmet war. Während der Kommunion, zu der an manchen Tagen alle zu gehen hatten und sonst nur die besonders Frommen gingen, spielte der Musiker an der Orgel irgend etwas melodisch fromm Klingendes. 122

Der Morgen

Einmal erlaubte er sich die Freiheit, eine Melodie aus einer Kinderoper, die eine Mädchengruppe aus Linz für uns Gymnasiasten am Vortag aufgeführt hatte, zu spielen. Diese Kinderoper trug den schönen Titel »Zauberglöckchen Molidur«. Und zu unserer Freude und Verwunderung hörten wir in der Studentenkapelle nun diese Melodie vom Zauberglöckchen. Der Pater, der anscheinend auch diese Kinderoper besucht hatte, erkannte sofort das frevlerische unheilige Musikstück, das nach seiner Meinung nicht zu einer Messfeier in der Studentenkapelle passte. Der verspielte Musikant flog darauf von der Schule, denn er hatte gröblich gegen die Frömmigkeit, die an heiligen Orten zu herrschen hatte, verstoßen. Die Gottesdienste in der Studentenkapelle waren schöne Ereignisse, denn sie kündeten davon, dass wir einen freien Tag hatten, an dem zwar allerdings studiert werden musste, aber wenigstens schulfrei war.

Morgensport als Neueinführung Noch in den Fünfzigerjahren war es nicht denkbar, dass ein Präfekt oder sonst ein Pater im Turngewand gemeinsam mit seinen Zöglingen turnte, lief oder Fußball spielte. Um 1966 kam der Präfekt Pater Jakob auf die Idee, die Leute seiner Abteilung, es war die letzte, zum gemeinschaftlichen Morgensport aufzufordern. Diese Idee, die vielleicht dem Bedürfnis des Paters nach mehr Bewegung im Alltag des Klosters entsprang, war jedenfalls neu und trug auch dazu bei, dass sich allmählich das Konvikt und somit die Klosterschule wandelte. Aber er hatte noch andere Ideen, die Ähnliches bewirkten. Über die morgendliche sportliche Betätigung des Paters mit seinen Zöglingen erzählte mir ein Kommilitone, der 1967 maturiert hatte: »Das, was der Pater J. noch eingeführt hat, war der Morgensport in der Dauer von zehn Minuten. Ein Sohn eines Arztes hat zwar damals gemeint, es wäre ungesund, gleich nach dem Aufstehen zu turnen. Das war in dem langen Gang zum Kaisersaal. Dieser Morgensport bestand in ein bisserl Laufen und in ein paar Dehnübungen, das war sehr gesund. 123

Die alte Klosterschule

Jeder von uns hatte für diese Übungen eine kleine Schaumstoffmatte. Da wir zu viele waren, um alle gleichzeitig zu turnen, wurden wir aufgeteilt. Die ersten zehn kamen vor sechs Uhr dran, die anderen um sechs Uhr. Pater J. hat selbst mitgeturnt und vorgeturnt. Einmal haben wir ihm die Schneid abgekauft. Wir waren alle mit der kurzen Turnhose und mit dem Leiberl angetreten. Über irgendetwas hatte sich der Pater J. geärgert und war furchtbar schlecht aufgelegt. Auf einmal hat er zu schreien begonnen und gesagt: ›Machts euren Dreck alleine.‹ Er werde jetzt gehen. Der Starl und ich haben gesagt: ›Jetzt sind wir die Vorturner, jetzt wird weitergeturnt, die volle Zeit.‹ Mit so etwas hat der Pater J. natürlich nicht gerechnet. Aber diese Angelegenheit drückt auch gut das Verhältnis aus, das wir zu ihm hatten. Wir haben uns gesagt: Jetzt spinnt er halt, wir machen weiter. Es dürfte ihm gefallen haben, dass wir so reagiert haben. Wir verdanken ihm sehr viel.« Dieser sehr geschätzte Pater J. hatte mit der Einführung des Morgensportes viel für einen beinahe freundschaftlichen Kontakt zwischen Präfekten und Studenten getan. Allerdings stand das gemeinsame Turnen in Widerspruch zu den klassischen Formen des Respektes, zu dem gehörte, dass der Pater den Studenten stets in würdiger Kleidung begegnete.

Das Frühstück Nach dem Studium, nach der Studierstunde, oder dem Besuch der Kirche war an den normalen Wochentagen für halb acht Uhr das Frühstück angesetzt. Die einen suchten je nach Abteilung dafür den großen Speisesaal, im zweiten Stock gelegen, auf, die anderen den kleinen im ersten Stock. Jeder stellte sich an seinen Platz bei Tisch, der das ganze Jahr gleich blieb. Der Pater, der die Aufsicht im Speisesaal hatte – im großen Speisesaal war es zumeist der Konviktsdirektor selbst –, begann, während alle noch standen, das Gebet zu sprechen. Nach dem Kreuzzeichen setzten sich die Burschen und warteten, dass in den am Tisch aufgedeckten Tassen von den mit Kannen herum124

Der Morgen

schwirrenden Bedienerinnen der berühmte Konviktskaffee eingeschenkt werde. Dieser Kaffee war alles andere als ein Bohnenkaffee, er dürfte eine Mischung aus Feigenkaffee und Eichelkaffee oder ein Malzkaffee gewesen sein. Jedenfalls schmeckte er danach. Manche übermütige Studenten bezeichneten dieses schwarze Gemisch als »Gschlader«. Hier und da gab es, meist an festlichen Tagen, auch einen Kakao, der mir besonders behagte. Dazu gab es ein Stück trockenes Brot und eine Semmel. Um dieses spartanische Frühstück zu verbessern, nahmen manche Burschen einen Brotaufstrich mit, Butter, Margarine oder Marmelade. Da Margarine mit dem Namen »Rama« ähnlich wie Butter schmeckte, aber um einiges billiger war, war sie bei vielen Studenten sehr beliebt. Zum Frühstück gingen sie mit der Rama in der Hand als Symbol bescheidenen Wohlstandes. Die weniger begüterten oder sparsamen Burschen hatten keinen Aufstrich für das karge Brot. Sie verließen sich darauf, dass ihnen freundliche Kommilitonen von ihrer Rama oder ihrer Marmelade etwas abgaben. Lag man mit einem, der einen Aufstrich anzubieten hatte, im Streit, war nicht damit zu rechnen. Eine solche Verweigerung des Aufstriches für einen Darbenden war mitunter ein Hinweis auf die schlechte Beziehung zwischen den beiden. Grundsätzlich wurden die, die selbst keine Rama hatten, von einem anderen eingeladen. Brotaufstriche dieser Art, besonders Marmelade, schickten Eltern in Packerln. Vor allem Schüler der oberen Klassen kauften auch, falls das Taschengeld reichte, Aufstriche bei den Marktbesuchen im Geschäft. Mit Genuss aß man sogar das mit Rama bestrichene Brot und trank den Kaffee, den man besonders im Winter schätzte, weil er heiß kredenzt wurde. War es besonders kalt, umschlangen manche mit ihren Händen die vom Kaffee erhitzte Tasse und genossen die wohlige Wärme. Das Gesprächsthema der Burschen beim Frühstück bezog sich meist auf die Schule, auf den Ärger mit Patres, auf Noten, die man nicht verdient hatte, und Ähnliches. Gegen dreiviertel acht Uhr rief der Konviktsdirektor zum Gebet auf. Damit war das Frühstück beendet, und man machte sich bereit zum Marsch in die Schule, in das Gymnasium. 125

XI. Das Gymnasium

Die alten Traditionen Der Unterricht im Gymnasium, das neben dem Konvikt ein wesentlicher Bereich der Klosterschule war, baute auf alter Überlieferung auf. Zu dieser gehörte es, dass im Gegensatz zu anderen Schulen die freien Tage der Donnerstag und der Sonntag waren. An den Schultagen war von 8 Uhr bis 12 Uhr und von 14 Uhr bis 16 oder 17 Uhr Unterricht. Damals in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gab es noch Trimester. Das Schuljahr war gedrittelt. Das erste Drittel dauerte bis Weihnachten, das zweite bis Ostern und das dritte bis Schulschluss. Und für jedes Trimester gab es ein Zeugnis. Eine schlechte Note im Trimesterzeugnis konnte im nächsten Trimester ausgebessert werden. War jemand in einem Gegenstand knapp vor dem Durchfallen, erhielt er zur Note 4 ein E. Dieses E, das im Zeugnis prangte, bedeutete »Ermahnung« in dem Sinn, dass der so Bedachte sich gefälligst zusammennehmen müsse, um im nächsten Trimester oder gar zum Schulschluss in der gefährdeten Disziplin keine Fünf, kein »Nicht genügend«, zu bekommen. Zu den alten Traditionen gehörte, dass die Burschen im Gymnasium die klassische humanistische Bildung kennenlernten, zu der die alten Sprachen Latein und Altgriechisch, aber auch Gegenstände wie Geschichte, Geografie, Mathematik, Musik, Naturgeschichte, Physik und Deutsch zählten. Nicht nur die alten Sprachen, sondern auch die Naturwissenschaften hatten hier ihren besonderen Platz, denn immerhin besaß das Kloster mit der Sternwarte, die man auch als »Mathematischen Turm« bezeichnete, eine Einrichtung, in der seit langen Zeiten brave Mönche Kostbarkeiten aus dem Reich der Natur und dem der Kultur, wie ich schon erzählt habe, gesammelt und geordnet hatten. 126

Das Gymnasium

Hie und da war es den Schülern vergönnt, mit dem Naturgeschichtsprofessor eine der reichen Sammlungen der Sternwarte zu besichtigen. Dem Klosterschüler stand die ganze Welt einer alten Bildungstradition offen. Mancher nahm dies auch dankbar an. Charakteristisch für die Klosterschule, dies sei noch einmal betont, war, dass die Patres als Professoren sich voll auf ihre Zöglinge konzentrieren konnten. Gegenüber weltlichen Professoren waren sie nicht mit familiären und ähnlichen Problemen belastet, dies verschaffte ihnen die Möglichkeit der intensiven Befassung mit dem schulischen Weiterkommen der Studenten, die diese nicht immer als freudvoll erlebten. Der erste Tag im neuen Schuljahr an einem der ersten Septembertage wurde sehr feierlich begangen. Die Burschen waren am Vortag oder gerade erst jetzt in der Früh angekommen. In ihren besten Kleidern beäugten sie die Klassenzimmer, die sie im neuen Schuljahr nun beziehen würden, waren stolz, wieder aufgestiegen zu sein, und gratulierten jenen, die einen Nachzipf bestanden hatten. Einige umarmten sich freudig und waren erfreut, nun nach den Ferien wiederum beisammen zu sein. Man bedauerte, dass einige nicht mehr dabei waren, weil sie die Eltern aus der Schule genommen haben oder weil sie nicht aufsteigen durften oder weil man sie aus disziplinären Gründen einfach nicht mehr haben wollte. Die Reduzierung der Klassen war oft eine gewaltige. So waren in meinem Jahrgang zu Schulanfang 56 Burschen. Von diesen 56 haben 13 maturiert. Insgesamt waren wir bei der Matura mit den Sitzengebliebenen der Vorklasse und den aus anderen Schulen Hinzugekommenen 21. Es war jedesmal am Schulanfang spannend, zu sehen, welche Burschen den Sprung in die nächste Klasse geschafft hatten und welche hoffnungsvollen Leute neu hinzugekommen waren. Mit großer Freude begrüßten sich die Übriggebliebenen des Vorjahres untereinander nach der langen Trennung der Ferien. Gleichzeitig vereinbarte man auch, wo man die nächste Zeit im Klassenzimmer zu sitzen gedenke. Die Sitzordnungen wurden in den oberen Klassen selbst ausgehandelt. In den unteren Klassen war es der Klassenvorstand, der dabei dirigierend eingriff. Am ersten Schultag erschien zuerst der künftige Klassenvorstand, 127

Die alte Klosterschule

Abb. 9: Schulanfang. Der Marsch zur Kirche, um 1960

Abb. 10: Marsch der Professoren zur Stiftskirche, um 1960

128

Das Gymnasium

meist jener, den man schon in der Vorklasse gehabt hatte. Meine Klasse begleitete ein Weltlicher als Klassenvorstand, unser Deutschlehrer, von der ersten bis zur vierten Klasse. Von der fünften bis zur achten Klasse war es unser Latein- und Griechischprofessor, ein Pater. Beide Herren waren uns wohlgesonnen. Sie nahmen ihre Aufgabe, sich um unser Wohl zu kümmern, ernst. Der Klassenvorstand begrüßte die Schüler freundlich und sprach unter anderem die Hoffnung aus, dass das kommende Schuljahr für alle ein erfreuliches sein möge. Und dann ging es durch den Gymnasialgang entlang des Wassergrabens und durch das innere Stiftstor zur Stiftskirche. Voran marschierten die Schüler der ersten Klasse, dann die der zweiten und so fort. Am Ende gingen erhobenen Hauptes die Studenten der achten Klasse. Und endlich erschienen die Herrn Professoren mit ihren dunklen Umhängen über die Mönchshabits und schwarzen Zylindern. So betrat man die Stiftskirche. Und nun wurde die große Schulmesse gefeiert. In die Stiftskirche wurden die Studenten immer dann geschickt, wenn es um besonders feierliche Angelegenheiten ging, wie um die Bitte an den Himmel für ein gutes Gelingen zu Beginn und den Dank für ein solches am Ende des Schuljahres.

Der Gang zur Schule Ich komme nun nach diesem Hinweis auf alte Traditionen und dem Ausflug zum frommen rituellen Beginn des Schuljahres wieder zum Tagesablauf. Nach dem Frühstück wechselten die Burschen vom Herrschaftsbereich des Konviktsdirektors in den des Gymnasialdirektors. Auch dieser war ein Pater, dessen Zuständigkeit sich auf den gesamten schulischen Bereich erstreckte und der die Konferenzen einberief, die über den Verbleib von disziplinlosen und auch sonst problematischen Schülern zu beschließen hatten. Flog jemand aus der Schule, so flog er auch aus dem Konvikt. Insofern war eine perfekte Übereinstimmung zwischen Konvikt und Gymnasium gegeben. 129

Die alte Klosterschule

War das Frühstück vorüber, eilten die Burschen in ihre Konviktsabteilungen, packten die Schultaschen, liefen durch den Gang in den Stiftshof und marschierten vom Konvikt durch das innere Stiftstor über die Brücke am Wassergraben in den sogenannten Gym­na­ sial­gang hin zum Gymnasium. Dieser Gang zog sich entlang des Meierhofes und des Wassergrabens, dem gegenüber er durch Bögen offen war. Auf alten Steinplatten ging es weiter, und am Ende des Ganges folgte man Stufen an den Abb. 11: Am Weg zum Gymnasium, Rand des Wassergrabens, der um 1957 vom Weg durch ein Gitter getrennt war. Dieses führte hin zu ein paar Bäumen, von denen es nur mehr ein paar Schritte zu den Stufen waren, über die man schließlich das Gymnasialgebäude betrat. Durch großzügig angelegte Gänge und Stiegen gelangten die Schüler in ihre Klassenzimmer. Im zweiten Stock befanden sich die des Untergymnasiums und im ersten Stock die des Obergymnasiums. Im Parterre waren der Musikraum und der Turnsaal untergebracht.

Die Kultur des Klassenzimmers Es scheint einiges dafür zu sprechen, dass das Klassenzimmer eine spezifische Kultur hervorbrachte, in der die alte klösterliche Erziehung mit ihrer Strenge, aber auch mit den Überlebenstricks der Schüler erst möglich war. Die Räume der Klassenzimmer waren ähnlich wie 130

Das Gymnasium

die im Konvikt hoch gebaut, mit großen, hellen Fenstern, die an Kirchen erinnerten. Sie strahlten damit etwas Sakrales aus. Wesentlich für die alten Klassenzimmer waren zwei Elemente: festgefügte Bänke und ein Katheder, der über allem thronte. In den Bänken, die, vielleicht lag Absicht dahinter, an Kirchenbänke erinnerten, konnten jeweils drei oder vier nebeneinander sitzen. Es gab zwei Reihen von jeweils fünf oder mehr hintereinander angeordneten Bänken, die durch einen Mittelgang, in dem der Professor, mitunter die Schüler kontrollierend, auf und ab paradierte, getrennt waren. Sessel waren nicht vorhanden, mit denen man hätte herumrücken können. In diesen Bänken, in denen Sitz und Pult fest verbunden waren, saß man unangenehm eingezwängt, überhaupt wenn man von mächtiger Körperstatur war. Aber dennoch hatten diese Bänke ihren Charme, denn Generationen von Schülern hatten auf und in ihnen ihre Initialen und irgendwelche sinnvollen Wörter hinterlassen. Man sah sich also als Glied einer langen Kette von Burschen, die Ähnliches mitzumachen hatten wie man selbst. Auf der Fläche des Pultes war für jeden Sitz eine Vertiefung für Schreibgeräte und Tintenfaß angebracht. Darunter barg ein Fach Schultasche und Bücher. Strategisch hatte dieses Fach für Schwindeleien bei Schularbeiten eine große Bedeutung. Beliebt waren die Plätze in der Mitte einer Bank, denn hier bestand die Chance, von den Professoren weniger beachtet zu werden. Die in der letzten Bank waren verdächtig, während des Unterrichtes sich anderwärtig zu beschäftigen. Daher galt ihnen bisweilen ein besonderes Augenmerk. Und die, die in der ersten Reihe saßen, waren ohnehin daran interessiert, positive Aufmerksamkeit der Lehrenden zu erregen. Für jemanden wie mich, der Jahre hindurch ein schlechter Schüler war und nur durch Schwindeln bestehen konnte, war ein guter Platz von existenzieller Wichtigkeit. Allerdings kannte der Herr Klassenvorstand meine Absicht und teilte mir meinen Platz am Rand zum Mittelgang hin zu, allerdings in der zweiten Reihe, sodass ich mich im Notfall gut hinter meinem Vordermann, dem seligen Wittenberger, verstecken konnte. Ein guter Platz verschaffte gutes Überleben. 131

Die alte Klosterschule

Im Unterricht galt das Prinzip der Über- und Unterordnung. Diese wurde geografisch dadurch ausgedrückt, dass der Katheder neben der Tafel auf einem ungefähr fünfzehn Zentimeter hohen Podium, das bis zum Ende der Tafel reichte und ungefähr eineinhalb Meter breit war, stand. Über dem Katheder hing ein mächtiges Kreuz, das uns an die Allgegenwart der Kirche erinnerte und das dem an dem Katheder sitzenden Pater eine gewisse Würde verlieh. An den Wänden hingen diverse Schulwandkarten und Bilder, wie sie in anderen Schulen auch üblich waren. Rechts von der Tafel, aber unterhalb des Podestes und etwas vor dem Ofen stand für gewöhnlich auf einem kleinen Gestell eine kleine Waschschüssel, neben dieser hing ein Tuch. Diese Schüssel diente dem Professor zum Händewaschen, wenn er länger an der Tafel geschrieben hatte. Vor diesem Waschgestell stand meist auch eine Vorrichtung für das Aufhängen vor allem von Landkarten, die man für den Unterricht gerade benötigte. Und in der Ecke ruhte fest der Ofen, der damals noch vom wackeren Schuldiener während der kalten Tage täglich mit Kohle beheizt wurde. Er strahlte Gemütlichkeit aus. In den Pausen lehnten wir uns gerne an diesen Ofen und wärmten uns.

Buntheit und Plage des Unterrichtes Dem Professor bot das Klassenzimmer einen Bereich, in dem er gleich einem Hohenpriester wirken und seinen Segen spenden, also sein Wissen ausschütten konnte. Die hohe Stellung des Professors zeigte sich darin, dass, wenn er nach dem Läuten der Glocke das Klassenzimmmer betrat, alle Schüler sich zu erheben und erst auf sein Zeichen sich zu setzen hatten. Vorab sei festgehalten, dass die Schüler um die Dinge, die sie für den Schulunterricht benötigten, wie Hefte, Bleistifte, Malfarben und Schulbücher, sich selbst zu kümmern hatten. Man konnte sie über den 132

Das Gymnasium

Präfekten erwerben. Dieser hatte von den Eltern jedes einzelnen Studenten Geld zur Verwahrung erhalten, um damit die diversen Schulmaterialien anzuschaffen. Mit einem Zettel, auf dem er seinen Wunsch notiert hatte, konnte der Schüler am Abend beim Präfekten vorstellig werden. Neben Schulartikel gab es bei ihm auch Klosettpapier und Seife. Er gab aber auch Geld her, damit der Zögling sich in der Papierhandlung des Ortes das für ihn Nötige kaufen konnte. Teuer waren die Schulbücher. Man konnte sie aber auch billiger erwerben. Da die Lehrbücher nach dem Abschlusszeugnis nicht mehr benötigt wurden, wurden sie an Schüler der nächstfolgenden Klasse verkauft. Die Bücher für das kommende Jahr kaufte man also grundsätzlich von den Studenten der höheren Klasse. Diese Verkäufe spielten sich für gewöhnlich so ab, dass Burschen der einen Abteilung im Konvikt in jene Abteilung gingen, in der die Jüngeren saßen, und diesen ihre Bücher anboten. Dabei kam es zu spannenden Verkaufsverhandlungen. Gut gepflegte Exemplare erzielten gute Preise. Die schlecht erhaltenen Bücher gingen billiger weg, sie wurden bevorzugt von jenen gekauft, die ihr Geld für bessere Dinge anzulegen wussten als für Schulbücher. Besonders attraktiv waren Latein- und Griechischbücher, die gut »präpariert« waren, das heißt, die Texte waren mit deutschen Übersetzungen und Anmerkungen in kaum wahrnehmbarer Bleistiftschrift überschrieben. Solche Bücher hatten freilich ihren besonderen Preis und wurden auch speziell gehandelt. Im Sinne der alten Klosterschule und der klassischen humanistischen Bildung, zu der acht Jahre Latein und sechs Jahre Altgriechisch gehörten, war es, dass lateinisch gebetet wurde. Bevor wir uns der Last des Schultages beugen mussten, waren es lateinische Worte, die uns auf das Kommende, das nicht immer erfreulich war, vorbereiteten. Die erste Stunde des Unterrichtes am Tag wurde mit einem lateinischen Gebet begonnen, wobei abwechselnd vom Vorbeter und der ganzen Klasse gebetet wurde: »Veni, sancte Spiritus, reple tuorum corda fidelium et tui amoris in eis ignem accende. Emitte Spiritum tuum et creabuntur. Et renovabis faciem terrae. Oremus Deus, qui corda fide133

Die alte Klosterschule

Abb. 12: Schulstunde

lium sancti Spiritus illustratione docuisti, du nobis in eodem Spiritu recta sapere et de eius semper consolatione gaudere. Per Christum, Dominum nostrum. Amen.« Auf deutsch heißt dies: »Komm, Heiliger Geist, erfülle die Herzen Deiner Gläubigen, und entzünde in ihnen das Feuer Deiner Liebe. Sende aus Deinem Geist und alles wird neu geschaffen. Du wirst das Angesicht der Erde erneuern. Lasset uns beten! O Gott, Du hast die Herzen der Gläubigen durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes belehrt; lass uns in diesem Geiste, was recht ist, erkennen und seines Trostes uns allzeit erfreuen. Durch Christus unseren Herrn. Amen.« Und am Ende des Schultages wurde wiederum lateinisch gebetet, um den Dank dafür auszudrücken, dass der Unterricht uns allen eine Wohltat war. Wir beteten gerne, denn dieses Gebet zeigte uns rituell an, dass wir zumindest für diesen Tag der Schule entronnen waren und nun, wenn auch kurze, freie Zeit genießen durften: »Agimus tibi gratias, omnipotens Deus, pro universis beneficiis tuis, qui vivis et regnas in saecula saeculorum. – Amen.« In deutscher Übersetzung hieß dies: »Wir sagen Dir Dank, allmächtiger Gott, für alle Deine Wohltaten. Der Du lebst und herrschest von Ewigkeit zu Ewigkeit. – Amen.« 134

Das Gymnasium

Der alte Unterricht stellte einige Anforderungen an die Herren Studenten. Ich habe viel gelitten in den Unterrichtsstunden, ich war auch nicht von gehobenem Fleiß, aber letztlich dürfte ich einiges durch diesen profitiert haben, gerade was die Allgemeinbildung und das Gefühl für historische Zusammenhänge anbelangt. Schon der Marsch vom Konvikt zum Gymnasium war oft von Sorge erfüllt, vor allem wenn ich befürchten musste, in einem der unangenehmen Gegenstände geprüft zu werden. Geprüft wurde damals in jeder Stunde, man musste immer vorbereitet sein, und das war oft nicht möglich. So musste ich mit einem mulmigen Gefühl im Magen leben, wenn sich die betreffende Unterrichtsstunde näherte. Von den in den Bänken eher eingeengt sitzenden Burschen wurde Andacht erwartet. Man verlangte während der Unterrichtsstunde Stillschweigen, und wenn der Professor eine Frage an die Klasse richtete, wagte es niemand, sofort die Antwort zum Katheder zu brüllen. Um sich zu Wort zu melden, zeigte man auf, dies war aber nicht einfach ein lockeres Heben der Hand. Vielmehr streckte der Brave in ergebener Weise einen Arm pfeilgerade in die Höhe und nahm dabei eine möglichst kerzengerade Sitzhaltung ein. Der andere Arm konnte noch, wenn er es besonders ergeben machen wollte, im Rücken verschränkt werden. Auch die Hand wurde rituell ausgestreckt, derart, dass sie beinahe wie eine Schwurhand aussah. Dies gab dem Aufzeigenden den Anschein höflicher Ergebenheit und die Hoffnung, vom Professor auch wahr- und ernst genommen zu werden. Schlampigeres Aufzeigen wurde in den Unterklassen fast als Disziplinlosigkeit aufgefasst. Richtete der Professor an einen der Aufzeigenden das Wort, blieb der Angesprochene nicht einfach sitzen, sondern stand auf und brachte sein Wissen vor. In jüngerer Zeit ging man allmählich von einer zu strengen Befolgung solcher Rituale ab. Wer aber mutwillig durch lautes Reden, durch Essen oder diverse Scherze den Unterricht störte, musste mit allerhand Reaktionen ­rechnen. Besonderer Beliebtheit bei den Schülern einer zweiten Klasse erfreute sich ein junger Mann, der hie und da gegen Ende der Unterrichtsstunde einen Wecker läuten ließ. Zunächst fielen die Patres 135

Die alte Klosterschule

darauf herein und glaubten, dieses Geläute käme von der Schulglocke. Die Strafe bestand dann im Eckenstehen während der Pause. Störenfriede wurden bisweilen auch aus dem Klassenzimmer entfernt, sie mussten – vielleicht zusätzlich zu einer Strafaufgabe – während der Stunde vor der Klassentür am Gang bis zum Ende der Stunde verharren. Ich erinnere mich, dass einmal gleichzeitig drei solcher Sünder auf den Gang mussten. Als nach dem Unterricht der Professor vor die Tür trat, musste er sehen, dass die drei, weil ihnen langweilig geworden war, gemeinsam den Rosenkranz beteten. Allerdings war nicht klar, ob ihnen das Gebet aus tiefster Seele entstieg oder ob sie nur vortäuschen wollten, dass sie auf dem besten Wege der Läuterung seien. Unterhaltungen der Burschen während der Stunde wurden als »Schwätzen« bezeichnet. Schwätzen war mit Strafprüfungen oder mit Strafaufgaben bedroht. Eine solche Strafaufgabe konnte sein, ein Gedicht oder einige Verse von Homers »Ilias« auswendig zu lernen. Ähnlich erging es jenen, die anstatt den Weisheiten des Professors zuzuhören, unter der Bank, gedeckt durch den Vordermann, einen Abenteuerroman lasen. Wer findig war, hatte auch in der Klosterschule stets Möglichkeiten, sich den Unterricht auf rebellische Weise angenehm zu gestalten. Manchen gelang es sogar ungesehen mit ihren Nachbarn Karten zu spielen. Auch ich gehörte zu diesen besonders Talentierten. Andere verstanden es, während des Unterrichtes ganze Mahlzeiten zu verspeisen, was als besondere Mutprobe galt. Einige wenige schliefen während der Stunde, entweder gedeckt durch den Vordermann mit Kopf und Ellbogen auf der Bank, oder so, dass sie die Augen leicht geöffnet hatten. Bei diesen glaubte der Professor wohl, sie würden besonders andächtig seinen Ausführungen folgen.

Latein und Griechisch Besonderer Wert wurde in der alten Klosterschule auf Latein und Altgriechisch gelegt. Täglich standen diese beiden Gegenstände am 136

Das Gymnasium

Stundenplan, und täglich mussten wir vorbereitet sein. Daher hatte ich auch oft vor diesen Stunden einen starken Druck im Magen, denn der diese beiden Gegenstände unterrichtende Professor, ein sonst durchaus liebenswürdiger Herr, glaubte sich im Obergymnasium dazu angehalten, uns einer dauernden Prüfung zu unterziehen. Hauptsächlich übersetzten wir bestimmte römische und griechische Dichter und Schriftsteller. Jeweils einer musste ein paar Sätze übersetzen, dann kam der andere dran. Dabei wurde die Grammatik diskutiert, und die verschiedenen Formen von Zeitwörtern wurden auf Verlangen heruntergesagt. Bei einem anderen Griechischprofessor, den wir im Untergymnasium hatten, mussten wir alle möglichen unregelmäßigen Zeitwörter in all ihren Abwandlungen heruntersagen können. Das fiel nicht immer leicht. Bei den Schularbeiten wurde gerade auf diese Verben besonders geachtet. Einmal soll dieser Pater einem Schüler, der bei einer Schularbeit von der Konjugation dieser Verben wenig Ahnung hatte, einen Sechser gegeben haben, obwohl die schlechteste Note ein Fünfer war. Bei diesem Professor mussten wir nicht nur auch diverse Sprüche auswendig lernen, sondern auch das »Vaterunser« und das »Gegrüßet seist du, Maria«. Einmal konnte einer aus unserer Klasse letzteres Gebet nicht. Er musste sich, er war damals vierzehn Jahre alt, in eine der Ecken des Klassenzimmers knien. Der Griechischprofessor im Obergymnasium, der auch unser Klassenvorstand war, war zwar gemäßigt, aber er konnte, wenn jemand etwas dumm übersetzte, geradezu eine Wut bekommen. So hatte ich einmal, ich glaube es war ein Stück bei Ovid, mit dem Stolz des Wissenden »juvenca« mit »Jungstierin« übersetzt. Ich wusste, dass »juvencus« der Jungstier ist und leitete daraus für mich logisch ab, dass die weibliche Form von »juvencus«, nämlich »juvenca«, nur Jungstierin heißen könne. Da ich ein eher schlechter Schüler war, dachte ich mir, der Professor müsse zumindest diesmal über meine grandiose Übersetzung hoch erfreut sein. Dem war aber nicht so, der gute Mann bat mich ungefähr dreimal in aller Freundlichkeit, die Stelle mit der »juvenca« wiederum zu übersetzen. Und jedesmal blieb ich bei der »Jungstierin«. Doch dann wurde es dem Herrn Professor zu viel und er fragte mich mit zorniger Stimme: 137

Die alte Klosterschule

»Girtler, hast du heute Heu zum Frühstück gegessen? Wie kann man nur so blöd sein!« Ich stand immer noch auf der Leitung. Er sagte mir noch ein paar Frechheiten und meinte, für mich wäre es besser, wenn ich als Holzhacker mein Brot verdienen würde, denn er sehe keine Chancen für mich, dass ich jemals die Matura schaffte. Abschließend krönte er seine Tirade mit: »Himmelsgetümmel, da kriege ich aber einen Zorn, wenn einer sich so teppert anstellt.« So pflegte er sich des Öfteren auszudrücken, allerdings fassten wir dies nicht als wirklich böse auf, denn der Mann war im Grunde seines Herzens ein guter Mensch. Endlich dämmerte mir der Unsinn, den ich da übersetzt hatte. Wenn jemand sich dumm beim Übersetzen anstellte, pflegte er auch zu sagen: »Ich verlange nur, dass man bis drei zählt: Subjekt, Prädikat und Objekt. Ist das so schwer?« Und wenn jemand eine einfache griechische Vokabel nicht übersetzen konnte, konnte man von ihm hören: »Was heißt das? Verstehst du das nicht? Da kriege ich doch einen Zorn. Mit solchen Teppen soll man arbeiten? Gedächtnis habt ihr wie ein Sieb, faule Bagage.« Zu seiner Unterrichtsmethode gehörte es, dass er uns aufforderte, jeweils für die nächste Stunde, für den nächsten Tag – wir hatten täglich Latein und Griechisch –, den Text, den wir durchnehmen wollten, vorzubereiten. Sah er, dass sich beinahe alle der Klasse nicht für den Unterricht vorbereitet hatten, rief er theatralisch aus: »So eine faule Klasse ist mir noch nie untergekommen! Das ist zum Verzweifeln. Ich bin schon vierzig Jahre im Gymnasium, aber so etwas Faules und Hundsgemeines, wie ihr seid, habe ich noch nicht erlebt!« Im Sinne seines Unterrichtes war es, dass man die Stelle, die zu übersetzen war, zuerst laut vorlas. Eine Kunst war dieses Vorlesen bei der »Ilias« und der »Odyssee« des großen Homer, denn seine beiden kriegerischen Epen waren in Hexametern abgefasst. Diese richtig und meIodisch zu lesen war nicht so einfach. Hatte wieder einmal einer Zeilen aus einem der Gesänge des Homer falsch betont und erschien dem Pater dieser überhaupt als fauler und für das Erlernen der alten Sprachen ungeeigneter Mensch, konnte es sein, dass er ihm sagte: »Ich bedaure, dass ich Sie bis zur achten Klasse mitgenommen 138

Das Gymnasium

habe. Lernen Sie einmal einen Hexameter …« Wenn beim Übersetzen nichts weiterging, drückte er seinen Zorn meist in dieser Art aus: »So eine faule Klasse ist mir noch nicht untergekommen. In den Ferien lungert ihr herum und tuts nichts. So geistlos sitzen sie herum, keiner macht sich Abb. 13: Pater beim Geschichts­ Notizen, das ist zum Verunterricht, um 1958 zweifeln.« Dennoch lernten wir viel bei diesem geistlichen Herrn, zumal er in uns die Liebe vor allem für das Altgriechische und insbesondere für Homer erweckte. Obwohl ich, wie schon vielfach betont, ein sehr schlechter Schüler war, begeisterte ich mich doch für die Welt der alten Griechen und ihre literarischen Schöpfungen. Ich bin ein echter Altphilologe im wahrsten Sinn des Wortes geworden, denn »Philologe« heißt nichts anderes als »Freund der Sprache« (»philos«: der Freund, und »logos«: das Wort). Dieser Latein- und Griechischprofessor, Pater Rupert war sein Ordensname, war für mich das Urbild des humanistisch gebildeten Menschen schlechthin. Damit unsere Liebe zu Latein und vor allem zu Griechisch sich später fortsetzen möge, verlangte er, dass wir aus den Werken von Vergil, Ovid und vor allem von Homer ziemlich viele Verse auswendig lernten. So beherrschte ich damals dreißig Zeilen der Ilias. Heute bringe ich noch leicht über zehn zusammen. Mir gefiel, dass dieser Mann sich in die Texte hineinleben konnte. An solchen Stellen hatte der Griechischprofessor seine Freude, aber auch an Texten von Horaz, Ovid und Cicero, bei denen unter anderem auch der Wein gepriesen wird. So meinte er einmal genießerisch dazu: »Cicero war ein guter Weinkenner, er hat ein gutes Tröpferl gern gehabt.« Einige Patres wussten, so scheint es, und darauf deutet der 139

Die alte Klosterschule

freundliche Hinweis des Lateinprofessors, in einer durchaus akzeptablen mönchischen Tradition dem guten Trunk und auch gutem Essen einiges abzugewinnen. Das ist auch nichts Schlechtes, schließlich wird in den Regeln des heiligen Benedikt ausdrücklich darauf Bezug genommen. Zunächst schreibt der heilige Benedikt, dass eine Hemina Wein (ungefähr ein Viertelliter) für jeden täglich reichen solle, und: »Wem Gott aber die Kraft gibt, sich davon zu enthalten, der wisse, dass er einen besonderen Lohn empfangen wird.« Aber es heißt gleich weiter: »Sollten die Ortsverhältnisse, Arbeit oder Sommerhitze mehr fordern, ist das dem Ermessen des Oberen überlassen: doch muss er immer darauf achten, dass nicht Sättigung oder Trunkenheit aufkommt. Zwar lesen wir, der Wein sei überhaupt nichts für Mönche, da man aber die Mönche unserer Zeit davon nicht überzeugen kann, sollten wir uns wenigstens dazu verstehen, nicht bis zur Sättigung zu trinken, sondern weniger, denn der Wein bringt die Weisen zum Abfall.« Über die Speisen meint Benedikt Ähnliches. Jedenfalls scheint diesem großen Heiligen bewusst gewesen zu sein, dass der wahre Genuss nicht im Übermaß liegt, sondern in der bewussten und sorgsamen Aufnahme zum Beispiel des Weins. Trunkenheit selbst lehnt Benedikt ab, denn diese hat nichts mehr mit dem noblen Genuss und der Freude am edlen Getränk zu tun. Und gerade auf diese Freude verwies der wackere Griechischprofessor Pater Rupert, ein höchst achtenswerter Mann, der uns Burschen z. B. durch Hinweise auf die Genüsslichkeit des Weintrinkens in der Antike die alten Schriftsteller nahebringen wollte. Dies ist ihm auch gelungen, zumindest in mir ist eine gewisse Liebe für diese Herren der Antike, allen voran für Homer, entfacht worden. Besonders gern, und immer wieder, erzählte uns Pater Rupert die bereits erwähnte Geschichte, wie Odysseus als Bettler verkleidet heimkehrte. Odysseus wollte erfahren, was in seiner Heimat während seiner Abwesenheit geschehen war. Odysseus nähert sich seinem Palast, einem großen Bauernhof. Niemand erkennt ihn, auch nicht der Schweinehirt Eumaios. Diesen fragt er, wie es im Palast zugehe. Während sie gemeinsam gehen und reden, kommen sie beim Misthaufen 140

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des Palastes vorbei. Auf diesem liegt, räudig geworden, Argos, der Hund des Odysseus. Als er des Odysseus gewahr wird, hebt er den Kopf und wedelt mit dem Schweif. Er ist das einzige Wesen, das Odysseus erkennt. Der treue Hund stirbt, nachdem er seinen Herrn noch einmal gesehen hat. Odysseus wischt sich verstohlen, damit ihn Euma­ ios nicht erkenne, die Tränen aus den Augen. Er fragt den Hirten nach dem Hund. Eumaios erzählt, dies wäre der Hund des Odysseus, der fernab in Troja umgekommen sei. Dieses kleine Geschichtchen mit dem treuen Hund erzählte uns der gute Pater mit Tränen in den Augen. In mir und anderen ist diese Erzählung Homers besonders haften geblieben. Dafür bin ich dem Pater dankbar. Aus Hochachtung vor dem treuen Argos hat übrigens meine Tochter ihren Hund nach ihm benannt.

Schwindeln als Akt der Rebellion Bevor ich mit der Beschreibung der Schulstunden fortfahre, möchte ich kurz innehalten und auf die Strategien des Schwindelns eingehen. Gerade in Latein und Griechisch, aber auch in Mathematik, dort, wo es regelmäßig Schularbeiten gab, entwickelten sich komplizierte Techniken des Schwindelns. Unter Schwindeln ist hier die Kunst zu verstehen, dem Lehrenden bei Prüfungen und insbesondere bei Schularbeiten Leistungen anzubieten, die man aus eigenem Wissen und Vermögen nicht erbringen konnte. Man ersetzte dabei die Fertigkeit im Fach, die nicht vorhanden war, durch solche des Tricksens und Schwindelns. Allerdings benötigte man für die Vorbereitungen zum Schwindeln auch viel Zeit. Hätte man diese für die Vorbereitung auf die Prüfung oder die Schularbeit aufgewendet, hätte man sicherlich auch Erfolg gehabt. Aber das schien vielen zu unsicher, weswegen man sich rebellisch auf das Schwindeln verlegte. Gerade Griechisch, aber auch Latein und Mathematik waren für mich und andere Rebellen nicht leicht, denn uns wurde damals viel abverlangt. Und um am Laufenden zu sein, hieß es, dauernd angestrengt 141

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zu lernen, die griechischen und lateinischen Vokabeln und vor allem die unregelmäßigen Zeitwörter zu wiederholen und sich auch stets auf die in den Unterrichtsstunden zu übersetzenden Texte vorzubereiten. Das erforderte harte Arbeit, zu der Leuten wie mir der nötige Fleiß und der nötige Ernst fehlten. Das Schwindeln war für uns eine Art Rebellion gegen die Strenge der klösterlichen Erziehung. Durch das Schwindeln verschafften wir uns eine gewisse Überlegenheit gegen die Allmacht der Patres und eine innere Freude, sie hineingelegt zu haben. Nämlich auch insofern, als wir ihren Wunsch, dass wir uns stets gewissenhaft mit dem Lernstoff auseinanderzusetzen hätten, einfach negierten. So hatten wir auch das Gefühl von Freiheit, ein Element der Rebellion, in uns, wenn es uns wieder einmal gelungen war, bei einer Schularbeit erfolgreich zu schwindeln. Meine Hochachtung vor dem Griechischen verhinderte nicht, dass ich bei den Griechischschularbeiten, aber ebenso bei den Latein- und Mathematikschularbeiten schwindeln musste, um formal das Klassenziel zu erreichen. Der gute Pater passte bei den Schularbeiten auf, dass niemand schwindle, aber alles konnte er nicht überblicken, das wussten wir und schwindelten kunstgerecht, ebenso wie bei anderen Professoren. Die Kunst beim Schwindeln in Latein und Griechisch war, den richtigen Text im Schmierer, wie wir die kleinen Übersetzungen der alten Klassiker (Caesar, Ovid, Homer, Vergil und Herodot) nannten, zu finden. In den letzten Klassen waren manche aufgrund langer Erfahrung zu wahren Spezialisten im Schwindeln geworden. Aus Hinweisen während der Tage vor einer Schularbeit konnten die Fleißigen der Klasse ungefähr voraussagen, aus welchem Bereich, zum Beispiel aus dem siebten Gesang des Homer oder aus den Beschreibungen des Herodot, die Stelle für die Schularbeit kommen werde, die wir zu übersetzen hatten. Der begnadete Schwindler nahm nun aufgrund der Auskünfte der eifrig Studierenden das entsprechende, leicht in den Taschen versteckbare Büchlein mit dem deutschen Text zur Schularbeit mit. Es gab Schmierer beinahe für jeden Text, den man gewöhnlich in den Gymnasien las. Der Autor dieser Schwindelhilfen verhüllte seine Identität. Auf diesen kleinen Heftchen stand bloß knapp: »von 142

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einem Schulmann«. Dieser angebliche »Schulmann« hat Generationen von hoffnungsvollen Schülern bei ihren Griechisch- und Lateinübersetzungen sehr geholfen. Dafür sei ihm hier gedankt. Die Kunst bestand nun darin, während der Schularbeit die deutsche Textstelle zu finden, denn der den Studenten vorgelegte zu übersetzende lateinische oder griechische Text war mit keinem Hinweis darauf versehen, von welchem Autor oder aus welchem Buch er stammte. Manchmal wurden vom Professor ein paar Tage vor der Schularbeit einige ausgefallene Vokabeln und vor allem Wortkombinationen angegeben, damit wir uns vorbereiten konnten. Nun bedeutete es einigen Arbeitsaufwand, die betreffende Textstelle auch zu finden. Wir suchten daher im »Großen Stowasser«, dem berühmten Lateinwörterbuch, nach diesen Wörtern und deren Verknüpfungen. Häufig stand bei diesen angegeben, bei welchem Schriftsteller sie zu finden waren. Wurde zum Beispiel angegeben »in cubiculum discessisti«, das heißt: »du bist in das Schlafgemach gegangen«, hat man im »Großen Stowasser«  – und nicht im »Kleinen Stowasser«, der ist nicht so genau – unter »cubiculum«, das Schlafgemach, nachgesehen. Dort fand man auch die angegebene Wortkombination, bei dieser stand »Ci«, das ist die Abkürzung für Cicero. Jetzt musste man die betreffende Stelle bei Cicero finden. Das war gewöhnlich die Arbeit von ein paar Spezialisten, die sich untereinander die Mühe aufteilten, in den Schriftstücken Ciceros zu suchen. Dies festigte das Vertrauen zueinander und die Kameradschaft. So ein Schwindelunternehmen gelang durch Gemeinschaftsarbeit. Hatte man die Stelle gefunden, musste der Schwindler Kühnheit und Geschicklichkeit aufwenden, um unter der Bank oder geschickt verborgen im Schularbeitenheft – dies war wegen der Kleinheit des Schmierers möglich – die betreffenden Zeilen abzuschreiben. Schwindeln war zumindest für mein Überleben im Gymnasium wichtig. Einmal, ich hatte wieder eine ganze Textstelle abgeschrieben, befürchtete ich zu Recht, dass der Pater Rupert, unser Griechisch­ professor, hinter meine Schwindelei kommen werde. Ich bildete mir ein, er hätte mich während der Schularbeit beobachtet und warte nur 143

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mehr darauf, nachdem er die Schularbeit gelesen hat, dass er gegen mich etwas unternehmen werde. Um dem zuvorzukommen, griff ich zu einem üblen Trick. Ich ging zu ihm in den Beichtstuhl, wo er regelmäßig die Beichten von Studenten abnahm. Ich beichtete ihm nun, dass ich bei der Griechischschularbeit geschwindelt habe. Der gute Pater, unser Griechischprofessor, hörte sich meine Beichte gelassen an und gab mir die Absolution, die Lossprechung von den Sünden. Ich bin überzeugt, er wusste genau, dass ich die Schularbeit bei ihm gemeint habe. Nun war der Pater an das Beichtgeheimnis gebunden, damit hatte ich spekuliert. Er war nobel und machte keinen Gebrauch von meiner Beichte und gab mir mit gütigem Blick die von ihm mit einer mittelmäßig guten Note versehene Schularbeit zurück. Übrigens: Über mittelmäßige Noten war ich stets hoch erfreut. Ein »Befriedigend« fand ich großartig, ebenso meine Eltern, die mir für eine solche Note zur Belohnung ein paar Schilling gaben. Hatte ich keine Möglichkeit zum Schwindeln, fürchtete ich mich auf die Rückgabe der Schularbeiten, ich war dankbar, wenn sich diese möglichst lange hinauszögerte. Kam nun der Professor mit den Schularbeitsheften in die Klasse, hatten schlechte Schüler wie ich, wenn sie nicht geschwindelt hatten, ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend. In Latein und Griechisch wurde man regelmäßig vom Professor aufgefordert, einen Teil des Textes, der uns zur Vorbereitung aufgegeben worden war, während des Unterrichtes zu übersetzen. Meine Vorbereitung sah meist so aus, dass ich mit feinem Bleistift über die einzelnen Zeilen der lateinischen oder griechischen Stelle die Übersetzung schrieb. Wir bezeichneten diese Tätigkeit als »Präparieren«. Kam ich nun zum Übersetzen dran, konnte ich zur Überraschung des Professors eine prächtige Übersetzung vorlegen. Solche Präparierungen der Texte halfen auch dann vorzüglich, wenn der Professor am Beginn der Stunde jemanden zum Katheder holte, um ihn ernsthaft zu prüfen. Auch dabei musste der Student vorsichtig sein, um den Pater nicht aus der Reserve zu locken. Die Übersetzung durfte nicht zu perfekt sein. Einmal passierte etwas Peinliches. Ein Freund 144

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von mir wurde zum Katheder geholt, um einen Text aus Homers Odyssee zu übersetzen. Dies tat er auf sehr ungeschickte Art. Für die Gesänge des Homer gab es diese bereits erwähnten kleinen Hefte »von einem Schulmann«. Die Übersetzungen dieses Schulmanns hatten den Vorteil, dass sie sehr einfach und ziemlich wörtlich waren, im Gegensatz zu kunstvollen, im Wortsinn mehr übertragenen, die für den Lesegenuss gedacht waren. Eine solche kunstvolle klassische Übersetzung der Epen des Homer stammte von Johann Heinrich Voß, einem hervorragenden Schriftsteller und Dichter des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Auch diese Voßsche Übersetzung benutzten wir. Damit ergab sich aber ein Problem, denn genauso wie bei Homer finden sich bei ihm herrliche Hexameter und prachtvolle Wortkonstruktionen. Er bildete das Versmaß und Stil seines Vorbildes nach. Die Übersetzungen von Voß mussten wir daher mühsam auf unser Niveau umarbeiten. Dies hatte aber der bereits erwähnte Freund versäumt. In der Eile »präparierte« er den Text ziemlich wörtlich, er schrieb Wörter direkt von Voß ab, über die Zeilen in seinem Buch. Mit diesem wurde er nun zur mündlichen Prüfung an die Tafel gerufen. Zum Katheder, an dem der Professor saß, hatte er eine Art Ehrenabstand einzuhalten. Über das Ritual von Prüfungen habe ich später noch einiges zu erzählen. Der Professor forderte ihn nun auf, mit der Übersetzung zu beginnen. Der Herr Student begann zögernd das vorzulesen, was er über die Zeilen geschrieben hatte. Dabei verwendete er die Ausdrücke Voßens, die in das 18. Jahrhundert passten, aber nicht in das 20. Er übersetzte ungefähr so: »Traun sprach Achill die geflügelten Worte …« Ich habe nie verstanden, was dieses »traun«, mit denen Voß manche Hexameter einleitete, eigentlich bedeutete. Es dürfte ein geniales Füllwort sein, das unser Freund bei seiner Übersetzung vor dem Griechischprofessor leider verwendete. Dieser horchte ob der Übersetzungskunst dieses Mannes auf und verlangte nun, er solle ihm doch seine Ausgabe der Odyssee des Homer zeigen. Der Professor blickte in das Buch, dabei nahmen seine Gesichtszüge furchterregende Formen an, und er schimpfte: »Der Homer ist ja präpariert, schaun Sie, dass Sie in die Bank kommen.« Mit einer 145

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ungenügenden Note musste der Student sich zurückziehen. Bei Schwindeleien, wie dem Präparieren von Texten der Klassiker, musste man äußerst vorsichtig vorgehen. Es gab aber auch hier Künstler, die derartig zart mit Bleistift die Übersetzung über die Zeilen schrieben, dass man schon sehr gute Augen haben musste, um sie zu entdecken. Wie in anderen Gymnasien auch, wurden recht komplizierte Strategien für den Einsatz von Schwindelzetteln vor allem bei Mathematikschularbeiten entwickelt. Allerdings glaube ich, dass durch den engen Kontakt der Burschen im Konvikt die dortigen Tricks noch etwas ausgefeilter waren. Vor den Schularbeiten wurde mitunter viel Zeit aufgebracht, um solche Schwindelzettel zu verfassen. Wichtig war, dass diese auch, wenn sie gebraucht wurden, eingesetzt werden konnten. Auf solchen Schwindelzetteln fanden in den unteren Klassen, als bei den Lateinschularbeiten noch keine Wörterbücher verwendet werden durften, ganze Listen von Vokabeln Platz, aber auch auf den Innenseiten von Händen. Ähnlich verhielt es sich mit mathematischen Formeln, die auswendig zu lernen zu viel Mühe war. Freilich achteten die Herren Professoren sorgsam darauf, dass niemand einen derartigen Zettel verwendete. Die Kunst war, diesen sofort, wenn der Pater etwas erahnte, verschwinden zu lassen. Von einem Kommilitonen weiß ich, dass er seinen Schwindelzettel an einem Gummiband befestigt hatte, sodass dieser, wenn er ihn ausließ, im Ärmel seines Rockes verschwand. Im Konvikt konnte man sich den Partner, der ein fleißiger Bursche sein musste, aussuchen. Insofern war der Klosterschüler gegenüber seinem Kollegen in der weltlichen Schule überlegen. Gerade als schlechter Schüler verbrachte man viel Zeit damit, einen in dem betreffenden Gegenstand ausgezeichneten Kollegen zu bewegen, ihm doch während der Schularbeit einen Zettel mit den Rechenaufgaben oder der übersetzten Lateinstelle zu schicken. Auch ich versuchte, eine derartige Unterstützung zu bekommen. Dies geht aus einem Brief hervor, den ich 1953, in der dritten Klasse, als wir schon Griechisch hatten, meinen Eltern schrieb. Ich bat darin, sie sollten mir doch fünf Schilling schicken, damit ich sie dem Primus unserer Klasse geben könne. Dieser würde mir dafür während der 146

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Schularbeit einen »Zettel schicken« (siehe Abbildung des Briefes, S. 6). Ob meine Eltern diese Strategie des Schwindelns unterstützt haben, weiß ich heute nicht mehr, jedenfalls ist ersichtlich, dass ich zumindest versucht habe, zu diesem Geld zu gelangen. Schwindelzetteln, die mir bei Mathematikschularbeiten mein Sitznachbar schrieb, verdanke ich, dass ich überhaupt bis in die achte Klasse gekommen bin. Dieser Bursche, Gerald Rollé (Betonung auf dem letzten Buchstaben), ich erwähne seinen Namen in Dankbarkeit, war ein hervorragender Mathematiker. Wir waren damals in der siebten Klasse. Gerald saß in der ersten Reihe ganz links beim Fenster. Da der Mathematikprofessor zu Recht mich verdächtigte, bei den Schularbeiten zu schwindeln, musste ich mich während dieser direkt vor den Katheder in die erste Reihe setzen. Der gute Mann dachte, er könne mich so besser kontrollieren. Es gab zwei Gruppen von Aufgaben, die so verteilt waren, dass die Nachbarn jeweils einer anderen Gruppe angehörten. An die Möglichkeit, dass jemand neben seinen Aufgaben auch die seines Nachbarn zu rechnen vermag, dachte der Professor nicht. Er war sich sicher, dass auch mein nunmehriger Nachbar Gerald mir aus Zeitgründen nicht helfen werde, da er ja andere Aufgaben als ich zu rechnen hatte. Gerald, den ich vorher um seine Unterstützung gebeten hatte, löste in Rekordgeschwindigkeit seine Rechnungen und widmete sich dann den meinen, die er fein säuberlich auf einen kleinen Zettel schrieb. Diesen schob er mir in einem geeigneten Augenblick zu. Geschickt barg ich dieses für mich ungemein wertvolle Papier in meinem Schularbeitenheft und schrieb einfach ab, was mir der Nachbar gerechnet hatte. Als der Professor uns in einer der nächsten Mathematikstunden die Schularbeit zurückgab, musste er mir mit Verbitterung mitteilen, dass ich ein »Gut« hatte. Ein »Sehr gut« wollte er mir offensichtlich nicht geben. Auch bei der nächsten Schularbeit wurde ich mit derselben Note beglückt. Der gute Professor war fassungslos, da er nicht glauben konnte, dass ich nicht geschwindelt hatte, denn er hatte den Eindruck, ich würde die Rechenaufgaben, die er uns stellte, nicht einmal verstehen. Als der Professor mir wieder einmal eine vorzügliche Note 147

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hätte geben müssen, behauptete er einfach, er könne nicht lesen, was ich da geschrieben hätte. Nun forderte er mich als einzigen der Klasse in einer der nächsten Stunden auf, die Schularbeit nachzumachen. Ich musste mich wiederum in die erste Bank setzen, nun alleine. Gerald hatte sich in eine andere Bank zu setzen. Die anderen Bänke wurden weit zurückgeschoben, sodass keine direkte Verbindung zu mir bestand. Der Professor schrieb nun vier Aufgaben an die Tafel, die ich lösen solle. Die Kollegen durften sich mit anderem nach Belieben beschäftigen, sie mussten nur ruhig sein, während ich vorne alleine und von allen verlassen mich den Rechnungen zu widmen hatte. Während der Schularbeit blieb der gestrenge Pater vor mir stehen, er las allerdings in seinem Gebetbuch, dem Brevier. Sein Fehler war, dass er die Aufgaben auf die Tafel geschrieben hatte, so konnten Gerald und andere diese rechnen. Auf einem Zettel schickten sie diese zu Kurt, der in der ersten Bank auf der anderen Seite mir am nächsten saß. Dieser nun schoss mir irgendwie, während der Pater wahrscheinlich gerade ein Gebet las, diesen Zettel so zu, dass er zu meinen Füßen, für den Pater nicht zu sehen, lag. Ich bückte mich vorsichtig danach. Gerade jetzt blickte mich der Professor durchdringend an. Ich tat nun so, als ob ich mein Taschentuch aus der Hosentasche holen würde. Dabei ließ ich den Zettel in der Hosentasche verschwinden. Ich schneuzte mich heftig, gab das Taschentuch wieder an seinen Platz und holte, da der Pater keinen Verdacht mehr schöpfte und wegsah, den Zettel hervor und schrieb ihn, durch die Hand verdeckt, ab. Das Erstaunen des Mannes war groß, als ich die Aufgaben wiederum richtig gelöst hatte. Diese Schwindelaktion war nur aufgrund der Kameradschaft möglich, die im Konvikt entstanden war, und auch, weil ich über die Fertigkeiten für perfektes Schwindeln verfügte. Der gute Schwindler musste geschickt mit den Fingern sein und vor allem stoische Ruhe haben, die nicht leicht zu erlernen war. Besonders schwierig war es, bei Schularbeiten in Latein, Griechisch und Englisch vom Nachbarn richtig abzuschreiben. Dabei musste der Nachbar, der den Gegenstand beherrschte, das Heft so halten, dass der schlechte Schüler auch aus einiger Entfernung das Übersetzte 148

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lesen konnte. Schularbeiten boten ein weites Feld des Schwindelns, mit Ausnahme freilich der Schularbeiten in Deutsch, bei denen es um Aufsätze ging, die jeder selbst zu meistern hatte. In Deutsch gab es jedoch sogenannte Zettelarbeiten, die so etwas wie Tests waren und bei denen ähnlich wie bei Schularbeiten geschwindelt werden konnte. Zur Kunst des Schwindelns meinte übrigens ein Pater einmal lächelnd zu mir, dass derjenige, der bei Schularbeiten so gut schwindle, dass er nicht erwischt werden könne, sich eine gute Note durchaus verdient habe.

Das Ritual der Prüfung Geradezu charakteristisch für das alte Gymnasium und speziell das eines Klosters ist gewesen, dass die Prüfung eines Studenten eine Art Ritual war, bei dem der Prüfling dem Professor in aller Ehrerbietung und Höflichkeit zu begegnen hatte. Und geprüft konnte immer werden. Dessen musste man gewiss sein. War der Professor schlecht aufgelegt, konnte es sein, dass er willkürlich prüfte, um seinen Ärger an die Studenten weiterzugeben. Daher wollte man als Schüler stets wissen, bevor der Professor das Klassenzimmer betrat, ob er »gut« oder »schlecht aufgelegt« sei. Denn je nachdem konnte man rechnen, die Stunde mit ihm einigermaßen heil zu überstehen. Daher fragte man zum Beispiel Studenten anderer Klassen, bei denen er gerade unterrichtet hatte, wie er »aufgelegt« sei. Hörte man, die Laune sei gut, war man voll der Hoffnung, eine Prüfung heil zu überstehen. Ansonsten befürchtete man das Ärgste. Der Prüfling, der vom Professor zum Examen gerufen wurde, musste aus seiner Bank heraustreten und den Weg zum Katheder, der gleich einem Thron links von der Tafel sich über das Klassenzimmer erhob, gehen. Dabei stieg er auf dieses Podium, das bei der Prüfung geradezu zur Bühne wurde, auf der Professor und Student als Darsteller fungierten. Der eine am Katheder sitzend, der andere stehend. Zunächst über149

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reichte der Prüfling sein Heft mit der Mitschrift dem Professor und nahm dann an dem dem Katheder gegenüberliegenden Rand der Bühne Aufstellung. Dort harrte er des Kommenden. Der Professor blätterte in seinem Notenbuch und schaute in das Heft. Währenddessen war es im Klassenzimmer ruhig, manchmal lautlos. Manche versteckten sich hinter ihren Vordermännern und hofften, dass dem Professor nicht einfiele, sie auf die Bühne zur Prüfung zu holen. Die Prüfungen liefen immer gleich ab. Der Professor fragte, und der Student plagte sich. Konnte der Prüfling die Fragen beantworten und großes Interesse an dem betreffenden Gegenstand heucheln, wurde er mit einer guten Note zurück in die Bank geschickt. Hatte er wenig Ahnung von dem Prüfungsstoff, blickte er verzweifelt zu den Freunden in der Klasse. Unter diesen gab es Spezialisten im sogenannten »Einsagen«. Entweder durch Lippenformung oder durch kaum hörbares Flüstern aus den vorderen Bänken konnte oft großem Unheil vorgebeugt werden. Von geradezu ritueller Fürchterlichkeit waren die Prüfungen beim Professor der Naturgeschichte, einem unter seinen Brillen oft wild blickenden dürren Mönch. Seine schwarze Kutte steigerte noch das Angsteinflößende seiner Gestalt. Rief er einen Studenten auf, fürchtete sich dieser, auch wenn er einiges gelernt hatte. Man wusste, dass der ungemütliche Mönch schon wegen eines falschen Wortes in Zorn geraten und den Prüfling mit derben Worten in die Bank zurückschicken konnte. Manchmal ergriff der über die Faulheit des Studenten erzürnte Herr das Heft des zitternden Prüflings und warf es ihm nach. Es kam auch vor, dass das Heft dabei in der mit Wasser gefüllten Schüssel bei der Tafel landete. Das beschädigte Heft war vom betreffenden Studenten noch einmal zu schreiben. Dieser Naturgeschichtsprofessor war ein Herr von bitterem Humor und von eigenartiger Kauzigkeit, die vielleicht typisch für Menschen ist, die sich in klösterlicher Einsamkeit gerne ärgern. Einmal brachte dieser Pater, man nahm gerade Steine und Kristalle durch, einige Holzmodelle solcher Kristallformen aus dem Naturgeschichtskabinett des Gymnasiums in die Klasse. Ein Modell hatte die Form eines Prismas. Er zeigte es einem Schüler und fragte: »Wie nennt man das 150

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mineralogisch?« Er wollte »Prisma« hören, stattdessen meinte der Gefragte: »Einen Würfel.« Darauf erwiderte der Professor mit Hohn: »Sei ruhig, sonst wirst du noch vor der Zeit blöd.« Ein andermal prüfte er jemanden über eine bestimmte Blume. Daraufkam die Antwort: »Der rote Hartriegel blüht rot.« Darauf erwiderte der Professor etwas zornig: »Von wem hast du diese Weisheit, von mir nicht, vielleicht ist das eine neue Züchtung?« Mit spöttischen Worten wurde der Unsinn solcher Antworten bloßgestellt. Ähnlicher Spott ergoss sich, als der Professor auf einer Tafel mit geschützten Pflanzen auf das Edelweiß zeigte und einen Schüler aufforderte, ihm zu sagen, welche Blume dies sei. Dieser meinte, es wäre das »Kohlröserl«. Der Professor: »Was sagst du, du Tepp?« Nun wurde dem Burschen klar, dass er einen Unsinn gesagt hatte, schauspielernd wies er daraufhin, dass er schlecht sehe. Nun meinte der Pater: »Ein Jäger wie dein Vater dürftest du nicht werden, denn dann kämest du statt mit einem Edelweiß mit einem Kohlröserl heim!« Bei solchen Bemerkungen lachte der Herr Professor meist abschätzig. Auch die Burschen hatten ihren Spaß an diesem Spott, überhaupt wenn er sie nicht direkt traf, und lachten, allerdings vorsichtig und verdeckt. Einmal hatte ein Schüler ihm geantwortet, dass der Frosch zu den Säugetieren gehöre. Der Pater reagierte so: »Man wird vergeblich einen Frosch suchen, der Muttermilch säugt, du Trottel!« Schimpfworte, die durchaus ihre heitere Seite hatten, begleiteten das Ritual der Prüfung. Die Burschen erzitterten davor, aber man machte sich auch lustig über den zürnend spöttelnden Pater. Studenten, die sehr schlechte Noten hatten und ernstlich befürchten mussten, mit einem »Nicht genügend« beurteilt zu werden, versuchten während der Unterrichtsstunde bei diesem Herrn eine besondere Aufmerksamkeit zu heucheln, um den Professor günstig zu stimmen. Ein solcher war ein gewisser Haslinger, der in der ersten Reihe saß und stets, wenn der Professor eine Frage an die Klasse richtete, seinen Arm in ritueller Art mit seiner zum Schwur gefalteten Hand pfeilgerade in die Höhe führte. Seine Haltung wurde dabei steif. 151

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Wendete sich der Professor an ihn, schoss seine Antwort heraus, allerdings stimmte sie nicht immer. Dies nahm der Bursche in Kauf, ihm war es wichtig, etwas Wohlwollen für seine unglückliche Situation als schlechter Schüler zu erheischen. Der rituelle Charakter der Prüfungen zeigt sich auch an einem anderen Beispiel. Im Geografieunterricht war ein Prüfling dem Katheder zu nahe getreten, er hatte den Respektsabstand nicht gewahrt. Darauf streckte der Professor, er war ein weltlicher Herr, sein Bein aus in Richtung Magengegend des aufgeregten Kandidaten und forderte ihn auf, mindestens zwei Schritte zurückzutreten.

Der Unterricht als Theater Jeder gute Professor hat das Zeug zu einem guten Schauspieler, und gerade in den Klosterschulen gab es echte Experten der Schauspielkunst. Das Klassenzimmer war die Bühne ihrer Originalität oder ihrer Schrulligkeit, die sie bewusst zu leben schienen. Vielleicht übertrifft hierin gerade der Professor, der gleichzeitig Pater ist, den weltlichen Lehrer, da er eine gewisse mönchische Gelassenheit und auch mönchischen Witz mitbringt und diesen auch auszuleben vermag. Ein solcher Künstler war der Deutsch- und Lateinprofessor Pater Heinrich, bei dem der Unterricht tatsächlich etwas von einem Theater hatte. Überhaupt dann, wenn er mit prächtiger Stimme auf die Wichtigkeit der Klassiker hinwies und mit großartigen Gesten Buchstaben an die Tafel malte. Sein Sich-Erheben vom Katheder, das Schreiten zur Tafel und die Rückkehr zum Katheder hatten etwas Imponierendes an sich. Den Schülern wurde dabei bewusst, dass dieser Mann die Welt der deutschen und römischen Literatur und des Geistes schlechthin verkörperte. Entsprechende Aussprüche waren von ihm zu erwarten. So reagierte er seufzend auf das Lachen eines Schülers während des sonst langweiligen Unterrichtes und sagte, ihm zugewandt: »Ein segensreicher Anblick im sonst blöden Dasein!« Und als ein Bursche mit dem Kugelschreiber absichtlich eigenartige 152

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Geräusche, die wie »Furzen« (man verzeihe mir dieses Wort) klangen, verursachte, spielte der Professor den Helden, der mit unangenehmen Dingen umge­ hen kann, und rief in die Klasse: »Das sind Geräusche, von denen man nicht weiß – sind sie geistiger oder körperlicher Natur!« Diese bühnenreife Souverä­ nität bewies der Mann auch bei der Benennung jener Schüler, die ihn ärgerten. Als einmal der Schüler Sommer seinem Nachbarn, der beim Übersetzen Abb. 14: Der Pater im Unterricht einer Stelle des Plinius erhebliche Schwierigkeiten hatte, einsagte, schrie ihm der Pater mit geballter Stimme, die an Theaterdonner erinnerte, zu: »Sommer, ich lasse Sie hinausstellen. Sie lächerlicher Stinkochse, Sie!« Ein begnadeter Darsteller auf der Bühne des Klassenzimmers war der Religionsprofessor, der, wie ich schon erzählt habe, mir bis zur achten Klasse ein »Sehr gut« in Religion gab, weil ich als Einziger der Klasse wusste, wann das Konzil von Nizäa war. Gerne erzählte er, der auch Prior des Stiftes war, uns in der Art eines Bauernbunddirektors über seine gewichtige Wirtschaftsarbeit und machte seine Scherze über die Menschheit. Theatralisch wurde er, wenn ihn etwas ärgerte. Dann rief er aus, seine Stimme erhebend: »Da lacht doch jedes Huhn!« Er bezeichnete sich selbst, da er die Nationalsozialisten abgelehnt hatte, als »Überlebenden des Tausendjährigen Reiches«. Diesen braven Pater zierte ein ausgeprägter mönchischer Bauch, auf den er stolz zu sein schien. Bemerkenswert ist seine Meinung zur Ernährung. Er meinte nämlich: »Die meisten Krankheiten kämen von Friesland her«, womit er sagen wollte, dass das Fressen schuld an körperlichem Unwohlsein sei. Er lebte allerdings nicht immer im Sinne dieser Weis153

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heit. Man erzählte sich, dass ihm einmal bei einem Besuch bei einem Bauern eine Eierspeise von zwölf Eiern vorgesetzt worden sei und er diese auch verzehrt habe. Zu seinen Weisheiten zählte auch der Abstinenzler-Spruch: »Rauchen ist das Verbrennen des Geldes vor der eigenen Nase.« Pater Rudolf, so hieß dieser Professor der Religion, war ein glänzender Darsteller alter mönchischer Eigenart und zeigte sie auch. Von ebenfalls nicht unangenehmer Theatralik war auch das Verhalten des Geschichts- und Geografieprofessors Pater Gotthardt. Er war damals gegen Ende der Fünfzigerjahre schon ein würdiger alter Herr, der aber seinen Witz nicht verloren hatte. Irgendwie liebte er seinen Beruf und mochte die Schüler, solange sie ihm ehrlich und fromm erschienen. Er gestaltete den Unterricht chaotisch-genial. Wir lernten eine Menge und konnten alle deutschen Kaiser mit den Jahreszahlen auswendig heruntersagen. Sein Notenbuch, das er bei sich trug und in das er unsere Namen und Noten eintrug, war nur am Beginn des Schuljahres einigermaßen ordentlich und ansehnlich. Bereits nach kurzer Zeit, da er es nicht in einer Tasche verwahrte, sondern in die Seitentasche seiner Kutte zu stecken pflegte, war es schnell ramponiert und zeitweise überhaupt verschwunden. Samt den Noten. Wenn das Büchlein wiederauftauchte, trug er die Noten mit einem stumpfen Bleistift ein. Beschrieb er die Welt, sprach er von bizarren Bergen und bunten Tälern. Und mit Begeisterung erzählte er vom Prager Fenstersturz, bei dem die Hinausgeworfenen auf die Lanzenspitzen der unten harrenden Menge fielen. Und er sprach von der seidenen Schnur, die man dem türkischen Feldherrn Kara Mustafa geschickt hatte. Diesem war es 1683 nicht geglückt, Wien zu erobern. Mit der seidenen Schnur sollte er seinem Leben ein nobles Ende bereiten. Dieser Pater wusste die Schüler gleich einem professionellen Unterhalter auf der Bühne in Spannung zu halten. Souverän wanderte er bei seinen Erzählungen durch das Klassenzimmer wie ein Großgrundbesitzer, der seine Ländereien besucht. Immer wieder unterbrach er seinen Vortrag und richtete an einen der Schüler eine heitere Frage. Er fragte meist auch bei Beginn der Stunde, ob man das gelernt habe, 154

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was er in der letzten Stunde vorgetragen hatte. Mich fragte er regelmäßig, wobei er meinen Namen bewusst witzelnd verhunzte: »Girtgler, hast du etwas gelernt?« Gewöhnlich verneinte ich der Wahrheit entsprechend. Darauf erhielt ich eine klatschende Ohrfeige, die allerdings nicht unfreundlich gemeint war und nicht weh tat. Pater Gotthardt sagte, dass er nur jene Leute ohrfeige, die er auch möge. Sei ihm jemand unsympathisch, gebe er ihm keine Ohrfeige. Diese Feststellung beruhigte mich und ehrte mich beinahe. Tatsächlich war der freundliche Pater ein wahrer Spezialist im bühnenreifen Verteilen von Ohrfeigen. Er wusste diese Ohrfeigen so zu geben, dass seine hohle Hand beim Aufklatschen auf die Wange des Schülers ein prachtvolles Geräusch verursachte. Zu mir sagte er einmal, ich hätte schon eine derartig harte Haut auf der Wange, dass mir Ohrfeigen ohnehin nichts mehr ausmachen würden. Tatsächlich fasste ich seine Ohrfeigen nicht als Demütigung auf. Ich nahm sie gelassen, geradezu als ein Zeichen der Anteilnahme hin. Mit seinem lebendigen, theatralischen Unterricht konnte er uns fesseln und in uns ein Gefühl für die Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit erzeugen. Wir hatten ihn auch in Geografie. Pater Gotthardt lebte seelisch noch im alten Österreich, für ihn waren Österreich und die Monarchie eins. Und er meinte auch, dass Österreich nicht am Brenner aufhöre, sondern bei der Salurner Klause. Einmal fragte er einen Schüler, der ihm etwas über die Berge Südtirols erzählen sollte, welchen Weg er über die Grenze nach Österreich nehmen würde, wenn er ein Freiheitskämpfer für Südtirol wäre, der vor den Italienern auf der Flucht ist. Eine beliebte Frage bezog sich auf die Festungen der burgundischen Pforte. Man musste ihm die drei Festungen Belfort, Besangon und Dijon nennen. Die nächste Frage hieß, in welche Festung man sich am besten zurückziehen solle. Die Antwort war »Dijon«. Und auf sein »Warum?« war zu antworten: »Weil es dort den besseren Wein gibt.« Guter Witz paarte sich bei dem Professor mit der Freude an der heiteren Darstellung des Unterrichtsstoffes, bei der auch die Studenten mit einbezogen wurden. 155

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Ein fabelhafter Schauspieler war auch »der Zwirn«, wie unser Deutschprofessor mit Spitznamen hieß. Er war ein Weltlicher. Mit wiegendem Gang, den Oberkörper leicht nach vorne geneigt, betrat er das Klassenzimmer und setzte sich auf den Katheder. Er war ein Mann der Genauigkeit und des Pflichtbewusstseins. Vielleicht war er gerade darum ein guter Deutschlehrer, der uns die Freude am Lesen, auch am Zeitunglesen beibringen wollte. Ich war zu dieser Art des Lesens leicht zu animieren. So las ich begeistert zum Beispiel während des Lateinunterrichtes die Tageszeitung. Einmal erwischte mich der Lateinprofessor dabei, als ich auf diese Art den Unterricht angenehm verbrachte. Ich versuchte ihm einzureden, dass ich mit dieser Zeitung mein Lateinbuch einbinden wollte, damit es auch stets rein und sauber bleibe. Zunächst schien er mir zu glauben, doch dann betrachtete er die Zeitung näher und rief aus: »Die Zeitung da ist ja ganz frisch.« Dem fügte er noch ein paar Schimpfworte hinzu. Der Deutschprofessor Zwirn, er hieß mit bürgerlichem Namen Martin Grillmeyer, entwickelte in uns Interessen, die über die Klostermauern hinausreichten. So erinnere ich mich, dass er der Erste war, der uns auf die Wichtigkeit von Wochenmagazinen in der Art des deutschen »Spiegels« hinwies. Die Schularbeiten benotete er mit größter Gerechtigkeit, was gerade bei Deutschschularbeiten, bei denen es sich um Aufsätze handelt, schwer ist. Aber er bemühte sich immerhin. Einen meiner Aufsätze in der zweiten Klasse las er öffentlich vor, weil er ihm besonders gelungen und gespickt mit Selbstironie erschien. Es ging bei diesem Aufsatz um ein Ferienerlebnis. Ich beschrieb, wie ich entgegen dem Willen meines Vaters mit dessen Motorrad, das ich mit einem Nagel gestartet hatte, durch unser Dorf fuhr. Dabei hatte ich ehrlich geschrieben, dass ich mich bei dieser Fahrt als Held und Patriot gefühlt habe. Ich hatte das durchaus so gemeint. Was Selbstironie ist, wusste ich damals noch gar nicht. Aber ich ließ ihn in dem Glauben, mein Aufsatz sei »selbstironisch«. Wenn er uns Zusammenhänge in der deutschen Literatur klarmachen wollte, zeichnete er gestikulierend große Kreise in die Luft. Er verlangte genaue Mitschriften, die wir einigermaßen wörtlich bei den Prüfungen wiedergeben mussten. 156

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Auch der Mathematikprofessor hatte etwas von einem Schauspieler an sich. Er war ein untersetzter, dicklicher Mönch, der eine gewisse Noblesse ausstrahlte und diese auch lebte. Er hatte eine feinsäuberliche, kunstvolle Schrift, in der er seine mathematischen Formeln auf die Tafel malte. Diese Formeln konnten mich nicht begeistern, sie waren mir vollkommen gleichgültig. Das war fatal, denn es machte mir das Leben nicht leicht. Er konnte manchmal bösartig verschlagen sein, ein Intrigant wie aus einem Shakespeare-Drama. Insofern war er gefürchtet, überhaupt von Studenten, die schwach in Mathematik waren. Bei Mathematikschularbeiten pflegte er vier Aufgaben zu stellen. Jede richtig gelöste Aufgabe wurde mit zehn Punkten bewertet. Hatte man vierzig Punkte, bedeutete dies ein »Sehr gut«. Für ein »Genügend« benötigte man mindestens zwanzig Punkte. Hatte sich ein Schüler nun ein »Genügend« ausgerechnet, freute er sich, doch noch positiv beurteilt zu werden. Aus einer Laune heraus, wenn er den betreffenden Schüler demütigen wollte, gab der Mathematiker statt der zwanzig nur neunzehn Punkte. Den einen Punkt hatte er wegen irgendeiner Nebensächlichkeit abgezogen. Damit konnte er dem unglücklichen Schüler ein »Nicht genügend« unter die Schularbeit schreiben. Der Schüler versank in Trostlosigkeit. Mir erging es einige Male so. An einen Kommilitonen kann ich mich erinnern, der dasselbe Pech hatte. Dieser war derart wütend, dass er in seinem Zorn meinte, er würde den Professor erschießen. Er lief herum und schrie: »Den erschieß ich!« Gott sei Dank hat er es nicht getan. Ersuchte man diesen Pater, er solle doch großmütig sein und noch ein »Genügend« auf die Schularbeit geben, wies er theatralisch darauf hin, wie wichtig es sei, dass der Bursche eine ordentliche Mathemathik lerne und dass er sich die ungenügende Note verdient habe. Man hatte das Gefühl, der Professor weide sich an dem Unglück, das der schlecht Benotete empfand. Er konnte aber auch freundlich sein. So war es üblich, dass in den jeweils letzten Stunden vor Weihnachten und vor den Schulferien der Professor uns eine Geschichte vorlas. Was er aber mit Grabesstimme vorlas, waren zumeist Gespenstergeschichten, bei denen uns gruselte. Er las auch Geschichten vor, die er selbst erfunden 157

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hatte. Diese Geschichten, die er als kleine Hefte veröffentlichte, handelten zumeist von überirdischen Dingen, aber ebenso von Bewohnern von fremden Sternen. Für den Mathematikprofessor war das Klassenzimmer der Ort, an dem er seine bizarren, nicht immer freundlichen Regungen ausleben konnte. Kein schlechter Schauspieler war auch der Zeichenprofessor, ein gestrenger Herr, ein Weltlicher, der angeblich bei der Olympiade in Berlin als Langstreckenläufer angetreten war. Ob mit oder ohne Erfolg, weiß ich nicht. Dieser Professor erwarb sich übrigens später, sein Name ist Thiemann, einen guten Ruf als Sgraffito-Künstler. Leider neigte er zu Zornesausbrüchen, wenn jemand es wagte, die Zeichenstunde durch Getratsche zu stören. Er hatte seine sympathischen Seiten und verfügte über saftigen Witz. So pflegte er, wenn er meine Zeichnungen, die kein Kunstgenuss waren, betrachtete, zu sagen: »Das sind schön verteilte Scheußlichkeiten.« Und wenn er auf jemand wütend war, rief er diesem zu: »Der Schlag soll dich treffen, am besten einer von mir!« Ein besonderer Spezialist in der Selbstdarstellung war der Physikprofessor. Dieser herrschte im sogenannten Physikzimmer, in dem er auch Chemie unterrichtete. Dieses Zimmer ähnelte einem Universitätshörsaal, bei dem die Bänke der Studenten hintereinander in die Höhe steigen, während der Tisch, an dem dieser Pater seine Experimente durchführte, unten vor einer großen Tafel sich erstreckte. Wie in einem Amphitheater blickte man hinunter auf den kühn gestikulierenden Physikprofessor, dessen schauspielerische Qualität darin bestand, dass er bei der Darstellung seiner physikalischen und chemischen Künste stets englische Wörter mit amerikanischer Färbung einwarf. Er zeigte damit, dass er sich eine Zeit lang in den USA aufgehalten hatte, und, wenngleich ein Pater, auch ein Weltmann war. Er ging entlang des Tisches auf und ab, erzählte uns die kompliziertesten Sachen, und schließlich führte er ein Experiment durch, das allerdings nicht immer gelang. In den Chemiestunden roch es entsetzlich. Jene Burschen, die er mochte, lächelte er an, richtete an sie freundliche Fragen und schüttete über sie sein Wohlwollen. Seine Lieblinge lud er auch zu sich in 158

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die Sternwarte ein, die er als Naturwissenschaftler verwaltete. Einer, der sich in seiner Gunst sonnte, erzählte mir, er hätte mit anderen bei diesem Pater Fernsehsendungen ansehen dürfen. Tatsächlich hatte der Physikprofessor, der sich sehr für technische Neuerungen erwärmen konnte, schon sehr früh in den Fünfzigerjahren einen Fernsehapparat. Als 1952 die Krönung der englischen Königin im Fernsehen übertragen wurde, durften die Schüler einiger Klassen bei ihm diese Sendung sehen. Da sein Zimmer nicht alle eingeladenen Schüler fassen konnte, sahen die meisten vom Gang aus dieser ersten Fernsehübertragung zu. Studenten, die er nicht sympathisch fand, bestrafte er mit eisigem Lächeln und auch mit Wegschauen. In einer solchen unglücklichen Situation befand ich mich. Noch dazu war ich ein schlechter Student der Physik und Chemie. Mit Genuss verpasste er mir in der Siebten und in der Achten je einen Nachzipf, also eine Nachprüfung im Herbst vor Schulbeginn. Er bediente sich dabei einer gewissen künstlerischen Hinterhältigkeit. Da ich wusste, dass er mir Böses wolle, lernte ich in der achten Klasse während des ersten Trimesters sehr eifrig und erhielt im Zeugnis die für meine Verhältnisse sehr gute Note »Befriedigend«. Im zweiten Trimester wählte der Physiker für die Prüfung Stunden, in denen Prüfungen nach ungeschriebenem Gesetz nicht üblich waren, oder nachdem er zuvor angekündigt hatte, er würde nicht prüfen. Im Zeugnis stand nun eine Vier mit »E.« für Ermahnung. Noch hatte ich eine positive Note, aber diese war mit der Warnung verbunden, im nächsten Trimester in Physik durchzufallen, wenn ich mich nicht erheblich verbesserte. Da ich wusste, dass er mir ans Zeug wollte, lernte ich so viel wie nie zuvor. Ich lief mit dem Physikheft im Gang des Konvikts auf und ab und lernte alles mögliche auf dem Gebiet der Elektrizität auswendig. In einer der nächsten Stunden erschien mein Widersacher mit dem Direktor des Gymnasiums als Zeuge. Der Herr Direktor nahm an einem würdigen Sitz Platz, und ich wurde heraus zum Tisch gerufen. Vor diesem hatte man als Prüfling für gewöhnlich Aufstellung zu beziehen. Hinter dem Tisch saß der Herr Professor, vor sich das Notenbüchlein. Je nach Laune stellte er seine Fragen. Die Fragen waren in aller Schärfe formuliert. Ich kam mir vor wie ein Gladiator in einem 159

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römischen Amphitheater, in dessen Reihen der Kaiser saß und zuschaute. Ich wehrte mich gegen das drohende Unheil, aber eingeschüchtert durch die gespielte Strenge des Professors und den grimmigen, cäsarenhaften Blick des Direktors hatte ich trotz meiner Vorbereitung keinen Erfolg. Nachdem ich die Fragen schlecht oder gar nicht beantwortet hatte, schrieb der Herr Professor etwas in sein Notenbuch, klappte es wortlos zu und sagte mit bitterem Gesicht bloß: »Danke!« Damit wollte er ausdrücken, dass es dankenswert sei, dass ich mich überhaupt der Prüfung gestellt habe, aber in diesem »Danke« schwang eine gehörige Portion Zynismus mit. Damit wusste ich, dass ich nicht bestanden hatte. Er wechselte ein paar Blicke mit dem Direktor, der wie der römische Cäsar mitleidlos auf den geschlagenen Gladiator heruntersah. Im Abschlusszeugnis der achten und letzten Klasse erhielt ich nun in Physik ein »Nicht genügend«. Damit durfte ich nicht zur Matura antreten. Ich musste im Herbst erst eine Nachprüfung in Physik machen, dann erst durfte ich maturieren. Die Reifeprüfung legte ich ganz alleine ab. Ich war von Herzen unglücklich, da alle anderen meiner Klasse im Juni ihre Matura abgelegt hatten. Einige meiner Professoren und mein Vater, der sich über meine Lage kränkte, versuchten auf den Herrn Physikprofessor einzuwirken, mich doch nicht durchfallen zu lassen. Doch ergebnislos! Offensichtlich hatte es dem Herrn gefallen, mich zappeln zu sehen. Dazu bot das Physikzimmer ihm die geeignete Bühne. Der Herr Professor war geradezu ein Spezialist in den Ritualen der Demütigung. Es mag sein, dass ich mir seinen Zorn auf einem Schulskikurs zugezogen hatte. Bei einer Abendunterhaltung durften wir Studenten Lieder singen, die uns gefielen. Auch ich wurde dazu aufgefordert. Ich sang darauf, noch dazu unmelodisch, ein Lied, das ich während der Weihnachtsferien auf einer Skihütte kennengelernt hatte. Dieses Lied war leider etwas erotisch. Zwar lachte der Physikprofessor zu meinem Gesang, aber er dürfte wenig begeistert von meiner Verwegenheit gewesen zu sein: Er ließ mich zum Ende des Jahres durchfallen. Ich dürfte der erste seit vielen Jahren gewesen sein, den man in der achten Klasse nicht zur Matura antreten ließ. Der Herr Physikprofessor trieb 160

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ein wenig freundliches Spiel mit mir. Jedoch, wie im Kapitel über »Mädchen« noch zu lesen sein wird, hatte auch diese späte Matura für mich ihren Charme. Vielleicht hat er sich im rituellen Rahmen des Unterrichts an meinem Unglück delektiert, wie ehedem römische Diktatoren am Spiel todgeweihter Kämpfer in den Amphitheatern, die in gewisser Weise dem Physikzimmer ähnelten.

Der Sport: Marschieren, Turnen, Handball, Skifahren und Schwimmen Für uns Klosterschüler war der Sport wichtig, denn wir hatten durch ihn nicht nur die Möglichkeit, uns auszuleben, sondern er verschaffte uns auch Prestige innerhalb der Klassengemeinschaft und des Gymnasiums. Wir hatten zweimal in der Woche jeweils eine Stunde Turnen, ein Begriff, unter den alles fiel, was mit körperlicher Ertüchtigung zusammenhing. Der Turnunterricht gehörte zu den freudvollen Unterbrechungen des Alltages. Der Turnsaal lag im Parterre des Gymnasiums. Davor lag der Umkleideraum, durch den man durchmusste, um in den Saal zu gelangen. Der alte Umkleideraum bestand aus drei Reihen von Bänken mit Aufhängevorrichtungen für die Kleidung. Zur Ausrüstung jedes Studenten gehörte das sogenannte Turnsackerl, in dem ein weißes Leiberl, eine schwarze Turnhose und einfache Turnschuhe aufbewahrt wurden. Dieses Turnsackerl war aus gewöhnlichem Stoff verfertigt und war durch eine Schnur zusammenziehbar. Dieses Sackerl trugen wir mit der Schultasche. Es ließ sich auch als Wurfgeschoß verwenden, indem wir es um unseren Kopf schwangen oder rotieren ließen. Einige solcher Sackerln sollen im Wassergraben, an dem der Schulweg vorbeiging, gelandet sein. Mit diesem Turnsackerl eilten wir zum Turnsaal. Schnell zogen wir uns um, wobei wir sorgsam darauf achteten, uns möglichst schamhaft – darüber habe ich schon beim Thema Duschen erzählt – umzukleiden. 161

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Wir behielten das lang herunterhängende Hemd an, um unsere Intimzone nicht den Blicken anderer preiszugeben. Die Turnsachen wurden, wenn ich mich recht erinnere, nur selten gewaschen, sie stanken fürchterlich. Dann ging es in den Turnsaal, wir hatten noch den alten. Er war in der klassischen Weise mit Tauen, Kletterstangen, Reck, Barren, Pferd und anderen Dingen, die alle leicht entfernbar waren, eingerichtet. Der Turnprofessor, Wöran hieß er, vermochte uns für den Sport und für das Handballspiel zu begeistern. Er galt als guter Kerl, der aber hier und da seinen »Spinner« hatte, also unberechenbar war. Da wusste er zu schimpfen und war ungerecht. Während des Krieges soll er Kampfflugzeuge pilotiert haben. In den ersten Turnstunden der ersten Klasse wies uns der Turnprofessor in seiner drastischen Art darauf hin, dass Disziplin im Klostergymnasium, aber auch sonst im Leben von hohem Wert sei. Daher brachte er uns gleich zuerst das Marschieren bei, wie es beim Militär üblich ist. In kurzer Zeit marschierten wir in Reih und Glied nach seinem Kommando. Zuerst hieß es: »Antreten!« Jetzt hatten wir uns in einer Reihe der Größe nach aufzustellen. Das nächste Kommando war: »Abzählen.« Dabei mussten wir den in der Reihe vor uns Stehenden, der zum Beispiel als fünfter »fünf« brüllte, anblicken. Nun hieß es, laut und deutlich »sechs« zu sagen, dabei wanderte der Kopf zackig vom Vordermann zum nächsten, der nun »sieben« hinausschrie. So ging es weiter. Der letzte in der Reihe fügte seiner Zahl noch das Wörtchen »durch« hinzu, womit er dem Kommandierenden, dem Turnprofessor, anzeigte, dass nach ihm keiner mehr stehe. Nach dieser exakten Abzählung brüllte der Professor: »Ganze Abteilung rechts um!« Nun drehten wir präzise den rechten Fuß um die Ferse, diese blieb dabei fest, und zogen elegant den linken Fuß so heran, dass dieser parallel zum rechten zu stehen kam. Der Übung halber rief der Turnprofessor noch: »Links um!« Jetzt wiederholte sich das Ganze in die andere Seite. Haute dies nicht hin, wiederholten wir dieses »Rechts um« und »Links um« ein paar Mal. Standen wir nun endlich hintereinander, maß uns der Turnprofessor gleich einem Feldwebel und 162

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befahl: »Ganze Abteilung marsch!« Mit dem rechten Fuß zuerst ging es nun im Gleichschritt los. So marschierten wir einige Male durch den Turnsaal, immer darauf achtend, dass wir gleichzeitig mit dem Vordermann auftraten. Sollten wir stehen bleiben, rief er: »Ganze Abteilung, halt!«, wobei sich das Wort Abteilung zog, in dieser Art: »Aaabteiiilung!« Bei diesem Wort spannten sich unsere Sinne, und bei »halt« hatten wir gleichzeitig zum rechten Fuß, der schon stand, den linken heranzuziehen. Wenn dies eine ganze Gruppe tat, machte dies einen imposanten Eindruck, denn das gleichzeitige Stapfen der linken Füße auf dem Holzboden des Saales verursachte ein Geräusch wie einen kleinen Donnerschlag. Kam jemand während des Marschierens aus dem Takt, meldete sich unser Kommandierender sogleich mit Donnerstimme: »Gmeiner, im Schritt!« Konnte der Angerufene den Schritt nicht finden, kamen Worte des Hohnes von den Lippen des Kommandeurs, oder die ganze »Abteilung« musste so lange marschieren, bis alle den richtigen Schritt gefunden hatten. Anfangs war es nicht leicht, den Marschschritt einzuhalten, doch nach einigem Üben konnten wir es. Wir erreichten eine derartige Könnerschaft im Marschieren, dass zumindest ich heute noch so marschieren könnte, wie der selige Herr Turnprofessor es verlangte. Vielleicht habe ich mich deswegen geweigert, zum Bundesheer zu gehen. Ich hielt es einfach nicht mehr für nötig, beim Bundesheer exerzieren zu lernen, da ich es ja ohnehin beherrschte. Von dieser Kunst des Marschierens zog ich einmal praktischen Nutzen. Als Student suchte ich wieder einmal eine Gelegenheitsarbeit, um zu etwas Geld zu kommen. Man fragte mich, ob ich beim Bundesheer gewesen sei und marschieren könne. Ich sagte mit gutem Gewissen »Ja«, denn in der Klosterschule war ich ja bereits in der ersten Klasse zum Marschierer ausgebildet worden. So wurde ich als Filmkomparse für einen Film mit Omar Sharif und James Mason beschäftigt. Dieser Film handelte von dem österreichischen Kronprinzen Rudolf. Teile dieses Filmes wurden vor dem Schloss Schönbrunn gedreht. Ich wurde in eine Uniform der Kaiserschützen gesteckt, und ein Gewehr wurde mir umgegeben. In diesem Aufzug musste ich 163

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vor Omar Sharif, der den Erzherzog spielte, mit anderen auf und ab marschieren. Ich glaube, ich habe meine Sache nicht schlecht gemacht. Der Turnunterricht bestand nicht nur im Marschieren, es wurde auch am Reck oder einem anderen Gerät geturnt. Auch das Geräteturnen hatte diszipliniert abzulaufen. Meist wurden zwei Reihen gebildet, damit jeweils zwei Burschen nebeneinander am Reck oder am Pferd die verlangten Übungen durchführten. Dabei wurde vom »Turninger« auf Sicherheit geachtet. Manchmal übernahm diese Aufsicht auch ein Student als Vorturner; es konnte bis drei Vorturner geben. Gegen Ende des Trimesters verlangte der Herr Professor von uns tadellose Übungen auf den Geräten. Dabei wurde der Zugang zum Gerät, die Durchführung zum Beispiel des Felgeaufschwungs und der Abgang beachtet. Die Übungen hatten etwas Militärisches, sie erinnerten an eine militärische Exerzierübung, bei der man in möglichst exakter Haltung die Hände stramm an den Oberschenkeln und mit geradem Blick voraus beim Gerät stand. Diese Übungen förderten die Disziplin. Und diese Disziplin hatten wir zu erlernen, nach Meinung des Herrn Turnprofessors. Manchmal kam er auf die Idee, einen Studenten, der sich blöd benommen hatte, Spießruten laufen zu lassen. Ganz in der preußischen Tradition, ähnlich wie es Friedrich der Große verlangt hatte, wenn ein Soldat sich einer Disziplinlosigkeit schuldig gemacht hatte. Der »Turninger« ließ die Studenten in zwei Reihen Stellung beziehen, sodass sich eine Art Gasse bildete. Jeder der dastehenden Burschen hatte einen Turnschuh in die Hand zu nehmen. Nun musste der Schuldige, so schnell er konnte, durch diese menschliche Gasse laufen, wobei die diese Gasse bildenden Burschen auf den Durchlaufenden mit den Turnschuhen – anstelle der klassischen Spieße – so fest sie konnten einzuschlagen hatten. In der Regel schafften wir den Lauf gut und schnell, sodass wir nur wenig abbekamen. Außer blaue Flecke wird es keine Schäden gegeben haben. Schließlich machte es auch Freude, die Laufenden zu verprügeln, dabei wurde gelacht. Dieses Bestrafungsritual, an dem der Professor sich ergötzte, passte zu seiner kriegerischen Gesinnung. 164

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Dieser kriegerische Unterricht des Herrn Turnprofessors hielt noch viele Jahre an. So erzählte mir ein Schüler, der lange nach mir maturiert hat, er habe großen Ärger mit ihm gehabt. Der »Turninger« habe ihn beim Raufen erwischt. Bei dieser Rauferei erhielt der Gegner einen Hieb auf die Lippe, sodass diese blutete. Der Turnprofessor beschimpfte meinen Gesprächspartner und untersagte ihm wegen der Rauferei, auf den Skikurs mitzufahren. Der Bursche empfand dies als eine grausame Bestrafung und war sehr unglücklich. Er bat seinen Vater, ihm zu helfen. Vater und Sohn wurden nun beim Gymnasialdirektor Pater Ansgar vorstellig. Es fruchtete nichts, der Direktor hielt vielmehr zu dem gestrengen Turninger und zeigte Verständnis für dessen harte Reaktion. Der Vater ließ nicht locker und suchte den Präfekten Pater Benno auf, einen gütigen Herrn, dessen Name hier ehrenvoll erwähnt werden soll. Dieser Präfekt erreichte schließlich, dass unser Raufer nun doch mitfahren konnte. Am Schikurs in Obertauern bei einem Hüttenspiel stellte der Turnprofessor die Selbstbeherrschung des Burschen auf die Probe und ließ ihn mit dem Gegner der Rauferei zu einem Spiel antreten. Bei diesem angeblichen Spiel durfte der andere mit einem Handtuch, in dem ein Knoten war, auf unseren Freund einschlagen. Kriegerisch war auch das Völkerballspiel, das in den unteren Klassen gegen Ende der Turnstunden gespielt wurde und an dem wir große Freude hatten. Das Völkerballspiel erinnerte insofern an eine Kriegshandlung, als sich bei diesem Spiel zwei Mannschaften bekämpften, wobei jede möglichst viele Mitglieder der anderen Partei mit einem Ball abzuschießen trachtete. Das Spiel war so angelegt, dass sich die beiden Mannschaften gegenüberstanden, nur durch eine Linie getrennt, die nicht überschritten werden durfte. Am Ende des Feldes war wieder eine Linie, hinter der ein Mann des entfernteren Teams stand. Auf der anderen Seite war es dasselbe. Man schoss nun über die Köpfe der gegnerischen Mannschaft diesem auswärtigen Mann den Ball zu. Die Kunst bestand darin, mit gezieltem Wurf einen der Gegner »abzuschießen«. Dieser galt als »abgeschossen«, wenn er den auf ihn geworfenen Ball nicht 165

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fangen konnte, sondern dieser von ihm zu Boden fiel. Der »Abge­ schossene« hatte nun das Kampffeld zu verlassen und sich zu dem Mann hinter der feindlichen Linie zu gesellen. Gewonnen hatte jene Mannschaft, die als erste sämtliche Gegner vom Platz geschossen hatte. Bei diesem Spiel ging es oft wild zu, überhaupt, wenn jemand über eine gewaltige Schusskraft verfügte, denn scharfe Bälle waren schwer zu fangen, und wenn sie trafen, schmerzte ihr Aufprall. Andere entwickelten eine besondere Fertigkeit darin, dem auf sie abgefeuerten Ball zu entfliehen, indem sie schnell hin und her liefen, während der Ball über ihre Köpfe hinwegflog, bevor einer der Jäger zum tödlichen Schuss ansetzte. Dieses Spiel wurde in den unteren Klassen während der kalten Jahreszeit, wenn man nicht auf den Sportplatz konnte, mit Hingebung und oft auch mit teuflischer Verbissenheit gespielt. Der Frühling und der Sommer lockten in der Turnstunde hinaus auf den Sportplatz des Gymnasiums, der alleine den Studenten vorbehalten war. Dieser Platz hatte die üblichen zwei Tore für das Handballspiel und diverse Einrichtungen wie eine Laufbahn für 60- und 100-Meter-Läufe, eine Sprunggrube für Hoch- und Weitsprung und einige Bankerln, von denen aus man den Handballspielen und sonstigen Ertüchtigungen am Platz zusehen konnte. Zur Turnstunde liefen die Burschen nach dem Umkleiden gleich durch das frühere alte Gymnasialtor, das heute zugemauert ist. Auf dem Gebiet der Leichtathletik wurde viel getan. Um zu einer guten Kondition zu gelangen, hieß uns der Turnprofessor an schönen Tagen einen Lauf entlang der Stiftsmauer zu machen. Immerhin war dieser Lauf ein echter Langstreckenlauf, der sich über einige Kilometer erstreckte. Um nicht den ganzen Lauf rennen zu müssen, hatten einige an solchen Läufen weniger interessierte Studenten die kluge Idee, Abkürzungen zu unternehmen oder an bestimmten Stellen einfach auf jene, die den ganzen Rundkurs liefen, zu warten, um sich dann kühn unter die wahren Läufer zu mischen. Damals war das Handballspiel am Sportplatz im Freien gang und gäbe. Hallenhandball besaß keinen besonderen Reiz. Dieses sogenannte Feldhandballspiel war ein ungemein spannender und schneller Mann166

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Abb. 15: Die erfolgreiche Handballmannschaft, um 1957

schaftssport, der sich bis Ende der Fünfzigerjahre größter Beliebtheit erfreute. Es gab sogar Vereine, die sich diesem Spiel widmeten, und Österreich rief eine eigene Nationalmannschaft zusammen, um die Ehre im Feldhandball gegenüber anderen Ländern zu verteidigen. Nach und nach wurde dieses schöne Spiel des Feldhandballs zugunsten des Fußballs aufgegeben. Heute interessiert sich niemand mehr für Feldhandball. Dieses Spiel ist Geschichte. In der Klosterschule wurde nur Feldhandball gespielt. Verpönt war lange Zeit das Fußballspiel, das allmählich, in den Sechzigerjahren, zu dominieren begann. Obwohl wir nicht Fußball spielen durften, hatten wir großes Interesse am österreichischen Fußball, besonders an den Spielen des Nationalteams und der großen Vereine wie Rapid, Austria, Wacker und LASk. Besonders LASk als der Linzer Traditionsverein hatte seine Anhänger, aber auch Rapid und Austria, wobei, wenn zum Beispiel Rapid gewonnen hatte, die Rapidanhänger stolz meinten: »Heute haben wir es ihnen wieder gezeigt.« Auch hier im Kloster identi167

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fizierten sich Burschen mit den bekannten, besonders den Wiener Vereinen. Interesse am Fußballsport durften wir zeigen, selbst spielen nicht, denn die Herren des Gymnasiums waren große Gegner des Fußballspiels. Fußball wurde geradezu verdammt als Betätigung verderbter Leute. Angeblich schadete das Spiel dem Charakter des jungen Menschen. Als Beweis für die verkommene Gesinnung der Fußballspieler gab ein Pater an, dass, wenn ein Fußballspieler auf der Straße gehe und er vor sich eine leere Dose liegen sehe, er diese ungeniert mit dem Fuß wie einen Ball antrete. Der Handballspieler dagegen, so erklärte der fromme Herr, wäre von einer edleren Gesittung, da er die Dose, die ihm im Wege liegt, aufhebe und sie zu einem Mistkorb trage. Der Handballer wurde gegenüber dem Fußballer als ein feiner Herr gesehen, der beim Handballspiel gewisse Formen des guten Benehmens erlernt hatte. Diese Einstellung zum Handball hatte zur Folge, dass uns Schülern das Fußballspiel nicht gestattet wurde. Offensichtlich wollte man aus uns hervorragende Handballspieler machen. Einige wurden es. Zum Feldhandballspiel benötigten die Teilnehmer mehr Kondition als ihre Kollegen beim Fußballspiel. Es musste dabei viel gelaufen werden, da der Ball geschwind hin und her ging und die Tore schnell aufeinander folgten. Besondere Leistungen musste der Tormann erbringen. Ein guter Tormann verstand es, sich energisch in die Ecken des Tores zu schmeißen, um den Ball, der vor der Linie zum Strafraum abgeschossen werden musste, noch zu erwischen. Der Turnprofessor begann sehr früh damit, gute Handballer heranzuziehen. Die besten Handballer der ersten Klassen wurden in der sogenannten »Unterstufe« zusammengefasst, die der fünften und sechsten in der »Mittelstufe« und die der letzten beiden Klassen in der »Oberstufe«. Das Training dieser besten Handballer war hart, auch in der Freizeit rief der Turnprofessor sie zum Spiel. Dabei übte er mit ihnen die diversen Strategien, wie zum Beispiel die des Zopfflechtens, bei dem jeweils drei Stürmer zum gegnerischen Tor nicht wild, sondern planmäßig vorpreschten. Dabei wurde der Ball schnell zwischen diesen dreien abgegeben. Derjenige, der den Ball seinem 168

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Kompagnon zugeschossen hatte, musste nun hinter diesem auf die andere Seite laufen und so weiter. Auf diese Weise entstand das Muster des Zopfes, bei dem der Gegner verwirrt und überspielt werden konnte. Hart wurde der Torschuss geübt. Für den Professor war erst dann ein Torschuss großartig, wenn er, bevor er in das Tor gelangte, einmal am Boden aufklatschte. Für den Tormann war so ein Schuss schwerer zu bändigen als ein üblicher Schuss. Dem Professor gelang es mit diesem harten Training, gute Handballmannschaften zu schaffen. Jeder von uns fühlte sich geehrt, wenn der »Turninger« ihn für eine Schulmannschaft aufstellte. Ich selbst war voll des Stolzes, in der »Mittelstufe« als Verteidiger aufgestellt zu werden. Gute Handballspieler genossen im Gymnasium und im Konvikt hohes Ansehen, wie zum Beispiel der Gustav Bihlmayer, der, ähnlich wie der Fußballer Beckenbauer, vor dem Strafraum elegant und alles überschauend zu spielen wusste. Diese drei Schulmannschaften – die Unterstufe, die Mittelstufe und die Oberstufe – traten während der Sommermonate zu Kämpfen mit anderen Schulmannschaften von Oberösterreich um die Landesschulmeistertitel an. Zu diesen Spielen durften die Mitglieder dieser Mannschaften in andere Schulorte fahren. Insofern waren diese Handballer gegenüber anderen, weniger gut spielenden Schülern privilegiert. Hatte eine der Mannschaften das Finale erreicht, durften oft auch andere Schüler als Schlachtenbummler bei den Endspielen dabeisein. Man fuhr gerne zu diesen Spielen, weil man sich zum Beispiel in Linz einen schönen Tag machen konnte. Der Frühsommer veredelte solche Tage, die häufig in einem der Gastgärten der fremden Stadt ausklangen. Gute Handballer waren echte Helden. Besonders schöne Spiele lieferte ein gewisser Pfanner als Kapitän. Als einmal die Oberstufe mit Herrn Pfanner im Endspiel gesiegt hatte und Landesmeister der Gymnasien wurde, war der Jubel beim Empfang der siegreichen Mannschaft im vorderen Stiftshof schier gren­ zenlos. Die Musikkapelle der Studenten empfing mit frohen Klängen den Autobus mit den siegreichen Spielern. Die Spieler entstiegen dem 169

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Bus und ließen sich feiern. Kollege Pfanner hielt dabei den Siegespokal, der von uns jungen Burschen mit höchster Achtung angestaunt wurde. Auch während unserer Freizeit widmeten wir uns dem Handballspiel, entweder auf dem Schulplatz in den Höfen des Konvikts, von denen jede Abteilung einen zugewiesen bekommen hatte, oder auf dem Sportplatz. Als er in Mode kam, wurde auch Fußball gespielt, auch auf dem Sportplatz des Gymnasiums, aber dies war zunächst nur in rebellischer Weise heimlich möglich. Wenn ein Pater in der Nähe erschien, ging man sofort zum Handballspiel über. Später siegte der Fußball über den Handball. Fußball war zwar kein edler Sport, aber dafür spannender. Noch ein Feldspiel erlernten wir, nämlich das Schlagballspiel, das Ähnlichkeiten mit dem amerikanischen Baseballspiel hat. Beim Schlagball wurde ein kleiner fester Ball mit einem Stock durch die Gegend geschossen. Hatte jemand diesen Ball gefangen oder aufgeklaubt, versuchte er, einen Mann des gegnerischen Teams, das nun laufen musste, zu treffen – auf die genauen Regeln gehe ich hier nicht ein. Solche Abschüsse konnten wegen der Härte des kleinen Balles schmerzhaft sein. Besonders interessierte uns dieses Spiel nicht, wahrscheinlich auch den Turninger nicht. Oft spielten wir es nicht. Das edle Tennisspiel hatte damals noch kaum eine Bedeutung. Lediglich für die Studenten der Pension Wilhelm stand ein Tennisplatz zur Verfügung. Tischtennis dagegen erfreute sich großer Beliebtheit, allerdings nicht während des Turnunterrichtes, sondern in der Freizeit im Konvikt, wo in den beiden oberen Abteilungen Tischtennistische in den Gängen standen. An diesen ging es in den Stunden der Freizeit wild zu. Wenn mehrere spielen wollten, gab es Ausscheidungsspiele, wie eine Art Rad, bei dem die Spieler, manchmal bis zu zehn, jeweils den Ball zurückgebend, um den Tisch rannten. Machte einer einen Fehler, musste er ausscheiden. Die zwei besten Spieler zum Schluss ritterten um den Sieg. Tischtennisspiele erhitzten nicht nur die Körper, sondern auch die Gemüter. Jedenfalls stellten sie erfreuliche sportliche Unterbrechungen des Alltages im Konvikt dar. 170

Das Gymnasium

Abb. 16: Skifahren der jungen Studenten, um 1953

Während des Winters war es das Schilaufen, das auch in den Turnunterricht eingeflochten wurde. Die erste Stunde auf Skiern, an die ich mich erinnern kann, verbrachten wir unter fester Kontrolle Turningers auf der sogenannten Tendelleiten, die vom Stift zum Ort hinunter abfällt. Die Skier mussten zum Hinmarsch auf der Schulter, fast wie ein Gewehr, getragen werden. Zweimal während der Gymnasialzeit durfte jede Klasse auf Schulskikurs fahren, und zwar die vierte und die siebte Klasse. Diese Skikurse fanden in Obertauern im Salzburgischen südlich von Radstadt statt. Wenn wir nicht auf der Skipiste oder auf Skitour waren, hielten wir uns in einem Skiheim auf, einem schönen Jugendhaus gegenüber einem noblen Hotel mit reichen Gästen. Durch das geradezu militärische Organisationstalent des Herrn Turnprofessors waren wir bestens für einen solchen Skikurs, der jeweils für eine Woche angesetzt war, vorbereitet. Im Skiheim gab es Zimmer mit Stockbetten. Gegessen wurde in einem großen Saal, der am Abend für die Hüttenabende zur Verfügung stand. An diesen Abenden wurden Berglieder gesungen und altbewährte Hüttenspiele veranstaltet. Bereits in der vierten Klasse nahmen wir Schnaps oder ähnliche Gewässer mit, wahrscheinlich um, wenn es sehr kalt war, den Tee damit aufzuwerten. 171

Die alte Klosterschule

Tatsächlich tranken wir in unserem Übermut, wenn wir in den Zimmern waren und in den Stockbetten lagen, etwas von dem mitgebrachten Alkohol, freilich so, dass der Professor es nicht erahnen konnte. Unter denen, die dem Alkohol etwas zu viel zusprachen, war auch Johannes Wittenberger, ein frommer Bursche, der schließlich so betrunken war, dass er meinte, er müsse in Sünden sterben. Auf der Suche nach einem Beichtvater kam er auf mich. Er kniete vor mir und beichtete. Ich tat mit, redete ihm gut zu und erteilte ihm den Segen als Zeichen, dass seine Sünden vergeben sind. Gegen Ende der Skikurswoche gab es einen Abfahrtslauf und einen Slalom, bei dem die Klassenbesten im Skifahren ermittelt wurden. Beim Abfahrtslauf lag ich nicht schlecht, allerdings stürzte ich einmal. Dies dürfte nichts ausgemacht haben, denn immerhin gehörte ich zu den ersten der zum Rennen angetretenen Burschen. Beim Slalom, den der Professor ausgesteckt hatte, hatte ich einen ähnlichen Erfolg. Als Siegespreise erhielten wir jeder ein Abzeichen mit Edelweiß oder Gams. Ich habe meines heute noch. Wilder in jeder Hinsicht war der Skikurs in der siebten Klasse. Bei diesem nützten wir die Nächte, um uns in einer Weise zu ergötzen, die uns im Kloster nicht möglich gewesen wäre. Einige Mutige, da­ runter ich, stiegen, als man sicher sein konnte, dass der Professor fest schlief, aus den Zimmerfenstern der Herberge und marschierten einige hundert Meter zu einer Bar, in der Skifahrer und Skifahrerinnen sich vergnügten. Zu diesen gesellten wir uns und ließen uns einen Cocktail, wie es damals modern war, oder Bier kredenzen. Dazu rauchten wir teure Zigaretten. Wir gaben uns als Weltmänner. Einmal lernten wir die wunderschöne Frau eines Fotografen kennen, der mit Fotos von den Gästen dort sein Geld verdiente. Wir scherzten mit der Dame, unter Aufsicht ihres Herrn Gemahl, der uns erzählte, für seine Frau hätte man ihm schon viel Geld bloß für eine Nacht zahlen wollen. Ob er mit ihr vielleicht doch schon ein Geschäft gemacht hat, haben wir nicht erfahren. Für uns Burschen war der Besuch dieses Lokals ein echtes Abenteuer, fernab des Klosters und auch des hoffentlich selig schlafenden Turnprofessors. Als wir in der nächsten Nacht wieder in dieser Bar erschienen, verspottete uns 172

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jemand mit der Feststellung, wir wären die Wiener Sängerknaben. Man hatte sich über uns wegen unserer Jugend belustigt. Aber es waren schöne und abenteuerliche Stunden, die wir hier während der Nacht unbemerkt vom Turnprofessor verbringen konnten. In der Früh nach unseren Eskapaden krochen wir heim und stiegen vorsichtig durch das Fenster, das wir nur angelehnt hatten. Jedenfalls dürfte der Professor von unseren Abenteuern nichts bemerkt haben. Beim Frühstück am nächsten Morgen, auf der Skipiste oder auf Skitour bemühten wir uns, es uns nicht anmerken zu lassen, dass wir die Nacht zechend in einer Bar in Anwesenheit schöner Frauen verbracht hatten. Skifahren bereitete uns Freude, in einer Zeit, in der ein Toni Sailer und ein Anderl Molterer berühmte Skirennen fuhren. Und wir waren stolz auf unsere von der Wintersonne gebräunten Gesichter, mit denen wir vom Skikurs zurückkehrten. So unterschieden wir uns trefflich von den langweiligen daheimgebliebenen Bleichgesichtern und genossen ihren Neid. In der Gegend um das Kloster gab es keine hohen Berge, aber ganz nette Hügel, auf denen wir in unserer Freizeit am Donnerstag und Sonntag, wenn im Jänner und im Februar genügend Schnee lag, Ski fuhren. Gleich direkt vor dem Stift bei der Pension Wilhelm erstreckte sich ein kurzer, aber steiler Hang, auf dem wir uns in der Skikunst üben konnten. Etwas weiter weg, am sogenannten Sonntagsberg in Richtung Schacherteich, gab es eine weitere Möglichkeit zum Skifahren, allerdings auf einem flachen Hang mit Obstbäumen. Aber die schönste Gelegenheit für den Wintersport bot der Gustermaierberg gegenüber dem Stift, auf der anderen Seite der Krems gelegen. Er ist ein prächtiger Hügel mit einem berühmten Wirtshaus, dem »Baum mitten in der Welt«. Dieses hieß so, weil bei ihm ein Vermessungspunkt lag, von dem aus in der Monarchie ein wichtiger Bereich des Landes vermessen wurde. Zu diesem Gustermaier pilgerten wir an den freien Tagen gleich nach dem Mittagsstudium. Hier gab es richtige Hänge, die heute leider alle verbaut sind, auf denen wir unsere Wedelkünste demonstrieren. Sogar eine Sprungschanze, bei der man 173

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an die dreißig Meter springen konnte, hatte der Skiverein des Ortes errichtet. Einmal fanden sogar richtige Meisterschaften statt, bei denen ein Schüler des Gymnasiums den weitesten Sprung hinlegte. Grabner hieß er und war aus Schwanenstadt. Da bei diesem Springen auch ein Student mittat, der aus Deutschland stammte, wurde dieser Wettkampf vom Platzsprecher, der bereits ein richtiges Megafon hatte, dröhnend als ein »internationales Skispringen« bezeichnet. Auch ich fuhr einmal bei einem Abfahrtsrennen am Gustermaierberg mit, einem Rennen, das gemütlich war und das vom Turnverein des Ortes veranstaltet worden war. Ich siegte in meiner Jugendklasse und erhielt dafür eine große Urkunde, die ich noch lange in meinem Zimmer hängen hatte. Noch eine zweite Urkunde erhielt ich in dieser Zeit für einen 3. Platz im Abfahrtslauf bei einem Rennen der Katholischen Jugend von Oberösterreich. Zu solchen Rennen, die jedes Jahr im Gebirge stattfanden, durften die ungefähr sechs besten Skifahrer der Schule fahren. Es war Ehre und Freude, wenn wir dafür ausgewählt wurden. Ich durfte zweimal teilnehmen, allerdings meinte der Direktor des Gymnasiums jedesmal, es wäre vielleicht besser, ich würde im Kloster bleiben, statt zwei oder drei Tage nur Ski zu fahren und sonst nichts zu tun. Ich hätte es bitter nötig, mehr zu lernen, da ich ein schlechter Schüler sei. Aber irgendwie konnte ich den guten Pater doch davon überzeugen, dass meine Teilnahme an solchen Rennen auch ein Gewinn für die Schule sein konnte. Und tatsächlich, bei einem dieser katholischen Abfahrtsläufe errang ich den dritten Platz. Wie viele Burschen an diesem Rennen teilgenommen haben, kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht waren es nicht viel mehr als drei. Der Skisport hatte für uns Burschen damals eine besondere Faszination, in einer Zeit, in der neue Skigebiete eröffnet und eben die ersten großen Skilifte, wie die in Obertauern, errichtet worden waren. Im Winter konnte der zugefrorene Wassergraben des Stiftes zum Eislaufen benutzt werden. Wer Schlittschuhe besaß, übte sich hier in kühnen Kurven, und wer die Geselligkeit liebte, fand sich zum Eisstockschießen ein, an welchem sich auch gemütliche Patres erfreuten. Der Sport war für die jungen Burschen von großer Bedeutung, das 174

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Abb. 17: Schwimmbad der Studenten beim Kloster, um 1959

wussten die Patres auch und förderten ihn im Sinne des Spruches »mens sana in corpore sano« (»ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper«). In diesem Sinn war wohl bereits im vorigen Jahrhundert, nach Aussagen meines Freundes Lughofer schon um 1848, für die noblen Herren Studenten des Gymnasiums ein eigenes Schwimmbad errichtet worden, und zwar auf einem zum Stift gehörenden Grund. Dieser war auch, wie das gesamte Areal des Klosters, von einer Mauer umgeben, allerdings von den übrigen Stiftsgründen durch eine Bundesstraße getrennt, direkt anschließend an den Gemischtwarenladen Lughofer. Der Platz bot sich für das Schwimmbad an, weil hier die Guntherquelle, die dem Kloster gehört, sprudelt. Dieses Schwimmbad, es zählt jedenfalls zu den ältesten Freibädern Oberösterreichs, lag romantisch zwischen alten Bäumen und war von einer sonnigen Wiese umgeben. Neben dem Badebecken befanden sich Kabinen und Liegebretter. Mit Vergnügen warfen wir uns an heißen Tagen in das kühle Wasser. Vor allem während der Freizeit am Donnerstag- und Sonntag175

Die alte Klosterschule

nachmittag nutzten wir die Bademöglichkeit, stets unter der Aufsicht eines der Patres. Trotzdem ging es dabei oft auch wild zu. Beliebt war in den unteren Klassen, was freilich den Missmut des Paters erregte, das berühmte Fangenspiel, bei dem wir oft wie wild um das Becken rannten und auch in dieses sprangen. Während die einen gerne tobten, lagen andere in der Sonne, lasen etwas oder ergingen sich im würdigen gymnasiastischen Gespräch unter warmer Sonne. Während der Ferien, wenn keine Studenten im Kloster waren, durften auch »gewöhnliche« Menschen hier mit Erlaubnis des Stiftes das Bad benützen, wie mir Freund Rudi Lughofer erzählte. Da durften auch Mädchen baden, allerdings getrennt von den Burschen und Pa­ tres, am Vormittag. Der Mittag bis gegen 15 Uhr gehörte den Patres. Ab 15 Uhr dann durften auch Burschen, die vorrangig der Katholischen Jungschar zugehörten, ihre Körper in das Nass des Schwimmbades tauchen. An Attraktivität verlor dieses Bad zu Ende der Sechzigerjahre, als im Ort ein eigenes modernes Schwimmbad eröffnet wurde. Zu den schönsten Stunden der Gynmasiasten im Kloster zählten die im Schwimmbad. Sie gehören mit jenen am Sportplatz und auf den Skipisten, ganz in der Tradition der noblen Herren Studenten früherer Zeiten, zu den angenehmen Erinnerungen an die Schulzeit.

Rebellische Heiterkeit Heitere Scherze über das Leben in der Schule und über die Patres verhalfen zu rebellischer Souveränität und machten den grauen Alltag bunt. In den Witzen der Schüler, zu denen sich gewisse Formen des Nichtbefolgens von Anweisungen der Patres gesellte, lag etwas wie Rebellion. Mit dem Witz verschaffte man sich ein Gefühl der Überlegenheit und deutete an, dass man sich nicht unterkriegen lassen wollte. Ganz im Stile alter bäuerlicher Rebellen, der Wilderer, die dem adeligen Jagdherrn die Gams wegschossen und sich in Liedern über ihn belustigten. Wir schossen zwar keine Gams, aber wir machten unsere Scherze über unsere »Jagdherren«, die Patres. 176

Das Gymnasium

In den Schulstunden fiel besonders viel an Stoff für Witze oder für heitere Erzählungen an. Einige der folgenden Geschichten stammen von Herrn Wolfgang Mayr. Ihm sei hier noch einmal für seine fleißigen Aufzeichnungen während der Unterrichtsstunden gedankt! Ein Ausspruch des Deutschprofessors Huber über Goethe verdient wiedergegeben zu werden: »Goethe wird in einem Mädchenpensionat verdächtig angesehen, wegen seines sehr trüben Standpunkts zur Ehe.« Derartige Aussprüche, die sorgsam aufgenommen und weitererzählt wurden, erheiterten uns. Berühmt waren die grantigen Bemerkungen des Naturgeschichtsprofessors, über die man gerne lachte. Als dieser Professor verkündete, nun kämen die Schwimmkäfer an die Reihe, meinte ein Student, der sich gerade bei diesem Professor als eifriger Mitarbeiter hervortun wollte, von der ersten Bank aus triumphierend in der Art des Experten: »Ja, ja, die Schwimmhäute.« Darauf antwortete der Pater dies: »Du vertrottelst schon ganz!« Zur Heiterkeit regte auch an, als in der vierten Klasse ein Student vom Naturgeschichtsprofessor gefragt wurde, was denn eigentlich »1–120« sei. Er dachte nach und hielt zaghaft zunächst fest: »Spülwas­ ser.« Dann kam eine Denkpause, und nach dieser verbesserte sich der Student: »Nein, Regenwasser.« Darauf folgte eine lange Stille, die durch den Professor schließlich unterbrochen wurde: »Du bist ein besonderer Tepp, das haut einen um!« Nun folgte der letzte Versuch, die Frage nach dem 1–120 zu beantworten: »Das ist das, was wir ausscheiden.« Dieser wenig freundliche Herr Professor hatte ein ganzes Lager an derartigen Beschimpfungen parat, die Gesprächsstoff lieferten. Solche waren: »Rüpeln und Lümmeln seids ihr, vom Aufwachen bis zum Einschlafen!« Oder: »Du stinkst vor Faulheit!« Oder: »Wie der Herrgott die Blödheit verteilt hat, hast du zweimal ›hier‹ geschrien.« Gerne lachte man über die Schwächen der Lehrenden. Als der Gymnasialdirektor, der mit Spitznamen »Pippin« hieß und bei seinen Reden immer »net wahr«, »nicht wahr«, einfließen ließ, über Florida zu sprechen kam, führte er aus: »Da haben wir, net wahr, M i a m i  …« Darauf schrie ein Student, der auf die falsche Aussprache des Pippin 177

Die alte Klosterschule

hinweisen wollte, hinaus: »Herr Hofrat, Maiemi!« Dieser antwortete ungerührt: »Ja, das liegt auch in der Nähe!« Und einmal hatte sich dieser Pippin in der Klasse geirrt, statt in die achte war er in die siebte gelangt. In der Hand hielt er einen Kalender und sagte frohlockend: »Klasse, Klasse, die Spannung ist gefallen, ich kann euch eine Mitteilung machen.« Nun bestieg er, die Hände schwingend, das Podium und fuhr fort: »Ruhe, Ruhe, ihr habt einen sehr guten Maturatermin bekommen: vom 12. bis 14. Juni.« Seine Worte gingen in Lachen und heiterem Gebrüll unter. Darauf fragte Pippin einen der Burschen: »Warum lachst du denn, Zorn? Spinnst du?« Und zur Matura erklärte er noch: »Wer vorsitzen wird, kann ich noch nicht sagen, vielleicht kommt der Direktor vom Gymnasium in Schärding.« Nun wendete er sich wieder dem Burschen zu, den er vorher gefragt hatte, ob er »spinne«: »Zorn, du benimmst dich noch immer sehr unreif in der achten Klasse.« Zorn darauf lachend: »Sie sind in der siebten Klasse.« Der Herr Hofrat hatte schnell die Lage erfasst: »Ja, Zorn, du hast recht. Du spinnst nicht, du darfst weiterlachen.« Solche Geschichten machten die Herrn Professoren den Studenten sympathisch. Professoren, die im Zorn groteske Sätze von sich gaben, waren ein beliebter Gegenstand freundlichen Spottes. Ein solcher Professor war der Zeichenlehrer Thiemann, der zu mir einmal meinte: »Der Schlag soll dich treffen, am besten einer von mir!« Einem anderen, der während der Zeichenstunde aufgestanden war, um sich etwas zu holen, schrie er nach: »Gebt mir einen harten Gegenstand. Ich gebe dir einen Spitz [Fußtritt in den Hintern], auf dass wir dich als Bettfeder verwenden können!« Einen Burschen, der im Zeichenunterricht wegen angeblicher Krankheit fehlte, hatte er in Verdacht, einfach zu schwänzen. Über diesen stellte er diese zornig-heitere Diagnose: »Tachinosa progressiva, furiosa, chronica cremifanensis.« (Frei übersetzt: »Fortschreitende, furiose, chronische Faulenzerei, wie sie typisch für die Klosterschule von Kremsmünster ist.«) 178

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Malerische Worte des Zornes fand auch der Turnprofessor. So schrie er während des Turnunterrichtes einem Burschen, der vor sich hin stierte, zu: »Steh nicht da wie ein Heilsverkünder!« Aussprüche dieser Art, die uns oft zu schadenfroher Heiterkeit anregten, gebrauchte dieser Herr des Öfteren. So zürnte er einmal, als wir wieder einmal schlecht marschierten: »Ihr geht, wie wenn eine Ziege auf ein Trommelfell sch…« Eine solche Feststellung bot willkommenen Gesprächsstoff. Sprüche dieser Art hatten die Aussicht, zu legendären Sprichwörtern zu werden. So auch die oft von Pater Gotthardt getätigte heitere Feststellung über Burschen, die keinen Grund für ihr heiteres Lachen in der Schulstunde angeben wollten: »So hat es mit unserem Schuster auch angefangen.« Die geistige Verwirrung dieses Schusters habe offenbar ebenso mit unmotiviertem Lachen begonnen. Er sei dann ins Narrenhaus eingeliefert worden. Wenn dieser Pater mit den Worten begann: »Mit unserem Schuster hat es auch so angefangen« wussten wir, dass wir ihm, allerdings scherzhaft, reif fürs Narrenhaus vorkamen. Sprüche dieser Art übernahmen die Studenten gerne, sie regten zur rebellischen Heiterkeit an. In der strengen Sphäre des Gymnasiums war Witz Balsam für die Seele, denn er verschaffte Entlastung und enthob uns für einen Augenblick von den Querelen des Alltags.

Die Pause – Zeit der Abwechslung und kleine Rebellion Die Gleichförmigkeit des Schulalltags wurde durch die Pausen angenehm unterbrochen. Während der Unterrichtsstunden fieberten die meisten, gerade die, die ausgesprochene Unlust an dem betreffenden Gegenstand hatten, der Pause entgegen. Manche nutzten die Zeit, um sich heimlich unter der Bank für die nächste Stunde vorzubereiten, wenn sie eine Prüfung befürchteten. Aber für gewöhnlich zählte man die Minuten, bis endlich die Pausenglocke läutete. Die meisten Pausen dauerten fünf Minuten, 179

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man nannte sie »kleine Pausen«. Zu diesen gesellte sich die »große« Zehn-Uhr-Pause, die eine Viertelstunde dauerte. In dieser Zeit konnte man einiges unternehmen. Einige spazierten auf den Sportplatz, andere übten sich im Schmeißen von Steinen oder Scheebällen, andere bereiteten sich auf die nächste Stunde vor, andere gingen vertieft in ein Gespräch mit dem Freund umher, andere spielten fangen, und wieder andere heckten rebellische Späße aus, um einen oder mehrere Patres zu ärgern. Zu diesen kleinen Rebellen zählte auch einmal Rudi Lughofer, der mir erzählte, er habe während der Pause gesehen, dass die Abflüsse in dem Waschraum gegenüber der Direktion verstopft waren. Darauf sei er auf die Idee gekommen, den Direktor zu ärgern. Er habe alle Wasserhähne aufgedreht. Das Wasser stieg langsam an, und während der Unterrichtsstunde kam es zu einer Überschwemmung. Das Wasser rann auf den Gang und lief unbemerkt unter der Türe in das Direktionszimmer. Der Direktor wütete. Schließlich wurde Rudi als Übeltäter enttarnt. Von der über Rudi Lughofer verhängten Strafe werde ich noch erzählen. Während einiger Pausen übte ich, als ich in der sechsten Klasse war, das Pfeifen mit zwei Fingern. Seit Jahren hatte ich es vergeblich versucht, aber nicht erlernt. Nach langen, mühevollen Versuchen konnte ich schließlich derart laut pfeifen, dass meine Mitschüler von meiner Kunstfertigkeit ganz überrascht waren. Da unser Klassenzimmer direkt an das Zimmer der Direktion grenzte, blieb mein lautes Pfeifen dem Direktor nicht verborgen. Er erschien daher mit bebender Stimme in der Klasse, um zu erfahren, wer denn da pfeife. Niemand gab Auskunft. Nun wusste ich, dass der Herr Direktor vom Pfeifen wütend wurde. Eine einfache Art, ihn zu ärgern! Daher übte ich mich im Pfeifen besonders gerne, wenn ich diesen würdigen Pater, der es nicht eben leicht mit uns hatte, ärgern wollte. Und wenn wir ihn einmal brauchten, um einen Wunsch vorzubringen, pfiff ich einfach laut. Der gute Mann erschien sogleich, um uns das laute Pfeifen zu untersagen. Hatte er ausgeredet, sagten wir 180

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ihm höflich, was wir von ihm wollten. In der Matura-Zeitung war dann zu lesen, Pippin, der Direktor, gehorche auf Pfiff wie ein Schlosshund. Die Burschen erfreuten sich am Ärger mancher Patres. Leider traf der Schabernack auch manchen gütigen Herrn. So wurde manchmal der Sessel des Professors während der Pause »präpariert«. Man schmierte die Sitzfläche mit Kreide derart ein, dass an dem entsprechenden Teil seiner Kutte Kreidespuren oder das Muster der Sesselfläche zu sehen waren. Einem, den man besonders ärgern wollte, legte man in der Pause einen Reißnagel auf den Sessel. Zu unserer Verärgerung setzte sich dieser Mann, ein weltlicher Priester, der für einige Zeit in der Klosterschule unterrichtete, nicht auf diesen Reißnagel, sondern gerade so, dass er nicht in das Sitzfleisch eindringen konnte. Trotzdem bereitete die Aktion des Reißnagellegens, wenn sie auch erfolglos war, uns Freude. Es waren die Pausen, die dem Schulalltag etwas Farbe und Abwechslung gaben. In den Pausen blödelte man, ärgerte Kollegen, versteckte ihnen etwas und weidete sich an deren Entsetzen. Aber auch die Patres mussten an solchen Scherzen, die während der Pausen vorbereitet wurden und etwas Rebellisches an sich hatten, leiden.

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XII. Rauchen: Mannbarkeit und Rebellion

Da das Rauchen grundsätzlich verboten war, genauso wie der Genuss von Alkohol, hatte es einen besonderen Reiz, schließlich verbanden wir mit dem Rauchen so etwas wie Männlichkeit. Im Kapitel über die Schank und die Schankstunde werde ich noch einiges dazu zu schreiben haben. Hier geht es um das Rauchen als Akt der Rebellion. Unter denen, die während der großen Pause etwas Rebellisches, Verbotenes, taten, waren nämlich jene, die eine Zigarette rauchten. Gerade während der Pause stieg die Lust zum Rauchen. Einmal sollen rauchlustige Burschen aus den oberen Klassen Patres gefragt haben, ob man nicht doch trotz dieses Verbotes rauchen dürfe. Es soll ihnen geantwortet worden sein, dass sie auf keinen Fall rauchen dürften. Man fügte aber hinzu, wenn es unbedingt sein müsse, könnten sie außerhalb der Stiftsmauer rauchen. Ein solcher Platz zum Rauchen war bald gefunden, und zwar unweit des Gymnasiums bei der Sternwarte. Ganz in der Nähe befand sich in der Stiftsmauer eine alte, längst nicht mehr benützte Türe. Diese Türe öffnete sich in früheren Zeiten einem kleinen Weg hinunter in den Ort, einem Weg, der nun zugewachsen war. Aber die Türe gab es noch. Bei dieser Türe standen nun die Raucher in der großen Pause. Sie stellten sich dabei so auf, dass sie außerhalb der Stiftsmauer standen. Nun konnten sie auf erlaubte Weise rauchen, zumindest gegen Ende der Fünfzigerjahre. Nach und nach blieben die Raucher vor dieser geheimnisvollen Türe, innerhalb der Stiftsmauer. Für den Fall, dass ein Pater erschienen wäre, hätte ein Schritt genügt, um aus dem Stift zu gelangen. In den großen Pausen um zehn Uhr standen dort Burschen aus der siebten und achten Klasse und »rauchten sich eine an«, wie es so schön hieß. Während des Rauchens lehnte man elegant im Türrahmen oder 182

Rauchen: Mannbarkeit und Rebellion

an der Mauer und besprach sich über Erlebnisse bei Prüfungen oder andere Sorgen, die man so hatte. Das Rauchen war eine Art Mannbarkeitsritual, durch das sich der Bursche über die widerwärtigen Dinge des schulischen Lebens, denen er sich eigentlich bereits entwachsen fühlte, stellen konnte. Dieses Rauchen zwischen den Unterrichtsstunden hatte geradezu etwas Erhebendes. Auch ich empfand das Rauchen als spezielle Unterstreichung meiner bescheidenen Person. Das Rauchen vertrug ich zunächst gar nicht, es wurde mir sogar ziemlich übel. Erst nach einigen Wochen gelang es mir, Herr über die Zigarette zu werden. Ich glaubte, damit Mannesmut zu beweisen. Erstmals hatte ich Mannesmut bewiesen, als ich mit zwölf Jahren, als Student der zweiten Klasse, mit dem Zug zu Beginn der Osterferien von Kremsmünster in mein Heimatdorf fuhr. Vorher hatte ich mir drei einzelne Zigaretten, sie waren, so glaube ich, von der berüchtigten Marke Austria C, gekauft. Ich versteckte sie in meinem Taschentuch. Während der Zugfahrt nahm ich sie heraus und zündete mir eine Zigarette an. Eine Dame, die mit mir fuhr, schaute mir ungläubig dabei zu. Ich kam mir ziemlich gut vor dabei. Nach den ersten Zügen wurde mir allerdings furchtbar schlecht. Ich lief hinaus auf die Plattform, die damals bei den Waggons zum Ein- und Aussteigen diente. Dort erbrach ich mich. Dennoch ließ ich das Rauchen nicht, bis ich endlich, ohne dass mir übel wurde, Zigaretten inhalieren konnte. Erst während der Studienjahre gab ich das Rauchen aus Vernunftgründen wieder auf. Damals war das Rauchen ein Akt der Rebellion gegen die Überzahl an Verboten, die uns Burschen erteilt waren. Ebenso wie mit dem Rauchen in der Pause war es mit dem Rauchen vor dem täglichen Unterricht. Einige Verwegene, darunter auch ich, verschwanden nach dem Frühstück auf dem Weg zur Schule für eine Zigarettenlänge in einem kleinen Hof neben dem großen äußeren Hof des Klosters. Dort konnten wir uns unbeobachtet noch an einer Zigarette erfreuen und uns seelisch auf das Ungemach des Unterrichts vorbereiten. Wir nannten dies damals »Sich-eine-Zigarette-in-dasGesicht-Stecken«. 183

Die alte Klosterschule

Grundsätzlich lehnten die Patres das Rauchen ab, besonders bei den Burschen der unteren Klassen. Bei den Herren der beiden letzten Klassen allerdings tolerierte man in einem gewissen Rahmen das Rauchen, zum Beispiel in der sogenannten Schankstunde, über die noch zu berichten sein wird. Ein starker Raucher unter den Patres war der gestrenge Naturgeschichtsprofessor, der den Spitznamen »Hackl« hatte. Dieser »Hackl« wurde später auch Konviktsdirektor. Als solcher vertrat er einmal den asketischen Pater Albert. Pater Albert war damals Präfekt der vierten Abteilung. Mein Freund Helmut Obermayr erzählte mir dazu etwas, das gut hierher passt: »Der Hackl hat ja stark geraucht, an dem ist er ja auch gestorben. Wie wir in der vierten Klasse waren, war der Albert unser Präfekt. Er war ein strikter Gegner des Rauchens. Wenn der uns beim Rauchen erwischt hat, war das furchtbar. Der Albert war gerade auf der berühmten Romreise. Während dieser Zeit hat ihn der Hackl in der Abteilung beim Aufwecken und Bettgehen vertreten. In dieser strikten Nichtraucherabteilung hat sich Hackl einmal hingestellt und hat sich eine Zigarette angezündet. Wir sind um ihn herumgestanden und haben uns gewundert, dass er hier, wo der Albert so gegen das Rauchen ist, raucht. Der Hackl hat aber Folgendes gesagt: ›Jetzt will ich einmal wissen, wer von euch raucht?‹ Wir haben alle aufgezeigt und haben uns dazu bekannt. Darauf er: ›lhr seid Trottel! Ich kann mir es nicht mehr abgewöhnen, ihr aber sollt es euch nicht angewöhnen. Wenn ihr jetzt eine rauchen wollt, raucht eine. Aber euer Präfekt darf das nicht erfahren.‹ Dass er das gesagt hat, war wesentlich eindrucksvoller, als wenn der Albert gesagt hätte: Gewöhnt euch das Rauchen ab. Aber dennoch haben wir uns nichts sagen lassen und haben geraucht.« Die Burschen bewunderten den rauchenden Pater, vor dessen Strenge sie sonst erzitterten. Er zeigte sich hier geradezu von einer menschlichen Seite, die offensichtlich beeindruckte. In meiner Klasse sagte er allerdings einmal etwas, das dem, was mein Freund Obermayr berichtete, widerspricht. Wir waren damals in der dritten oder vierten Klasse, der Herr Professor hatte sich wieder einmal über die Dummheit und die geistige Unreife von uns Stu184

Rauchen: Mannbarkeit und Rebellion

denten beklagt. Dabei sagte er spöttisch grinsend, dass ihm, als er so alt gewesen sei wie wir, aus der Hosentasche bereits die Pfeife herausgeschaut habe. Für den Pater war das Rauchen ein Symbol der Reife und Mannbarkeit, wovon wir als dumme Buben damals seiner Meinung nach meilenweit enfernt waren. Jedenfalls gehörte dieser Pater zu den wenigen Mönchen, die sich dem Genuss des Rauchens hingaben. Andere Patres, wie Pater Albert und auch Pater Veremund, waren heftige Gegner des Rauchens. Sie meinten, das Rauchen würde nicht nur der Gesundheit schaden, sondern auch allen guten Sitten widersprechen. Es wurde sehr genau darauf geachtet, dass das Rauchverbot in den Gängen und Räumen des Konvikts eingehalten wurde. Etwas niederträchtig war in dieser Beziehung Pater Veremund, über den mir Freund Obermayr erzählte, dieser habe versucht, ihn als Student der sechsten Klasse auf schlaue Weise des Rauchens zu überführen: »Einmal habe ich Pater Veremund, er war unser Präfekt und sehr gegen unsere Klasse, elegant ausgetrickst. Die siebte und achte Klasse hat am Gang schon rauchen dürfen, wir in der sechsten, das war 1965, aber noch nicht. Er, der Pater Veremund, ist immer nach dem Abendessen die Stiege hinten beim Kaisersaal hinaufgegangen, um in die Abteilung zu kommen. Und dann hat er ganz leise das Gitter aufgesperrt und hat geschaut, ob er uns beim Rauchen erwischt. Er ist nicht wie ein Mann aufrecht gekommen, nein, er ist geschlichen. Ich bin einmal am Gang gestanden und habe geraucht. Ich habe nicht gehört, wie er gekommen ist. Ich hatte keine Zeit mehr, die Zigarette schnell wegzuwerfen. Die Hand mit der brennenden Zigarette habe ich sofort, wie ich ihn gesehen habe, in die Sakkotasche gegeben. Dadurch, dass keine Luft für die Zigarette da war, ging sie aus. Der Pater Veremund, der sicherlich gesehen hat, wie ich die brennende Zigarette verschwinden habe lassen, hat mich nun auf die liebenswürdigste Art in ein Gespräch verwickelt, obwohl er mich sonst nicht mochte. Er wird sich gedacht haben, irgendwann wird er sich verbrennen. Zu meinem Glück ist die Zigarette ausgegangen. Dann 185

Die alte Klosterschule

habe ich einfach die Hand aus der Tasche gegeben. Der hat blöd geschaut!« Die Burschen der beiden obersten Klassen hatten das Privileg, ich glaube, es wurde uns von Pater Paulus im 58er-Jahr gnädig verliehen, am Gang der letzten Abteilung, die im ersten Stock lag, rauchen zu dürfen. Allerdings unter der Auflage, dass wir diesem verwegenen gesundheitsschädlichen Tun im Kaminkammerl nachgingen. Dieses Kammerl, das wir, obwohl es gar kein Kammerl war, bald Raucherkammerl nannten, befand sich am Ende des langen Ganges direkt beim schmiedeeisernen Gitter, das hin zum Kaisersaal führt. Dieses Raucherkammerl war nichts anderes als der Zugang zum Kamin, der notwendig war, um diesen und den Rauchfang zu reinigen. Solche Zugänge gab es in jedem Stock. Dieses Kaminkammerl war höchstens einen Meter tief und eineinhalb Meter hoch. Es war vom Gang durch eine kleine, ebenso hohe und einen Meter breite Tür begehbar. In diesem Kaminkammerl, in dem vielleicht zwei oder drei Burschen gebückt nebeneinander stehen oder hocken konnten, durften wir mit der gütigen Erlaubnis des Paters Paulus rauchen. Diese Erlaubnis war gleichzeitig als Schikane gedacht. Der freundliche Pater hoffte wohl, wir würden, wenn wir uns in einer derartigen Haltung befänden, auf das Rauchen verzichten. Da hatte er sich geirrt, denn wir rauchten bei diesem Raucherkammerl dennoch, allerdings bückten wir uns nicht, sondern blieben einfach bei der geöffeten Holztüre, die weiß lackiert und mit einem geradezu barocken Haken zum Schließen versehen war, stehen. Und zwar so, dass der Rauch von unseren Zigaretten in den Kamin hinein abziehen konnte. In der Folge gewöhnte sich auch der Pater an diese Art des Zigarettenkonsums der Burschen der letzten beiden Klassen. Dieses Raucherkammerl hatte eine besondere Faszination, es war ein geradezu magischer Punkt, zu dem es uns in den Pausen nach dem Mittagessen und zwischen den Stunden des Studiums hinzog. Hier tratschte man, tauschte Informationen aus, ärgerte sich gemeinsam über Patres und freute sich über die sprießende Männlichkeit. Um dem Raucherkammerl seine Einmaligkeit gegenüber den anderen 186

Rauchen: Mannbarkeit und Rebellion

Kaminen des Klosters zu geben, beklebten wir die Innenseite seiner niederen Türe mit den Bildern von Zigarettenpackungen. Im Laufe der Zeit wurde daraus eine prachtvolle Collage von Zigarettenbildchen der Fünfzigerjahre, die heute noch, wenn man diese geheimnisvolle Kamintüre öffnet, zu sehen ist. Insofern hat dieses Raucherkammerl einen kulturellen Wert, zumal es an eine alte, beinahe rebellische Rauchkultur früherer Klosterschüler erinnert. Rebellisch war auch, dass in meiner Klasse ein eigener Pfeifenklub entstand, dessen Mitglieder stolz auf ihre Pfeifen waren, und die wussten, wie man rituell eine Pfeife anzündete. Von einem Schulausflug existiert ein Bild, das vier dieser Pfeifenraucher zeigt, die in stolzer Distanz zum gewöhnlichen Volk der Schüler am Ufer eines Sees an ihren Pfeifen ziehen. Als wir um 1957 mit dem frommen Pater Albert nach Rom fuhren, wurden einige von uns zu echten Kettenrauchern, mit Vorliebe für jene italienischen Zigaretten, auf deren Packung ein Schiff zu sehen war. Rom als Sitz des Papstes animierte uns geradezu, unsere Rebellion gegen kirchliche Zwänge zu demonstrieren. Meine Mutter war entsetzt, als sie mich nach meiner Heimkehr von Rom in den Osterferien erstmals eine Zigarette anzünden sah. Auch von den mütterlichen Vorhaltungen ließ ich mich nicht be­­ irren und rauchte weiterhin, obwohl mir die Zigaretten eigentlich gar nicht schmeckten. Später hörte ich wieder mit dem Rauchen auf, aber damals, während der Jahre im Kloster, war mir und auch den anderen das Rauchen ein wichtiges Symbol für Mannbarkeit und Rebellentum im klösterlichen Alltag.

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XIII. Die Sorge der Eltern: Elternsprechtage

Diese Elternsprechtage, die zweimal im Jahr abgehalten wurden, waren für alle eine spannende Angelegenheit. Für die schlechteren und faulen Schüler waren sie besonders aufregend. An diesem Tag bitterer Wahrheit warteten die Herren Professoren aufgeteilt auf verschiedene Klassenzimmer auf die Eltern. Diese konnten entweder alleine oder in Begleitung ihres hoffnungsvollen Nachwuchses vorsprechen. In den ersten Klassen nahmen es die Professoren besonders genau, denn da galt es, die Spreu vom Weizen zu scheiden. Jene Burschen, die man als dumm, faul, unfähig oder schlimm erkannt hatte, wurden von der Schule gewiesen. Den Eltern wurde meist zartfühlend erklärt, was man von ihren Söhnen halte. Einige Professoren äußerten sich jedoch mit Härte und gehöriger Bosheit über die Schüler. Wie jener Pater, von dem ich schon erzählt habe, dass er einer Mutter, die ihren Sohn für intelligent, aber faul hielt, erklärte, dies stimme ganz und gar nicht, denn der Bub sei sehr fleißig. Dem fügte er nach einer Pause hinzu: »Aber saublöd.« Meine Mutter wurde einmal vom Mathematikprofessor, der mit mir seinen Ärger hatte, aber meinen Bruder, der ein braver Bursche war, stets lobte, gefragt, ob wir beide vom selben Vater abstammten, denn der Unterschied zwischen uns beiden sei gewaltig. Meine Mutter kränkte sich zunächst sehr über diese furchtbare Unterstellung, konnte aber aber bald über diese Theorie des Paters lachen. Eine Mutter wollte ihren Sohn gegenüber dem Professor für Naturgeschichte verteidigen, indem sie auf seine gute Veranlagung hinwies, aber auch darauf, dass der Vater des Burschen ein angesehener Mann und Primar eines Krankenhauses sei. Der Professor hörte sich dies an und antwortete, ohne auf das Seelenleben der Mutter Rücksicht zu nehmen, hämisch: »Vergessen Sie nicht, dass dieser Bub auch eine Mutter hat.« 188

Die Sorge der Eltern: Elternsprechtage

Die Eltern »missratener« oder »fauler« Schüler verließen das Gymnasium meist in bedrückter Stimmung. Manchen machten die Patres auch Hoffnung auf Besserung, wenn der Bursche in der nächsten Zeit nur etwas mehr lerne und sich eines entsprechenden Benehmens befleißige. Angenehm waren diese Elternsprechtage lediglich für die Eltern der braven und bei den Professoren beliebten Studenten. Sie konnten sich auf diesen Elternsprechtag freuen, da sie höchstes Lob über ihren Nachwuchs hören würden. Die Elternsprechtage hatten auch etwas Erfreuliches für die Studenten an sich, denn an diesem Tag war schulfrei. Auch Vorsprachen der Eltern außerhalb der Elternsprechtage verliefen unerfreulich. Solche Vorsprachen außerhalb der dafür festgesetzten Zeiten unternahmen die Eltern ja meist in der Sorge um das schulische Fortkommen ihres Sohnes. Besonders dann, wenn ernstlich die Gefahr bestand, dass der Bursche wegen schlechter Noten oder mangelhaften disziplinären Verhaltens die Schule verlassen müsse. Oft waren solche Vorsprachen mit Demütigungen der Eltern verbunden. So erschien mein Vater beinahe jede Woche, als ich die zweite Klasse besuchte, um bei gewissen Patres ein gutes Wort für mich einzulegen. Mir brachte er bei solchen Besuchen stets einen von meiner Mutter liebevoll gebackenen Apfelstrudel mit. Es mag sein, dass mein Vater mit seinen freundlichen Fürsprachen Erfolg hatte, irgendwie kam ich jedenfalls durch. Die meisten Eltern nahmen die Demütigungen mit Ruhe und mit Würde hin. Der Kommilitone Erwin Starl erzählte mir, dass seine Mutter eine solche Demütigung nicht hingenommen habe: »Meine Mutter ist in der ersten Klasse einmal auf Besuch gekommen. Sie wollte mich vom Studiersaal der Abteilung abholen. Gleichzeitig ist auch der Hackl, der Pater Reinhard, gekommen, der war damals Konviktsdirektor. Ich hatte mein Pult etwas schlampig zusammengeräumt. Dort lag auch mein Lineal aus Holz, das ich ziemlich mit Strichen und Zeichnungen zerkritzelt hatte. Wie der Hackl dieses zerkritzelte Lineal sieht, hat er die Mutter beschimpft und ihr gesagt, sie soll mich gleich wieder mitnehmen, denn ich sei faul und schlampig, und das 189

Die alte Klosterschule

Pult hätte ich auch nicht aufgeräumt. Wie meine Mutter das gehört hat, hat sie fast geweint. Aber sie hat sich dann gefasst, und sie ist hinüber zum Hackl in sein Direktionszimmer und hat ihm das gesagt: ›Herr Direktor, jetzt sage ich Ihnen einmal etwas. Die Buben hier sind noch jung, und sie machen auch Fehler.‹ Sie hat für mich und die anderen Buben ein gutes Wort eingelegt. Das hat dem Hackl imponiert. Später, wenn er meine Mutter von Weitem gesehen hat, hat er sie schon gegrüßt. Und unserer Klasse ist es dann auch besser gegangen mit ihm. Und als ich maturiert hatte, wollte der Hackl nicht zum Valet, dem Abschiedsfest von der Schule, kommen. Daher ist meine Mutter zum Hackl gegangen und hat ihm gesagt: Das können Sie den Buben nicht antun. Darauf ist er gegangen. Neben mich hat man ihn gesetzt.« Erwin Starl fügte noch hinzu: »Meine Mutter war eine sehr mutige Frau, und sie war sehr attraktiv. Wenn andere Mütter vom Hackl so behandelt wurden wie meine Mutter damals, hätten sie furchtbar geweint oder ihren Buben gleich aus der Schule genommen.« Jedenfalls hatten die Eltern weniger braver Burschen genug zu tun, um die Patres bei guter Laune zu halten.

Briefe und Packerl der Eltern Wie schon im vorigen Kapitel angedeutet, waren die Besuche der Eltern von großer Wichtigkeit, schließlich, wie oben erzählt, durften wir nur zu den Ferien in die Heimat fahren. Die Kontakte zu den Eltern waren sehr eingeschränkt. Jedes Lebenszeichen, das von den Eltern kam, machte uns Riesenfreude. Telefonieren konnte man damals selten, da jedes Gespräch kompliziert über die Post angemeldet werden musste. Auch hatten damals nur wenige Leute zu Hause ein Telefon. Die günstigste Art, mit den Eltern Kontakt zu halten, war der Brief. In der Klosterschule konnte man von einer richtigen Briefkultur sprechen. Manche Eltern schrieben in der Woche ein bis zwei Briefe an ihre Söhne. Diese wurden vom Präfekten gegen Mittag ausgeteilt, meist, während die Burschen noch in der Schule waren. Die Freude 190

Die Sorge der Eltern: Elternsprechtage

Abb. 18: Brief des Stiftszöglings Roland Girtler an seine Eltern, 1953

war groß, wenn wir ins Konvikt kamen und einen Brief auf unserem Pult vorfanden. Diese Briefe sollten meist ermuntern. Die Eltern schrieben, dass die Söhne »brav und fleißig« sein sollten, dass ohnehin bald Ferien seien und dass Sparsamkeit eine Tugend sei, denn hie und da lag dem Brief auch ein Geldschein bei, was besonders erfreute. Die Eltern erwarteten, dass die Söhne auch regelmäßig ihre Briefe beantworteten. Manche schrieben fleißig, aber viele waren einfach zu faul dazu. Die Schreibfaulen besonders der unteren Klassen wurden vom Präfekten ermahnt und zum Briefschreiben angehalten. Ich erhielt sogar einmal eine Ohrfeige vom Präfekten, weil ich meinen Eltern eine Zeit lang nicht geschrieben hatte und diese sich, wahrscheinlich in einem Telefongespräch mit dem Präfekten, über mich beklagt hatten. 191

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Angenehm war, dass man in den Briefen schreiben konnte, was niemand sonst wissen sollte. Dazu meinte Erwin Starl: »Das Briefeschreiben war das einzige Geheimnis, das du haben konntest. Ich bin mir sicher, dass die Briefe der Eltern von niemandem gelesen wurden. Man war stolz, wenn man einen Brief bekam. Heute, wenn mir plötzlich etwas einfällt, telefoniere ich. Beim Briefschreiben habe ich mich vorbereiten müssen, da musste ich mir Gedanken machen. Das vermisse ich heute beinahe. Nur selten schreibe ich noch richtige Briefe. Meine Briefe, die meine Mutter liebevoll gesammelt hat, habe ich mir jetzt wieder durchgesehen. Im Wesentlichen finden sich darin die üblichen Feststellungen, dass ich ohnehin ›brav lerne‹ und sicherlich durchkommen, das Klassenziel erreichen werde. Oft bat ich höflich um etwas Taschengeld und sehr oft um ein Packerl, um ein elterliches Fresspaket.« Meine eigenen Briefe drehten sich meist um bessere oder schlechtere Schulnoten. So schrieb ich einmal, dass ich auf der Griechischschularbeit ein »Befriedigend«, eine wunderbare Note hätte. Für ein Befriedigend, aber auch für ein Genügend erhielt ich Lob, denn gefürchtet war lediglich, dass ich in einem Gegenstand mit »Nicht genügend« beurteilt würde. Wenn ich eine Schularbeit absolviert hatte, wollten meine Eltern gleich wissen, welche Note uns erwartete. In meinen Briefen unmittelbar nach der Schularbeit war meist zu lesen, dass ich wahrscheinlich eine positive Note erhalten würde. In den folgenden Briefen waren die Auskünfte meist weniger erfreulich. Oft musste ich die Eltern brieflich darauf vorbereiten, dass mir eine Schularbeit misslungen war. Gewöhnlich bestanden die Briefe hauptsächlich aus höflichen Wendungen wie: »Wie geht es Euch? Mir geht es gut!« Abgeschlossen wurde der Brief regelmäßig durch die Floskel: »Euer dankschuldiger Roli«. Das Wort »dankschuldig« spielte dabei eine sehr große Rolle. Der Präfekt der ersten Abteilung hatte uns in seinem erzieherischen Eifer beigebracht, unseren Eltern stets unsere Dankbarkeit zu zeigen. Der Hinweis im Brief, wir seien »dankbar«, sei abzulehnen, meinte der Pater, denn dadurch würden wir bloß 192

Die Sorge der Eltern: Elternsprechtage

kundtun, dass wir den Eltern nichts mehr schulden. Der Abschluss des Briefes mit »Euer dankbarer Roli« wäre demnach überheblich, er würde zeigen, wir hätten schon genügend Dankbarkeit den Eltern erwiesen. Aber das sei zu wenig. Die Eltern sollten das Gefühl vermittelt bekommen, wir, die Buben, würden nie aufhören, ihnen zu demonstrieren, dass wir niemals in schnöde Undankbarkeit verfallen würden. Diese Überlegung des Paters zum Wort »dankschuldig« ist heute noch immer in mir verwurzelt, derart, dass ich der Unterschrift von Briefen, die ich an Kollegen oder Vorgesetzte, die mir mit Wohlwollen begegnet sind, schreibe, dieses Wort »dankschuldig« hinzufüge. Das Schreiben von Briefen, in denen wir eigentlich nichts wollten und in denen wir bloß den Eltern unsere Sympathie bekundeten, bedeutete für uns Burschen meist kein besonderes Vergnügen, da es mit Arbeit verbunden war. Aber die Freude der Eltern, einen Brief vom Sohn zu erhalten, war groß, wenn er eine erfreuliche Nachricht enthielt. Brachte der Briefträger einen Brief von mir, dies geschah meist während der Ordinations­ zeit, meine Eltern waren ja Ärzte, soll mein Vater, wie meine Mutter erzählte, die Ordination unterbrochen, meine Mutter herbei­gerufen und den Brief sofort gelesen haben, unabhängig davon, ob gerade ein Patient die Aufmerksamkeit des Arztes harrte. Meine guten Eltern hatten es schwer mit mir, denn die Berichte von guten Noten waren höchst selten. Sie lebten in der ständigen Furcht, ich müsse aus disziplinären Gründen die Schule verlassen. Gott sei Dank kam es nicht so weit. Wie waren sie froh, als ich endlich maturiert hatte! Die Briefe der Eltern aber bereiteten stets Freude, weil sie die Nachricht von ihrem baldigen Besuch im Kloster enthielten oder etwas Geld beigelegt war. Ich bekam gerne Briefe. Geradezu entzückt war ich, wenn ein Mädchen mir schrieb. Doch davon später. Viel lieber als nach Hause schrieb ich damals an Sportgrößen und Filmschauspieler in der Hoffnung, ein Autogramm oder ein paar freundliche Zeilen zurückzuerhalten. Und hie und da kam auch Post 193

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von diesen Leuten. So erhielt ich einen Brief von dem damals in den Fünfzigerjahren berühmten Fußballer Turl Wagner, der bei Wacker Wien gespielt hat. Er schrieb mir, dass er sich sehr über meinen Brief gefreut habe und dass er demnächst einmal zu einem italienischen Verein, Sampdoria Genua, wenn ich mich recht erinnere, hieß er, wechseln wolle. Diesen Brief des Fußballers Turl Wagner, der auch in der österreichischen Fußballnationalmannschaft gespielt hat, zeigte ich mit gebührendem Stolz meinen Freunden. Auch schickte mir die heute als Fernsehmoderatorin bekannte ehemalige Eisläuferin Ingrid Wendl ein hübsches Bild von sich mit einem Autogramm. Briefe dieser Art bedeuteten eine Unterbrechung des öden Schulalltages und waren Verbindungen zur »weiten Welt«, auch wenn diese nur bis Wien reichte. Vergeblich habe ich damals an Romy Schneider geschrieben. In liebevollen Worten hatte ich sie um ein Bild mit ihrer Unterschrift gebeten, doch die gute Dame antwortete nicht. Jeden Tag, wenn ich in den Studierraum kam, blickte ich als Erstes sehnsüchtig auf mein Pult, ob ein Brief gekommen sei oder gar der Postzettel für ein Paket. Ein solcher Paketschein war etwas lang Ersehntes und geradezu etwas Heiliges. Meist war es ein sogenanntes »Fresspackerl« von den Eltern. Wenn ich meinen Bruder beim Mittagessen sah, lautete die immer gleiche Frage: »Hast du ein Packerl bekommen?« Und er fragte: »Und du?« Meine Mutter adressierte das Packerl nämlich immer nur an einen von uns beiden. Solche Pakete mussten damals vom Postamt direkt geholt werden, eine Zustellung war nicht üblich. Das Abholen des Packerls von der Post war nur in der Freizeit möglich, meist nach vier Uhr, wenn die Schule zu Ende war. In den unteren Klassen, als wir noch keinen freien Ausgang hatten, war der Postschein für das Packerl auch ein Erlaubnisschein, alleine in den Markt, zum Postamt gehen zu dürfen. Um zu diesem Packerl zu gelangen, mussten wir vom Stift hinunter in den Ort marschieren. Dieser Marsch zum Postamt war eine fast sakrale Angelegenheit. Jeden Tag nach vier Uhr am Nachmittag konnte man Burschen sehen, die den Postzettel offen in der Hand trugen und 194

Die Sorge der Eltern: Elternsprechtage

zum Postamt pilgerten. Ein Glücksgefühl durchströmte uns, wenn uns dann der Postbeamte das Packerl ausgefolgt hatte. Am Pult im Studierraum wurde es feierlich geöffnet. Es enthielt alles, was das Herz eines stets hungrigen Burschen erfreuen konnte: Würste, von der Mutter gebackener Kuchen, Apfel, manchmal auch Orangen, die zu dieser Zeit noch selten waren, und andere gute Sachen. Zum Krampus, der im Stift gefeiert wurde, gab es das besondere Krampuspackerl, in welchem sich Kekse, gedörrte Zwetschken, ein Krampus und ein Nikolaus aus Schokolade und allerhand süßes Zeug befanden. Diese Packerln vom Krampus wurden in den unteren Klassen als einzige von der Post zum Konvikt gebracht, wo sie dann vom Präfekten oder den freundlichen Bedienerinnen als Überraschung auf die Pulte gelegt wurden. Bei den Paketen waren jene unter uns im Vorteil, deren Eltern einen Bauernhof, eine Fleischerei, eine Bäckerei oder sonst ein nahrhaftes Gewerbe betrieben, denn deren Packerln waren reichlicher, zumindest als die meinen. Und wir waren froh, wenn wir von den so Beglückten etwas zur Jause abbekamen, wie ein Stückerl Kuchen oder gute Wurst. Geradezu schwärmerisch äußerte sich ein Freund dazu über die Packerln von Burschen, die aus Familien mit einem nahrhaften Gewerbe kamen: »Ein Schlüsselerlebnis von Packerln waren die vom Reisinger. Der war aus Schwanenstadt. Seine Großeltern hatten eine große Fleischhauerei. Wenn der ein Packerl bekommen hat, war das eine reine Freude. Die Packerln vom Reisinger waren die besten, die waren voll von Würsten. Auch die Packerln vom Barta Heinz waren gut, die hatten zu Hause ein gut sortiertes Geschäft.« Zu den Glücklichen, die aus der Familie eines Bäckers stammten, gehörte Hans Aigner aus Windischgarsten. Er erhielt sein Packerl nicht durch die Post, sondern durch Lehrbuben der Bäckerei, die jeden Mittwoch in die Berufsschule, die in der Nähe des Stifts war, fuhren. Hans Aigner berichtete selbst: »Die Buben haben mir damals einen Holzkoffer gebracht, in dem war Wäsche, aber auch Marmelade und andere gute Sachen. Den Koffer haben sie wieder mitgenommen. So war das jeden Mittwoch.« 195

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Der Besuch der Eltern Noch besser als ein Packerl war der Besuch der Eltern. Die Besuche waren entweder für den Donnerstag oder den Sonntag angesetzt, für die freien Tage der Klosterschule. Speziell meinen Eltern passte der Donnerstag gut, um mich und meinen Bruder zu besuchen, denn als Landärzte hatten sie als freien Tag der Woche den Donnerstag gewählt. Der Sonntag, zumindest der Vormittag, war Arbeitstag, da an diesem Tag die Bauern von den Bergen herunter in die Kirche zur Messe kamen. Im Anschluss daran gingen sie nicht nur ins Wirtshaus, sondern auch zum Arzt. Es war daher für meine Eltern mühsam, dann noch am Nachmittag mit ihrem alten Steyr-Baby und später mit dem Volkswagen in die Klosterschule zu fahren, die fünfzig Kilometer entfernt lag. Meistens wurden die Studenten alle zwei oder drei Wochen, zumindest aber einmal im Monat von den Eltern besucht. Gleich nach dem Ende der Studierstunde, um zwei Uhr, waren die Eltern und oft auch die Geschwister da. Erwin Starl beschreibt dies so: »Bevor die Eltern am Donnerstag oder Sonntag um zwei Uhr zu Besuch kamen, war die Spannung so groß, dass kaum noch einer von uns ernstlich studieren konnte. Dauernd hat man sich gefragt: Wann ist es zwei Uhr?, und hoffentlich ist es bald so weit. Wer einen Fensterplatz gehabt hat, wurde beauftragt, dauernd in den Stiftshof hinunterzuschauen, ob die Eltern nicht schon da sind. Besonders wichtig war der Besuch der Eltern für die Buben der ersten Klassen. Manchmal haben die Senioren, die Vertreter der Präfekten, die eine Klasse höher waren, das Studium zwei oder drei Minuten hinausgezögert. Die Eltern haben da schon auf den Gängen gewartet. Dann hieß es: Wer kommt schneller aus dem Studiersaal hinaus? Die Erwartungshaltung in dieser Studierstunde von eins bis zwei war enorm. Das spüre ich heute noch. Wenn niemand zu Besuch kam, war die Enttäuschung groß.« Für gewöhnlich spielte sich ein solcher Besuch so ab, dass nach einem kleinen Spaziergang in der Nähe des Stiftes ein Gasthaus aufgesucht wurde, wie das Gasthaus Holzinger im Ort oder der Gasthof 196

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»Zum Baum mitten in der Welt« auf dem Gustermaierberg. Für den Klosterschüler war ein solcher Gasthausbesuch geradezu erhebend und höchst freudvoll, denn nun konnte er sich, je nachdem, was der Vater ausgeben wollte, Gutes bestellen und trinken. Der Schüler war damals schon über ein Paar Würstel mit Senf oder Saft samt einem Kracherl, wie man seinerzeit eine Limonade mit Kohlensäure bezeichnete, hoch erfreut. Der Bursch hoffte aber auch etwas Taschengeld zu bekommen, mit dem er Kleinigkeiten kaufen konnte. Manche Eltern fuhren mit den Söhnen, die eine solche Entfernung aus der Sphäre des Klosters sehr entspannend fanden, auch in Nachbarorte. Ein besonderer Festtag, an dem fast alle Eltern ins Stift auf Besuch kamen, war der 1. Mai. Dieser Tag, an dem die Studentenmusikkapelle bereits in aller Früh durch den Ort und um das Stift zog und uns aus unserem Schlafweckte, wurde mit den Eltern ausgiebig gefeiert, vor allem, wenn die Eltern bereits am Vormittag im Kloster erschienen waren. Während der Zeit ihres Besuches hatten die Eltern die Aufsicht und die Verantwortung über ihre Söhne. Sie konnten daher mit ihnen an diesem Tag in einem gewissen Rahmen Dinge unternehmen, die ansonsten dem Klosterschüler nicht gestattet waren, wie die Fahrt in ein Gasthaus des Nachbarortes. Auch mit der Rückkehr in den Studiersaal wurde es dabei nicht immer so genau genommen. Wenn die Eltern die Erlaubnis des Präfekten hatten, konnte der Bursch auch vom Studium zumindest bis zum Abendessen, manchmal auch über dieses hinaus, befreit werden. Ich erinnere mich, dass ich in den ersten Monaten meines harten Lebens als Klosterschüler häufig von meiner Mutter besucht wurde. Sie war eine ausgezeichnete Lateinerin, sodass sie mir die erste Zeit in einem Gasthaus bei Kuchen und Coca-Cola, das damals in Österreich noch neu war, Latein beizubringen versuchte, dies zur Überraschung aller mit Erfolg. Bei der ersten Schularbeit erhielt ich, da war auch ich überrascht, ein »Sehr gut«. Es war, glaube ich, das einzige in Latein während der acht Jahre meines gymnasialen Lebens. Für mich waren diese Besuche, während denen sie mich für ein paar Stunden 197

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aus der ersten Abteilung loseiste, eine schöne und höchst an­ge­nehme Abwechslung. Sie versuchte mir zu vermitteln, dass ich nicht alleine sei, dass sie hinter mir stehe, auch wenn ich mich in der Horde der Buben im Konvikt behaupten musste, die es mir nicht leicht machten und die mich auch manchmal mit Spott überzogen. Ich erinnere mich, dass meine Mutter bei ihren Besuchen, dies war in den ersten Wintermonaten, einen schönen braunen Pelzmantel anhatte. Ich drückte mich in sein Fell, ich fühlte darin für kurze Augenblicke Geborgenheit. Noch Jahre später erzählte mir meine Mutter, wie wichtig mir damals dieser Pelzmantel während ihrer Besuche gewesen sei.

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XIV. Das Mittagessen

Im Sinne der alten benediktinischen Ordnung war das Mittagessen pünktlich für zwölf Uhr mit dem Ertönen der Glocken angesetzt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Burschen sich bei ihren Plätzen im großen Speisesaal, der im zweiten Stock lag, oder im kleinen im ersten Stock einzufinden und sich zu ihren Plätzen zu stellen. In der Mitte der Reihen im großen Speisesaal, der Ausschank gegenüberliegend, stand der Konviktsdirektor und gebot Silentium. Dann sprach er mit den Burschen gemeinsam das lateinische Tischgebet, welches da lautete: »Benedice, Domine, nos et haec tua dona, quae de tua largitate sumus sumpturi. Per Christum, Dominum nostrum, Amen.« (Herr, segne uns und diese Deine Gaben, die wir von Deiner Güte empfangen werden. Durch Christus, unsern Herrn, Amen.) Nach dem Gebet setzten sich alle auf ihre Sessel und warteten auf Suppe und Hauptspeise, die von den »Kuchlweibern« und den Bedienerinnen ausgeteilt wurden. Vier oder fünf Frauen waren es, die uns das Essen nacheinander zum Tisch brachten. Hier zeigt sich eine alte noble Tradition, bei der die Studenten noch so etwas wie Herren waren. Das Essen war nicht unbedingt reichlich, aber man konnte satt werden. Als Suppe gab es alle Arten von Rind- und Gemüsesuppen. Das Spektrum der Hauptspeisen war breit. An bestimmten Tagen, an den Sonnund Feiertagen, gab es Fleischportionen, wie Schweinefleisch, eine Art Zwiebelrostbraten aus Rindfleisch oder auch etwas, das wie Gulasch aussah. Daneben erfreute man uns mit allen Arten von Fleckerlspeisen, Nudeln mit Wurst- oder Fleischstücken, die wir als Reste früherer Hauptspeisen erkannten. An den Freitagen wurde Fisch aufgetragen, aber auch Apfelstrudel und Knödel, in denen Marillen, Kirschen oder Zwetschken verborgen sein konnten. Da es derartige Knödel nur selten gab, schmeckten sie uns besonders gut. Ich habe 199

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einmal beim Mittagessen 2 oder 3 Knödel gegessen. Im Apfelstrudel fanden sich bisweilen Reste anderer Süßspeisen, wie die des Grießbreis, den es auch manchmal gab. An Buntheit des Essens mangelte es nicht. Wenn genügend in den Töpfen war, konnten wir uns nachbestellen, so lange, bis alles ausgetragen und verzehrt war. Häufig kamen nicht alle in den Genuss eines »Nachschlags«, sondern nur die schnellsten Esser. War nämlich das Essen hervorragend, beeilten sich die Spezialisten, um noch einmal den Teller gefüllt zu erhalten. Damit die Damen vom Küchenpersonal auch wussten, wer noch etwas nachhaben wollte, musste der Betreffende seinen Teller in die Höhe halten. Dann eilte eine der Frauen zu diesem leeren Teller, holte ihn und kehrte mit dem gefüllten wieder zurück. War die Speise besonders gut, zeigten auch viele mit ihren Tellern auf. Dabei entwickelte sich ein richtiger Wettbewerb, bei dem jeder versuchte, die Serviererinnen dazu zu bewegen, seinen Teller als ersten zu übernehmen. An bestimmten Festtagen, wie am Stiftertag, dem 11. Dezember, wurde ein besonders gutes Mahl kredenzt. Am Stiftertag gab es manchmal neben der Hauptspeise auch ein kleines Stück von einem gebratenem Wildschwein, das in den Wäldern, die zum Stift gehören, erlegt worden war. Das Wildschwein hat für das Kloster eine besondere Bedeutung, denn der Sage nach gründete Tassilo, der Bayernherzog, 777 an jener Stelle das Kloster, wo er seinen Sohn Gunther tot auffand. Gunther war bei der Jagd von einem Wildschwein derart schwer verletzt worden, dass er an den Folgen der Verletzung starb. Da bei der Gründung des Klosters also angeblich ein Wildschwein beteiligt gewesen war, landete ein solches auch jedes Jahr fein gebraten am Mittagstisch der Patres. Um 1958 soll der griechische König Paul dem Kloster eine von ihm erlegte Wildsau zum Geschenk gemacht haben. König Paul weilte mit seiner Familie jedes Jahr als Jagdgast in der Nähe des Almsees, bei dem auch das Kloster große Besitzungen hat. Den Besuch des griechischen Königspaares um 1959 mit ihren Kindern, unter ihnen Prinz Konstantin und Prinzessin Sophia, die spätere spanische Königin, im Stift Kremsmünster nahmen die Patres mit freudiger Gelassenheit hin (siehe Abb. S. 201). 200

Das Mittagessen

Abb. 19: Hoher Besuch im Kloster, um 1959: griechisches Königspaar. 5. v. r.: die heutige spanische Königin Sophia; 4. v. l.: Prinz Konstantin

Abb. 20: Prinzessin Sophia und Prinz Konstantin im Konvikt, um 1959

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Die alte Klosterschule

An einen Festtag erinnere ich mich besonders, es war dies der 15. Mai 1955, nämlich der Tag des österreichischen Staatsvertrages, an dem Österreich frei von den Besatzungsmächten wurde. Pater Albert meinte damals, dieses Datum könne man sich leicht mit der Ziffer 5 merken: 15.5.55. An diesem wahrlich einmaligen Tag kredenzte man uns bereits zum Frühstück eine große Torte, etwas für die damalige Zeit außerordentlich Großartiges. Zu Mittag gab es nicht nur einen Abb. 21: Die griechische Königin im Kloster, um 1959 herrlichen Braten mit einer prachtvollen Nachspeise, sondern für jeden auch eine kleine Flasche Frucade. Das Mittagessen konnte an Festtagen exorbitant gut sein. Aber es gab auch Tage, an denen wir das Essen als »Fraß« bezeichneten. Unter »Fraß« verstand man eine Speise, die schlecht schmeckte oder gar ungenießbar anmutete. Grundsätzlich verlangte man von uns beim Essen Disziplin. Das heißt, wir durften uns nur im gemäßigten Plauderton verständigen. Wurden die Gespräche zu wildwüchsig, gebot der Aufsicht haltende Pater mit lauter Stimme »Silentium«. Darauf hatte es still zu sein. Zur Disziplin gehörte leider auch, dass wir alles essen mussten, was auf den Teller kam. In der vierten Klasse hatten wir im »kleinen Speisesaal« zu essen. Die Aufsicht führte damals der Präfekt Pater Paulus. Als wir einmal eine bestimmte Art der Gemüsesuppe aufgetischt bekamen, grauste mir derartig, dass ich sie einfach nicht hinunter202

Das Mittagessen

brachte und sie unberührt im Teller ließ. Mein Grausen war groß. Pater Paulus bemerkte den vollen Teller mit dieser elenden Suppe. Er zwang mich, den »Fraß« hinunterzuwürgen, indem er so lange bei mir stehen blieb, bis ich mich entschloss, todesmutig die Suppe zu vertilgen. Erst als der Teller leer war, zog er ab. Wurde uns greulich schmeckendes Fleisch oder Ähnliches kredenzt, griffen wir zur List: Wir begannen zu »pressen«. Dieses »Pressen« bestand darin, dass wir die betreffende grauenhafte Speise oder ihre Reste auf einen Teller gaben, auf diesen kam noch ein Teller, der die Speise vom ersten Teller verdeckte. Manchmal gaben wir auch auf diesen Teller Ungenießbares. Darauf kam wieder ein Teller und so weiter. Damit das Fleisch und die Nudeln zwischen den Tellern nicht sichtbar wurden, pressten wir die Teller fest aufeinander. Kam der aufsichtführende Konviktsdirektor uns auf die Schliche, konnte er sehr zornig werden. Einmal ergriff er ein Stück Fleisch, das zwischen zwei Tellern gepresst und voll der Flachsen war und von uns als ungenießbar angesehen wurde, mit der Gabel und meinte: »Das ist doch gutes weiches Fleisch.« Die Weichheit der Flachsen demonstrierte er dadurch, dass er mit der Gabel auf diesen herumstocherte. Und tatsächlich sind solche Flachsen auch weich, aber nicht besonders genießbar. Der Konviktsdirektor war besonders auf Disziplin während des Essens bedacht. Ich erinnere mich, dass er einmal einen Studenten aus einer höheren Klasse wild beschimpfte, weil dieser redete, obwohl Silentium angesagt worden war. Der Herr Direktor bekam einen derartigen Zorn, dass er den Sünder beschimpfte: »Sie Oberdepp, du!« Er fiel beim Schimpfen vom Sie auf das Du. Eine andere Geschichte über die Essensaufsicht des Herrn Direktors erzählte mir Erwin: »An besonders hohen Festtagen gab es zum Essen auch eine Frucade. Wir saßen wieder einmal bei einem solchen Essen, und es gab Frucade. Da hat einer von uns seine Frucade derart geschüttelt, dass die Kohlensäure hochkam. Den Daumen hatte er auf der Flasche. Was sollte er tun? Gerade als der Direktor bei uns vorbeikam, ist der Saft mit der Kohlensäure ausgebuhrt. Wir alle um ihn sind nass geworden. 203

Die alte Klosterschule

Darauf hat der Direktor ihm eine Watschen gegeben. Ich habe bei mir gedacht, es zerreißt mich vor lauter Lachen. Heute sehe ich das alles noch vor mir. Sein Finger hat dem Druck aus der Flasche nicht mehr standgehalten.« Beendet wurde das Essen um zwölf Uhr dreißig wiederum mit einem lateinischen Gebet, dessen Text lautet: »Agimus tibi gratias, omnipotens Deus, pro universis beneficiis, tuis, qui vivis et regnas in saecula saeculorum, Amen« (Wir sagen Dir Dank, allmächtiger Gott, für alle Deine Wohltaten. Der Du lebst und herrschst in Ewigkeit, Amen). Dann waren die Schüler entlassen. Nun hatten sie bis ein Uhr frei: eine halbe Stunde, die sie genossen.

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XV. Der Nachmittag

Die Studierstunde: Studium und Silentium Um ein Uhr rief der Präfekt zum Studium in den Studiersaal der Abteilung. Das Studium war wesentlicher Bestandteil des Tagesablaufs. Für jeden Tag war genau festgesetzt, wann man sich dem Studium unter Stillschweigen zu widmen hatte. Während der Woche wurde das Frühstudium von halb sieben bis halb acht abgehalten, nach dem Mittagessen folgte von ein Uhr bis ein Uhr fünfundvierzig das Mittagsstudium, an das sich der gemeinsame Marsch zur Schule anschloss. Nach der Schule, die zumeist von zwei bis vier Uhr dauerte, genossen die Studenten der unteren Klassen eine halbe Stunde Freizeit, auf die wieder ein Studium bis um sechs Uhr abends folgte. An schulfreien Donnerstagen und Sonntagen waren die Zeiten für das Studium anders angesetzt. In den unteren Klassen achteten die Präfekten sehr genau darauf, dass die Studierstunde pünktlich beginne. Manche Patres stürmten geradezu in den Saal, wenn die Burschen noch keine Anstalten gemacht hatten, ihre Plätze einzunehmen. Und mit lauter Stimme riefen sie in den Raum: »Silentium.« Dieses Wort »Silentium« hatte für uns eine ganz besondere Bedeutung, denn es begleitete uns durch die Jahre. Hörten wir es, wussten wir, von uns würde »Stillschweigen« verlangt. Dieses Wort »Silentium« hörten wir ständig: bei den Mahlzeiten, in der Schule und beim Studium. Es erschallte immer dann, wenn ein Pater sich durch unser Geschwätz gestört sah oder meinte, es würde uns guttun, Stillschweigen zu bewahren, weil es doch unsere Bestimmung hier in der Klosterschule sei, uns in Ruhe dem edlen Studium zu widmen. 205

Die alte Klosterschule

Unterstützt wurden die Präfekten in den ersten Abteilungen durch sogenannte Senioren, meist waren sie zu dritt. Diese Senioren waren ausgesuchte Studenten der vorhergehenden Klasse. Sie mussten gute Schüler sein. Sie saßen auf der Seite bei den Fenstern, separiert von den anderen, an eigenen Pulten. Von dort regierten sie über die jüngeren. In der ersten Abteilung waren die Senioren also Schüler aus der zweiten Klasse, in der vierten Abteilung, in der Schüler aus der dritten Klasse saßen, solche aus der vierten Klasse. Die Hauptaufgabe dieser Senioren war es, dafür zu sorgen, dass das Studium von uns eingehalten werde. Sie waren Meister im Schreien des Wortes »Silentium«. Diesen Senioren gegenüber war man vorsichtig, da man befürchtete, dass sie den Präfekten von »Übeltaten« berichten würden. Aber es gab auch höchst freundliche Senioren, die zu ihren Kollegen aus der unteren Klasse hielten. Im Studiersaal ertönte das magische Wort »Silentium« eigentlich andauernd. Hieß es Silentium, mussten wir an unsere Pulte im Studiersaal eilen und an diesen Platz nehmen. Für gewöhnlich waren drei hölzerne Pulte zu einer Reihe miteinander verbunden. In der ersten Abteilung gab es sechs Reihen, die durch einen Gang in der Mitte geteilt waren, je drei vorne und je drei hinten. Bereits auf einem Bild aus dem Jahre 1923, das ich besitze, sind diese Pulte und diese Anordnung zu sehen. Es hat sich also zumindest bis in die Fünfzigerjahre durch die Jahrzehnte hindurch kaum etwas verändert, die Anordnung der Pulte blieb gleich. In den anderen Abteilungen waren die Pulte und deren Standorte ähnlich, bis auf die letzte Abteilung, in der mehrere Klassen zusammengefasst waren und die über zwei Studierräume verfügte, die aufeinander folgten. Hier verfügten die Zöglinge bereits über so etwas wie einfache Schreibtische mit Laden an der Seite. In der dritten Abteilung, die eine kleinere war, hatten wir Pulte mit einer schiefen aufklappbaren Fläche. Wurde diese in die Höhe gegeben, ging der Blick in die Tiefe eines kleinen Raumes, in dem wir neben unseren Schulsachen unsere Schätze verborgen hatten. Zum Studium nahmen wir Hefte und Bücher heraus, die wir zu unserer Fortbildung 206

Der Nachmittag

benötigten, klappten das Pult zu und widmeten uns – zumindest nach außen hin – dem sogenannten Studium, der Vorbereitung auf den Unterricht. Der Präfekt achtete darauf, dass wir die Vorschriften einhielten. Schon seine Anwesenheit genügte, uns einigermaßen zu diszplinieren. Manche Präfekten gingen daher während des »Studiums« auf und ab, wobei sie in ihrem Gebetbuch, dem Brevier, lasen. Als Mönche mussten sie täglich ein bestimmtes Pensum an lateinischen heiligen Texten lesen. Und dies taten sie mit Vorliebe während des Studiums. Das Auf-und-ab-Gehen beruhigte sie anscheinend, es war auch eine körperliche Leistung, und das Murmeln des Gebetes sollte sie in eine friedliche Trance versetzen, was aber nicht jedem, glaube ich, gelang. Wir Burschen im Konvikt empfanden den im Studiersaal während des Studiums umherwandelnden Pater eher als eine Bedrohung unserer Freiheit. Es wagte niemand aufzumucken, und niemand wagte es, das Silentium zu stören. Und betätigte sich tatsächlich einmal einer als Störenfried, musste er mit einer Ohrfeige oder mit Hausarrest rechnen. Auf die einzelnen Strafen werde ich später noch eingehen. Hier und da zog es der Pater aber vor, sich nicht im Studierraum als wandelndes Aufsichtsorgan zu präsentieren, sondern in seinem Zimmer zu bleiben, das an den Studierraum anschloss. Am Zimmer des Präfekten war in Kopfhöhe eine Art Sieb angebracht, durch das er uns ungesehen beobachten konnten. Dieses »Guckerl«, wie wir es bezeichneten, empfanden wir als höchst hinterhältig. Ständig mussten wir fürchten, dass der Pater, wenn er nicht im Studierraum anwesend war, hinter diesem kleinen Fensterchen stand und uns bei unserem mitunter Verbotenen zusah. Verboten war alles, was nicht der Beschäftigung mit dem Schulstoff diente, wie das Lesen kühner Literatur, zu der in den unteren Klassen Karl May gehörte, oder das Basteln von irgendwelchem nützlichen oder nutzlosen Zeug, denn gerade in den unteren Klassen machte es Freude, Flugzeuge, Schiffe, Kistchen, die man vielleicht für Weihnachtsgeschenke verwenden konnte, und Ähnliches herzustellen. Dies gehörte zur Freizeitbeschäftigung, doch auch das Studium nutzte man dazu, wenn es gelang, dies so zu tun, dass der Präfekt es nicht merkte. 207

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Man wusste also nie, ob der Präfekt beim Studium die Burschen beobachtete oder nicht. Ein Trick war zum Beispiel, so zu tun, als läse man in einem Latein- oder Griechischbuch, das tatsächlich aber ein »Karl May« war. Oder man schrieb statt der Mathematikarbeit einen Brief. Das Briefschreiben war, wie schon gesagt, eine Sache der Freizeitbeschäftigung, nicht des Studiums. Auch darauf schaute der gute Pater. Das Studium empfand der wenig eifrige Student als Höhepunkt der alltäglichen Langeweile. Manchen diente es auch der Erholung, indem sie in dieser Zeit einfach schliefen. Sie stützten dabei den Kopf in die Hände über einem Lehrbuch, sodass es aussah, als ob sie sich intensiv mit dem Stoff beschäftigten. Eine weitere Möglichkeit, um sich der Langeweile des Studiums zu entziehen, war, auf das Klosett zu gehen. Den Präfekten machte man auf sein Bedürfnis dadurch aufmerksam, dass man die Klosettpapierrolle, jeder hatte eine solche, in die Höhe hielt. Der Präfekt erteilte dann gnädig die Erlaubnis, aus dem Studiersaal zum Klosett zu gehen, um dort dem menschlichen Drange nachgeben zu können. Manche hielten sich übernatürlich lange auf dem Lokus auf, um die Zeit des Studiums auf diese Weise hinter sich zu bringen. War jemand auffällig lang abwesend, konnte es vorkommen, dass der Präfekt nach dem am Klosett Abgängigen sich erkundigte. Die Klosetts waren in den oberen Abteilungen bei den Waschräumen eingerichtet, und zwar als Kabinen, die zu zweit oder zu dritt aneinandergereiht waren. Saßen mehrere in den Kabinen, die als richtige Zufluchtsorte gesehen wurden, konnten sich auch Gespräche über die Trennwände hinweg entwickeln. Jedenfalls dürfte es für einige während des Studiums spannender gewesen sein, sich am Klosett aufzuhalten als im Studiersaal. Am Klosett konnte man sich also die Zeit vertreiben. Erwin Starl erzählte dazu: »Wir sind gerne aufs Häusl gegangen, weil das eine Abwechslung war vom Studium.« Auch in den oberen Klassen achtete der Präfekt noch auf die Einhaltung des Studiums, allerdings ließ man den Burschen schon größere Freiräume, da man mit Recht annahm, dass der Bursche allmählich an Reife gewinne und nun wisse, worauf es beim Studium ankam. Aber 208

Der Nachmittag

Abb. 22: 3. Abteilung, Studiensaal. Man beachte das Guckloch an der Türe, um 1957

dennoch gab es die wenig Interessierten, die lieber Kriminalromane lasen als die Ilias des Homer. In den oberen Klassen wurde von den Präfekten bisweilen toleriert, dass jemand, der angeblich besonders hart zu lernen hatte, am Gang vor dem Studierraum mit einem Buch oder einem Heft auf und ab ging, um zu lernen. Einige nutzten diesen Vorwand, um nicht in der Abteilung am Pult sitzen zu müssen. Andere mögen dies in der Hoffnung getan haben, durch das Spazieren am Gang das Gehirn zu trainieren. Mir hat diese Art des Lernen nicht viel gebracht. Das Studium, dessen System in allen Abteilungen gleich war, steht in der besten mönchischen Tradition. Es diente vorrangig der Disziplinierung der Burschen, die zu erfassen hatten, dass der Schulunterricht in der Klosterschule nur dann sinnvoll ist, wenn man ihn auch gut vorbereitet besuchte und jederzeit zu einer Prüfung des jeweiligen Stoffes vorbereitet sei. Viele Vernünftige studierten in diesem Sinn. Es gab auch jene, zu ihnen zählte auch ich, die das Studium schlecht nutzten und froh waren, wenn es vorbei war, um sich der Freude der Freizeit widmen zu können. 209

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Die Jause – ein Lob den Bedienerinnen Nach dem Schulunterricht, also nach vier oder fünf Uhr, gab es die Jause, die damals in trockenen Scheiben Brot bestand. In den unteren Klassen lag, wenn wir heimkamen, auf jedem Pult ein Stück Brot, das von freundlichen Damen, den sogenannten Bedienerinnen, dorthin gelegt worden war. Später nahmen wir uns die Brotstücke aus einem Korb. Dabei konnte es vorkommen, dass diejenigen, die bis fünf Uhr Schule hatten, einen bereits geleerten Korb vorfanden, weil hungrige Burschen sich mehrere Stücke Brot geschnappt hatten. Das wurde freilich als Verletzung der Kameradschaft gesehen. Die leeren Brote besserten wir durch Butter, Käse oder Marmelade auf, Dinge, die uns gütige Eltern in Packerln schickten oder die sie uns bei ihren Besuchen brachten. Ich erinnere mich besonders an ein großes Glas Erdbeermarmelade, das mir meine Mutter in einem kleinen Lebensmittelgeschäft im Ort gekauft hatte, bevor sie mich in der ersten Klasse des Gymnasiums in das Konvikt brachte. Diese Marmelade war mir sehr wichtig, sie erinnerte mich nicht nur an meine Mutter, sondern half auch, das langweilige trockene Jausenbrot in ein

Abb. 23: Zwei freundliche Bedienerinnen

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schmackhaftes Essen zu verwandeln. Auch bei der Jause, ähnlich wie beim Frühstück, war der, der selbst nichts hatte, froh, wenn ein Freund mit einem Brotaufstrich oder gar mit einem Stück Kuchen aushalf. Hier bestand der Grundsatz der Gegenseitigkeit. Wenn jemand also großzügig mit seinem Marmelade-, Käse- und Kuchenvorrat umging und andere an diesem teilhaben ließ, konnte er damit rechnen, selbst auch einmal auf eine solche Köstlichkeit eingeladen zu werden. Besonders beneidet waren diejenigen, die ein gutes Grammelschmalz von zu Hause mitbekamen, denn ein Grammelschmalzbrot mundete vorzüglich und gab Kraft. Ich liebte solche Brote. Wenn ich in den Ferien war, aß ich oft fünf Grammelschmalzbrote »auf einen Sitz«. Dazu trank ich Milch. Eine höchst bemerkenswerte Kombination. Meine Mutter machte sich übrigens selbst die Mühe, Schweinefett auszulassen. Im Konvikt war Schmalz auch eine Art Tauschware. Für etwas Schmalz konnte man sich zum Beispiel Käse einhandeln. Besonders mundete mir damals der Camembert, mit dem unser Klassenbester von seinen Eltern regelmäßig versorgt wurde. Hie und da gab mir dieser Bursche, der heute ein berühmter Professor der Medizin ist, ein Stück davon. Nie wieder aß ich einen besseren Camembert! Er scheint von einer besonderen Konsistenz gewesen zu sein, die es heute nicht mehr gibt. Einige Jahre nach meiner Matura, die Zeiten waren besser geworden, kam es zu einer Änderung im Ablauf der Jause. Dazu erzählte mir ein Kommilitone: »Das Nächste war, dass es zum Frühstück und zur Jause Brotaufstriche gegeben hat, Topfen oder so etwas. Das war dann im Konviktspreis drinnen. So ein leeres Brotstück zur Jause war doch für Sechzehn- bis Achtzehnjährige zu wenig. Als wieder einmal im Korb kein Brot war, weil andere sich statt bloß einem zwei genommen hatten, sagte der Präfekt zu meinem Vater, der Gendarm und gerade zu Besuch war, ob er nicht einen Weg wisse, wie man den Dieben auf die Schliche kommen könne. Darauf hat sich meine Mutter eingemischt und gesagt: ›Schämen Sie sich nicht? Für das viele Geld, das wir zahlen, könnten Sie jedem Buben zwei Stück Brot geben.‹ Darauf hat mich der Präfekt noch weniger mögen.« 211

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Die Jause mit dem Brot und den Aufstrichen gehörte für die ewig hungrigen Burschen zu den Höhepunkten des Tages. In ihrem Hunger waren sie sogar bereit, ein Stück Brot zu stehlen, was jedoch als ehrlos und als Vergehen gegen die Kameraden gesehen wurde. Hier sei eine kurze Laudatio für die Bedienerinnen, die wir manchmal auch Putzfrauen nannten, eingebracht, denn sie waren es, die uns mit dem Jausenbrot versorgten. In jeder Abteilung arbeiteten zwei dieser Frauen. Neben diesen gab es im Konvikt noch andere Frauen, die in der Küche tätig waren. Sie, die wir mit »Fräulein« oder bloß »Fräun« ansprachen – wie »Fräun Resi« oder »Fräun Wetti« –, waren in einer Welt der Männer dienend tätig, aber dies sagt zu wenig über sie aus. Die Bezeichnung Bedienerin entspricht nicht dem, was diese Frauen wirklich waren, nämlich gütige und fleißige Frauen, die sich nicht nur um unsere Wäsche, unsere Schuhe und das Essen kümmerten, sondern die auch stets ein gutes Wort für uns bereit hatten, die uns sogar trösteten, wenn wir traurig waren oder Heimweh hatten. Sicherlich gab es auch weniger freundliche unter ihnen, die uns mit scharfen Worten zurechtwiesen, aber diese waren in der Minderzahl. Die meisten scherzten und lachten gerne mit uns, zum Beispiel das Fräulein Resi. Dieser Frauen, die aus bäuerlichem Milieu stammten und auf die Ehe verzichteten, um hier im Kloster zu arbeiten, sei hier in Ehren gedacht. In der ersten Abteilung wurde ich einmal vom Präfekten mit dem Spanischen verdroschen – es waren zwei dieser sogenannten Bedienerinnen, die mir beinahe zur Hilfe geeilt wären. Für diese mütterlichen Frauen empfinde ich heute noch Dankbarkeit.

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XVI. Der Abend Das Abendessen Nach dem Studium, das um sechs Uhr endete, marschierten wir zum Speisesaal, um das Abendessen einzunehmen. Das Abendessen wurde von uns in gelöstem seelischen Zustand eingenommen, denn wir freuten uns schon auf die Zeit danach, die dem Spiel, der freundschaftlichen Begegnung und der Unterhaltung vor dem Schlafengehen gewidmet war. Nach dem Gebet wurde serviert. Oft gab es diverse Aufläufe, in denen sich bisweilen Reste anderer Mahlzeiten fanden, wie übrig geblie­ bene Nudeln, Fleischstücke und Gemüse. Sogar im Apfelstrudel konnten hin und wieder Bestandteile früherer Mehlspeisen entdeckt werden. Häufig, meist am Samstag, wurde Käse zu einer Schale Tee gereicht. Dieser Käse konnte aus Schlierbach sein, aber auch einer aus Kremsmünster selbst, denn in den Fünfzigerjahren existierte hier noch eine Käserei. Auch erinnere ich mich an einen orangen amerikanischen Käse, den die Amerikaner in großen Mengen hinterlassen haben. Nicht allen schmeckte dieser Käse. Da wir alles aufessen mussten, was uns kredenzt wurde, warfen einige kühne Burschen diesen Käse, wenn das Fenster offen war, einfach in den Wassergraben. Nach dem Gebet stürmten wir zurück in die Abteilungen.

Die freie Zeit am Abend: Lesen, Spiel und Nachhilfe Ab ungefähr sieben Uhr genossen wir freie Zeit bis zum gemeinsamen Abendgebet. Immerhin waren es eineinhalb Stunden, die wir frei gestalten konnten. Diese freie Zeit diente vorrangig der Erholung und Unterhaltung, wurde aber auch für gewisse Feiern und Festlichkeiten verwendet, wie zum Beispiel im Dezember für die Krampusfeiern in den unteren Ab­­ 213

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­teilungen. Für die Burschen der letzten Klasse war es ein besonderes Vergnügen, in großen Krampusmasken, in Fellen, mit Ruten und Ketten rasselnd durch die unteren Abteilungen zu stürmen. Besonders lustig war es, die Bedienerinnen zu jagen, die kreischend flohen. In der Freizeit waren jene Leute, die gut erzählen konnten, besonders gefragt. Bewarben sich mehrere Erzähler gleichzeitig um die Gunst der Zuhörer, so kam es zu einem richtigen Wetteifern im Erzählen bester Geschichten. Gegenstand dieser Geschichten konnte ziemlich alles sein, bereits in den unteren Klassen. Am beliebtesten war es, Schnurren über Professoren zu erzählen und über ihren Ärger mit gewitzten Studenten, wie zum Beispiel über den Naturgeschichtsprofessor Pater Reinhard, der manchmal recht bösartige Sprüche über uns losließ. Einige Geschichten, wie sie erzählt wurden, habe ich im Kapitel über den Schulunterricht bereits festgehalten. Man sprach aber auch über schöne Erlebnisse während der Ferien, als es einem besser ging als hier im Kloster, über Filme, die man zu Hause gesehen hatte, über Fußball, über sportliche Heldentaten, manchmal auch über Mädchen und vieles mehr. Und man erzählte Witze, auch etwas gewagte. Zu den großen Erzähltalenten gehörte ein gewisser Roland Staudinger, der große Runden mit seinen Geschichten unterhalten konnte. Er wurde später übrigens ein bekannter Moderator und Sprecher des Tiroler Rundfunks. An einen Witz, den er erzählte, erinnere ich mich noch. Es ging in diesem um schlüpfrige Namen in den verschiedenen Ländern. Den Ungarn nannte er »HotkaHaaramArsch«. Über die anderen Namen möchte ich hier schweigen. Manche nutzten die Zeit, um an ihren Pulten ein Buch zu lesen, das Spannung versprach und vom geregelten Leben im Konvikt ablenkte. Besonders begeistert lasen die Studenten die Werke von Karl May, wobei man sich im Geist in ferne Welten, in denen man selbst nie gewesen war, begeben und kühne Abenteuer bestehen konnte. Kaum ein anderer Autor konnte die Fantasie der jungen Burschen derart anregen wie Karl May. Es gab echte Spezialisten im Verschlingen der Karl-May-Bände, wie meinen Freund Karl Gatterbauer, über den ich schon erzählt habe und der eigentlich dauernd Karl May las. Er ver214

Der Abend

brachte seine Freizeit im Wesentlichen damit, sich den Geschichten von Winnetou und Hadschi Halef Omar zu widmen. Daher bekam er von uns auch den Spitznamen »Hadschi«. Als Unterhaltung beliebt war auch das Karten- und Schachspiel. Damals in den Fünfziger Jahren gab es noch ein Spiel, das uns besonders faszinierte und dem wir einen Großteil unserer Freizeit widmeten. Es war dies das sogenannte »Fidschigogerln«, ein Tischfußballspiel, das wir auf Tischen spielten, an denen wir Tore einzeichneten. Bei diesem Spiel versuchten zwei Burschen, mit je einem Kamm und je einem Zehngroschenstück abwechselnd ein Zweigroschenstück in das gegnerische Tor zu befördern. Es gab bei diesem Fidschigogerln richtige Spezialisten, die mit dem Kamm aus unmöglichen Situationen das größere Geldstück derart schossen, dass es das kleinere in das Tor schickte. In der letzten Abteilung gab es sogar einen eigenen Unterhaltungsraum. Er trug den schönen Namen Recreatio, was so viel heißt wie »Erholung«. Wir nannten diesen Raum kurz »Rek«. Es hieß da zum Beispiel: Jetzt gehen wir in die Rek zum Kartenspiel. Im Stil eines Clubs spielte man hier auch Karten. Spannend war das Tarockieren, und beliebt war das Schnapsen, auch »Sechsundsechzig« genannt, bei dem sich zwei, drei oder vier Burschen ritterten. Beim Viererschnapsen ging es oft wild zu, überhaupt wenn jemand einen sogenannten »Durchmarsch« spielte. In dieser Rek verbrachten wir viele Stunden unserer Freizeit, nicht nur die des Abends. Die Rek war geräumig, sie war versehen mit angenehmen Sitzgelegenheiten und Tischchen, und an den Wänden hingen prachtvolle Kopien von Gemälden großer Meister. Auch Vincent van Gogh war hier vertreten. Diese Bilder verdanken ihre Existenz übrigens einer Anregung meiner bescheidenen Person. Unter der Anleitung unseres Zeichenprofessors Thiemann machten sich die Meister im Zeichnen und Malen in unserer Klasse, ein Herbert Hiesmayr und ein Ernst Binder, daran, derartige Kunstwerke zu schaffen, die unsere Rek verschönten und ihr die Atmosphäre eines Clubs verschafften. An einen Club erinnerte ein paar Jahre später auch ein Billardtisch, den der Vater eines gewissen Reisinger, der Präsident des österreichischen Billardverbandes war, der Abteilung geschenkt hatte. 215

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In der Rek stand auch ein Radio. Mit Begeisterung hörten wir damals beliebte Sendungen des Rundfunks, wie »Autofahrer unterwegs« und die diversen Musikprogramme, in denen die großen Stars der Fünfzigerjahre ihre Lieder trällerten. Manchmal hatten wir dabei das Radio zu laut aufgedreht, um den damaligen Stars noch mehr Geltung zu verleihen, obwohl wir wussten, dass dies der Präfekt nicht mochte. Während der schönen Jahreszeit, wenn der Tag lang ist, spielten wir auch auf den verschiedenen Spielplätzen Handball, aber hin und wieder auch Fußball – trotz Verbots. Manche gingen noch in den hellen Abendstunden in der Umgebung des Klosters, die gerade in der Baumblüte an Schönheit gewann, spazieren. Vielleicht traf sich mancher heimlich auch mit einem Mädchen. In diese Zeit nach dem Abendessen fiel in den unteren Klassen auch die sogenannte Heimstunde der Katholischen Jungschar. Sie fand einmal in der Woche statt und bereitete uns Freude und Vergnügen. Der Leiter der Jungschargruppe und der Heimstunde war ein Student aus einer der oberen Klassen. Es gelang ihm, uns für die Jungschar zu begeistern. Wesentlich trugen dazu spannende Fortsetzungsgeschichten bei, auf die wir uns von einem zum andern Mal freuten. In den Sommermonaten traten die einzelnen Gruppen der Jungschar auf dem Sportplatz zur Handballmeisterschaft an. Ich gehörte der Gruppe St. Heinrich an. Wir hatten zwar Mühe, die nötige Zahl von Mitspielern aufzubringen. Aber es gefiel uns. Die frömmeren Studenten der oberen Klassen schenkten diese Stunden vor dem Schlafengehen der sogenannten Marianischen Kongregation. Und jene, die im Gymnasium schulische Schwierigkeiten hatten, erhielten von begabten Burschen der oberen Klassen in den Abendstunden Nachhilfeunterricht. Der Bursche, dem nachgeholfen werden sollte, wurde mit dem lateinischen Wort »Discipulus« (Schüler) bezeichnet. Abgekürzt klang dies dann so: »Düszüpi«. Wer »Düszüpi« eines im Konvikt angesehenen Kommilitonen war, konnte auch stolz auf seinen Lehrmeister sein. Dessen Ehrgeiz wiederum war es, seinen »Düszüpi« auf »Vordermann zu bringen«. Manche Nachhil216

Der Abend

feleher mussten faule Schüler fast in allen Gegenständen kontrollieren und zur Mitarbeit anregen. Dafür wurden sie von den Eltern ihrer »Düszüpi« auch entsprechend honoriert. Das Honorar lag damals in den Fünfzigerjahren bei fünf Schillingen für die Stunde, was nicht wenig war, aber gerne bezahlt wurde, wenn Erfolg sich einstellte. Den »Düszüpi« vermittelte meist der Präfekt, der auf diese Weise einem tüchtigen Schüler der oberen Klasse zu etwas Taschengeld verhalf. In seltenen Fällen war es der Präfekt selbst, der Nachhilfestunden gab, nämlich dann, wenn er selbst als Professor diesen betreffenden Gegenstand betreute. So war der Präfekt Pater Albert auch Griechischprofessor. Einmal übernahm er eine Klasse in Griechisch. Dazu möchte ich Helmut Obermayr sprechen lassen: »Wir haben den Pater Albert in der vierten Klasse als Präfekten bekommen. Wir hatten damals einen jungen Griechischprofessor, er war freundlich, aber beigebracht hat er uns nichts. Wir haben immer geschwindelt bei ihm. Der Albert hat nun gesehen, dass wir in Griechisch nichts können. Darauf hat er eine Griechischkompanie eingerichtet. In dieser Kompanie waren die Schlechtesten der Klasse. Diese mussten dreimal in der Woche bei ihm Nachhilfe in Griechisch nehmen. Diese Nachhilfe haben wir mehr gefürchtet als die Schule.« Der Pater kümmerte sich also um das Weiterkommen der Burschen. Nachilfestunden wurden, dies sei eingefügt, nicht nur in der Zeit nach dem Abendessen gegeben, sondern auch zu anderen Zeiten des Tages, aber die Stunde am Abend scheint die geeignetste dafür gewesen zu sein. Aber auch das gefürchtete »Strafstudium« wurde meist für die Abendstunden vor dem Schlafengehen verhängt. Die freie Zeit am Abend war für die Burschen der Höhepunkt des Tages. Abgeschlossen wurde sie durch das gemeinsame Abendgebet im Studiersaal, jeder stand dabei an seinem Pult. Nach einem kurzen Gebet wurden wir zur stillen Gewissenserforschung aufgerufen, der das Bekenntnis vor Gott, vor Maria und allen Heiligen folgte, dass man »viel gesündigt« habe. In der Hoffnung, nun von Sünden befreit zu sein, ging es in den Waschraum und schließlich in das Bett. 217

XVII. Strafen für Rebellen: Spanischer, Ohrfeigen, Hausarrest und Hinauswurf

Gefürchtet waren im Kloster Leute, die sich rebellisch gegen die überkommene Ordnung auflehnten. Rebellisches Handeln versuchte man im Keim zu ersticken. Übeltäter wurden sofort bestraft, wovon man sich Besserung erhoffte. Trat sie nicht ein, warf man die Burschen unverzüglich aus dem Kloster. Das Strafstudium war nur eine der Strafen unter vielen, die das Kloster über kleine Rebellen verhängte. Eine geradezu »klassische« Strafe, in deren Genuss ich noch gekommen bin und die in den Fünfzigerjahren noch üblich war, war die Strafe mit dem sogenannten »Spanischen«, wie man traditionell den Rohrstock bezeichnete, mit dem man erzieherisch auf die Burschen einzuwirken versuchte. Die Strafe das Schlagens steht in der besten Tradition des heiligen Benedikt, der in seiner »Regel« im Kapitel 30 meint: »Jede Alters- und Erkenntnisstufe verlangt die ihr entsprechende Behandlung. Sooft sich daher Kinder und Jugendliche verfehlen […], bestraft man sie mit strengem Fasten oder züchtigt [!] sie mit harten Schlägen, damit sie geheilt werden.«3 Ähnliches steht auch im Kapitel 28 der »Regel«: »Wenn ein Bruder wegen irgendeines Vergehens öfter zurechtgewiesen wurde […] und sich dennoch nicht bessert, komme eine noch schärfere Strafe hinzu, das heißt, man gehe mit Rutenschlägen gegen ihn vor.« Von der »Regel« des heiligen Benedikt dürfte auch Pater Veremund, mein Präfekt in der ersten Abteilung, beseelt gewesen sein. Er glaubte Gutes am Menschen im Sinne Gottes zu tun, wenn er uns mit dem Spani-

3 Die Regel des heiligen Benedikt, hg. von P. Basilius Steidle, Beuron 1983, S. 65.

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Strafen für Rebellen

schen verdrosch. Mich selbst ließ er zumindest einmal, wenn ich mich recht erinnere, diesen Spanischen spüren. Zu diesem Zwecke hatte er mich in sein Zimmer geholt und mir mit Tränen in den Augen eröffnet, er müsse mir einige Hiebe, ich glaube es waren bei zehn, auf mein Gesäß verabreichen. Er meinte, ich sei ein furchtbarer Lausbub, der sich rebellisch gegen alles auflehne, was man von ihm verlange, es wäre nun an der Zeit, dass ich mich bessere. Ich hatte damals eine kurze Lederhose an, die jedoch die Hiebe nicht abschwächte. Im Gegenteil, sie brannten fürchterlich. Pater Veremund war ein Anhänger des Spanischen, mit welchem er auch einmal einen gewissen Brandner vor dem Schlafengehen ganz schrecklich verhaute. Ich habe darüber bereits erzählt. Brandner hatte meine Sympathie, da es ihm gelungen war, den Spanischen des Paters zu zerbrechen. Dunkle Striemen an seinem Rücken zeugten von der erzieherischen Aktion des Paters, der vielleicht in Wahrheit eine sadistische Neigung hatte, die er mit dem Glauben von der Nützlichkeit des Verdreschens mit dem Stock zu verbinden suchte. Als wesentliches Mittel der Erziehung wurde zur damaligen Zeit jedoch die Ohrfeige angesehen. Verwandt mit der Ohrfeige ist das Ziehen an den Ohren und an den Haaren. Ein besonderer Spezialist darin war Pater Paulus, dem es beliebte, unfolgsame Schüler an den Schläfenhaaren, einer besonders schmerzempfindlichen Stelle, zu zerren. Hin und wieder lächelte er sogar dabei. Der alte Konviktsdirektor meinte zu mir, als er mir wieder einmal eine Ohrfeige, die ich wegen einer Rauferei angeblich verdient hatte, verabreichte: »Wer seinen Sohn liebt, züchtigt ihn.« Dieser Mann, er war ein guter Mensch, meinte es ernst und glaubte tatsächlich, uns einen Gefallen zu tun, wenn er uns eine Watsche gab. Ihm sei daher verziehen, dies sage ich als Mensch und nicht als Wissenschaftler, wenn er seine »Liebe« zu uns derart unterstrich. Er war auch von einigem Jähzorn, sodass gewisse Aktionen gegen einen Sünder oft übertrieben ausfielen. Unsere Erzieher sahen sich von unseren Eltern in ihrem Vorgehen gerechtfertigt. Schließlich meinte meine Mutter sogar, wenn 219

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sie bei Elternsprechtagen und auch sonst mit Patres zusammentraf, eine Ohrfeige würde mir guttun. Man solle mir ruhig, sagte sie weiter, eine solche verabreichen, da sie mir in meinem Weiterkommen als Gymnasiast helfen würde. Ähnlich wie meine Mutter verfuhr auch der Vater eines Burschen: »Mein Vater hat dem Pater Prior geschrieben, im Notfall kann man mich ruhig ein bisserl züchtigen.« Die Ohrfeigen, die grundsätzlich nur in den unteren Klassen verabreicht wurden, hatten auch ihre eigene Typologie. So gab es Ohrfeigen, wie die geschilderten des Konviktsdirektors, die eine erzieherische Funktion hatten, mit der angeblich sogar das beste Wollen verknüpft war. Eine andere Kategorie von Ohrfeigen waren jene, die eher leicht und die nicht unbedingt ernst zu nehmen waren, wie die des Paters Gotthardt, von denen ich oben schon berichtet habe. Diese Art von Ohrfeigen regten eher zur Belustigung an, sie hatten eher einen symbolischen Charakter. Pater Gotthardt meinte, er würde nur denen eine »Watsche« geben, die er auch gut leiden könne. Würde er einmal jemandem keine »Watsche« mehr geben, möge er ihn auch nicht mehr. Man war also geradezu froh, von diesem Herrn eine Ohrfeige zu erhalten. Neben diesen eher heiteren »Watschen« gab es die unberechenbaren Ohrfeigen, die über jede erzieherische Absicht hinausgingen, die dazu dienten, den Zorn, den der Pater aus irgendwelchen Gründen hatte, abzubauen. Solche Watschen konnten furchtbar sein. Auch ich habe einige solche verabreicht bekommen. Diese Watschen konnten richtig ausarten. Aber auch Haarreißen und Ohrenzupfen wurden ähnlich eingesetzt. Ein Spezialist darin soll ein gewisser Pater M. gewesen sein, über den mir ein Freund, der um 1967 maturierte, erzählte: »Der Pater M. war ein richtiger Brutalinski [brutaler Mensch]. Ihn hatten wir in der zweiten Abteilung. In dieser gab es noch aufklappbare Pulte. Es gab damals bei uns richtige Spezialisten, die anstatt zu lernen im Pult einen Roman gelesen haben, dabei hatten sie den Kopf unter dem aufgeklappten Teil des Pultes. Einen von ihnen hat 220

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der Pater M. beim Lesen erwischt. Er hat darauf einen solchen Zorn gehabt, dass er ihn bei den Ohren und Haaren gezogen hat, derartig, dass er ein paar Haare ausriss und das eine Ohrwaschl blutete.« Zu diesem dritten Typ von Watschen gehörten auch jene, die etwas von Sadismus und Bösartigkeit an sich hatten. Über diese erzählte mir ein Bursche, der einige Jahre nach mir maturiert hat, treffend: »Der Pater X. war bei uns Konviktsdirektor. Ich weiß, dass damals ziemlich alle Patres uns junge Burschen an den Haaren und Ohren gerissen haben. Das hat auch weh getan, aber wirklich zugehaut hat nur der Pater X. Wenn jemand irgendetwas ausgefressen hat, wurde dieser vor allen anderen bestraft. Man hat genau gewusst, wenn man etwas ausgefressen hat, dann bekommt man eine Ohrfeige. Der Pater X. hat den Burschen, der etwas angestellt hat, bei den Haaren genommen und den Kopf flach gelegt. Und dann hat er voll auf die Wange gehauen. Das hat weh getan! Ich habe einige Male eine solche Watsche bekommen. Ob einer etwas ausgefressen hatte, wusste der Pater durch Vernaderer. Er hat seine Leute gehabt, die ihm etwas zugetragen haben. Einmal habe ich einen von der zweiten Klasse, ich war in der ersten, weil er mich deppert angeredet hat, gegen den Kasten gestoßen. Wir mussten ja den Leuten aus den höheren Klassen mit Respekt begegnen. Ich habe mich aber nicht daran gehalten. Der, den ich gegen den Kasten gestoßen habe, war Liebkind des Pater X. Darauf habe ich vom Pater X. meine Watschen bekommen.« Dieses Zelebrieren der Watschen durch den Pater erinnert etwas an militärische Exekutionen. Es mag sein, dass gewisse Patres sich bei solchen Aktionen hervorgetan haben. Ich meine, dass dieser Pater X. von einer gewissen rohen Einmaligkeit war, die ich selbst nicht erlebt habe, dennoch passte er gut in das System der alten Klosterschule, in dem der Pater als Erziehungsberechtigter ziemlich alle Rechte über die Burschen hatte. Dass Eltern gegen eine Strafe protestierten, war höchst selten. Derselbe Mann, der mir obige Geschichte nicht ohne Abscheu erzählt hatte, meinte auch, dass damals nicht wenige Patres sich sehr wohl bemüht hätten, den Burschen die Grenzen und den Weg zu 221

Die alte Klosterschule

zeigen. Ein solcher Herr war der Pater Albert, dessen Strenge bei den Faulpelzen gefürchtet war. Dieser Pater Albert war nicht nur Präfekt, sondern auch Professor für Griechisch, Latein und Philosophie. Er nahm seine Aufgaben sehr ernst. Auch ihn beflügelte oft heiliger Zorn, wenn wir irgendetwas angestellt hatten. In früheren Jahren ließ er sich auch zu Ohrfeigen hinreißen, später dann griff er zu anderen Mitteln, wie zur Verhängung von Strafstudium und Hausarrest. Er war ein unbedingt korrekter Mensch. Er wurde daher von den Studenten auch geschätzt. Er war ein Gegner des Rauchens und des Alkohols. In der siebten und achten Klasse machte es uns Freude, bei unseren Spaziergängen auch Bauern aufzusuchen, um bei ihnen Most zu trinken. Pater Albert hatte diesbezüglich Verdacht geschöpft, er hielt einige von uns offensichtlich für starke Mosttrinker. Daher pflegte er hin und wieder an uns zu riechen, wenn wir von Spaziergängen heimkehrten. Roch er an uns die süße Ausdünstung der oberösterreichischen »Landessäure«, kam es zum Krach. Er schrie und verhängte meist sofort ein zum Beispiel vierwöchiges Ausgehverbot, aber, darin zeigte sich seine Fairness, er fügte oft hinzu, dass er im Moment sehr erregt und zornig ob unserer Übeltat sei, es könne jedoch sein, dass er später, wenn er sich beruhigt habe, die Strafe wieder rückgängig mache oder sie in eine mildere wandle. Wir hatten allen Respekt vor einer solchen Auffassung von Strafe. Und nahmen sie auch hin. Diesen Pater charakterisierte ein Freund, der eine Klasse unter mir ging, mit wenigen Worten so: »Den Albert schätze ich im Nachhinein sehr. Er war zwar sehr korrekt und streng. Aber er war es auch zu sich selbst. Wir hatten den Albert als Präfekt in der vierten Abteilung. Er hat uns hie und da eine ordentliche Ohrfeige gegeben, er hat sich dann aber auch entschuldigt bei uns.« Eine Strafe, die Pater Albert als Präfekt und Professor gerne verhängte, war die des Strafstudiums. Ein solches Strafstudium bedeutete Studium in der Freizeit, also auch Verbot des Ausgangs, um sich unter Kontrolle einem Lernstoff zu widmen. In diesem Sinn erzählte mir ein Student, der 1967 maturierte: »Der Pater Albert war für mich eine Respektsperson. Durch sein Können in Latein und Griechisch hat er 222

Strafen für Rebellen

uns sehr beeindruckt. Wir haben gewusst, der Pater Albert kann einem in diesen Gegenständen helfen, auch in der Abteilung. Hat man nicht pariert und war man faul, konnte einem passieren, dass Pater Albert einem zum Strafstudium verdonnerte. Das war ja nicht schlecht, das hat einen ja weitergebracht. Man musste in der Freizeit lernen, während die anderen sich vergnügten. Von sieben Uhr bis Viertel über acht Uhr am Abend dauerte für gewöhnlich dieses Strafstudium. Gleich nach dem Abendessen hat dieses angefangen, und aufgehört hat es knapp vor dem Schlafengehen. Meistens wurden der Donnerstag und der Sonntag, also die freien Tage, für das Strafstudium verwendet.« Verwandt mit dem Strafstudium war der Pultarrest, bei dem der Übeltäter sich nicht vom Pult wegbewegen durfte, außer um den Speisesaal oder die Toiletten aufzusuchen. Über einen solchen Pultarrest erzählte mir ein früherer Schüler, Stephan Proksch ist sein Name, Aufregendes – oben habe ich auf einen Teil dieser Geschichte schon hingewiesen, hier sei sie wiederholt: »Ich war in der dritten Abteilung. Dort habe ich einmal in der Nacht im Schlafsaal nach dem Lichtabdrehen einen verdroschen, der mich gepflanzt hat. Der Pater Nikolaus ist gerade unter dem Schlafzimmerfenster im Stiftshof vorbeigegangen und hat gehört, wie ich den verhaue. Darauf ist er zu unserem Schlafsaal heraufgerannt, obwohl er gar nicht Präfekt unserer, sondern der der letzten Abteilung war. Er hat das Licht im Schlafsaal aufgedreht und hat gerufen: ›Wer war das?‹ Ich habe mich gemeldet. Ich konnte es ja auch nicht verheimlichen. Dann hat er gesagt: ›Das gibt eine schwere Strafe, du hast eine Woche Sprechverbot.‹ Diese Strafe musste ich in einer anderen Abteilung antreten. Ich musste nun in der vierten Abteilung auf einem bestimmten Platz, der frei war, sitzen, eine Woche lang, ich hatte keine Freizeit. Und ich durfte nicht sprechen. Ich kannte in dieser Abteilung keinen, sie waren alle älter als ich. Ich war sozusagen hier vogelfrei. Die Burschen dort haben mich gepflanzt, und ich durfte nichts sagen. Dabei musste ich irgendeinen sinnlosen Text abschreiben, und ich musste stillschweigen. Nur zum Schlafen ging ich in meine Abteilung. Nach einer Woche war es vorbei. Das war schlimm. Der Pater Nikolaus hat 223

Die alte Klosterschule

zu einem von dieser Abteilung, ich glaube dem Senior, gesagt, er soll auf mich aufpassen. Wenn ich einen Blödsinn machte, solle er es ihm gleich sagen. Nach einer Woche, das hat mir gefallen, ist der Pater Nikolaus zu mir gekommen und hat gesagt: ›Jetzt sind wir wieder Freunde, die Strafe ist vorbei.‹« Der Bursche hatte den Pultarrest akzeptiert und war angetan von der Haltung des Präfekten, der sich freilich um die Disziplin der Schüler zu kümmern hatte, der aber doch nobel war. Immerhin hatte er dem Übeltäter seine Freundschaft angeboten, nachdem dieser die Strafe ergeben abgesessen hatte. Hatte der rebellische Student Hausarrest, durfte er das Konvikt nur für den Marsch zur Schule verlassen. Besonders bitter war dieser Hausarrest an den freien Tagen. Während die Freunde spazieren gingen, musste man in der Langeweile des Konviktes verharren. Meist war ein Hausarrest mit einem Strafstudium verbunden. Der Hausarrest hatte Ähnlichkeiten mit dem klassischen Karzer des Gymnasiums und der Universität in früherer Zeit. Der Karzer als Studentenkerker war ein spezieller Raum, in den man noch um die Jahrhundertwende rebellische Schüler und Studenten für einige Stunden oder auch Tage sperrte. Berühmt sind die Karzer von Heidelberg und Göttingen, die von den Eingesperrten prächtig ausge­ malt wurden und die heute zu den Fremden­verkehrsattraktionen zählen. Auch in der Klosterschule sperrte man ehedem Schüler in einen Karzer. Echte Karzer, die Kerkerzellen ähnelten, gab es später nicht mehr. Der letzte Übeltäter, über den ein solcher Karzer verhängt wurde, war Rudi Lughofer, der 1967 maturiert hat. Er erzählte mir: »Ich und ein Freund haben damals einen Blödsinn gemacht, über den sich der Direktor geärgert hat. Darauf ist eine Konferenz einberufen worden. Bei dieser Konferenz fiel das Wort Karzer, er wurde über uns ausgesprochen. Man hat uns für ein paar Stunden, von elf Uhr vormittags bis um vier Uhr am Nachmittag in den Zeichensaal eingesperrt. Der Schuldiener brachte jedem von uns ein Stück Brot und ein Glas Was224

Strafen für Rebellen

ser. Er musste auf uns aufpassen. Er ist alle halben Stunden nachschauen gekommen, was wir machen und wie es uns geht. Von der Direktionskanzlei hat man meine Mutter, ich habe ja nicht im Konvikt gewohnt, angerufen, dass ich nicht zu Mittag heimkomme, weil ich im Karzer sitze. Das war in der fünften Klasse.« Eine beliebte Strafe, die Pater Paulus pflegte, war frühes Aufwecken. Das Aufstehen um sechs Uhr gerade während der Wintermonate fiel uns besonders schwer, daher traf es uns wie ein Hammerschlag, wenn Pater Paulus bereits um fünf Uhr die Tür zum Schlafsaal aufriss und das Licht andrehte. Er tat dies wortlos, und wortlos blieb er auch im Türrahmen stehen. Nun wussten wir, dass wir uns zu erheben hatten. Diese Strafe des frühen Gewecktwerdens war eine Kollektivstrafe wegen einer gemeinsamen Übeltat. Eine solche Übeltat vollbrachten wir am Beginn der Adventzeit in der sechsten Klasse. Zu dieser Zeit war ein neuer Schüler eingetreten, er hieß Bräutigam. Er hat seine alte Schule aus irgendwelchen Gründen wechseln müssen, vielleicht weil er Ärger mit Lehrern dort hatte oder weil seine Familie ihn nicht mehr zu Hause haben wollte. Für uns war der Neuling ein willkommener Gegenstand des Scherzes. Wir redeten ihm ein, dass beim ersten Abendgebet, das in die Adventzeit fällt, derjenige, der neu hinzugekommen ist, das Adventlied »Tauet Himmel den Gerechten!« anstimmen müsse, dies sei die Pflicht des Neulings. Der gute Bräutigam glaubte uns, was wir ihm hier erzählten. Wir machten ihn auch darauf aufmerksam, dass dieses Lied am Ende des Abendgebetes gesungen werde. Damit er wisse, wann es so weit sei, vereinbarten wir mit ihm, dass sein Nachbar mit der Hand das Revers seines Rockes berühre als Signal für seinen Einsatz. Der gute Bräutigam übte nun den ganzen Nachmittag das schöne Lied. Leider war er gänzlich unmusikalisch und tat sich furchtbar schwer. Mehr als ein krächzendes »Tauet« brachte er nicht hervor. Es kam nun das Abendgebet. Nicht alle wussten von unserem Streich. Wir beteten, allen voran mit ruhigen Worten Pater Paulus, unser Präfekt. Das letzte »Amen« war verklungen, da griff Vierhauser, der als Nachbar neben Bräutigam stand, auf das Revers seiner Jacke. Darauf hatte Bräutigam gewartet. Nun 225

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versuchte er, das Lied »Tauet Himmel« anzustimmen, aber über seine Lippen gelangte nur ein fürchterlicher Urton, der »Tauet« bedeuten sollte. Dann war Ruhe, denn wir hatten ihm gesagt, das Singen dieses ersten Wortes des Liedes würde genügen, damit die anderen in den Gesang einfielen. Aber niemand sang, es war Stille, unheimliche Stille. Pater Paulus schaute entsetzt auf Bräutigam und auf die anderen, die diesen Streich verursacht zu haben schienen. Doch dann konnten wir uns vor Lachen kaum halten. Einige waren von diesem Gekrächze des Bräutigam so überrascht, dass sie tatsächlich lachten. Die Angelegenheit war momentan etwas peinlich. Pater Paulus sprach ein paar Worte des Ärgers und verschwand. Aber am nächsten Morgen weckte er uns wieder einmal um fünf Uhr. Wir wussten, es war die Strafe für das Aufhetzen des Bräutigam. Die Strafaktion des guten Paters dauerte ein paar Tage, dann ließ er uns wieder bis sechs Uhr schlafen. Zu den Strafen gehörte auch das Konfiszieren von Gegenständen, mit denen man sich während der Unterrichtsstunden oder im Studium unerlaubterweise beschäftigt hatte. Solche Gegenstände konnten Bücher, aber auch Spielkarten und andere Dinge sein. Mir wurde einmal in der dritten Klasse eine sogenannte Zauberkugel, mit der ich während der Religionsstunde meine Nachbarn unterhalten hatte, vom Religionsprofessor Pater Altmann weggenommen. Ich musste ihm aber noch erklären, wie diese Kugel funktioniere. Das Geheimnis war, dass man aus dem kugelförmigen Gehäuse eine kleinere Kugel entnehmen konnte. Dann schloss man diese Kugel und öffete sie wieder an einer anderen Stelle, wobei nun wieder eine kleine Kugel erschien. Dieses Zauberkunststück schien dem Pater zu gefallen. Er steckte die Kugel ein und versprach, mir diese zur Matura wieder zurückzugeben. Leider erhielt ich sie, als ich maturierte und den Pater um die Herausgabe bat, nicht zurück. Der gute Mann hatte darauf vergessen, und die Kugel war unauffindbar. Die größte Strafe jedoch war der Hinauswurf aus dem Konvikt und dem Gymnasium. Zu dieser Strafe wurde dann gegriffen, wenn der Rebell wesentliche Prinzipien des klösterlichen Lebens verletzt hatte. Zu diesen Prinzipien gehörten der katholische Glaube und die Regeln 226

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des guten Anstandes. Wurde jemand zu einem Gotteslästerer oder wurde bekannt, dass jemand sich mit Mädchen herumtrieb, oder wurde jemand als Dieb ertappt, oder verließ jemand wiederholt ohne Erlaubnis den Studienort, um im Nachbarort an Trinkgelagen teilzunehmen, oder beging jemand eine andere Übeltat, die die Patres entsetzte, musste er damit rechnen, aus dem Kloster hinausgeworfen zu werden. Auch Homosexualität wurde mit sofortiger Entfernung bestraft. Erwischte man Burschen dabei, wie sie im Bett miteinander Scherze trieben, auch in aller Harmlosigkeit, machte man kurzen Prozess, man warf sie hinaus. Pater Rudolf pflegte den Hinauswurf so zu begründen: »Wer die Landschaft verschandelt, der hat hier nichts zu suchen!« Die Entfernung aus dem Konvikt bedeutete jedoch auch die Entfernung aus der Schule. Es gab aber Ausnahmen in der achten Klasse, wenn es der Matura zuging. So erinnere ich mich, dass zwei Burschen knapp vor der Matura wegen einer Übeltat aus dem Konvikt flogen, ihnen aber noch die Ablegung der Matura im Gymnasium gestattet wurde. Solche Ausnahmen waren jedoch höchst selten. Grundsätzlich flog man wegen eines Vergehens sowohl aus dem Konvikt als auch vom Gymnasium. Dem Hinauswurf ging ein Konferenzbeschluss voraus. Wenn eine Übeltat bekannt wurde, wie die des Günter K., über die noch berichtet werden wird, kamen die Professoren im Konferenzsaal zusammen. Für gewöhnlich wurde sehr schnell über das Schicksal des Sünders entschieden, und er musste innerhalb von ein paar Stunden das Konvikt verlassen. Die Eltern wurden informiert und aufgefordert, den hoff­ nungslosen Sprössling abzuholen. Die Habseligkeiten des Sünders waren bald zusammengepackt, der Abschied von den Freunden musste schnell gehen. Man war offensichtlich darauf bedacht, den rebellischen Rechtsbrecher in aller Geschwindigkeit aus dem Kreis der angeblich braven Schüler des Klosters zu entfernen. Dies wohl nur bei gravierenden Vergehen. Bei weniger schweren schob man den Hinauswurf auf den Schulschluss, dieser konnte auch wegen schlechter Noten erfolgen, wobei dem Unglücklichen erklärte wurde, man wolle ihn nicht mehr. 227

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Wegen einer Polsterschlacht, die ich oben schon beschrieben habe, bei der man meinte, die Burschen hätten gegen den guten Anstand verstoßen, waren durch Konferenzbeschluss zwei Studenten aus der Schule hinausgeworfen worden, vier erhielten in Betragen ein »Genügend«. Der diese Geschichte erzählte, wurde zwar nicht von der Schule verwiesen, wurde aber in diesem Konferenzbeschluss als »geistiger Rädelsführer und Atheist« bezeichnet, der als »gefährlich in Wort und Schrift« anzusehen sei. Heute ist dieser »Atheist« Chef der Abteilung Religion im Österreichischen Hörfunk. Helmut Obermayr heißt er. Auch der Hinauswurf aus der Gemeinschaft entspricht der benediktinischen Tradition, denn in der »Regel« des heiligen Benedikt heißt es in dem bereits zitierten Kapitel 28 auch: »Erst wenn keine Heilung [durch Stockschläge und andere Mittel] eintritt, greife der Abt zum Messer, um abzuschneiden, wie der Apostel sagt: Schafft den Bösen fort aus eurer Mitte! Er sagt auch: Wenn der Ungläubige weggehen will, dann soll er gehen, damit nicht ein räudiges Schaf die ganze Herde verseucht.«

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XVIII. Die Flucht – Rebellion und Abenteuer

Burschen, die mit dem Ärger und den täglichen Belastungen der Klos­ ter­schule nicht fertig wurden, versuchten nicht selten, sich dieser irgendwie zu entziehen. Hier gibt es zwei Möglichkeiten, wobei die zweite an Rebellion und Abenteuer erinnert. Die erste Möglichkeit bestand darin, auf die Eltern einzuwirken, bis sie ihre leidgeprüften Sprösslinge aus der Klosterschule nahmen und sie in einer anderen Schule in ihrer Nähe unterbrachten. Diesen Weg wählte der mehrmals erwähnte Stephan Proksch. Er erzählte mir: »Beim Pater L. war es furchtbar streng. Er war auch der Grund, warum ich weggegangen bin. Ich hätte ihn in der dritten Klasse als Präfekten bekommen sollen. Bei ihm konnte man im ›Studium‹ eine Stecknadel fallen hören. Vor dem haben wir alle eine furchtbare Angst gehabt. Wenn der einem bei den Haaren gerissen hat, ist fast das Blut gekommen. Gott sei Dank haben mich meine Eltern nach den Ferien in Wien, wo wir wohnen, in einer Schule untergebracht. Dorthin in die Klosterschule hätte ich nicht mehr wollen. Ich hatte genug.« Die andere Möglichkeit, dem »Terror« der Klosterschule zu entkommen, war die des Abhauens, der Flucht im eigentlichen Sinn. Diese Möglichkeit dürfte geradezu klassisch sein. So wird in der Literatur nicht selten von Internatsschülern berichtet, die ihren Peinigern entwichen und zum Beispiel in eine Hafenstadt flüchteten, um anzuheuern. Dieses Fliehen aus dem Internat hat etwas mit Rebellentum, aber auch mit Abenteuer zu tun. Zu einer Art Flucht konnte es bereits sehr früh kommen, überhaupt wenn das Heimweh den jungen Burschen stark quälte. Dazu erzählte mir Freund Gustav Bihlmayer eine nette Geschichte von einem Bur229

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schen der ersten Klasse, der sein Heimweh lange Zeit nicht überwinden konnte. Dieser soll sich daher mit einem Schulatlas in der Hand zu Fuß auf den Weg in seine Heimat gemacht haben. Irgendwo wurde er aufgegriffen und zurück ins Kloster gebracht. Als der Geografieprofessor von dem Unternehmen dieses Burschen hörte, habe er diesem seine Anerkennung ausgesprochen, weil er den Schulatlas als Begleiter und Wegweiser bei sich hatte. Über seine eigene Flucht, er war schon im Obergymnasium, erzählte mir Helmut Obermayr: »Ich hatte große Angst vor der Schule, ich war damals in der fünften Klasse. Mir ist es in der Schule schlechtgegangen. Daher habe ich spontan beschlossen: Ich haue ab. Ich habe das Bett hergerichtet, sodass man nicht gleich erkannt hat, dass ich weg bin. Ich hatte niemandem vorher davon erzählt. Am Sonntag spät in der Nacht, um ungefähr elf Uhr, war ich dahin. Ich war damals in der vierten Abteilung im zweiten Stock. Ich bin zum ersten Stock hinunter und dort den Gang entlang. Da die Türe zugesperrt war, bin ich durch das Fenster in den Stiftshof hinuntergeklettert. Weil das Eichentor abgesperrt war, marschierte ich zum Tor im Riedergang, das zwar auch zugesperrt war, das sich aber von innen irgendwie aufmachen ließ. Sobald ich außerhalb der Stiftsmauer war, ging ich zu Fuß nach Sattledt. Auf der Autobahn begann ich Autos anzuhalten. Endlich ist ein Lastwagenfahrer stehen geblieben. Er hat mich gefragt: ›Was tust denn du da?‹ Darauf habe ich ihm eine blöde Geschichte erzählt, von einem Onkel, mit dem ich bei der Tankstelle war, der ist mir in seinem Auto davongefahren. ›Wohin willst du, hat er mich gefragt?‹ ›Nach Wien‹, habe ich gesagt. ›Setz dich herein, das passt, ich fahre eh nach Wien‹. Dann habe ich getan, als ob ich schlafe. Bei einem Rasthaus ist er stehen geblieben. Er ist ausgestiegen und hat mich gefragt, ob ich auch etwas will. Ich habe gesagt Nein. Dann ist er wieder gekommen und hat gesagt: ›Warum bist du abgehauen von den Brüdern?‹ Er hat sich gleich gedacht, dass ich vom Kloster Kremsmünster abgehauen bin. Er hat sich das zusammengereimt. Ich hatte vorher schon gesagt, dass ich aus Kremsmünster komme. Er hat gesagt: ›Den Schmäh habe ich dir eh nicht geglaubt, aber ich kann dich ja nicht auf der Autobahn 230

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stehen lassen.‹ Er hat mich gefragt, was ich tun wolle. Ich habe ihm gesagt: ›lch werde meine Tante in Wien aufsuchen.‹ Mir war es nun etwas unheimlich – was tue ich wirklich? Er hat noch gemeint, dass das ein Blödsinn sei, den ich da gemacht hätte, ich müaate ja ohnehin wieder zurück zu den Brüdern, wie er die Mönche nannte. Irgendwo in Schönbrunn hat er mich aussteigen lassen. Ich bin zu meiner Tante. Die hat dann beim Gendarmerieposten, wo mein Vater Gendarm war, angerufen, denn zu Hause hatten wir noch kein Telefon. In Kremsmünster hatten sie noch gar nicht gemerkt, dass ich weg war. Die haben geglaubt, ich bin in der Kirche. Mein Vater hat mich dann geholt. Er hat mich wieder nach Kremsmünster gebracht. Die Eltern haben überlegt, was sie mit mir tun sollen, denn für gewöhnlich sind die Leute, die so etwas getan haben, hinausgeflogen. Meine Eltern haben gemeint, wenn ich aus der Schule flöge, würden sie mich bei der Sparkassa unterbringen. Da habe ich mir gedacht, da haue ich gleich wieder ab. Ich hatte Glück, sie haben mich nicht hinausgeworfen. Mein Vater hat ja viele Opfer gebracht für mich, diese Flucht von mir hat ihn sehr getroffen. Er hat aber zu mir gehalten. Ich hatte damals großes Glück, dass der damalige Gymnasialdirektor, der Pippin, nicht da war. Sein Vertreter war der Pater Rupert, der hat mich mögen. Er hat mich gefragt, warum ich abgehauen bin. Ich habe ihm gesagt, weil ich mich vor Griechisch so fürchte. Da hat er gemeint: ›Du bist ein blöder Bub, hättest du mir das gesagt, hätten wir schon etwas machen können, du bist ja ein Landsmann [er kam aus Klaus], vom selben Bezirk, was tust denn so blöd?‹ Die Patres haben sich nun beraten, was sie mit mir tun sollen. Gott sei Dank haben sie mich behalten, das war im April. Aber sie haben mir eine Strafe auferlegt und Dauerhausarrest bis zum Schulschluss. Also bis zum Sommer kein freier Ausgang mehr. Ich habe diese Strafe dankend angenommen, habe ich mich aber nach drei Wochen nicht mehr an die Strafe gehalten. Der Pater Albert, unser Präfekt, hat nichts gesagt, er hat großzügig darüber hinweggesehen.« Diese Geschichte zeigt ganz gut das Dilemma des jungen Burschen auf, der unter der Schule leidet und sich dieser entziehen will, indem er für kurze Zeit zum Rebellen und Abenteurer wird. 231

XIX. Der Donnerstag und der Sonntag – Kirchenbesuch und freie Stunden

Heiß ersehnt waren die beiden freien Tage der Woche: der Donnerstag und der Sonntag. Es entsprach der alten Tradition der Klosterschule, dass diese beiden Tage angenehme Unterbrechungen der Schulwoche waren. Es waren also nicht bloß der Sonntag beziehungsweise der Feiertag, die aus der Woche als Tage der Abwechslung herausragten, sondern auch der Donnerstag. Hierin befand sich die Klosterschule in Gegensatz zu den üblichen staatlichen Schulen, für die es meist nur den Sonntag als Tag der Ruhe gibt. Für die Burschen im Konvikt war es sehr segensreich, wenn zweimal in der Woche dem üblichen Trott Einhalt geboten wurde. Dies hatte den Vorteil, dass man sich von der Plage der Wochenhälfte erholen und sich für die andere Hälfte vorbereiten konnte. Und schließlich konnten an diesen beiden Tagen Ausflüge in die freie Natur unternommen werden. Die Vormittage der Donnerstage dienten dem Turnunterricht in den unteren Klassen, aber auch der Teilnahme an Freigegenständen, wie der Darstellenden Geometrie und der Stenografie. Brave und fleißige Studenten mögen sich an diesen Stunden erfreut haben. Übrigens kam an manchem Donnerstag auch der Friseur in die ersten Abteilungen, um dort im Studiersaal die Burschen nacheinander zu scheren. Die Patres wollten uns noch nicht alleine in den Markt zum Friseur schicken, daher musste der Friseur zu uns kommen. Der Besuch des Friseurs bot erfreuliche Abwechslung in der Studierzeit. Gustav Bihlmayer erzählte mir, dass, als er in der zweiten oder dritten Klasse gewesen war, sie sich alle in der Abteilung vom Friseur zum Entsetzen ihrer Eltern eine Glatze hätten scheren lassen. Erst in den späteren Klassen war es den Studenten gestattet, selbst den Friseur im Ort aufzusuchen. Oft nützten wir den Aufenthalt beim Friseur, um das Studium zu schwänzen. Es galt als schöne Ent232

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schuldigung für das Fernbleiben vom Studium, wenn wir auf den Besuch beim Friseur verweisen konnten. Am Donnerstag wurde erst um halb sieben Uhr geweckt, am Sonntag konnten wir sogar bis sieben Uhr schlafen. Diese halbe bzw. ganze Stunde länger im Bett zu liegen wurde von uns als göttliches Geschenk empfunden. Bereits am Vorabend schwärmten wir davon, nicht in die Schule gehen, uns auf keine Prüfung vorbereiten zu müssen und länger schlafen zu dürfen. Es war erholsam, an diese beiden Tage zu denken, da sie die einzigen Tage der Woche waren, die uns im Obergymnasium wirklich freie Stunden boten. Am Donnerstag marschierten wir um sieben Uhr und am Sonntag sowie am Feiertag um halb acht Uhr zum Gottesdienst in die akademische Kapelle, auch Studentenkapelle genannt. Es waren die einzigen Tage, an denen der Besuch der Messe verpflichtend war. Am Sonntag zogen wir uns dazu den Sonntagsanzug mit weißem Hemd und Krawatte an. Diese Kleidungsstücke wurde uns von den Bedienerinnen schon am Samstagabend fürsorglich auf das Nachtkastl gelegt. In der Studentenkapelle waren die Sitze nach Klassen geordnet. Auf der rechten Seite in den ersten Bänken saßen die Schüler der ersten Klasse. Gegenüber auf der linken Seite saßen die der zweiten und so weiter bis zur letzten Bank. Also in den letzten linken Bänken saßen schön versteckt die Schüler der achten Klasse. Diese Studentenkapelle war speziell für die Studenten des Stiftes schon in der Barockzeit mit prächtigen Fresken an der Decke gestaltet worden. Eigentlich ist diese Kapelle gar keine Kapelle, sondern von der Größe her eher eine Kirche. Die Messe am Donnerstag war eine »schnelle Partie«, wie man so schön sagte, denn an diesem Tag wurde nicht gepredigt. Anders war dies am Sonntag, an dem wir uns längere Predigten eines Paters anhören mussten, in denen uns klargemacht wurde, dass aus uns vielleicht etwas werden könne, wenn wir uns an die diversen Gebote hielten. Ich hörte in einer dieser Predigten das erstemal den Ausdruck »Fleischeslust«, worunter ich mir nichts vorstellen konnte. Ich dachte, hiebei würde es sich um die Freude am Rind- oder Schweinefleisch 233

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handeln. Bei der Kommunion gingen zuerst die Burschen der ersten Klasse zum Altar, zum Schluss kamen die der achten. Dieses Kommunizieren war eine feierliche Handlung für alle. Verletzte sie einer, wartete auf ihn eine gehörige Strafe. Als einmal einer meiner Freunde, die wenig Interesse an derlei religiösen Übungen hatten, einen, der gerade von der Kommunion kam, fragte, ob es ihm schmecke, wurde ihm von einem religiösen Kommilitonen in aller Schärfe klargemacht, dass man sich nicht derart benehmen könne. Am Donnerstag und Sonntag erlebten wir jeweils einen feierlichen Gottesdienst, der einen behaglichen Tag einleitete. Zumindest hofften wir dies. An den Gottesdienst schloss sich das Frühstück an. Von acht bis neun war Freizeit, dann ging man zum Turnen oder zum Unterricht in einem Freigegenstand, wie erzählt. Von elf bis zwölf, bis zum Mittagessen, war wieder freie Zeit. Den Schülern von der vierten Klasse aufwärts war es während dieser Stunde gestattet, die Mauern des Stiftes zu verlassen und den Markt zu besuchen.

Das Taschengeld Für die Besuche im Ort zu Füßen des Klosters benötigte man Geld. Während der Klosterschuljahre musste daher der Schüler schauen, von irgendwoher Geld aufzutreiben, damit er sich ein paar kleine Vergnügungen leisten konnte. Die eine Geldquelle war das Taschengeld, das die Eltern ihren Söhnen zukommen ließen. In den unteren Klassen floss dieses für die meisten spärlich. Besonders wenig hatten Schüler aus armem Elternhause, wie Söhne von Kleinbauern und Arbeitern, die die Schule nur besuchen konnten, weil sie vom Stift unterstützt wurden. Die Burschen aus reicherem Haus waren den anderen gegenüber gewaltig im Vorteil. Unter ihnen waren wieder die Einzelkinder am besten dran. Zu diesen gehörte auch ein Bauernsohn, der in meine Klasse ging. Er wurde von den Eltern nicht nur mit wunderbarem Kuchen, sondern auch mit gehörigem Taschengeld versorgt. Hie und 234

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da borgte ich mir ein oder zwei Schillinge aus, um mir zum Beispiel im Ort etwas zum Essen kaufen zu können. Wer nur selten Geld von den Eltern erhielt, konnte mit den Rückzahlungen in Schwierigkeiten geraten. Mit irgendwelchen Ausflüchten wurde der Gläubiger vertröstet. Von unserem spärlichen Taschengeld kauften wir uns Zuckerln, Kaugummi und Ähnliches. Besonders beliebt waren damals jene Kaugummis, die gemeinsam mit je einem kleinen Bild, auf dem ein Motiv aus den Büchern von Karl May zu sehen war, verpackt waren. Wir sammelten mit Begeisterung diese Bilder und tauschten sie untereinander, aber dies kostete Geld. Um derlei Kleinigkeiten zu erwerben, bedurfte es eines entsprechenden Taschengeldes. Das erste Taschengeld, das ich in der ersten Klasse erhielt, war eine Zwanzigschillingnote, mit der ich ein paar Monate auszukommen hatte. Zwanzig Schilling waren damals zu Beginn der Fünfzigerjahre viel Geld, aber dennoch hieß es, sparsam zu sein. Geld brauchten wir auch, um in der örtlichen Papierhandlung einkaufen zu können. In dieser erwarb man nicht nur Dinge, die für die Schule wichtig waren, sondern auch andere Sachen wie Ansichtskarten und Geschenkartikel. Während dieser einen Stunde von elf bis zwölf Uhr am Donnerstag und an den Tagen, an denen die Schule schon um elf Uhr endete, wurde von uns gehörig Geld umgesetzt. Esswaren waren besonders begehrt, denn die Kost des Konviktes war oft nicht ausreichend, und sie schmeckte auch vielen von uns nicht. Mit Vorliebe suchte ich daher in den letzten Klassen mit Freunden eine kleine Bäckerei im Ort auf, in der Semmeln mit heißem Leberkäse, auch diesen gab es in diesem Geschäft, zu kaufen waren. Mir hat in meinem Leben selten etwas so gut geschmeckt wie diese Semmeln. Sie waren eine willkommene Ergänzung zu dem »Fraß« im Konvikt. Hatte jemand sehr wenig Geld, musste er sich im Markt mit billigen Waren eindecken. Ich entdeckte schnell, dass im Milchgeschäft die Buttermilch, die damals noch aus großen Kübeln als Abfallprodukt der Buttererzeugung ausgeschenkt wurde, besonders billig war. Ein Viertelliter kostete lediglich fünf Groschen. Dazu kaufte ich mir ein 235

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Salzstangerl, das auch nicht teuer war, und genoss beides. Heute noch bereitet mir Buttermilch gemeinsam mit einem Salzstangerl Freude. Wer etwas mehr Taschengeld erhielt, konnte gegenüber seinen Freunden damit prahlen und wurde auch darum beneidet. Geld floss von den Eltern auch als Belohnung für eine gute Note bei einer Prüfung oder Schularbeit. Da ich ein eher schlechter Schüler war, erhielt ich für ein Befriedigend, das ich zum Beispiel bei einer Lateinschularbeit eroberte, zehn Schilling. Eine besondere Freude konnte ich meinen Eltern bereiten, wenn ich bei einer Mathematikschularbeit ein ›Sehr gut‹ erhielt. Diese Note erschien ihnen bei mir eher unglaublich, daher beschenkten sie mich dafür königlich, zum Beispiel mit fünfzig Schilling, ein damals großer Betrag. Eine andere Geldquelle waren kleine Geldgeschenke von Verwandten, die auf Besuch kamen und dem Burschen eine Freude bereiten wollten. Zu Geld kamen Schüler auch, wenn sie zum Schulschluss ihre Schulbücher verkauften – davon habe ich oben schon berichtet. Es gab richtige Verkaufsspezialisten unter uns, die sich bei solchen Verkäufen richtiggehend bereicherten. Und zu Geld kam man noch durch andere Tricks. Ein besonderer fiel mir ein. Ich hatte herausgefunden, dass in der einen Konditorei als Einsatz für eine Siphonflasche fünf Schilling verrechnet wurden, in der anderen Konditorei jedoch nur zwei Schilling. Ich kaufte solche Flaschen in der billigeren Konditorei und gab sie in der anderen zurück. So hatte ich pro Flasche einen Gewinn von drei Schilling, ein Betrag, der um 1957 noch Kaufkraft hatte. Bald kam man mir jedoch auf die Schliche, als ich diese Aktivität zu sehr ausdehnte. In den oberen Klassen benötigte man mehr Geld, um Gasthäuser und Konditoreien aufsuchen zu können.

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Der Donnerstag und der Sonntag – Kirchenbesuch und freie Stunden

Der Nachmittag – Spaziergänge und Gasthausbesuche Nach den Mittagessen an Donnerstagen und Sonntagen war – ebenso wie an den anderen Tagen  – eine freie halbe Stunde bis ein Uhr angesetzt. War es sonnig warm, pflegte man vor das Eichentor zu gehen, und sich dort auf ein Bankerl zu setzen. Die Älteren holten sich eine Zigarette hervor und genossen diese, denn hier außerhalb der Mauern war das Rauchen gestattet. Von ein Uhr bis zwei Uhr ging es wieder zum Studium. Doch dann brachen die wirklich freien Stunden an. Man wechselte am Sonntag nun das schöne Gewand gegen das des Alltags. Etliche Studenten erhielten, wie ich schon erzählt habe, den heißersehnten Besuch von ihren Eltern. Man suchte gemeinsam ein Gasthaus auf, in dem sich der arme Student einmal richtig satt essen durfte, oder bei warmem Wetter, so machten es meine Eltern, fuhr man im Auto auf eine schöne Wiese oder zu einer freundlichen Waldlichtung, um dort zu picknicken. Ich erinnere mich an schöne Ausflüge mit meinen Eltern, meinem Bruder, meiner Schwester und unserem Dackel Schnipp zum berühmten Schacherteich, wo unsere Mutter mitgebrachten Pudding servierte. Von zwei bis vier Uhr unternahmen, sowohl am Donnerstag als auch am Sonntag, die Burschen der ersten vier Klassen, also des Untergymnasiums, in Begleitung des Präfekten einen Spaziergang oder eine kleine Wanderung durch die Umgebung des Klosters. Bei Badewetter freilich wurde dem Spaziergang das Studentenschwimmbad vorgezogen. Manche Teilnehmer empfanden die Spaziergänge als höchst langweilig. Diese Leute hielten daher auch während des Marschierens gehörigen Abstand zum Präfekten. Links und rechts neben dem Präfekten gingen für gewöhnlich die eher braven Burschen, die meist einen guten Schulerfolg aufweisen konnten und die auch sonst einen guten Ruf als gehorsame Schüler hatten. Hinter ihnen spazierten mehr oder weniger dicht die anderen Burschen der Abteilung. Diese Ausflüge hatten ihren besonderen Reiz, da sie in schöne Bauerngegenden und Wälder führten, wie sie für das Alpenvorland charakteristisch sind. 237

Die alte Klosterschule

Abb. 24: Zechende Studenten im Gasthaus, um 1961

Wir erkundeten dabei kleine Bachläufe, sahen einen Stein mit Aushöhlungen, die davon stammen sollten, dass hier einmal der heilige Wolfgang gekniet hatte, besuchten eine kleine Wallfahrtskirche, marschierten auf den Kalvarienberg, wanderten durch dichte Wälder und waren sogar, dies jedoch eher selten, bei Bauern zu Gast, wo man uns mitunter etwas Most kredenzte. Pater Paulus besuchte gerne die Bauern, er dürfte den Most geschätzt haben. Er hatte auch nichts dagegen, wenn wir Burschen dem Most zusprachen. Dazu erzählte mir Hans Aigner, der heutige Bäcker: »Einmal waren wir mit Pater Paulus bei einem Bauern Most trinken. Da haben wir etwas zu viel Most erwischt. Einige haben davon sogar einen Durchfall bekommen. Einer von denen hat seine schöne Lederhose ausgezogen und hat diese unter einem Baum gelegt. Dann ist er, damit ihn niemand sieht, auf den Baum gestiegen und hat heruntergeschissen und hat auf seine Lederhose geschissen, was er eigentlich vermeiden wollte.« Die Lausbuben der Klasse benutzten solche Spaziergänge auch dazu, versteckt, wenn es also der Präfekt nicht sehen konnte, Lianen zu rauchen. Nach zwei Stunden waren wir wieder im Konvikt. Die dreckigen 238

Der Donnerstag und der Sonntag – Kirchenbesuch und freie Stunden

Schuhe wurden ausgezogen, gegen die Hausschuhe getauscht und den Bedienerinnen überantwortet, die sie nun mit festen Bürsten reinigten und in den Schuhkasten stellten. Die Burschen der oberen Klassen, also ab der fünften, durften ihre Freizeit an den Donnerstagen und Sonntagen nach Belieben nützen, sie durften allerdings nicht das Ortsgebiet verlassen. Wir taten es aber dennoch, wenn wir per Autostopp zum Beispiel nach Wels oder Bad Hall fuhren. Grundsätzlich war uns Klosterschülern verboten, uns in Gasthäusern und anderen Stätten des Lasters herumzutreiben. Wir taten es trotzdem. Irgendwie tolerierte man dies von oben, vom Kloster aus. In den beiden letzten Klassen hatten wir sogar bis halb fünf Ausgang. In diesen zweieinhalb Stunden erlebten wir viel. Wenn ich mich zurückerinnere, kann ich es kaum glauben, wie viel sich in diese kurze Zeit hineinpacken ließ. Wir besuchten Bauernhäuser, in denen wir Most tranken. Wir kehrten in Gasthäusern ein, um uns an gutem Bier und prächtigem Schweinsbraten zu erfreuen. Wir trafen uns sogar mit Mädchen  – darüber später mehr. Wir gingen ins Kino des Ortes, obwohl gerade dies streng verboten war, da man damals meinte, die meisten Kinofilme seien lasterhaft und für uns daher verderblich. Ich hatte einmal beim Besuch eines Filmes das Pech, in der Reihe vor dem Turnprofessor zu sitzen. Der Film war harmlos, man spielte den Film »Der Pauker« mit Heinz Rühmann. Auch erwischte mich dieser Professor einmal im Gespräch mit einem Mädchen im Ort. Dieser Professor vernaderte mich beim Konviktsdirektor, der da­rauf meinem Vater schrieb, ich war damals in der achten Klasse, er müsse damit rechnen, dass ich noch vor der Matura das Kloster verlassen müsse. Gott sei Dank kam es nicht dazu. In der kalten Jahreszeit, zum Fasching, wagten wir sogar, an nachmittäglichen Tanzveranstaltungen teilzunehmen. Während der heißen Tage suchten wir, da es damals noch kein öffentliches Schwimmbad im Ort gab, die sogenannte Greiner-Wehr auf. Auch der Besuch dort war uns verboten. Im dort gestauten Wasser der Krems pflegten damals junge Burschen und Mädchen des Ortes 239

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zu baden. Wir gesellten uns zu diesen. Wohl hätten wir das Schwimmbad im Kloster aufsuchen können, aber es reizte mehr, hier in der Wehr zu schwimmen und am Rande dieser uns zu sonnen. Auch Fische fingen wir in der Krems und brieten sie auf Stöckchen. Das Ende solcher genussreichen Stunden kam immer zu rasch. Stets endeten sie in einer Art Wettrennen, um zum Studium, um rechtzeitig im Studierraum zu sein. Kam einer zu spät, musste er mit Hausarrest oder einer ähnlichen Strafe rechnen.

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XX. Die Schank: Schankstunde, gemeinsames Trinken und Feiern

Die Schüler der beiden letzten Klassen hatten das Privileg, zweimal in der Woche die Schank besuchen und dort je eine Stunde lang heiter zechen zu dürfen. Grundsätzlich war den Schülern der Alkoholkonsum verboten, aber man machte auch Ausnahmen. Diese Ausnahme lässt sich durchaus mit dem heiligen Benedikt vereinbaren, der in seiner »Regel« im Kapitel 40 meint: »Wir glauben mit Rücksicht auf die Unzulänglichkeit der Schwachen, dass eine Hemina [ungefähr ein Viertelliter] Wein für jeden täglich reichen sollte. Sollten jedoch die Ortsverhältnisse, Arbeit oder Sommerhitze mehr fordern, ist das dem Ermessen des Oberen überlassen; doch muss er immer darauf achten, dass nicht Sättigung oder Trunkenheit aufkommt. Zwar lesen wir, der Wein sei überhaupt nicht für Mönche, da man aber die Mönche unserer Zeit davon nicht überzeugen kann, sollten wir uns wenigstens dazu verstehen, nicht bis zur Sättigung zu trinken, sondern weniger, denn der Wein bringt sogar die Weisen zum Abfall.« Der heilige Benedikt hielt einen guten Tropfen für Körper und Seele wichtig. Auch die meisten der Patres dachten so und tranken gut zu gutem Essen. Nur die wenigsten dürften echte Asketen gewesen sein. Dieses Privileg der Studenten der oberen Klassen, zu bestimmten Zeiten Alkohol genießen zu dürfen, entspricht nicht nur den Gedanken des heiligen Benedikt, sondern baut auch auf einer alten Tradition auf, nach der junge Burschen allmählich in die Rolle junger Männer überwechseln. Dazu gehört, dass der junge Bursch mit Handlungen vertraut gemacht wird, die dem erwachsenen Manne vorbehalten und den Kindern verboten sind. Zu diesen gehört in alten Kulturen die Jagd, aber auch der kontrollierte Genuss von Rauschmitteln. Der junge Bursche lernt, dass das berauschende Trinken mit Disziplin durchzuführen und 241

Die alte Klosterschule

nicht eine Sache des Alltags sei. Diese Absicht war mit der Schankstunde verbunden, in der alkoholisches Getränk, meist Bier, getrunken werden durfte. Offiziell war also gestattet, eine übliche Norm, nämlich die des Alkoholverbotes, für kurze Zeit zu brechen. Die jungen Burschen sahen sich als junge Erwachsene akzeptiert und tranken bisweilen gewaltig. Einrichtungen wie diese Schankstunden scheinen typisch für Gesellschaften zu sein, in denen klare Grenzen existieren und vieles verboten ist. Ein gelegentliches Brechen der Grenzen und Verbote erleichtert den Umgang mit diesen Regeln. Die Möglichkeit des Durchbrechens, wie zum Beispiel im Fasching, ist höchst reizvoll und verschafft das stolze Gefühl, für kurze Zeit eine gewisse Freiheit genießen und über die Stränge schlagen zu dürfen. Dieser besondere Reiz verschwände, wenn zum Beispiel der Fasching viele Monate dauerte und der Alkoholkonsum jederzeit erlaubt wäre. Die Schankstunde verlor ihre Attraktivität, als Ende der Sechzigerjahre der Konviktsdirektor erlaubte, täglich die Schank aufzusuchen. Mit dieser Erlaubnis zeigt sich bereits ein Abgehen von den alten Traditionen der Klosterschule. Aber bis dahin hatte die Schankstunde für die Herren Studenten der oberen Klassen einen ungemeinen Zauber, einen Zauber, der auch von der alten Schank selbst ausging. In den Fünfzigerund Sechzigerjahren befand sich die Schank noch versteckt im Anschluss an die Konviktsküche. Der Eingang war im Eck bei der Studentenkapelle. Man betrat die alte Schank durch ein anheimelndes Tor und eine Art Vorhalle. Rechts davon befand sich ein eher nobles Gastzimmer, benannt war es nach dem unglücklichen, durch einen Eber getöteten Sohn Herzog Tassilos, Gunther. Dieses Guntherzimmer besaß prachtvolle Fresken, auf denen die Geschichte Gunthers dargestellt war. Für uns Studenten war diese Stube weniger interessant als die Gaststube, die Kernzone der Schank. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand der Gaststube, deren Fenster zum Konventgarten führten, war ein schönes Gedicht mit schönen Buchstaben gemalt. Es fing mit den Worten an: »Wenn ich einmal der Herrgott wär, dann ging ich in die Schank.« In der Gaststube regierte dereinst der Herr Kaiblinger, der Wirt. Es gab Zeiten, in denen die Schank schlecht ging und er daher 242

Die Schank: Schankstunde, gemeinsames Trinken und Feiern

auch nicht viel anzubieten hatte. Mein Vater hatte sich einmal hungrig in die Schank gesetzt und nach einem Paar Würstel verlangt. Herr Kaiblinger meinte darauf, Würstel habe er nicht, aber dafür Ansichtskarten, mit denen mein Vater aber nichts anzufangen wusste. Neben dem Herrn Kaiblinger gab es, wenn viel zu tun war, eine feurige Kellnerin. Und in der Küche hatte die Frau des braven Wirtes zu tun. In den Sechzigerjahren gab der Kaiblinger die Schank auf. Die Familie Türk übernahm sie und führte sie trefflich. Zum Wassergraben hin erweiterte sich die Schank zu einer romantischen Veranda, die mit Laub umkränzt war. In dieser hielt man sich im Sommer auf, und an schönen Tagen war es ein Genuss, hier zu trinken, zu essen und auch zu singen. Während der Tage der schriftlichen Matura saßen an den Nachmittagen, nachdem die Arbeiten geschrieben waren, hier direkt am Wassergraben bei schönem Wetter die Maturanten. Sie freuten sich, die Matura erreicht zu haben, und sangen alte Studentenlieder, während ihre jüngeren Kollegen auf der anderen Seite des Wassergrabens ins Gymnasium marschierten und voll Neid auf die trinkenden und singenden Absolventen der Schule schauten. Die Schank hatte also eine wichtige, geradezu zentrale Bedeutung für das Leben im Kloster, denn auch die Patres kehrten mit ihren Besuchern gerne ein, genauso wie die Eltern, die ihre Söhne besuchten. Besonders hoch ging es am Schulschluss her, wenn Eltern und Schüler froh waren, wieder eine Klasse hinter sich gebracht zu haben und sich bei einem Bier oder einem Kracherl, wie man damals eine Limonade mit viel Kohlensäure nannte, gütlich taten und dabei ein Paar Würstel oder einen Schweinsbraten aßen. Die Schank war oft auch der Ort für das Valet, das Abschiedsfest der Maturanten. Sie besaß eine eigene Romantik, auch für die Altkremsmünsterer, die hier ihre Maturajubiläen, die sich für jede Klasse alle fünf Jahre wiederholen, feierten. Jedes Wochenende während der Frühlingszeit war ein solches Jubiläum angesagt, bei dem wir als Studenten den Rahmen zu bilden hatten. Diese Maturajubiläen, über die ich kurz berichten will, da sie eng mit der Existenz der Schank verbunden waren, besaßen ein festes 243

Die alte Klosterschule

Abb. 25: In der Schank

Ritual, in das wir alle eingebunden waren. Zu diesem Ritual gehörte es, dass an den Samstagabenden im Frühjahr, meist im Mai, sich die Jubilierenden außerhalb der Stiftsmauer beim Eichentor trafen. Von dort wurden sie von der Studentenmusikkapelle abgeholt und in den Hof vor die Schank geleitet. Den jubilierenden Altkremsmünsterern schlossen sich die Schüler an. Es war ihre Pflicht, ihre Altvorderen auf diese Art zu ehren. Im Konviktshof bei der Schank nahmen alle Aufstellung. Ein Mitglied der Jubiläumsklasse hielt eine kurze Rede, wobei herausgestrichen wurde, wie wichtig für sie alle die Klosterschule gewesen war und wie gerne sie an diese zurückdenken würden. Mir als jungem Studenten war es damals übrigens rätselhaft, warum man sich so gerne an diese Schule erinnerte. Nach dieser Rede sangen wir unter den Klängen der Musikkapelle das alte Studentenlied »Gaudeamus igitur« und das wehmütige Lied »O alte Burschenherrlichkeit«. Dann marschierten die Alten in die Schank, um das Jubiläum der Matura bei Bier und heiterem Gespräch zu feiern. Am nächsten Tag dann besuchten die Jubilierenden 244

Die Schank: Schankstunde, gemeinsames Trinken und Feiern

Abb. 26: Stiftschänke in Kremsmünster, Postkarte aus dem Jahr 1928

die Messe in der Studentenkapelle und marschierten zum Gymnasium, wo sie sich im Direktionszimmer in ein besonderes Buch eintrugen. Nach einem gemeinsamen Mittagessen trennte man sich wieder. Auch die Ehefrauen der Altkremsmünsterer nahmen an den Treffen teil und ergötzten sich an den Erzählungen der früheren Helden der Schule. Zur Feierlichkeit dieser Jubiläen trug besonders die Musikkapelle bei, über die weiter unten noch berichtet werden soll. Aber zurück zu den Schankstunden, den Höhepunkten der studentischen Woche. Erwin Starl erinnert sich an die Schankstunde: »In der siebten und achten Klasse hatten wir am Donnerstag und Sonntag von fünf Uhr bis sechs Uhr am Abend Schankstunde. Wir durften also in die Schank gehen. Das war noch die alte Schank, die am Wassergraben. Die Schankstunde war für uns ein Pflichtmatch. Aber um sechs Uhr mussten wir beim Abendessen sein. Aber bis dahin haben manche ordentlich gesoffen. So der N., der hat Bier trinken können! Wir anderen waren auch nicht schlecht, aber der N. hat vier oder fünf halbe Bier in einer 245

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Stunde getrunken. Dazu haben wir Pommes frites mit Ketchup gegessen, mehr konnten wir uns nicht leisten. Die alte Mitzi, die freundliche Kellnerin, hat sie uns gebracht. Einmal hat der N. wieder ordentlich Bier getrunken. Anschließend beim Abendessen gab es eine Süßspeise, irgend etwas mit Mus. Und das nach der Schankstunde, nachdem wir Bier getrunken hatten! Wir kommen also von der Schank in den Speisesaal, wir waren damals in der achten Klasse. Der N. ist am letzten Tisch gesessen, wie ich und die anderen. Der N. hat einen solchen Rausch gehabt, dass er plötzlich zwischen zwei Sesseln zu Boden gefallen ist. Der Hackl, der Konviktsdirektor, sieht das und schreit: ›Du Krüppel, du frisst nichts, aber saufst bloß!‹ Ich bin gegenüber vom N. gesessen. Ich musste, weil sich der Hackl so aufgeregt hat, furchtbar lachen. Vor Lachen hätte es mich schon bald zerrissen. Nun hat er uns alle zusammengeschrien mit den Worten: ›lhr besoffene Krüppeln!‹ Dem N. war wegen seines Rausches schlecht, er war ganz weiß im Gesicht. Wir mussten dann den N. abführen und ihn niederlegen. Der Hackl hätte wissen müssen, dass es einem schlecht geht, wenn man getrunken hat, er hat ja selbst mit dem Dady, dem Pater Rupert, hin und wieder ganz schön gesoffen. Ich habe selbst einmal gesehen, wie die beiden ein Schwips hatten. Ich war an einem Sonntagvormittag in der Konviktskanzlei. Der eine von den beiden hat sich gerade in einem Lavor die Füße gebadet. Beide waren weggetreten. Der Hackl hat mit zweierlei Maß gemessen, hier und da hat er akzeptiert, wenn man von der Schank gekommen ist, dass man etwas betrunken ist.« Starl fügt noch etwas hinzu, was auf die spezielle Eigenart dieser alten Institution der Schankstunde hinweist: »Das Schönste war, dass der, der nicht in die Schankstunde ging, Studium hatte, also lernen musste. Der hat, weil er nicht in die Schank ging, nicht frei gehabt.« Die Schankstunde war ein Erlebnis, aber nicht jeder konnte sich das Bier leisten. Dazu weiter Starl: »Das war nicht so, jetzt hast du Schankstunde und jetzt kannst du dir ein Bier leisten. Eine halbe Bier hat ja Geld gekostet. Damals 1966 waren es drei Schilling und fünfundneunzig Groschen, die wir für einen halben Liter Bier zahlen mussten. Und das zweimal in der Woche. Und wenn man das auf achtmal im Monat 246

Die Schank: Schankstunde, gemeinsames Trinken und Feiern

nimmt, war dies doch etwas. Das Bier mussten wir uns vom Taschengeld, das wir von zu Hause bekommen haben, absparen. Und viel Taschengeld habe ich nicht von zu Hause bekommen, aber ich habe es mir eingeteilt, sodass ich in der Schankstunde mir mein Bier leisten konnte.« In der Schankstunde konnten wir uns als noble und trinkfreudige Herren aufspielen. Dazu gehörte auch, dass wir ordentlich geraucht haben. Zum Bild, das wir vom kühnen jungen Manne hatten, gehörten das Bierglas und die Zigarette oder die Pfeife. Das Reizvolle an der Schankstunde war schließlich auch das gemein­ same Singen. Es verband sich also das berauschende Getränk mit dem lautem Gesang. Nur die Damen fehlten uns noch zu unserem Glück. Unser Repertoire bestand aus alten Trinkliedern und Studentenliedern, die heute kaum mehr gesungen werden. Solche Lieder waren: »Ça, ça geschmauset«, »Gold und Silber«, »Lore, Lore, schön sind die Mädchen mit siebzehn, achtzehn Jahren«, »Im Krug zum grünen Kranze« und Ähnliche. Besonders gerne sangen wir »O, du schöner Westerwald«. Und manchen Liedern unterlegten wir einen schlüpfrigen Text, den die Patres nicht hören hätten dürfen. Wir sangen gerne und laut, und ich sehr falsch. Jedenfalls genossen wir diese eine Stunde der Freiheit. Hier durften wir endlich Verbotenes tun. Hiezu sagte Wolfgang Mayr etwas Gescheites: »Wenn das Saufen und das Rauchen nicht verboten gewesen wäre, mich hätte es nicht interessiert. Mir hat das Rauchen getaugt und das Saufen.« Dem heiteren Genuss von Bier und Zigarette, aber auch von Pfeife frönten wir aber auch heimlich, wenn wir in einem Gasthaus im Ort oder in einem Bauernwirtshaus in der Nähe des Klosters einkehrten. Auch hier konnte es zu richtigen Gelagen kommen, wie in dem Kapitel über die Spaziergänge bereits ausgeführt wurde. Wolfgang Mayr, der 1962 maturiert hat, zeigte mir zwei Bilder, auf denen ein solches Saufgelage dokumentiert ist. Sie zeigen ihn mit Freunden im Gastgarten eines Bauernwirtshauses beim Bier. Er schilderte dazu: »Hier haben wir uns eine ganze Partie eingefunden und haben ein paar Doppelliter Bier getrunken. Auf dem einen Bild sieht 247

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man uns und eine Uhr, auf der es fünf Minuten vor drei Uhr ist. Hier ist der Krug mit dem Doppelliter noch voll. Auf dem anderen Bild, da ist es drei Uhr und der Krug ist schon leer. Die ganze Saufaktion lief unter dem Motto ›Marina‹. Dies darum, weil wir in der Musikbox ständig das berühmte Lied ›Marina‹ gespielt haben. Dann sind wir betrunken ins Kloster in den Konvikt gewackelt.« Die Schankstunde und derartige heitere Zusammenkünfte beim Bier erfreuten manche Burschen. Nach der Konviktsordnung hatten sich die Burschen, wenn sie in der Schank waren, an die Regeln des Konviktes zu halten. Exzesse wurden mit Hausarrest oder Ähnlichem bestraft. Der Student sollte sich auch beim Bier- oder Mosttrinken kontrolliert verhalten können. Ein großer Gegner solcher ritueller Trinksitten war Pater Jakob, der den Burschen freundlich zuredete, dass der Alkoholgenuss doch schädlich sei. Als Pater Jakob Konviktsdirektor wurde, wurde die Schankstunde abgeschafft, er ging dabei von einer alten Tradition ab und erlaubte den Burschen der letzten beiden Klassen, ab nun jeden Tag von fünf bis sechs in die Schank zu gehen. Damit hatte er der alten Einrichtung der Schankstunde mit ihrem rituellem Biergenuss und dem fröhlichen Gesang den Todesstoß versetzt. Das Ergebnis war, dass der Besuch der Schank an Reiz verlor. Vielleicht wurde nun weniger getrunken, aber es gingen auch die Kontakte zwischen den Burschen der letzten beiden Klassen zurück, weil kein Anlass mehr für den gemeinsamen Gesang bestand. Disziplinierter Alkoholgenuss war durchaus im Sinne der meisten der Patres, denn auch ihnen schmeckte ein guter Tropfen. Von Gustav Bihlmayer stammt folgende kleine Geschichte: »Einmal kam einer von uns heiter und stark vom Most illuminiert vom Ausgang zurück. Schnurstracks ging er zum Präfekten Pater Paulus. Wir waren auf das Ärgste gefasst. Wir dachten, Pater Paulus würde zornig über ihn sein und ihn bestrafen. Als unser Freund aus dem Zimmer des Präfekten kam, fragten wir ihn, was der Pater Paulus gesagt habe. Zu unserer Verwunderung meinte er: ›Gar nichts.‹ Das schien uns unglaublich. 248

Die Schank: Schankstunde, gemeinsames Trinken und Feiern

Daher begab sich ein anderer von uns unter irgendeinem Vorwand zu Pater Paulus. Dieser erzählte uns dann, dass Pater Paulus selbst den ganzen Nachmittag mit alten Schulfreunden beisammengesessen sei und selbst ordentlich getrunken habe. Er war also in demselben Zustand wie unser Freund. Und daher auch nachsichtig.« Ein gelegentlich übertriebener Alkoholgenuss konnte durchaus im Sinne der Klostertradition sein, darüber meinte Gustav Bihlmayer, dem sogar einmal »Alkohol verordnet worden« war: »Das kam so. Pater Emmeran, ein gefürchteter Latein- und Griechischprofessor, auf den ein Schüler einmal beinahe ein Attentat verübt hat, war damals in den Fünfzigerjahren schon alt und milde. Als er vor die Wahl gestellt wurde, den Fuß amputieren zu lassen oder zu sterben, entschied er sich für Letzteres. Sein letzter Wunsch war eine lustige Leich’. Und dieser Wunsch wurde ihm erfüllt. Als er starb, reisten wir von der siebten und der achten Klasse mit ein paar Patres im Bus nach Ried, wo das Begräbnis stattfand. Beim Leichenschmaus wurde uns der Wein förmlich aufgedrängt, wir mussten trinken, ob wir wollten oder nicht. Wir wehrten uns aber nicht dagegen. Ein Foto vom Rieder Stadtplatz zeugt heute noch von meinem damaligen Zustand. Das Begräbnis war bis zuletzt wegen des vielen Weines eine wirkliche Gaudi.« Der Wein gehörte zum Klosteralltag, man war ihm nicht abgeneigt, zumal wenn, durchaus im Sinne des heiligen Benedikt, am Namenstag eines Mönches bei Tisch Wein kredenzt wurde. Freund Bihlmayer philosophiert dazu in einem Brief: »Trunkenheit war im Kloster ein Kavaliersdelikt. Es war ein Ventil, um sich von der Last der Beschränkungen zu befreien. Die 21 Seidel Bier, die Pater Rupert beim Abschiedsessen unserer Klasse getrunken hat, und der Doppelliter Wein, den Pater Heinrich bei den Theaterproben stets griffbereit hatte, bleiben mir in ewiger Erinnerung.« Bier und Wein passten also in ritueller Weise zum Klosterleben. Dies sah auch der heilige Benedikt, der den Mönchen daher großzügig den Weingenuss erlaubte, allerdings verlangte er auch Disziplin beim Trinken. Und eine solche sollte man früher auch in der Schankstunde, die nur zweimal in der Woche stattfand, lernen. 249

XXI. Kulturelle Spezialisten: Sänger, Theaterspieler, Musikanten und Bildungsbeflissene Es gab unter den Schülern des Gymnasiums musisch Begabte, zu denen ich nicht gehörte, da es mir an Talenten fehlte. Ich kann weder singen noch musizieren, noch eigne ich mich zum Schauspieler. Am wichtigsten waren jene begnadeten Burschen, die von erfahrenen Patres zum Chorgesang herangezogen und ausgebildet wurden. Sie genossen Vorteile, da sie durch ihre Kunst wesentlich zum Gelingen von Hochämtern und anderen religiösen Feiern beitrugen. Sie durften sogar hie und da an der Tafel der Patres speisen, oder man reichte ihnen Bissen von dieser, wie von dem Wildschwein, das am Stiftertag dort aufgetischt war. Und einige Sänger scheinen besonders gefördert worden zu sein. Wegen dieser Chorsänger konnten die Osterferien der Klosterschüler erst am Mittwoch nach dem Palmsonntag, im Gegensatz zu anderen Schulen, beginnen. Dafür dauerten sie die ganze Woche nach den Feiertagen, wenn woanders schon Schule war, noch an. Wir betrachteten dies als Segen. Andere Spezialisten waren die Mitglieder der Studentenkapelle, der studentischen Blasmusik. Diese Studentenkapelle war hoch angesehen im Kloster. Den braven Musikanten wurde bisweilen von den Patres sogar Bier spendiert. Diese Kapelle mit ihren Blasmusikern begleitete die jubilierenden früheren Schüler der Schule vom großen Stiftstor zur Schank, sie war bei Umzügen aller Art dabei, auch bei der Fronleichnamsprozession, und zog am 1. Mai in aller Herrgottsfrüh laut spielend durch die Gegend. Mit besonderer Begeisterung war zum Beispiel Rudi Lughofer Kapellmeister. Ein guter Musikant ist er heute noch. Er nahm seine Sache sehr ernst. Über Musiker, die gerne Bier tranken, meinte er: »Nach der Schankstunde am Donnerstag war immer Probe der Stu­ 250

Kulturelle Spezialisten

dentenkapelle. Als Kapellmeister habe ich mich da oft geärgert, weil meine Musikanten oft furchtbar angesoffen waren.« Auch Helmut Obermayr erinnert sich an die Proben: »Der Ervin und ich waren abwechselnd bei der Trommel oder bei den Tschinellen. Wenn wir mit dem Kapellmeister gestritten haben, haben wir einfach leicht gegen den Takt geschlagen, und damit war die Probe geschmissen. Wir haben zweimal in der Woche geprobt, immer Donnerstag und Sonntag am Abend, nach dem Abendessen, da war Kapellenprobe. Besondere Privilegien hatten wir nicht. Es war schön, aber wir waren ganz schön angehängt, zweimal in der Woche Kapellenprobe.« Aber dennoch scheint es dem Kapellmeister gelungen zu sein, brave Bläser und Trommler unter seinem Stab anzuleiten. Besonders beliebt waren die Trommel und die Tschinellen. Trommel und Tschinellen machten nicht nur Lärm, sondern sie gaben den marschierenden Musikanten auch den entsprechenden Takt. Dies scheint nicht schwer zu sein, ist es aber. Der Trommler haute nicht nur bloß auf die Trommel, er benötigte auch viel Gefühl für den Takt. Die Trommel befand sich auf einem Karren mit zwei Rädern, der von einem Burschen der ersten Klassen gezogen wurde. Die Musikanten der Studentenkapelle genossen hohes Ansehen. Es war eine hohe Ehre, ihr angehören zu dürfen. Sogar der Trommelzieher wurde von den jungen Burschen um seine Tätigkeit beneidet. Ich selbst wäre gerne Trommler geworden, war aber zu unmusikalisch. Einmal jedoch, die Studentenkapelle marschierte mit klingendem Spiel, ich glaube, es war zur Probe, durch den vorderen Stiftshof, kam ich zum Zug. Der Mann, der die Tschinellen für gewöhnlich aneinanderschlug, war plötzlich verhindert. Man suchte nun einen, der bloß im Takt mit dem Marschschritt der Musikanten diese beiden Messingplatten aneinanderschlagen könne. Viel werde also nicht von diesem Ersatzmann verlangt, meinte ich und meldete mich. Mein Auftritt war eher eine Katastrophe, denn ich erwischte den Takt nicht. Man bat mich schließlich höflich, jemand anderen schlagen zu lassen. Äußeres Symbol der Studentenkapelle war die klassische Studentenmütze der Klosterschule. Diese Studentenmütze – darüber habe ich 251

Die alte Klosterschule

Abb. 27: Junge Chorsänger

schon erzählt, aber ich weise noch einmal darauf hin – bestand aus purpurnem Samt, hatte vorne einen kurzen Schirm und über diesem ein grün-weißes Band. Grün-Weiß waren die Farben der Schule. In früheren Zeiten, vor dem Krieg, wurde diese Mütze von allen Schülern des Klosters getragen, nun nur mehr von den Mitgliedern der Musikkapelle. Auf diese alte Tradition der Studentenmütze griffen übrigens Wolfgang Mayr und seine Freunde für ihre Klasse um 1960 zurück. Tatsächlich, wie Bilder zeigen, trugen sie diese Mütze auch. Sie dürften jedoch die letzten gewesen sein, die diese Mütze noch zu schätzen wussten. Spezialisten waren auch diejenigen Studenten, die von Pater Heinrich, dem Deutschprofessor und Theaterleiter, für das Studententheater als Schauspieler entdeckt wurden. Pater Heinrich war ein freundlicher Mann, der gerne Zigarren rauchte und einen guten Tropfen Wein zu schätzen wusste. Unter seiner Regie feierte das Theater Triumphe. Man hatte dafür den äußeren Stiftshof eingerichtet. Für die 252

Kulturelle Spezialisten

jährliche Aufführung des Studententheaters im Frühling wurde mit den Proben schon bald begonnen. Helmut Obermayr erzählte: »Bereits ab Jänner, jeweils am Montag, Dienstag und Freitag waren die Theaterproben. Ab der vierten Klasse war ich Souffleur. Ich habe selbst einmal ein Theaterstück inszeniert, und zwar schon in der dritten Klasse. Es wurde im Festsaal aufgeführt. In der achten Klasse haben wir ›Weh dem, der lügt‹ gegeben, da habe ich die Hauptrolle gespielt.« Wenn es bei den Proben auch recht lustig zugehen konnte, spielten die Schüler doch mit heiligem Ernst. Für die ganze Schule war gutes Theater Ehrensache. Eingebunden waren neben den »Schauspielern« auch »Künstler«, die unter der Leitung von Professor Thiemann als Bühnenmaler agierten. Auch ich durfte einmal im Theater mitwirken. 1957, in Shakespeares Stück »Coriolan«, durfte ich die Rolle eines Boten spielen, der bloß zu sagen hatte, dass der Mardus und der Lartius, zwei Feldherren, angreifen würden. Ich nahm die kleine Rolle schwer. Ich musste in römischem leichtem Gewande auf die Bühne stürzen und meinen Satz sagen. Aber ich tat mir hart bei diesem Satz, da ich Schwierigkeiten habe, das »R« kunstgerecht auszusprechen. Und in den Namen Lartius und Martius war das »R« wesentlich. Der Pater war mit mir nicht sehr zufrieden. Im nächsten Jahr, wir spielten »Die Räuber«, erhielt ich keine Rolle mehr. Ich durfte dafür die Kassa übernehmen. Ich saß bei der Kassa und verkaufte Karten, oder ich gab die vorbestellten aus. Der Vorteil war, dass ich während der Theatervorstellungen unbemerkt das Kino im Ort besuchen konnte. Ich musste nur sicher wieder im Stift sein, wenn die Vorstellung zu Ende war. Wäre ich später erschienen, hätte ich sicherlich Schwierigkeiten bekommen. Zu kulturellen Spezialisten im weiteren Sinn wurden Helmut Obermayr und seine Freunde. Sie wurden von dem reformfreudigen Pater Nikolaus darin unterstützt, einen Filmklub zu gründen. Lassen wir Freund Obermayr selbst erzählen: »Wir haben [um 1966] Pater Nikolaus in Religion bekommen. Das war ein richtiger Revoluzzer, sehr fromm, aber revolutionär. Im Marxismus hat er sich perfekt ausgekannt. Damit muss man sich auseinandersetzen, da ist sehr viel Richtiges drinnen. Wenn einer blöd herumgeredet hat, hat 253

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er ihm eine gute Zeitung hingeknallt und gesagt, lest einmal etwas Gescheites. Er hat uns auch auf die Idee gebracht, einen Filmklub zu gründen. In diesen haben wir uns auch Filme hergeholt, die Filmgeschichte gemacht haben, wie ›Panzerkreuzer Potemkin‹, ›La Strada‹ … Der Pater Nikolaus hat uns gezwungen, dafür unheimlich viel zu arbeiten. Das war für die Freizeit. Er hat uns beim Aussuchen der Filme beraten. Wir haben Texte schreiben müssen, administrieren, kassieren, all das haben wir machen müssen. Das war im Wintersaal des Stiftes. Neben dem Kaisersaal. Wir haben damals eine Studentenzeitung gegründet, die ›Sternwarte‹. Die ist wieder eingegangen. Da haben wir viel beim Pater Nikolaus diskutiert. Ich war ja fast der Klassenheide. Die anderen haben zu mir gesagt: Jetzt höre endlich auf zu diskutieren, das halten wir ja nicht mehr aus.› Der Pater Nikolaus hat uns intellektuell sehr gefordert.« Den Spezialisten schien die Weiterbildung wichtig zu sein, im Gegensatz zu den Faulpelzen der Klasse. So lernten in meiner Klasse einige freiwillig Französisch, Stenografie und Darstellende Geometrie. Typisch für die Sechzigerjahre dürften Arbeitskreise zur Weiterbildung gewesen sein, wie Helmut Obermayr auch erzählt: »Eines muss ich sagen, was ich ihnen hoch anrechne: Wir haben in dem Sinne eine Hochschulreife gehabt. Wir haben beim Albert wissenschaftlich arbeiten gelernt. In der fünften hatten wir einen Arbeitskreis Religion. Er hat gesagt, in der Schule kann man viel zu wenig machen, wer will, der kann kommen, es ist freiwillig, wir behandeln die Weltreligionen. Es wurden Referate gehalten. Da hat er uns drei Hochschulbücher gegeben. Wir haben richtig zitieren gelernt. In der achten haben beim Pater Jakob die, die bei ihm in Naturgeschichte maturieren wollten, Referate halten müssen. Er hat uns ein paar Bücher hingeknallt und gesagt: Jetzt schreibts ein Referat.› Wir haben das Handwerkszeug gelernt. Wie ich an die Universität gekommen bin, habe ich gewusst, wie man richtig zitiert. Meinen Freunden und Freundinnen bei den Soziologen habe ich zeigen können, wie das geht für ihre Referate.« Das Kloster bot also den talentierten und interessierten Burschen die Chance, sich kulturell und wissenschaftlich zu betätigen. 254

XXII. Die Ferien

Der Rhythmus des Schuljahres wurde wesentlich durch die Ferien geprägt. Die Ferien waren heißersehnt, denn nur zu den Ferien durften die Klosterschüler das Kloster verlassen, um zu den Eltern zu fahren. Insgesamt waren es nur fünf Ferien, während der wir in heimatlichen Gefilden weilten: die paar Tage zu Allerheiligen, die ungefähr zwei Wochen zu Weihnachten, die beinahe zwei Wochen zu Ostern, vielleicht ein paar Tage zu Pfingsten und schließlich die großen Ferien mit den beiden Sommermonaten Juli und August. Wie schon einmal erwähnt, hielt der Kalender des Klosterschuljahres aus verschiedenen Gründen nicht immer mit dem üblichen mit. So begannen die Osterferien im Kloster nicht wie in staatlichen Schulen mit dem Tag vor dem Palmsonntag, sondern mit dem Mittwoch danach. Dafür dauerten die Ferien noch die ganze Woche nach Ostern. Mit der Fahrt in die Ferien, in die Heimat, begann für die Studenten so etwas wie eine Reise in eine andere Welt. Weg von der Last des Alltags in der Klosterschule, in der man unter Gleichaltrigen sich behaupten musste, einiges einzustecken hatte und die persönlichen Gefühle zurückhalten musste, ging es zurück zu Eltern und Geschwis­ tern. Dort durfte man sich endlich wieder in Freiheit bewegen und über alles Bedrückende sprechen. Man lebte eigentlich von Ferien zu Ferien. Es gab Schüler, die sich sogenannte »Stundenfresser« zulegten, um ständig zu wissen, wie viele Stunden sie noch von den Ferien trennten. In den Ferien konnte man endlich schlafen, so lange man wollte, ohne dass einem der Präfekt die Bettdecke wegzog. Es waren richtige Schlaforgien, die ich in den ersten Tagen der Ferien durchführte, derart, dass mein Vater davon erschreckt war und mich mit klassischen 255

Die alte Klosterschule

Zitaten zu wecken versuchte. Ein solches Zitat war eines aus Torquato Tasso, glaube ich zumindest, in dem es unter anderem sinngemäß heißt, man müsse schamrot werden, wenn man so geistlos durch das Leben zieht. Ich sollte also schamrot werden, weil ich gar so lange schlief. War es ein schöner Sommertag, pflegte mein Vater wie ein Jägersmann zu rufen: »Auf, auf, sagt der Fuchs zum Hasen, hörst du nicht den Jäger blasen.« Mit derartigen Sprüchen wollte mein Vater offensichtlich verhindern, dass ich in den Ferien völlig »versumperte«. Tatsächlich verfiel ich bisweilen in ein absolutes Nichtstun. Ich brauchte dies nach dem strengen, reglementierten Leben im Konvikt. Die großen Ferien, wenn kein Nachzipf den Himmel verdunkelte und der Aufstieg in die nächste Klasse gesichert war, gruben sich als wunderschöne Erinnerung in das Gedächtnis, von der man als Klosterschüler wieder ein Jahr lang zu zehren hatte. Die warmen Tage genoss ich zu Hause mit Wandern und Schwimmen. Später einmal unternahm ich mit Klassenfreunden Radtouren, die mich durch Österreich führten. Einmal nahm ich an einem vom Gymnasium veranstalteten Jungscharlager am Almsee teil. Unter der Leitung des Paters Ansgar, der sich um die religiösen Belange der Jungschar kümmerte, blieben wir Burschen aus den unteren Klassen für eine Woche in einer Hütte, die direkt am See lag. Sie gehörte zu den ausgedehnten Besitzungen des Klosters in dieser Landschaft. Wir fuhren von Kremsmünster aus mit dem Fahrrad zum Almsee und erlebten klassisches Hüttenleben mit Spielen und Wanderungen. Das bei der Hütte gelegene Plumpsklosett trug den schönen Namen Genf, der von dem politisch interessierten Pater Rudolf stammte. Dieser meinte, da Genf, in der Schweiz gelegen, der klassische Ort der Sitzungen sei, könne man diese Ortsbezeichnung auf den geheimen Ort übertragen, der ebenso zu Sitzungen verleite. Die Ferien hatten ihren eigenen Zauber. Wir als Klosterschüler kosteten sie sicher mehr aus, als dies die Schüler in den Städten taten, die das Gefühl nicht kannten, über Monate weitab der Eltern zu leben.

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Die Ferien

Die traurige Rückkehr von den Ferien Die Fahrt in den Studienort zurück war trist. Der einzige Trost war, dass in dem Zug bereits Freunde saßen, die denselben Weg wie ich hatten. Diese Zugsfahrten glichen sich durch die Jahre, die Hinfahrt empfanden wir wie eine Flucht aus einer Welt, in der man sich nicht immer wohl fühlte. Tage vor Ferienbeginn pilgerten wir zum Bahnhof und besorgten uns die Fahrkarten, mit denen wir der Klosterschule entfliehen konnten. Die Rückfahrt wurde gleichsam zu einem Häftlingstransport, schließlich waren wir auf dem Weg in das Konvikt, dem Ort der Disziplin. Entsprach die eine Fahrt der Freiheit, symbolisierte die andere die Kontrolle. Besonders arg empfanden wir die Rückkehr nach den Weihnachtsferien. Es war für gewöhnlich der 6. Jänner, der Dreikönigstag, an dem wir wiederum im Konvikt eintrafen. Am Abend eines dunklen kalten Wintertages rückten wir ein, noch voll der Erinnerungen an gemütliche Weihnachtstage im Hause lieber Menschen. Die Jüngeren bedrückte das Eintreffen im Konvikt. Auch mit Humor war diese Situation kaum zu bewältigen. Manche taten so, als ob ihnen dies alles nichts ausmache, aber ich denke, dass auch sie durch den Abschied von zu Hause gelitten haben. Die Rückkehr nach den großen Ferien war nicht ganz so schauerlich, aber dennoch tauschte man das eher freie Leben bei den Eltern nur wehmütig gegen eines in Zwängen. Nach den Sommerferien war es aber auch schön, die alten Freunde wiederzusehen. Das Ende der Sommerferien bedeutete für jene, die einen sogenannten »Nachzipf« hatten, eine besondere Belastung. Der Nachzipf war eine Nachprüfung zu Beginn des neuen Schuljahres über Stoff des alten, weil der Schüler in einem Gegenstand im letzten Schuljahr mit »Nicht genügend« abgeschlossen hatte. Auch ich hatte einmal einen Nachzipf, in Physik. Ein großer Teil der Ferien war durch die Vorbereitung für diese Prüfung vertan. Aber immerhin schaffte ich sie, zur Freude meines Vaters. 257

Die alte Klosterschule

Grippeferien – die Krankenabteilung Außer den üblichen, im Schulgesetz vorgesehenen Ferien gab es noch außertourliche Ferien, die wir uns jedes Mal erkämpfen mussten. Dies waren die sogenannten Grippeferien, die zur Zeit der Verkühlungen meist im Februar erreicht werden konnten. Damit solche Ferien auch von der Direktion des Gymnasiums verfügt wurden, benötigte man in jeder Klasse eine erkleckliche Anzahl an Grippeerkrankungen. Zu dieser Zeit war die Krankenabteilung überbelegt. Die gütige Klosterschwester kümmerte sich rührend, geradezu mütterlich um uns. Hatte jemand Fieber oder machte er einen maroden Eindruck, schickte ihn der Präfekt in die Krankenabteilung, wo ihm die Schwester ein Bett zuwies. Der Kranke blieb ein paar Tage dort, zumindest so lange, bis er fieberfei war. Während der Zeit seines Aufenthaltes in dieser Abteilung ging es den Burschen nicht schlecht, sie hatten dort nicht nur eine vortreffliche Pflegerin, sondern konnten auch richtig ausschlafen, in Ruhe Romane lesen und sogar mit ihren Bettkumpanen Karten spielen. Der Aufenthalt in der Krankenabteilung wurde also von vielen durchaus angenehm empfunden. Immer wieder gerieten daher die kranken Studenten in Verdacht, nur zu simulieren, um sich ein paar schöne Tage zu machen. Der Konviktsdirektor achtete daher darauf, dass niemand zu Unrecht vorgebe, krank zu sein. Dazu erzählte mir Helmut Obermayr: »Die Schwester in der Krankenabteilung war eine Schwester aus Steiner­ kirchen. Zu meiner Zeit war der Hackl der Konviktsdirektor. Der war sehr streng. Der hat gesagt: ›lch war im Krieg Sanitäter, ich kenne mich bei den Krankheiten aus.‹ Bei manchen hat er richtig erkannt, dass sie simulieren. Bei anderen wieder hat er es nicht richtig erkannt. Wenn er einen Verdacht hatte, hat er zu der Schwester gesagt: ›Hauen Sie den hinaus, der hat nichts.‹ Als er wieder einmal dort war und geschimpft hat, hat die Schwester ihm beim Weggehen von hinten Weihwasser nachgespritzt, als ob der Leibhaftige den Raum verlassen hätte.« Gab es im Februar sehr viele Grippeerkrankungen, kamen auch bald die ersehnten Grippeferien. Wenn sich nicht genügend Studen258

Die Ferien

ten krankgemeldet hatten, mussten noch einige gefunden werden, die Grippe vortäuschten. Das Fieberthermometer wurde einfach hinaufgerieben. Solche Simulanten wurden bisweilen aufgefordert, in Gegenwart des Präfekten bei sich Fieber zu messen, wobei der Präfekt das richtige Einlegen des Thermometers in die Achsel des angeblich Kranken genauso kontrollierte wie das Herausnehmen. Ich erinnere mich, wie einige Simulanten mit Fieberthermometern in den Achseln beim Präfekten saßen und auf einen Augenblick warteten, in dem der Präfekt nicht zu ihnen sah, um das Thermometer reiben zu können. Wurden dann Grippeferien ausgerufen, weil nur mehr wenige Schüler die Klassen bevölkerten, war die Freude groß. Zumindest für eine Woche konnte man nun zu den Eltern fahren.

Schulausflüge Zum Thema Ferien gehören in gewisser Weise auch die Schulausflüge. Auch sie stellten, vielleicht mehr als in anderen Schulen, eine freudige Abwechslung zum grauen Alltag in Schule und Konvikt dar. Die Schulausflüge führten uns in den ersten Klassen zu nahe gelegenen Burgen und Kirchen, wie zur Burg Altpernstein bei Micheldorf. Während der Wanderung besuchten wir Gasthäuser oder Burgschenken und erfreuten uns an den Spielen, die mitunter veranstaltet wurden. In den oberen Klassen sahen wir in den Ausflügen willkommene Gelegenheiten, um rauchen und Alkohol trinken zu können, wobei es galt, den uns begleitenden Professor in angenehmer Stimmung zu halten. Einen Ausflug, wir waren in der siebten Klasse, nützten wir, um uns lockere Kinofilme anzusehen. Da uns Kinofilme verboten war, reizten sie um so mehr, besonders die mit Brigitte Bardot und Marilyn Monroe. Auf einem Ausflug nach Gmunden, wo es damals zwei schöne Stadtkinos gab, bot sich eine gute Gelegenheit. Der gute Englischprofessor, unser Begleiter, wollte uns einiges Wissenswerte von dieser Stadt erzählen und zeigen, doch wir waren plötzlich verschwunden 259

Die alte Klosterschule

und verbrachten die nächsten zwei Stunden in einem der Kinos. Nach diesen beiden Stunden trafen wir uns beim Autobus, der uns zurück in das Kloster bringen sollte. Mit dem Chauffeur hatten wir vereinbart, dass er dem Professor sagen würde, der Motor des Autobusses wäre nicht in Ordnung und er müsste ihn jetzt reparieren. Dies würde ungefähr zwei Stunden dauern. Der Professor war verzweifelt. Wir waren gleich wieder verschwunden, um uns den nächsten Film im anderen Kino anzusehen. Schulausflüge brachten also etwas Zauber in das Einerlei der Schule. Sie förderten Freundschaften, machten mitunter den begleitenden und dirigierenden Klassenvorstand den Studenten sympathischer und regten auch zu allerhand Taten an, die sonst nicht so ohne Weiteres möglich waren.

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XXIII. Fromme Unternehmungen

Zum Leben im Kloster gehörten nicht nur das Studium von Latein, Griechisch und anderen Fächern, sondern auch fromme Unternehmungen, die der Klosterschule ihre besondere Berechtigung gaben. Bei den frommen Unternehmungen sind die groß angelegten von den klein angelegten zu unterscheiden. Klein angelegt waren die Aktionen, zu denen uns Pater Veremund, den wir als Präfekten der ersten Abteilung hatten, anregen wollte. Beim Abendgebet wurden wir von ihm regelmäßig aufgefordert, gemeinsam einen ganzen Rosenkranz zu beten, wobei jeder von uns ein Gesetzerl zum Beispiel vom freudenreichen, glorreichen oder einem anderen Rosenkranz aufsagen solle, jeder für sich unter der Bettdecke. Auf diese Weise wären wir gemeinsam fromm. (Außerdem wird sich der Pater gedacht haben, mit frommen Gebeten wird man auch leichter einschlafen.) Zu den eher mittelgroßen frommen Unternehmungen gehörte die Fronleichnamsprozession, bei der wir Studenten mit anderem Volk in dem frommen Zug mit der heiligen Monstranz durch das Stift und den Ort marschierten. Diese Märsche ermüdeten zwar, aber uns schmeckte dann das Essen, und wir hatten auch unsere Unterhaltung dabei, oft mit den jungen Mädchen des Marktes. Ein anderes wichtiges frommes Unternehmen waren die soge­ nannten Exerzitien vor Ostern, die für drei Tage angesetzt waren. Diese Exerzitien waren uns sehr willkommen, denn während dieser Tage gab es keine Schule. Stattdessen hatten wir uns in Stillschweigen zu üben, sogar während der Mahlzeiten, bei denen jemand aus heiligen Büchern Passendes vorlas. Bekannte fromme geistliche Herren hielten in diesen Tagen, einer für die Unter- und einer für die Oberstufe des Gymnasiums, jeweils einige Male am Tag zur Seele gehende Vorträge. 261

Die alte Klosterschule

Dazwischen waren Stunden der Besinnung angesetzt, in denen man uns fromme Bücher zur Lektüre vorlegte. Einige von uns kümmerten sich jedoch nicht um solche tiefgehenden Bücher, sondern lasen weiterhin ihre Bücher von Karl May oder Kriminalromane. Damit dies nicht auffalle, verwendete man Umschläge heiliger Bücher. Diese drei Tage der frommen Muße, die mit einer Beichte abgeschlossen wurden, taten uns gut. Jedes Jahr freuten wir uns erneut auf die Exerzitien, die uns angenehme Entspannung vom Schulalltag schenkten. Ein frommes Großunternehmen wurde regelmäßig von Pater Albert veranstaltet: Mit Burschen der letzten Klassen pilgerte er zu Ostern nach Rom und anderen Stätten Italiens. Bereits im Herbst musste man sich zu dieser frommen Reise anmelden. Voraussetzung war, dass sämtliche Mitfahrer an einem Kurs, den Pater Albert veranstaltete, teilnahmen. Dieser Kurs, der einmal in der Woche für zwei Stunden abgehalten wurde, bezog sich auf die Denkmäler christlicher Kultur und Kunst, die wir auf dieser Fahrt sehen würden. Wir lernten, wie viele Fenster der Lateranpalast hat, welche Bilder in den Museen zu Florenz auf uns warteten und vieles mehr. Die Erlaubnis mitzufahren wurde nur dem erteilt, der bei Pater Albert über den Inhalt seines Kurses eine kleine Prüfung abgelegt hatte. Gut gerüstet fuhren wir nach Rom, nach Florenz und Assisi. Wir profitierten viel. Wir sahen die Vatikanischen Sammlungen, hatten eine Audienz bei Papst Pius XII., der in einem Sessel an uns vorbeigetragen wurde, und wir standen vor dem einfachen Kloster des heiligen Franz von Assisi. Wir besuchten benediktinische Mönche in San Anselmo in Rom, wo uns eine gute Jause kredenzt wurde, und wir verbrachten einen schönen Nachmittag in Frascati, wo wir derart dem Wein zusprachen, dass wir betrunken in der Straßenbahn nach Rom zurückfuhren. Sogar in Neapel waren wir, und in Pompeji besichtigten wir, ohne Pater, ein Bordell mit unzüchtigen Malereien. Dieses Unternehmen, das von seiner Idee her ein sehr frommes war, empfanden wir als großartig. Noch heute profitiere ich von dem, was ich bei Pater Albert erfahren habe. Wir nächtigten in Klöstern und in Kirchen. Während der Nächte in Rom verließen jedoch einige 262

Fromme Unternehmungen

kühne und rebellische Burschen, darunter war auch ich, das fromme Nachtlager, um römische Mädchen zu betrachten, ins Kino zu gehen und prickelnden Wein zu trinken. Auf diese Abenteuer kam der Pater nicht, da wir unsere Betten derart »präpariert« hatten, dass es aussah, als lägen wir noch unter der Decke. Die frommen Unternehmungen standen auch in der alten benediktinischen Tradition, die durchaus keine langweilige und asketische ist. Selbst kulturell eher uninteressierte Schüler gewannen durch diese Unternehmungen eine umfassende Bildung.

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XXIV. Die Sache mit der Sexualität

Wohl auf keinem Gebiet hat sich in den letzten Jahrzehnten in der gesamten Gesellschaft so viel verändert wie auf dem Gebiet des Umgangs mit Sexualität. Und gerade für das Kloster und den Frieden in diesem schien eine gehörige Distanz zur Sexualität wesentlich gewesen zu sein. Das offene Sprechen über alles, was mit Sexualität zu tun hatte, war verpönt. Man sprach auch nicht von Sexualität, sondern von der Fleischeslust, worunter ich mir als Schüler der ersten Klasse etwas ganz anderes vorgestellt habe. Ich dachte, diese Fleischeslust beziehe sich auf Rindund Schweinefleisch. Man sprach auch von Unzucht, auch dieser Begriff war mir zunächst nicht klar, wie ich es heute sehe, über die sexuellen Freuden des Menschen und Ähnliches haben die Patres nichts zu erzählen gewusst. Damals, ich war schon etwas älter, hörte ich jedoch zum ersten Mal den freundlichen Satz: »Der Kavalier genießt und schweigt«, ich glaube, in einem Laientheater des Klosters. Dieser Satz, denke ich heute, passte gut auch zum Leben mancher geistlicher Herren. Mir imponierte dieser Ausspruch, denn er drückte eine gewisse Souveränität aus, nämlich insofern, als derjenige, der sich in ein sexuelles Abenteuer begibt, den Standpunkt vertritt, niemandem gehe sein Abenteuer etwas an. Tatsächlich scheinen einige Patres nach diesem Prinzip gelebt zu haben. Hier und da hörte man über einen Pater, er sei ein Frauenfreund. Ob er sich wirklich in ein Verhälmis eingelassen hatte, war freilich nicht eruierbar. Immerhin schwiegen er und die anderen nobel über Derartiges. Über einen Pater wurde mir vor vielen Jahren von einer Studentin erzählt, sie habe mit ihm in Wien öfter Tennis gespielt. Ihr sei aufgefallen, mit welcher Freude er den leichtbekleideten Mädchen nachsah. Sie sprach ihn darauf an. Er soll darauf erwidert haben: 264

Die Sache mit der Sexualität

»Wenn ich schon nicht essen darf, möchte ich wenigstens die Speisekarte sehen.« Der Pater hatte Humor und Noblesse. Einige der Patres dürften tatsächlich bei Frauen der Fleischeslust verfallen sein. Schönes dazu schrieb mir mein Freund Gustav Bihlmayer: »Das andere Geschlecht war im Kloster ein besonderes Problem. Da die Mönche ja nicht als Eunuchen zur Welt gekommen sind, ist die Sexualität für sie die härteste Prüfung. Sie wollten aus uns entweder Mönche machen oder die Sexualität in geordnete Bahnen lenken. Vielleicht waren sie uns den Kontakt zum anderen Geschlecht auch neidig. Die Wahrheit liegt dazwischen. Ungefähr zwanzig Kinder aus ihrem Samen zu meiner Zeit, einige der Kinder kannte ich, zeugen aber davon, dass die Enthaltsamkeit für sie kein Problem war.« In der Klosterschule lernte ich, dass Sexualität ein Tabu sei. Man sprach einfach nicht darüber. Sogar im Naturgeschichtsunterricht hörte der Herr Professor, als er uns über den Menschen und seine Eingeweide unterrichtete, ungefähr in der Höhe des Nabels auf. Es existierte dazu ein Schaubild vom Menschen, das uns der Professor präsentierte, doch auf diesem fehlen dem Menschen die Unterleibsorgane. Daher bezeichneten wir diesen Menschen nicht als »Homo sapiens« oder ähnlich, sondern als »Homo castratus«. Der Englischprofessor umschrieb kunstvoll dieses Problem, vielleicht augenzwinkernd, indem er jemanden fragte, der das Wort »Rock« gebrauchte, ob er den Rock südlich des Nabels, also den Damenrock, meine. An seriöse sexuelle Aufklärung zu kommen war daher für uns schwierig. Meine Eltern, obwohl Ärzte, dachten, ich würde auf irgendeine Weise schon aufgeklärt werden, entweder durch die Schule oder auf der Straße. Aus der heutigen Sicht muss ich sagen, der größte Zauber lag in der Aufklärung durch Freunde und Straße. Der Pater Georg fragte mich im Beichtstuhl, ich war gerade zwölf Jahre alt, ob ich schon aufgeklärt sei. Ich wusste nicht, was er eigentlich meinte. Ich sagte auf alle Fälle: »Nein.« Darauf lud er mich zu sich in sein Zimmer ein und erzählte mir dort irgendwelche furchtbaren Sachen über die Geburt, was mich eher erschreckte. 265

Die alte Klosterschule

Andere Patres wieder, die die ganze Sexualität in verklärt-heiligem Licht sehen wollten, erklärten, dass man, wenn man sich in ein Mädchen verliebe, an die heilige Gottesmutter denken solle. In der Jungfrau Maria sahen sie ein prächtiges Beispiel für heiligmäßiges Leben in der Geschlechtlichkeit. Mir war es ein Rätsel, wie bei einem solchen Denken je Freude an der Sexualität entstehen könne. Als ähnlich langweilig wurde die Forderung empfunden, im Leben eines Mannes dürften nur zwei Frauen eine Rolle spielen: seine Mutter und die Mutter seiner Kinder. Trotz derartiger Versuche, auf die Sexualität der Burschen einzuwirken, blieb für uns das Ganze höchst geheimnisvoll und daher spannend. Ich habe mich langsam an die Geheimnisse der Dinge, die zwischen Burschen und Mädchen, zwischen Frauen und Männern Freude bereiten, herangetastet und mir dabei einen gewissen Zauber bewahrt. Dazu dienten auch die sogenannten unzüchtigen Witze. Ab den mittleren Klassen, ab der vierten oder fünften, gehörten derartige Witze geradezu zum Biertisch oder zu unseren Freizeitbelustigungen. Diese Witze verhalfen uns dazu, über dieses Thema der Sexualität Näheres zu erfahren, aber auch dazu, mit den damit verbundenen Schwierigkeiten, zu denen die Selbstbefriedigung als auch die Kontaktnahme zu Mädchen gehörten, besser und lächelnd fertig zu werden. So wurde mir erzählt, dass freche Burschen folgende wilde Strophe im trauten Kreise sangen: »Schütts die kalten Bauern [Ejakulate] über die Klostermauern.« Solche losen Strophen waren höchst hilfreich, da einige doch wegen der Selbstbefriedigung sehr an Schuldgefühlen litten. Mir erzählte ein Kommilitone, er sei gegen Ende der Fünfzigerjahre zu Pater A. in den Beichtstuhl gegangen, dort habe er ihm gebeichtet, dass er onaniert habe. Nach einiger Zeit grng er leichtsinnigerweise wieder zu diesem Pater beichten, und wiederum erzählte er ihm von seiner Sünde des Onanierens. Er erhielt zwar die Lossprechung von dieser Schuld, aber während einer Jungscharstunde, in der dieser Pater zu irgendwelchen religiösen Dingen sprach und dieser Bursch anwesend war, berichtete der Pater über diese Beichte. Er nannte zwar keinen Namen, aber der 266

Die Sache mit der Sexualität

Bursche wusste, dass er ihn meine. Der Pater erzählte, jemand habe bei ihm zweimal hintereinander gebeichtet, dass er onaniere. Darüber zeigte sich der Pater entsetzt und äußerte sich ungefähr so, dass dieser Bursche nicht besserungsfähig sei. Der Betroffene schämte sich, auch wenn niemand wusste, dass der Pater über ihn gesprochen habe. Erst vor ein paar Jahren erzählte er mir davon. Er schien noch immer darunter zu leiden. Witze, mit denen man sich über die Selbstbefriedigung lustig machte, konnten daher für die Seele des Einzelnen eine höchst positive Wirkung haben. Mir schrieb mein Vater damals, ich war in der fünften Klasse, ich solle mich täglich ordentlich mit kaltem Wasser waschen, damit ich auf keine abwegigen Ideen komme. Dem fügte er noch ein heroisches Zitat von Goethe hinzu. Im ersten Moment ärgerte ich mich über diesen Brief meines Vaters, ich sah in ihm eine Demütigung meiner Person, doch dann machte ich meine Witze darüber. Damit befreite ich mich von diesem Druck, den mein Vater in gutem Glauben um die Wichtigkeit eines solchen Briefes auf mich erzeugen wollte. Wurde es bei den Patres ruchbar, dass jemand ständig »ordinäre« Witze erzählte, musste dieser mit schweren Strafen und sogar damit rechnen, aus der Schule zu fliegen. Jede Art von Unzucht, die unter uns Schülern publik wurde, veranlasste die Patres, den oder die Übeltäter sofort aus der Schule zu entfernen. Einmal mussten ein paar Burschen sofort das Kloster verlassen, weil sie in Verdacht gekommen waren, angeblich homosexuelle Spiele in ihren Betten im Konvikt zu veranstalten. Von einem der Beteiligten wurde mir später erzählt, die ganze Angelegenheit sei eine sehr harmlose gewesen. Er, der ein ausgezeichneter Schüler war, könne nicht verstehen, deswegen aus der Schule gejagt worden zu sein. Die Patres, dies halte ich aus gutem Grund fest, waren sehr daran interessiert, sogenannte unzüchtige Dinge im Keim zu ersticken. So auch in folgender Geschichte. Ich war in der sechsten Klasse, als ein Schüler der achten an einem Vormittag nach einer Konferenz, 267

Die alte Klosterschule

die wegen ihm einberufen worden war, fristlos das Kloster verlassen musste. Dieser Bursche hatte den Präfekten gefragt, ob er in den Nachbarort Bad Hall gehen dürfe, denn er habe am Sonntag in einem Gasthaus, in dem er mit seinen Eltern gewesen sei, seine Brieftasche vergessen. Diese wolle er sich nun ab­­ holen. Der Präfekt ge­stattete es ihm. Der Herr Stu­dent tat dies und ging in Bad Hall zum Friseur und wollte bei ihm Präservative kaufen. Der FriAbb. 28: Der Reiz des weiblichen seur sagte, solche Artikel führe Geschlechts er nicht. Der Student hatte nicht gesehen, dass in einem der Friseursessel eingeseift Pater Gott­ hardt gesessen hatte. Dieser sagte auch nichts. Am nächsten Tag ließ Pater Gotthardt, der ansonsten ein ungemein gütiger Mensch war, im Gymnasium eine Konferenz einberufen, in der er die Geschichte mit dem Präservativ erzählte. Die einstimmige Meinung war, dass der verwegene, unzüchtige und verworfene Bursche sofort die Anstalt zu verlassen habe. Dies wurde ihm mitgeteilt, und schon am Nachmittag war er nicht mehr Angehöriger des Konviktes und des Gymnasiums. Ich verstand damals die ganze Angelegenheit nicht, da ich nicht wusste, was ein Präservativ ist, denn es hatte sich hinter vorgehaltener Hand bald herumgesprochen, dass der Bursche wegen eines Gegenstandes, der diese für mich geheimnisvolle Bezeichnung trug, aus unserem Umkreis entfernt werden musste, da man offensichtlich meinte, er würde Unheil über uns bringen. Ich erinnere mich, dass ich den ganzen Nachmittag herumging und diverse Leute fragte, was denn ein »Präversativ« sei, oder so ähnlich heiße die Sache. Ich erfuhr nicht 268

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viel, daher suchte ich Pater G. auf, der mich verbesserte und sagte, dieses Ding heiße nicht »Präversativ«, sondern »Präservativ«. Und dann erzählte er mir schauriges Zeug über seine Erlebnisse beim Militär, bei dem es Männer gebe, die ihre Glieder mit einem Gummi überziehen, um sich dann unzüchtig zu verhalten. Während er mir dies erzählte, legte er väterlich den Arm um meine Schulter. Ich war von dieser Erzählung eher geschockt. Bei Freunden und anderen Leuten erfuhr ich später Spannenderes zu diesem Thema. Dieser Pater G. hatte den Ruf, wie ich später erfuhr, ein Homo­ sexueller zu sein. Dazu ist festzuhalten, dass weder ich noch ein anderer, so viel ich weiß, von diesem Pater je homosexuell belästigt wurde. Auch andere Patres zu meiner Zeit standen nicht in dem Ruf, irgendjemand sexuell zu belästigen. Als ich bei Freunden und früheren Besuchern der Klosterschule meine Erkundigungen einzog, hörte ich, dass einige seltene Fälle einer homosexuellen Annäherung vorgekommen seien. Jedenfalls von einer echten homosexuellen Belästigung durch einen Pater ist mir in den acht Jahren, in denen ich die Klosterschule besucht habe, nichts bekannt geworden. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass wohl die meisten der Patres eine Abneigung gegenüber der Homosexualität hatten. Dies entsprach auch der »Regel« des heiligen Benedikt. So heißt es in der 22. Regel: »Jeder soll in einem eigenen Bett schlafen … Wenn es möglich ist, schlafen alle in einem Raum; wenn die große Zahl es nicht zulässt, ruhen sie zu zehn oder zwanzig mit ihren Älteren, die über sie wachen. Im Schlafraum brennt bis zum Morgen ständig eine Lampe. Sie schlafen bekleidet [!] und gegürtet mit Gürtel oder Strick … Die jüngeren Brüder haben ihre Betten nicht nebeneinander, sondern zwischen [!] den Älteren.« Der heilige Benedikt achtete also sehr darauf, dass Homosexualität gar nicht aufkommen konnte. Darauf deutet hin, dass bis zum Morgen im Schlafraum das Licht brennen, man sich bekleidet zu Bette begeben und der jüngere Pater nicht neben einem Gleichaltrigen liegen sollte, wohl um auf keine homosexuellen Ideen zu kommen. Die Patres schlafen zwar schon lange nicht mehr gemeinsam in großen Räumen wie wir Studenten, aber dennoch blieb die Verurteilung der Homosexuali269

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tät, die sich ebendarin zeigte, dass Burschen, denen homosexuelle Taten nachgewiesen werden konnten, aus der Klosterschule entfernt wurden. Uns interessierte Homosexualität nicht. Wir Burschen im Konvikt waren vielmehr angezogen vom weiblichen Geschlecht. Um dieses näher zu studieren und uns an weiblichen leicht bekleideten Schönheiten zu erfreuen, kauften wir uns ab und zu diverse Illustrierte, in denen zum Beispiel Brigitte Bardot im Badekostüm gesehen werden konnte. Aufregend war zum Beispiel das »Wiener Magazin«, in dem Mädchen in äußerst verführerischen Positionen abgebildet waren. Hefte dieser Art waren uns streng verboten, wir durften sie nicht betrachten. Um im Konvikt oder in der Schule nicht mit dem Heft erwischt zu werden, versteckten wir sie bei einem Freund im Markt. Ich holte mir mein Heft und marschierte als kleiner Rebell in den Wald, um es genussvoll zu examinieren. Einmal hörten wir, beim Friseur im Markt liege eine Illustrierte auf, in der es ein Bild gebe, das einige Frauen mit nackten Brüsten zeige. Darauf marschierten wir zum Friseur und erfreuten uns an dem Bild, auf dem die halbnackten Damen nur sehr klein zu sehen waren. Für uns war es ein großes Erlebnis, derartige im Kloster verpönte Darstellungen vor Augen gehabt zu haben. Einmal erwischte der Konviktsdirektor einen von uns dabei, wie er eine der deutschen Illustrierten, ich glaube, es war der »Stern«, las, und wurde ob deren Unzüchtigkeit wild. Die leicht bekleideten Damen darin hielt er für verwerflich. Er beschimpfte uns, meinte, diese »Weiber« in den Heften wären »unkeusch«, wir sollten »uns lieber unsere Mütter ansehen«. Er wollte damit offensichtlich ausdrücken, dass unsere Mütter gegenüber diesen abgebildeten »unkeuschen« Mädchen anständige Frauen wären. Manche wollten ihn boshaft missverstehen, als ob er gemeint habe, dass unsere Mütter schöner wären. Wir lachten darüber. Interessant waren auch Bücher mit schlüpfrigen Stellen, in denen wir über die Lust der Mädchen etwas lesen konnten. In dieser Richtung faszinierte uns die Schriftstellerin Francoise Sagan, die für damalige Verhältnisse tollkühne Außerungen über Sexualität wagte, aber natür270

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lich auch Hemingway, der in seinem großen Werk »Wem die Stunde schlägt« schildert, wie die männliche Hauptfigur mit einem Mädchen gemeinsam in einem Schlafsack liegt und dabei über ihre Brüste streicht, die »wie Brunnen aus einer Ebene herausragen«, wie es ungefähr heißt. Beliebt waren bei uns auch Filme, z. B. jene mit Brigitte Bardot, die Jugendverbot hatten und die wir daher meist in den Ferien sahen. Wir erhofften uns dabei Einblicke in die Geheimnisse weiblicher Schönheiten. Aus heutiger Sicht war es sehr zahm, was wir damals schon als aufregend empfunden haben. Nackte Frauen zu sehen blieb für die meisten unerfüllbarer Wunschtraum. Ein Bursche aus einer der unteren Klassen, der im Ort wohnte und oft gegen Abend vom Gymnasium über einen kleinen mit Bäumen bewachsenen Hang in den Ort marschierte, hatte ein aufregendes Erlebnis. Bei seinem Marsch kam er am Haus des Turnprofessors vorbei. Wie er wieder einmal an diesem vorbeischlich, erspähte er durch ein Fenster ohne Vorhang die nackte Frau des Professors, die sich gerade badete. Dieser Anblick dürfte ihn derart erfreut haben, dass er nun öfter die Gelegenheit nutzte, um dieser Frau beim Baden zuzusehen. Irgendwann kam ihm der Turnprofessor auf die Schliche. Der Bursche musste die Schule wegen seiner Unzüchtigkeit sofort verlassen. Ich selbst wagte mit fünfzehn Jahren ein besonders kühnes Abenteuer, um einmal in einem Wiener Nachtlokal Stripteasetänzerinnen, von denen ich schon viel gehört hatte, zu erleben. Die Allerheiligenferien standen bevor, als ich auf die Idee kam, diesmal nicht zu den Eltern zu fahren, sondern mich per Autostopp nach Wien aufzumachen, wo mein um ein Jahr älterer Cousin mich erwartete. Meine Eltern ließ ich wissen, dass ich nach Linz zu einer Tagung der Katholischen Jugend fahren würde. Sie erlaubten mir dies. Um sie in gutem Glauben zu wiegen, bat ich einen Freund, der in den Ferien nach Linz fuhr, dort eine Karte von mir an meine Eltern aufzugeben. Auf dieser Karte war zu lesen, wie gut es mir bei der katholischen Tagung gefalle. Tatsächlich war ich jedoch in Wien gelandet. Nicht allein, denn drei Freunde begleiteten mich. Sie schlossen sich mir und meinem 271

Die alte Klosterschule

Cousin an. Dieser führte uns in ein Nachtlokal, in dem wir sicherlich die jüngsten Besucher waren. Wir ließen uns Sekt kommen, mein Cousin hatte Geld, ich glaube, er schmuggelte, und er zahlte für uns. Das Programm war großartig. Schöne Frauen hüpften vollkommen nackt vor uns über die Bühne. Eine kam sogar zu uns an den Tisch. Offensichtlich gefiel ihr, dass junge Burschen sich in diesem Lokal aufhielten. Wie erlebten eine höchst vergnügliche unzüchtige Nacht weitab der Klosterschule. Meine Eltern kamen leider dahinter, dass ich anstelle der frommen Tagung in Linz in Wien ein Nachtlokal besucht hatte. Meine Tante hatte mich verraten. Der Vater strafte mich mit furchtbaren Ohrfeigen. Ich nahm die Schläge in Gedanken an das einmalige Erlebnis in der Bar gerne hin. (Es war auch etwas Rebellisches dabei.) Wir jungen Burschen der Klosterschule litten viel in Sachen Sexualität, aber wie jedes Heranwachsen hatte auch das unsere seinen Zauber, als wir uns an die Geheimnisse, die mit der Geschlechtlichkeit des Menschen verbunden sind, allmählich herantasteten. Die unzüchtigen Witze mögen dabei geholfen haben.

Die Mädchen Der Umgang mit Mädchen war den Klosterschülern strengstens verboten. Eine besondere Faszination genossen daher die hübschen Schwestern der Freunde, wenn sie bei Besuchen mit den Eltern im Konvikt aufkreuzten. Dabei flogen freundliche Blicke, und den Mädchen gefiel es, wenn die Burschen ihnen bewundernd nachschauten. Ansonsten war es für die Klosterschüler ungemein schwierig, mit Mädchen in Kontakt zu kommen. Tanzkurse, an denen sie teilnehmen hätten können, gab es für sie noch nicht. Diese wurden erst ab Mitte der Sechzigerjahre üblich, allerdings nur unter Begleitung eines Paters in der nahen Landeshauptstadt Linz. Die Einführung der Tanzkurse deutet bereits auf Wandel und Ende der alten Kultur der Klosterschule hin. 272

Die Sache mit der Sexualität

Tanzkurse und ähnliche Vergnügungen, bei denen man Mädchen hätte treffen können, gehörten also nicht zum Leben der Burschen in der Klosterschule. Die Klosterschüler mussten sich daher oft komplizierter Strategien bedienen, um ungesehen von den Patres sich mit hübschen Mädchen des Ortes einzulassen. Es waren echte rebellische und gefährliche Abenteuer, die manche kühne Burschen dabei vollführten. Ich will nun einige Erlebnisse mit Mädchen, die ich während meiner Zeit als Klosterschüler hatte, wiedergeben. Ich tue dies nicht, um mit amourösen Abenteuern zu glänzen, vielmehr möchte ich zeigen, wie harmlos, aber doch höchst reizvoll diese Abenteuer eigentlich gewesen sind und welche Freuden für den Klosterschüler mit ihnen verbunden waren. Lediglich in den Ferien fernab des Klosters ergaben sich für den heranreifenden Klosterschüler echte Gelegenheiten, sich mit Mädchen zu treffen und sie vielleicht sogar zu küssen. Ich lernte im Alter von fünfzehn Jahren auf einer Skihütte ein Mädchen aus Wels kennen, dem ich im Laufe eines Hüttenspiels einen zarten Kuss gab, von dem ich noch länger träumte. Leider hörte ich von ihr nichts mehr. Ich glaube, ich habe ihr noch einen Brief geschrieben. Mit siebzehn hatte ich während der großen Ferien das Glück, im Gebirge eine hübsche und liebenswürdige, damals sechzehnjährige Wienerin kennenzulernen. Ich verliebte mich sehr in sie. Mit ihr und ihren Geschwistern ging ich schwimmen und wagte sogar, sie zu küssen. Dadurch beeindruckt, beschloss ich, ihr Briefe zu schreiben. Ich erhielt auch einige von ihr, über die ich mich unsäglich freute. Sie bedeuteten eine schöne Abwechslung im Trott des Klosteralltags. Damit der Präfekt nicht dahinterkomme, wer mir da aus Wien schreibt, bat ich das Mädchen, als Absender nicht Lieselotte Maca, so hieß sie, zu schreiben, sondern Leo Maca. So erregten die harmlosen Liebesbriefe keinen Anstoß. Ein besonderer Spezialist in unserer Klasse im Schreiben von Liebesbriefen war ein gewisser Franz Th., der mit Begeisterung seinen Freundinnen regelmäßig auf schönem Papier schrieb. Auch 273

Die alte Klosterschule

sonst war Franz, ein sehr gepflegter junger Mann, ein Freund der Damen. Einige hübsche Mädchen im Ort wurden aus der Ferne innig verehrt. Man sprach von ihnen in den höchsten Tönen, obwohl man keinen direkten Kontakt zu ihnen hatte. Hie und da gelang es doch einem Kameraden, ein freundliches Mädchen zu treffen und mit ihr spazieren zu gehen. Bereits das galt als rebellische Heldentat. Aber auch die Mädchen im Ort hatten Augen für die Studenten, von denen manche vielleicht interessanter gewesen sein mögen als die Burschen im Markt. Ich empfand es als echte Heldentat, als ich in der achten Klasse während der Faschingszeit an einem Ball im Markt teilnahm. Darüber habe ich oben zwar schon etwas erzählt, ich möchte aber noch einmal darauf hinweisen. Ich war über das Gitter im Gang des Konviktes gestiegen und hatte mich entlang der Stiftsmauer heimlich hinunter in den Markt geschlichen. Bei diesem Ball im Gasthof »Zur Sonne«, es war der Ball der »Liedertafel«, wurde ich von einem ausnehmend hübschen Mädchen zum Tanz aufgefordert. Ich war sehr erfreut. Dem Mädchen, Christl Lechner hieß sie, dürfte imponiert haben, dass ich als Klosterschüler es gewagt hatte, hier zu erscheinen. Obwohl ich nicht tanzen konnte, drehte ich mich mit ihr im Kreise. Dann trank ich mit ihr Wein. Dabei warf ich durch eine ungeschickte Armbewegung ein Weinglas um. Der Wein ergoss sich über ihr schönes weißes Kleid, was das freundliche Mädchen nicht sehr erfreut haben dürfte. Ich habe sie während der nächsten Tage und Wochen im Geschäft ihres Vaters noch öfter aufgesucht und mit ihr gescherzt. Einmal traf ich sie im Markt und tratschte mit ihr. Sie war mir höchst sympathisch. Ein Professor sah mein verwegenes Handeln und schilderte dieses dem Konviktsdirektor. Dieser schrieb deswegen meinem Vater einen Brief, in dem er anprangerte, ich würde mich mit Mädchen treffen und ich müsse damit rechnen, die Klosterschule noch vor der Matura verlassen zu müssen. Nur dank der Fürsprache meines Vaters flog ich nicht aus der Schule. Noch ein anderes Mädchen lernte ich in dieser Zeit kennen. Sie war eine fesche Bauerntochter von einem großen Hof in der Umgebung 274

Die Sache mit der Sexualität

des Klosters. Mir war sie beim Gang zur Kirche am Sonntagvormittag im Stiftshof aufgefallen. Wir betrachteten damals mit Begeisterung die Mädchen, die am Sonntag zur Kirche gingen, denn unter ihnen befanden sich viele auch sehr hübsch herausgeputzte. An einem Sonntag sprach ich dieses Bauernmädchen, Leopoldine hieß sie, einfach an. Sie war nicht abgeneigt, mich zu treffen. So vereinbarten wir, ich solle sie zu Hause abholen. Das tat ich auch. Als mich die Bauernburschen erblickten, belustigten sie sich, ein »Schulerbub« würde das Mädchen abholen. Wir wanderten miteinander durch einen Wald, vergnügten uns fast harmlos in einem Heustadel, und nachdem ich sie nach Hause begleitet hatte, gab sie mir eine Flasche mit hervorragendem Most mit. Dieses köstliche Getränk teilte ich mit meinen Freunden. Diese Ausflüge, die ich sehr geheim hielt, wiederholten sich, und jedes Mal erhielt ich guten Most. Unser Physikprofessor hatte mir im Abschlusszeugnis der achten Klasse aus eher persönlichen Gründen in Physik ein »Nicht genügend« verabreicht. Ich war der einzige der Klasse, der nicht zur Matura antreten durfte. Meine Freunde aus der Klasse legten ihre Prüfungen ab und feierten ihren Abschied von der Klosterschule. Ich hatte noch bis zum Herbst zu warten. Etwas getröstet hat mich damals das freundliche Bauernmädchen mit ihrem Most. Aber noch ein anderes Mädchen hatte es mir angetan. An dieses denke ich mit besonderer Hochachtung. Ich musste also im Herbst, nachdem ich die Nachprüfung in Physik bestanden hatte, alleine maturieren. Zuerst absolvierte ich die viertägige schriftliche Matura. Ich durfte während dieser Zeit in der Krankenabteilung des Konviktes übernachten. Dabei lernte ich das Küchenmädchen Irmgard kennen, denn die Konviktsküche war unterhalb der Krankenabteilung. Dieses liebenswürdige Mädchen, welches auch bei meinem Latein- und Griechischprofessor täglich aufzuräumen hatte, versuchte, auf dessen Schreibtisch Hinweise auf meine Maturastellen zu finden. Sie fand auch einen griechischen Text, dessen erste Zeilen sie mit ungelenker Hand abschrieb. Ich konnte zwar damit nichts anfangen, aber ich war ungemein angetan von der Freundlichkeit dieses Mädchens. In der 275

Die alte Klosterschule

Dunkelheit ging ich mit ihr auf einer Wiese, dem sogenannten Windfeld, nicht weit vom Stift, spazieren. Irgendwann küsste sie mich und ich betastete freudig ihre nackte, große Brust. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine solche Brust in der Hand hielt. Dabei blieb es aber, und ich dachte mir, dass dieses schöne Erlebnis mich für die Niedertracht des Physikers bestens entschädige. Irmgard war mir höchst sympathisch. Leider habe ich sie nie wiedergesehen. (Ich würde viel dafür geben, sie wieder zu treffen.) Also auch für den Klosterschüler waren Mädchen wichtig, allerdings war es mit Abenteuer verbunden, sie zu treffen. Ein Radiomann in meinem Alter, der auch eine Klosterschule besucht hatte, meinte einmal, die Burschen im Kloster hätten damals eher abfällig über die Mädchen gesprochen, um sich selbst herauszustreichen. Dem kann ich für mich und meine Freunde nicht zustimmen, es sei denn, man betrachtet Bezeichnungen wie »fesche Katz« oder »klasse Henn« als abwertend. Dies hatten wir aber dabei nicht im Sinn. Allerdings mag mancher, der nicht den Mut aufgebracht hatte, ein Mädchen anzusprechen, nach dem klassischen Muster »Der Fuchs und die Trauben«, abfällig über das gesprochen haben, was ihm nicht erreichbar schien. Trafen sich jedoch Burschen mit Mädchen und wurden sie dabei erwischt, so konnte dies zu erheblichen Komplikationen führen. Ich sprach darüber mit einer liebenswürdigen Dame, die dereinst in den Sechzigerjahren in Liebeshändel mit einem Studenten verstrickt gewesen war. Sie berichtete: »Ich war damals vierzehn Jahre alt, dünn und klein. Und habe mich in einen Studenten von der fünften Klasse verliebt, er war fünfzehn. Es war nichts dahinter. Ab und zu haben wir uns im Markt getroffen. Ich war ganz schrecklich verliebt. Die Patres oben im Stift haben davon erfahren, dass wir uns getroffen haben. Mit Guckern haben sie in den Markt geschaut. Die haben ja alles gewusst. Sie haben auch gewusst, ob die Burschen im Freibad bei uns liegen und sich mit uns unterhalten. So haben sie auch gesehen, dass dieser Wolfgang sich mit mir trifft, zum Beispiel beim Geschäft Herwerthner, das war ganz harmlos. Eines Tages, ich war in der vierten Klasse der 276

Die Sache mit der Sexualität

Hauptschule, holt mich die Frau Fachlehrer und sagt mir, es sei bekannt, dass ich mich immer mit einem Studenten im Markt treffe. Darauf war ich total eingeschüchtert. Wir haben diese Frau Fachlehrer gefürchtet. Sie hat mir nun mitgeteilt, der Herr Konviktsdirektor Pater Reinhard habe sie angerufen und ihr mitgeteilt, dass ich mich im Markt immer mit einem Studenten treffe. Sie meinte, wenn ich ehrlich sei, ihr den Namen des Studenten nenne, sie wisse ihn ohnehin, dann würde mir nichts passieren. Es komme ganz auf meine Ehrlichkeit an. Ich habe herumgedrückt, und dann hat sie mir doch den Namen herausgelockt. Der ist dann sofort aus der Schule geflogen. Sie hat mich hineingelegt, denn den Namen des Burschen haben sie nicht gewusst. Das war 1966. Er hat dann in einer anderen Schule maturiert. Wie ich dann achtzehn war, ist er nach Kremsmünster gekommen, um mich zu besuchen. Er hat mich angerufen und gesagt, dass er im Kaffeehaus Schlair auf mich warte, ob ich nicht kommen wolle. Ich war dann von ihm etwas enttäuscht, denn irgendwie hatte ich ihn ganz anders in Erinnerung.« Die Patres duldeten noch in den Sechzigerjahren nicht, dass Mädchen des Marktes mit den Studenten freundschaftliche Kontakte pflegten. Um hinter die geheimen Schliche der Burschen und Mädchen zu kommen, griffen die Patres zu allerhand Strategien, wie, wenn man der Erzählung der freundlichen Dame glauben darf, zur heimlichen Beobachtung durch Ferngläser. Ihre Erzählung wird auch von anderer Seite bestätigt. Zum Beispiel habe einer der Patres von der Sternwarte aus mit deren Fernrohren die wagemutigen Umtriebe der Studenten im Umfeld des Klosters erforscht. Dies ist nur ein Gerücht, aber es klingt plausibel, dass gewisse Patres Freude daran hatten, mit Fernrohren vom über dem Markt gelegenen Stift aus ihre Blicke durch die Gegend lustvoll schweifen zu lassen. Die Studenten mussten sich also einiges einfallen lassen, um mit den Mädchen nicht erwischt zu werden. Wenn Patres von Mädchen bekannt war, dass sie ein offenes Herz für Studenten hatten, konnte es sogar sein, dass man auf diese Mädchen einzuwirken versuchte, um die Unschuld der Burschen zu sichern. 277

Die alte Klosterschule

Dazu passt die weitere Erzählung der freundlichen Dame: »Wir Mädchen hatten uns damals mit den Burschen aus der fünften und der sechsten Klasse des Gymnasiums getroffen. Der Pater N. hat das mitbekommen. Er hat daher uns Mädchen, wir waren fünf, zu sich zitiert. Wir mussten unterschreiben, dass wir die Studenten in Ruhe lassen. Wir hatten die Studenten eigentlich immer nur kurz getroffen, von halb eins bis eins zum Beispiel, oder am Donnerstag und am Sonntag von zwei bis vier Uhr. Oft haben wir uns im Kino getroffen.« Die Beziehungen zwischen den Burschen in der Klosterschule und den Mädchen hatten etwas von einer Rebellion gegen die strengen Gebote des Klosters an sich und hatten gerade, weil sie verboten waren, ihre Faszination. Jedenfalls sei den Mädchen im Markt, die sich auf das Abenteuer mit rebellischen Studenten eingelassen haben, hier in Hochachtung gedacht und freundlich gedankt.

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XXV. Schulschluss: das Hinausblasen – die Promulgation

Das Ende des Schuljahres wurde ebenso rituell gefeiert wie sein Beginn. Diese Feiern waren aber um einiges pompöser. Nach der Zeugnisverteilung, alle Schüler waren im Sonntagsgewand erschienen, ging es zur Kirche, die Patres hatten wieder ihre dunklen noblen Umhänge an, und auf ihren Köpfen prangten die Zylinder. Auch die Eltern nahmen an dieser Feier des Schulschlusses teil. Sie freuten oder ärgerten sich über ihre Söhne, je nach der Qualität der Zeugnisse. Die Krönung war die große Feier im Kaisersaal, die als Promulgation bezeichnet wurde. In einer langen Sitzreihe hatten die Patres, voran der Abt, Platz genommen. Hinter ihnen drängten sich Eltern und Schüler. An der Breitseite des prächtigen Saales standen die Musiker mit ihren Pauken und Trompeten. Die Feier wurde durch Rezitationen aus lateinischen, griechischen und mittelhochdeutschen Texten durch brave und begabte Schüler begonnen. Dann kam es zum festlichen Akt, zum sogenannten Hinausblasen, bei dem die je vier Besten der ersten vier Klassen zeremoniell aufgerufen und belohnt wurden. Dieses Ritual spielte sich so ab, dass zuerst die Besten der ersten Klasse, mit dem Vierten als ersten, dann die der zweiten Klasse und so fort, unter gewaltigem Trompeten und Paukenklang einzeln und unter Verbeugungen zum Abt gingen, der jedem von ihnen ein Buchgeschenk überreichte. Hatte der öffentlich Ausgezeichnete sein Buch, marschierte er, ebenso unter Musikbegleitung, den Weg zurück, sich wieder einige Male verbeugend. Bei den Viertbesten der Klasse erreichten Pauken und Trompeten noch keine besondere Höhe, sie wurden erst voll eingesetzt, wenn sich der Primus der Klasse stolz zum Abt bewegte. Für die Zuseher war es ein beeindruckendes Ereignis, das sich hier vor ihren Augen abspielte. Die Eltern der »Hinausgeblasenen« waren mächtig stolz auf ihre Söhne. Meine Eltern hatten 279

Die alte Klosterschule

leider nie die Möglichkeit, mich oder meinen Bruder als »hinausgeblasen« und vom Abt belobigt zu erleben. Aber sie erlebten jedes Jahr, wenn sie uns zu den Ferien abholten, dieses barocke Schauspiel der Auszeichnung braver Klosterschüler. Auch das war ein Genuss.

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XXVI. Die Matura – der Pflanzsonntag und das Valet

Beendet wurde das Leben in der Klosterschule durch die sogenannte Matura, die Reifeprüfung (in Deutschland Abitur). Es sei denn, der Schüler war schon zuvor aus oben bereits erwähnten Gründen aus der Schule entfernt, also hinausgeworfen worden, oder war in eigener Initiative der Anstalt entflohen. Hatte der Schüler die acht Klassen mit positivem Erfolg abgeschlos­ sen, konnte er zur Matura antreten. Die Matura bestand aus zwei Teilen: aus der schriftlichen und der mündlichen. In Übereinstimmung mit dem Landesschulrat wurde die schriftliche Matura meist auf einen Termin gegen Ende Mai festgelegt. Die mündliche Matura war dann vier Wochen später. Am Sonntag vor der schriftlichen Matura kam es in der Klosterschule zu einem spannenden Ritual, bei dem die Maturanten sich von der Bevölkerung des Ortes verabschiedeten. Man nannte diesen Tag den »Pflanzsonntag«. Das Wort »Pflanz« mag daher rühren, dass die Studenten der Öffentlichkeit sich heiter präsentierten, sich also auf»pflanzten«. Der Pflanzsonntag begann damit, dass die Maturanten sich mit dem Maturaanzug bekleideten, einem schwarzen Anzug, den sie extra für den Abschied von der Klosterschule sich anfertigen ließen oder kauften. Als Kopfbedeckung trugen sie einen Zylinder, den sie entweder selbst aus Familienbeständen, wie ich, hatten, oder den sie sich ausborgten. So angetan fuhren sie im Pferdewagen, begleitet von der Studentenkapelle und den Burschen der unteren Klassen, in den Markt. Unten am Markt hielten die Burschen Reden, wobei sie sich über ihre Lehrer im Kloster und Leute aus der Bevölkerung belustigten. Für die Menschen im Markt, aber auch für die Eltern der Maturanten, war dieser Pflanzsonntag ein schönes Erlebnis. 281

Die alte Klosterschule

Gerne hörten sie den Studenten zu und applaudierten ihnen. Spannend berichtet Erwin Starl über den Pflanzsonntag, wie er ihn 1967 erlebt hat: »Wir sind damals 1967 am Pflanzsonntag noch mit Rössern gefahren. Diese hat mein Vater organisiert. Das Fuhrwerk be­­ stand aus einem langen Holzbloch, auf dem die Maturanten gesessen sind. Wir von der Musikkapelle sind nicht oben gesessen. Das war damals das Ende des Pferdezeitalters. Wir sind noch mit echten Arbeitsrössern gefahren. Für mich war der Pflanzsonntag ein richtiges Ventil. Bei der Rede unten im Abb. 29: Am Pflanzsonntag – Markt hat jeder sein Scherflein am Tag vor der Matura, 1959 beigetragen. Alle Leute des Ortes mochten uns. Wir haben alle verarscht. Wir haben uns nicht um die Contenance, wie man es schön sagt, geschissen. Jeder hatte Redefreiheit. Belustigt haben wir uns über die Patres, denn die hatten uns von der ersten bis zur achten Klasse viel angetan. Man wollte uns ja nicht. Und jetzt durften alle von uns zur Matura antreten. Die ganze Klasse war vereint. Wir haben uns an diesem Tag angesoffen, und am nächsten Tag machten wir dann die Deutschmatura.« Am Pflanzsonntag ging es also lustig zu. Man nahm rituell Abschied von der Zeit als Schüler. Bald würde man »maturus«, reif, sein. Das Ritual des Pflanzsonntags bedeutete, dass man demnächst ein anderer sein werde, kein Schüler mehr, sondern jemand, der eine neue Freiheit errungen hat. Mit Bier wurde dies an diesem Tag kräftig unterstrichen. 282

Die Matura – der Pflanzsonntag und das Valet

Während der vier Tage der schriftlichen Matura, die in Latein, Griechisch, Deutsch und Mathematik abgelegt wurde, fühlten sich die Herren Studenten schon freier. An den Vormittagen schrieben sie im Gymnasium an ihren Maturaarbeiten, und an den Nachmittagen genossen sie, der rebellische Funken glühte noch, ein freies heiteres Leben. Manche Maturaklassen saßen in der Schank, ließen sich das Bier schmecken und sangen am Wassergraben sitzend, wie ich schon erzählt habe, alte heitere und rebellische Studentenlieder, wie »Ein Heller und ein Batzen« oder »Im Krug zum grünen Kranze«. Sie demons­ trierten den vorbeigehenden Studenten, dass sie das Gymnasium hinter sich gebracht hatten und nun junge Herren waren, die dem Zwang des Klosters demnächst gänzlich entzogen sein würden. Sie fühlten sich schon in Freiheit und sangen drauflos, was ihnen sonst im klösterlichen Alltag untersagt war. Erwin Starl erzählt ähnlich, dass er und seine Freunde nach der schriftlichen Matura ein geradezu wildes Leben führten: »Am Montag, nach der Deutschmatura, sind wir mit Mopeds zu uns in unser Gasthaus in Wimsbach gefahren, um dort zu tschechern [saufen]. Vier Mopeds hatten wir illegal schon vorher hierher geschafft, mit einem VW Bus. Nun ließ ich sie herbringen. Da war die Rebellion perfekt. Wir haben uns gesagt, wir bleiben nicht hier, wir müssen nach der schriftlichen Maturaarbeit hinaus. Man kommt ja sonst nie hinaus. Eine Fahrt nach Bad Hall war für uns damals schon so etwas wie heute ein Flug nach Bali. Zu viert sind wir mit den illegal eingeschleusten Mopeds gleich nach der Deutschmatura hinüber nach Wimsbach gefahren. Dort haben wir bei uns ordentlich gegessen und getrunken. Das war eine harte Aktion. Wir waren gefestigt. Wir haben uns gesagt, ihr, die Patres, ihr könnt uns nicht mehr aus der Fassung bringen.« Die Tage nach der schriftlichen Matura waren für manche mit der quälenden Frage verbunden, ob die Maturaarbeiten positiv benotet würden. Eine ungenügende Arbeit bedeutete, dass, wenn man den betreffenden Gegenstand, zum Beispiel Griechisch, nicht ohnehin als Prüfungsfach für die mündliche Matura angegeben hatte, in diesem zusätzlich geprüft würde. Die Ablegung der mündlichen Matura war 283

Die alte Klosterschule

Abb. 30: Am Pflanzsonntag, 1959

ein feierliches Ritual, zu dem die Maturanten im schwarzen Anzug erschienen. Bestanden alle Burschen die Matura, wehte als Zeichen dafür auf der Sternwarte die weiße Fahne. Und schließlich wurde der Tag der Matura mit einem Festessen, dem sogenannten »Valet«, in einem Gasthaus des Ortes abgeschlossen. Zu diesem marschierten die Maturanten mit Zylinder und einer weißen Nelke im Knopfloch, angeführt von der Musikkapelle und gefolgt von den jüngeren Studenten. Zu diesem Valet waren einige Professoren eingeladen. Reden wurden geschwungen. Man hörte, wie viel man gelernt habe, man werde dem Kloster die Treue halten und ähnliche weihevolle Worte. Und dann wurde getafelt. Betrunken kehrten die nun für reif Erklär­ ten in das Konvikt zurück. Der Wirbel, den sie bisweilen verursachten und an dem sich die jüngeren Studenten belustigten, war groß. In früheren Zeiten führten die Maturanten in dieser Nacht des Valets sogenannte Maturastreiche durch. Ich erinnere mich, dass, als ich in der zweiten Klasse war, kühne Burschen der Maturaklasse das 284

Die Matura – der Pflanzsonntag und das Valet

Abb. 31: Der Pflanzsonntag, 1962

Stiftsauto, in dem der Abt durch die Gegend kutschiert wurde, auf irgendeine schwer erreichbare Stelle hievten. Der Ärger soll groß gewesen sein. Einige lachten. Mit diesem Valet, von dem einige meinen, es wäre ein gemeinsames Besäufnis gewesen, verabschiedeten sich die nun reifen Schüler des Gymnasiums von einer Welt, in der sie acht Jahre hart zu leben und zu lernen gehabt hatten, in der aber auch viele zu Rebellen geworden waren.

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XXVII. Rachegelüste und Aussöhnung

Es war nicht immer leicht, erlittene Demütigungen durch Patres hinzunehmen. Es blieb uns aber nichts anderes übrig! Wir trösteten uns durch die Jahre mit dem Gedanken, uns nach der Matura an jenen, die uns Übles wollten, rächen zu können. So erinnere ich mich, wie einige meiner Klasse den Plan ausheckten, nach der Matura ihren nackten Hinterteil fotografieren zu lassen und die Fotos davon mit einem bösen Spruch einem Pater A., der nicht immer freundlich zu uns gewesen war, zu schicken. Als Racheaktion wurde, allerdings nicht ganz zu Recht, das Verfassen einer sogenannten »Maturazeitung« in meiner Klasse von den Patres ausgelegt. In dieser Schrift, die nach der Matura gegen gutes Geld den Schülern des Gymnasiums verkauft wurde, waren die Professoren in belustigender Weise dargestellt worden. Es war zu lesen, dass einer der Patres »vor Morgengrauen« bereits »eine Fahne« habe, ein anderer »ein alter Rabe« sei, ein anderer wieder »viel Blödsinn« rede usw. Die Herren Patres waren jedenfalls darob entsetzt und verboten den Verkauf dieser Zeitung, die inzwischen zum Bestseller im Gymnasium geworden war. Es sei hier festgehalten, dass diese »Zeitung« nicht als Racheakt gedacht war, sondern eher als eine heiter-rebellische Auseinandersetzung mit einer Zeit, in der wir es nicht immer leicht hatten. Die meisten, die vor der Matura Rachegelüste gehegt hatten, hatten diese nach bestandener Matura schnell vergessen, genossen die neue Frei­heit und neigten ab nun dazu, die vergangene Welt der Klosterschule geradezu zu preisen. Aber es gab doch einige, die ihren Ärger über ­Patres, unter denen sie gelitten haben, nicht wegstecken konnten und wollten. Zu diesen gehörten um 1960 ein paar Burschen, die ihren Zorn gegenüber dem Naturgeschichtsprofessor dadurch Ausdruck verliehen, dass sie diesem nach der Matura vor die Türe urinierten. Einer der Täter meinte dazu: »Das war sehr befreiend.« 286

Rachegelüste und Aussöhnung

Befreiend dürfte es auch Erwin Starl empfunden haben, der bereits vor der Matura einem Pater seinen Ärger deutlich gezeigt hatte. Er erzählte: »Der Pater K. hat mir schon in der sechsten Klasse gesagt, dass ich in Deutsch bei der Matura durchfallen würde. Damals hat er gesagt, er prüft uns nicht nach Weihnachten. Er hat aber trotzdem geprüft. Und wie er zu mir gesagt hat: ›Kommen Sie heraus‹, habe ich mir gedacht: ›Leck mich am Arsch.‹ Ich habe ihm darauf den nassen Schwamm über dem Kopf ausgedrückt. Der Pater hat nun furchtbar geschrien: ›lch lasse Sie durchfallen!‹ Ich habe mir gedacht:›Leck mich.› Den Smejkal wollte er auch prüfen, aber den habe ich beim Hals gepackt und ihm gesagt: ›Du gehst auch nicht hinaus.‹ Der Pater hat geschimpft. Ich habe gesagt: ›lst auch recht.‹ Bei der Deutschmatura hat er mir wirklich ein ›Nicht genügend‹ gegeben, obwohl ich einen Vierer verdient hätte. Es wäre schon so weit gekommen, dass wir wegen der Sache in Wien beim Ministerium gelandet wären. Ich bin mir sicher, der Pater K. hat Sätze verändert, durch Beistriche und so weiter, damit ich nicht durchkomme. Das war eine Sauerei von ihm.« Und nach der Matura beim Valet, beim Abschiedsfest, kam Starl in der Veranda der Schank neben Pater K., seinem Erzfeind, zu sitzen. Starl lud ihn schließlich ein, mit ihm alleine sich an einen Tisch in der Schank zu begeben, er wolle mit ihm reden. Pater K. willigte ein. Die beiden sprachen miteinander. Starl achtete darauf, dass Pater K. ordentlich trinke und einige Torten esse. Schlussendlich gingen sie freundschaftlich und versöhnt auseinander. Auch ich hatte zunächst die Absicht, mich bei Pater Ansgar wegen der Nachprüfung, die er mir in Physik verpasst hatte, zu rächen, denn immerhin musste ich den Sommer hindurch lernen, während meine Freunde die Monate nach der Matura, die angeblich die schönsten des Lebens sind, auskosteten. Lange sann ich noch nach irgendwelchen Aktionen, mit denen ich den Pater hätte ärgern können. Doch ich ließ es und dachte, dass er mir immerhin ungewollt das Erlebnis mit dem Küchenmädchen beschert hatte. 287

Die alte Klosterschule

Die Matura empfanden schließlich alle als ein Hinaustreten aus einer Welt der Strenge. Und man war froh darüber und auch stolz, Schweres hinter sich gebracht zu haben. Echte Rache, wegen angeblicher Bosheiten der Patres, hatte nun eigentlich keinen Platz mehr. Der Abschied von der Klosterschule war schließlich ein versöhnlicher und heiterer.

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XXVIII. Gescheitert oder erfolgreich?

Wir haben viel gelitten in der Klosterschule, aber wir haben auch gelernt, nicht zu verzagen. Daher wäre auch kaum jemand von uns auf die Idee des Selbstmordes gekommen, von dem manche meinen, er wäre bei solchen Erziehungsmethoden, wie ich sie erlebt habe, verständlich. Mir ist nicht bekannt, dass jemand sich ernstlich mit einem solchen Gedanken getragen hätte. Und ich glaube auch nicht, dass diese Art der alten Erziehung mit ihren vielen Grenzen die Klosterschüler zu besonders eigenartigen Menschen gemacht hat. Klosterschülern sagt man nämlich nach, sie wären »gestörte« oder »gescheiterte« Persönlichkeiten. Ob und wie viele jener Leute, die einmal die Klosterschule besucht haben, »gestört« und »gescheitert« sind, darüber lässt sich nichts sagen. Ich meine aber, dass, wie in jeder anderen Schule auch, einige der Absolventen als gescheitert und gestört betrachtet werden können und andere nicht. Es ist schwer, ein Kriterium zu finden, nach dem man dies feststellen kann. Ich sprach zu diesem Thema des Scheiterns auch mit Freund Helmut Obermayr, der dazu meinte: »Es ist heute modern, dass man solche Klosterschulen im Nachhinein verdammt.« Und als ich ihm sagte, dass ein Bekannter von mir, der auch durch eine Klosterschule gegangen und heute ein hoher Herr in einer großen Firma ist, behauptet habe, viele wären durch die Klosterschule im Leben gescheitert, ergänzt Obermayr: »Das sehe ich nicht so. Ist er ein Gescheiterter? Ich kenne drei aus seiner Klasse, die sind nicht gescheitert. Natürlich sind bei uns nicht alle etwas geworden. Es gibt bei uns sowohl Gescheiterte als auch Erfolgreiche. Eines muss ich sagen, was ich den Patres hoch anrechne, ist, dass sie mich zur Hochschulreife geführt haben.« Schließlich erscheint es mir anmaßend, jemand als gescheitert zu sehen, der nicht den Weg des Erfolgreichen ging. 289

Die alte Klosterschule

Einer aus meiner Klasse, ich erzählte am Beginn des Buches von ihm, hatte Jus studiert, er ist Magister juris, und wurde Kellner und schließlich Maurer. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sich der Mann als eine »gescheiterte Existenz« fühlt oder als eine solche gesehen werden darf. Er war in Altgriechisch einer der Besten in unserer Klasse. Ich denke mir, wenn man diesen Mann als einen Gescheiterten sehen will, dann müsste man auch Sokrates als einen solchen betrachten. Als »gescheitert« galt Freund Wittenberger, der, weil er dem Alkohol zu viel zusprach, bereits oben von einer Wolke auf uns herunterblickt. Dieser Mann war ein hervorragender Historiker und Philosoph. Er wollte als Einziger unserer Klasse Priester werden. Er trat auch als Novize dem Orden bei, doch nach ein paar Wochen, bevor er noch die Gelübde abgelegt hatte, trat er wieder aus dem Orden aus und begann mit dem Jusstudium. Er wurde Mitglied einer Studentenverbindung, bei der er die Liebe zum Bier entdeckte, bestand aufgrund seines im Gymnasium erworbenen Wissens die erste juristische Staatsprüfung glänzend, doch er verlor dann sein Interesse an diesem Studium. Ich inskribierte für ihn noch einige Jahre, doch er kam zu keinem Abschluss. Inzwischen war er Angestellter einer Versicherung geworden, in der er offensichtlich nicht unzufrieden war. Wenn ich ihn traf, war er stets von liebenswürdiger Heiterkeit. Er war Junggeselle geblieben und beherrschte die Kochkunst außerordentlich. Ich war einige Male sein Gast. Ich hatte nicht das Gefühl, der Mann sei unglücklich, zumindest nicht unglücklicher als andere. Er zeigte auch eine gewisse Zufriedenheit und war niemandem ob seines Erfolges neidig, diesen Eindruck hatte ich. Ob man diesen Mann als Gescheiterten beezeichnen kann, ist schwierig zu sagen. Ich sah ihn nicht so. Mir war er sympathisch, und ich war auch der Einzige aus unserer Klasse, der im Jahr 1999 an einem kalten Februartag an seinem Begräbnis teilgenommen hat. Ob die alte Form der Klosterschule tatsächlich Leute zu Ge­­schei­ terten gemacht hat, darüber ist schwer zu diskutieren. Ich denke, dass der Mensch in seiner Buntheit zu allem fähig ist, zum Scheitern und zum Erfolg, egal, ob er aus einer Klosterschule kommt oder nicht. 290

XXIX. Der Untergang der alten Klosterschule und die Klosterschule heute – ein paar Gedanken Die alte Klosterschule, in der Burschen mit einer gewissen Strenge erzogen wurden, gibt es nicht mehr. Man hat eine uralte Tradition aufgegeben und sich den angeblich modernen Erfordernissen der Zeit angepasst. Im heutigen Gymnasium gibt es daher auch Mädchen, sicherlich zur Freude der wenigen heute noch dort lehrenden Patres, von denen einer mir mit Freude erzählte, dass ihm jetzt zum Geburtstag Mädchen der Schule sogar eine Torte backen würden, früher sei es undenkbar gewesen, dass ein Student sich die Mühe gemacht hätte, so etwas zu fabrizieren. Aber nicht nur darin liegt ein Unterschied zu früher. Auch das Konvikt in der alten Form ist nicht mehr vorhanden. Die Burschen, die im Konvikt heute noch untergebracht sind, haben nichts mehr mit ihren Vorgängern in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gemein, denn sie sind nicht mehr während der ganzen Woche im Kloster, zu den Wochenenden dürfen sie nach Hause fahren. Dies bewirkt ein wesentliches Abgehen von der alten Struktur, zu der gehörte, dass die Burschen auch während der freien Tage in engem Kontakt zu Kloster, Patres und Freunden stehen. Darüber habe ich oben geschrieben. Über diesen Wandel sprach ich ebenso mit Freund Wolfgang Mayr, dem ehemaligen Chefredakteur der Austria Presseagentur. Er schrieb mir einige Zeit nach unserem Gespräch dazu: »Für Kremsmünster hätte es zwei Wege gegeben: Die Patres haben sich – wohl auch als Tribut an den Zeitgeist – für Anpassung, Öffnung, die Zulassung von Mädchen entschieden. Jetzt ist das Stiftsgymnasium nichts Besonderes mehr, es ist abgesehen vom Genius loci zu einer beliebigen Schule geworden. Der zweite, kurzfristig wahrscheinlich schwierigere Weg wäre gewesen, die Schule wirklich elitär zu führen. Durchaus im Sinne 291

Die alte Klosterschule

von streng, mit höchsten Anforderungen. Ich bin fest überzeugt, dass genug Bedarf für Eliteschulen da ist. Dieser Weg hätte vielleicht auch mehr Nachwuchs für das Kloster gebracht.« Diese Überlegung ist interessant, aber dennoch ist der Gedanke nicht wegzuschieben, dass die alte Klosterschule nur unter größten Schwierigkeiten weiterexistieren hätte können, wenn sie im alten Stil weiter verfahren wäre. Das Dilemma des heutigen Konvikts und der heutigen Klosterschule brachte Erwin Starl gut zum Ausdruck. Wörtlich meinte er: »Es ist ein gewaltiger Unterschied zu früher. Heute gibt es weltliche Professoren im Gymnasium. Diese haben ihre Probleme daheim, der Geistliche hatte mehr Zeit, sich um die Schüler zu kümmern. Er wusste, dass der eine etwas weicher ist im Kern und der andere etwas härter. Er wusste von jedem, was mit ihm los ist. Die Geistlichen früher haben uns über eine längere Zeit gehabt, die konnten mit uns etwas anfangen. Die heutigen Professoren können mit keinem etwas tun, denn am Samstag schleicht sich der Schüler und fährt nach Hause. Ich habe einen Sohn in der Schule, er maturiert jetzt, der kommt am Samstag heim, und den Sonntag kann man auch abschreiben. Die zwei Tage in der Woche gehen den Burschen ab. Die Schüler sind überfordert heute. Mir fehlt am Gymnasium die Pädagogik.« Erwin Starl deutet damit an, dass der Wandel von der alten Klosterschule, in der der Student noch fest an das Kloster gebunden war, zu einer Schule modernen Typs grundlegend war. Dies zeigt sich auch darin, dass in früheren Zeiten die Eltern sich den Vorstellungen der Patres beugten, während heute durch Elternvereine nicht unwesentlich auf den Lauf des schulischen Lebens Einfluss genommen wird. Die alte Welt der Klosterschule, wie ich sie hier beschrieben habe, ist verschwunden. In ihr klang noch Mittelalterliches und Barockes nach. Und das war spannend, obwohl wir früher viel und nicht immer sinnvoll gelitten haben.

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XXX. Nachwort: Was ich in der Klosterschule gelernt habe

Ich werde oft gefragt, welchen Sinn die alte Klosterschule, die es nicht mehr gibt und in der wir viel gelitten haben, hatte. Diese Schule war in vielerlei Hinsicht, im Positiven wie im Negativen, prägend für mich. Darüber gestatte ich mir anstelle eines Nachwortes noch zehn Gedanken: 1. Ich habe gelernt, dass Gesellschaften, wie die der Klosterschule, in denen vieles verboten ist und die viele Grenzen kennen, sehr aufregend und herausfordernd sein können. In der Situation der Klosterschule entwickelte sich bei mir so etwas wie ein rebellischer Geist. Ich habe gelernt, mir nicht alles gefallen zu lassen. Und mir machte es Freude, bestimmte Normen, die die Patres uns auferlegt haben, zu brechen. So ging ich ins Kino und traf mich mit Mädchen, obwohl es verboten war. Von daher rührt meine Sympathie für Rebellen. 2. Der Kontakt der Burschen in der Klosterschule zueinander, der ein freundschaftlicher, aber mitunter auch ein sehr gehässiger sein konnte, brachte mich zu der Erkenntnis, dass Dumme und Intelligente, Anständige und Unanständige in allen sozialen Schichten gleich verteilt sind. Der Sohn eines Bauern oder einer Dienstmagd brachte mitunter eine größere Auffassungsgabe mit als der Sohn eines Arztes. Ich glaube, dass einem jungen Menschen, sei er Sohn eines reichen Fabrikanten oder Sohn eines Arbeiters, nichs Besseres für sein Leben passieren kann, als mit Gleichaltrigen ohne jedes Privileg und ohne Standesunterschied eine Zeit miteinander leben und arbeiten zu müssen.

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Die alte Klosterschule

3. Durch den jahrelangen engen Kontakt zu Gleichaltrigen habe ich gelernt, dass derselbe Mensch in einer Situation ungemein gütig und freundschaftlich sein kann, in einer anderen aber höchst hinterhältig und bösartig. Ich habe aber auch gesehen, dass aus mir zunächst unsympathischen und widerlichen Leuten ungemein liebenswürdige Burschen wurden, an die ich gerne zurückdenke. Ich habe also Einblick in die Seele des Menschen, auch in die meine, gewonnen. Gewisse Einsichten von damals haben mir später geholfen, wenn ich zum Beispiel mit Kollegen und anderem Volk zu tun hatte, die mich hineinlegen wollten. Ebenso habe ich gelernt, dass es nicht nur böse Vorgesetzte und Lehrer gibt, sondern auch höchst liebenswürdige und gütige. 4. Ich habe in der Klosterschule kämpfen gelernt, um nicht unterzugehen, sicherlich viel intensiver als Schüler in anderen Gymnasien. Ich habe viel gelitten in der Klosterschule, aber ich habe auch gelernt, in schwierigen Situationen nicht zu verzagen. 5. Ich habe das herrliche Gefühl der Kameradschaft kennengelernt. Ich habe mich glücklich geschätzt, immer wieder einen Freund zu haben, zu dem ich mit meinen Sorgen kommen konnte und der mir auch half, wenn ich es nötig hatte. 6. Ich habe gelernt, wie wunderbar ein Stück Kuchen oder ein Schluck Bier schmecken kann, wenn man hungrig oder durstig ist und zur Bescheidenheit angehalten wird. Ebenso kann der zarte gehauchte Kuss eines Mädchens um vieles erotischer und reizvoller sein als die kühnste Orgie, überhaupt wenn die Wege zum Mädchen schwierig und verboten sind. 7. Da ich selbst oft ganz unten war und Erniedrigungen erlebt habe, habe ich jene Menschen besonders kennengelernt, die vor den Oberen heuchelten und andere verrieten, um für sich selbst Vorteile herauszuholen. Seit damals sind mir Heuchler und Verräter zutiefst zuwider. 294

Was ich in der Klosterschule gelernt habe

8. Ich habe gelernt, Mut zu zeigen, um eigene Ideen zu verwirklichen, denn oft wurden diese von meinen Lehrern und meiner Umgebung für verrückt gehalten. 9. Ich habe auch einen vorsichtigen Umgang mit der Wahrheit gelernt, denn nicht alle vertragen die Wahrheit, und manchmal kann sie nicht nur zum Nachteil für die eigene Person, sondern auch für andere Menschen sein. Es gibt auch Vorgesetzte, die ungemein bösartig sein können und nur darauf warten, irgendetwas zu erfahren, mit dem sie Untergebenen schaden können. 10. Ich habe gelernt, um im Leben weiterzukommen, braucht man Geduld und Höflichkeit. Und Geduld zu erlernen gehört für mich zu den schwierigsten Unternehmen. Genauso wie die Eigenschaft, Unrecht einstecken zu können. Höflichkeit hat man mir in der Klosterschule beigebracht. Ich habe gelernt, Menschen, die man schätzt oder schätzen sollte, mit entsprechenden Formen der Höflichkeit zu begegnen. Zur Höflichkeit gehören auch Pünktlichkeit und Verlässlichkeit.

Die fünf Tugenden Und schließlich glaube ich, um gut im Leben zu bestehen, braucht man fünf Tugenden, die der, der die Klosterschule einigermaßen heil überstanden hat, sich vielleicht erworben hat: Mut, er stärkt, Heiterkeit, sie beflügelt, Geduld, sie gibt Ruhe, Großzügigkeit, sie öffnet das Herz, und etwas rebellischen Geist, er macht Freude.

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Literatur

Roland Girtler, Wilderer – Rebellen der Berge, Wien 1998. Roland Girtler, Randkulturen – Theorie der Unanständigkeit, Wien 1995. Roland Girtler, Methoden der qualitativen Sozialforschung, Wien 1996. (Dieses Buch wird unter dem Titel »Qualitative Sozialforschung – teilnehmende Beobachtung und ero-episches Gespräch«, wesentlich verändert wieder aufgelegt, Böhlau). Roland Girtler, Hans Hofinger, Klosterschüler und Bankmanager – Die Rituale der Alten Klosterschule – Die Regeln des heiligen Benedikts und eine Hemina Wein. In: R. Girtler, Girtler unterwegs, Böhlau 2018. Erwing Goffman, Asyle, Frankfurt, 1981. Hans Hofinger, Benedikt als Menschenführer – Die Regula Benedicti als Schule für Arbeit, Beruf und Alltag, Wien 2009. P. Alfons Mandorfer, Erziehung und Unterricht in Kremsmünster, in: Kremsmünster – 1200 Jahre Benediktinerstift, Linz 1976, S. 47 ff. Julius Payer, Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874, Wien 1876. Veith Risak, Gedanken zur Benediktregel, Kremsmünster 1987. Georg Schwaiger (Hg.), Mönchtum Orden Klöster – Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1998. P. Basilius Steidle, Die Regel des heiligen Benedikt, Beuron 1983.

Fotos

Archiv R. Girtler: Abb. 1, 4, 8, 11, 13, 15, 16, 26, 29, 30 Archiv W. Mayr: Abb. 3, 7, 14, 17, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 28, 31 Archiv H. Obermayr: Abb. 9, 10, 12, 27 296